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Full text of "Gesammelte Reden und Schriften"

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GESAMMELTE 

REDEN  UND 

SCHRIFTEN 


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FERDINAND  LASSALLE 


GESAMMELTE  REDEN 
UND  SCHRIFTEN 


HERAUSGEGEBEN 

UND  EINGELEITET 

VON 

EDUARD  BERNSTEIN 


VOLLSTÄNDIGE  AUSGABE 
IN  ZWÖLF  BÄNDEN 


VERLEGT  BEI  PAUL  CASSIRER,   BERLIN 
1920 


FERDINAND  LASSALLE 


GESAMMELTE  REDEN 
UND  SCHRIFTEN 


HERAUSGEGEBEN 
UND  EINGELEITET 

VCN 

EDUARD  BERNSTEIN 


NEUNTER  BAND  : 

DAS  SYSTEM  DER  ERWORBENEN  RECHTE 
U 


VERLEGT  BEI  PAUL  CASSIRER,  BERLIN 
1920 


ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 


DRUCK   VON    OSCAR   BRANDSTETTER,    LEIPZIG 


VORBEMERKUNG  DES  HERAUSGEBERS. 

Über  den  wissenschaftlichen  Zweck  und  die  leitenden 
Grundgedanken  seines  Werkes  „Das  System  der  erwor- 
benen Rechte"  hat  sich  Lassalle  in  der  Vorrede  und  der 
Einleitung  zu  diesem  Werk  so  klar  und  eingehend  aus- 
gesprochen, daß  es  mir  unangebracht  erscheint,  an  dieser 
Stelle,  wo  der  Leser  beide  Stücke  wie  das  Werk  selbst 
vor  sich  hat,  noch  hierüber  Erklärendes  geben  zu  wollen. 
Dagegen  werden  einige  Bemerkungen  über  die  allgemeine 
Bedeutung  der  Arbeit  und  ihren  speziell  politischen 
Zweck  eher  am  Platze  sein.  Zwar  hat,  was  das  letztere 
betrifft,  Lassalle  in  der  Vorrede  und  an  verschiedenen 
Stellen  des  Werkes  deutlich  genug  zu  erkennen  gegeben, 
daß  es  in  hohem  Grade  auf  die  Praxis  der  Politik  und 
des  Rechtes  einwirken  sollte.  Gleich  die  ersten  Sätze  der 
Vorrede  verkünden  diesen  Zweck  in  nicht  mißzuverstehen- 
der Sprache.  Aber  Lassalle  beschränkt  sich  dort  und  wei- 
terhin doch  vornehmlich  auf  Niederlegung  von  Sätzen  mehr 
allgemeiner  Natur,  während  er  sich  in  Briefen  und  jeden- 
falls auch  mündlich  sehr  viel  bestimmter  über  die  ihm  für 
die  Kämpfe  der  Zeit  vorschwebenden  speziellen  Anwen- 
dungen der  rechtstheoretischen  Grundsätze  ausgesprochen 
hat,   die  er  in  dieser  Schrift  entwickelt. 

Von  seinen  schriftlichen  Äußerungen  in  diesem  Sinne 
ist  wohl  die  unumwundenste  sein  undatierter,  aber  gemäß 
seinem  Inhalt  vom  Herbst  1860  herrührender  Brief  an 
den  damals  mit  ihm  befreundeten,  demokratisch  gesinnten 
Berliner  Verlagsbuchhändler  Franz  Duncker,  worin  er 
diesem  das  Werk  zum  Verlag  anbot.   Lassalle  setzt  dort 


Duncker  auseinander,  daß  und  warum  keiner  der  ihm  be- 
kannten  lebenden  Autoren  dies  Buch  habe  schreiben  können, 
erklärt  von  letzterem,  daß  es  eine  völlige  Revolution  auf 
dem  Gebiete  der  gesamten  Rechtswissenschaft  hervor- 
bringen  werde,  und  fährt  dann  fort : 

„Das  Buch  wird,  sowie  es  herrschende  Lehre  wird 
und  daß  es  diese  wird,  daran  ist  gar  nicht  zu  zwei- 
feln ;  es  ist  nur  fraglich,  um  wieviel  früher  oder  um 
wieviel  später  -  ein  unentbehrliches  Buch  für  alle 
praktischen  Juristen,  Richter,  Advokaten,  Referendare 
etc.  und  zwar  für  die  Landrechtler  wie  Gemeinrechtler 
wie  die  Juristen  des  Code  Napoleon.  Dies  ist  Eins. 
„Das  Zweite  ist,  daß  es  ebenso  wie  wissenschaft- 
lichen, ebenso  absolut  revolutionären  Inhalts 
ist.  Die  revolutionäre  Idee  ist  eben  darin  zur  Wissen- 
schaft verarbeitet  und  als  die  wissenschaftliche  Idee 
nachgewiesen.  Am  besten  wird  Ihnen  die  absolut-poli- 
tische Bedeutung  des  Buches  einleuchten,  wenn  ich 
Ihnen  kurz  den  Satz  gebe,  in  den  ich  gegen  das  Ende 
meiner  Einleitung  mein  Thema  zusammenfaßte:  ,Der 
inhaltliche  Gedanke  unseres  Themas  ist  in  seiner  höch- 
sten und  allgemeinsten  Auffassung  kein  anderer  als  der 
Gedanke,  der  aus  der  Rechtsidee  selbst  hervorfließt 
und  der  ihr  entsprechenden  Hinüberführung  eines  alten 
Rechtszustandes  in  einen  neuen.'  Wie  hieraus  schon  er- 
hellt, mußte  ich  also  auf  alle  politischen  Fragen  und 
das  politische  Material  mit  großer  Genauigkeit  eingehen. 
Sie  wissen,  welche  Wut  der  Streit  über  die  „erworbenen 
Rechte"  z.  B.  beim  Jagdgesetz,  Zehntenumwandlungen, 
Grundsteuer  etc.  erregt  hat.  Alles  dies  findet  sich  hier 
geschlichtet,  aus  dem  innersten  Zentralpunkt  heraus. 
Dabei  bin  ich  mit  der  größten  Unparteilichkeit  der 
Welt,  wie  sie  der  Wissenschaft  gebührt,  zu  Werke  ge- 


gangen,  habe  z.  B.  nicht  Anstand  genommen,  das  Fal- 
sche im  Jagdgesetz  der  48  er  Nationalversammlung  und 
das  relativ-theoretisch  Berechtigte  des  Geheules  des 
Herrengesindels  aufzuzeigen.  Freilich  konnte  ich  auch 
solche  pflichtmäßige  wissenschaftliche  Unparteilichkeit 
ohne  große  Überwindung  üben,  da  ich  mit  derselben 
Hand  66  mal  mehr  nahm,  als  gab. 

„Die  Folge  von  diesem  ist,  daß,  zumal  bei  den 
Zeitläuften,  kein  Kammermensch  oder  Politikus  das 
Buch  wird  entbehren  können,  wenn  dasselbe  erst  zu 
einiger   Bekanntheit  gekommen  sein  wird. 

„Die  Folge  ist,  sage  ich,  daß  das  Buch  zwar  durch- 
aus keine  so  „reine"  Anerkennung  wie  der  Heraklit 
finden  wird,  daß  es  dagegen  eine  Welt  in  Liebe  und 
Haß  teilen,  Gegenstand  unzähliger  Angriffe  und  Ver- 
fluchungen und  ebenso  großer  Akklamation  sein  und 
aus  diesem  Grunde  auch  ganz  anders  gekauft  werden 
wird. 

„Der  dritte  Umstand  ist,  daß  das  Buch  ebenso  wie 
politisch-,  auch  sozial-revolutionär  nach  seinem 
Gesamtresultat  ist.  Im  zweiten  Teil,  der  das  Wesen 
des  römischen  und  des  germanischen  Erbrechtes  ent- 
hält —  letzteres  konnte  gar  nicht  verstanden  werden,  so- 
lange das  erstere  es  nicht  wurde  —  und  vorherrschend 
theoretisch  ist,  findet  sich  als  Resultat  die  Auflösung 
alles  testamentarischen  Rechtes ;  aber  nicht  mit  sub- 
jektivem Kritizismus  und  negativer  Polemik  bin  ich 
zu  Werke  gegangen,  sondern  positiv  darstellend,  aus 
der  archäologischen  Rumpelkammer  des  alten  Roms  und 
der  gesamten  universalgeschichtlichen  Bewegung  die 
Waffen   schmiedend   für  die   modernsten   Zwecke. 

„Ich  habe  überhaupt,  was  bisher  fehlte,  gänzlich 
fehlte,   und  sich  in  seinem  Mangel  so  schwer  fühlbar 


machte,  die  feste  Burg  eines  wissenschaftlichen 
Rechtssystems  für  Revolution  und  Sozia- 
lismus, in  seinem  besten  und  erhabensten  Sinne,  zu 
erbauen  gesucht,    aus   welcher    Burg   wir   dann   unsere 
weiteren  Ausfälle  auf  die  einzelnen  Dörfer  machen  kön- 
nen,  und  ich  glaube,  dieser   Bau  ist  mir  prächtig  ge- 
lungen und  aus  reinem  Stahl  gegossen.' 
Niemals  aber,   schließt  Lassalle,   sei  ihm  die  Einheit 
der  Wissenschaften  „mit  größerer  Andacht  zum  Bewußt- 
sein gekommen,   als  bei  der  Abfassung  dieses  Werkes." 
Wie  sehr  Lassalle  glaubte,  in  ihm  der  reinen  Wissen- 
schaft, der  Philosophie,  einen  Triumph  bereitet  zu  haben, 
geht  aus  seinem  Briefe  an  den  Geheimrat  Johannes  Schulze 
hervor,    der   ein   begeisterter    Schüler    Hegels    war.    „Es 
handelt  sich  darum,"  schreibt  er  ihm,  „die  Fahne  unseres 
unsterblichen  Meisters  Hegel  Schlag  auf  Schlag,  es  han- 
delt sich  darum,  sie  überall  zum  Siege  zu  führen."  Und 
weiterhin :    „Gelingt  es  den   Juristen  nicht,   diese   beiden 
Bände  zu  widerlegen  —  und  ich  glaube,  daß  ihnen  das 
unmöglich  gelingen  wird  — ,  so  bleibt  ihnen  wissenschaft- 
lich  nichts   übrig,   als   sich   auf   Gnade   und   Ungnade  an 
die    Philosophie   zu  ergeben   und  einzugestehen,   daß   sie 
bisher  auch  nicht  das  geringste  von  ihrem  eigenen  Stoffe 
verstanden." 

Mehr  auf  den  praktisch-politischen  Zweck  des  Werkes 
bezieht  sich  eine  Stelle  aus  einem  Briefe  Lassalles  an 
Karl  Marx  vom  Juli  1861.  Marx  hatte,  als  ihm  von  Las- 
salle das  Buch  zugegangen  war,  zuerst  dessen  zweiten 
Band  gelesen,  der  vom  germanischen  und  deutschen  Erb- 
recht handelt,  und  dies  Lassalle  gegenüber  damit  begründet, 
daß  dieser  rechtshistorische  Gegenstand  ihm  näher  liege, 
als  der  spezifisch  rechtstheoretische  Fragen  behandelnde 
erste    Band.    Darauf  antwortet   Lassalle,   ob   das   richtig 


sei,  werde  sich  erst  finden,  nachdem  Marx  den  ersten 
Band  gelesen  haben  werde.  Abgesehen  davon,  daß  alle 
Paragraphen  des  ersten  Bandes  unerläßlich  seien  zur  Er- 
fassung des  Systematischen  des  Werkes,  —  „liegen  . 
schreibt   er : 

„die  §§  7  und  10  keinem  Menschen  näher  als  Dir 
gerade.  Sie  sind  die  beiden  Hauptpfeiler  des  ersten  Ban- 
des, zu  deren  systematischem  Nachweis,  in  Verbindung 
mit  §  1,  ich  mich  eigentlich  ursprünglich  entschlossen  hatte, 
das  ganze  Werk  zu  schreiben,  wie  ich  dann  wieder  mich 
entschloß,  den  ganzen  zweiten  Band  zu  schreiben  zum 
systematischen  Nachweis  des  §2a  im  ersten  Bande. 

Von  den  genannten  Paragraphen  nun  behandelt  §  7  den 
begrifflichen  und  daran  anschließend  den  tatsäch- 
lichen Einfluß  der  zwingenden  Gesetze  auf  erwor- 
bene Rechte,  die  Frage  der  Entschädigung  für  auf- 
gehobene Rechte  und  die  Frage  nach  der  Natur  und  Ein- 
teilung der  absoluten  Gesetze.  Er  enthält  die  überaus  geist- 
reiche Zurückweisung  der  Versuche  des  konservativen 
Rechtsphilosophen  J.  Stahl,  erworbene  Rechte  für  staats- 
rechtlich unantastbar  zu  erklären,  eine  Zurückweisung  der 
Entschädigungstheorie  des  berühmten  Juristen  Savigny 
durch  den  Nachweis  der  inneren  Widersprüche  dieser 
Theorie,  anschließend  daran  die  Entwicklung  der  Grund- 
gedanken einer  von  diesen  Widersprüchen  freien,  dem  Recht 
der  Revolution  wie  dem  positiven  Recht  entsprechenden 
eigenen  Theorie  der  Entschädigung,  sowie  die  lange  Note 
über  den  geschichtlichen  Gang  der  Begrenzung  der  Sphäre 
des  Privateigentums,  der  Lassalle  im  Vorwort  zu  seiner 
Schrift  Herr  Bastiat-Schulze  von  Delitzsch  ein  Stück  mit 
der  Bemerkung  entnimmt,  es  sei  in  gedrängter  Zusammen- 
fassung das  Programm  eines  national-ökonomischen  Wer- 
kes, das  er  in  svstematischer  Form  unter  dem  Titel  ,, Grund- 


linicn  einer  systematischen  Nationalökonomie"  damals  zu 
schreiben  beabsichtigte.  Die  Note  ist  vom  Schreiber  dieses 
in  den  Auszügen  aus  dem  System  der  erworbenen  Rechte 
(Bd.  III  der  „Vorwärts"- Ausgabe  S.  791  ff.)  als  ein  be- 
sonderer Abschnitt  unter  dem  Titel  „Lassalles  geschichts- 
philosophisches  Programm"  gesondert  abgedruckt  worden. 
Ob   ihr   dieser  mir  gerechtfertigt  erscheinende   Titel   zu- 
kommt,  mag  der  Leser  nun  selbst  entscheiden.   Welchen 
Wert  Lassalle  auf  den  §  7  legte,  geht  ferner  aus  dessen 
Bemerkung    in    seinem    Briefe    vom    25.  Dezember    1862 
an   Karl    Rodbertus  hervor,   wo  er  von   dem  gleichzeitig 
an   diesen   übersandten   Exemplar   des   System   etc.    sagt : 
„Ich  schicke  Ihnen  dasselbe  hauptsächlich  wegen  des 
§  7  des  ersten  Bandes.   Sie,   wenn  Sie  diesen  Para- 
graphen lesen,  werden  wissen,  was  damit  erreicht  und 
gegeben  ist !" 

Die  Frage,  ob  und  unter  welchen  Bedingungen  bisher 
prohibierte  Willenshandlungen  durch  die  Aufhebung  der 
sie  prohibierenden  Gesetze  nachträglich  Geltungs- 
kraft erlangen  können,  die  der  §  1 0  des  ersten 
Bandes  behandelt,  ist,  allein  betrachtet,  nicht  von  gleicher 
Bedeutung  wie  der  Inhalt  des  §  7.  Aber  da  ihre  Erörte- 
rung, wie  Lassalle  schreibt,  die  begriffliche  Gegen- 
probe bildet  für  die  Richtigkeit  des  im  §  7  usw.  Aus- 
geführten, gehört  sie  sachlich  noch  zu  diesem. 

Der  im  §  2  a  aufgestellte  und  eingehend  erläuterte  Satz, 
„daß  alle  Erbschaft  einen  nicht  durch  den  bloßen  Willen 
eines  Dritten  oder  ein  Naturereignis  (Tod)  eintretenden, 
sondern  einen  auf  der  eigenen  individuellen  Willensaktion 
des  Erben  beruhenden  Erwerb"  darstelle,  leitet  unmittelbar 
zum  zweiten  Teil  des  Werkes  über,  der  dem  Nachweis  ge- 
widmet ist,  daß  dies  der  dem  römischen  Erbrecht  zu- 
grunde  liegende   und  dem   römischen  Volksgeist,   wie  er 

10 


im  Kultus  der  Laren  und  Manen  zum  Ausdruck  komme, 
naturgemäß  wurzelnde  Rechtsgedanke  sei,  auf  den  allein 
sich  das  Rechtsinstitut  des  Testaments  folgerichtig  habe 
ausbilden  können.  Es  haben  das  die  N^ionen,  die  das 
Testamentsrecht  später  aus  dem  römischen  Recht  ent- 
nahmen, meint  Lassalle,  vollständig  übersehen,  so  daß 
es  bei  ihnen  eine  „kompakte  theoretische  Unmöglichkeit' 
darstelle. 

Lassalle  hat  auf  diesen  Nachweis  so  großen  Wert  ge- 
legt und  ihm  so  umfassendes  Studium  gewidmet,  daß  man 
es  versteht,  wenn  er  mit  ihm  eine  bedeutungsvollere  wissen- 
schaftliche Leistung  vollbracht  zu  haben  glaubte,  als  mit 
dem  ersten  Band.  Und  als  geistige  Leistung  wird  man 
sie  auch  höher  einschätzen  dürfen.  Der  große  juristische 
Scharfsinn  und  die  bestrickende  Geschlossenheit  im  ge- 
danklichen Aufbau  der  Theorie,  von  denen  der  erste  Band 
zeugt,  begegnen  uns  auch  im  zweiten  Band,  der  jenen  je- 
doch in  bezug  auf  Quellenforschung  und  Feinheit  der  Ana- 
lysen noch  überragt.  Ich  kann  auch  heute  nur  wiederholen, 
was  ich  1893  von  ihm  schrieb:  ,,In  seiner  Art  ein  gran- 
dioses Werk."  Indes,  wie  damals  muß  ich  auch  heute  hinzu- 
fügen :  „Aber  als  Ganzes  zugleich  ein  grandioser  Irrtum.' 

Als  ein  solcher  ist  er  auch  von  Rechtshistorikern  von 
Fach  hingestellt  worden.  So  nannte  ihn  der  sehr  namhafte 
Jurist  und  Verfasser  des  Werkes  :  „Der  Zweck  im  Recht", 
Rudolf  von  Jhering,  als  er  kurz  nach  Erscheinen  des 
Buches  dieses  in  der  Preußischen  Gerichtszeitung  besprach, 
„eine  Verirrung  der  Spekulation"  und  beantwortete  den 
Versuch  des  Herausgebers  jener  Zeitschrift,  gegen  die  spot- 
tenden Bemerkungen  in  Jherings  Kritik  Lassalles  wissen- 
schaftliches Ansehen  zu  retten,  mit  den  begütigenden  Wor- 
ten:  „Auf  den  Klippen  lassen  sich  nur  die  Gemsen  und 
Steinböcke,  nicht  die  Schafe  antreffen." 

11 


Aber  die  Kritik  Jherings  und  anderer  Rechtsgelehrten 
geht  auf  Auslegungen  des  juristischen  Stoffes  durch  Las- 
salle, über  die  ich  mir  als  Laie  kein  Urteil  erlauben  kann. 
Daß  Lassalle^sich  leicht  dazu  verleiten  ließ,  einer  Be- 
weisführung zuliebe  den  Tatsachen  Gewalt  anzutun,  und 
in  dieser  Kunst  Meister  war,  weiß  jeder,  der  seine  Schrif- 
ten kennt.  Indes  nicht  mit  den  Auslegungen  der  auf  das 
Erbrecht  im  einzelnen  bezüglichen  Institutionen  des  Römi- 
schen Rechtes  habe  ich  es  zu  tun.  Was  mir  vor  allem 
verfehlt  erscheint,  ist  der  Ausgangspunkt  der  Lassalleschen 
Untersuchung.  Lassalle  will  nachweisen,  daß  das  römi- 
sche Erbrecht  und  seine  Entwicklung  zum  Unterschied  vom 
germanischen  Erbrecht  in  einem  ganz  besonderen  Volks- 
geist wurzeln,  der  zuletzt  auf  die  von  den  Pelasgern  über- 
nommene Mythologie  zurückgeht.  So  berechtigt  es  nun 
ist,  Rückwirkungen  von  Besonderheiten  des  Volksgeistes 
im  Recht  des  in  Frage  kommenden  Volkes  nachzuforschen 
und,  wo  sich  solche  feststellen  lassen,  sie  aufzudecken,  so 
schließt  sich  Lassalle  den  Weg  zu  überzeugenden  Schlüs- 
sen dadurch  ab,  daß  er  es  bei  dem  aus  der  Mythologie  ab- 
geleiteten Volksgeist  und  Begriffen  für  die  ganze,  über 
tausend  Jahre  währende  Zeit  der  Entwicklung  des  Römi- 
schen Rechtes  bewenden  läßt,  die  für  die  Entwicklung 
des  Rechtes  so  wichtige  Frage  der  Rückwirkung  der  Ge- 
sellschaftszustände  des  Volkes  und  ihrer  Entwick- 
lung auf  sie  dagegen  gar  nicht  berücksichtigt.  Zu  welch 
falschen,  die  Dinge  geradezu  auf  den  Kopf  stellenden 
Behauptungen  er  dadurch  gelangt,  ist  vom  Schreiber  dieses 
in  der  Schrift  „Ferdinand  Lassalle,  eine  Würdigung  des 
Lehrers  und  Kämpfers",  Seite  114 ff.,  aufgezeigt,  und 
ich  darf  hier  wohl  auf  das  dort  darüber  Ausgeführte  ver- 
weisen. Wie  wenig  das  römische  Erbrecht  von  Grund  aus 
ein  spezifisches  Erzeugnis  des  besonderen  römischen  Volks- 

12 


geistes  war,  geht  u.  a.  aus  der  Tatsache  hervor,  daß  die 
Intestat-Erbfolge,  wie  sie  um  das  Jahr  450  vor  unserer 
Zeitrechnung  die  römischen  Zwölftafelgesetze  aufstellen, 
in  fast  allen  wesentlichen  Punkten  mit  der  140  Jahre 
früher  in  Athen  von  Solon  festgesetzten  und  der  auf  tau- 
send Jahre  früher  zurückgehenden  mosaischen  Gesetzgebung 
übereinstimmt,  und  daß  ferner  die  Germanen,  als  sie  mit 
den  Römern  in  nähere  Beziehung  traten,  in  Verbindung 
mit  dem  Aufstieg  aus  der  Mittelstufe  zur  Oberstufe  der 
Barbarei  gerade  die  Entwicklung  vom  Mutterrecht  zum 
Vaterrecht  durchmachten,  die  zu  einer  jenem  römischen 
Intestaterbrecht  durchaus  ähnlichen  Erbfolge  führen  mußte 
und  zum  Teil  sogar  schon  geführt  hatte.  So  erben  zur 
Zeit  des  Tacitus  bei  den  Germanen  die  Kinder  vom  Vater 
und,  wo  keine  Kinder  vorhanden  sind,  die  Brüder  und 
Onkel  des  Vaters  (die  „Agnaten"  des  römischen  Rechtes), 
zugleich  aber  auch  die  Brüder  und  Onkel  der  Mutter,  was 
erkennen  läßt,  daß  die  Epoche  des  Mutterrechtes,  in  der 
diese  beiden  letzteren  bei  Kinderlosigkeit  Erben  sind,  noch 
nicht  lange  überwunden  sein  konnte. 

Es  muß  nun  zu  Lassalles  Entschuldigung  gesagt  wer- 
den, daß  der  Zusammenhang  der  Entwicklung  der  Fa- 
milie und  des  Familienrechtes  mit  der  Entwicklung  der 
Wirtschaft  und  der  auf  ihr  sich  aufbauenden  Kultur  zu 
seiner  Zeit  noch  so  wenig  erforscht  war,  daß  große  Irr- 
tümer in  der  Erklärung  von  Besonderheiten  und  Entwick- 
lungen des  Erbrechtes  in  der  Geschichte  verschiedener  Völ- 
ker unvermeidlich  waren.  Aber  nicht  daß  er  in  Einzel- 
heiten fehlgriff,  macht  die  von  Lassalle  im  zweiten  Bande 
entwickelte  Theorie  zu  einem  so  großen  Irrtum,  sondern 
daß  er  von  Hause  aus  einen  falschen  Weg  einschlug  und 
niemals,  was  doch  dem  Sozialisten  so  nahelag,  bei  der 
Erörterung  von  Neuerungen  im  römischen  Erbrecht  dem 

13 


sozialen  Bedürfnis  nachforschte,  das  sie  hervorgerufen 
haben  konnte,  sondern  seinen  ganzen  Scharfsinn  darauf 
verwandte,  für  die  vorgefaßte  Idee,  daß  das  römische 
Testament  durchgehends  in  erster  Linie  der  Willensfort- 
setzung  diene,   Beweise  zu  finden. 

In  bezug  auf  das  letztere  sei  indes  bemerkt,  daß,  da 
in  Rom  das  Vaterrecht  schon  zur  Zeit  der  Zwölftafel- 
gesetzgebung  völlig  entwickelt,  der  Vater  so  sehr  unbe- 
schränkter Herrscher  über  Frau  und  Kinder  war,  daß 
der  ursprünglich  nur  den  Besitz  an  Sklaven  anzeigende 
Ausdruck  „familia  auf  das  ganze,  der  Gewalt  des  Vaters 
als  Hausherrn  unterstehende  Personal  des  Hauses  über- 
ging, das  römische  Erbrecht  in  der  Tat  eine  Willensüber- 
tragung  einschließt.  Es  wird  beim  Erbgang  ein  Herr- 
schaftsrecht übertragen.  Es  mag  daher,  wenn  auch  beim 
Wort  heres  =  der  Erbe,  die  erste  Silbe  lang,  beim  Wort 
herus  =  der  Herr  sie  aber  kurz  ist,  trotzdem  Lassalles 
Vermutung,  daß  beiden  Wörtern  ein  gemeinsamer  Ur- 
sprung zugrunde  liege,  nicht  unbegründet  sein,  und  der 
Spott  der  Kritik  darüber,  daß  er  den  Unterschied  in  der  Be- 
tonung der  Silben  ignorierte,  mag  für  die  Sache  selbst  nichts 
besagen.  Außerdem  bleibt  die  Tatsache  bestehen,  daß  die 
Römer  das  Testament,  wenn  auch  nicht  erfunden,  so  doch 
bis  zur  äußersten  Konsequenz  entwickelt  haben,  daß  sie 
ihm,  wie  freilich  auch  anderen  Akten  der  Vermögensüber- 
tragung, eine  mit  Kultusvorstellungen  verbundene  religiöse 
Weihe  gaben,  und  daß  ferner  ihr  Testament  mehr  war  als 
eine  bloße  Vermögensübertragung,  sondern  mit  dieser  auch 
die  Übertragung  von  Kultus-  usw.  Verpflichtungen  ver- 
knüpfte. Aber  nichts  liegt  vor,  was  als  beweiskräftig  dafür 
gelten  kann,  daß  das  römische  Erbrecht  Willensübertra- 
gung war,  bei  der  die  Feststellung  der  gewissermaßen 
hypostasierten  Willensunsterblichkeit  die  Hauptsache  war 

14 


und  die  Vermögensübertragung  als  untergeordnet  neben- 
herlief, und  alle  Folgerungen,  die  Lassalle  aus  seiner  dies 
unterstellenden  Theorie  selbst  ableitet  oder  andeutet,  ver- 
lieren  ihre   wissenschaftliche  Begründung. 

Für  die  praktischen  Folgerungen,  auf  die  es  Lassalle 
ankam,  hatte  das  nun  eigentlich  herzlich  wenig  auf  sich. 
Denn  ob  das  Testament,  das  heißt  das  Recht  der  freien 
letztwilligen  Verfügung,  in  der  Gegenwart  auf  einem  Miß- 
verständnis des  römischen  Testamentes  beruht  oder  nicht, 
ist  für  die  Frage,  ob  es  durch  Gesetz  einzuschränken  oder 
ganz  aufzuheben  ist,  oder  ob  testamentarisch  überkommene 
Rechtsansprüche  als  erworbene  Rechte  besonderer  Art 
zu  respektieren  sind,  von  keinem  Belang.  Die  neuzeitliche 
Gesetzgebung  hat  nirgends  das  testamentarische  Erbrecht 
oder  das  Erbrecht  im  allgemeinen  als  ein  ganz  außerhalb 
der  Sphäre  des  allgemeinen  Gesetzes  stehendes  Rechts - 
institut,  sozusagen  als  Naturrecht  behandelt,  an  dem  nicht 
getastet  werden  dürfe.  Sie  hat  es  immer  nur  als  ein  aus 
bestimmten  sozialen  und  ethischen  Gründen  möglichst  von 
Einflüssen  der  Laune  des  Tages  frei  zu  haltendes  Recht 
behandelt.  Daß  aber  auch  solches  Recht  keine  in  alle 
Ewigkeit  geltenden  erworbenen  Rechte  schafft  und  wie 
die  Fortentwicklung  des  Geistes  gegen  dahingehende  Be- 
strebungen zu  schützen  ist,  zeigt  eben  der  erste  Band  des 
Werkes,  und  insbesondere  dessen  §  7,  der  vollkommen 
für  alle  praktischen  Zwecke  ausreicht,  für  die  Lassalle 
den  zweiten   Band  zu  schreiben  genötigt  sein  konnte. 

Was  Lassalle  praktisch  mit  dem  Werke  wollte,  hat 
von  denen,  die  es  nicht  persönlich  von  ihm  erfahren  hatten, 
wohl  niemand  so  klar  ausgesprochen,  wie  Friedrich  Albert 
Lange,  der  unterm  23.  September  1863  in  der  „Süddeut- 
schen  Zeitung"   schrieb: 

„Lassalles  .Theorie  der  erworbenen  Rechte    —  bei- 

15 


läufig  gesagt  nach  meiner  Ansicht  eines  der  bedeutend- 
sten Bücher  der  rechtsphiiosophischen  Literatur  --  ent- 
hält alle  Momente,  aus  denen  eine  Praxis  der  ent- 
zogenen Rechte  hervorgehen  kann,  für  den  Ver- 
ständigen klar  dargelegt." 

In  seiner  vielgelesenen  Schrift:  „Die  Arbeiterfrage", 
nimmt  Lange  im  Kapitel  über  Eigentum,  Erbrecht  und 
Bodenrechte  auf  Lassalles  ,, System"  Bezug  und  erklärt, 
daß  dessen  Ausführungen  über  die  Gültigkeit  erworbener 
Rechte  für  die  späteren  Zeiten  „gewiß  als  die  relativ  rich- 
tigsten" werden  anerkannt  werden  müssen.  Und  an  seinen 
Freund,  den  Philosophen  Fr.  Überweg,  macht  Lange  un- 
term 6.  Februar  1865  Mitteilung  von  der  „sehr  inter- 
essanten Entdeckung",  daß  „die  Grundgedanken  von  Las- 
salles  System  der  erworbenen  Rechte  und  manches  andere, 
was  jetzt  bei  Gelegenheit  der  Arbeiterfrage  auftaucht, 
schon  von  Fichte  1793  in  dem  anonymen  Schriftchen 
über  die  französische  Revolution  sehr  scharf  ausgesprochen 
wurden." 

In  der  Tat  beschäftigt  sich  Fichte  in  der  Schrift,  auf 
die  Lange  anspielt  und  die  den  Titel  hat  „Beiträge  zur 
Berichtigung  der  Urteile  des  Publikums  über  die  fran- 
zösische Revolution"  unter  anderem  mit  der  Frage  der 
erworbenen  Rechte  und  entwickelt  sehr  umständlich,  daß 
nur  dort  von  solchen  die  Rede  sein  könne,  wo  ein  auf  dem 
individuellen  Willen  der  Beteiligten  beruhender  Vertrag 
vorliege,  daß  jedes  andere  Recht  dagegen  jederzeit  ohne 
Entschädigung  aufgehoben,  —  „zurückgefordert"  —  wer- 
den könne.  Nur  der  eigene  Wille  verbindet,  legt  Fichte 
dar,  „ein  fremder  Wille  verbindet  nie"  (Gesamtausgabe 
von  Fichtes  Werken,  Band  6,  S.  113  und  164).  Die 
Übereinstimmung  des  Grundgedankens  der  Formel,  in  die 
Lassalle  den  Begriff  des  erworbenen  Rechtes,  bzw.  von 

IG 


Rückwirkung  und  Nichtrückwirkung  kleidet,  —  vgl.  diesen 
Band,  S.  119/121,  —  mit  Fichtes  Sätzen  springt  in  die 
Augen.  Und  wenn  Fichte  weiter  (a.  a.  O.  S.  170  ff.) 
die  Rechte  der  „unveränderten  Geistigkeit"  für  „Urrechte 
der  Menschheit"  erklärt,  die  „unveräußerlich"  seien,  so 
sehen  wir  Lassalle  genau  in  diesem  Sinne  ebenfalls  gleich 
im  Abschnitt  über  den  Begriff  und  seine  Bewährung  S.  124 
Freiheit  des  Denkens  und  Wollens  für  „unantastbare 
Grundbestimmungen"  erklären,  auf  denen  „alles  Recht 
überhaupt"  beruhe,  so  daß  es  „keinem  Gesetzgeber  zu- 
steht, die  menschliche  Willensfreiheit  und  Zurechnungs- 
fähigkeit aufzuheben  und  den  Geist  als  Sache  zu  setzen." 
Fast  wörtlich  mit  Fichtes  oben  zitiertem  Satz  stimmt  Las- 
salles Bemerkung  auf  Seite  128  überein,  daß  die  Formel, 
wonach  erworbene  Rechte  von  neuen  Gesetzen  unberührt 
bleiben  müssen,  nur  dann  richtig  sei,  „wenn  man  unter 
erworbenen  Rechten  schlechthin  nur  solche  versteht, 
die  durch  individuelle  Willensaktionen  erworben  worden 
sind." 

Trotz  dieser  und  anderer  Parallelstellen  mit  Fichte- 
schen Sätzen  und  obwohl  man  bei  Lassalles  bekannter 
Vorliebe  für  Fichte  fast  sicher  sein  kann,  daß  ihm  dessen 
Schrift  über  die  französische  Revolution  nicht  entgangen 
war,  muß  es  doch  dahingestellt  bleiben,  ob  er  wirklich 
durch  sie  zu  seinem  Werke  angeregt  worden  ist.  Wenig- 
stens erwähnt  er  ihrer  mit  keinem  Wort,  sondern  spricht 
immer  nur  von  Hegel,  den  es  auszubauen  gelte.  Außerdem 
hat  es  ihm  an  Anregungen,  sich  mit  der  Frage  der  erwor- 
benen Rechte  eingehender  zu  beschäftigen,  auch  sonst  nicht 
gefehlt.  Ganz  sicher  hat  ihm  zum  Beispiel  der  Hatzfeldt- 
Handel  mit  seinen  vielen  Rechtsstreitigkeiten,  bei  denen 
das  Rheinische  Recht  in  Betracht  kam,  manche  Veran- 
lassung geboten,  sich  mit  der  Geschichte  des  Code  Napo- 

2   Lassall«,    Ges.  Schriften.    Band  IX.  1/ 


leon  und  der  auf  ihn  bezüglichen  Literatur  der  Franzosen 
zu  beschäftigen,  wo  das  Kapitel  des  Ausschlusses  der 
Rückwirkung  von  Gesetzen  eine  große  Rolle  spielt.  Es 
muß  auch  anerkannt  werden,  daß  Fichte  im  wesentlichen 
bei  rein  rechtsphilosophischen  Betrachtungen  stehen  bleibt 
und  nur  selten  ein  geschichtliches  Beispiel  heranzieht,  Las- 
salle aber  gerade  die  Verfolgung  der  Idee  in  der  Geschichte 
des  positiven  Rechtes  zum  Hauptgegenstand  dieses 
Teiles  seiner  Arbeit  gemacht,  für  ihn  ein  ungeheuer  reiches 
stoffliches  Material  mit  großem  Scharfsinn  zerglie- 
dert hat.  Immerhin  bleibt  die  Übereinstimmung  mit  Fichte 
in  der  Formulierung  des  Leitgedankens  des  Systems  be- 
merkenswert. 

Die  von  Lassalle  in  dem  Briefe  an  Franz  Duncker 
ausgedrückte  Überzeugung,  daß  sein  Werk  eines  Tages 
den  praktischen  Juristen  unentbehrlich  sein  werde,  ist  bis- 
her nicht  in  Erfüllung  gegangen.  Es  dürfte  da  wohl  heute 
noch  zutreffen,  was  ich  1893  in  der  auch  im  vorstehenden 
von  mir  benutzten  Vorbemerkung  zu  den  Auszügen  aus 
dem  „System"  hinsichtlich  der  Aufnahme  dieses  Werkes 
schrieb : 

„Trotz  der  großen  Anerkennung,  die  es  von  Seiten  ein- 
zelner hervorragender  Rechtsphilosophen  gefunden,  scheint 
es  sich,  wie  Plener  in  seinem  sehr  unparteiischen  und  die 
Vorzüge  des  Werkes  durchaus  würdigenden  Aufsatz  über 
Ferdinand  Lassalle  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Bio- 
graphie schreibt,  „keinen  dauernden  Platz  in  der  juristi- 
schen Literatur  erobert"  zu  haben.  Von  den  Gründen, 
die  Plener  dafür  angibt,  gereichen  übrigens  die  wesent- 
lichsten Lassalle  durchaus  nicht  zur  Unehre.  Er  verweist 
auf  die  allgemeine  Abneigung  der  Juristen  gegen  weit- 
schichtige Konstruktionen,  der  gegenüber  Lassaile  mit 
seinem   logischen  Absolutismus  nicht  aufkommen  konnte. 

18 


Mit  anderen  Worten,  die  —  im  weiteren  Sinne  des  Wortes 
—  konservative  Denkweise  der  Juristen  sträubte  sich  gegen 
den  philosophischen  Radikalismus,  den  Lassalles  Werk 
atmet. 

Der  Ansicht  Pleners  steht  die  Bemerkung  Lothar 
Buchers  im  Vorwort  zu  der  1880  erschienenen  zweiten 
Auflage  des  „Systems"  gegenüber,  es  werde,  ,die  Kolli- 
sion der  Gesetze'  —  dies  der  Untertitel  des  ersten  Ban- 
des des  „Systems"  —  „keinem  Praktiker  mit  wissenschaft- 
lichem Sinn  mehr  fremd  und  entbehrlich  sein.'  Das  ist  in- 
des so  vorsichtig,  man  könnte  sagen  zweideutig  ausgedrückt, 
daß  sich  irgend  ein  Schluß  auf  den  Rang,  den  das  Werk 
in  der  Rechtsliteratur  heute  einnimmt,  nicht  daraus  ziehen 
läßt.  Dasselbe  gilt  von  dem  Satze  Buchers,  der  sich  an 
den  vorstehenden  anschließt,  und  wo  von  der  durch  seine 
Berufstätigkeit  vereitelten  Absicht  Buchers  gesprochen 
wird,  Belege  davon  beizubringen,  wie  das  Werk,  in  der 
Rechtsprechung  und  Literatur  gewirkt  haben  mag !  So- 
weit der  Schreiber  dieses  vom  Stand  der  Dinge  unter- 
richtet ist,  glaubt  er  dieses  orakelhafte  „mag"  dahin  über- 
setzen zu  dürfen,  daß  das  „System"  bzw.  der  die  Theorie 
der  erworbenen  Rechte  behandelnde  erste  Teil  desselben 
zwar  verschiedentlich  inoffiziell  benutzt  worden  ist,  aber 
in  keinem  Gerichtshof  offiziell  anerkannt,  in  keinem  auto- 
ratives   Gewicht  hat.   — 

„Größere  Anerkennung  als  bei  den  Juristen,"  heißt 
es  meinerseits  weiter,  „hat  das  .System'  dagegen  bei 
Ökonomen  gefunden,  insbesondere  bei  den  Kathedersozia- 
listen. Wir  haben  oben  bereits  auf  die  Anerkennung  und 
Benutzung  des  .Systems'  durch  Friedrich  Albert  Lange 
hingewiesen,  der  freilich  bedeutend  weiter  links  stand  als 
die  Masse  der  Kathedersozialisten,  immerhin  aber  ihnen 
zugezählt  zu  werden  pflegt.  Ziemlich  gleichzeitig  mit  Lange 

19 


hatte  Schäffle  dem  Buch  eine  größere  wissenschaftliche 
Bedeutung  zugesprochen,  und  Adolph  Wagner  hat,  ohne 
die  Quelle  zu  verschweigen,  in  seiner  ,, Grundlegung  der 
Volkswirtschaft"  die  Quintessenz  der  Lassalleschen  De- 
duktionen zur  Basis  einer  „nationalökonomischen  Theorie 
der  Enteignung"  genommen.  (Vgl.  dazu  Wagners  Vorwort 
zu  den  Briefen  Lassalles  an  Rodbertus.) 

Ob  freilich  Lassalle  an  Wagners  Theorie  große  Freude 
gehabt  hätte,  erscheint  zweifelhaft,  da  Wagner  in  der  Frage 
der  Entschädigung  für  entzogene  Rechte  dem  theoretischen 
Radikalismus  Lassalles  den  Rücken  kehrt  und  Kompro- 
missen das  Wort  redet. 

Lassalles  System  ist  eine  Versöhnung  des  positiven 
Rechtes  mit  der  Revolution  nur  in  der  Gestalt,  daß  es 
dem  ersteren  die  Notwendigkeit  dartut,  fortan  im  Geiste 
der  Revolution  zu  funktionieren.  Daher  der  Mißerfolg 
bei  der  Masse  der  praktischen  Juristen.  Daher  aber  auch 
die  wohlwollende  Aufnahme  bei  radikalen  Politikern  und 
Soziologen.  Und  daher,  sei  hinzugefügt,  würde  gerade  in 
der  unmittelbaren  Gegenwart  das  System  der  erworbenen 
Rechte  diejenige  besondere  Aktualität  beanspruchen,  die 
Lassalle   bei   dessen  Abfassung   vorschwebte. 

Deutschland  befindet  sich  jetzt  in  der  Revolution,  und 
seine  Gesetzgeber  stehen  immer  wieder  vor  Fragen,  bei 
denen  sie  sich  darüber  klar  zu  werden  haben,  ob  sie  be- 
stimmte abzuschaffende  Rechte  noch  als  erworbene  Rechte 
zu  behandeln  oder  als  durch  die  Kundgebung  des  allge- 
meinen Geistes  schon  prohibiert,  also  ohne  Entschädigung 
ablösbar  zu  betrachten  haben.  Es  müßte  dann  gemäß  den 
Darlegungen  Lassalles  gegebenenfalls  dem  9.  November 
1918  eine  ähnliche  Bedeutung  zukommen,  wie  in  der  großen 
französischen  Revolution  dem  14.  Juli   1789. 

Erfordernis  ist   dabei  Übereinstimmung  der  Vertreter 

20 


der  Revolution,  beziehungsweise  Vorhandensein  einer 
autoritativen  Deklaration  über  den  geschichtlichen  Sinn 
der  Erhebung  vom  9.  November  1918.  Über  ihn  gehen 
nun  freilich  die  Meinungen  sehr  auseinander,  herrscht  selbst 
in  der  Sozialdemokratie  nicht  Einigkeit.  Indes  werden 
solche  Fragen  auch  nicht  danach  entschieden,  was  einzelne 
Parteien  in  der  Erhebung  gewollt  oder  von  ihr  erwartet 
hatten,  sondern  nach  dem,  was  die  N  a  t  i  o  n  in  ihrer  Mehr- 
heit von  ihr  akzeptierte.  Und  da  können  als  unzwei- 
felhaft durch  den  9.  November  1918  in  Deutschland  pro- 
hibiert erklärt  werden  das  monarchistische  Regie- 
rungssystem und  die  mit  ihm  verbundenen  dynastischen 
Eigentumsrechte. 

Vielfach  haben  denn  auch  die  auf  Grund  des  neuen 
Rechtes  gewählten  gesetzgebenden  Körperschaften  bei  den 
vermögensrechtlichen  Auseinandersetzungen  mit  den  ab- 
gesetzten Dynastien  aus  dem  natürlichen  Rechtsgefühl  her- 
aus nach  ähnlichen  Grundsätzen,  wie  Lassalle  sie  ent- 
wickelt, zwischen  ablösbarem  und  verfallenem  Besitz  un- 
terschieden. Es  sind  aber  noch  Fälle  unerledigt,  bei  denen 
man  mit  Frucht  Lassalles  scharfsinnige  Ausführungen 
über  die  Theorie  der  Entschädigung  wird  benutzen  können. 

Einen  anderen  Verlauf  als  die  deutsche  Revolution  hat 
bisher  die  Revolution  in  Rußland  genommen.  Daher  er- 
scheinen einige  Bemerkungen  über  ihre  Behandlung  unserer 
Frage  angezeigt. 

Ob  man  mit  Bezug  auf  die  vermögensrechtlichen  Maß- 
nahmen der  Bolschewisten  Rußlands  von  irgend  einem 
leitenden  Rechtsgedanken  im  Sinne  von  Lassalles  Theorie 
sprechen  kann,  erscheint  mir  zweifelhaft.  Allerdings  haben 
auch  sie  bei  ihren  Expropriationen  unterschieden.  Aber  sie 
haben  die  Linie  nicht  danach  gezogen,  daß  Rechte  für 
verfallen  erklärt   wurden  und   Eigentum  kurzweg  konfis- 

21 


ziert  ward,  weil  sie  zu  Hemmungen  der  allgemeinen  Ent- 
wicklung geworden  waren  und  ihrem  Geist  widersprachen, 
sondern  sie  konfiszierten  ohne  Rücksicht  auf  die  Ent- 
wicklungshöhe des  Landes  zugunsten  einer  ausgedachten 
sozialistischen  Umgestaltung  der  Gesellschaft.  Außerdem 
stehen  sie  dem  Lande  nicht  als  anerkannte  Vertreter  des 
allgemeinen  Willens,  sondern  als  erobernde  Partei  gegen- 
über, die  mittelst  organisierter  Gewalt  jede  Opposotion 
darniederhält.  Gleichviel  wie  man  dies  um  des  Zweckes 
halber  rechtfertigen  mag,  so  ist  so  viel  unabweisbar,  ihr 
Recht  ist  nicht  der  Ausdruck  des  Sinnes  der  russischen 
Revolution  selbst  und  bat  daher  mit  dem  revolutionären 
Rechtsgedanken  Lassalles  nicht  mehr  zu  tun  als  seinerzeit 
das  Recht  der  Spanier,  die  sich  das  Reich  der  Inca  unter- 
warfen. 

Auch  wenn  das  System  der  erworbenen  Rechte  auf 
Wissenschaft  und  Praxis  nicht  diejenige  Wirkung  aus- 
geübt hat,  die  sich  Lassalle  von  ihm  versprach,  so  ist  es 
darum  doch  nicht  vergebens  geschrieben  worden.  Nur  als 
Ganzes  ist  der  zweite  Band  grandioser  Irrtum,  im  ein- 
zelnen enthält  er  sehr  wertvolle  Untersuchungen,  die  sicher- 
lich nicht  ohne  fruchtbringende  Wirkung  geblieben  sind. 
Der  erste  Band  aber  kann  noch  heute  nicht  als  überlebt 
bezeichnet  werden.  Für  eine  revolutionäre  Zeit  ausgear- 
beitet, können  die  in  ihm  niedergelegten  Rechtsgedanken 
bei  wichtigen  Entscheidungen  der  Gegenwart  und  Zu- 
kunft dem  Gesetzgeber  und  dem  rechtverteidigenden 
wie  dem  rechtsprechenden  Gesetzesanwender  die  Leitung 
geben.  Glaube  man  nicht,  daß  es  gleichgültig  sei,  wie  in 
einer  revolutionären  Epoche  das  Recht  gehandhabt  wird 
und  daß  es  der  Gipfel  radikalen  Vorgehens  sei,  nichts  als 
die  Macht,  die  man  erobert  hat,  sprechen  zu  lassen.  Das 
Brutale    ist   nur   scheinbar   das   Radikale,    denn   die   Ge- 

22 


schichte  und  jetzt  wieder  die  Gegenwart  haben  uns  Bei- 
spiele genug  geliefert,  wo  die  Politik  der  über  jedes  Recht 
sich  hinwegsetzenden  Gewalt  nur  zerstörerisch  gewirkt,  nur 
Elend  im  Gefolge  gehabt  hat.  Radikal  im  politischen  Sinne 
ist  aber  nur,  was  zugleich  schöpferisch  wirkt,  und  schöp- 
ferisches Wirken  ist  in  großem  Umfange  nur  dort  möglich, 
kann  sich  nur  dort  ersprießlich  geltend  machen,  wo  Recht 
obwaltet.  Was  ich  vor  27  Jahren  am  Schlüsse  meiner  Vor- 
bemerkung zu  den  Auszügen  aus  dem  System  der  erwor- 
benen Rechte  ausführte,  kann  ich  daher  hier  nur  wieder- 
holen : 

„Wie  revolutionär  man  sich  immer  die  Übergangsepoche 
von  der  bürgerlichen  zur  sozialistischen  Gesellschaft  denken 
mag,  sie  wird  nicht  die  eines  unvermittelten  Sprunges  von 
der  einen  in  die  andere  Gesellschaftsform  sein,  und  wie 
weitreichende  Eingriffe  in  das  Gebiet  bisheriger  Eigen- 
tumsprivilegien man  dabei  auch  voraussetzen  mag,  es  werden 
nicht  die  sinnlos  waltender  brutaler  Gewalt  sein  können, 
sondern  der  Ausdruck  einer  bestimmten,  wenn  auch  neuen 
und  sich  mit  elementarer  Kraft  geltend  machenden  Rechts- 
idee sein.  Es  wäre  Wahnsinn,  von  einer  plötzlichen,  ge- 
waltsamen Aufhebung  allen  Eigentums,  von  Annullierung 
aller  Rechtsbeziehungen  zu  träumen.  Die  Erörterung  des 
Grundgedankens  einer  Enteignungstheorie,  und  um  eine 
solche  im  weiteren  Sinne  handelt  es  sich  in  der  Tat  im 
„System  der  erworbenen  Rechte",  die  durchaus  revolu- 
tionär ist  und  doch  zugleich  dem  positiven  Recht  gerecht 
wird,  kann  daher  auch  für  Parteigänger  des  revolutionären 
Sozialismus   keine   verlorene  Mühe  sein. 

Berlin-Schöneberg,   April    1920. 

Ed.  Bernstein. 

23 


DAS  SYSTEM 
DER  ERWORBENEN  RECHTE 


EINE  VERSÖHNUNG  DES  POSITIVEN 
RECHTS  UND  DER  RECHTSPHILOSOPHIE 

VON 

FERDINAND  LASSALLE 


IN  ZWEI  TEILEN 


ERSTER  TEIL 


DER  ERSTE  ABDRUCK  ERSCHIEN 
IM  VERLAG  VON  F.  A.  BROCKHAUS,  LEIPZIG  1861 


DIE  THEORIE  DER 
ERWORBENEN  RECHTE  UND 
DER  COLLISION  DER  GESETZE 

UNTER  BESONDERER  BERÜCKSICHTIGUNG 

DES   RÖMISCHEN,   FRANZÖSISCHEN   UND 

PREUSSISCHEN  RECHTS 

DARGESTELLT  VON 

FERDINAND   LASSALLE 


DER  ERSTE  ABDRUCK  ERSCHIEN 
IM  VERLAG  VON  F.  A.  BROCKHAUS,  LEIPZIG  1861 


TpefOvtat  jap  rivrt?  oi  äv9pu>irivot  v6|i.i}i  Öico 
ivb?  toü  9iiou-  tpaxei  Y«|>  toooötovj  6xo<jok 
tOtXet  xal  sSapxei  itä»i  xai  iwpiYlvstai. 

HerakliL 

Et  ego  in  hoc  omni  sermone  nostro ,  quod  ad 
cumque  legis  genus  me  disputatio  nostra  deduxerit, 
tractabo,  quoad  potero ,  ejus  ipsius  generis  jus 
civile  nostrum ;  sed  ita,  locus  ut  ipse  notus  sit, 
ex  quo  ducatur  quaequc  pars  juris,  ut  non  diffi- 
cile  sit,  qui  modo  ingenio  possit  moveri ,  quae- 
cumque  nova  causa  consultatione  acciderit,  ejus 
tenere  jus,  cum  sciat  a  quo  sit  capite  repetendum. 
Cicero,  De  legg.,  II,  18. 


MEINEM   VATER 

ZU  SEINEM  SIEBZIGSTEN  GEBURTSTAGE 

IN  LIEBE  UND  DANKBARKEIT 

GEWIDMET 


VORREDE. 

Wenn  das  nachfolgende  Werk  seine  Aufgabe  wahrhaft 
gelöst  haben  soll,  so  kann  und  darf  es  in  seinem  letzten 
Resultate  nichts  Geringeres  sein,  als  die  rechtswissenschaft- 
liche Herausringung  des  unserer  ganzen  Zeitperiode  zu- 
grunde liegenden  politisch-sozialen  Gedankens.  Diese  Be- 
hauptung kann  im  ersten  Augenblick  paradox,  der  Zu- 
sammenhang eines  rechtswissenschaftlichen  Werkes,  wel- 
ches rein  und  streng  als  solches  auftritt,  mit  dem  politi- 
schen Zeitgedanken  unklar  erscheinen.  Die  tiefere  Not- 
wendigkeit desselben  ergibt  sich  nichtsdestoweniger  schon 
aus  einer  kurzen  Betrachtung. 

Was  ist  es,  das  den  innersten  Grund  unserer  politischen 
und  sozialen  Kämpfe  bildet  ?  Der  Begriff  des  er- 
worbenen Rechtes  ist  wieder  einmal  streitig 
geworden  —  und  dieser  Streit  ist  es,  der  das  Herz 
der  heutigen  Welt  durchzittert  und  die  tief  inwendigste 
Grundlage  der  politisch-sozialen  Kämpfe  des  Jahrhun- 
derts bildet ! 

Im  Juristischen,  Politischen,  ökonomischen  ist  der  Be- 
griff des  erworbenen  Rechtes  der  treibende  Springquell 
aller  weiteren  Gestaltung,  und  wo  sich  das  Juristische 
als  das  Privatrechtliche  völlig  von  dem  Politischen  ab- 
zulösen scheint,  da  ist  es  noch  viel  politischer  als  das 
Politische  selbst,  denn  da  ist  es  das  soziale  Element. 

Aber  die  bloße  Notwendigkeit,  hierauf  erst  noch  hin- 
zuweisen, zeigt  nur,  in  welcher  geistlosen  Verflachung  und 
Oberflächlichkeit   der    Begriff   des    Politischen   von   den 

29 


Wortführern  der  liberalen  Bourgeoisie  gefaßt  wird,  und 
ist  nur  ein  Ausfluß  hiervon.  Die  Isoliertheit,  in 
welcher  die  liberale  Bourgeoisie  das  Politische  auffaßt, 
ist  es,  welche  ihren  Standpunkt  und  Geisteshorizont  cha- 
rakterisiert und  die  Natur  ihrer  Leistungen  bedingt.  Diese 
Isoliertheit  ist  es,  welche  zugleich  ihren  politischen  Dia- 
triben  jenen  erstaunlich  langweiligen,  kannegießernden  An- 
strich verleiht ;  sie  ist  es,  welche  sie  zwingt,  da  sie  nie- 
mals von  der  Universalität  des  Geistigen  eine  Ahnung 
erlangt  und  sich  des  politischen  Inhaltes  nur  in  jener  toten 
Abgerissenheit  zu  bemächtigen  sucht,  in  welcher  das  Gei- 
stige sein  Leben  und  sein  Verständnis  eingebüßt  hat,  sich 
an  bloße  Worte  hinzuverlieren  und  auf  Worten,  m  i  t 
Worten  und  für  Worte  zu  kämpfen ! 

Dieser  Wortkultus  kann  natürlich  nicht  umhin,  zu  einem 
gänzlichen  Verlust  jedes  Gedankeninhaltes  und  in  dessen 
Folge  zu  den  ergötzlichsten  Verwirrungen  zu  führen.  So 
gilt  in  Deutschland  bekanntlich  S  a  v  i  g  n  y  ,  der  Chef  der 
historischen  Schule,  als  ein  Hauptrepräsentant  der  reaktio- 
nären Partei,  während  seine  Prinzipien  über  die  erworbenen 
Rechte  noch  wahrhaft  revolutionär  und  umwäl- 
zend zu  nennen  wären  neben  der  lächerlich  widerspruchs- 
vollen Stellung,  welche  von  den  Vertretern  des  Liberalis- 
mus in  der  Rechtswissenschaft  hierbei  eingenommen  wird. 
Als  ein  Beleg  dieses  ergötzlichen  Gegensatzes,  als  ein 
köstliches  Beispiel  dieser  händeringenden  Verwirrung  und 
der  komischsten  Verstrickung  in  Widersprüche,  die  sich 
mit  jedem  Schritte  selbst  aufessen,  kann  der  Artikel  „Haus- 
gesetze" von  Jordan  in  Rotteck  und  Welckers  „Staats- 
Lexikon"  (l.Aufl.,  Altona  1839),  dienen. 

Eine  wahrhafte  Theorie  der  erworbenen  Rechte  wird 
daher  immer,  ob  sie  dies  bezwecke  oder  nicht,  nur  den- 
selben  Gedanken,   welcher  die  bewegende  und  treibende 

30 


Seele  der  gesamten  Zeitperiode  bildet  —  wir  nehmen 
dieses  Wort  im  Sinne  der  größten,  umfassendsten  Ab- 
schnitte und  der  entscheidendsten  Wendepunkte  des  Gei- 
stes — ,  zur  Wissenschaft  erheben.  Sie  wird  diesen 
Gedanken  zur  vollendeten  Sichselbstdurchsichtigkeit  brin- 
gen, ihn  so  aus  seiner  unmittelbaren,  als  Instinkt  wirkenden 
Form  befreien  und  sich  seiner  in  seiner  wahrhaften  Gestalt 
und  vollendeten  Totalität  bewußt  werden.  Sie  wird  ihn 
eben  deshalb  auch  als  das  nachweisen  müssen,  was  schon 
bisher  der  tätige,  organische  Bildungstrieb  in  der  empiri- 
schen Rechtswirklichkeit  war.  Dies  steht  in  keinem  Wider- 
spruche zu  dem  Vorigen.  Das  Anbrechen  einer  neuen  Zeit 
besteht  immer  nur  in  dem  erlangten  Bewußtsein  über 
das,  was  die  bisher  vorhandene  Wirklichkeit  an  sich  ge- 
wesen ist. 

Gelänge  es,  wissenschaftlich  nachzuweisen,  daß  der  g  e  - 
s  a  m  t  e  bisherige  Rechtsstoff,  und  zwar  der  praktisch  wie 
historisch  vorhandene,  seit  seiner  Entstehung  zur  Römer- 
zeit, daß  also  das  System  des  Rechtes  selbst 
einer  ganz  anderen  und  höheren  Durchsichtigkeit  fähig  ist 
als  diejenige,  welche  ihm  bisher  gelang,  so  würde  dann 
hierdurch  zugleich  auch  das  wahrhafte  wissenschaftliche 
Symptom  gegeben  sein,  daß  die  Rechtswirklichkeit  im 
Begriff  ist,  einer  absolut  entgegengesetzten  Gestalt  zuzu- 
eilen. Denn  zu  ihrem  bewußten  Ausgangspunkte 
das  nehmend,  was  bisher,  und  seit  ihren  ältesten  Grund- 
lagen, nur  ein  unbewußt  wirkender  Trieb  in  ihr  war,  muß 
sie  vermöge  der  Konsequenz  des  sich  in  freier  Bewußtheit 
verwirklichenden  Gedankens  sich  notwendig  und  in  allen 
ihren  Grundlagen  zu  einem  ebenso  absolut  entgegengesetzten 
äußeren  Bau  gestalten,  als  sie  innerlich  in  engster  Konti- 
nuität mit  ihrer  Vergangenheit  steht.  Es  würde  somit  das 
wissenschaftliche    Symptom    gegeben   sein,    daß    innerlich 

31 


eine  totale  Umwandlungsperiode,  die  Zeit  einer  We  1 1  - 
wende  für  die  Rechtswirklichkeit  eingetreten  ist. 

Es  ist  nicht  unsere  Absicht  —  und  wäre,  selbst  wenn 
wir  es  beabsichtigten,  nicht  einmal  möglich  —  eingehender, 
als  hier  geschehen,  dies  klarzulegen.  Das  wahrhafte  Ver- 
ständnis des  Gesagten  kann  sich  erst  ergeben,  wenn  nach 
der  Lektüre  des  ganzen  Werkes  ein  Blick  auf  diese  Vor- 
rede zurückgeworfen  wird,  wie  denn  jede  Vo  r  r  e  d  e  für 
den  Autor  vielmehr  eine  Nachrede  ist,  und  es  eben 
kein  günstiges  Zeichen  für  das  Werk  selbst  ist,  wenn  diese 
Nachrede  über  das  Verhältnis  des  Werkes  zur  Wissen- 
schaft dem  Leser  verständlich  und  durchsichtig  ist,  ohne 
daß  er  das  Werk  kennt.  Denn  es  wäre  dann  hierdurch 
jedenfalls  schon  der  Beweis  gegeben,  daß  durch  das  Werk 
in  dem  inneren  Bau  der  Wissenschaft  nichts  von  Bedeutung 
geändert  ist. 

Wir  wenden  uns  daher  einem  anderen  Punkte  zu,  dem- 
jenigen, das  notwendige  Mißverhältnis  anzudeuten,  in  wel- 
chem der  Titel  dieses  Werkes  zu  seinem  Inhalt  steht. 
Das  Werk  enthält,  sei  es  nun  des  Gelungenen,  sei  es  des 
Mißlungenen,  jedenfalls  unendlich  mehr,  als  sein  Titel 
ahnen  läßt,  und  wir  nennen  dieses  Mißverhältnis  ein  not- 
wendiges. 

Wer  eine  Theorie  der  erworbenen  Rechte  schreiben 
will,  wird  nämlich  notwendig  sehr  bald  entdecken,  daß 
dies  Unternehmen  nur  ausführbar  ist,  wenn  zuvor  die  ein- 
zelnen positiven  Rechtsinstitute  selbst  in  ihrem 
wahrhaften  Wesen  erkannt  sind.  Allein  dies  war  bisher 
keineswegs  der  Fall,  und  wir  waren  daher  genötigt,  auch 
noch  die  eigenen  Grundlagen  und  Vo raussetzungen 
unseres  Werkes  in  demselben  aufzuführen.  So  mußten  wir 
die  Institute  des  dolus  und  Zwanges,  Irrtum  und  Unwissen- 
heit, ignorantia  juris  und  facti,  Irrtum  in  der  Substanz  und 

32 


in  den  Motiven,  die  ädilizischen  Klagen  und  die  Kondik- 
tionen, den  Quasikontrakt  und  die  negotiorum  gestio  usw., 
und  vor  allem  das  Erbrecht,  zu  ihrer  begrifflichen  Er- 
kenntnis und  Darstellung  bringen,  wenn  es  möglich  sein 
sollte,  eine  wissenschaftliche  Theorie  der  erworbenen 
Rechte  zu  entwickeln. 

Es  ist  ein  nur  zu  erklärliches  Wunder,  wenn  bisher 
von  allen  diesen  Rechtsinstituten  und  von  so  vielen  an- 
deren kein  einziges  erkannt  war.  — 

Es  sind  jetzt  über  vierzig  Jahre  her,  daß  Hegel  die 
erste  Ausgabe  seiner  „Rechtsphilosophie"  erschei- 
nen ließ.  Dies  Werk  konnte  nach  den  gesamten  Grund- 
bedingungen seines  Erscheinens  als  der  erste  Versuch, 
das  Recht  als  einen  vernünftigen,  sich  aus  sich  selbst  ent- 
wickelnden Organismus  nachzuweisen,  zur  wirklichen 
Rechtsphilosophie  .gar  kein  anderes  Verhältnis  einnehmen, 
als  etwa  die  allgemeine  logische  Disposition  eines 
Werkes  zudem  We  rkeselbst.  Hegel  legte  den  Plan 
des  Werkes,  er  gab  seine  allgemeinsten  Grundgliederungen  ; 
und  wie  beschaffen  dieser  Plan  immer  sei,  es  bleibt  dies 
ein  großes  und  hinreichendes  Verdienst  für  den  ersten 
Autor,  der  ohnehin  bei  der  Universalität  seiner  Aufgabe 
sich  keiner  Spezialmaterie  ausschließender  hingeben  konnte. 
Die  nächste  Aufgabe  der  Hegeischen  Philosophie  wäre  nun 
gewesen,  die  Disposition  zum  Werke  auszuführen, 
d.h.  zunächst  eine  Philosophie  des  Privatrech- 
te s  zu  schreiben  und  die  gesamten  realen  und  positiven 
Institute  desselben  zu  entwickeln.  Hierzu  ist  nicht  einmal 
ein  Versuch  gemacht  worden !  Es  fehlte  nicht  an  Rechts- 
philosophien, aber  man  begnügte  sich,  die  Hegeische 
Rechtsphilosophie  mit  Abänderung,  Verschiebung  und  in 
der  Regel  Verschlechterung  irgendeines  Dütelchens  und 
Pünktchens   zu   wiederholen.    Statt  in   den   Reichtum  des 

3  Lassalle.    Gm.  Schriften.    Band  IX.  33 


positiven  Rechtsmaterials  einzudringen  und  ihn  begreifend 
zu  gestalten,  statt  die  positive  Rechtswissenschaft 
selbst  vom  philosophischen  Gedanken  aus  zu  entwickeln 
und  zu  erzeugen,  begnügten  sich  die  Philosophen,  im 
Himmel  ihrer  allgemeinen  Redensarten  der  groben  Erde 
des  realen  Rechtsstoffes  so  fern  wie  möglich  zu  bleiben. 
Sie  begnügten  sich,  statt  an  das  Werk  selbst  zu  gehen, 
die  Hegeische  Disposition  zum  Werke  immer  wieder  zu 
repetieren,  jene  dünnsten,  allgemeinen  Grundlinien,  wie 
Eigentum,  Vertrag  usw.,  immer  von  neuem  abzuhaspeln. 
So  kam  es,  daß  nicht  einmal  die  schwächsten  und  nahe- 
liegendsten Fortschritte  gemacht,  nicht  einmal  der  Quasi- 
kontrakt, die  negotiorum  gestio,  geschweige  denn  die  ädilizi- 
schen  Klagen,  die  Wirksamkeit  und  Unwirksamkeit  des 
Irrtums  usw.  erklärt  wurden,  weil  dies  bei  Hegel  nicht 
geschehen  war,  so  notwendig  und  unvermeidlich  dies  auch 
für  die  Erkenntnis  des  Willensbegriffes  selbst,  des- 
sen Entwicklung  und  Darstellung  die  Rechtsphilosophie 
nur  ist,  gewesen  wäre.  Wir  haben  hierbei  nicht  Rechts- 
philosophien vor  Augen,  wie  z.  B.  vor  kurzem  eine  von 
Adolf  Trendelenburg  erschien.  Solche  Werke  sind  jeden- 
falls, wie  sie  auch  ausfallen  mögen,  die  ungeheuere  Ge- 
dankenanstrengung, das  Recht  als  eine  vernünftige  Tota- 
lität in  unabhängiger  und  eigentümlicher  Weise  zu  be- 
greifen, und  können  deshalb,  wie  Hegel  selbst,  bei  ganz 
allgemeinen  Grundzügen  stehen  bleiben.  Wir  sprechen  aus- 
schließlich von  den  Hegelianern.  Sie  gerade,  für  welche 
die  philosophische  Methode  und  die  Auffassung  des 
Rechtssystemes  überhaupt,  sie,  für  welche  sogar  die  ganze 
Architektonik  und  Gliederung  der  Rechtsphilosophie  eine 
bereits  von  Hegel  gegebene  und  aus  ihm  beibehaltene  war, 
—  für  sie  gerade  hatte  es  nur  dann  einen  Sinn,  eine  Rechts- 
philosophie zu  schreiben,  wenn  sie  sich  zum   Eindringen 

34 


in  den  positiven  Rechtsstoff  und  in  die  Realität  der  In- 
stitute des  Privatrechtes,  wenn  sie  sich  zur  philosophi- 
schen Erzeugung  der  positiven  Rechtswis- 
senschaft entschlossen  hätten. 

Nichts  von  alledem  geschah  oder  wurde  auch  nur  ver- 
sucht. Es  ging  der  Hegeischen  Philosophie  in  bezug  auf 
das  jus,  wie  es  ihr  fast  in  bezug  auf  alle  Fächer  der  realen 
Wissenschaften,  mit  Ausnahme  der  Theologie  und  etwa 
der  Ästhetik,  erging.  Wenn  man  früher  in  der  Natur  von 
einem  horror  vacui  sprach,  so  herrschte  allen  Ernstes  bei 
den  Hegelianern  ein  horror  pleni,  ein  Grauen  vor  dem 
positiven  Stoffe  und  seiner  unnahbaren  Fülle,  während 
doch  gerade  nur  aus  dem  konkreten  Detail  des  Empirischen 
die  Wa  h  r  h  e  i  t  erkannt  werden,  und  auch  nur  in  ihm  die 
Schärfe  ihres  Beweises  finden  kann.  Freilich  ist  die  empi- 
rische Wissenschaft  ein  weit  schwerer  zu  erlangendes  und 
auch  ein  weit  unnachgiebigeres  und  somit  in  beiden  Be- 
ziehungen weit  unbequemeres  Element  als  der  geschmeidige 
Äther  allgemeiner  Redensarten.  So  ist  e$  denn  dahin  ge- 
kommen, daß  —  was  der  gute  Genius  der  deutschen  Nation 
verhüten  möge  —  aus  der  Hegeischen  Philosophie  selbst, 
dieser  Quintessenz  aller  Wissenschaftlichkeit,  sich  eine 
neue  literarische  Schöngeisterei  zu  erzeugen,  daß  sie  sich 
in  eine  neue  belletristische  Geistreichigkeitsbrühe  zu  ver- 
wandeln droht,  die  man  den  unbegriffenen  und  ungewußten 
Dingen  aufgießt ! 

Hegel  selbst  und  seine  Philosophie  tragen  hieran  keine 
Schuld.  Auf  allen  Seiten  seiner  Werke  hat  Hegel  stets 
unermüdlich  hervorgehoben,  daß  die  Philosophie  identisch 
mit  der  Totalität  der  Empirie  sei,  daß  die  Philo- 
sophie nichts  so  sehr  erfordere,  als  die  Vertiefung  in  die 
empirischen  Wissenschaften.  Mit  hohem  Recht  rief  in 
geistreicher  Wendung  ein  Freund  Hegels  an  dessen  Grabe 

s*  35 


den  Hegelianern  zu :  Alexander  der  Große  sei  tot,  und  es 
sei  jetzt  Pflicht  seiner  Generäle,  sich  in  sein  Reich  zu 
teilen.  Allein  um  sich  in  dies  Universalreich  zu  teilen, 
das  von  Hegel  nur  im  allgemeinen  in  Besitz  ge- 
nommen war,  hätten  die  Provinzen  desselben  nun  im 
einzelnen  von  den  Generälen  realiter  erobert  werden 
müssen.  Diese  reale  Eroberung  unterblieb ;  notwendig 
konnte  daher  auch  der  allgemeine  Besitzstand  ebensowenig 
auf  die  Dauer  behauptet  werden,  wie  von  jenen  Nach- 
folgern Alexanders,  und  dies  erklärt  den  Verfall  und  die 
Mißachtung,  in  welche  die  Philosophie  gegenwärtig  ge- 
raten ist.  Ein  bemerkenswerter  Versuch  wurde  gerade  in 
Beziehung  auf  das  Recht  in  der  Tat  gemacht.  Wir  mei- 
nen das  „Erbrecht"  von  Gans.  Dieser  Versuch  war,  wie 
wir  im  zweiten  Teile  unseres  Werkes  sehen  werden,  noch 
ganz  abstrakt  und  verunglückt.  Aber  es  war  doch  minde- 
stens ein  ernsthafter  und  realer,  höchst  anerkennenswerter 
Versuch.  Man  hätte  ihn  nicht  oft  wiederholen,  nicht  in 
ähnlichem  Sinne  sich  auf  andere  Teile  des  Rechtsgebietes 
einlassen  können,  ohne  sich  allmählich  an  der  Festigkeit 
des  realen  Stoffes  zwangsweise  auf  den  rechten  Weg  hin- 
zustoßen. Allein  es  hatte  hierbei  sein  Bewenden. 

Hieraus  erklärt  sich  das  Verhältnis,  das  zwischen  der 
Rechtsphilosophie  und  der  positiven  Rechts- 
wissenschaft notwendig  eintreten  mußte.  Die  Hegel- 
sche  Philosophie  hat  den  Anspruch  einer  Versöhnung  zwi- 
schen Naturrecht  und  positivem  Recht,  den  sie  erhob  und 
zu  dem  sie  das  allgemeine  Grundprinzip  in  der  Tat  in  sich 
enthält,  keineswegs  zur  Erfüllung  gebracht.  Rechtsphilo- 
sophen und  positive  Juristen  fahren  daher  fort,  in  derselben 
abstrakten  und  kaum  voneinander  Notiz  nehmenden  Stel- 
lung fortzuexistieren,  wie  jemals  vor  Hegels  Zeit,  ja  in 
noch  höherem  Grade  als  in  der  Hegel  selbst  angehörenden 

36 


Periode.  Denn  es  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  sich  z.  B. 
in  Savignys  Werken  überall  ein  Einfluß  und  ein  Trieb 
philosophischen  Denkens  wahrnehmen  läßt,  wie  er  durch- 
aus nicht  in  dieser  Weise  bei  den  meisten  Späteren  exi- 
stiert. In  dieser  abstrakten  Trennung  voneinander  war  die 
Stellung  der  Rechtsphilosophen  und  der  positiven  Juristen 
natürlich  gleichmäßig  unerquicklich  und  notwendig  resul- 
tatlos. Hatten  die  Rechtsphilosophen,  im  Himmel  der 
allgemeinen  Phrase  stecken  bleibend,  das  reale  Reich  des 
Rechtes  grundsätzlich  aufgegeben  und  sich  von  ihm  zurück- 
gezogen, hatten  sie  sich  hierdurch  selbst  genötigt,  auch  in 
jenen  allgemeinsten  Grundlinien  des  Rechtes,  die  sie  in 
den  Kreis  ihrer  Betrachtung  zogen,  in  die  abstraktesten  und 
falschesten  Auffassungen  zu  verfallen,  so  blieben  die  posi- 
tiven Juristen  nach  wie  vor  im  empirischen  Material  als 
solchem  befangen  und  allen  den  zahllosen  Täuschungen 
hingegeben,  in  welche  sich  der  Verstand,  wenn  er  auf 
Erkenntnis  des  Geistigen  ausgeht,  bei  jedem  Schritt  mit 
Notwendigkeit  verstricken  muß. 

Nichtsdestoweniger  erfordert  die  Gerechtigkeit,  einzu- 
gestehen, daß  in  dieser  Trennung  die  Rolle  der  positiven 
Juristen  immer  bei  weitem  die  nützlichere  war,  wie  sie 
auch  die  geringere  Schuld  trifft.  Denn  als  Vertreter  des 
Gedankens,  welcher  selbst  das  übergreifende  Moment  ist, 
hatten  die  Philosophen  eben  deshalb  auch  die  Pflicht,  in 
ihren  Gegensatz  überzugreifen,  selbst  zu  positiven  Juristen 
zu  werden  und  das  Stoffliche  aus  dem  Gedanken  zu  er- 
zeugen. Den  Vertretern  des  Stoffes  dagegen  konnte  es 
schon  weit  weniger  verdacht  werden,  wenn  sie  das  Behar- 
ren auf  sich  selbst,  diese  Eigenschaft  alles  Stoffes,  auch 
hier  zur  Darstellung  brachten.  Selbst  in  dieser  abstrakten 
Trennung  führten  sie  wenigstens  noch  Bausteine  herbei, 
brachten   Material   zusammen  und   leisteten  vorbereitende 

37 


Dienste  für  spätere  Erkenntnis.  Der  Stoff  hat  ohne  den 
Gedanken  immer  noch  einen  relativen  Wert,  der  Gedanke 
ohne  den  Stoff  nur  die  Bedeutung  einer  Chimäre. 

Und  selbst  alles,  was  zur  Vergeistigung  und  Erkenntnis 
des  Rechtsstoffes  in  den  letzten  zwanzig  Jahren  etwa  noch 
geschehen  ist,  ist  —  man  muß  dies  unverhüllt  gestehen  — 
immer  von  den  empirischen  Gelehrten,  den  positiven  Ju- 
risten und  Rechtshistorikern,  nie  von  den  Philosophen  aus- 
gegangen. 

Die  Impotenz,  zu  welcher  diese  gezwungen  waren,  kann 
nicht  wundernehmen.  Die  Philosophie  kann  nichts  sein 
als  das  Bewußtsein,  welches  die  empirischen  Wissen- 
schaften über  sich  selbst  erlangen.  Dazu  war  somit  vor 
allem  erforderlich,  daß  die  Philosophen  zuvor  selbst  zu 
empirischen  Gelehrten  in  diesen  Fächern  der  Wissenschaft 
wurden,  denen  sie  zum  Bewußtsein  über  sieh  selbst  ver- 
helfen sollten.  Mit  Recht  haben  die  positiven  Juristen 
nichts  mit  größerem  Mißtrauen  und  größerer  Gering- 
schätzung betrachtet,  als  die  Versuche  apriorischen  Kon- 
struierens  von  Seiten  solcher,  die  auf  dem  Felde  dieses 
positiven  Wissens  keineswegs  zu  Hause  waren,  die  statt 
in  alle  Rinnen  und  Furchen  dieses  Feldes  eingelebt  zu 
sein  und  aus  ihnen  heraus  die  Flammen  des  Lichtes  schla- 
gen zu  lassen,  das  Feld  als  solches  durch  ein  flüchtig  von 
oben  herabgeworfenes  bengalisches  Feuerwerk  beleuchten 
wollten,  eine  Beleuchtung,  die  in  ihren  flüchtigen  und  un- 
gewissen Umrissen  nichts  anderes  zeigt,  als  wie  groß  und 
dunkel  das  Gebiet  ist,  das  erleuchtet  werden  sollte. 

Mit  dem  Erörterten  hängt  ein  anderer  Punkt  von  kapi- 
taler Wichtigkeit  zusammen. 

Wenn  die  Rechtsphilosophen,  statt,  wie  wir  sagten, 
immer  nur  die  schon  von  Hegel  vollbrachte  logische  Dis- 
position   des   Werkes   bloß   zu   wiederholen,   dazu  über- 

38 


gegangen  wären,  die  Disposition  zum  Werke  auszuarbeiten, 
so  würde  hier,  wie  stets,  gerade  diese  reelle  Ausarbeitung 
gezeigt  haben,  was  an  jener  Disposition  selbst  falsch  und 
zu  verändern  sei.  Hätten  die  Philosophen  sich  nicht  darauf 
beschränkt,  bei  den  dünnen  allgemeinen  Grundlinien  der 
Hegeischen  Rechtsphilosophie,  Eigentum,  Familie,  Ver- 
trag usw.,  stehen  zu  bleiben,  wären  sie  dazu  übergegangen, 
eine  Philosophie  des  Privatrechtes  in  dem  oben  angedeu- 
teten Sinne  einer  philosophischen  Entwicklung  der  kon- 
kreten einzelnen  Rechtsinstitute  desselben  zu  schreiben,  so 
würde  sich  an  dem  bestimmten  Inhalt  dieser  einzelnen 
positiven  Rechtsinstitute  sofort  herausgestellt  haben,  daß 
mit  den  abstrakt-allgemeinen  Kategorien  von  Eigentum, 
Erbrecht,  Vertrag,  Familie  usw.  überhaupt  nichts  getan 
ist,  daß  der  römische  Eigentumsbegriff  ein  anderer  ist 
als  der  germanische  Eigentumsbegriff,  der  römische  Erb- 
tumsbegriff  ein  anderer  als  der  germanische  Erbtums- 
begriff,  der  römische  Familienbegriff  ein  anderer  als  der 
germanische  Familienbegriff  usw.,  d.h.  daß  die  Rechts- 
philosophie, als  in  das  Reich  des  historischen  Geistes 
gehörend,  es  nicht  mit  logisch-ewigen  Kategorien  zu  tun 
hat,  sondern  daß  die  Rechtsinstitute  nur  die  Realisationen 
historischer  Geistesbegriffe,  nur  der  Ausdruck 
des  .geistigen  Inhaltes  der  verschiedenen  historischen  Volks- 
geister und  Zeitperioden,  und  daher  nur  als  solche  zu  be- 
greifen sind. 

Wir  haben  unsere  Ansicht  über  das  in  Rede  stehende 
Verhältnis,  so  viel  daselbst  bereits  möglich  war,  gleich 
im  Eingang  unseres  Werkes,  S.  137  fg.  des  ersten  Teiles, 
beiläufig  erörtert ;  wir  haben  es  an  der  Verschiedenheit 
des  germanischen  und  römischen  Eigentumsbegriffes  flüch- 
tig in  der  Note  1  zu  S.  390  (vgl.  Anwendungen  sub  Nr. 
HB.,  und  Tl.  2,  S.  757—802)  dargelegt;  wir  haben  es 

39 


in  bezug  auf  den  Familienbegriff  im  zweiten  Teile  sub 
Nr.  XL  und  Nr.  XXI  fg.,  und  S.  503,  Note  1  ;  wir  haben 
es  endlich  eingehend  und  erschöpfend  an  dem  Erbtums- 
begriff  durch,  den  ganzen  zweiten  Teil  dieses  Werkes 
nachgewiesen. 

Erst  durch  die  gesamte  reale  Darstellung  desselben  wird 
zur  Klarheit  gebracht  sein,  was  wir  hier  andeuten.  Dann 
wird  aber  auch  plastisch  und  gestaltend  durch  das  Bei- 
spiel dieser  Disziplin  nachgewiesen  sein,  wie  auch  jene 
Hegeische  Disposition  selbst,  wie  der  gesamte  Bau  und 
die  Architektonik  der  Hegeischen  Rechtsphilosophie  voll- 
ständig aufgegeben  werden  muß,  und  nichts  von  der  Hegel- 
schen  Philosophie  bewahrt  werden  kann,  als  ihre  Grund- 
prinzipien und  ihre  Methode,  um  die  wahrhafte  Rechts- 
philosophie zu  erzeugen,  die  dann  mit  der  Rechtswissen- 
schaft selbst  identisch  sein  und  zusammenfallen  wird,  wäh- 
rend in  ihrer  jetzigen  Trennung  keine  von  beiden,  weder 
die  Rechtsphilosophie  noch  die  positive  Jurisprudenz,  auf 
den  Namen  einer  Wissenschaft  wahren  Anspruch  machen 
kann. 

Das  Hegelsche  System,  in  der  Form,  die  ihm  Hegel 
selbst  gegeben  hat,  steht  in  bezug  auf  die  Geistesphilo- 
soph i  e  überhaupt  überall  in  absoluter  Inkongruenz  zu 
den  eigenen  Prinzipien  und  der  Methode  der  Hegeischen 
Philosophie.  Dies  in  seiner  Allgemeinheit  zum  wahrhaften 
Nachweis  zu  bringen,  würde  die  Sache  eines  neuen 
Systems  der  Philosophie  des  Geistes  sein, 
welches  wir  eines  Tages,  falls  die  Zeit  theoretischer  Muße 
—  man  kann  sie  heute  nicht  mehr  mit  Tacitus  eine  rara 
temporum  felicitas  nennen  —  für  die  Deutschen  niemals 
aufhören  sollte,  vielleicht  zur  Darstellung  bringen  werden. 

Bei  dem  gegenwärtigen  Verfall,  in  welchen  die  Philo- 
sophie und  ihr  Ansehen  gerade  dadurch  geraten  ist,  daß 

40 


so  viel  in  allgemeiner  Weise  und  ins  Allgemeine  hinein 
gesprochen  worden  ist,  ist  es  besser  und  angemessener, 
reale  Theile,  welche  diesem  System  entflossen  sind,  dieser 
allgemeinen  philosophischen  Grundlage  vorauf  zuschicken. 
Ihren  Beweis  müssen  sie  auch  in  dieser  Selbständigkeit 
an  sich  haben. 

Wohl  aber  folgt  aus  dem  Vongen  von  selbst,  daß  die 
totale  Reformation  der  Hegeischen  Philosophie,  die  wir 
verlangen,  und  in  dem  gegenwärtigen  Werke  einstweilen 
in  bezug  auf  die  Rechtsphilosophie  angebahnt  haben,  ebenso 
gut,  wie  sie  sich  negativ  zum  Hegeischen  System  verhält 
und  als  ein  anderes,  als  Hegels  Philosophie  bezeichnet 
werden  kann,  ebenso  gut  auch  noch  als  eine  Entwicklung 
der  Hegeischen  Philosophie  selbst  qualifiziert  werden 
muß. 

Es  ist  immer  dieselbe  von  Hegel  getragene  Fahne,  die 
nur  auf  einem  anderen  Wege  zum  Siege  geführt  werden 
soll.  Es  sind  immer  die  Grundprinzipien  und  die  Methode 
der  Hegeischen  Philosophie,  die  nur  gegen  Hegel  selbst 
recht  behalten,  gegen  die  mangelhafte  Ausführung,  die 
das  zufällige  Subjekt  in  ihm  dieser  Methode  gegeben  hat 
und  bei  dem  ersten  Versuch,  ein  Universalsystem  des  Ge- 
dankens zu  entwickeln,  noch  geben  mußte.  Es  ist  somit 
im  Grunde  Hegel,  der  gegen  sich  selbst  recht  behält. 

Es  wird  dies  im  zweiten  Teile  dieses  Werkes  noch  viel 
deutlicher  als  im  ersten  zur  lebendigen  Darlegung  kommen. 
Hegel  hat,  wegen  unzureichender  Bekanntschaft  mit  dem 
Stoffe,  dem  Recht  vielleicht  häufig  größeres  Unrecht  ge- 
tan, als  irgendeiner  anderen  Disziplin.  Wenn  er  die  römi- 
schen Juristen  als  die  Tätigkeit  des  abstrakten  Ve  r  s  t  a  n  - 
des  auffaßt,  so  werden  wir  auf  das  positivste  im  ganzen 
Verlauf  des  zweiten  Bandes  zum  Nachweis  bringen,  wie 
dies  nur  von  unseren  Juristen,   von  den  römischen 

41 


aber  das  strikte  Gegenteil  gilt.  Wir  werden  sehen,  wie 
ihre  Tätigkeit  vielmehr  schlechterdings  nur  die  des  spe- 
kulativen Begriffes  ist,  nur  eine  sich  selbst  nicht 
durchsichtige  und  bewußte,  wie  dies  ganz  ebenso  bei  der 
Tätigkeit  des  religiösen  und  künstlerischen  Geistes  der 
Fall  ist.  Wir  werden  sehen,  wie  diese  Tätigkeit  sich  in 
ihnen  auch  mit  der  ganzen  Unmittelbarkeit  und  Inbrunst 
des  religiösen  Geistes  vollzieht,  und  hieraus  wird  sich  erst 
der  prinzipielle  und  überaus  wichtige,  auch  das  Verständ- 
nis der  ganzen  mittelalterlichen  Rechtsgeschichte  bedin- 
gende Unterschied  zwischen  den  römischen  und  nachrömi- 
schen Juristen  verstehen  lassen. 

Oder  wenn  Hegel  in  dem  römischen  jus  civile  unge- 
rechte und  abscheuliche  Institutionen  findet,  wenn  er  den 
römischen  Rechtsgelehrten  und  den  Prätoren  eine  Inkonse- 
quenz imputieren  und  sie  an  ihnen  rühmen  zu  können  glaubt, 
wenn  er  es  für  einen  callide  gemachten  leeren  Wortunter- 
schied hält,  das,  was  doch  auch  Erbschaft  war,  eine 
bonorum  possessio  zu  nennen1)  usw.,  so  wird  sich  frei- 
lich zeigen,  daß  nichts  von  alledem  wahr  ist,  und  daß 
der  Unterschied,  statt  ein  leerer  Wortunterschied  zu  sein, 
vielmehr  gerade  der  volle  Unterschied  des  spekulativen 
Begriffes  ist. 

Allein  hiermit  wird  dann  immer  nur  erwiesen  sein,  daß 
die  Hegeische  Philosophie  noch  weit  mehr  recht  hatte,  als 
Hegel  selbst  wußte,  und  daß  der  spekulative  Begriff  noch 
weitere  Gebiete  und  noch  viel  intensiver  beherrscht,  als 
Hegel  selbst  erkannt  hatte. 

Mögen  andere,  so  viel  sie  wollen,  hervorheben,  daß 
diese  totale  Reformation,  die  wir  in  bezug  auf  das  Recht 
nun  ebenso  sehr  wie  in  bezug  auf  jede  andere  Disziplin 


x)  Hegels   „Rechtsphilosophie",   2.  Ausg.,   S.  32,   236  fg. 
42 


des  historischen  Geistes  in  der  Hegeischen  Phi- 
losophie für  nötig  halten,  eine  Negation  der  Hegel- 
schen  Philosophie  ist,  was  auch  in  der  Tat  nicht  bestritten 
werden  kann,  —  wir  unsererseits  werden  immer  daran  fest- 
halten, daß  diese  Negation  zugleich  die  eigene  aus  der 
Hegeischen  Philosophie  hervorgegangene  und  allein  konse- 
quente Gestalt  derselben  ist. 

Erst  durch  diese  eigene  Reform  seiner  selbst  wird, 
wovon  der  zweite  Teil  ein  für  sich  vollendetes  Beispiel 
gewähren  soll,  das  philosophische  Denken  die  positiven 
Wissenschaften  reformieren  und  mit  sich  ausgleichen  kön- 
nen, die  in  ihrer  Trennung  von  dem  philosophischen  Be- 
greifen nur  die  Wahl  haben,  in  welchen  von  mehreren 
Irrtümern  sie  verfallen  wollen.  Philosophische  und  histo- 
rische Betrachtung  in  diesem  Sinne  werden  gänzlich  mit- 
einander zusammenfallen. 

Von  der  Rechtsphilosophie  in  diesem  eben  entwickelten 
Sinne,  in  welchem  sie  mit  der  positiven  Rechtswissen- 
schaft identisch  ist,  haben  wir  versucht,  einige  hauptsäch- 
liche Teile  zu  schreiben.  Sie  ganz  zu  schreiben,  wäre 
weder  Sache  eines  Mannes,  noch  einer  Produktion.  Wohl 
aber  haben  wir  überall,  so  weit  es  nur  irgend  die  notwen- 
digen Grenzen  dieses  Werkes  zuließen,  die  Grundlagen 
für  die  philosophische  Erfassung  auch  jener  Institute,  die 
in  demselben  keiner  besonderen  Behandlung  unterworfen 
werden  konnten,  zu  legen  gesucht.  Der  Fortbau  anderer 
auf  dieser  Bahn  wird  uns  der  freudigste  Beweis  für  die 
Wirksamkeit  unserer  Arbeit  sein. 

Zwar  verkennen  wir  nicht,  wie  mißlich  es  ist,  eine  so 
totale  Reformation  der  Wissenschaft  anstreben  zu  wollen 
in  einer  gänzlich  unautoritätischen  Stellung.  Wir  haben 
kein  Katheder,  von  dem  herab  wir  sprechen  und  das  un- 
seren Worten  äußeren  Nachdruck  verleihen  könnte.   Der 

43 


Zunft  der  Wissenschaft  —  und  sie  bildet  in  Deutschland 
eine  solche,  wie  schon  Bunsen,  wie  schon  Niebuhr  dies 
wußte  —  gehören  wir  nicht  an.  Allein  es  muß  bereits 
dahin  gekommen  sein,  daß  der  einzige  Titel  die  Leis- 
tung, und  die  einzige  Autorität  die  Wahrheit  ist. 
Zudem  liegt  gerade  in  der  realen  Bestimmtheit  des  Posi- 
tiven selbst,  wenn  es  in  dem  wahrhaften  konkreten  Reich- 
tum seines  Details  gefaßt  wird,  die  Schneide  des  Be- 
weises, der  Zwang  für  die  Überzeugung  und  somit  das 
sichere  Unterpfand  des  Sieges.  Wir  haben  das,  wie  wir 
uns  zum  eigenen  Tröste  erinnern,  vor  drei  Jahren,  freilich 
in  einem  scheinbar  weit  abliegenden  Gebiete,  im  Gebiete 
der  Altertumswissenschaften,  an  uns  selbst  erfahren.  Selbst 
Stockphilologen,  von  denen  wir  dies  niemals  erwartet  hät- 
ten, erklärten  sich  zu  unserer  Überraschung  mit  den  dort 
gewonnenen  Resultaten  einverstanden,  denen  sie  ihrer  gan- 
zen '  Richtung  nach  feindlich  gegenüberstanden.  Es  war 
der  Zwang,  der  in  der  Bestimmtheit  des  Einzelnen  und 
Realen  liegt,  welcher  dies  bewirkte.  Dieselbe  Methode 
wird,  soweit  ab  das  gegenwärtige  Feld  der  Wissenschaft 
dem  damaligen  zu  liegen  scheint,  auch  dasselbe  Resultat 
nach  sich  ziehen  müssen.  Ja,  selbst  das  Fernliegen  der 
beiden  Felder  der  Wissenschaft  voneinander,  der  Alter- 
tumswissenschaft und  der  Rechtsphilosophie,  ist,  wie  sich 
in  unseren  Untersuchungen  selbst  vielleicht  sehr  fühlbar 
machen  dürfte,  nur  Schein,  und  nie  ist  uns  die  Ein- 
heit aller  Wissenschaft  mit  größerer  Andacht  zum  Be- 
wußtsein gekommen,  als  während  der  Ausarbeitung  dieses 
Werkes. 

Berlin,    27.  März    1861. 

Ferdinand  Lassalle. 


44 


VORWORT  ZUR  ZWEITEN  AUFLAGE. 

Obwohl  bei  seinem  Erscheinen  von  der  Tagespresse 
spröde  aufgenommen,  ist  „Das  System  der  erworbenen 
Rechte"  allmählich  in  so  viele  Hände  gelangt,  daß  eine 
neue  Aullage  erforderlich  geworden  ist.  Daß  das  Werk 
sich  den  Eingang  in  die  Bibliothek  des  Gelehrten,  des 
Rechtslehrers  wie  des  Altertumsforschers,  erzwingen 
würde,  war  mit  Gewißheit  vorauszusehen ;  aber  auch  kei- 
nem Praktiker  mit  wissenschaftlichem  Sinne  wird  „die 
Kollision  der  Gesetze"  mehr  fremd  und  entbehrlich  sein. 
Belege  davon  beizubringen,  wie  das  Werk  in  der  Recht- 
sprechung und  in  der  Literatur  gewirkt  haben  mag,  nach- 
zuweisen, wie  es  in  den  Gesetzberatungen  der  letztver- 
flossenen zehn  Jahre  hätte  benutzt  oder  erprobt  werden 
können,  das  wäre  der  geeignetste  Dank  für  die  freundschaft- 
liche Gesinnung  gewesen,  in  welcher  der  Verfasser  mir 
das  literarische  Eigentum  seiner  Schriften  vermacht  hat ; 
und  in  diesem  bescheidenen  Maße  seine  große  Arbeit  zu 
ergänzen  und  ihren  Inhalt  den  nur  mit  den  Tagesereignissen 
beschäftigten  Lesern  näher  zu  bringen,  habe  ich  beab- 
sichtigt und  begonnen,  jedoch  neben  meiner,  nur  selten 
dieses  Gebiet  streifenden  Berufstätigkeit  nicht  durchführen 
können. 

Andere  Erwartungen  Lassalles  freilich,  wissenschaft- 
liche und  politische,  die  einen  in  der  Vorrede  ausge- 
sprochen, die  anderen  an  vielen  Stellen,  namentlich  im 
ersten   Bande,   durchleuchtend,    haben   sich  nicht  erfüllt. 

45 


Es  gibt  und  gab  wohl  schon,  als  er  schrieb,  keine  Hege- 
lianer mehr,  welche  nun  die  anderen  Rechtsgebiete  so, 
wie  er  das  Erbrecht,  hätten  bearbeiten  können.  Und  so 
richtig  auch  seine  Ahnung  war,  an  der  Schwelle  einer 
neuen  Zeit  zu  stehen,  so  hat  doch  die  Geschichte  Deutsch- 
lands nicht  die  Entwicklung  genommen,  welche  er  bei  der 
Abfassung  dieses  Werkes  vorherzusehen  und  vielleicht 
durch  dasselbe  zu  fördern  glaubte.  Ein  ohne  mein  Zutun 
veröffentlichter  Brief,  abgedruckt  unter  anderem  in  der 
„Germania"  vom  18.  Juli  1878,  den  ich,  damals  Privat- 
mann, ihm  am  22.  Januar  1862  geschrieben  habe,  läßt 
erkennen,   welches  Ziel  er  damals  noch  im  Auge  hatte. 

Hätte  er  den  heutigen  Tag  erlebt,  so  würde  unsere  in- 
nere Geschichte  ihn  vielleicht  zu  einer  weiteren  Ausfüh- 
rung des  Gedankens  veranlaßt  haben,  daß  es  einem  Volke 
recht  schwer  werden  kann,  sich  selbst,  seine  „Substanz", 
zu  erkennen.  Wenn  er  auch  nur  den  März  1871  gesehen 
hätte,  so  würde  er  wahrscheinlich  seine  Behandlung  der 
französischen  Revolution  durch  eine  Betrachtung  darüber 
bereichert  haben,  daß  sich  mit  Sicherheit  nur  aus  einem 
weiten  Abstände  das  Geschehene  unter  die  historischen 
Geistesbegriffe  einordnen  und  sagen  läßt,  ob  einem  Volke 
in  einer  bestimmten  Phase  „das  Richtige  zum  Bewußt- 
sein gekommen  ist,"  und  daß  nicht  jede  Zerstörung  eines 
symbolischen  Gebäudes  einen  Bastillesturm  bedeutet  und 
einen  4.  August  im  Gefolge  hat.  Sicherlich  würde  er  nicht 
die  Feder  gegen  das  deutsche  Schwert  geführt  und  nicht 
die  Pariser  Kommune  für  ,,die  endlich  entdeckte  Form, 
kraft  deren  man  zur  Emanzipation  der  Arbeit  gelangen 
wird,"  erklärt  haben. 

An  einem  seiner  Gesellschaftsabende,  gern  besucht  von 
Männern  wie  Boeckh,  Pfuel  und  Friedrich  Förster,  hielt 
ich  ihm  aus  dem  Kopfe  einen  Satz  Lessings  entgegen.  Ich 

46 


habe  mich  erst  jetzt  überzeugt,  daß  mein  Zitat  nicht  ganz 
wörtlich  war ;  aber  so,  wie  ich  es  gab,  schickt  es  sich 
wohl  zum  Abschluß  dieser  Zeilen : 

,,Es  hat  zu  allen  Zeiten  Menschen  gegeben,  welche 
richtige  Blicke  in  die  Zukunft  taten,  und  nur  diese 
Zukunft  nicht  erwarten  konnten.  Wozu  die  Ge- 
schichte sich  Jahrhunderte  Zeit  nimmt,  das  soll  in 
dem  Augenblicke  ihres  Daseins  reifen." 

Berlin,  im  August   1880. 

L.   Buch  er. 


47 


INHALTSVERZEICHNIS  DES  ERSTEN 
TEILES. 

Seite 

I.  EINLEITUNG 
II.  DIE  THEORIE 

I.  Der  Begriff  und  seine  Bewährung 117 

§    1.  Die  Formel  und  der  Begriff 117 

II.  Der  Begriff  und  sein  Umfang 160 

§    2.  Der  Umfang  der  Willenshandlungen 160 

A.  Erb-  und  Familienrecht ;  Personenrepräsen- 
tation    161 

B.  Ungewollte  Handlungen,  dolus,  Zwang,  ech- 
ter und  unechter  Irrtum,  ignorantia  juris  et 
facti.  Die  ädilizischen  Klagen  und  die  Kon- 
diktionen    165 

C.  Der  Quasikontrakt ;  negotiorum  gestio    .  .  .  206 

D.  Usukapion 217 

E.  Unterlassungen.  Klagverjährung;  obligatio 
naturalis  und  civilis.  ■ —  Erleichterndes  Ge- 
setz ;   Beweisförmlichkeiten  und  Formen  für 

das  Dasein  eines  zivilen  Willens 219 

III.  Der  Begriff  und  seine  Konsequenzen 256 

§    3.  Die  nachträgliche  Ergreifung.   Rechtshängigkeit. 

Novation.   Urteil  und  Vergleich 256 

§    4.  Das  Optionsrecht 261 

§    5.  Das  Einspruchsrecht 262 

§    6.  Neue  Willensäußerungen.   Fristen.   Umänderung 

von  Pfandrechten ;  von  Testamenten.   Rückkauf. 

Emphyteuse.      Rentenkontrakt.     Widerruf      von 

Schenkungen.   Unterschiede 267 

§    7.  Absolute  Gesetze.   Begriffliche  Einwirkung  auf 

erworbene    Rechte.    Aufhebung    ohne    und    mit 

48 


Seite 

Entschädigung.  Auflösung  des  Entschädigungs- 
scheines. Das  begriffliche  Prinzip  des  Unter- 
schiedes. Beispiele.  Französische  und  preußische 
Gesetze.  Die  Grund  Steuerfreiheit.  Die  beiden 
Klassen  von  absoluten  Gesetzen  und  ihr  be- 
grifflicher Unterschied.  Wuchergesetz  ;  lex  com- 
missoria.  Die  Pandektentheorie 303 

§  8.  Absolute  Gesetze.  Exceptio  rei  in  Judicium  de- 
ductae  und  rei  judicatae.  Unterschied  der  obliga- 
torischen und  dinglichen  Rechte 445 

§  9.  Absolute  Gesetze.  Auflösung  der  Formel  von 
den  vollbrachten  Tatsachen.  Der  Besitz  und 
sein  Wesen.  Juris  quasi-possessio.  Der  Personen- 
zustand 450 

§10.  Absolute  Gesetze.  Konvaleszenz  durch 
Fortfall  derselben.  Unterschied  von  materiel- 
ler wie  formeller  Prohibition.  Der  begriff- 
liche Unterschied  von  faktischer  und  rechtlicher 
Veränderung.  Unterschied  in  den  Wirkungen.  Die 
Ratihabition  und  die  Auflösung  ihrer  sogenann- 
ten Ausnahmen  in  den  Unterschied  des  Begriffs  457 

§11.  Absolute  Gesetze.  Ziviler  und  naturaler  Wille. 
Konvaleszenz  durch  erleichternde  Formge- 
setze (Fortfall  formeller  Prohibitivgesetze) 
bei  willkürlich-revokabeln  Akten ;  Testa- 
ment     493 

§  12.  Absolute  Pflicht  der  sofortigen  Einwirkung  neuer 
Gesetze.  Die  Rechtsidee.  Strafrecht.  Res  iudi- 
cata in  Strafsachen 508 

§13.  Schlußbetrachlung.     örtliche    Kollision    der 

Gesetze 524 

III.  ANWENDUNGEN 

I    Personenzustand  und  Handlungsfähigkeit 536 

II.  Jura  in  re 565 

A.  Pachtrecht 565 

B.  Familienfideikommisse  des  deutschen  Rechtes  .  .  .  573 

4   Lae.alle.  C«    Schuften.    BacJ  IX.  49 


Seite 

III.  Obligationen  aus  Delikten.  Aquilische  Culpa  und 
Culpa  bei  Verträgen.  Die  römische  Obligationen- 
einteilung   611 

IV.  Uneheliche  Kinder 622 

V.  Interpretierende    Gesetze;    Gesetze    über    Simulation; 

rechtliche  Sanktion  von  Sittengesetzen ;  Abrogation 
von  Gesetzen  als  notwendige  Konsequenz  anderer  er- 
lassener Gesetze ;  Aufhebung  von  Gesetzen  verbis  aut 
f actis.  Die  Konventgesetze  vom  5.  Brumaire  und  17. 
Nivöse  II.  Die  preußische  Verfassung  und  das  könig- 
liche Obertribunal 628 

VI.  Das   Erbrecht  in  formell-juristischer  Hinsicht    ....  670 

A.  Rechtliche  Natur  des  Testamentes 670 

B.  Form  des  Testamentes 677 

C.  Persönliche  Fähigkeit  des  Testators 
rücksichtlich  seiner  Rechtsverhältnisse    .  .   .  680 

a)  Faktische  Veränderung . 680 

b)  Rechtsveränderung 682 

D.  Persönliche  Fähigkeit  des  Testators 
in  bezug  auf  seine  physischen  Eigen- 
schaften    692 

a)  Faktische  Veränderung 693 

b)  Rechtsveränderung 696 

E.  Inhalt  des  Testamentes 704 

F.  Persönliche  Fähigkeit  des  Honorierten 705 

G.  Die   Zeit   des    Erwerbes   und   die   Intestaterbfolge  711 


50 


I. 
EINLEITUNG 


Seit  je  hat  die  Frage  nach  der  Rückwirkung  der  Ge- 
setze, oder  richtiger :  die  Frage  nach  den  zeitlichen  Gren- 
zen in  der  Anwendung  der  Gesetze  für  eine  der  schwierig- 
sten und  verwickeltsten,  aber  auch  für  eine  der  wichtigsten 
des  gesamten  Rechtsgebietes  gegolten.  Gleich  große  Klip- 
pen drohten  von  beiden  Seiten.  Von  der  einen  Seite  stand 
alle  Rechtssicherheit,  Eigentum  wie  Freiheit  der  Bürger 
in  Gefahr,  wenn  es  den  Gesetzen  gestattet  sein  sollte,  auf 
früher  entstandene  Rechtsgeschäfte  und  Rechtsverhältnisse 
einzuwirken,  und  diese  Gefahr  trieb  an,  sich  auf  das  stärkste 
gegen  sie  zu  verwahren.  ,,La  retroactivite",  ruft  Benjamin 
Constant  aus  *).  ,,est  le  plus  grand  attentat  que  la  loi  puisse 
commettre ;  eile  est  le  dechirement  du  pacte  social,  eile  est 
l'annullation  des  conditions  en  vertu  desquelles  la  societe 
a  le  droit  d'exiger  l'obeissance  de  l'individu ;  car  eile  lui 
ravit  les  garanties  quelle  lui  assurait  en  echange  de  cette 
obeissance  qui  est  un  sacrifice.  La  retroactivite  ote  ä  la 
loi  son  caractere ;  la  loi  qui  retroagit  ti'est  pas  une  loi." 
Und  in  dem  Bestreben,  sich  von  dieser  Klippe  zu  ent- 
fernen, geriet  man  in  die  Gefahr,  an  der  entgegengesetzten 
nicht  weniger  verderblichen  zu  scheitern  und  das  gesamte 
Lebensrecht  eines  Volkes,  das  Recht  des  allgemeinen  Be- 
wußtseins auf  seine  eigene  Entwicklung  und  Entfaltung 
dem  aufzuopfern,  was  man  für  das  erworbene  Recht  des 
einzelnen  ausgeben  wollte.  So  kam  es,  daß  selbst  die 
merkwürdige  Ansicht  möglich  ward,  als  hätten  neue  Ge- 

*)  Monit.  du  1  juin  1828,  p.  755. 

53 


setze  keinerlei  Recht,  auf  bestehende  Rechtsverhältnisse 
irgendwie  Einfluß  auszuüben,  wonach  mindestens  in  sehr 
umfangreichen  Gebieten  dem  Gesetzgeber  jede  Einwirkung 
auf  die  lebenden  Generationen  benommen  und  auf  die  künf- 
tigen noch  ungeborenen  Geschlechter  beschränkt  ward.  Ja, 
in  strenger  Konsequenz  hiervon  wurde  bei  gewissen  In- 
stituten, z.  B.  den  Lehen,  ernsthaft  gelehrt,  daß  alle  unter 
bestimmten  Gesetzen  verliehene  Lehen  für  alle  Zukunft 
der  Einwirkung  jedes  noch  so  späten  Gesetzgebers  ent- 
zogen bleiben  und  lediglich  die  zur  Zeit  ihrer  Verleihung 
geltenden  Gesetze  für  sie  maßgebend  sein  müßten1),  wenn 
sich  der  Gesetzgeber  nicht  den  Vorwurf  der  Rückwirkung 
zuziehen  wolle. 

So  wurde  unter  der  feierlichen  Formel  eines  an  sich 
richtigen,  aber  theoretisch  nicht  bewältigten  und  darum 
jeder  falschen  Anwendung  ausgesetzten  Prinzipes  der  dem 
Leben  und  seiner  lebendigen  Ernährung  und  Entwicklung 
gehörige  Boden  des  Volkes  zu  einer  großen  Gräberstadt 
geweiht.  Die  lebendigen  Geschlechter  wurden  wie  der 
unterirdische  abgeschiedene  Geist  behandelt,  welchem  die 
Erde  und  ihr  Recht  der  Wirklichkeit  nicht  mehr  angehört 
und  den  abgeschiedenen  Geistern  dagegen  der  Raum  und 
die  Sphäre  des  Daseins  zugesprochen,  welche  die  Existenz- 
bedingung und  Entwicklungsstätte  des  Volkes  bilden. 

Jener  von  Benjamin  Constant  so  energisch  ausgedrückte 
Gedanke  :  „die  Rückwirkung  raubt  dem  Gesetz  seinen  Cha- 
rakter ;  ein  Gesetz,  welches  rückwirkt,  ist  kein  Gesetz 
mehr,"  führte  in  seiner  Konsequenz  zu  der  Ansicht,  die 
Nichtrückwirkung  als  eine  solche  naturrechtliche  Regel 
aufzufassen,   über  welche   Bestimmungen  zu  treffen  nicht 


-1)  Götze,    Provinzialrecht  der   Altmark   (Magdeburg   1836) 
I.  11  fg- 


54 


einmal  in  der  Kompetenz  des  Gesetzgebers  gelegen 
sei.  Struve1)  formuliert  dies  dahin,  daß  die  Regeln  über 
die  Anwendung  neuer  Gesetze  ausschließlich  aus  der  vom 
Richter  jedesmal  zu  erkennenden  Natur  der  Sache,  niemals 
aus  positiven  Gesetzen  hergenommen  werden  dürfen,  wes- 
halb er  alle  transitorische  Gesetzgebung  als  unstatthaft  ver- 
wirft. Savigny2)  meint,  daß  Struve  mit  dieser  Ansicht, 
durch  welche  das  Verhältnis  des  Richters  zu  dem  Gesetz- 
geber völlig  verkannt  werde,  ganz  allein  stehe.  Letzteres 
ist  indessen  bei  genauerer  Betrachtung  nicht  der  Fall. 
Denn  der  Grundgedanke  von  Struves  Ansicht  ist  offenbar 
eben  nur  der  bereits  hervorgehobene,  daß  der  Gesetzgeber 
selbst  nicht  die  Machtbefugnis  habe,  gegen  den  Grundsatz 
der  Nichtrückwirkung  als  einen  naturrechtlich  gültigen  zu 
verstoßen,  und  daß  deshalb  dieses  Prinzip  noch  außerhalb 
des  Kreises  der  gesetzgeberischen  Einwirkung  zu  stellen 
sei.  Diese  Ansicht  ist  aber  von  vielen  geltend  gemacht 
worden,  besonders  in  der  Form,  daß  der  Grundsatz  der 
Nichtrückwirkung  in  die  Ve rfassungen  aufzunehmen 
und  durch  diese  Sanktion  gegen  jede  Beeinträchtigung  sei- 
tens der  gesetzgebenden  Gewalt  zu  sichern  sei.  So  behauptet 
Felix  Berriat-Saint-Prix  in  seiner  Theorie  du  droit  consti- 
tutionnel  francais3),  daß  die  Konstitution  von  1848  besser 

*)  Über  das  positive  Rechtsgesetz  rücksichtlich  seiner  Aus- 
dehnung in  der  Zeit  (Göttingen  1831),  S.  6,  30-34,  153  fg. 

2)  System  des  h.   R.   R.,  VIII,  405. 

8)  Paris  1851,  Nr.  736  u.  737.  La  puissance  legislative 
elle-meme  ne  peut  depouiller  un  citoyen  des  droits  qui  com- 
posent  son  patrimoine ;  eile  ne  peut  le  grever  d'une  charge 
qui  diminuerait  sa  fortune  ....  Le  principe  de  la  non-retro- 
activite  domine  toute  la  legislation.  II  etait  mr'eux  ä  sa  place 
dans  la  loi  constitutionnelle  que  dans  le  Code  civil,  loi  secon- 
daire,  qui  a  pour  objet  special  de  regir  le  patrimoine  des 
particuliers. 

53 


getan  hätte,  dem  Art.  2  des  Code  civil *)  in  sich  Raum  zu 
geben,  und  in  der  Tat  wurde,  als  das  zweite  Kapitel  der 
Konstitution  von  1848,  welches  die  von  der  Konstitution 
garantierten  Rechte  der  Bürger  enthält,  in  der  französischen 
Nationalversammlung  zur  öffentlichen  Diskussion  kam,  von 
Herrn  Dabeaux  ein  derartiges  Amendement  gestellt,  von 
anderen  warm  verteidigt2),  und  nur  durch  Nebeneinwände 
von  Herrn  Odilon  Barrot  beseitigt3).  Andere  Konstitu- 
tionen haben  diesen  Grundsatz  wirklich  sanktioniert.  Die 
der  Konstitution  vom  5.  Fruktidor  III  (22.  August  1795) 
vorangeschickte  Deklaration  der  Rechte  bestimmt  in  Art. 
14:  „Aucune  loi,  ni  criminelle,  tti  clvile,  ne  peut  avoir 
d'effet  retroactif"4)- 


1)  ,,La  loi  ne  dispose  que  pour  l'avenir;  eile  na  point 
d'effet  retroactif." 

2)  ,,Voulez-vous,"  rief  Herr  Demante  in  jener  Sitzung  aus, 
als  man  darauf  hinwies,  daß  dieses  Prinzip  schon  im  Code 
civil  seine  Stelle  gefunden  habe,  ,, reserver  au  legislateur 
le  pouvoir  d'inserer  dans  une  loi  une  disposition  retrospec- 
tive?  Ne  le  voulez-vous  pas  ?  II  faut  que  vous  disiez  dans 
la  Constitution  quaucune  loi  ne  peut  etre  retroachve.  Vous 
ne  trouvez  pas  cela  dans  le  Code  civil.  Le  Code  civil  vous 
dit :  la  loi  n'a  pas  d'effet  retroactif.  Mais  le  Code  civil  ne 
s  occupe  pas  des  pouvoirs  du  legislateur"  usw. 

3)  Herr  Odilon  Barrot  wandte  ein,  daß  das  Prinzip  nicht 
absolut  sei,  weil  günstige  Gesetze  rückwirken  müßten.  Diese 
Antwort  war  keine  ernsthafte,  weil  sie  den  streitigen  Punkt  gar 
nicht  traf.  Denn  es  herrscht  allgemeines  Einverständnis  darüber, 
daß  auf  Gesetze  von  lediglich  günstiger  Natur  der  Grundsatz 
von  der  Nichtrückwirkung  überhaupt  keine  Anwendung  findet. 
Der  Art.  2  des  Cod.  civ.  hat  die  französischen  Tribunale  nie- 
mals gehindert,  solche  Gesetze,  auch  wenn  sie  nichts  Spezielles 
hierüber   vorschrieben,   auf  frühere  Tatsachen   anzuwenden. 

4)  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  eine  solche  konstitutionelle 
Vorschrift  in  ihren  Folgen  auf  die  eine  Seite  der  Struveschen 
Ansicht  hinauslaufen  würde.   Denn  wenn  nun  der  Gesetzgeber, 

56 


Schon  die  der  Konstitution  vom  24.  Juni  1793  einver- 
leibte Erklärung  der  Menschenrechte  enthält  in  Art.  14 
den  für  die  wilde  Energie  jener  Epoche  charakteristischen 
Ausruf:  ,,1'effet  retroactif  donne  ä  la  loi  serait  un  crime,'1 
allerdings  nur  in  bezug  auf  das  Straf  recht1)  ;  aber  Merlin 
wenigstens  behauptete  später,  in  der  Sitzung  vom  5.  Floreal 
III  (24.  April  1795),  also  freilich  erst  zu  einer  Zeit,  wo 
die  Wogen  der  Thermidorreaktion  bereits  hoch  gingen, 
daß  nach  der  ursprünglichen  Absicht  des  Konstitution  - 
komitees  diese  Bestimmung  sich  ebenso  auch  auf  das  Ge- 
biet des  Zivilrechtes  habe  beziehen  sollen,  und  dies  nur 
durch  die  derselben  von  Herault  de  Sechelles  gegebene  und 
von  seinen  Kollegen  im  Komitee  gemißbilligte  Redaktion 
vereitelt  worden  sei2). 

Auch  die  Verfassung  der  Vereinigten  Staaten  von  Nord- 


sei es  mit  Absicht,  sei  es,  daß  ihm  dies  entgangen  wäre,  ein 
Gesetz  erließe,  welches  nach  wissenschaftlichen  Grundsätzen 
eine  wirkliche  Rückwirkung  darstellt,  so  würde  der  Richter 
durch  die  Verfassung  verpflichtet  sein,  einem  solchen  Gesetze 
die  Anwendung  zu  versagen. 

*)  Der  Zusammenhang  ist :  La  loi  qui  punirait  des  delits 
commis  avant  qu'elle  existät,  serait  une  tyrannie ;  1'effet  retro- 
actif etc. 

2)  „L'article  de  la  declaration  des  droits,"  sagt  Merlin, 
..qu'on  vous  a  cite  fut  presente  par  Herault  au  comite  de 
Constitution,  redige  comme  il  lest.  On  trouva  cette  redaction 
mauvaise,  on  dit  qu'elle  semble  ne  s'appliquer  qu'aux  lois 
penales  et  on  l'ajourna.  Malgre  l'improbation  de  ses  collegues 
Herault  vint  ici  faire  adopter  cette  redaction."  Es  handelte 
sich  in  dieser  Sitzung  darum,  das  Gesetz  vom  17.  Nivose  II 
über  die  Erbschaften,  welches  rückwirkend  über  die  seit  dem 
14.  Juli  1789  anerfallenen  Erbschaften  verfügt  hatte,  zurück- 
zunehmen, und  Merlin  erzählt,  wie  er  von  Anfang  an  gegen 
dieses  Gesetz  gewesen  sei  und  sich  im  Komitee  vergeblich  auf 
den  Art.  14  der  Declaration  des  droits  berufen  habe. 

57 


amerika  enthält  in  Art.  1,  Abschn.  9,  die  Bestimmung  §  3  : 
„Es  soll  keine  bill  of  attainder  und  kein  Gesetz  mit 
rückwirkender  Kraft  (ex  postfacto  law)  erlassen 
werden." 

Ebenso  verfügt  die  norwegische  Verfassung  ganz  allge- 
mein §97:  „Keinem  Gesetze  darf  rückwirkende  Kraft 
gegeben  werden." 

Von  dem  bereits  angezogenen  Art.  2  des  Cod.  civ.  kann 
nicht  bezweifelt  werden,  und  gilt  auch  in  der  französischen 
Jurisprudenz  unbestritten,  daß  er  nur  eine  Anweisung  für 
den  Richter,  nicht  für  den  Gesetzgeber  enthalten  soll. 
Gleichwohl  verdient  bemerkt  zu  werden,  daß  in  dem  Ex- 
pose des  Motifs,  welches  der  Regierungsredner  Staatsrat 
Portalis  in  der  Sitzung  vom  4.  Ventose  XI  (23.  Februar 
1803)  gab,  die  Bestimmung  des  Art.  2  nicht  als  aus 
der  Absicht,  sondern  ausdrücklich  als  aus  der  Grenze 
der  Machtbefugnis  des  Gesetzgebers  hervorgehend 
bezeichnet  »wird.  ,,La  tete  dun  grand  legislateur,"  sagt 
Herr  Portalis,  „est  une  espece  d'Olympe  d'oü  partent  ces 
idees  vastes,  ces  conceptions  heureuses  qui  president  au 
bonheur  des  hommes  et  ä  la  destinee  de  l'Empire.  Mais 
le  pouvoir  de  la  loi  ne  peilt  s' eJendre^sur  des  choses  qui 
ne  sont  plus  et  qui  par  lä  meme,  sont  hors  de  tout  pouvoir." 

Die  angeführten  französischen  Konstitutionen  legen  da- 
durch, daß  sie  den  in  Rede  stehenden  Grundsatz  der  Er- 
klärung der  Menschenrechte  einverleiben,  deutlich  an  den 
Tag,  daß  sie  denselben  als  einen  naturrechtlichen  und  weder 
dem  positiven  Rechte  entflossenen  noch  durch  dasselbe 
antastbaren  auffassen.  Es  würde  vielleicht  scheinen  können, 
als  ob  dies  nur  in  der  großen  Gunst  seinen  Grund  habe, 
welche  das  „droit  naturel"  in  jener  Epoche  genoß.  Aber 
auch  die  älteren  Gesetzgebungen  pflegen  in  dieser  Weise 
zu  verfahren,  daß  sie  bei  der  Konsakrierung  jenes  Grund - 

58 


satzes  denselben  nicht  als  eine  Verfügung  hinstellen, 
sondern  vielmehr  als  eine  aus  der  Natur  der  Sache  not- 
wendig hervorgehende  und  von  selbst  gültige  Regel  aner- 
kennen. 

So  der  älteste  auf  uns  gekommene  gesetzgeberische  Aus- 
spruch dieser  Regel,  die  Verordnung  des  Kaisers  Theo- 
dosius  vom  Jahre  440 1): 

,,Leges  et  constitutiones  futuris  certum  est  dare  for- 

mam  liegotils,  non  ad  facta  praeterita  revocari,  nisi  no- 

minatim  et  de  praeterito  tempore  et  adhuc  pendentibus 

negotiis  cautum  sit." 

Savigny  2)  macht  bereits  darauf  aufmerksam,  wie  in  dem 
,, certum  est"  schon  die  Präexistenz  obiger  Regel  aner- 
kannt sei.  Er  hätte  dafür  besonders  noch  die  Verordnung 
des  Kaisers  Anastasius  anführen  können,  welche  damit 
schließt:  ,,quum  conveniat  leges  futuris  regulas  imponere, 
non  praeteritis  calumnias  extitare'ci).  Denn  in  dem  calum- 
nias  excitare  liegt  sehr  deutlich  ausgesprochen,  daß  an- 
dernfalls das  Gesetz  eine  rechtswidrige  Kränkung 
den  vergangenen  Handlungen  zufügen  würde.  Aus  jenem 
„certum  est"  folgert  Savigny,  daß  es  also  nur  zufällig  sei, 
wenn  uns  nicht  Aussprüche  dieser  Regel  aus  älterer  Zeit 
aufbewahrt  worden.  Er  zieht  in  dieser  Hinsicht  noch  die 
zweite  Rede  Ciceros  in  Verrem,  I,  c.  42  an4),  wo  diese 


!)  L.   7  C.  de  legibus   (I,   14). 

2)  System,  VIII,  394. 

3)  L.    65   C.   de  Decurionibus   et  filiis  eorum   (X,   31). 

4)  Verres  hatte  durch  eine  Fälschung  —  indem  er  „fecit, 
fecerit"  statt  ,,fecerit"  gesetzt  hatte  —  der  Lex  Voconia  rück- 
wirkende Kraft  gegeben.  Cicero  sagt  gegen  ihn :  „Fecit,  fe- 
cerit ?  Quis  unquam  edixit  isto  modo  ?  quis  unquam  ejus  rei 
fraudem  aut  periculum  proposuit  edicto,  quae  neque  post  edic- 
tum,  neque  ante  edictum  provideri  potuit  ?  Jure,  legibus,  auc- 
toritate  omnium  qui  consulebantur,   testamentum  P.   Annius  fe- 

50 


Regel  als  eine  von  jeher  unzweifelhaft  gültige1)  hinge- 
stellt sei.  Die  älteste  noch  erhaltene  Schriftstelle  aber, 
die  hierüber  angeführt  werden  kann  und  in  welcher  wir 
bereits  die  Definition  des  Theodosius  :  „leges  futuris  cer- 
tum  est  dare  formam  negotiis"  nicht  nur  in  frappanter 
Ähnlichkeit  vorgebildet  finden,  sondern  auch  mit 
scharfer  Begriffsbestimmung  begründet  sehen,  —  eine 
Stelle,  die  merkwürdigerweise  stets  und  selbst  in  den  bei- 
den ebenso  gelehrten  wie  vortrefflichen  Werken  von 
Voigt2)  und  von  Hildenbrandt3),  die  sich  eigens  mit  dem 
Einfluß  der  griechischen  Philosophie  auf  das  römische 
Recht  beschäftigen,  übersehen  worden  ist,  —  ist  in  dem 
„Theaetet"  des  Piaton  zu  treffen.  Sokrates  kommt  da- 
selbst, obwohl  nur  beiläufig,  auf  den  Begriff  des  Staates 
und  des  Nützlichen  zu  sprechen,  und  sagt  hierauf  zu  Theo- 
dorus4):  „Aber  was  jeder  Staat  nützlich  nennt,  das  sucht 


cerat,  non  improbum,  non  inofficiosum,  non  inhumanum.  Quod 
si  ita  fecisset,  tarnen  post  ilhus  mortem  nihil  de  testamento 
illius  novi  juris  constitui  oporteret.  Voconia  lex  te  videlicet 
delectabaf?  Imitatus  esses  ispsum  illum  Q.  Voconium,  qui 
lege  sua  hereditatem  ademit  nulh  neque  virgini,  neque  mulieri ; 
sanxit  in  postemm,  qui  post  eos  censores  census  esset,  nequis 
heredem  virginem  neve  mulierem  faceret.  In  lege  Voconia  non 
est :  Fecit,  Fecent ;  neque  in  ulla  practeritum  tentpus  repre- 
henditur." 

*)  Cicero  nimmt  jedoch  bereits  eine  wichtige  von  Savigny 
unbeachtet  gelassene  Einschränkung  derselben  an,  denn  nach 
reprehenüitur  fährt  er  fort :  „nisi  ejus  rei,  quae  sua  sponte 
scelerata  ac  nefaria  est,  ut  etiam  si  lex  non  esset,  magno  opere 
vitanda  fuerit." 

2)  Die  Lehre  vom  jus  naturale  etc.   (Leipzig   1856). 

3)  Geschichte  und  System  der  Rechts-  und  Staatsphilosophie 
(Leipzig  1860). 

4  Theaetet.,  p.  178  A.,  p.  177,  ed.  Stallb. :  2Q.  >A1Z  o 
av   xovxo    övojudfy],   zovxov   b\]nov   aioxdCstai  vo/no&erovjuevrj, 

60 


er  auch  bei  seiner  Gesetzgebung  zu  treffen,  und  alle  Ge- 
setze, soviel  er  nämlich  irgend  kann  und  weiß,  erläßt  er 
als  die  für  ihn  nützlichsten.  Oder  sieht  er  auf  irgend 
etwas  anderes,  indem  er  Gesetze  gibt?"  —  Theodorus : 
„Keineswegs."  —  Sokrates  :  „Trifft  er  es  nun  auch  immer, 
oder  verfehlt  nicht  jeder  Staat  gar  auch  vieles  ?"  —  Theo- 
dorus :  „Ich  glaube,  daß  sie  auch  verfehlen."  —  Sokrates  : 
„Ferner  würde  von  hier  aus  besonders  gewiß  jeder  das 
nämliche  zugeben,  wenn  man  nach  der  ganzen  Gattung 
fragte,  zu  der  auch  das  Nützliche  gehört.  Es  be- 
zieht sich  nämlich  allemal  auf  die  künftige  Zeit.  Denn 
wenn  wir  Gesetze  geben,  so  geben  wir  sie  als 
solche,  die  nützlich  sein  sollen  für  die  nach- 
herige Zeit.  Dies  aber  nennen  wir  doch  richtir*  die 
Zukunft"1)- 


xal  nävxag  rovg  vojuovg,  xad*  öoov  ol'exai  re  xal  övvaxat,  wg 
dxpeXtjUOJxdxovg  eavxij  xi&exai.  t)  Tigög  aXXo  xe  ßXenovoa  vo/uo&e- 
xeixai;  0EO.  Ouda/ucog.  2Q.  *H  ovv  xal  xvyyavei  äel,  t)  noXXd 
xal  dialuaoxävet  exdoxty,  QEO.  Oljuai  e'ycoye  xal  öiauaoxdveiv. 
2Q.  "Ext  xotvvv  IvdevÖe  äv  juäXXov  nö.g  xig  öjuoXoyrjoete  xavxä 
cavxa,  et  neol  navxog  xig  xov  el'öovg  eoojxqji],  ev  a>  xal  xö 
dxpeXtf.iov  xvy%dvet  öv.  eoxi  de  nov  xal  neol  xbv  jueXXovxa 
XQÖvov.  öxav  yäg  vo^iodexcoueäa,  tag  eoouevovg  cbqjeXijuovg 
xovg  vöjuovg  xtde^ieda  elg  xov  enetxa  %q6vov.  xovxo  de  ulXXov 
ug&cög  äv  Xeyoiuev. 

1)  Der  Gedankengang  Piatons  hierüber  wäre  also  etwa 
dieser :  Die  Gesetze  haben  die  Hervorbringung  von 
Nutzen  zu  ihrem  Zweck.  Das  Nützlichste  als  etwas,  das 
erst  erzeugt  werden  soll,  liegt  seinem  Begriffe  nach  in  der 
zukünftigen  Zeit.  Folglich  können  sich  ihrem  Begriffe  nach 
die  Gesetze  immer  nur  auf  das  Gebiet  der  Zukunft,  nicht  auf 
das  der  Vergangenheit  erstrecken.  Gesetze  also,  welche  sich 
auf  die  Vergangenheit  zurückwenden,  würden  ihrem  Begriffe 
zuwiderhandeln,  weil  sie,  ehe  sie  vorhanden  waren,  auch  nie- 
mandem  haben   nützen   können. 

61 


Alle  diese  Aussprüche,  der  des  Kaisers  Theodosius 
wie  der  Ciceros  und  Piatons,  stimmen  wiederum  darin  über- 
ein, daß  sie  den  Grundsatz  von  der  nur  auf  die  Zukunft 
wirkenden  Kraft  der  Gesetze  als  eine  von  selbst  gültige 
innere  Notwendigkeit  anerkennen,  Piaton  überdies  noch 
denselben  kurz  aus  dem  antiken  Begriff  der  Gesetzgebung 
entwickelt.  Und  wie  die  Alten  und  die  französischen  Kon- 


in der  Tat  liegt  hierin  ein  wesentliches,  wenn  auch  nur  ein- 
seitiges Moment  der  Sache. 

Wir  werden  später  sehen  (im  §  1  der  Theorie),  daß  und 
warum  der  griechische  Geist  der  erste  ist  und  sein  muß, 
welcher  den  Gedanken  der  Nichtrückwirkung  produziert. 

Hier  wollen  wir  nur  noch  darauf  aufmerksam  machen,  daß 
mit  dem  hier  von  Piaton  explizierten  Staatsbegriff,  welcher  der 
antike  Staatsbegriff  überhaupt  ist,  d.h.  bei  der  An- 
schauung, daß  die  Gesetze  erlassen  sind  um  Nutzen  her- 
vorzubringen, der  Gedanke  der  Nichtrückwirkung,  wie  die 
platonische  Argumentation  selbst  zeigt,  in  weit  unmittel- 
barerer Weise  gegeben  ist,  als  bei  der  modernen  Anschau- 
ung der  Gesetze,  welche  dieselben  als  Urteilsnormen,  als 
Normen  des  allgemeinen  Bewußtseins  auffaßt.  Denn 
wenn  die  Gesetze  objektive  Selbstdarlegungen  des  allgemeinen 
Geistes  sind,  Normen,  die  er  aus  sich  und  für  sich 
setzt,  so  ist  jetzt  noch  nicht  gegeben,  warum  diese  Selbst- 
definitionen des  allgemeinen  Bewußtseins,  zumal  sie,  solange 
der  historische  Geist  sein  Wesen  in  ihnen  ausgedrückt  fin- 
det, fürihn  den  Wert  von  logischen  Gedankenbestimmungen 
haben  müssen,  nicht  auf  alles  Sein,  welches  auch  der  Zeit- 
punkt seiner  Entstehung  sei,  den  Inhalt  ihres  normativen  Denkens 
und  Urteilens  erstrecken  sollten.   Siehe  hierüber  §   1. 

Was  hier  von  seiner  inneren  Wurzel  aus  aufgezeigt  worden 
ist,  fällt  dem  Resultate  nach  zusammen  mit  der  häufig  kur- 
sierenden sehr  äußerlichen  Auffassung  der  Gesetze,  daß  sie 
nur  Anweisungen  für  den  Richter  zum  Urteilen  ent- 
halten und  mit  der  ebenso  äußerlichen  hieran  geknüpften  For- 
derung, daß  der  Richter  nur  die  Gesetze  seines  Landes 
resp.   seiner  Zeit  zu  hören  habe. 

62 


stitutionen  hat  auch  der  landrechtliche  Gesetzgeber  sich 
dieser  Anerkennung  nicht  entziehen  können.  Das  Publi- 
kationspatent zum  Allgemeinen  Landrecht  vom  5.  Februar 
1794  erklärt  in  §  VIII :  „So  wie  überhaupt  ein 
neues  Gesetz  auf  vergangene  Fälle  nicht  ge- 
zogen werden  mag,  so  soll  dieser  Grundsatz  auch 
bei  der  Anwendung  des  gegenwärtigen  Landrechtes  be- 
obachtet und  dabei  im  allgemeinen  nur  auf  die  §§  14 — 29 
der  Einleitung  vorgeschriebenen  Bestimmungen  Rücksicht 
genommen  werden."  Es  wird  also  hier  mit  ausdrücklichen 
Worten  ausgesprochen,  daß  diese  Regel  auch  ohne  die 
gesetzgeberische  Sanktion  durch  ihre  eigene  Notwendigkeit 
bestehen  würde.  Es  wird  eine  Unmöglichkeit,  die  Sache 
selbst  durch  positive  Vorschrift  anders  anzuordnen,  aner- 
kannt. 

Wie  es  sich  nun  mit  dieser,  wie  sie  ziemlich  allgemein 
aufgefaßt  wird,  naturrechtlichen  Gültigkeit  jener  Regel  in 
der  Tat  verhält,  wird  sich  später  bei  der  Entwicklung  der 
Theorie  von  selbst  ergeben. 

Hier  interessiert  uns  zunächst  die  Tatsache,  daß  so 
einverstanden,  wie  wir  sahen,  alle  Welt  über  das  Prinzip 
selbst  ist,  so  schwankend  und  widersprechend  die  Mei- 
nungen über  seine  Anwendung  sind.  Die  Schwierigkeit 
scheint  somit  zunächst  nicht  in  dem  Grundsatz  selbst  und 
seinem  Verständnis,  sondern  vielmehr  in  der  Frage  zu 
liegen,  in  welchen  Fällen  und  Rechtsgebieten  derselbe 
platzzugreifen  und  nicht  platzzugreifen  hat.  Da  aber  die 
Beantwortung  dieser  Frage  wieder  nur  aus  der  inneren 
Natur  des  Grundsatzes  selbst  wird  abgeleitet  werden  kön- 
nen, so  sind  wir  hierbei  wieder  im  Kreise  zur  Diskussion 
des  Gegensatzes  und  seiner  Bedeutung  zurückgeworfen1). 

*)  Darum  ist  auch  durch  die  Sanktionierung  dieses  Grund- 
satzes in  Konstitutionen  nur  wenig  gewonnen.  Denn  es  ist  nir- 

63 


Die  Gesetzgeber  freilich  ließen  sich,  wo  sie  von  dem- 
selben abweichen  zu  können  oder  zu  müssen  glaubten,  von 
unmittelbarem  Rechtsgefühle  oder  von  bestimmten  spe- 
ziellen Zwecken  von  Billigkeits-  oder  politischen  Rück- 
sichten leiten.  Eine  weit  schwierigere  Stellung  hatten  die 
Richter,  wo  ein  Gesetz  ohne  besondere  Verordnung  rück- 
wirkender Kraft  erlassen  war  und  nun  dennoch  die  An- 
wendung desselben  auf  frühere  Rechtstatsachen  oder  deren 
Folgen  begehrt  wurde.  Denn  hier  mußte  dann  auf  die  innere 
Natur  des  Grundsatzes  und  seine  sich  aus  ihr  bestimmende 
Wirksamkeit  eingegangen  werden.  Da  es  dem  juristischen 
Takte  nicht  entgehen  konnte,  daß  jener  Grundsatz  trotz 
seiner  absoluten  Berechtigung  doch  in  seiner  Anwendung 
nicht  von  absoluter  Ausdehnung  auf  alle  Fälle  sei,  half 
man  sich  damit,  Ausnahmen  von  ihm  zu  statuieren 
und  die  Lehre  von  demselben  in  eine  Kasuistik  aufzulösen. 
—  Wie  mißlich  und  unwissenschaftlich  dieser  Notbehelf 
war,  liegt  auf  der  Hand.  Die  in  der  Ausnahme  vor- 
handene Beschränkung  des  Grundsatzes  ergab  sich  ent- 
weder aus  der  eigenen  inneren  Natur  desselben,  oder  sie 
ergab  sich  nicht  aus  dieser.  Im  ersteren  Falle  lag  gar 
keine  Ausnahme  vor,  denn  die  Grenze  eines  Gegen- 
standes ist  vielmehr  seine  bestimmteste  Form.  Die 
aus  ihm  selbst  hervorfließende  Grenze  eines  Gedanken- 
prinz ipes  ist  somit,  als  seine  bestimmte  Selbst- 
formierung, seine  eigenste  Wirksamkeit  und 
Selbstbetätigung.  Gerade  an  seiner  Grenze  wäre 
der  Grundsatz  zu  erkennen  gewesen !  —  Floß  aber  um- 
gekehrt die  Einschränkung  des  Grundsatzes  nicht  aus 
ihm  selbst  hervor,  sondern  wurde  sie  ihm  von  außen,  etwa 
durch  andere  Regeln,  gesetzt,  so  war  sie  ein  unversöhnter 

gends  der  Grundsatz  selbst,  sondern  überall  nur  sein  Inhalt 
und  seine  Bedeutung  im  Streit. 

64 


Einbruch  in  sein  rechtmäßiges  Gebiet  und  eine  Ver- 
letzung seiner  unantastbaren  Gültigkeit1).  Ebenso  unwis- 
senschaftlich aber  wie  dieser  Notbehelf  in  theoretischer 
Hinsicht,  ebenso  mißlich,  unzuverlässig  und  täuschend  zeigt 
er  sich  in  der  Praxis.  Daher  jene  schwankenden  und  sich 
auf  das  schreiendste  widersprechenden  Entscheidungen  der 
Gerichte,  deren  in  keinem  Rechtsgebiete  so  zahlreiche  und 
sich  so  schneidend  entgegenstehende  vorliegen  wie  bei  der 
uns  beschäftigenden  Frage2). 


*)  Wir  werden  später  sehen,  daß  dieses  Prinzip  in  der  Tat 
keine  Ausnahme  hat  noch  haben  kann,  und  daß,  wo,  um 
in  der  bisher  üblichen  Ausdrucksweise  zu  reden,  eine  Rück- 
wirkung der  Gesetze  gerechtfertigt  ist,  gar  keine  wirkliche, 
sondern   nur  eine   scheinbare   Rückwirkung  vorliegt. 

2)  Besonders  die  französische  Jurisprudenz  ist  wegen  der 
lebhafter  bewegten  Geschichte  der  französischen  Gesetzgebung 
hierin  von  großem  Interesse.  Ihre  Schwankungen  und  Wider- 
sprüche sind  so  groß,  daß  Herr  Blondeau,  professeur  suppleant 
ä  la  Faculte  de  droit  ä  Paris,  in  einer  Dissertation  sur  l'effet 
retroactif  des  lois  (inseriert  in  der  Jurisprudence  de  la  Cour 
de  Cassation,  T.  IX,  Part.  II,  p.  278  sqq.)  sich  dadurch  zu 
dem  Wunsche  treiben  läßt,  es  möge  lieber  der  Gesetzgeber 
durch  spezielle  Bestimmungen  die  transitorische  Wirkung  jedes 
neuen  Gesetzartikels  regeln  ,,que  de  voir  subsister  l'arbi- 
traire  auquel  nous  sommes  livres  aujourd'hui!"  Die  bare  Un- 
möglichkeit der  Erfüllung  eines  solchen  Wunsches  erhellt  auf 
den  ersten  Blick.  Eine  gesetzgeberische  Kasuistik  dieser  Art 
wäre  nicht  nur  völlig  unausführbar,  sondern  auch  ewig  unzu- 
reichend, da  bei  jedem  Rechtsgebiet  und  bei  jedem  einzelnen 
Gesetzartikel  wieder  die  mannigfachsten  Kollisionen  durch  das 
Hineingreifen  anderer  Rechtsgebiete  und  konkreter  Fälle  ent- 
stehen können.  Die  Entscheidung  dieser  Frage  wird  also  immer 
nur  der  Wissenschaft  anheimfallen,  wenn  auch  der  Ge- 
setzgeber die  allgemeinen  leitenden  Gesichtspunkte  derselben 
mit  seiner  Autorität  bekleiden  könnte.  —  Was  übrigens  Herrn 
Blondeau  betrifft,  so  wirft  ihm  Merlin  (Repert.  de  Jurisprud. 

5   Laesalle.  Geo.  Schriften.  Ban.l  IX.  65 


Der  französische  Arretist  Sirey  und  in  Deutschland 
die  Herausgeber  der  Heidelberger  Jahrbücher  (Januar 
1811,  §41)  haben  positiv  erklärt,  daß  sie  es  für  eine 
Unmöglichkeit  hielten,  jemals  bestimmte  allgemeine  Prin- 
zipien für  die  Entscheidung  dieser  Frage  zu  formulieren. 

Nach  verschiedenen  Vorgängern,  von  denen  die  haupt- 
sächlichsten bei  ihm  selbst  aufgeführt  werden,  brachte  end- 
lich der  große  Meister  des  römischen  Rechtes,  Savigny, 
einen  äußerst  bedeutenden  Fortschritt  in  unsere  Lehre, 
welche  er  im  achten  Bande  seines  Systemes  des  heutigen 
Römischen  Rechtes  (S.  368 — 540)  einer  ausführlichen 
Darlegung  unterzog. 

Savigny  erhebt  sich  bereits  mit  großer  Bestimmtheit, 
wenn  auch  auf  Grund  einer  anderen  Deduktion  als  der 
obigen,  gegen  das  schlechte  Auskunftsmittel,  die  rück- 
wirkende Kraft  neuer  Gesetze  als  eine  Ausnahme  von 
dem  Grundsatz  der  Nichtrückwirkung  eintreten  zu  lassen  *). 

v°  Eff.  retr.,  Sect.  III,  §  II,  Art.  9)  zu  viel  „Metaphysik" 
vor.  Die  Franzosen  verfahren  mit  diesem  Vorwurf  in  der  son- 
derbarsten Weise!  Bei  uns  würde  man  Herrn  Blondeau  das 
krasseste  und  vulgärste  Gegenteil  zur  Last  legen.  Eine  kurze 
Angabe  seiner  Art  zu  Werke  zu  gehen  wird  dies  hinlänglich 
klarlegen.  Herr  Blondeau  löst  alle  Rechte  und  Rechtsverhält- 
nisse in  bloße  Erwartungen  auf  und  läßt  sich  dann  auf 
die  faktische  Erwägung  ein,  ob  für  den  Gesetzgeber  hin- 
reichend starke  Gründe  vorliegen  können,  diese  Erwartungen  zu 
täuschen ! 

*)  Savigny,  a.  a.  O-,  S.  374 :  „Wo  ein  so  bedenklicher  ein- 
schneidender Erfolg  zu  erwarten  wäre,  der  sich  dann  durch 
den  Versuch  einer  strengen  Durchführung  von  selbst  als  un- 
möglich darstellen  würde,  pflegt  man  dadurch  abzuhelfen,  daß 
man  Ausnahmen  des  angeblich  allgemeinen  Grundsatzes  be- 
hauptet. Aber  eben  diese  Abhilfe  durch  bloße  Aus- 
nahmen ist  es,  die  hier  völlig  verworfen  werden 
muß,  welches  unten  ausführlich  dargetan  werden  wird."  Und 

66 


Er  selbst  beseitigt  diesen  Ausnahmenbehelf  dadurch,  daß 
er  die  Rechtsregeln  in  bezug  auf  unseren  Gegenstand  in 
zwei  Gattungen  einteilt,  in  solche,  welche  sich  auf  den 
Erwerb  der  Rechte  (d.h.  auf  die  Verbindung  eines 
Rechtsinstitutes  mit  einer  einzelnen  Person),  und  in  solche, 
welche  sich  auf  das  Dasein  der  Rechte  (d.h.  auf 
das  Sein  oder  Nichtsein,  oder  auf  das  So-  oder  Anderssein 
eines    Rechtsinstitutes)    beziehen1).    Nur   bei   der    ersten 

S.  518:  „Ausnahmen  von  dem  Grundsatz  der  Rückwirkung  haben 
eine  zufällige  Natur,  sind  an  sich  entbehrlich  und  würden  bes- 
ser gar  nicht  vorhanden  sein.  Dies  alles  paßt  auf  die 
hier  in  Frage  stehenden  Gesetze  gar  nicht.  Wenn  wir  diese 
unbefangen  betrachten,  so  müssen  wir  uns  sogleich  überzeugen, 
daß  in  Beziehung  auf  sie  jene  Auskunft  durchaus  gezwungen 
ist  und  den  Gesetzen  einen  Sinn  aufdrängt,  der  ihnen  völlig 
fremd  ist."  Er  zeigt  nun,  daß  z.  B.  ein  Gesetz,  welches  die 
Leibeigenschaft  aufhebt,  nach  jener  Ausnahmetheorie,  in  konse- 
quent durchgeführter  Fassung  so  lauten  müsse :  ,,Es  wird  hier- 
durch verboten,  künftig  eine  Leibeigenschaft  zu  errichten,  auch 
soll  diese  Vorschrift  ausnahmsweise  rückwirkende  Kraft  haben, 
so  daß  sogar  auch  die  jetzt  bestehenden  Verhältnisse  der  Leib- 
eigenschaft aufgehoben  sein  sollen."  Das  sei  nun  aber  ganz 
sinnlos.  Denn  da  seit  langer  Zeit  niemand  mehr  daran  gedacht 
habe,  eine  Leibeigenschaft  oder  ein  Zehentrecht  neu  zu  be- 
gründen, so  sei  dadurch  eine  ganz  unnütze  Vorschrift  als  Haupt- 
gedanke an  die  Spitze  des  Gesetzes  gestellt,  und  es  wäre  als 
beiläufige  Ausnahme  das  hinzugefügt,  welches  allein  der  Ge- 
setzgeber dachte  und  wollte.  —  Diese  Beweisführung  ist  ver- 
ständig und  scharf  genug,  aber  der  innerste  Punkt  der  Sache 
bleibt  dabei  unberührt.  Savigny  wäre  diesem  näher  gekommen, 
wenn  er  sich  bei  dieser  Materie  dessen  erinnert  hätte,  was  er 
bei  der  allgemeinen  Erörterung  des  wissenschaftlichen  Rechtes 
über  das  Verhältnis  von  Regel  zu  Ausnahme  gelegentlich  äußert, 
I,  47  (c):  „.  .  .  ja  das,  was  wir  hier  Ausnahme  nennen,  ist 
eigentlich  nur  die  Anerkennung  einer  unvollkommenen 
Regelf  assung." 

])  Savigny,  a.  a.  O.,  S.  375  fg. 

s*  67 


Gattung    von    Rechtsregeln    solle    der    Grundsatz    platz- 
greifen : 

Neuen  Gesetzen  ist  keine  rückwirkende  Kraft  beizu- 
legen. 

Neue  Gesetze  sollen  erworbene  Rechte  unberührt  lassen. 

Für  die  zweite  Gattung  dagegen  solle  der  entgegenge- 
setzte Grundsatz  gelten : 

Neuen  Gesetzen  dieser  Klasse  ist  rückwirkende  Kraft 
beizulegen. 

Neue  Gesetze  dieser  Klasse  sollen  erworbene  Rechte 
nicht  unberührt  lassen  x). 

Die  Savignysche  Theorie  genoß  lange,  sowohl  infolge 
der  großen  Autorität  ihres  Urhebers,  als  wegen  des  nicht 
zu  verkennenden  Richtigen,  welches  seiner  Unterscheidung 
zugrunde  liegt,  eine  fast  unbeschränkte  Geltung,  und  es 
scheint  uns  daher  Pflicht,  schon  hier  an  der  Schwelle 
unserer  Untersuchung  im  allgemeinen  kurz  darzulegen,  was 
wir  unsererseits  an  der  Savignyschen  Arbeit  auszusetzen 
haben,  und  weshalb  auch  sie  ihr  Ziel,  einen  Abschluß 
dieser  Lehre  zu  bewirken,  keineswegs  erreicht  hat. 

Die  ersten  Einwürfe,  die  Savigny  gemacht  werden  müs- 
sen, sind  rein  theoretischer  Natur.  Savigny  beseitigt  durch 
seine  Einteilung  der  Rechtsregeln  in  zwei  feste  Klassen, 
von  denen  auf  die  eine  der  Grundsatz  der  Nichtrückwir- 
kung,  auf  die  andere  der  Grundsatz  der  Rückwirkung  An- 
wendung finden  soll,  allerdings  die  Notwendigkeit,  in  den 
Fällen  der  Rückwirkung  zur  Statuierung  von  Ausnahmen 
seine  Zuflucht  zu  nehmen.  Allein  damit  nun  diese  zwei- 
gliedrige Einteilung  eine  Theorie  im  wahren  Sinne  des 
Wortes  sei,  wäre  noch  erforderlich  gewesen,  sowohl  den 
Grundsatz  der  Nichtrückwirkung  wie  den  der  Rückwirkung 


1 )  Savigny,  S.  373  und  517. 
68 


auf  eine  höchste  Rechtsidee  zurückzuführen.  Dies 
geschieht  nicht.  Man  erfährt  schon  nicht,  auf  welcher 
obersten  Rechtsidee  der  Grundsatz  der  Nichtrück- 
wirkung  beruht;  er  ist  in  keine  solche  zurückgebogen1). 
Ferner  würde  zum  Dasein  einer  Theorie  erforderlich 
sein,  daß  beide  Grundsätze,  sowohl  derjenige,  der  be- 
stimmt, wo  die  Anwendung  des  neuen  Gesetzes  nicht  statt- 
zufinden, als  der,  welcher  vorschreibt,  wo  sie  statt- 
zufinden hat,  in  eine  gemeinsame  Rechtsidee, 
als  ihre  höchste  gemeinsame  Quelle  aufgelöst 
und  somit   wahrhaft  in   Einheit  gesetzt  werden.   Nur 


*)  Die  Betrachtungen,  welche  von  Savigny,  S.  390,  zu  seiner 
Rechtfertigung  aufgestellt  werden,  vermögen  das  oben  Vermißte 
durchaus  nicht  zu  leisten.  Es  sind  reine  Zweckmäßigkeitsgründe, 
werden  auch  ausdrücklich  als  solche  mit  der  Versicherung,  es 
sei  „höchst  wichtig  und  wünschenswert,"  eingeführt.  Sie  sind 
folgende:  erstens,  das  Wünschenswerte  des  unerschütterlichen 
Vertrauens  in  die  Herrschaft  der  bestehenden  Gesetze ;  zwei- 
tens, das  Wünschenswerte  der  Erhaltung  des  jederzeit  bestehen- 
den Rechts-  und  Vermögensbestandes ;  drittens,  die  Unmöglich- 
keit, den  Grundsatz  der  Rückwirkung  konsequent  durchzuführen. 
Diese  Gründe  haben,  wie  dies  Zweckmäßigkeitsgründen  eigen 
zu  sein  pflegt,  keine  aus  ihnen  selbst  hervorfließende  Grenze. 
Wären  sie  also  die  wahren  und  letzten  Gründe  der  Sache, 
so  würden  sie  jede,  auch  die  von  Savigny  gewollte,  sogenannte 
Rückwirkung  der  das  Dasein  der  Rechte  betreffenden  Gesetze 
vollständig  ausschließen,  wodurch  in  der  Tat  das  unerschütter- 
liche Vertrauen  in  die  Herrschaft  des  bestehenden  Gesetzes 
und  die  Erhaltung  des  bestehenden  Rechts-  und  Vermögens- 
zustandes noch  sehr  befestigt  und  vermehrt  werden  würde !  Wenn 
Savigny  diese  Gründe  dennoch  nicht  zu  dieser  Folgerung  aus- 
dehnt, so  erscheint  dies  als  ein  willkürliches  und  von  außen 
kommendes  Abbrechen  ihrer  Wirksamkeit  an  einem  beliebig 
bestimmten  Punkte.  In  der  Tat  aber  zeigt  sich  hierin  nur  die 
Unfähigkeit  solcher  Verstandesgründe,  das  Wesen  der  Sache 
zu  erschöpfen. 

69 


wo  diese  Einheit  vorliegt,  nur  da  ist  Theorie!  Diese 
Einheit  muß  selbst  die  Unterschiede  als  aus  ihr  fließende 
erzeugen  und  in  ihnen  fortwirkend  tätig  sein.  Es  müssen 
sich  also  auch  d  i  e  Fälle,  in  welchen  das  neue  Gesetz 
sofort  zur  Anwendung  zu  kommen  hat,  aus  der  Idee 
der  Nichtrück  wirkung  selbst  ergeben. 

Indem  nun  alles  dies  bei  Savigny  unerreicht  geblieben 
ist,  liegt  nicht  eine  Theorie,  sondern  nur  eine  zwei- 
gliedrige Einteilung  vor.  Es  hat  dies  aber  zunächst 
noch  eine  andere  Folge.  Durch  diese  Einteilung  ist  zwar 
Savigny  dessen  überhoben,  die  Fälle  der  Rückwirkung 
als  einzelne  Ausnahmen  zu  fassen.  Indem  nun  aber  von 
ihm  der  Grundsatz  der  Nichtrückwirkung  als  der  allgemein 
gültige  an  die  Spitze  gestellt  und  vorausgeschickt  wird, 
der  Grundsatz  dagegen,  daß  bei  der  Klasse  der  das  Da- 
sein von  Rechten  betreffenden  Gesetze  Rückwirkung  statt- 
zufinden habe,  mit  dem  ersteren  in  keine  innere  Ein- 
heit gesetzt  wird,  so  nimmt  nun  die  letztere  Klasse, 
wo  Rückwirkung  stattfinden  ,soll,  selber  nur  die  Gestalt 
einer  Ausnahme  von  dem  Prinzip  der  Nicht- 
rückwirkung an  !  Die  vielen  einzelnen  Ausnahmen  sind 
somit  nur  aneinandergereiht,  und  in  eine  allgemeine  Aus- 
nahme, in  eine  Klasse  von  Ausnahmen  verwandelt. 
Der  Charakter  der  Ausnahme  selbst  ist  geblieben. 

Diese  Einwendungen  haben  bisher  eine  rein  theoretische 
Gestalt  und  können  daher  zunächst  äußerst  gleichgültig 
denen  erscheinen,  welche  die  höheren  Anforderungen  der 
Theorie  im  Gebiete  des  Rechtes  als  „metaphysische  Grü- 
beleien" belächeln.  Aber  hier  gerade  wäre  auch  für  solche 
eine  äußerst  deutliche  Gelegenheit,  sich  von  dem  Werte 
und  der  Notwendigkeit  einer  wahren  Theorie  zu  über- 
zeugen. Denn  nur  in  jener  theoretischen  Mangelhaftigkeit 
liegen  die  inneren  Wurzeln  der  anderen  jetzt  zu  erwähnen- 

70 


den  Einwendungen,  deren  entscheidende  Wichtigkeit  auch 
von  denen,  welche  nur  auf  die  praktische  Brauchbarkeit 
einer  Regel  sehen,  bereitwillig  zugegeben  wird.  —  Das 
in  der  Unterscheidung  jener  beiden  Klassen  von  Rechts- 
regeln bestehende  Savignysche  Prinzip  ist  nämlich,  wie 
wir  später  näher  sehen  werden,  sowohl  nicht  erschöp- 
fend, alle  Fälle  umfassend,  als  in  hohem  Grade  prak- 
tisch irreführend.  Aus  beiden  Gründen  ist  es  daher 
auch  für  das  gewöhnlichste  praktische  Bedürfnis  völlig 
unhaltbar. 

Es  liegt  unleugbar  Richtiges  in  ihm,  wie  dies  übrigens 
auch  bei  allen  den  Formeln  der  Fall  war,  die  vor  Savigny 
aufgestellt  wurden  und  deren  wir  gelegentlich  die  wichti- 
geren erwähnen  werden ;  aber  es  ist  nicht  das  Richtige 
selbst,  und  nur  eine  natürliche  und  notwendige  Folge 
hiervon  ist,  daß  Savigny  einerseits,  um  seinem  Grundsatze 
treu  zu  bleiben,  äußerst  häufig  Entscheidungen  von  durch- 
aus irriger  Natur  treffen  muß,  andererseits  hin  und  wieder 
unter  dem  Einfluß  seines  unmittelbaren  Rechtsgefühles 
Entscheidungen  gibt,  die  richtig  sind,  aber  seinem 
Grundsatz  innerlich  widersprechen1),  und  um  richtig 
zu  sein,  ihm  widersprechen  müssen. 

Ja  es  konnte  dies  um  so  eher  stattfinden,  als,  wie  wir 
im  Verlauf  sehen  werden2),  ein  und  dieselben  Gesetze, 
je  nachdem  man  sich  auf  den  Standpunkt  des  Individuums 
oder  auf  den  der  Rechtsmaterie  selbst  stellt,  das  einemal 
Gesetze  über  den  Erwerb,  das  anderemal  Gesetze  über 
das  Dasein  von  Rechten  darstellen,  diese  Einteilung  also 
überhaupt  auf  bloß  abstrakten  Verstandeskate - 


*)  Wie   ihm   Bornemann   bereits   einen   solchen  Widerspruch 

nachgewiesen  hat  in  der  bald  anzuführenden  Abhandlung,  S.  34. 

2)  Vgl.    Anwendungen    sub    I    (Personenzustand)    und   II  A. 

71 


g  o  r  i  e  n  beruht,  die  in  letzter  Instanz  haltlos  ineinander 
übergehen  und  kein  festes  Prinzip  des  Unterschiedes  gegen- 
einander gewähren. 

Endlich  ist  Savigny  gezwungen,  sich  sogar  ausdrück- 
lich in  den  offensten  Widerspruch  mit  sich  zu  ver- 
wickeln. So  rechnet  er  die  Gesetze  über  Ehe  und  Ehe- 
scheidung mit  Recht  zu  den  Gesetzen  über  das  Dasein 
der  Rechte,  wonach  also  nicht  nur,  wenn  durch  ein  neues 
Gesetz  die  Scheidung  überhaupt  erst  eingeführt  oder  ab- 
geschafft, sondern  selbst  wenn  eine  Änderung  in  den 
Scheidungsgründen  vorgenommen  wird,  diese  Än- 
derung nach  Savigny  auch  auf  frühere  Tatsachen  rück- 
wirken  muß ;  so  daß  hiernach  also  eine  in  der  Zeit  vor 
dem  Gesetze  vollbrachte  Handlung  eines  Ehegatten,  die 
damals  keinen  Scheidungsgrund  bildete,  jetzt  von  dem  an- 
deren Gatten  als  Scheidungsgrund  angerufen  werden  kann, 
wenn  sie  nach  dem  neuen  Gesetze  unter  die  Scheidungs- 
gründe gezählt  wird.  Nicht  dies  war  die  Ansicht  des 
preußischen  Gesetzgebers  gewesen ;  denn  als  in  den  Jahren 
1814  und  1816  das  Allgemeine  Landrecht  in  mehrere  Pro- 
vinzen teils  neu  eingeführt,  teils  wieder  eingeführt  wurde, 
ward  zwar  mit  Recht  verfügt,  daß  die  Scheidung  der  be- 
stehenden Ehen  von  jetzt  ab  nach  dem  Allgemeinen  Land- 
recht beurteilt  werden  solle,  aber  ebenso  richtig  wurde  die 
ausdrückliche  Bestimmung  getroffen,  daß  eine  vor  der 
Einführung  und  resp.  Wiedereinführung  des  Allgemeinen 
Landrechtes  vorgefallene  Tatsache  nicht  als  Scheidungs- 
grund angerufen  werden  könne,  wenn  sie  unter  dem  früheren 
Gesetze  keinen  solchen  dargestellt  habe.  Savigny  (a.  a.  O. 
S.  526)  sagt,  indem  er  diese  Einführungsgesetze  als  Be- 
stätigung seiner  Theorie  anzieht:  „Nur  wurde  die  sehr 
mäßige  und  nicht  unbillige  Ausnahme  hinzu- 
gefügt,   daß   ein   Scheidungsgrund   des   Landrechtes   nicht 

72 


geltend  gemacht  werden  dürfe,  wenn  die  zugrunde  liegende 
Tatsache  vorgefallen  sei  während  der  Herrschaft  des  frem- 
den Gesetzes  und  in  diesem  Gesetz  nicht  als  Scheidungs- 
grund gegolten  habe."  Savigny  gesteht  also,  offenbar  von 
seinem  juristischen  Gefühle  bestimmt,  selbst  ein,  daß  diese 
angebliche1)  Ausnahme  eine  „sehr  mäßige  und  nicht  un- 


*)  Es  ist  nämlich  irrig  von  Savigny,  wenn  er  jene  Bestim- 
mung so  ansieht,  als  ob  sie  auch  im  Sinne  des  preußischen 
Gesetzgebers  eine  „Ausnahme"  gewesen  sei.  Im  Systeme  der 
preußischen  Gesetzgebung  ist  sie  das  durchaus  nicht,  weil  sie 
in  ihr  nur  eine  notwendige  Folge  ihres  Hauptgrundsatzes 
ist,  Allgemeines  Landrecht,  Einleitung,  §  14:  „Neue  Gesetze 
können  nicht  auf  schon  vorhin  vorgefallene  Handlungen  und 
Begebenheiten  angewendet  werden,"  ein  Grundsatz,  der  bei 
jeder  Einführung  des  Allgemeinen  Landrechtes  in  neuerworbene 
oder  wiedereroberte  Provinzen  vom  preußischen  Gesetzgeber 
immer  wieder  aufs  neue  verkündet  wurde.  So  heißt  es  z.  B. 
in  dem  Publikationspatent  vom  9.  November  1816  für  das  Groß- 
herzogtum Posen  (Gesetzsammlung,  S.  225)  §  3 :  „Auf  die  vor 
dem  1.  März  1817  während  der  Gesetzeskraft  der  fremden 
Rechte  vorgefallenen  Handlungen  und  Begebenheiten  soll  das 
Allgemeine  Landrecht  nicht  angewendet  werden"  usw.,  und 
ebenso  in  den  anderen  Publikationspatenten.  Wenn  es  also  z.  B. 
in  dem  Publikationspatent  vom  9.  November  1816  für  den 
Kulm-  und  Michelauschen  Kreis  und  die  Stadt  Thorn  (Gesetz- 
sammlung, S.  217)  in  §  11  heißt:  „Die  Gründe,  aus  welchen 
eine  vor  dem  1.  Januar  1817  geschlossene  Ehe  von  nun  an  für 
nichtig  und  ungültrg  zu  erklären,  oder  auch  zu  scheiden,  werden 
dagegen  nach  den  Vorschriften  des  Allgemeinen  Landrechtes  be- 
urteilt, insofern  sie  nicht  aus  Tatsachen  hergenommen  wer- 
den, welche  sich  früher  ereigneten  und  die  das  damals  geltende 
Gesetz  für  keinen  zureichenden  Grund  erachtet  hat,"  so  hat 
diese  Bestimmung  nur  in  dem  Satzzusammenhange,  also  im 
grammatikalischen  Sinne,  die  Stellung  einer  Aus- 
nahme, ist  aber  keineswegs  auch  im  materiellen  Sinne  als  eine 
Ausnahme  von  der  rechtlichen  Natur  der  Sache,  sondern  viel- 

73 


billige"  sei.  Folglich  müßte  er  auch  zugeben,  daß  diese 
Ausnahme  mit  innerer  Rechtmäßigkeit  und  Notwendigkeit 
aus  der  Rechtsidee  folge,  sonst  könnte  sie  keine  sehr  mäßige 
und  „nicht  unbillige"  sein.  Dann  aber  wäre  schon 
dies  sehr  widerspruchsvoll,  daß  Savigny  im  strikten  Ge- 
gensatz zu  dem,  was  er  selbst  gegen  die  früheren  Autoren 
über  die  Unstatthaftigkeit  der  Ausnahmen  uns  eben  ge- 
sagt hat,  hier  doch  wieder  eine  notwendige  oder  wenigstens 
statthafte  Folgerung  der  Rechtsidee  in  den  Notbehelf  der 
Ausnahmen  A)  hineinflüchten  muß.  Und  besonders  bemer- 
kenswert ist  es  hierbei,  daß  es  diesmal  der  Grundsatz  der 
Nichtrückwirkung  ist,  der  in  jenen  Schlupfwinkel 
gerettet  werden  soll !  In  der  Tat  ist  aber  Savigny  durch 
sein  Prinzip  in  die  Unmöglichkeit  versetzt,  die  Recht- 
mäßigkeit dieser  Ausnahme  zuzugeben,  und  so  sagt  er  an 
einer  anderen  Stelle  wieder  im  direkten  Widerspruch  mit 


mehr  hier  nur  als  eine  Einschlägigkeit  jener  Hauptregel  gedacht 
worden.  Es  finden  sich  daher  auch  preußische  Publikations- 
patente, in  denen  jene  Bestimmung  auch  grammatikalisch  die 
Form  einer  Ausnahme  nicht  hat.  So  heißt  es  z.B.  in  dem 
Publikationspatent  vom  9.  September  1814  für  die  früheren 
preußischen  Provinzen  jenseits  der  Elbe  (Gesetzsammlung, 
S.  89)  in  §9:  „Die  Gründe  einer  nach  dem  1.  Januar  1815 
nachgesuchten  Ehescheidung  werden  dagegen  nach  den  Vor- 
schriften des  Allgemeinen  Landrechtes  beurteilt  und  können 
nicht  auf  Tatsachen  gegründet  werden,  welche  sich  früher  er- 
eigneten und  die  das  damals  geltende  Gesetz  nicht  für  einen 
Ehescheidungsgrund   erachtet   hat." 

1)  Es  ist  dies  nicht  zu  verwechseln  mit  solchen  Fällen, 
wo  Savigny  in  positiven  Gesetzen  Ausnahmen  von  seiner  Regel 
nachweist.  Denn  Gesetzgeber  können  von  der  richtigen  Theorie 
abgewichen  sein,  und  dann  liegt  eine  wirkliche  Ausnahme  vor. 
Der  Widerspruch  besteht  vielmehr  darin,  daß  Savigny  hier  selbst 
die  innere  Legitimität  dieser  Ausnahme  in  den  oben  angeführ- 
ten Worten  einräumen  muß. 

74 


seiner  oben  angeführten  Anerkennung  der  inneren  Legi- 
timität jener  Ausnahme  S.  495  ausdrücklich :  „Es  wird 
aber  unten  gezeigt  werden,  daß  weder  diese  Zeit  (der  ge- 
schlossenen Ehe)  noch  die  Zeit  der  Tatsache, 
die  als  Scheidungsgrund  dienen  soll,  maß- 
gebend sein  darf,  sondern  allein  die  Zeit  der  Schei- 
dungsklage." 

Abgesehen  von  den  Widersprüchen,  liegt  am  Tage,  daß 
ein  Prinzip,  welches  fordert,  daß  eine  vollbrachte  indi- 
viduelle Handlung,  die  vom  Gesetz  nicht  als  Scheidungs- 
grund  qualifiziert  wird,  diese  Wirkung  durch  ein  späteres 
Gesetz  empfange,  schon  darum  allein  notwendig 
falsch  ist,  weil  hierin  ein  unbestreitbarer  Fall  voll- 
ständigster Rückwirkung  im  unzulässigen  Sinne  des  Wortes 
vorliegen  würde. 

Endlich  schließen  wir  diese  vorläufige  allgemeine  Kritik 
der  Savignyschen  Theorie  mit  folgender  Bemerkung :  Die 
von  Savigny  gegebene  Regel,  daß  die  Gesetze,  welche 
das  Dasein  oder  das  So-  oder  Anderssein  der  Rechte  be- 
treffen, rückwirken  müssen,  besagt  ihrem  Inhalte  nach 
eigentlich  gar  nichts  anderes  als  die  sehr  alte  und 
besonders  den  französischen  Juristen  seit  jeher  sehr  ge- 
läufige Formel,  daß  alle  Bestimmungen,  welche  dem  öf- 
fentlichen Rechte  entflossen  sind,  rückwirken- 
der Natur  seien.  Die  auf  den  ersten  Blick  versteckte  Iden- 
tität beider  Formeln  tritt  sofort  näher  zutage,  wenn  man 
erwägt,  daß  einerseits  alle  Rechtsregeln  über  das  Sein 
und  Nichtsein  eines  Rechtsinstitutes  oder  über  das  So-  oder 
Anderssein  der  Rechte  zu  den  absoluten  Gesetzen  ge- 
hören, über  welche  nicht  pazisziert  werden  kann,  und 
andererseits  alle  solche  Gesetze,  über  welche  nicht  pazis- 
ziert werden  kann  (die  nicht  ad  voluntatem  spectant), 
a  1  s  d  e  m  jus  publicum  entflossen  angesehen  wer- 

75 


den1).  Aufs  deutlichste  erkennbar  wird  endlich  diese  Iden- 
tität, wenn  man  sieht,  wie  Savigny  zur  Unterscheidung 
seiner  beiden  Klassen  von  Rechtsregeln,  ob  nämlich  ein 
Gesetz  zum  Erwerb  oder  zum  Dasein  der  Rechte  gehöre, 
als  Kennzeichen  kein  anderes  aufstellt  als  eben 
dies :  ob  ein  Gesetz  juris  publici  sei,  in  welchem  Falle 
es  das  Dasein  der  Rechte  betreffe.  So  sagt  nämlich  Sa- 
vigny selbst  (a.  a.  O.  S.  520)  :  „Ein  besonders  siche- 
res und  für  die  meisten  Fälle  ausreichendes  Mittel  der 
Grenzscheidung  (zwischen  jenen  beiden  Klassen  von 
Rechtsregeln)  wird  darin  liegen,  daß  wir  untersuchen,  ob 
vielleicht  ein  neues  Gesetz  zu  den  soeben  erwähnten  Ge- 
setzen von  streng  positiver,  zwingender  Na- 
tur gehört,  die  außer  dem  reinen  Rechtsgebiet  ihre  Wurzel 
haben.  In  diesem  Falle  haben  wir  dasselbe  unzweifelhaft 
zu  den  Gesetzen  über  das  Dasein  der  Rechte  zu  zählen, 
auf  welche  der  Grundsatz  der  Nichtrückwirkung  keine 
Anwendung  findet." 

Zu  diesen  Gesetzen  von  streng  positiver,  zwingender 
Natur  rechnet  aber  Savigny  selbst  alle  solche,  die  ,,mit 
sittlichen,  politischen,  volkswirtschaftlichen  Gründen  und 


!)  S.  L.  38  de  pactis  (2,  14),  L.  20  de  religiosis  (11,  7), 
L.  45,  §  1  de  divers,  reg.  (50,  17),  L.  27,  §  4  de  pactis 
(2,  14),  L.  7,  §  14  de  pactis  (2,  14).  (Ulpian:  Labeo  autem 
distinguit,  ut,  si  ex  re  familiari  operis  novi  nuntiatio  sit  facta, 
liceat  pacisci,  si  de  republica,  non  liceat,  quae  distinctio  vera 
est.)  Paulus  setzt  daher  ausdrücklich  entgegen  voluntas  und 
jus  im  eigentlichen  strengeren  Sinne  L.  12,  §  1  de  pact.  dotal. 
(23,  4) :  Ex  pactis  conventis  ....  alia  ad  voluntatem  perti- 
nent  ....  alia  ad  jus  pertinent,  veluti  quando  dos  petatur,  quem- 
admodum  reddatur,  in  quibus  non  semper  voluntas  contra- 
hentium  servatur.  L.  27  de  divers,  regul.  (50,  17).  Vgl.  Sa- 
vigny, „System",  I,  §  16;  Boecking,  „Pandekten  des  römischen 
Privatrechtes,"   I,  312,  2.  Auf  1.   (Bonn   1853). 

76 


Zwecken  im  Zusammenhange  stehen"  oder  auf  der  positiven 
Natur  eines  Rechtsorganismus  beruhen,  d.  h.  alle  solche, 
die  zum  jus  publicum  gehören  und  von  Savigny  deshalb 
passend  absolute  Gesetze  genannt  werden  (s.  a.  a.  O. 
VIII,  517  und  I,  57  fg.). 

Savigny  hat  also  das,  was  jene  Formel,  daß  alle  dem 
jus  publicum  entflossenen  Gesetze  rückwirkende  Natur 
haben,  von  der  Seite  des  Inhaltes  der  Gesetze  besagt, 
nur  nach  der  Seite  der  Form  hin  ausgedrückt  und  mit 
formeller  Schärfe  hingestellt,  und  es  kehrt  deshalb  jene 
Seite  des  Inhaltes  auch  ausdrücklich  als  Kennzeichen 
bei  der  formellen  Einteilung  der  Gesetze  in  die  beiden 
Klassen  wieder  zurück. 

Aber  man  darf  nicht  glauben,  daß  um  dieser  Identität 
des  Inhaltes  willen  die  Savignysche  Lehre  nun  keinerlei 
Fortschritt  gegenüber  jener  Formel  darstelle.  Vielmehr 
muß  das  Verdienst,  welches  sich  dieser  große  Denker  auch 
um  diese  Materie,  und  besonders  um  ihre  Behandlung  in 
Deutschland  erworben  hat,  äußerst  hoch  veranschlagt  wer- 
den. Es  ist  am  Orte,  dies  hier  näher  zu  begründen,  um  so 
mehr,  als  die  Behauptung  eines  Fortschrittes  bei  gleich- 
gebliebenem Inhalte  zunächst  sehr  paradox  erscheinen 
könnte,  sich  aber  hierbei  gerade  die  hohe,  auf  ihren  Inhalt 
selbst  wieder  rückwirkende  Wichtigkeit  der  Form  auch 
in  diesem  Gebiete  ergeben  wird. 

Ob  eine  Bestimmung  des  Privatrechtes  aus  Gründen  des 
öffentlichen  Interesses  gegeben  sei  und  daher  zum  öffent- 
lichen Recht  gehöre  (ad  rempublicam  spectat),  ist  eine 
Frage  nach  dem  Inhalt  jener  Bestimmung  und  muß 
aus  ihm  beurteilt  werden.  Wenn  also  gesagt  wird,  daß 
alle  solche  Gesetze  augenblicklich  eingreifen,  welche  dem 
öffentlichen  Rechte  entflossen  sind,  so  ist  hierin  bloß  ein 
inhaltliches    Kennzeichen   und    Merkmal    ge- 

77 


geben,  nach  welchem  sich  dann  bei  den  verschiedenen  Ge- 
setzen die  Frage  ihrer  Rückwirkung  entscheiden  lassen 
wird.  Dies  Merkmal  kann  und  wird  nun  bei  den  ver- 
schiedenartigsten Gesetzen  zutreffen.  Denn  in  den  alier- 
verschiedenartigsten  Rechtsgebieten,  im  Personen-  wie  im 
Sachenrecht,  im  Obligationen-  wie  im  Familienrecht  usw. 
kann  eine  Bestimmung  aus  Gründen  des  öffentlichen 
Wohles  erlassen  werden.  Eben  deshalb  ist  also  durch 
inhaltliche  Kennzeichen  über  den  eigentümlichen  In- 
halt der  Gesetze,  welche  von  demselben  getroffen  werden, 
noch  nichts  ausgesagt.  Der  bestimmte  Umfang  der  Klasse 
von  Gesetzen,  auf  welche  sich  dies  Kennzeichen  anwenden 
wird,  liegt  noch  ganz  im  dunkeln ;  ja,  es  ist  noch  gar  keine 
eigene  "K 1  a  s  s  e  von  Gesetzen  mit  einem  ihr  eigentümlichen 
Inhalt  und  allgemeinem  Charakter  durch  jene  Formel  auf- 
gestellt, sondern  nur  eine  gemeinsame  Quelle  ist 
angegeben,  aus  welcher  Gesetze  der  verschieden- 
artigsten Klassen  stammen  sollen.  Es  ist  ausgesagt 
das  Warum ,  aus  welchem  jene  Gesetze  verfügen  werden. 
Aber  es  ist  nicht  das  geringste  ausgesagt  über  ein  ge- 
meinschaftliches Was,  das  sie  verfügen  werden. 
Es  muß  vielmehr  zunächst  scheinen,  daß  eine  solche  Ge- 
meinschaftlichkeit des  Was  ?  bei  der  Verschiedenartigkeit 
der  Rechtsgebiete,  in  welche  jene  Quelle  hinüberströmen 
kann,  gar  nicht  existieren  wird.  Das  i  n  h  a  1 1 1  i  c  he  Merk- 
zeichen läßt  also  den  eigentümlichen  Inhalt  der 
Gesetze,  die  zu  ihm  gehören,  ganz  unbestimmt ;  es  stellt 
sogar  in  Frage,  ob  es  einen  solchen  geben  wird. 

Wird  dagegen  jenes  nach  dem  Inhalt  des  Gesetzes  schau- 
ende Merkzeichen,  wird  die  inhaltliche  Formel  zur  Form 
der  Kategorie1)  herausgerungen  und  nun  gesagt,  es 

x)  Aber,  wie  wir  schon  oben  sagten,  zur  Verstandes- 
kategorie.    Der   große   praktische   Unterschied    der  Ver- 

78 


sollen  alle  solche  Gesetze  sofort  eingreifen,  welche  das 
Dasein  der  Rechte  und  ihr  So-  und  Anderssein  be- 
treffen, so  ist  nun  zwar  inhaltlich  nichts  geändert.  Die 
Gesetze,  welche  zu  dieser  Kategorie  gehören,  sind  iden- 
tisch mit  denen,  welche  von  jenem  Kennzeichen  betroffen 
werden.  Aber  es  ist  nun  sofort  durchsichtig  der 
gemeinschaftliche  undeigentümliche  Inhalt, 
den  diese  sogleich  eingreifenden  Gesetze  haben.  Durch  die 
Form  der  Kategorie,  in  welche  jene  inhaltliche  For- 
mel erhoben  worden  ist,  sind  sie  erst  jetzt  zu  einer  Klasse 
konstituiert,  und  es  ist  jetzt  nicht  nur  sogleich  zu  über- 
blicken, welche  Gesetze  zu  dieser  Klasse  gehören,  son- 
dern es  ist  das  gemeinschaftliche  Was  angegeben, 
welches  diese  Bestimmungen  betreffen  und  betreffen  müs- 
sen, um  in  die  Klasse  der  augenblicklich  eingreifenden 
Gesetze  gehören  zu  können.  Und  ferner :  Vorher  mußte 
es  scheinen,  als  ob  es  für  die  Frage  der  zulässigen  Rück- 
wirkung eines  Gesetzes  auf  die  Absicht  und  die  Gründe 
ankomme,  aus  denen  es  erlassen  sei  (ob  nämlich  aus 
Gründen  des  öffentlichen  Interesses).  Jetzt  ist  zugleich 
mit  dem  Obigen  der  große  Fortschritt  getan,  daß  sich 
diese  Zulässigkeit  des  augenblicklichen  Eingreifens  einer 
Bestimmung  nicht  mehr  aus  den  Gründen  bestimmt, 
aus  denen  ein  Gesetz  erlassen  worden,  sondern  aus  dem 
Wa  s ,  das  es  betrifft,  also  aus  der  objektiven  Natur 
des  Rechtes  selbst,  das  von  ihm  geregelt  wird1). 


Standes-   und   der  begrifflichen   Kategorie   wird  sich  besonders 
in  §  7  deutlich  zeigen. 

1)  Es  ist  dies  aber  durch  Savignys  Leistung  nur  an  sich 
oder  im  Prinzip  erreicht.  Denn  er  selbst,  wo  er  die  Rück- 
wirkung der  das  Dasein  der  Rechte  betreffenden  Gesetze  recht- 
fertigen will,  argumentiert  wieder  bloß  aus  der  Absicht  des 
Gesetzgebers,   s.   VIII,   515  fg. 

70 


Indem  also  Savigny  in  scharfer  kategorischer  Auffassung 
jene  Formel  zu  einer  bestimmten  Klasse  von  Gesetzen 
erhob,  und  hierdurch  zu  z  wei  sich  entgegenstehenden  Klas- 
sen von  Rechtsregeln  gelangte,  bei  deren  einer  neue  Ge- 
setze nicht  rückwirken  dürfen,  bei  deren  anderer  aber  neue 
Gesetze  rückwirken  müssen,  tat  er  den  großen  Fort- 
schritt, einerseits  zu  zeigen,  daß  die  Rückwirkung x)  je 
nach  dem  Rechtsgebiete  ebenso  gut  Regel  sein  könne 
wie  die  Nichtrückwirkung,  andererseits  die  Frage  der 
Nichtrückwirkung  und  Rückwirkung  im  Prinzip  statt 
auf  die  Absicht  der  Gesetzgeber  —  die  er  als  eine  sehr  oft 
willkürliche  bezeichnet  —  auf  die  innere  Natur  der 
Rechte,  auf  die  sich  neue  Gesetze  beziehen,  zurück- 
zuführen. Hat  er  auch  das  Problem  keineswegs  gelöst, 
so  hat  er  doch  dafür  die  Aufgabe  meisterhaft  gestellt. 
Diese  Aufgabe,  die  Bestimmung,  welche  Gesetze  rück- 
zuwirken  haben  und  welche  nicht,  aus  dem  objektiven  We- 
sen der  Rechte  selbst  hervorgehen  zu  lassen  —  ein  Wesen, 
welches  durch  die  positiven  Worte  eines  Gesetzes  zwar 
im  gegebenen  Falle  unterdrückt,  aber  nicht  aufgehoben 
werden  kann  — ,  diese  Aufgabe  bleibt  eine  seit  Savigny 
für  die  Wissenschaft  erworbene  Forderung.  Der  natur- 
rechtliche Charakter  dessen,  was  aus  dem  Wesen  der 
Nichtrückwirkung  oder  Rückwirkung  folgt,  ist  durch  die 
Savignysche  Arbeit  für  immer  außer  Zweifel  gestellt.  Und 


*)  Savigny  drückt  sich  geradezu  so  aus,  daß  diese  Gesetze 
rückwirken  und  rückwirken  sollen.  Es  ist  dies  eine  zu  tadelnde 
und  schädliche  Ausdrucksweise.  Denn  es  wird  später  gezeigt 
werden,  daß  alle  rechtmäßigen  Einwirkungen  neuer  Gesetze 
überhaupt  nur  scheinbare,  nie  wirkliche  Rückwirkungen 
sind,  und  es  vielmehr  nach  der  wahren  Theorie  ein  absolutes 
Kennzeichen  für  die  Entscheidung  der  Fälle  bildet,  daß  eine 
wirkliche  Rückwirkung  ohne  Ausnahme  niemals  eintreten  dürfe. 

80 


welches  Verdienst  dies  war,  wird  man  am  besten  beurteilen 
können,  wenn  man  einen  Blick  auf  die  Verwirrung  seiner 
Vorgänger  in  Deutschland  wirft,  z.  B.  auf  den  leeren 
Positivismus  eines  Bergmann,  welcher  auf  den  unglück- 
lichen Gedanken  kommen  konnte,  die  Natur  der  Sache 
und  die  sich  aus  dem  römischen  Recht,  dem  französischen 
Recht  usw.  darüber  ergebende  Lehre  in  einen  grundsätz- 
lichen Gegensatz  zu  bringen. 

Wenn  dies  theoretische  Verdienste  sind,  die  Savigny 
um  diese  Lehre  überhaupt  hat,  so  hat  er  sich  für  Deutsch- 
land insbesondere  noch  ein  praktisches  erworben  durch 
manche  aus  seiner  Einteilung  fließende  Entscheidungen 
der  einzelnen  Fälle.  Denn  freilich  lag  die  Doktrin  über 
diese  Materie  gerade  in  Deutschland  weit  mehr  im  argen 
als  bei  den  Franzosen,  für  welche  durch  ihre  nationale 
Anlage  manche  in  diesem  Gebiete  für  uns  bestehende 
Schwierigkeit  nicht  vorhanden  war.  Es  ergibt  sich  das  am 
deutlichsten,  wenn  man  sieht,  wie  noch  bei  Bergmann  die 
in  Frankreich  seit  lange  herrschenden  Grundsätze  von  dem 
augenblicklichen  Eingreifen  neuer  Gesetze  auf  den  Per- 
sonenzustand,  auf  solche  Vermögensrechte,  welche  ein  blo- 
ßes Akzessorium  rein  persönlicher  Verhältnisse  sind  (z.  B. 
eiterlicher  Nießbrauch),  auf  die  persönlichen  Rechte  des 
Vaters  über  die  Kinder,  auf  das  eigentliche  Eherecht,  auf 
bloße   Erwartungen  und  die  revokabeln  Dispositionen1) 

*)  Ging  doch  Bergmann  so  weit  (S.  110  u.  92),  als  römische 
Regel  aufzustellen,  daß  Gesetze,  welche  die  Fähigkeit  zu  testie- 
ren oder  aus  Testamenten  zu  sukzedieren,  oder  welche  das 
Pflichtteil  abändern,  auf  vorhandene  Testamente  nicht  einwirken 
dürfen,  ja  sogar  (S.  89  u.  96)  daß  Gesetze,  welche  die  Intestat- 
erbfolge anders  gestalten,  falls  sie  dies  infolge  einer  Ver- 
änderung des  Personenzustandes  tun,  auf  die  noch  leben- 
den Personen,  weil  deren  „Personenstand  bereits  in  der  Vor- 
zeit begonnen  und  reguliert  war."  nicht  anwendbar  seien! 

-.   Lamelle.  Gm.  SehrihKi    Beod  IX  81 


von  Todes  wegen  usw.  als  Eigentümlichkeiten  des 
französischen  Rechtes  betrachtet  und  dem,  was  nach  ihm 
im  römischen  und  resp.  selbst  im  preußischen  Recht  gilt, 
geradezu  entgegengesetzt  werden1),  während  durch 
und  seit  Savigny  alle  diese  angeblich  eigentümlich  fran- 
zösischen Grundsätze  zur  unbestrittenen  Gültigkeit  auch  in 
der  deutschen  Rechtswissenschaft  durchgedrungen  sind. 

Selbstredend  ist  übrigens,  um  hierauf  zurückzukommen, 
jener  Satz  von  der  Rückwirkung  der  dem  jus  publicum 
entfließenden  Bestimmungen2)  um  nichts  richtiger  in  seiner 


1)  Da  es  seit  geraumer  Zeit  bei  sehr  vielen  unserer  Publi- 
zisten Mode  geworden  ist,  von  der  „romanischen"  Natur  der 
Franzosen  als  von  einer  individualitätslosen  Masse  zu  reden, 
deren  sie  von  uns  unterscheidende  Eigentümlichkeit  darin  be- 
ruhe, sich  wie  ein  schlechter  Teig  vom  Staate  kneten  und 
verändern  zu  lassen,  so  hätten  sie  also  —  vor  Savigny  —  eine 
kostbare  Gelegenheit  gehabt,  dies  auch  an  dem  oben  berühr- 
ten Gegensatz  der  französischen  Lehre  über  den  Personen- 
stand usw.  darzutun  und  dagegen  die  große  Knorrigkeit  des 
deutschen  Privatindividuums  zu  bewundern,  welches  sogar  seinen 
Gesetzgebungsfortschritt  von  seinem  einmal  vorhandenen  per- 
sönlichen Zustand,  seinen  persönlichen  Rechten  und  sogar  seinen 
Erwartungen  abzuhalten  weiß,  resp.  mindestens  abzuhalten  strebt. 
Und  sicher  haben  sie  sich  diese  köstliche  Gelegenheit  nur  in- 
folge ihrer  ebenso  glücklichen  als  gründlichen  Unwissenheit  in 
allen  Gebieten  reellen  Wissens,  auf  die  es  hierbei  ankommt,  ent- 
gehen lassen.  Jetzt  aber  ist  sie  vorüber.  Denn  seit  Savigny  — 
dem  man  doch  kaum  französische  Tendenzen  wird  beilegen 
wollen  —  sind  wir  in  dieser  Hinsicht  gerade  durch  die  Wis- 
senschaft glücklicherweise  zu  demselben  von  jedem  Gesetz- 
gebungswechsel hin-  und  hergekneteten  schlechten  Teige  degra- 
diert worden ! 

2)  Die  älteste  Stelle  übrigens,  welche  zur  Rechtfertigung 
dieser  Behauptung  von  der  rückwirkenden  Natur  der  aus  dem 
öffentlichen  Rechte  stammenden  Gesetze  in  Anspruch  genommen 
werden  könnte,  obgleich  wir  uns  nicht  erinnern,  daß  bei  irgend 

82 


alten  Formel  als  in  der  ihm  bei  Savigny  gegebenen  Gestalt. 
Es  kann  gegen  ihn  alles  das  gesagt  werden,  was  gegen 
Savigny  gilt.  So  sind,  um  an  das  obige  Beispiel  anzu- 
knüpfen, Ehescheidung  und  Ehescheidungsgründe  juris  pu- 
blica Deshalb  darf  aber  eine  vollbrachte  individuelle  Hand- 
lung dennoch  nicht  durch  ein  späteres  Gesetz  zu  einem 
Ehescheidungsgrunde  werden.  Ja,  es  ließe  sich  gegen  jene 
ältere  Gestalt  der  Formel  noch  einiges  mehr  sagen  als 
gegen  Savigny.  So  ist  die  Behauptung,  daß  alle  Gesetze 
juris  publici  rückwirkender  Natur  seien,  schon  deshalb 
unwahr,  weil  das  Strafrecht  doch  gewiß  juris  publici  ist 
und  trotzdem  niemandem  einfallen  wird,  eine  Rückwirkung 
neuer  strafrechtlicher  Verbote  in  Anspruch  zu  nehmen. 


einem  Autor  diese  Herleitung  versucht  wird,  ist  eine  bekannte 
Stelle  des  Cicero  (Oratoriae  Partitiones,  C.  37)  über  das  Ver- 
hältnis des  jus  civile  zum  jus  gentium,  welches  in  Rom  ein 
geschlossenes  Rechtssystem  von  bestimmter  Wirksamkeit  war. 
War  aber  durch  die  Bestimmungen  des  jus  civile  etwas  prohi- 
biert, so  hatte  dies  nicht  einmal  nach  jus  gentium  Gültigkeit 
und  Wirksamkeit.  Eine  gegen  die  Verbotsgesetze  des  jus  civile 
geschlossene  Ehe  wurde  z.  B.  in  Rom  auch  nicht  einmal  nach 
jus  gentium  als  wirksam  angesehen  (s.  §  12,  I,  de  nuptiis, 
1,  10),  wenn  sie  auch  bei  anderen  Völke/n  gültig  gewesen 
wäre  (s.  hierüber  Savigny  über  die  Quellen  des  Rechtes,  I, 
§  22,  S.  112),  und  Cicero  spricht  a.  a.  O.  diese  Regel  offen 
seinem  Sohne  aus :  ,,Atque  eliam  hoc  inpnmis,  ut  nostros  mores 
legesque  tuemur,  quodammodo  naturali  jure  praescriptum  est." 
Man  könnte  nun  ganz  entsprechend  der  Analogie,  welche  auch 
sonst  zwischen  der  örtlichen  und  der  zeitlichen  Kolli- 
sion der  Gesetze  in  Anspruch  genommen  wird,  hieraus  herzu- 
leiten versuchen,  daß  sich  das  Gesetz  der  Jetztzeit  zum  Gesetz 
der  Vorzeit  verhalten  müsse  wie  das  jus  civile  zum  jus  gentium, 
und  deshalb  ein  dem  öffentlichen  Recht  entflossenes  neues  Ge- 
setz um  seines  das  Abweichen  der  Privatwillkür  ausschließen- 
den prohibitiven  Charakters  willen  das  frühere  Recht  sofort 
außer  Wirksamkeit  setzen  müsse. 

6'  83 


Nun  wird  man  freilich  sagen,  jener  Grundsatz  solle  sich 
auch  nur  auf  das  Privatrecht,  nicht  auf  das  Strafrecht  be- 
ziehen. Allein  es  ist  klar,  daß,  da  auch  im  Strafrecht 
Rückwirkung  unzulässig  ist,  der  Grundsatz,  der  als  die 
wahrhafte  und  oberste  Rechtsidee  an  die  Spitze 
der  Lehre  von  der  Rückwirkung  gestellt  werden  soll,  ein 
solcher  sein  muß,  der  seine  Betätigung  im  Privat-  wie  im 
Straf  recht  gleichmäßig  findet,  so  daß  beide  Gebiete  sich 
nur  als  die  Durchführung  seines  gemeinsamen  Grundge- 
dankens erweisen.  Wird  also  auch,  wie  bei  Savigny,  die 
Durchführung  durch  das  Straf  recht  nicht  gemacht1),  so 
muß  dennoch  der  im  Privatrecht  als  die  R  e  c  h  t  s  i  d  e  e 
der  Rückwirkung  hingestellte  Gedanke  fähig  sein,  auch 
im  Strafrecht  als  das  die  weiteren  Bestimmungen  aus  sich 
entwickelnde  Prinzip  zu  fungieren.  Es  besteht  außerdem 
ein  sonderbarer  Widerspruch  jener  Formel  darin,  daß  sie 
innerhalb  des  Privatrechtes  Rückwirkung  verlangt  auf 
Grund  dessen,  daß  etwas  dem  öffentlichen  Rechte  ent- 
flossen sei  und  das  öffentliche  Recht  rückwirkende  Natur 
habe,  im  öffentlichen  Recht  selbst  aber  —  im 
Strafrecht  —  (und  ebenso  auch  in  bezug  auf  andere  Teile 
des  öffentlichen  Rechtes,  wie  Staatsbürgerrecht,  Indige- 
natsrecht) dieser  Grundsatz  durchaus  nicht  zur  Anwen- 
dung kommen  soll. 

In  neuester  Zeit  hat  endlich  ein  hochverdienter  land- 


x)  Und  es  erhellt  ganz  von  selbst,  warum  Savigny  freilich 
die  Gültigkeit  seines  Prinzipes  auf  das  Privatrecht  beschränken 
und  Strafrecht  wie  öffentliches  Recht  überhaupt  ausdrücklich 
davon  ausschließen  mußte,  weil  nämlich  hierauf  angewendet, 
sein  Grundsatz  die  maßloseste  Rückwirkung  erzeugen  müßte. 
Denn  welche  Handlungen  erlaubte  sein  sollen  und  welche  nicht, 
gehört  zum  Dasein  der  Rechte,  so  daß  neue  Strafgesetze 
nach   jenem   Grundsatz   rückwirken  müßten 


rechtlicher  Jurist,  der  Präsident  des  Königlichen  Ober- 
tribunals,  Dr.  Bornemann,  unsere  Materie  einer  erneuten 
Erwägung  unterzogen  1 ) . 

Das  Verdienst  dieser  Schrift  besteht  vorzüglich  darin, 
daß  hier  bereits  (S.  8 fg.)  der  von  Savigny  aufgestellte 
Grundsatz  „als  ein  nicht  haltbarer"  eingestanden  wird2). 


1)  „Erörterungen  im  Gebiete  des  preußischen  Rechtes  von 
Dr.  W.  Bornemann  (Berlin  1855),  Heft  1,  S.  1-64. 

2)  Die  erste  große  Autorität,  die  sich,  wenn  auch  nur  in 
einer  allgemeinen  Bemerkung,  entschieden  gegen  Savigny  er- 
klärt hat,  ist  Boecking.  Derselbe  äußert  sich  nämlich  („Pan- 
dekten des  römischen  Privatrechtes  usw.,"  Bonn  1853,  I,  317. 
Not.  6) :  „Der  ausführlichen  Besprechung  der  ,,  „zeitlichen 
Grenzen  der  Herrschaft  der  Rechtsregeln  über  die  Rechts- 
verhältnisse.... in  Savignys  „„System"",  Bd.  VIII,  und  der 
daselbst  angeführten  Schriftsteller  können  wir  großenteils 
weder  bei-,  noch  hier  im  einzelnen  entgegentreten."  Kurz  vor 
ihm  hatte  von  Scheuer  1  in  einem  kleinen  Aufsatz  in  seinen 
„Beiträgen  zum  römischen  Recht"  (Erlangen  1853),  S.  137  bis 
148,  Not.  6,  bekannt,  daß  er  trotz  seiner  großen  Bewunderung 
der  von  Savigny  um  diese  Lehre  sich  erworbenen  Verdienste 
sich  dennoch  „seine  Resultate  nicht  durchweg  einfach  aneignen 
könne,  sondern  sich  dadurch  zum  Teil  nur  um  so  mehr  zu 
neuer  Untersuchung  angeregt  fühle,"  worauf  er,  nicht  ohne  die 
Einwirkung  eines  richtigen  Rechtsgefühles,  versucht,  einen  Un- 
terschied zwischen  „schon  vorhin  vorgefallenen  Handlungen  und 
Begebenheiten"  (Ausdruck  des  Allgemeinen  Preußischen  Land- 
rechtes, Einleitung,  §  14)  und  den  „facta  praeterita"  auf  zu 
stellen,  ein  Versuch,  der  ihm  aber  keineswegs  gelungen  ist, 
da  bei  seiner  Definition  der  facta  praeterita  als  „vollendetet 
juristischer  Tatsachen"  oder  als  „tatsächlicher  Verhältnisse, 
welche  kraft  einer  gewissen  Rechtsregel  einmal  eine  feste 
rechtliche  Gestalt  bekommen  haben,"  ja  eben  wieder  nach 
der  Definition  gefragt  werden  muß,  welches  denn  im  Unter- 
schiede von  bloßen  „schon  vorhin  vorgefallenen 
Handlungen  und  Begebenheiten'  das  Kriterium  der 
„vollendeten"    Tatsachen,   das   Kriterium   derjenigen   tat 

85 


Es  besteht  ferner  in  mancher  mit  glücklichem  Takt  vom 
Autor  gegebenen  richtigen  Entscheidung,  der  aber  freilich 
dann  wieder  ebenso  häufig  irrtümliche  gegenüberstehen. 
Sieht  man  aber  auf  die  Gründe,  mit  welchen  Bornemann 
Savigny  entgegentritt,  sowie  auf  die  von  ihm  selbst  an  Stelle 
der  Savignyschen  Regel  aufgestellten  Gesichtspunkte,  so 
läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  diese  durchaus  nicht  stich- 
haltiger Natur  sind  und  keinenfalls  einen  Fortschritt  gegen 
die  Savignysche  Theorie  bilden. 

An  Stelle  der  von  Savigny  gewollten  Unterscheidung 
zwischen  den  beiden  Klassen  von  Rechtsregeln  will  näm- 
lich Bornemann  das  weder  sehr  neue  noch  sehr  tiefe  Prin- 
zip setzen,  daß  es  vielmehr  überall  nur  auf  die  Ab  - 
sieht  des  Gesetzgebers  ankomme.  Auch  bei  Gesetzen, 
welche  das  Dasein  von  Rechtsinstituten  beträfen,  z.  B. 
bei  Lehen,  Fideikommissen,  Erbziris-  oder  Erbpachtver- 
hältnissen, sei  denkbar,  daß  der  Gesetzgeber  nur  die  Ent- 
stehung neuer  Rechtsverhältnisse  dieser  Art  habe  verhin- 
dern, die  bereits  entstandenen  aber  bis  zu  ihrem  Absterben 
oder  ihrer  Beseitigung  durch  Übereinkunft  der  Beteiligten 
habe  fortbestehen  lassen  wollen.  „Folglich  werde,"  sagt 
Bornemann  (S.  8),  „auch  die  rückwirkende  Kraft  der 
Gesetze,    welche  das   Sein   oder   Nichtsein   von   Rechts- 


sächlichen Verhältnisse  sei,  welche  „kraft  einer  gewissen 
Rechtsregel  einmal  eine  feste  rechtliche  Gestalt  be- 
kommen" haben.  In  dieser  Definition  ist  ja  vielmehr  ganz 
offenbar  die  erst  zu  untersuchende  Frage  durch  eine  voll- 
ständige petitio  pnncipii  als  ein  bereits  Bekanntes  und  Ge- 
gebenes vorausgesetzt !  Nach  einer  kurzen  Erörterung  dieses 
nicht  gelungenen  Versuches  beschränkt  sich  von  Scheuerl  darauf, 
die  Einwirkung  neuer  Gesetze  auf  Verjährungsfristen  mit  Sa- 
vigny zu  diskutieren,  wobei  er  übrigens  zu  demselben  praktischen 
Resultat  mit  diesem  gelangt. 

86 


Instituten  betreffen,  hiernach  durch  die  ausdrücklich  er- 
klärte oder  aus  den  Umständen  erhellende  Absicht  des 
Gesetzgebers  bestimmt.  Dann  aber  ist  zwischen  dieser  Gat- 
tung von  Rechtsregeln  und  den  Rechtsregeln,  welche  sich 
auf  den  Erwerb  von  Rechten  beziehen,  in  bezug  auf 
ihre  Rückwirkung  kein  wesentlicher  Unterschied  ab- 
zusehen." 

Wir  wollen  hier  nicht  darüber  streiten,  ob  es  dem  Ge- 
setzgeber wirklich  zusteht,  wie  dies  aus  Bornemanns  An- 
sicht folgt,  auch  die  Gesetze  über  den  Erwerb  der  Rechte 
je  nach  seiner  Absicht  beliebig  rückwirken  zu  lassen.  Jeden- 
falls aber  folgt  daraus,  daß  der  Gesetzgeber  die  Macht 
hat,  vorkommendenfalls  die  Natur  der  Sache  auch  zu  ver- 
letzen, doch  noch  nicht,  daß  es  überhaupt  keine  ob- 
jektive Natur  der  Sache  gebe!  Bei  der  wissen- 
schaftlichen Untersuchung  dieser  Lehre  —  und  eine  solche, 
selbst  das  preußische  Recht  nur  beiläufig,  wenn  auch 
mit  besonderer  Ausführlichkeit,  berücksichtigende  Unter- 
suchung erklärt  doch  Bornemann  selbst  S.  1  führen  zu 
wollen  —  zum  Requisit  der  Rückwirkungsfähigkeit  eines 
Gesetzes  statt  der  durch  die  Wissenschaft  festzustellenden 
Natur  der  Sache  nur  die  beliebige  Absicht  des  Gesetz- 
gebers zu  machen,  heißt  nichts  anderes,  als  jeden  wissen- 
schaftlichen Standpunkt  überhaupt  aufgeben  und  an  ihm 
verzweifeln. 

Mindestens  scheint  durch  diese  die  gesetzgeberische  Ab- 
sicht an  die  Stelle  der  rechtlichen  Natur  der  Sache  setzende 
Lösung  eine  schwierige  Untersuchung  erspart  und  für  die 
praktische  Behandlung  ein  fester  positiver  Boden  ge- 
wonnen zu  sein.  Aber  auch  das  ist  nur  ein  leerer,  sich  so- 
fort selbst  auflösender  Schein.  Denn 

1.  würde  schon  ein  Richter  unter  einer  der  zahlreichen 
früher  erwähnten  oder  diesen  etwa  hierin  noch  in  Zukunft 

S7 


nachahmenden  Konstitutionen,  welche  dem  Gesetz- 
geber die  Rückwirkung  verbieten,  sich  nicht  mit  der  Frage 
nach  der  Absicht  des  Gesetzgebers  abfinden  können, 
sondern  er  würde  untersuchen  müssen,  inwiefern  nach  der 
rechtlichen  Natur  der  Sache  die  sofortige  Anwendung  eines 
neuen  Gesetzes  auf  schon  bestehende  Verhältnisse  eine  un- 
zulässige Rückwirkung  in  sich  schließen  würde.  Er  würde 
in  diesem  Falle  sogar  eine  ausdrückliche  gesetzgeberische 
Verordnung  insoweit  einschränken  müssen; 

2.  liegt  für  die  Wissenschaft  die  Diskussion  ja  nicht 
nur  so,  wie  sie  ex  lege  lata,  sondern  auch  so,  wie  sie  de 
lege  ferenda  zu  führen  ist.  Der  Gesetzgeber  soll  sich 
nicht  nur,  wenn  er  seinem  Begriffe  entsprechen  will,  nach 
der  rechtlichen  Natur  der  Sache  richten.  Er  wird  sich 
auch,  mindestens  in  den  allermeisten  Fällen,  und  wo  nicht 
ganz  besondere  ihn  unmittelbar  bestimmende  und  über  alle 
Rücksichten  hinweggehende  Gesichtspunkte  vorliegen,  nach 
ihr  richten  wollen.  Wenn  sich  nun  also  der  Gesetzgeber 
nach  der  Wissenschaft  umsieht,  um  aus  dieser  zu  erfahren, 
was  die  rechtliche  Natur  der  Sache  erfordere,  und  an 
dieser  objektiven  Norm  seinen  Willen  zu  gestalten,  so 
wird  er,  wenn  er  nun  erfährt,  daß  vielmehr  seine  eigene 
Absicht  der  Inbegriff  aller  Wissenschaft  sei,  zwar  von 
dieser  seiner  eigenen  Majestät  und  Herrlichkeit  sehr  er- 
baut, aber  doch  um  so  weniger  belehrt  sein !  Zumal  heut- 
zutage, wo  die  Gesetzgebung  von  ihren  transzendenten 
Höhen  in  die  Bürgerkreise  hinuntergestiegen  ist,  welche 
noch  einigermaßen  auf  die  Resultate  der  Wissenschaft 
Rücksicht  zu  nehmen  pflegen,  wird  jede  wissenschaftliche 
Untersuchung  dieser  Materie  ebenso  sehr  eine  gesetzgebe- 
rische als  eine  judiziäre  Wirksamkeit  haben  und  sich  daher 
nicht  mit  dem  bloßen  Hinweis  auf  die  positive  Vorschrift 
begnügen  können,  in  welchem  Falle  überhaupt  die  wissen - 

88 


schaftliche  Untersuchung  ganz  abgeschnitten  und  alles  mit 
diesem  Hinweis  gesagt  ist. 

3.  Endlich  aber  ist  die  Sache  auch  da,  wo  die  Unter- 
suchung wie  vor  unseren  Tribunalen  nur  ex  lege  lata  ge 
führt  wird,  mit  jener  Frage  nach  der  Absicht  des  Ge- 
setzgebers in  den  allermeisten  Fällen  um  keines  Haares 
Breite  von  der  Stelle  gebracht.  Denn  die  unendliche  Ma- 
jorität der  bestehenden  Gesetze  enthält  weder  eine  aus 
drückliche,  noch  aus  ihrer  wörtlichen  Abfassung  zu  ent- 
nehmende Vorschrift  über  ihre  transitorische  Anwendung, 
und  ebenso  wird  das  mit  der  unendlichen  Majorität  der 
künftigen  Gesetze  der  Fall  sein.  Überall  aber,  wo  die  Ab- 
sicht des  Gesetzgebers  nicht  ausdrücklich  von  ihm  aus 
gesprochen  ist  und  also  interpretiert  werden  muß,  wird  an- 
genommen werden  müssen,  daß  der  Gesetzgeber  das  ge- 
wollt habe,  was  die  rechtliche  Natur  der  Sache  erfordert ; 
daß  er  ihr  freien  Lauf  habe  lassen  wollen.  Man  wird 
dann  also,  statt  in  der  Absicht  des  Gesetzgebers  einen  Maß- 
stab zu  haben,  welcher  die  wissenschaftliche  Natur  der 
Sache  zu  ersetzen  vermöchte,  vielmehr  um  zu  wissen,  wel- 
ches jene  sei,  auf  diese  rekurrieren  und  sie  vorher  fest- 
stellen müssen.  Mindestens  in  der  unendlichen  Majorität 
der  Fälle  wird  man  also  bei  der  Frage  nach  der  gesetz- 
geberischen Absicht  im  Zirkel  auf  die  Frage  nach  der 
rechtlichen  Natur  der  Sache  zurückgeworfen  werden. 

Ebensowenig  stichhaltig  ist,  was  Bornemann  gegen  Sa- 
vigny  in  bezug  auf  die  Rechtsregeln  einwendet,  welche 
das  So-  oder  Anderssein  eines  Rechtsinstitutes  betreffen. 
Hier  will  nämlich  Bornemann  (S.  9 fg.)  unterscheiden 
zwischen  Rechtsverhältnissen,  die  ihrer  Natur  nach  eine 
unbegrenzte  oder  doch  sehr  lange  Dauer,  und  solchen,  die 
nur  eine  vorübergehende  Dauer  haben. 

Gesetze,  welche  Rechtsinstitute  von  unbegrenzter  oder 

89 


doch  sehr  langer  Dauer  modifizieren,  sollen  im  allgemeinen 
rückvvirken  dürfen ;  Rechtsverhältnisse  aber  von  bloß  vor- 
übergehender Dauer  sollen  erworbene  Rechte  sein  und 
von  neuen  Gesetzen  nicht  berührt  werden  können.  Dabei 
soll  das  sehr  Merkwürdige  stattfinden,  daß  zwar,  wie  be- 
reits erwähnt,  Gesetze,  welche  Rechtsverhältnisse  von  un- 
begrenzter oder  sehr  langer  Dauer  betreffen,  sofort  ein- 
wirken sollen,  aber  nur,  wenn  die  Modifikationen,  welche 
das  Gesetz  in  dem  betreffenden  Rechtsinstitute  hervor- 
bringt, nicht  zu  tief  eingreifende  sind.  Wenn  dagegen  ,,das 
neue  Gesetz  dergestalt  tief  eingreift,  daß  dadurch  nicht 
bloß  einzelne  Befugnisse"  aufgehoben,  beschränkt  oder 
umgestaltet  werden,  sondern  „dadurch  das  ganze  Rechts- 
institut, welchem  das  fragliche  Recht  angehört,  seinem 
ganzen  Wesen  nach  umgewandelt  wird,"  —  gerade  dann 
soll  die  „Anwendung  des  neuen  Gesetzes  auf  die  vorge- 
fundenen Rechtsverhältnisse  mindestens  nicht  unbedingt  zu- 
lässig" sein.  Mit  anderen  Worten:  Gesetze,  welche  ein- 
zelne Rechtsbefugnisse  aufheben  oder  modifizieren,  sollen 
sofort  auf  die  vorhandenen  Verhältnisse  anwendbar  sein ; 
Gesetze  aber,  welche  dies  mit  mehreren  oder  allen 
aus  einem  Rechtsinstitut  fließenden  Befugnissen  vornehmen, 
sollen  dies  nicht  sein  *).  Es  läßt  sich  aber  schlechterdings 
nicht  absehen,  warum  der  Gesetzgeber  durch  seine  Vor- 
schrift oder  der  Richter  durch  seine  Auslegung  mich  zwar 
um  zwei  oder  drei  Rechtsbefugnisse  sollte  bringen  können, 
aber  nicht  um  die  vier  oder  fünf,  welche  diesem  Rechts- 
institute überhaupt  entfließen,  oder  wenn  sie  einmal  das 
letztere  nicht  können,  warum  sie  das  erstere  können  sollen. 
Es  läßt  sich  das  um  so  weniger  begreifen,  als  doch  gerade 

-1)  Es  wäre  dies  also  gerade  das  Gegenteil  von  der  Theorie 
Savignys,  nach  welcher  vor  allem  Gesetze,  welche  das  Sein 
eines  ganzen  Rechtsinstitutes  aufheben,  rückwjrken  müssen. 

90 


bei  der  gänzlichen  Aufhebung  oder  Umwandlung  eines 
Rechtsinstitutes  die  E  x  k  1  u  s  i  o  n  ,  welche  der  Gesetzgeber 
einem  bestehenden  System  von  Rechtsbefugnissen  entgegen- 
stellt, die  totale  ist,  welche  den  Richter  weit  mehr  er- 
mächtigen und  verpflichten  sollte,  auf  frühere  Befugnisse 
keine  Rücksicht  zu  nehmen. 

Es  erhellt  von  selbst,  daß  diese  Theorie  eine  durchaus 
unhaltbare  ist.  Es  sind  lauter  Unterschiede,  die  sofort  in 
der  Hand  zerfließen.  So  ist  schon  der  Fundamentalunter- 
schied zwischen  Rechtsverhältnissen  von  endloser  oder  sehr 
langer,  und  zwischen  solchen  von  kurzer  Dauer,  ein  durch- 
aus nichtiger.  Dieser  Unterschied  ist  bereits  Savigny  nicht 
entgangen,  aber  von  ihm  auch  schon  auf  die  richtige  Weise 
erledigt  worden.  „Die  Natur  mancher  Rechte,"  sagt  Sa- 
vigny (S.  379),  „ist  auf  eine  endlose  Dauer  eingerichtet, 
wie  das  Eigentum  vermittels  des  Erbrechtes,  die  Sklaverei, 
die  sich  durch  die  Geburt  fortsetzt,  so  daß  ein  völliges 
Aufhören  dieser  Rechte  nur  durch  zufällige  Umstände 
eintreten  kann ;  im  Gegensatz  anderer  Rechte,  die  schon 
durch  ihre  Natur  auf  ein  vorübergehendes  Dasein  ange- 
wiesen sind,  sowie  fast  alle  Obligationen,  der  Nießbrauch, 
die  Familienverhältnisse.  Bei  beiden  ist  an  sich  die 
Kollision s frage  auf  gleiche  We ise  zu  ent- 
scheiden." Zwischen  den  Rechten  von  endloser  und 
von  vorübergehender  Dauer  gibt  es  übrigens  wenigstens 
einen  festen  Unterschied  überhaupt,  wenn  auch  einen 
auf  unsere  Materie  sehr  einflußlosen.  Zwischen  den  Rech- 
ten von  sehr  langer  und  von  kurzer  Dauer  läßt  sich  aber 
nicht  einmal  eine  Grenzlinie  ziehen.  Dieser  rein  quan- 
titative Unterschied  ist  eben  deshalb  fließender  Natur 
und  daher  gar  keiner  prinzipiellen  oder  rechtlichen  Ab- 
scheidung fähig.  Wenigstens  sagt  Bornemann  nicht,  was 
eine  sehr  lange  und  was  eine  kurze  Dauer  eines  Rechtes 

91 


sei,  und  wir  zweifeln,  daß  irgend  jemand  statt  seiner  ein 
solches   Zeitmaß  feststellen  können  wird. 

Da  Bornemann  selbst  fühlt,  daß  mit  diesem  Unter- 
schiede nichts  anzufangen,  gibt  er  ihm  bei  den  Rechten 
von  unbegrenzter  oder  doch  sehr  langer  Dauer  eine  andere 
Gestalt.  Er  sagt  nämlich,  daß  solche  Rechte,  wie  z.  B. 
Lehen.  Reallasten  usw.  als  auf  solche  Dauer  gerichtete 
Rechte,  ,, mindestens  der  Regel  nach"  gar  nicht  als  ein 
,. erworbenes  Recht  aufgefaßt,  sondern  höchstens  als  Er 
Wartung  behandelt  werden"  dürfen.  Dann  aber  folge 
,.die  rückwirkende  Kraft  neuer  Gesetze  auf  die  gesetz- 
liche Beschaffenheit  solcher  Rechte,  als  Regel,  schon  aus 
dem  Grunde,  daß  nur  erworbene  Rechte  durch  neue 
Gesetze  nicht  berührt  werden"  (daselbst  S.  10).  Ein 
aktuelles  Recht,  wie  z.  B.  das  Zehntrecht  oder  die  Lehns- 
rechte und  gutsherrlichen  Rechte  auf  seiten  des  berech 
tigten  Inhabers  für  bloße  Erwartungen  zu  erklären, 
wird  jedem  Juristen  als  bare  Unmöglichkeit,  als  ein  Ver- 
stoß gegen  die  einfachsten  Grundrechte  des  Rechtes  er- 
scheinen müssen.  Es  sind  diese  Rechte  ganz  so  aktuell, 
wie  nur  irgend  eines  im  gesamten  Rechtsgebiete,  und  von 
..Erwartungen"  seitens  der  Besitzer  also  hier  gar  nicht 
die  Rede1). 


x)  Ein  solches  Recht  ist  nicht  nur  keine  Erwartung,  sondern 
es  ist  gerade  das  logische  Gegenteil  derselben.  Ein  Erbe 
hat  noch  kein  aktuelles  Recht;  er  erlangt  es  erst  durch  das 
Eintreten  eines  Umstandes  (des  Todes  des  Erblassers).  Darum 
erwartet  er.  Der  Berechtigte  bei  einem  Zehnten  einer  Reallast 
ist  in  der  umgekehrten  Lage.  Er  ist  gegenwärtig  mit  dem 
Rechte  befaßt  und  soll  es  durch  den  eintretenden  Umstand 
(Gesetzgebungswechsel)  nur  verlieren.  Er  erwartet  daher 
durchaus  nicht,  sondern  wenn  unsere  Sprache  einen  das  Gegen- 
teil hiervon  bezeichnenden  Ausdruck  hätte,  so  wäre  dieser 
gerade  der  angemessene  für  seine  Position ! 

92 


Statt  die  sehr  aktuellen  Rechte  „endloser  Dauer"  der 
Berechtigten  zu  bloßen  Erwartungen  herabzusetzen,  wäre 
vielmehr  umgekehrt  von  dieser  Argumentation  nur  zu  er- 
warten, daß  sie  durch  ihre  Schwäche  den  Erwartungen 
der  Partei  der  Berechtigten,  den  Anspruch  auf  endlose 
Dauer  ihrer  gegenwärtigen  Rechte  zu  einem  Rechte 
zu  erheben,  möglichsten  Vorschub  tun  wird ! 

Es  kann  bei  Gründen  dieser  Art  nicht  wundernehmen, 
wenn  Bornemann  bei  den  von  ihm  aufgestellten  Grund- 
sätzen sich  selbst  nicht  recht  heimisch  fühlen  kann,  sie 
daher  jeden  Augenblick  durch  ein  hinzugesetztes  „min- 
destens im  allgemeinen,"  „wenigstens  der  Regel  nach," 
., jedenfalls  in  manchen  Rechtsverhältnissen"  und  ähnliche 
Ausdrucks  weisen  in  ihrer  Tragweite  abzuschwächen  sucht, 
ihnen  aber  eben  dadurch  jeden  präzisen  und  prinzipiellen 
Charakter  nimmt  und  uns  wieder  in  das  vorsavignysche 
Ausnahmenchaos  zurückwirft,  in  dessen  durcheinander- 
schwankendem  Gemenge  von  Ausnahmen,  die  ihre  Regel 
beständig  aufheben,  jede  kosmische  Gedankenordnung  un- 
tergegangen ist. 

Obwohl  nun  ein  solches  Straucheln  so  bedeutender  Ju- 
risten an  unserer  Materie  zu  doppelter  Vorsicht  mahnen 
muß,  und  obwohl  das  Geständnis,  das  Savigny  selbst  (Bd. 
VIII,  Vorrede  S.VI)  ablegt,  es  sei  eine  Unmöglichkeit, 
diese  Aufgabe  schon  jetzt  zu  einem  Abschluß  zu  führen, 
der  Autor  müsse  es  sich  vielmehr  hierbei  bereits  „zur 
Ehre  rechnen,  wenn  sein  Versuch  in  der  ferneren  Ent- 
wicklung nur  noch  als  einzelner,  vorbereitender  Schritt 
im  Angedenken  bleiben  sollte,"  ein  Unternehmen  um  so 
mißlicher  macht,  welches,  wie  dies  der  Philosophie  nicht 
anders  möglich  ist,  mit  dem  Anspruch  einer  absoluten 
Lösung  auftreten  muß,  so  liegt  doch  gerade  hierin  auch 
eine  um  so  größere  Aufforderung,  diesen  Gegenstand  einer 

93 


wiederholten  Untersuchung  zu  unterwerfen  und  den  spe- 
kulativen Begriff  durch  die  einfache  Tätigkeit  seiner 
Dialektik  das  leisten  zu  lassen,  woran  die  größten  Juristen 
scheiterten  und  was  sie  offen  als  eine  Unmöglichkeit  ein- 
gestanden. Es  fehlt  aber  auch  nicht  an  anderen  und  prak- 
tischen Gründen,  welche  dies  als  besonders  zeitgemäß  er- 
scheinen lassen. 

So  ist  schon  oben  darauf  aufmerksam  gemacht,  wie, 
nachdem  die  Gesetzgebung  von  ihrer  transzendenten  Höhe 
in  die  Bürgerkreise  hinunterzusteigen  begonnen  hat,  ein 
verstärkter  Einfluß  der  Wissenschaft  auf  die  Gesetzgebung 
möglich  ist.  Noch  konkretere  Gründe  liegen  nahe.  Der 
Gesetzgebungswechsel  in  Deutschland  war  in  den  letzten 
zwölf  Jahren  ein  sehr  lebhafter  im  Verhältnis  zu  früheren 
Perioden.  Und  doch  dürfte  er  nur  ein  äußerst  unbedeu- 
tender zu  nennen  sein,  verglichen  mit  dem  ganz  anders 
sturmvoll  bewegten,  der  uns  in  naher  Zukunft  bevorsteht. 
Es  kommt  hinzu,  daß  der  Grundsatz  der  Nichtrückwirkung, 
so  sehr  er  auch  zunächst  als  eine  einfache  stets  gültige 
Vorschrift  des  Privatrechtes  erscheint,  seine  eigene  Ge- 
schichte hat,  die  immer  mit  dem  politischen  Charakter  der 
Periode  in  der  innigsten  Verbindung  steht,  so  daß  er 
sogar  einer  eigenen  und  sehr  lehrreichen  Geschichtschrei- 
bung fähig  wäre.  Wer  nämlich  in  unsere  Materie  auch 
nur  ganz  oberflächlich  eingedrungen  ist,  wird  begreifen, 
daß  und  warum  alle  Zeiten  von  gesteigerter  historischer 
Entwicklung  —  solche  also,  die  man  gewöhnlich  revo- 
lutionäre Zeiten  zu  nennen  pflegt  —  geneigt  sein  müssen, 
dem  Grundsatz  der  sofortigen  Anwendung  neuer  Gesetze 
eine  möglichst  weite  Ausdehnung  zu  geben,  während  alle 
Zeiten  der  Reaktion  —  und  ebenso  alle  Parteien  von  reak- 
tionärer Tendenz  in  Zeiten  gesteigerter  historischer  Ent- 
wicklung —  den  Grundsatz  der  Nichtrückwirkung  zur  un- 

94 


zulässigsten  Ausspannung  aufzutreiben  streben  ;  freilich  nur 
insofern  es  für  diese  Parteien  nicht  gilt,  eigene  durch  die 
frühere  Gesetzgebung  verloren  gegangene  Rechte  wieder- 
zuerobern !  Denn  sobald  es  sich  hierum  handelt,  pflegen 
dieselben  am  eifrigsten  dabei  zu  sein,  trotz  aller  Formeln 
und  Wendungen,  in  denen  sie  den  Grundsatz  der  Nicht- 
rückwirkung  sonst  heilig  sprechen,  denselben  auf  das  ge- 
waltsamste unter  die  Füße  zu  treten. 

Frankreich  liefert  uns  auch  hierfür  wieder  die  lehr- 
reichsten Belege,  und  es  kann  erforderlich  scheinen,  das 
hier  abstrakt  Gesagte  mindestens  durch  einige  auffällige 
Beispiele  zu  klarster  Anschaulichkeit  zu  bringen. 

Durch  das  Gesetz  vom  14.  November  1792  hatte  der 
französische  Nationalkonvent  alle  fideikommissarischen 
Substitutionen  von  da  ab  untersagt  und  alle  zur  Zeit  be- 
stehende Fideikommisse  in  freies  Eigentum  in  der  Hand 
ihrer  Besitzer  verwandelt.  Er  hatte  ferner  durch  das  Ge- 
setz vom  7.  März  1793  alle  testamentarische  Dispositionen 
und  auch  die  unwiderruflichen  Erbverträge  verboten.  Durch 
die  Gesetze  vom  5.  Brumaire  II  und  besonders  vom  17. 
Nivose  desselben  Jahres  (6.  Januar  1794)  ging  der  Kon- 
vent aber  weiter  und  verfügte  1)  unter  anderem,  daß  alle 
seit  dem  14.  Juli  1789  geschaffenen  fideikommissarischen 
Substitutionen  und  Erb  vertrage2)  nichtig  sein  und  die  ver- 
möge solcher  Stipulationen  seitdem  erworbenen  Güter 
ebenso   wie  alle   seit   demselben   Tage  eröffneten  Erb- 


r)  S.  Art.  13  des  Brumaire-Gesetzes,  Art.  2  des  Gesetzes 
vom  17.  Nivose  und  vgl.  die  Antwort  auf  die  52.  Frage  in 
dem  vom  Konvent  auf  den  Bericht  des  Gesetzgebungskomitees 
erlassenen   Dekrete  vom  22.  Ven'ose   II. 

2)  Sowie  auch  die  vor  dem  14.  Juli  1789  geschaffenen  Sub- 
stitutionen, Erbfolgeverträge  und  Testamente,  wenn  die  Ur- 
heber am  14.  Juli  noch  am  Leben  waren. 

95 


schaften  trotz  aller  entgegenstehenden  Gesetze,  Schenkun- 
gen, Testamente  und  Dispositionen  aller  Art  und  trotz 
aller  schon  vollbrachten  Teilungen  von  neuem  nach  dem 
Grundsatze  der  Gleichheit  unter  den  natürlichen  Erben 
des  Verstorbenen  geteilt  werden  sollten.  Wir  werden 

später  Anlaß  haben,  dieses  Gesetz  in  bezug  auf  die  all- 
gemein bejahte  Frage,  inwiefern  dasselbe  eine  Rückwirkung 
in  sich  schließe,  einer  strengen  wissenschaftlichen  Analyse 
zu  unterwerfen. 

Wie  dem  inzwischen  auch  sei,  als  die  Wogen  der  Ther- 
midor- Reaktion  höher  und  höher  stiegen,  ging  man  von 
der  Ansicht  aus,  daß  dasselbe  rückwirkender  Natur  ge- 
wesen sei,  und  man  beeilte  sich  nun  durch  die  Gesetze  vorn 
9.  Fructidor  III  und  vom  3.  Vendemiaire  IV  (25.  Sep- 
tember 1795)  die  retroaktiven  Dispositionen  der  Gesetze 
vom  5.  Brumaire  und  17.  Nivöse  II1)  —  während  man 
ihre  erbrechtlichen  Grundsätze  für  die  Zukunft  aufrecht 
erhielt  —  wieder  aufzuheben.  Aber  man  begnügte  sich 
nicht,  diese  Aufhebung  von  jetzt  ab  auszusprechen,  so 
daß  nunmehr  z.B.  bloß  alle  seit  dem  14.  Juli  1789  und 
vor  dem  sie  bereits  verbietenden  Gesetze  vom  7.  März 
1 793  geschlossenen  Erbverträge,  die  sich  von  jetztab 
noch  durch  den  Tod  des  Erblassers  eröffnen  wür- 
den, oder  alle  seit  dem  14.  Juli  1789  geschaffenen  und 
vor  dem  sie  bereits  in  freies  Eigentum  verwandelnden  Ge- 
setze vom  14.  November  1792  eröffneten,  aber  etwa 
nochinLiquidation  befindlichen  Fideikommisse 
aufrecht  erhalten  bleiben  sollten,  sondern  man  gab  nun 
der  Aufhebung  jener  der  Rückwirkung  angeklagten  Ge- 
setze  einen   jedenfalls   und   unzweifelhaft   rückwirkenden 


1)  Ebenso   die   Dekrete   des   Konvents   vom  22.  Ventöse   II, 
vom  9  Fructidor   II   usw. 

96 


Effekt.  Man  verordnete,  daß  die  Personen,  welche  auf 
Grund  jener  Gesetze  vom  5.  Brumaire  und  17.  Nivose  II 
in  gesetzlicher  Weise  Erbschaften  erworben  hatten,  zur 
Herausgabe  verpflichtet,  daß  alle  ergangenen  rechtskräf- 
tigen Urteile  vernichtet,  alle  auch  gänzlich  beendeten  Tei- 
lungen wirkungslos  sein  und  die  bereits  zweimal  geteilten 
Erblassenschaften  einer  dritten  Teilung  unterzogen  wer- 
den sollten.  Ja,  während  der  Nationalkonvent  in  den  Ge- 
setzen vom  5.  Brumaire1)  und  17.  Nivose  II2),  die  bona 
fides  der  bisherigen  Besitzer  respektierend,  verordnet  hatte, 
daß  dieselben  nicht  nur  wegen  der  stattgehabten  Nutzungen 
keinerlei  Ersatz  zu  leisten  hätten,  sondern  sogar  schlecht- 
hin, daß  die  durch  die  neuen  Gesetze  berufenen  natürlichen 
Erben  die  Güter  durchaus  in  dem  Zustande  nehmen 
müßten,  in  welchen  sie  sich  zur  Zeit  befänden,  ging  die 
Thermidor- Reaktion  weiter  und  sicherte  den  von  ihr  wie- 
dereingesetzten Personen  gegen  die  durch  die  aufgehobenen 
Gesetze  berufenen  und  durch  dieselbe  bona  fides  gedeckten 
Besitzer  eine  Aktion  wegen  inzwischen  erfolgter  Hoch- 
waldsfällungen zu  (.  .  .  ,,sauf  l'action  pour  abbatis  de 
bois  -  futaie" ;    Art.    3    des    Gesetzes    vom    3.   Vendemi  - 


aire 


IV3)). 


1)  Art.  16:  Dans  les  partages  et  rapports  qui  seront  faits 
en  execution  des  articles  precedents,  il  ne  sera  fait  aucune 
restitution  ni  rapport  des  fruits  et  interets  qui  avant  la  Promul- 
gation du  present  decret,  auront  ete  percus  en  vertu  des  lois, 
coutumes  et  disposihons  auxquelles  il  a  ete  cidessus  deroge. 
)  Art.  46,  dem  eben  zitierten  Art.  16  entsprechend,  und  dazu 
noch  außerdem  Art.  47 :  „Les  heritiers  naturels  rappeles  par 
le  present  decret  seront  tenus  de  recevoir  les  biens  en  Vetat  oh  ils 
se  trouvent  actuellement"  usw. 

3)  Man  muß  aber  nicht  etwa  glauben,  daß,  wie  vielleicht 
sehr  plausibel  erscheinen  möchte  und  wie  dies  Merlin  in  der 
Tat  in  einer  bald  zu  erwähnenden  Konventsitzung  darzustellen 

7   Lassalle.    G«.  Schriften.    Band  IX.  97 


Ebenso  hatte  der  Nationalkonvent  durch  Gesetz  vom 
4. — 6.  Juni  1793  im  Prinzip  die  Sukzessionsfähigkeit  der 
natürlichen  Kinder  in  den  elterlichen  Nachlaß  dekretiert 
und   zur   Regelung   dieser   Verhältnisse   das   Gesetz  vom 


suchte,  die  retroaktiven  Bestimmungen  des  Gesetzes  vom  17. 
Nivöse  dem  Konvent  wider  seine  eigene  Ansicht  durch  die  am 
9.  Thermidor  gestürzte  Partei  der  Schreckensherrschaft  auf- 
gezwungen und  in  einfacher  Folge  hiervon  nach  dem  Sturz 
Robespierres  wieder  aufgehoben  worden  wären.  Der  Konvent 
blieb  vielmehr  noch  lange  nach  dem  9.  Thermidor  von  der 
Richtigkeit  der  hierüber  im  Nivösegesetz  aufgestellten  Grund- 
sätze durchdrungen  und  nur  sehr  allmählich  und  mit  der 
fortschreitenden  Hitze  der  rückschreitenden  Bewegung  gelangte 
man  zu  der  Ansicht,  eine  unzulässige  Rückwirkung  in  ihnen 
zu  sehen.  Weil  dies  mit  unserer  obigen  Behauptung  über  den 
den  Individuen  selbst  oft  unbewußten  und  unmerklichen  Einfluß 
der  politischen  Ansichten  und  ihrer  Strömung  auf  die  Auf- 
fassung des  Rückwirkungsgedankens  zusammenhängt,  und  weil 
selbst  unsere  ausführlichsten  Geschichtswerke,  französische  wie 
deutsche,  noch  immer  den  Einwirkungen  der  französischen  Re- 
volution auf  die  privatrechtliche  Lage  der  Individuen  jede 
detailliertere  Aufmerksamkeit  zu  schenken  verabsäumen  —  wer- 
den doch  nicht  einmal  so  überaus  charakteristische  Tatsachen 
wie  die  durch  den  Retroaktiveffekt  der  oben  bezogenen  Gesetze 
vom  17.  Nivose  II  usw.  und  wieder  3.  Vendemiaire  IV  usw. 
hervorgerufenen  zwei-  und  dreimaligen  Teilungen  der  Erb- 
schaften, die  In-  und  Außerbesitzsetzungen  der  natürlichen  Kin- 
der usw.  von  ihnen  auch  nur  erwähnt  — ,  so  halten  wir  darauf, 
jenen  Verlauf  um  seines  bedeutenden  geschichtlichen  Interesses 
willen  hier  zu  konstatieren. 

Während  also  Robespierre  und  seine  Partei  am  9.  Thermi- 
dor II  (27.  Juli  1794)  gestürzt  wurde,  erließ  noch  einen  Monat 
später,  am  9.  Fructidor  II  (26.  August  1794),  der  Konvent 
auf  den  Bericht  seines  Gesetzgebungskomitees  über  verschie- 
dene hinsichts  des  Nivosegesetzes  eingegangene  Petitionen  und 
zur  Schlichtung  der  in  denselben  aufgeworfenen  Fragen,  ein 
Dekret  (ganz  nach  Art  des  Dekretes  vom  22.  Ventöse  II),  in 

98 


12.  Brumaire  II  (2.  November  1793)  erlassen,  nach  wel- 
chem (Art.  1)  die  existierenden  unehelichen  Kinder  in 
alle  bereits  seit  dem  14.  Juli  1789  eröffneten  Erbschaften 
ihrer  Eltern  sukzedieren  sollten.   Durch  Gesetz  vom  15. 


welchem  er  überall  auf  das  strengste  an  den  Bestimmungen  und 
Grundsätzen  des  Nivösegesetzes  festhält.  Ja,  am  selben  Tage 
erließ  der  Konvent  sogar  ein  Dekret  (decret  additionnel  ä  celui 
du  17 — 21  nivöse  sur  les  successions),  in  welchem  er,  das 
Nivösegesetz  noch  ausdehnend,  verfügt,  daß  auch  die  Hinter- 
lassenschaften aller  seit  zehn  Jahren  vor  dem  14.  Juli 
1789  Abwesenden  nach  den  Grundsätzen  jenes  Gesetzes  geteilt 
werden  sollten.  Und  wir  bemerken  einstweilen,  daß  es  Berlier 
war,  welcher  diesen  Gesetzvorschlag  dem  Konvent  präsentierte 
(s.  den  Moniteur  vom  ll.Fructidor  II).  Selbst  noch  im  Bru- 
maire III  (Oktober— November  1794)  dachte  der  Konvent  noch 
nicht  an  die  Rücknahme  jener  retroaktiven  Bestimmung,  wie 
wir  bald  sehen  werden.  Ja,  nicht  genug;  noch  am  11.  Nivöse 
III  —  also  am  31.  Dezember  1794  —  ging  der  Konvent,  durch 
Petitionen  wie  Anträge  um  Rücknahme  jener  Bestimmungen  be- 
stürmt, nicht  nur  zur  Tagesordnung  über,  sondern  dekretierte 
sogar,  daß  dieser  Übergang  zur  Tagesordnung  in  das  Bulletin 
de  correspondance  aufgenommen  werden  sollte,  um  hierdurch 
auf  das  nachdrücklichste  zu  zeigen,  daß  er  zur  Aufrechterhal- 
tung jenes  Gesetzes  fest  entschlossen  sei.  —  Wir  entnehmen 
letztere  Tatsachen  dem  Eingeständnis,  welches  Merlin  in  einer 
viel  späteren  Zeit,  in  seinem  als  Generalprokurator  am  Pariser 
Kassationshofe  in  der  Sitzung  desselben  vom  21.  Vendemiaire 
X  (13.  Oktober  1801)  im  Prozeß  Dubarry  contra  Lonjon  ge- 
haltenen Plädoyer  abgelegt  hat,  in  einer  Zeit  also,  in  welcher 
sich  die  Leidenschaften  beruhigt  hatten  und  er  sich  vielleicht 
selbst  nicht  mehr  erinnerte,  wie  sehr  er  durch  dies  Eingeständnis 
die  von  ihm  in  der  Konventssitzung  vom  5.  Floreal  III  auf- 
gestellten Behauptungen  selbst  Lügen  strafte.  Merlin  sagt  in 
jenem  Plädoyer  (abgedruckt  in  seinen  Questions  de  droit  I  Paris 
1828],  III,  581)  wörtlich:  „Mais  premierement,  il  n'existait  en 
brumaire  an  III,  aucun  indice  que  l'effet  retroactif  de  la  loi 
du  17  nivöse  an  II  düt  etre  rapporte ;  et  la  Convention  nationale 

7-  99 


Thermidor  IV  (5.  August  1796)  verfügte  dagegen  die 
Thermidor-Reaktion,  daß  dieser  auf  den  14.  Juli  1789 
zurückwirkende  Effekt  aufgehoben  sein  und  die  in  der 
Zwischenzeit  vom  H.Juli  1789  bis  zum  4.  Juni  1793 
von  den  natürlichen  Kindern  auf  Grund  jenes  Gesetzes 


ellc-meme  y  etait  alors  si  peu  dispossee  que  deux  mois  apres, 
le  11  nivöse  an  III,  non  seulement  eile  a  passe  ä  l'ordre  du 
jour  sur  la  proposition  qui  lui  etait  faite  de  rapporter  ces  dis- 
positions  extraorchnaires,  mais  eile  a  encore  ordonne  que  le 
decret  par  lequel  eile  avait  ecarte  cette  proposition,  füt  insere 
au  Bulletin  de  correspondance,  afin  sans  doute  de  manifester  avec 
d'autant  plus  d'eclat,  l'intention  ou  eile  etait  de  maintenir  la 
loi  dans  son  inte'grite'."  Erst  in  der  Sitzung  vom  5.  Floreal  III 
(24.  April  1795)  war  es,  daß  die  Suspension  aller  auf  Grund 
des  Nivösegesetzes  noch  schwebenden  Prozeduren  vom  Konvent 
dekretiert  wurde.  Wenn  Merlin  also  in  dieser  Sitzung  (s.  den 
Moniteur  vom  9.  Floreal  III)  die  Behauptung  aufstellt,  der 
Art.  14  der  Deklaration  der  Menschenrechte  von  1793  habe  (s. 
oben  S.  57,  Anmerk.  2)  nach  der  ursprünglichen  Absicht  auch 
im  Zivilrecht  das  Rückwirken  neuer  Gesetze  ausschließen  sollen, 
so  kann  er  hierin  vollständig  recht  haben,  denn  die  in  Rede 
stehenden  Bestimmungen  des  Nivösegesetzes  enthielten,  wie  wir 
später  sehen  werden,  nach  Ansicht  des  Konventes  gar 
keine  wirkliche  Rückwirkung.  Wenn  aber  Merlin  ferner  in  dieser 
Rede,  die  Petitionnaires,  welche  die  Barre  des  Konventes  be- 
stürmten, unterstützend,  das  Nivösegesetz  so  darstellen  will,  als 
sei  es  nur  von  Couthon,  Herault-Sechelles  und  Fabre  d'Eglantine 
usw.  dem  Konvent  aufgezwungen  worden,  wenn  er  behauptet, 
keiner  seiner  Kollegen  habe  sich  zur  Redaktion  dieses  Gesetzes 
hergeben  wollen,  nur  mit  List  habe  Berber  dazu  bestimmt 
werden  können,  und  zwanzigmal  habe  dieser  die  Piecen  auf 
das  Bureau  zurückgeworfen  „en  disant  qu'il  ne  voulait  pas 
etre  le  redacteur  d'une  loi  aussi  infame,"  so  ist  er  in  dieser 
ganzen  Darstellung  der  Unwahrheit  überführt  durch  sein  eigenes 
späteres,  das  Verhalten  des  Konvents  zu  jenem  Gesetz  noch 
lange  nach  dem  Thermidor  so  ganz  anders  schilderndes  Ge- 
ständnis;  er  ist  endlich  in  bezug  auf   Berber  der  Unwahrheit 

100 


erworbenen  Erbteile  wieder  von  ihnen  herausgegeben  wer- 
den sollten  (nach  den  Formen  des  Gesetzes  vom  3.  Ven- 
demiaire  IV). 

Die  Napoleonische  Gesetzgebung  trägt  den  Charakter 
ihrer  ermatteten  und  relativ  rückwärts  gewendeten  Periode 
in  ruhigerer  Weise  insofern  an  sich,  daß  sie  dem  Grund- 
satz der  Nichtrückwirkung  die  unzulässigste  Ausdehnung 
gibt 1).  So  verordnet  der  Code  Napoleon  z.  B.  (Art.  2281 


überführt  durch  die  schon  vorher  konstatierte  Tatsache,  daß 
dieser  noch  einen  Monat  nach'  dem  Sturz  der  Schreckensherr- 
schaft den  die  Prinzipien  des  Nivösegesetzes  von  neuem  an- 
wendenden und  resp.  ausdehnenden  Gesetzesvorschlag  vom  9. 
Fructidor  II  machte,  und  schließlich  auch  noch  dadurch,  daß 
Berlier  in  seinem  früher  dem  Konvent  erstatteten  Bericht  zum 
Dekret  vom  22.  Ventose  II  ausdrücklich  geleugnet  hatte,  daß 
das  Nivösegesetz  eine  Rückwirkung  in  sich  schließe  (s.  den 
Bericht   Berliers  im   Moniteur  vom  25.  Ventose  II). 

*)  Es  wird  dies  schon  durch  die  oben  im  Text  nachfolgen- 
den Beispiele  und  durch  die  dabei  angeführten  Erklärungen  der 
französischen  Regierungsredner  hinlänglich  erwiesen.  Übrigens 
gilt  das  Gesagte  noch  weniger  vom  Code  selbst,  als  von  den 
transitonschen  Gesetzen  und  anderen  Dekreten  und  Erlassen 
der  kaiserlichen  Regierung.  So  ist  z.  B.  der  Art.  2  des  Gesetzes 
über  die  natürlichen  Kinder  vom  14.  Floreal  XI  den  franzö- 
sisch-rechtlichen Ansichten  nicht  entsprechend.  Noch  weniger 
ist  dies  mit  dem  Avis  du  conseil  d'etat  vom  20.  September  1809 
der  Fall,  welcher  verordnet,  daß  bei  Kontumazialverurteilungen 
zum  bürgerlichen  Tode  die  durch  Art.  28  C.  c.  hieran  geknüp- 
ten  Folgen  für  die  Art  der  Vermögensverwaltung  nur  für  später 
Verurteilte  eintreten  sollten.  Ebenso  steht  das  Zinsengesetz  vom 
3.  September  1807  durch  seine  im  Art.  5  verfügte  Unanwend- 
barkeit  des  Maximums  auf  die  bestehenden  Verträge  in  einem 
auffälligen  Gegensatz  mit  einem  in  der  Folge  anzuführenden 
preußischen  Gesetz  hierüber  und  gewiß  auch  in  einem  unleug- 
baren inneren  Widerspruch  mit  dem  die  Freilassung  der  Schuld- 
gefangenen   verordnenden    Dekret    des    Konventes    vom    9.    bis 

101 


C.  c),  daß  die  bereits  begonnenen  Verjährungen  nicht 
nach  den  neuen  vom  Gesetz  bestellten  Fristen,  sondern  nach 
den  älteren  berechnet  werden  sollten,  eine  von  der  Wissen- 
schaft einmütig  verworfene  Bestimmung1). 


12  März  1793.  Der  Art.  1041  Code  de  proced.,  bestimmend, 
daß  die  neuen  Prozedurformen  auf  schon  eingeleitete  Prozesse 
keine  Anwendung  finden  sollen,  steht,  trotz  des  einschränken- 
den Avis  du  conseil  d'etat  vom  6.  Januar  und  16.  Februar  1807, 
gleichfalls  nicht  mit  der  französischen  Rechtswissenschaft  in 
Übereinstimmung.  In  schreiender  Weise  verstößt  gegen  die- 
selbe der  Art.  155  des  Organisationsdekretes  für  die  hanseati- 
schen Departements  vom  4.  Juli  1811,  welcher  bestimmt,  daß 
die  durch  dies  Dekret  abgeschafften  Substitutionen  noch  wirk- 
sam bleiben  sollten  für  die  bereits  lebenden  nächsten  Berufenen 
usw.  Wenn  man  letzteres  etwa  als  eine  Billigkeitsausnahme 
auffassen  sollte,  so  wird  sich  später  zeigen,  daß  solche  an- 
gebliche Billigkeit,  die  überdies  der  französischen  Doktrin  ganz 
entgegen  ist,  vielmehr  eine  hohe  Unbilligkeit  und  Rechtswidrig- 
keit darstellt.  Übrigens  hat  die  kaiserliche  Gesetzgebung  durch 
diese  und  ähnliche  Verordnungen  im  allgemeinen  keinen  dauern- 
den und  umändernden  Einfluß  auf  die  französische  Doktrin 
ausgeübt. 

*)  Vgl.  Bornemann.  a.  a.  O.,  S.  39.  Savigny,  a.  a.  O.,  S.  434. 
Simon  und  Strampff,  Zeitschrift,  II,  28  fg.  Bergmann,  Das 
Verbot  der  rückwirkenden  Kraft  (Hannover  1818),  S.  34  und 
247  fg.  Die  französischen  Schriftsteller  selbst  leugnen  die  theo- 
retische Unrichtigkeit  dieses  Grundsatzes,  der  schon  mit  der 
alten  französischen  Jurisprudenz,  die  sich  in  bezug  auf  die 
königlichen  Ordonnanzen  von  1510  und  1673  gebildet  hatte, 
in  Widerspruch  steht,  durchaus  nicht,  und  streben  deshalb,  diese 
Bestimmung  des  Code  civil  lediglich  auf  die  im  Code  civil 
bestellten  Verjährungsfristen  zu  beschränken,  ihre  Unanwend- 
barkeit  auf  die  erst  vom  Code  de  procedure  festgesetzten  be- 
hauptend ;  s.  Merlin,  Repert.  v°  Effet  retroactif ,  Sect.  3,  §§  3 
und  11,  und  Troplong,  De  la  Prescription,  S.  522.  Ebenso  hat 
der  Pariser  Kassationshof  durch  Urteil  vom  30.  November  1813 

102 


So  wurde  ferner  in  dem  transitorischen  Gesetz  vom 
26.  Germinal  XI,  durch  welches  das  Scheidungsgesetz  des 
Code  Napoleon  eingeführt  wurde,  bestimmt,  daß  dieses 
auf  die  bereits  eingereichten  Scheidungsklagen  keinerlei 
Wirkung  ausüben,  dieselben  vielmehr  nach  den  alten  Grund- 
sätzen und  Formen  abgeurteilt  werden  sollten.  Und  dies 
wurde  vom  Regierungsredner  Staatsrat  Real  in  seinem 
Expose  des  motifs  vor  dem  legislativen  Körper  nicht  aus 
Billigkeitsgründen  gerechtfertigt,  sondern  vielmehr  aus- 
drücklich als  eine  notwendige  Folge  des  über  die  Nicht- 
rückwirkung  handelnden  Art.  2  Code  civil  behauptet1). 
Das  Recht  auf  Scheidung  wurde  von  Herrn  Real  aus- 


die  Unanwendbarkeit  jener  Vorschrift  auf  Verjährungen,  die 
durch  ein  Spezialgesetz  bestellt  sind,  angenommen.  Es  muß 
daher  um  so  mehr  wundernehmen,  wenn  in  einer  Entscheidung 
des  Königlichen  Obertribunals  (Praejud.  2210)  unter  Bezug- 
nahme auf  den  Art.  2281  C.  c  die  völlig  falsche  Ansicht  aus- 
gesprochen werden  konnte,  daß  der  mit  der  richtigen  Theorie 
ganz  übereinstimmende  §  XVII  des  Einführungspatentes  vom 
5.  Februar  1794  zum  Allgemeinen  Landrecht  nur  eine  positive 
transitorische  Bestimmung  enthielte,  welche  auf  den  Übergang 
aus  dem  alten  Rechtszustand  in  den  des  Allgemeinen  Land- 
rechtes zu  beschränken  sei  und  ebenso  gut  auch  anders  — 
nämlich  dem  Art.  2281  C.  c  entsprechend  —  hätte  geordnet 
werden  können ! 

3)  Herr  Real  geht  deshalb  so  weit,  zu  sagen,  daß  das  ganze 
transitorische  Germinalgesetz  eigentlich  überflüssig  sei.  Es  er- 
gebe sich  sein  Inhalt  aus  dem  Art.  2  Code  civil  eigentlich  von 
selbst :  ,,Et  peut-etre  que  cette  solennelle  profession  de  f oi, 
peut-etre  que  cette  regle  de  conduite  placee  en  tete  du  code  dont 
la  loi  sur  le  divorce  fait  parlie,  pouvait  amener  ä  regarder 
comme  inutile  la  loi  transitoire  dont  le  projet  vous  est  soumis ! ! 
Mais  le  Gouvernement  a  ete  instruit  que  des  doutes  ( ! !)  s'ele- 
vaient"    usw. 

103 


drücklich   für  ein    „droit   acquis" 1),   für   ein  erworbenes 
Recht  ausgegeben  2)  ! 

Von   der   pieußischen    Gesetzgebung   läßt   sich    nach- 
weisen, daß  in  ihr  ein  großer  —  und  zwar  erfreulicher 


1)  „Dans  sa  disposition  generale,  le  projet  de  loi  que  nous 
vous  presentons,  appliquant  le  principe  proclame  par  l'art.  2 
du  code  prononce  que  le  droit  resultant  de  la  loi  ancienne  est 
acquis  ä  celui  qui  a  use  de  ce  droit  anterieurement  ä  la  publi- 
cation  de  la  loi  nouvelle." 

2)  Um  wieviel  richtiger  dagegen  die  mit  den  später  zu  ent- 
wickelnden Grundsätzen  der  Wissenschaft  genau  übereinstim- 
menden Publikationspatente  des  preußischen  Gesetzgebers  hier- 
über in  den  Jahren  1814 — 1816,  auf  welche  schon  oben  (S.  73, 
Anm.  1)  Bezug  genommen  ist!  —  Jenes  Expose  des  motifs 
des  Staatsrates  Real  läßt  übrigens  sehr  deutlich  erkennen,  aus 
welcher  historischen  Ursache  in  jener  Periode  diese  übertrie- 
benen Auffassungen  der  Nichtrückwirkung  stammen.  Er  er- 
innert zuerst  an  die  allgemeine  Übereinstimmung  der  Juris- 
konsulten  aller  Zeiten  über  diesen  Grundsatz  und  wirft  dann 
einen  mit  Abscheu  erfüllten  Blick  auf  die  Zeiten  des  Konvents, 
in  denen  allein  er  mit  Füßen  getreten  worden  sei.  „C'est  sans 
doute  parce  que  dans  ces  temps  de  troubles  dont  nous  sortons 
ä  peine,  cette  verite,  aujourd'hui  si  religieusement  respectee, 
a  ete  plus  audacieusetnent  foule'e  aux  pieds  que  vous  retrouvez 
ä  la  tete  du  Code  Napoleon,  sous  l'art.  2  du  Titre  preliminaire, 
la  declaration  suivante  que  son  evidence  devait  sans  ce  motif 
dispenser  de  toute  publication :  La  loi  ne  dispose  que  pour 
l'avenir,  eile  n'a  point  d'effet  retroactif."  Die  Sache  ist,  daß 
man,  die  Grundsätze  der  Wissenschaft  über  diese  Materie  sehr 
wenig  beherrschend,  dem  Konvent  jedenfalls  sehr  viel  Fälle 
von  Rückwirkung  vorwarf,  in  denen  eine  solche  in  Wahrheit 
durchaus  nicht  zu  finden  ist.  Um  sich  von  ihm  so  sehr  als 
möglich  zu  entfernen  und  in  dem  oben  erwähnten  jeder  Re- 
aktionsperiode natürlichen  Streben,  die  Gültigkeit  der  Nicht- 
rückwirkung zu  übertreiben,  kam  man  so  weit,  daß,  wie  Herr 
Real,  in  einer  Scheidungsklage,  der  Regierungsredner  Staatsrat 
Bigot-Preameneu    in    seinem   dem    gesetzgebenden    Körper  ent- 

104 


—  Umschwung  der  Ansichten  hierüber  zwischen  den 
Jahren  1803  und  1814  eingetreten  ist,  ein  Fortschritt, 
welcher  in  dieser  Hinsicht  auch  die  Grundsätze  der  Napo- 
leonischen Gesetzgebung,  die  freilich  durchaus  nicht  hierin 
mit  den  Grundsätzen  der  französischen  Jurisprudenz  für 
überall  identisch  gehalten  werden  dürfen1),  in  manchen 
Stücken  weit  hinter  sich  zurückläßt.  Um  diesen  zwischen 

1803  und  1814  in  der  preußischen  Legislation  einge- 
tretenen Fortschritt  darzutun,  reicht  es  hin,  das  preußische 
Publikationspatent  vom  24.  März  1803  für  das  Fürsten- 
tum Eichsfeld,  Mühlhausen,  Nordhausen  usw.  mit  den 
in  den  Jahren  1814  und  1816  erlassenen  Publikations- 
patenten in  einigen  Stücken  zu  vergleichen.  So  heißt  es 
in  den  §§  5  und  6  des  Publikationspatentes  von  18032): 
wie  alle  älteren  Verträge  ,,in  Ansehung  ihrer  Form  und 
ihres  Inhaltes"  —  „ebenso  müssen  alle  Testamente 
und  alle  letztwillige  Verordnungen,  welche  vor  dem  1 .  Juni 

1804  errichtet  sind,  durchgehends  nach  den  Vor- 


wickelten Expose  des  motifs  über  den  Verjährungstitel  (Locre, 
Motifs,  VII,  162,  171)  in  dem  Beginn  einer  Verjährungs- 
frist nach  einem  Gesetze  das  „erworbene  Recht"  suchte,  sie 
nach  demselben  Gesetze  zu  Ende  zu  führen.  („II  faut  eviter 
l'effet  retroactif.  —  II  suffit  qu'un  droit  eventuel  soit  attache 
ä  la  prescription  commencee  pour  que  ce  droit  doive  dependre 
de  l'ancienne  loi,"  Äußerungen,  für  die  er  von  Merlin  und 
Troplong,   a.   a.  O.,  auf  das  härteste  zur  Rede  gesetzt  wird.) 

*)  Wir  verwahren  uns  übrigens  gegen  die  aus  Äußerungen 
wie  die  obige  etwa  zu  folgernde  Meinung,  als  wären  wir  mit 
den  Ansichten  der  französischen  Jurisprudenz  grundsätzlich  ein- 
verstanden. Es  gilt  vielmehr  von  der  französischen  Ansicht 
über  die  Nichtrückwirkung  ebenso  sehr  wie  von  der  Savignys, 
daß  sie  sowohl  zu  weit  als  zu  eng  ist,  wie  sich  dies  im 
positiven   Teile   herausstellen   wird. 

2)  Vgl.  §  XII  des  Publikationspatentes  vom  5.  Februar  1794 
bei  der  Einführung  des   Allgemeinen  Landrechtes. 

105 


Schriften  der  älteren  Gesetze  beurteilt  werden,  wenngleich 
das  Ableben  des  Erblassers  erst  später  erfolgt  sein  sollte." 

Hiernach  waren  also  die  Testamente  nicht  nur  in  bezug 
auf  ihre  Form,  sondern,  wie  Bergmann  (s.  oben  S.  81) 
will,  auch  in  bezug  auf  die  Gültigkeit  ihres  Inhaltes 
gegen  die  Anwendbarkeit  der  neuen  landrechtlichen  Be- 
stimmungen über  Testierfähigkeit,  Fähigkeit  der  Hono- 
rierten und  Pflichtteil  trotz  der  noch  nicht  erfolgten  De- 
lation der  Erbschaft  geschützt.  Es  waren  bloße  Erwar- 
tungen wie  erworbene  Rechte  behandelt.  Dagegen  heißt 
es  im  §  6  des  preußischen  Publikationspatentes  vom  9. 
September  1814  (für  die  Altmark,  Herzogtum  Magdeburg 
usw.)  ausdrücklich,  daß  die  bestehenden  Testamente  nur 
„in  Rücksicht  ihrer  Form"  nach  den  älteren  Ge- 
setzen zu  beurteilen  seien,  und  in  den  Publikationspatenten 
von  1816  wird  noch  zum  Überfluß  besonders  hinzugesetzt, 
daß  der  Inhalt  der  Testamente  nur  gültig  sei,  „insofern 
nicht  Prohibitivgesetze  zur  Zeit  des  Erbanfalles  ihm  ent- 
gegenstehen. In  letzterer  Rücksicht  ist  insbesondere  die 
Lehre  von  der  Erbfähigkeit  der  instituierten  Erben  und 
vom  Pflichtteil  nach  den  zur  Zeit  des  Erbanfalles  gelten- 
den Gesetzen  zu  beurteilen." 

Ebenso  wird  in  dem  Publikationspatent  von  1803  in 
§8  verordnet1),  daß  auch  die  „Grundsätze  wegen 
Trennung  der  Ehe"  —  die  doch  zum  persönlichen 
Eherecht  gehört  — ,  nach  den  Gesetzen  zur  Zeit  der 
Eheschließung  zu  beurteilen  seien.  Im  §  9  des  Pa- 
tentes von  1814  ■ —  und  ebenso  in  allen  späteren  Publi- 
kationspatenten ■ —  wird  dagegen  bestimmt,  daß  in  bezug 
auf  die  Scheidung  die  Bestimmungen  des  neuen  Land- 
rechtes platzgreifen  sollen. 

*)  Entsprechend  dem  §  XIV  des  Publikationspatentes  vom 
5.  Februar  1794  zum  Allgemeinen  Landrecht. 

106 


In  §  10  des  Patentes  von  1814  wird  verfügt,  daß  vom 
Tage  der  Gesetzeskraft  des  Landrechtes  ab  der  nach  den 
Bestimmungen  desselben  dem  Vater  zustehende  Nießbrauch 
an  dem  Vermögen  der  Kinder  eintreten,  der  der  Mutter 
aber  nach  Maßgabe  dieser  Bestimmungen  fortfallen  sollte. 
In  dem  Patent  von  1803  dagegen1)  fehlt  jede  solche  spe- 
zielle Vorschrift,  und  durch  die  allgemeine  Verfügung  des 
§4  daselbst  war  das  Gegenteil  darüber  entschieden2). 
Ebenso  ward  in  §  11  des  Patentes  von  1814  bestimmt, 
daß  auch  die  früher  geborenen  unehelichen  Kinder  von 
dem  Tage  der  Geltung  des  Allgemeinen  Landrechtes  ab 
mit  den  in  diesem  unehelichen  Kindern  beigelegten  Rechten 
befaßt  sein  sollten.  In  dem  älteren  Patent  von  1803  fehlt 
jede  solche  Ausnahme,  und  nach  der  in  §  4  daselbst  ge- 
gebenen Regel  war  das  Gegenteil  festgestellt3). 


*)  Und  ebenso  im  Publikationspatent  vom  5.  Februar  1794. 

2)  Denn  im  §  4  heißt  es  (entsprechend  dem  §  VIII  im 
Publikationspatent  vom  5.  Februar  1794):  ,,Auch  soll  ein  jeder, 
welcher  zur  Zeit  der  Publikation  des  Allgemeinen  Landrechtes 
in  einem  nach  bisherigen  Rechten  gültigen  und  zu 
Recht  beständigen  Besitze  irgend  einer  Sache  oder  eines 
Rechtes  sich  befindet,  gegen  jedermann  geschützt  und 
niemand  in  dem  Genüsse  seiner  wohlerworbenen  Gerecht- 
same unter  irgend  einem  aus  dem  Allgemeinen 
Landrecht  entlehnten  Vo r wände  gestört  oder  be- 
einträchtigt werden." 

3)  Denn  es  heißt  daselbst  (entsprechend  dem  §  VIII  des 
Publikationspatentes  vom  5.  Februar  1794):  „Auf  die  schon 
früher  vorgefallenen  Handlungen  und  Begebenheiten 
soll  das  Allgemeine  Landrecht  nicht  angewendet,  sondern  dabei 
nach  den  §§  14 — 20  der  Einleitung  vorgeschriebenen  Grund- 
sätzen verfahren  werden."  In  diesen  findet  sich  aber  hierüber 
nur  in  §  14  die  Wiederholung,  daß  neue  Gesetze  auf  frühere 
Handlungen  und  Begebenheiten  nicht  anzuwenden  sind,  und 
in  §  19  die  Bestimmung:  ..Insofern  aus  einer  verbotenen  Hand- 

107 


In  bezug  auf  die  erlaubte  Höhe  der  Zinsen  ist  in  §  14 
des  Patentes  von  1814  verordnet,  daß  die  Bestimmungen 
des  Allgemeinen  Landrechtes  hierüber  vom  Tage  seiner 
Gesetzeskraft  ab  dergestalt  eintreten  sollen,  „daß,  wenn 
in  einem  früheren  Vertrage  höhere  Zinsen  verabredet  wor- 
den, als  die  preußischen  Gesetze  verstatten,  von  dem  Tage 
der  Wirksamkeit  des  letzteren  der  Schuldner  nur  zur  Zah- 
lung der  erlaubten  niedrigen  Zinsen  verpflichtet  ist."  In 
dem  älteren  Patent  fehlt  diese  Bestimmung,  und  da  viel- 
mehr in  demselben  in  §  5  (entsprechend  dem  §  XI  des 
Publikationspatentes  vom  5.  Februar  1794)  ohne  jede  Aus- 
nahme bestimmt  ist,  alle  Verträge  müssen  „in  Ansehung 
ihrer  Form  und  ihres  Inhaltes  sowie  auch  der  daraus 
entstehenden  rechtlichen  Folgen  nach  den  Gesetzen 
zur  Zeit  des  geschlossenen  Kontraktes  beurteilt  werden, 
wenngleich  erst  später  daraus  auf  Erfüllung,  Aufhebung 
oder  Leistung  des  Interesse  geklagt  würde,"  so 
war  hierdurch  wieder  das   Gegenteil  festgesetzt1). 

Ebenso  wird  in  §  15  des  Patentes  von  1814  in  bezug 
auf  die  Vorzugsrechte  von  Gläubigern  ein  Unterschied 
gemacht  und  gesagt,  daß,  wenn  es  auf  eine  bloße  Klas- 
sifikation (also  auf  eine  aus  dem  Gesetz  selbst  her- 
rührende Bevorzugung)  der  Forderungen  mehrerer  Gläu- 
biger ankommt,  in  Fällen  des  späteren  Streites  die  preu- 
ßischen Gesetze,  ohne  Rücksicht  auf  die  zur  Zeit  der 
Entstehung    der    Forderung    geltend    gewesenen    Gesetze, 


lung  Privatrechte  entspringen,  muß  auf  die  Gesetze,  welche 
zur  Zeit  der  Handlung  gültig  waren,  Rücksicht  genommen 
werden." 

x)  In  der  Tat  verwerfen  Savigny  und  fast  alle  seine  Nach- 
folger ein  solches  sofortiges  Eingreifen  der  Zinsgesetze  als 
eine  unerlaubte  Rückwirkung,  aber  mit  großem  Unrecht,  wie 
sich  uns   an   seinem  Ort  ergeben  wird. 

108 


maßgebend  sein  sollten.  Bei  wirklichen  Pfandrechten  (und 
ebenso  bei  gesetzlichen  Hypotheken)  müßten  dagegen  die 
Gläubiger  in  ihren  älteren  Rechten  geschützt  werden. 

In  den  älteren  Patenten  findet  sich  dagegen  eine  solche 
Unterscheidung  nicht,  und  mußten  die  Gläubiger  nach  den 
allgemeinen  Vorschriften  derselben  bei  den  Vorzugsrechten 
ihrer  Forderungen  nach  den  Gesetzen  zur  Zeit  ihrer  Ent- 
stehung geschützt  *)  werden. 

Wir  bemerken  noch,  daß  alle  angeführten  Punkte  des 
Patentes  von  1814  sich  ganz  ebenso  in  allen  späteren  Pu- 
blikationspatenten von  1816  wiederfinden,  dasselbe  also 
durchaus  keine  Singularität  darstellt. 

Was  sich  bei  dieser  Vergleichung  offenbar  ergibt,  ist 
zunächst  zweierlei.  Ein  gänzlicher  Stillstand  der  gesetz- 
geberischen Ansichten  über  unsere  Materie  in  den  zehn 
Jahren  von  1794 — 1804,  und  dagegen  ein  sehr  leb- 
hafter Umschwung  dieser  Ansichten,  und  zwar  ein  min- 
destens in  den  allermeisten  Fällen  höchst  erfreulich  zu 
nennender  Fortschritt  derselben,  in  den  anderen 
zehn  Jahren  von  1804 — 1814,  ein  Fortschritt,  wel- 
cher sich  bei  uns  also  gerade  genau  in  derselben  Periode 
vollbrachte,  in  welcher  in  Frankreich  der  oben  angedeutete 
relative  Rückschritt  der  kaiserlichen  Gesetzgebung  statt- 
fand. 

Fragt  man  nun  nach  den  Ursachen  dieses  in  Preußen 
zwischen  1804  und  1814  eingetretenen  so  bedeutenden 
und  mit  dem  früheren  Stillstand  so  lebhaft  konstrastieren- 


*)  Was  in  bezug  hierauf  wahrhaft  anzunehmen  ist.  darüber 
später.  —  Endlich  enthält  das  Patent  von  1814  in  §  14  noch 
die  Bestimmung :  „Die  Volljährigkeit  tritt  in  Absicht  aller 
derjenigen  Personen,  welche  solche  vor  dem  1.  Januar  1815 
nach  den  bisherigen  Gesetzen  noch  nicht  erreicht  haben,  erst 
mit  dem   vollendeten   vierundzwanzigsten   Jahre  ein." 

109 


den  Fortschrittes,  so  ist  es  unmöglich,  etwas  anderes  als 
Ursache  hierfür  anzunehmen,  als  die  gerade  in  jener  Pe- 
riode zu  uns  erfolgte  Verbreitung  der  Ideen  der  französi- 
schen Revolution. 

In  der  deutschen  Rechtswissenschaft  lag  der  Grund  ge- 
wiß nicht.  Denn  an  Weber  etwa  zu  denken,  dessen  Werk 
in  der  Zwischenzeit  erschien  („Über  die  Rückanwendung 
positiver  Gesetze,"  Hannover  1811),  ist  teils  aus  mehr- 
fachen Gründen  nicht  möglich,  teils  steht  er  selbst  in  dem, 
was  er  Richtiges  hat,  hauptsächlich  unter  dem  von  ihm 
keineswegs  verhehlten  Einfluß  der  französischen  Ideen, 
während  noch  das  1812  erschienene  Werk  von  von  Herre- 
storf f  („Über  die  zurückwirkende  Kraft  der  Gesetze," 
Düsseldorf  1812)  in  der  unzulässigsten  Ausdehnung  alle 
jene  früheren  doktrinellen  Grundsätze  vertritt,  welche  ge- 
rade durch  die  Patente  von  1814  usw.  verworfen  wurden. 

Es  zeigt  sich  aber  auch  noch  durch  zwei  andere  Um- 
stände evident,  daß  die  deutsche  Rechtsdoktrin  an  jenem 
Fortschritt  ganz  unschuldig  ist,  und  er  nur  der  Einwirkung 
der  französischen  Revolutionsideen  auf  die  gesetzgeberi- 
schen Ansichten  in  Deutschland  beigemessen  werden  kann. 
Denn  schon  der  1809  in  Karlsruhe  mit  Zusätzen  als 
Landrecht  für  das  Großherzogtum  Baden  publizierte  Code 
Napoleon  huldigt  in  diesen  Zusätzen  bereits,  wie  wir  dies 
später  gelegentlich  sehen  werden,  im  allgemeinen  den 
Grundsätzen  der  preußischen  Patente  von  1814  usw.,  wenn 
er  auch  in  vielen  Punkten  noch  hinter  ihnen  zurückbleibt. 
Und  vor  1809  war  in  Deutschland  keine  Schrift  seit 
1748  über  diesen  Gegenstand  erschienen,  mit  Ausnahme 
einer  unbedeutenden  Dissertation  von  Lorenz,  De  obli- 
gatione  legis  in  praeteritum  (Leipzig  1770).  — -  Wie  der 
literar-historische  Nachweis,  so  läßt  auch  die  A  r  t  des 
gemachten   Fortschrittes  gar  keinen   Zweifel   über  seinen 

110 


Ursprung.  Betrachtet  man  nämlich  den  Unterschied  in 
den  Patenten  von  1804  und  1814,  so  besteht  derselbe  in 
den  Ansichten  über  den  Personenzustand  und  die  aus  ihm 
fließenden  vermögensrechtlichen  Akzessorien,  über  das  per- 
sönliche Eherecht,  den  Nichtschutz  bloßer  Erwartungen, 
die  prohibitive  Einwirkung  neuer  Zinsfußgesetze  auf  be- 
stehende Verträge  usw.,  und  sucht  man  nach  einer  ge- 
meinschaftlichen Quelle  dieser  geänderten  Be- 
stimmungen, so  ist  dieselbe  in  ihrem  allgemeinsten  Aus- 
druck in  nichts  anderem  zu  erblicken,  als  in  einer  stren- 
geren Auffassung  des  Staatsbegriffes,  eine 
Quelle,  aus  welcher  alle  in  diesem  Jahrhundert  gemachten 
Fortschritte  stammen  und  weiter  stammen  werden,  so  sehr 
ihnen  auch  vermeintliche  Freunde  der  Freiheit  durch  Auf- 
lockerung des  streng  sittlichen  Staatsbegriffes  in  indivi- 
duelle  Privatwillkür  entgegenarbeiten. 

Wenn  die  gesetzgeberischen  Auffassungen  solchen  von 
den  Richtungen  des  politischen  Geistes  bestimmten  Schwan- 
kungen unterliegen,  so  wird  man  vielleicht  glauben,  wenig- 
stens nach  einmal  gegebenem  Gesetz  in  der  Privatrechts- 
pflege den  Hafen  gefunden  zu  haben,  innerhalb  dessen 
die  Strömungen  des  Tages  auf  unseren  Gegenstand  ohne 
Einfluß  sind.  Allein  dies  ist  ebensowenig  der  Fall  und 
kann  auch  nur  in  der  Meinung  derer  der  Fall  sein,  welche 
■ — ■  und  freilich  gehören  hierzu,  soll  man  sagen  glücklicher  - 
oder  unglücklicherweise  ?  fast  alle  Justiziabeln  —  die 
Privatrechtspflege  für  ein  apartes  Himmelreich  halten,  in 
das  der  Sturm  und  die  Leidenschaften  des  politischen 
Lebens  nicht  einzudringen  vermögen. 

In  der  Tat  aber  könnte  man  wie  in  der  Gesetzgebung 
so  auch  in  der  Jurisprudenz  eine  nicht  weniger  deutlich 
politisch  bewegte  Geschichte  des  Nichtrückwirkungsgrund-. 
satzes  nachweisen,  die  sich  der  gerade  herrschenden  Ten- 

111 


denz  um  so  enger  anschließt,  als  die  Tribunale  wie  von 
dem  Geist  der  Gesetzgebung,  so  besonders  auch  von  dem 
Wirbel  der  politischen  Strömung,  die  alles  im  Luftkreise 
Befindliche  gleichmäßig  zu  erfassen  pflegt,  mit  fortge- 
rissen werden  1). 


1)  Einige  Monate  nachdem  das  Obige  niedergeschrieben 
wurde,  erklärte  der  Vizepräsident  des  Königlichen 
Obertribunals,  Herr  von  Götze,  in  der  Sitzung  des  preu- 
ßischen Herrenhauses  vom  24.  März  1860  dem  Justizminister 
gegenüber,  welcher  sich  zur  Unterstützung  seiner  Ansicht  auf 
ein  vom  Obertribunal  erlassenes  zivilrechtliches  Urteil  bezog, 
Folgendes :  „Dies  Urteil  ist  so  ergangen,  ich  muß  aber  darauf 
aufmerksam  machen,  daß  es  aus  dem  Jahre  1851  herrührt. 
Die  Rechtserschütterungen,  die  in  den  Jahren  1848,  1849  und 
1850  durch  das  Land  gingen,  waren  allerdings  geeignet,  die 
Jurisprudenz  in  Verlegenheit  zu  bringen,  und  sie 
brauchte  einige  Zeit,  um  sich  zu  orientieren.  Aus  die- 
ser Zeit  ist  das  Urteil;  aber  ich  berufe  mich  auf  das,  was 
der  Herr  Referent  angeführt  und  was  der  Herr  Justizminister 
ausführlich  im  vorigen  Jahre  dargelegt  hat,  daß  demnächst 
das  Obertribunal  in  seinen  Urteilen  jene  Ansicht 
vollständig  verlassen  und  die  entgegengesetzte 
konstant  aufrecht  erhalten  hat."  Der  Staatsminister  und 
Chefpräsident  des  Obertribunals,  Herr  Uhden,  erklärte, 
unmittelbar  hierauf  das  Wort  ergreifend,  daß  in  bezug  auf  jenes 
Erkenntnis  bereits  sein  Vorredner  „das  Erforderliche  (!!) 
gesagt  habe."  (Stenograph.  Bericht,  S.  280.)  Es  ist  für  uns 
überflüssig  und  nicht  hier  der  Ort,  mit  den  Herren  Götze  und 
Uhden  darüber  zu  rechten,  ob  jenes  Urteil  vom  Jahre  1851  ein 
Produkt  der  revolutionären  Strömung  oder  vielmehr  das 
Abgehen  von  der  in  diesem  Urteil  entwickelten  Rechtsansicht 
und  die  „konstante"  Annahme  der  entgegengesetzten  ein  Pro- 
dukt der  reaktionären  Strömung  war,  die  allerdings  erst 
seit  dem  Jahre  1851  ihren  fanatischsten  Höhepunkt  erreichte. 
Ohnehin  wird  die  Wahl  zwischen  diesen  beiden  Annahmen  keinem 
mit  einigem  Menschenverstände  Begabten  schwer  fallen,  zumal 
wenn  er  berücksichtigt,  daß  jenes  erste  Urteil  aus  dem  Jahre 

112 


Uni  so  zeitgemäßer  möchte  daher  gerade  im  Hinblick 
auf  diese  Schwankungen  der  ab-  und  zufließenden  Wellen 
und  ihren  wiederkehrenden  Strudel  der  Versuch  für  die 
Wissenschaft  erscheinen,  mit  fester  Hand  die  unzerbrech- 
lichen Grenzlinien  des  Begriffes  zu  ziehen,  welche,  wenn 
sie  sich  wahrhaft  als  solche  erweisen,  dazu  dienen  würden, 
nach  rechts  wie  links  die  Ausschreitungen  zu  beseitigen. 
Gerade  weil  sich  bisher  die  Wissenschaft  über  diese  Gren- 
zen nicht  verständigen  konnte,  gerade  weil  der  Begriff  der 
Nichtrückwirkung  bald  zu  eng,  bald  besonders  zu  weit 
gefaßt  und  es  deshalb  häufig  unerläßlich  wurde,  Ab- 
weichungen von  demselben  zuzulassen,  so  konnte  nun,  waren 
einmal  solche  Abweichungen  erst  überhaupt  zulässig,  um 
so  weniger  in  dem  Mehr  oder  Minder  derselben  eine  sichere 
Scheidewand  gegen  willkürliche  Ausschweifungen  gezogen 
werden.  Die  hohe  Wichtigkeit  einer  solchen  Aufgabe  aber 
bedarf,  um  recht  gewürdigt  zu  werden,  nur  einer  kurzen 
Andeutung.  Der  inhaltliche  Gedanke  unseres  Themas  ist, 
in  seiner  höchsten  und  allgemeinsten  Auffassung,  kein  an- 
derer, als  der  Gedanke  der  —  aus  der  Rechtsidee  selbst 
hervorfließenden  und  ihr  entsprechenden  —  Hinüber- 
führung eines  alten  Rechtszustandes  in  einen 
neuen!  Gelänge  es  also,  eine  anerkannte  Lehre  der  Wis- 
senschaft hierüber  zu  schaffen,  so  würde  dieselbe  mächtig 


1851  herrührt,  in  welchem  keinerlei  revolutionäre  Strömung 
mehr  den  Puls  des  Volkes  durchzitterte,  angenommen  selbst, 
daß  dieser  in  sympathischer  Erregung  bis  in  das  Ober- 
tribunal hineinschlagen  könne.  Für  uns  reicht  hin,  daß  Vize- 
präsident und  Chefpräsident  des  Obertri'bunals  hier  je- 
denfalls die,  gleichviel  nach  welcher  Seite  hin,  im  königlichen 
Obertribunal,  dem  obersten  Gerichtshofe  der  Monarchie,  herr- 
schende Korruption  des  Rechtes  durch  politische 
Einflüsse  mit  dürren  Worten  selbst  konstatieren. 

8  Lassallc.   Gm.  Schriften.   Band  IX.  113 


dazu  beitragen  können,  einerseits  die  Umgestaltungsarbeiten 
der  Gegenwart  zu  erleichtern,  andererseits  den  empörten 
schaumspritzenden  Wogen  das  Überfluten  auf  den  von 
dem  individuellen  Willen  durchfurchten  Acker  wahrhaft 
erworbener  Rechte  zu  wehren.  Die  Grenzlinien  des  Be- 
griffes sind  dem  Gotte  Terminus  nicht  minder  heilig  als 
diejenigen  der  Äcker,  und  gelänge  es,  sie  bloßzulegen,  so 
möge  dann  von  ihnen  das  Gesetz  des  Numa  gelten: 
„Sei  quis  terminom  exarasit,  ipsos  boveisque  sacrei  sunto  l 


114 


n. 


DIE  THEORIE 


Et  si  1'on  croyait  que  cet  essai  donne  trop  ä 
1'esDrit  du  Systeme,  ä  une  theorie  abstraile  ou 
metaphysique,  nous  observerions  que,  selon  dos 
maitres,  il  n'existe  pas  de  veritable  science.  qu'il 
n'y  a  que  rouiine  et  prejuges,  tout  au  plus  sens 
droit,  ou  tact  heureux,  dans  la  töte  des  hommes 
qui   n'ont  ni  Systeme  ni  theorie.    — 

Recueil  general  drs  lois  et  des  arrets  par  Sirey, 
Tom.  DC,  Pa.t.  II,  p.  277. 


I.  DER  BEGRIFF  UND  SEINE  BEWAHRUNG. 

§  1.    Die  Formel  und  der  Begriff. 

Wir  wenden  uns  jetzt  dazu,  die  Theorie  der  Rückwir- 
kung der  Gesetze,  und  mit  ihr  die  Theorie  der  erworbenen 
Rechte,  in  positiver  Weise  zu  entwickeln,  indem  wir  sie 
in  einige  Grundsätze  zusammendrängen,  welche  sämtlich 
selbst  wieder  nur  die  notwendige  Folge  des  an  die  Spitze 
gestellten  Begriffes  sind,  so  daß  dieser  es  also  ist,  welcher 
durch  die  immanenten  Folgerungen,  zu  denen  er  sich  treibt, 
das  die  gesamte  Materie  beherrschende  begriffliche  Gesetz 
bildet. 

Auf  jeden  dieser  Grundsätze  lassen  wir  seine  theore- 
tische Begründung  folgen,  welche  also  an  und  für  sich  seine 
Richtigkeit  feststellen  muß.  Außerdem  werden  wir  dieser 
theoretischen  Begründung  zugleich  zur  besseren  Veran- 
schaulichung des  abstrakt  Gesagten  und  seines  Umfanges 
Beispiele  hinzufügen  und  an  diese  oder  jene  Anerkennung 
in  gesetzgeberischen  Bestimmungen  erinnern. 

Diese  Beispiele  haben  zunächst  die  angeführte  Absicht 
der  Verdeutlichung.  Sie  haben  ferner  den  Zweck,  im  Verein 
mit  dem  bei  der  Anwendung  der  Lehre  —  im  dritten 
Abschnitt  —  aufgeführten  Stoff  den  juristisch  em- 
pirischen Beweis  für  unsere  Theorie  darzustellen.  Denn 
die  geschlossene  Durchführung  der  Theorie  durch  alle  Ge- 
biete des  Rechtes  wie  durch  das  Reich  des  empirischen 
Rechtsstoffes  wird  nicht  umhin  können,  eine  neue  Probe 
für  die  Richtigkeit  derselben  und  ihre  letzte  Sicherstellung 

117 


zu  bilden.  Zugleich  machen  wir  hier  darauf  aufmerksam, 
daß  wir  bei  der  Anwendung  mehrere  speziellere  Folge- 
sätze des  theoretischen  Teiles  entwickeln  werden.  Diese 
aber  in  die  Reihe  der  theoretischen  Grundsätze  aufzu- 
nehmen, schien  überflüssig,  weil  sie  einerseits  nur  genaue 
Gedankenkonsequenzen  derselben  darstellen  und  anderer- 
seits, nur  auf  spezielle  Rechtsgebiete  sich  erstreckend,  bei 
den  betreffenden  Teilen  der  positiven  Anwendung  doch 
hätten  wieder  dargestellt  werden  müssen,  so  daß  sich  hier- 
aus nur  lästige  Wiederholungen  und  eine  zu  vermeidende 
und  unübersichtliche  Verwicklung  des  theoretischen  Teiles 
ergeben  hätten. 

Indem  wir  nun  zu  diesem  übergehen,  bemerken  wir, 
daß  wir  nicht  assertorisch  verfahren. 

Wir  entwickeln  nicht  aus  einer  willkürlich  aufgegriffenen 
Regel.  Eine  solche,  selbst  wenn  sie  an  sich  richtigen  In- 
haltes wäre,  müßte  immer  selbst  wieder  das  Resultat  von 
Voraussetzungen  sein  und  somit  allem  Folgenden 
mindestens  den  Schein  der  Ungewißheit  und  Willkür- 
lichkeit verleihen.  Sie  würde  niemals  den  Erweis  innerer 
Notwendigkeit  mit  sich  führen  und  somit  immer  zu  wirk- 
lichem Irrtum  mindestens  leiten  können.  Sie  würde  end- 
lich niemals,  selbst  wenn  richtig,  alles  Richtige  umschlie- 
ßen und  aus  sich  abzuleiten  vermögen. 

Was  vielmehr  schlechterdings  an  die  Spitze  gestellt 
werden  muß,  und  was  war  in  der  Tat  in  dem  ersten  Gesetz, 
wie  seine  Begründung  zeigt,  an  die  Spitze  gestellt 
haben,  ist  nichts  anderes  als  der  eigene  Begriff  der 
Nichtrück wirkung  selbst.  Aus  i h m  muß  sich  be- 
währen, was  in  dieser  Materie  gelten  soll,  und  was  aus 
ihm  hervorgeht,  ist  mit  Notwendigkeit  bekleidet.  Wir 
bemerken  noch,  daß  es  keineswegs,  wie  vielleicht  scheinen 
kann,  gründlich  oder  auch  nur  richtig  wäre,  an  die  Spitze 

118 


die  Regel  hinzustellen,  daß  das  Geschehene  nicht 
später  ungeschehen  gemacht  werden  solle.  Savigny  (VIII, 
382)  sagt,  da  dieses  an  sich  unmöglich  sei,  so  bedürfe  es 
keiner  Rechtsregel,  um  es  zu  verhindern.  Indes  die  Mög- 
lichkeit würde  sich  im  rechtlichen  Sinne  und  bis  zu  einem 
gewissen  Grade  nicht  leugnen  lassen.  Der  Grund  ist  viel- 
mehr ein  anderer.  Das  Ungeschehenmachen  des  Gesche- 
henen gehört  überhaupt  nicht  zu  dem  Begriff  des  Rück- 
wirkens als  solchem,  sondern  bildet  den  Begriff  des  Rück- 
gängigmachens.  Alle  Tage  werden  geschehene  Dinge 
rückgängig  gemacht,  ohne  daß  eine  Rückwirkung  darin 
läge,  z.  B.  nach  den  Gesetzen  zur  Zeit  der  Stipulation 
unerlaubte  oder  anfechtbare  Verkäufe.  Umgekehrt  kann 
eine  Rückwirkung  eintreten  ohne  jede  Rückgängigmachung 
eines  Tatsächlichen,  wie  z.  B.  wenn  ein  aus  früheren  Ver- 
hältnissen entspringendes  Recht  erst  jetzt  zur  Ausübung 
kommen  soll  und  hieran  durch  neue  Gesetze  gehindert  wird. 
Die  Rückgängigmachung  ist  also  selbst  nur  unzulässig,  in- 
sofern sie  eine  Rückwirkung  in  sich  schließt.  Soweit 
daher  die  Rückgängigmachung  nicht  mit  der  Rückwirkung 
zusammenfällt,  hat  sie  mit  unserer  Materie  überhaupt  nichts 
zu  tun.  Und  soweit  sie  mit  dem  Begriffe  der  Rückwir- 
kung zusammenhängt,  kann  sich  ihre  Zulässigkeit  oder  Un- 
zulässigkeit erst  aus  diesem  Begriffe  ergeben,  zu  dessen 
Entwicklung  wir  jetzt  übergehen : 

a)  Kein  Gesetz  darf  rückwirken,  welches  ein  In- 
dividuum nur  durch  die  Ve rmittlung  seiner  Wil- 
lensaktionen trifft. 

b)  Jedes  Gesetz  darf  rückwirken,  welches  das  In- 
dividuum ohne  Dazwischenschiebung  eines  sol- 
chen freiwilligen  Aktes  trifft ;  welches  das  In- 
dividuum also  unmittelbar  in  seinen  unwillkürlichen, 
allgemein-menschlichen  oder  natürlichen  oder  von  der 

119 


Gesellschaft  ihm  übertragenen  Qualitäten  trifft,  oder  es 

nur  dadurch  trifft,   daß  es  die  Gesellschaft  selbst  in 

ihren  organischen  Institutionen  ändert. 

Dieses  Prinzip  ist  das  allein  richtige,  denn  es  bewährt 
sich  aus  dem  Begriffe  der  Nichtrückwirkung 
selbst.  Welches  ist  dieser  Begriff  ?  Gesetze  stellen  einen 
geistigen  Inhalt,  neue  Gesetze  einen  neu  erlangten  und 
von  der  Gesellschaft  sogar  für  obligatorisch  erklärten  Ver- 
nunftinhalt dar.  Wie  ein  neuentzündetes  Licht  seine  Helle 
auf  alles,  auch  das  vorher  Dunkle  verbreitet,  so  wirkt 
jede  neuerlangte  Intelligenz  des  Individuums  auf  alle  noch 
so  sehr  vergangenen  Objekte  der  Beurteilung  zurück.  Wenn 
es  also  schon  bei  der  Intelligenz  des  Individuums 
der  Fall  ist  und  sein  muß,  daß  es  nach  der  präsenten 
Natur  seines  Bewußtseins  auch  das  der  Zeit  nach  noch 
so  viel  Frühere  beurteilt,  warum  sollte  dies  im  Recht, 
warum  sollte  es  gerade  in  bezug  auf  die  allgemeine  In- 
telligenz der  Gesellschaft,  in  bezug  auf  den  von  ihr 
selbst  sogar  für  obligatorisch  erklärten  Vernunft- 
gehalt nicht  der  Fall  sein;  zumal  ja  in  dem  Begriffe  des 
Gesetzes  die  Forderung  der  sofortigen  und  unmittelbaren 
Anwendung,  der  unbedingten,  normbildenden  Geltung 
für  alles  Bewußtsein  liegt  ? 

Die  Rückwirkung  könnte  somit  zunächst  erscheinen  als 
die  ebenso  natürliche  wie  notwendige  Folge  der  gegen- 
wärtigen Natur  des  Denkens  und  Bewußtseins,  vor 
dessen  geistigen  Strahlen  kein  Gegenstand  sich  verschlie- 
ßen oder  das  Recht  beanspruchen  kann,  sich  in  seinem 
früheren  Lichte  und  seiner  vorigen  Gestalt  gegen  es  zu 
behaupten1). 

*)  Und  dies  ist  so  wahr,  daß  deshalb,  wie  wir  sehr  bald 
zeigen  werden,  die  bei  weitem  längste  Periode  der 
Menschheits-    und   Rechtsgeschichte   unter   der   voll- 

120 


Man  hat  sich  niemals  bei  der  Behandlung  dieser  Ma- 
terie den  Begriff  der  Rückwirkung  zur  Klarheit  ge- 
bracht, und  davon  waren  dann  die  bei  der  positiven  Be- 
handlung entspringenden  Irrtümer  die  unvermeidliche 
Folge. 

Der  Begriff  der  Rückwirkung  ist  nämlich  kein  anderer 
als  der  —  eines  Eingriffes  in  die  Freiheit  und 
Zurechnungsfähigkeit   des   Menschen. 

Nur  darum  ist  Rückwirkung  unstatthaft.  —  In  der 
Gesellschaft  ist  und  soll  der  Mensch  frei  sein ;  selbst 
noch  der  Verbrecher  wird  in  und  bei  der  Strafe  als  ein 
freies  und  freiwilliges  Wesen  betrachtet,  denn 
er  wußte,  welche  Strafe  auf  sein  Verbrechen  gesetzt 
war,  und  wenn  er  dasselbe  dennoch  beging,  so  hat  er  frei  - 
wählend  sich  diesen  ihm  bekannten  Folgen  un- 
terworfen. Weiß  er  die  Bedeutung  und  Folgen  seiner  Tat 
nicht,  so  spricht  ihn  das  Gesetz  selbst  als  unzurechnungs- 
fähig frei.  Die  Rückwirkung  darf  also  nicht  stattfinden, 
weil  sonst  das  Individuum  dem  Gesetzgeber  und  Richter 
sagen  kann :  Hätte  das  Gesetz  damals  auf  meine  Tat  diese 
Folgen  gesetzt,  so  hätte  ich  die  Tat  nicht  begangen ;  denn 
ich  war  frei,  sie  zu  lassen  und  zu  tun.  Verurteilt  man 
ihn  trotz  dieses  Einwandes,  so  kann  man  ihm  diese  Ver- 
urteilung nicht  mehr  als  Folge  seines  freien  Wählens, 
seines  freibewußten  Willens  hinstellen,  sondern  es 
ist  ihm  eine  hinterlistige  und  positive  Gewalt  angetan 
worden.  Durchaus  ebenso  verhält  es  sich  im  Privatrecht. 
Denn  dieses  ist  überhaupt  nichts  anderes,  als  die  Reali- 
sation der  Willensfreiheit  des  Individuums. 


ständigen  und  als  ganz  natürlich  betrachteten  Herrschaft  des 
Rückwirkungsprinzipes  stand.  Der  Nichtrückwir- 
kungsgedanke  ist  erst  ein  spätes  Produkt  des  histori- 
schen Geistes. 

121 


Wird  also  durch  ein  späteres  Gesetz  rückwirkend  die  frei- 
willige Handlung  eines  Individuums  getroffen,  so  ist  ihm 
sein  Wille  entstellt  und  in  einen  anderen  umgewandelt 
worden,  weshalb  ein  französischer  Rechtslehrer  (Toullier) 
mit  einem  glücklich  gewählten  Ausdruck  die  Retroaktivität 
eine  ,,den  Individuen  vom  Gesetzgeber  gestellte  Falle" 
(un  piege  tendu  aux  individus  par  le  legislateur)  nennen 
kann.  So  weit  auch  die  Macht  des  Gesetzgebers  reichen 
mag.  so  weit  reicht  sie  niemals,  zu  bewirken,  daß  ein 
Individuum  etwas  anderes  wollte,  a  1  s  e s  gewollt  h a t. 
Ein  solches  rückwirkendes  Gesetz  bringt  also  ex  post 
hervor,  daß  das  Individuum  ein  anderes  gewollt  und 
ein  anderes  getan1)  hat,  d.h.  es  tut  dem  Individuum 
Gewalt  an  und  verstößt  somit  von  Grund  aus  gegen  den 
Begriff  des  gesamten  Rechtes,  der  nur  darin  besteht, 
gerade  die  Realisation  der  Willensfreiheit  zu  sein.  Ein 
solches  Gesetz  ist  daher  kein  Gesetz,  denn  es  ist  das 
absolute  Unrecht,  die  Aufhebung  des  Rechts- 
begriffes  überhaupt.  Es  ergibt  sich  hier  auf  das 
deutlichste  die  so  oft  behauptete  und  dann  wieder  mit 
Unrecht  geleugnete  naturrechtliche  Gültigkeit  des 
Nichtrückwirkungsgrundsatzes  und  dessen,  was  aus  ihm 
folgt.  Ein  rückwirkendes  Gesetz  hebt  das  Wo  1 1  e  n  des 
Individuums  auf.  Der  Wille  ist  aber  eine  naturrechtliche 
Fähigkeit,  und  das  positive  Recht  vielmehr  nur  die  ge- 
sicherte Sphäre  und  das  gegliederte  Reich  seiner  freien 
Ausführung.  Ebenso  aber  wie  der  freie  Wille  wird 
auch  das  Wissen  und  Denken  des  Individuums  durch 


*)  Diese  Entstellung  ist  es,  welche  durch  das  calumniare 
treffend  bezeichnet  wird  in  dem  Gesetz  des  Anastas,  s.  oben 
S.  59 ;  vgl.  im  Codex  Theodosianus  die  L.  3  de  constit.  princ. : 
Omnia  constituta  non  praeteritis  calumniam  faciunt,  sed  fu- 
turis  regulam  imponunt,  und  Jac.  Gothofred.  in  h.   1. 

122 


ein  solches  Gesetz  geleugnet  und  aufgehoben.  Hegel 
(Rechtsphilosophie,  S.  33)  sagt  bereits  sehr  richtig :  „Was 
den  Zusammenhang  des  Willens  mit  dem  Denken 
betrifft,  so  ist  darüber  folgendes  zu  bemerken.  Der  Geist 
ist  das  Denken  überhaupt,  und  der  Mensch  unterscheidet 
sich  vom  Tiere  durch  das  Denken.  Aber  man  muß  sich 
nicht  vorstellen,  daß  der  Mensch  einerseits  denkend,  an- 
dererseits wollend  sei,  und  daß  er  in  der  einen  Tasche  das 
Denken,  in  der  anderen  das  Wollen  habe,  denn  dies  wäre 
eine  leere  Vorstellung.  Der  Unterschied  zwischen  Denken 
und  Willen  ist  nur  der  zwischen  dem  theoretischen  und 
praktischen  Verhalten,  aber  es  sind  nicht  etwa  zwei  Ver- 
mögen, sondern  der  Wille  ist  eine  besondere  Weise 
des  Denkens  :  das  Denken  als  sich  übersetzend  ins  Da- 
sein, als  Trieb,  sich  Dasein  zu  geben.  —  Das  Theoretische 
ist  wesentlich  im  Praktischen  enthalten ;  es  geht  gegen 
die  Vorstellung,  daß  beide  getrennt  sind,  denn  man  kann 
keinen  Willen  haben  ohne  Intelligenz.  Im  Gegenteil,  der 
Wille  bestimmt  sich,  diese  Bestimmung  ist  zunächst  ein 
Inneres ;  was  ich  will,  stelle  ich  mir  vor.  —  Diese  Unter- 
schiede sind  also  untrennbar,  sie  sind  eines  und  dasselbe, 
und  in  jeder  Tätigkeit,  sowohl  des  Denkens  als  Wollens, 
finden  sich  beide  Momente." 

Weil  also  das  Gewollte  notwendig  ein  Gedachtes  vor- 
aussetzt, das  Wollen  auf  einem  Denken  beruht,  so  wird 
durch  ein  rückwirkendes  Gesetz  auch  das  Denken  und 
Wissen  des  Individuums  gewaltsam  denaturiert  und  in 
ein  anderes  umgewandelt.  Die  freieste  Selbstbestimmung, 
das  nur  in  der  eigensten  Spontaneität  des  Individuums  be- 
ruhende Denken  und  Wo  1 1  e n  ,  somit  der  Geist 
selbst,  wird  durch  die  Rückwirkung  als  eine  passive  und 
von  außen  bestimmbare  willenlose  Sache  gesetzt, 
und  als  solche  behandelt.  Dies  ist  aber,  wie  bereits  be- 

123 


merkt,  das  absolute  Unrecht,  und  darum  kann  Benjamin 
Constant  und  die  französische  Declaration  des  droits  (s. 
oben  S.  53  und  57)  mit  Recht  ausrufen,  die  Rückwir- 
kung des  Gesetzes  sei  ein  Ve rbrechen.  Justinian  hebt 
daher  mehrmals  sehr  richtig  in  den  Äußerungen  über  die 
Rückwirkung,  mit  denen  er  so  viele  seiner  Gesetze  be- 
gleitet, das  derselben  entgegenstehende  Moment  des  mit 
dem  Wollen  identischen  Wissens  oder  Denkens  hervor. 
So  z.  B.  „Ulis  (legibus)  enim  credentes  et  ita  contrahentes 
nullus  culpabit,  quare  non  futurum  säverunt"1),  oder  es 
könne  nicht  verlangt  werden,  ,,ut  in  monasterio  illa  faciant 
quae  prius  ignoratq  divina  nostra  constitutione  innovata 
sunt"  2). 

Da  nun  die  Freiheit  des  Denkens  und  Wollens  unan- 
tastbare Grundbestimmungen  sind,  auf  denen  alles  Recht 
überhaupt  beruht,  und  durchaus  da  nicht  mehr  von  Recht 
die  Rede  sein  kann,  wo  vielmehr  die  Rechtsidee 
selbst  und  in  ihrer  Wurzel  aufgehoben  wird,  so  ergibt 
sich  hieraus  mit  Gewißheit,  daß  es  durchaus  nicht  in 
der  rechtlichen  Befugnis  des  Gesetzgebers  stehen  kann, 
eine  solche  Rückwirkung  eintreten  zu  lassen,  und  daß 
seine  Absicht,  wie  deutlich  und  in  wie  starken  Worten 
sie  ausgesprochen  sei,  hierin  nichts  zu  ändern  vermag3). 
Dies  ist  der  Sinn,  in  welchem  die  früher  bezogenen  Kon- 
stitutionen (s.  oben  S.  56 fg.)  den  Grundsatz  der  Nicht- 
rückwirkung  sicher  stellen.  Doch  bedarf  es  keiner  Kon- 


1)  Nov.  22,  cap.   1  de  nuptiis. 

2)  Nov.  76,  cap.  5. 

8)  Auf  das  stärkste  drückt  dies  Mirabeau  in  seinem  Ausruf 
in  der  Sitzung  der  Konstituante  vom  21.  November  1790  aus: 
„Nulle  puissance  humaine  ni  surhumaine  ne  peut  legitimer  un 
effet  retroactif.  J'ai  demande  la  parole  pour  faire  cette  pro- 
fession  de  foi." 

124 


stitution,  um  zu  wissen,  daß  es  keinem  Gesetzgeber  zusteht 
—  es  muß  an  diesen  Ausdruck  erinnert  werden,  weil  er 
allein  den  bestimmten  Begriff  des  Gegenstandes  in  sich 
enthält  —  die  menschliche  Willensfreiheit  und 
Zurechnungsfähigkeit  aufzuheben  und  den 
Geist  als  Sache  zu  setzen1). 


x)  Mindestens  würden  wir  den  Richter  bedauern,  der  dies 
erst  aus  einer  Staatskonstitution  statt  aus  den  Konstitutionen 
des  Rechtes  lernen  müßte  und  der  daher  Bedenken  trüge,  selbst 
einem  unzweifelhaft  rückwirkenden  Gesetze,  z.B.  einem 
solchen,  welches  früher  gültige  Verträge  wegen  späterer  Form- 
vorschriften vernichten  oder  frühere  Handlungen  bestrafen  will 
usw.,  die  Anwendung  zu  versagen.  Jedenfalls  müßte  er  in  das 
Urteil  setzen  ,,von  Gewalts  wegen"  statt  ,,von  Rechts  wegen". 
Es  gilt  hier  auf  das  stärkste,  was  Donellus,  Comment.  Juris  civ., 
lib.  I,  c.  XII  (p.  45,  ed.  Hanoviae  1612),  über  die  Verletzung 
des  jus  naturale  überhaupt  sagt :  ,,Ac  quae  hinc  jura  sint  (näm- 
lich naturalia)  si  quis  mutare  conetur  jure  civili,  nihil  aliud 
afficiat,  nisi  ut  jus  quod  statuit,  sit  adversus  rectam  rationem, 
id  est,  injustum  et  iniquum,  ut  omne  jus  naturale  est  aequum 
et  bonum.  Nihil  autem  jus  quod  sit  iniquum."  Bartolus,  der 
größte  Rechtsgelehrte  des  14.  Jahrhunderts,  den  seine  bewun- 
dernden Zeitgenossen  lucerna  oder  fax  juris,  dux  jurisconsultorum 
etc.  nannten,  spricht  sich,  bestimmter  und  näher  auf  unsere 
Materie  eingehend,  darüber  aus,  Comment.  ad  lib.  I.  ff.  ad  L. 
9  omnes  populi,  No.  24  (fol.  30,  ed.  Basil.  1589).  Er  stellt 
die  freilich  nicht  scharf  genug  begrenzte  Behauptung  auf,  daß, 
wenn  eine  gesetzliche  Verfügung  das  jus  naturale  nicht  bloß 
modifiziere,  sondern  geradezu  aufhebe  (tollendo  in  totum), 
es  keine  Gültigkeit  habe,  und  geht  dann  zu  Beispielen 
über  (No.  24,  fol.  32).  ,,Dicit  statutum  quod  qui  per  10  annos 
debitum  suum  non  petierit,  cadat  a  jure  suo.  Certe  statutum 
non  valet,  quia  nee  lex  Imperialis  quae  hoc  diceret  valeret. 
Sed  si  statutum  diceret,  quod  contractus  seu  instrumentum  fic- 
titium  praesumat,  tunc  valeret."  Und  im  Verlauf  kommt  er 
ausdrücklich  auf  die  Frage,  ob  unter  demselben  Gesichtspunkt 
ein   Statut   auch   auf   das   Vergangene  bezogen   werden    könne. 

125 


Es  folgt  jedoch  aus  der  angegebenen  Begriffsbestimmung 
von  selbst,  daß  das  Individuum  diesen  Einwand  stets  nur 
d  a  erheben  kann,  wo  es  eine  freiwillige  Handlung, 
eine  individuelle  Willensaktion  ist,  welche  durch 

Hier  unterscheidet  er  zunächst,  ob  das  Statut  die  Beziehung 
ad  praetenta  ausdrücklich  verordne,  oder  das  Gegenteil  ver- 
ordne, oder  ganz  hierüber  schweige.  Und  nun,  gerade  den  ersten 
Fall  der  ausdrücklich  vom  Gesetz  verhängten  Rückwirkung  un- 
tersuchend, sagt  er:  „Circa  primum  videtur  quod  talis  adjectio, 
sc.  quod  habeat  locum  in  praeteritis,  valeat.  —  Econtra,  quod 
non  valeat  .  .  .  Distingue:  Aut  quaeris  de  praeteritis  decisis  seu 
finitis,  et  ad  praedicta  statutum  novum  bene  potest  porrigi  con- 
firmando  .  .  .  sed  infirmando  vel  aliter  disponendo  ad  praedicta 
non  porrigitur,  etiamsi  expresse  caveretur.  Aut  sunt  negotia 
praetenta  pendentia  ...  et  ad  ea  non  porrigunt  etiamsi  expresse 
caveatur."  Man  sieht,  die  alten  großen  Doktoren  des  römi- 
schen Rechtes  im  Mittelalter,  wie  große  Servilität  man  ihnen 
auch  in  der  Regel  vorzuwerfen  pflegt  und  vorwerfen  kann,  sind 
sich  hierüber  in  thesi  nicht  zweifelhaft  gewesen,  und  es  stellt 
einen  unerfreulichen  Rückschritt  des  Rechtssinnes  gegen  das 
Mittelalter  dar,  wenn  unsere  modernen  Autoren  fast  allgemein 
—  von  Savigny  sogar  im  Widerspruch  mit  dem  prinzipiellen 
Gehalt  seiner  eigenen  Theorie  —  alles  in  dieser  Materie  von 
der  beliebigen   Absicht  des   Gesetzgebers   abhängen  lassen. 

Die  Franzosen  sind  darin  von  einer  größeren  Unabhängigkeit 
der  Rechtsgesinnung  geblieben.  Die  Ansicht  Mirabeaus  ist  so- 
eben, diejenige  von  Berriard  St. -Prix,  Benjamin  Constant  u.  a. 
oben  S.  53  fg.  angeführt  worden.  Merlin  sagt  (Repert.  de 
Jurisp.,  v°;  Eff.  retroact.,  Sect.  III,  §  II,  art.  1)  darüber  bei 
Gelegenheit  der  Erörterung  über  die  einmal  erworbene  Indi- 
genatseigenschaf t :  ,,Le  legislateur  ne  pourrait  pas  la  detruire 
expressement  quand  il  serait  possible,  qu'il  fut  assez  insense 
pour  le  vouloir",  obgleich  er  sich  an  anderen  Stellen  im  ent- 
gegengesetzten Sinne  ausdrückt. 

Unserer  Ansicht  hierüber  zu  sein  und  auch  mit  der  im  Text 
gegebenen  Begründung  derselben  übereinzustimmen  scheint 
Böcking  in  den  Worten  (Pandekten  des  röm.  Privatrechtes,  I, 
317) :    ,,Sehr   übel    bezeichnen   die    Neueren   diesen    Grundsatz 

126 


ein  späteres  Gesetz  vernichtet  oder  entstellt  werden  soll 
(s.  hierbei  §  2). 

Rechte  dagegen,  mit  welchen  das  Gesetz  als  solches, 
ohne  Vermittlung  des  individuellen  Willens,  das  Indi- 
viduum befaßt,  sind  nichts  als  allgemeine  Qualitäten  und 
Befugnisse,  die  nur  auf  Grund  des  sie  verleihenden  Ge- 
setzes da  sind  und  also  mit  ihm  fließen  und  ver- 
schwinden. 

Das  Gesetz  ist  4er  Ausdruck  des  Rechtsbewußtseins 
des  ganzen  Volkes.  Alles  gesetzliche  Recht  als  solches 
—  alles  Sein  des  Individuums  —  ist  somit  nur  eine 
durch  den  in  stetem  Wandel  begriffenen  allgemeinen  Geist 
gesetzte  Bestimmtheit,  so  daß  jede  neue  aus  ihm  fließende 
Bestimmtheit  das  Individuum  unverzüglich  mit  demselben 
Rechte  ergreift,  mit  welchem  es  von  der  früheren  befaßt 
wurde.  Fest  kann  für  das  Individuum  nur  sein,  was  es 
sich  aus  diesem  Strome  durch  sein  eigenes  Tun  und 
Wo  1 1  e  n  in  rechtmäßiger  Weise  einmal  abgeleitet,  was  es 
verseinigt  hat!  Jedes  Gesetz  also,  welches  nicht  frü- 
here individuelle  Willensaktionen  trifft,  und  insoweit  es 
diese  nicht  trifft,  muß  seiner  Natur  nach  augenblicklich 
eingreifen.  Es  ergibt  sich  aber  schon  hier,  daß  dabei  von 
einer  Rückwirkung  gar  nicht  die  Rede  sein  kann. 
Denn  eine  solche  würde  bloß  vorliegen,  wo  auf  Frü- 
heres vor  der  Zeit  des  Gesetzes  ein  Einfluß  ausgeübt 
werden  soll.  Wenn  aber  alle  früheren  Willens- 
a  k  ti  onen  unberührt  bleiben,  so  stellt  das  sofortige  Platz- 
greifen des  Gesetzes  auf  die  Rechte  des  Individuums  von 


(der  Nichtrückwirkung)  als  eine  bloße  Regel  und  stellen  als 
Ausnahmen  hin,  was  nur  Anwendungen  derselben  sind.  So  soll 
das  Gesetz  rückwirkende  Kraft  haben,  ,,  „wenn  es  sich  selbst 
solche  beilege" " ;  ein  solches  Gesetz  wäre  absolutes  Un- 
recht." 

127 


selbst  nur  ein  augenblickliches  Einwirken  — 
welches  in  der  Natur  und  Bestimmung  des  Gesetzes  liegt 
—  kein  Rück  wirken  dar. 

Vergleicht  man  das  Gesagte  mit  der  bekannten  Formel, 
daß  erworbene  Rechte  von  neuen  Gesetzen  unbe- 
rührt bleiben  müssen,  so  ergibt  sich,  daß  diese  Formel 
nur  dann  richtig  ist,  wenn  man  unter  erworbenen  Rech- 
ten schlechthin  nur  solche  versteht,  die  durch  indivi- 
duelle Willensaktionen  erworben  worden  sind. 
Oder  es  ergibt  sich  hier,  mit  dem  Vorigen  gänzlich  zu- 
sammenfallend, als  der  Begriff  der  erworbenen 
Rechte,  daß  nur  solche  Rechte  erworben  sind,  welche 
durch  eine  individuelle  Willenshandlung  des 
Individuums  mit  ihm  vermittelt  und  von  ihm  verseinigt 
worden  sind.  Dieser  Begriff  enthält  an  sich  die  ganze 
Theorie  der  erworbenen  Rechte  in  sich ;  aber  nur  an  sich  ; 
denn  seinen  versteckten  Umfang  —  versteckt  durch 
den  täuschenden  Schein  des  Sinnlichen  —  kann  er  erst 
im  §  2,  und  seine  ebenso  durch  den  sinnlichen  Schein 
versteckten  begrifflichen  Grenzen  erst  in  den 
§§  6  und  7  fg.  entfalten  und  somit  erst  durch  beides  sich 
zur  Theorie  und  zum  System  der  erworbenen  Rechte 
vollenden. 

Einstweilen  bestätigt  übrigens  schon  der  Sprachge- 
brauch, daß  die  Formel:  „Erworbene  Rechte  müssen 
von  neuen  Gesetzen  unberührt  bleiben,"  für  die  Richtig- 
keit des  von  uns  entwickelten  Begriffes  der  Nichtrück- 
wirkung  zeugt.  Denn  mindestens  dem  Sprachgebrauche 
nach  wäre  es  nicht  zweifelhaft,  daß  bei  Rechten,  welche 
dem  Individuum  durch  die  bloße  Deklaration  des  Gesetzes 
aufgedrückt  sind,  nicht  von  einem  Erworbensein  die 
Rede  sein  kann,  welches  stets  eine  individuelle  Tätigkeit 
voraussetzt. 

128 


Wir  haben  gesagt,  daß  der  Gedanke  der  Nichtrück- 
vvirkung  auf  nichts  anderem  beruht  als  lediglich  auf  dem 
Begriff   der  subjektiven   Freiheit  des   Geistes. 

Soll  dies  wahr  sein,  so  muß  sich  sofort  eine  viele  Jahr- 
tausende umfassende  empirische  Gegenprobe  dafür  erbrin- 
gen lassen. 

Wer  nämlich  nur  einigermaßen  vertraut  ist  mit  der 
Philosophie,  weiß  aus  ihr,  daß  Asien  das  Land  ist,  wo 
das  Subjekt  noch  nicht  vorhanden,  d.  h.  das  Prinzip 
der  subjektiven  Freiheit  des  Geistes  noch  nicht  aufgegangen 
und  zum  Bewußtsein  gekommen  ist. 

Beruht  nun  wirklich,  wie  wir  behaupten,  die  Nicht- 
rückwirkung  lediglich  in  dem  Begriff  des  Subjektes  und 
seiner  Freiheit,  so  müßte  hiernach,  da  derselbe  in 
Asien  noch  nicht  da  ist,  statt  der  uns  als  naturrechtlich 
erscheinenden  Nichtrückwirkung,  dort  absolute  Rück- 
wirkung als  die  ebenso  naturwüchsige  wie  unanstößige 
Regel  des  Rechtes  erscheinen  und  die  gesamte  Geschichte 
Asiens   beherrschen. 

So  würde  die  apriorische  Konsequenzenmacherei  des 
spekulativen  Gedankens  lauten ! 

Sehen  wir  nun,  wie  sich  dies  empirisch  verhält. 

In  dem  Ta  Tsing  Leu  Lee,  dem  gegenwärtig  in  China 
bestehenden  allgemeinen  Gesetzbuche,  welches  von  der 
ganz  neuen  Mantschudynastie  im  17.  Jahrhundert  publi- 
ziert wurde  1),  heißt  es  in  der  über  die  allgemeinen  Straf- 
gesetze handelnden  ersten  Abteilung  des  ersten  Buches  in 
der  Sect.  XLIII  (p.  43,  ed.  Staunton),  welche  die  Über- 
schrift führt :  Execution  of  New  Laws,  also :  ,,A11  laws, 
characterized   as,   and   intended   to   become   fundamental, 

x)  Ta  Tsing  Leu  Lee,  being  the  fundamental  Laws  and  a 
selection  from  the  supplementary  Statutes  of  the  Penal  Code  of 
China,  translated  by  Sir  G.  Th.  Staunton  (London  1810). 

9  Usialle,    Gc.    Schriften.    B*ad  IX  129 


shall  in  gencral  take  effect  and  be  in  füll  force  from  the 
day  on  which  they  are  published,  and  every  transactlon 
shall  be  adjudged  according  to  the  most  recent  laws, 
althouqh  such  transaction  should  have  occurred  previous 
to  thelr  Promulgation'1 

Es  wird  hier  also  ganz  allgemein  und  ausdrücklich  für 
alle  jetzigen  und  alle  zukünftig  zu  erlassenden  Gesetze, 
und  zwar  in  einem  Strafgesetzbuch1),  als  Prin- 
z i  p  aufgestellt,  daß  immer  nur  die  allerneue- 
sten  Gesetze  anzuwenden  seien,  gleichviel  —  wie 
ausdrücklich  hinzugefügt  wird  —  ob  die  Handlung  vor 
ihrer  Verkündigung  vorgefallen  sei  oder  nicht. 

Interessant  ist  hierbei,  wie  gerade  in  dieser  ausdrück- 
lichen Beantwortung  hervortritt,  wie  der  Reflexion  des 
chinesischen  Geistes  der  Unterschied  und  die  Frage,  die 
sich  hierbei  aufwerfen  läßt,  wohl  zum  Bewußtsein  ge- 
kommen ist.  Es  stimmt  dies  überein  mit  dem,  was  wir 
sonst  über  die  Reflexionsbildung  des  chinesischen  Geistes, 
durch  welche  er  sich  in  ganz  Asien  auszeichnet,  wissen. 
Aber  wenn  die  Frage  seinem  gebildeten  Ve  r  s  t  a  n  d  e 
zum  Bewußtsein  gekommen  ist,  so  ist  doch  ihre  Beant- 
wortung seinem  Geiste  nicht  zweifelhaft!  Die  Intelli- 
genz der  chinesischen  Kaiser,  der  Gedanke  in  Asien 
überhaupt,  ist  eine  solche,  wie  wir  im  Eingang  sagten, 
sich  neu  ergießende  Offenbarung,  in  deren  Strahlen 
sich  nun  alles  Existierende,  und  daher  auch  alle  früheren 
Verhältnisse,  als  in  dem  ihm  wahrhaft  zukommen- 
den Lichte  aufzeigt  und  enthüllt. 


x)  Man  weiß,  daß  überhaupt  in  China  kein  Unterschied  zwi- 
schen dem  Strafrecht  und  Zivilrecht  festgehalten  wird.  Alle 
zivilrechtlichen  Vorschriften  sind  ebenso  gut  wie  Raub,  Dieb- 
stahl usw.  mit  Strafen  (so  und  so  viel  Bambusschlägen  usw.) 
belegt. 

130 


Und  soweit  von  rein  tatsächlichen  Ve  r  h  ä  1 1  - 
n  i  s  s  e  n  die  Rede  ist  —  mit  vollem  Recht !  Mit  vollem 
Recht  wird  von  dem  chinesischen  Gesetzbuch  die  Um- 
änderung des  Seienden  als  eine  notwendige  Folge 
des  Grundsatzes,  daß  die  Gesetze  vom  Tage  ihrer  Ver- 
kündigung ab  Kraft  haben  und  also  das  Seiende 
und  seine  Beurteilung  normieren  sollen,  ge- 
dacht und  ausgesprochen.  Mit  Unrecht  pflegen  unsere  Ju- 
risten zu  übersehen,  wie  dieser  Grundsatz,  der  bei  uns 
gewöhnlich  (s.  z.  B.  den  Code  civil)  den  ersten  Artikel 
der  Gesetzbücher  bildet,  in  der  Tat  diese  Folge  haben 
muß,  wie  dieses  Prinzip  also,  für  sich  allein  ge- 
nommen, alles  ohne  Ausnahme  in  dem  Lichte 
der  neuen  Manifestation  des  allgemeinen  Bewußt- 
seins aufzeigen  würde1). 


*)  So  entwickelt  z.  B.  der  neueste  gemeinrechtliche  Autor, 
der  über  diese  Frage  geschrieben,  von  Scheuerl  (s.  oben  S.  85), 
das  Prinzip  der  Nichtrückwirkung  folgendermaßen:  „Der Grund, 
auf  welchem  die  Notwendigkeit  und  Vernünftigkeit  des  Rechts- 
grundsatzes beruht,  daß  neue  Rechtsregeln  keine  rückwirkende 
Kraft  haben,  ist  nach  meiner  Ansicht  folgender:  Jede  Rechts- 
regel wirkt  auf  alle  die  tatsächlichen  Verhältnisse,  auf' 
welche  sie  ihrem  Inhalte  nach  sich  bezieht,  durch  ihr  bloßes 
Dasein  bestimmend  ein,  ohne  daß  es  dazu  der  richter- 
lichen Anwendung  der  Regel  auf  das  Faktum  bedarf.  Es  ist 
nicht  die  Aufgabe  des  Richters,  die  faktischen  Verhältnisse  nach 
der  Rechtsregel  zu  gestalten,  sondern  nur  zu  erkennen  und 
auszusprechen,  wie  sie  kraft  der  Rechtsregel  sich  ge- 
staltet haben."  Und  deswegen  sei  es  gleichgültig,  ob,  wenn 
einmal  ,,ein  gewisses  faktisches  Verhältnis  unter  dem  Einflüsse 
einer  Rechtsregel  eine  bestimmte  rechtliche  Gestalt  gewonnen," 
der  Richter  noch  unter  derselben  Rechtsregel  oder  unter  einer 
neuen  anderen  darüber  urteilte.  Scheuerl  übersieht,  daß  frei- 
lich niemand  behaupten  wird,  es  sei  die  Aufgabe  des  Rich- 
ters,   faktische    Verhältnisse    nach    der    Rechtsregel   zu    ge- 

9"  131 


Wenn  in  unseren  Gesetzbüchern  dann  als  zweiter  Ar- 
tikel derjenige  der  Nichtrückwirkung  zu  folgen  pflegt,  so 
ist  dies  ein  den  ersten  einschränkender  Ausfluß  des  im 
europäischen   Geiste   tätigen   Begriffes   des   Subjektes 


stalten,  daß  aber  ganz  so,  wie  er  sagt,  daß  die  Rechtsregeln 
,,auf  alle  die  tatsächlichen  Verhältnisse,  auf  welche 
sie  sich  nach  ihrem  Inhalt  beziehen,  durch  ihr  bloßes  Dasein 
bestimmend  einwirken,"  auch  jedes  neue  Gesetz  wieder  be- 
stimmend und  umgestaltend  einwirkt,  daß  zu  dieser  Umge- 
staltung des  objektiven  Daseins  das  neue  Gesetz  eben  erlassen 
wird  und  dies  eben  die  Bedeutung  des  Grundsatzes  ist,  das 
Gesetz  tritt  in  Kraft  vom  Tage  seiner  Verkündung  ab. 
Ist  z.  B.  eine  Ehe  unter  einem  sie  für  unauflöslich  erklärenden 
Gesetz  geschlossen,  so  ist  dies  ein  „faktisches  Verhält- 
nis," welches  , .unter  dem  Einfluß  einer  Rechtsregel  eine  be- 
stimmte rechtliche  Gestalt  gewonnen"  hat.  Nichtsdesto- 
weniger wird  dieses  so  gestaltete  faktische  Verhältnis  umge- 
staltet durch  das  neue  Gesetz,  welches  Ehen  für  auflöslich 
erklärt  und  hierdurch  dies  als  ihre  wahre  an  und  für  sich 
seiende  Natur  allen  gleichviel  wann  geschlossenen  und  bis  jetzt 
unauflöslichen  Ehen  vindiziert. 

Und  ganz  besonders  wird  dies  im  Reiche  des  germanischen 
Geistes  der  Fall  sein  müssen,  wo  sich  die  Gesetze  auch  selbst 
auffassen,  nicht  als  Zweckmäßigkeitsmaßregeln,  um  Nütz- 
lichkeit hervorzubringen,  wie  in  jener  Definition  Piatos  (S.  60  fg.), 
sondern  als  die  Selbstrealisation  des  allgemeinen  Bewußtseins, 
d.  h.  als  die  objektive  Manifestation  der  wahren  und  substan- 
tiellen Natur  der  geistigen  Beziehungen.  Das  Gesetz  soll  für 
den  germanischen  Geist  nicht  mehr  ein  beliebiges  Setzen 
von  Rechten,  sondern  das  Heraussetzen  und  Anerkennen 
des  an  sich  Wahren  und  Rechten,  die  enthüllte  Natur 
der  Sache  sein.  Die  germanischen  Gesetze  fassen  sich  nicht 
mehr  (wie  dies  sogar  in  der  Form  deutlich  genug  hervortritt) 
als  Befehle  wie  die  römischen,  sondern  wesentlich  als  De- 
finitionen auf. 

Man  sieht,  daß  man  bei  einer  so  grundsätzlich  falschen  Er- 
fassung  des    Begriffes   der    Nichtrückwirkung,    wie   bisher    üb- 

132 


als  des  alleinigen  Prinzipes  seines  eigenen  Wollens  und 
Handelns  und  seiner  als  reines  Sichselbstsetzen 
von  allem  objektiven  Sein  unabhängigen  Natur.  In- 
dem dieser  Begriff  der  freien  Subjektivität  und 
mit  ihm  der  prinzipielle  Unterschied  zwischen  Sein  und 
Handeln  im  asiatischen  Geiste  noch  fehlt,  kann  es  hier 
noch  nicht  zu  dieser  Einschränkung  kommen,  und  der  erste 
Grundsatz  bleibt  daher  in  seiner  unbeschränkten,  die  Rück- 
wirkung zum  Prinzip  erhebenden  Wirksamkeit. 

Nicht  anders  als  in  China  verhält  es  sich  in  Indien. 
Zwar  haben  wir  das  so  wichtige  Werk  von  Colebrooke  : 
A  Digest  of  Hindu  law  etc.  (London  1801)  1),  nicht  er- 
langen können,  in  welchem  allein  ganz  positive  Beweise 
hierfür  —  die  bei  der  Natur  asiatischer  Gesetzgebungen 
überhaupt  nur  sehr  schwer  und  selten  zu  eruieren  sind  — 
sich  hätten  finden  können.  Aber  schon  die  Gesetze  des 
Menü  lassen  darüber  keinen  Zweifel.  Wenn  sie  z.  B.  be- 
stimmen, daß  der  Zeuge  in  einem  Schuldprozeß,  wenn 
er  auch  die  Wahrheit  gesagt  hat,  falls  ihm  im  Laufe  von 
sieben  Tagen  nach  seiner  Deposition  eine  Krankheit,  eine 
Feuersbrunst  oder  der  Tod  eines  Verwandten  zustößt,  die 
eingeklagte  Schuld  und  außerdem  noch  eine  Geldstrafe 
bezahlen  soll2),  so  haben  wir  hier  eine  wahrhafte  Rück- 
wirkung durch  eine  Tatsache,  und  es  ist  dann  kein 
Grund  abzusehen,  warum  nicht  ebenso  gut  und  noch  besser 
die  Tatsache  eines  neuen  Gesetzes  sollte  rück  wirken  kön- 


lich,  notwendig  in  den  Konsequenzen  teils  in  Widersprüche  mit 
sich  selbst,  teils  in  die  positivsten  Irrtümer  sich  verlieren  mußte. 
Hier  wie  überall  gilt  es :  in  generalibus  latet  error ! 

1)  Dasselbe    ist    auffälligerweise    auch    in    der    Königlichen 
Bibliothek  zu  Berlin  nicht  vorhanden. 

2)  Menü,  VIII,    108;    p.   266,    ed.    Deslongchamps    (Paris 
1833). 

133 


nen.  Oder  wenn  sie  sagen,  daß,  wenn  ein  Zeuge  in  einem 
Zivilprozeß  falsches  Zeugnis  abgelegt  hat,  ein  Vierteil 
der  durch  das  Urteil  begangenen  Ungerechtigkeit  zurück- 
fällt auf  den  falschen  Zeugen,  ein  Vierteil  auf  die  Zivil  - 
partei,  der  das  Zeugnis  zugute  gekommen,  ein  Vierteil  auf 
alle  Richter  und  ein  Vierteil  auf  den  König1),  —  so 
spricht  sich  in  alle  diesem  eine  solche  Abwesenheit  einer 
jeden  persönlichen  Imputationstheorie  aus, 
daß  an  der  unbefangensten  Gültigkeit,  welche  die  Rück- 
wirkung für  den  indischen  Geist  haben  muß,  gar  nicht  ge- 
zweifelt werden  kann.  Wie  sollte  dies  aber  auch,  anders 
sein  ?  Der  indische  Geist  unterscheidet  ebensowenig  wie 
der  asiatische  Geist  überhaupt  Denken  und  Sein  in 
seinem  Begriffe,  und  es  ist  daher  nur  eine  in  der  inner- 
sten Tiefe  dieses  Geistes  begründete  rechtliche  Forderung, 
daß  er  ebensowenig  zwischen  Handlung  und  Zustand  unter- 
scheidet. Oder  mit  anderen  Worten  und  um  an  eine  unseren 
Juristen  geläufige  Kategorie  zu  erinnern:  wollte  man  aus 
dem  tiefsten  Innern  des  orientalischen  Geistes  heraus,  aber 
unter  Anwendung  der  bei  unseren  Juristen  gebräuchlichen 
Bezeichnungen,  eine  Einteilung  der  Gesetze  geben,  so  wür- 
den, so  paradox  dies  klingen  mag,  die  Gesetze  über  die 
Handlungen  zu  den  Gesetzen  über  den  Personen- 
zustand  gehören2)! 

i)  Menü,  VIII,   18;  p.   251. 

2)  Wer  sich  dies  recht  klar  machen  will,  braucht  z.  B.  nur 
nachzulesen,  was  über  die  religiöse  Imputation  —  und 
im  Orient  fallen  überdies  die  religiöse  und  rechtliche  Sphäre 
noch  zusammen  —  bei  Koppen,  Die  Religion  des  Buddha, 
I,  283 — 301  (Berlin  1857),  angegeben  ist,  und  es  in  seinen 
einfachsten    Konsequenzen   zu  überdenken. 

Innerhalb  der  religiösen  Sphäre  hat  dieser  Gedanke 
übrigens  noch  in  Europa  seine  Geschichte  gehabt ;  denn  es 
liegt  auf  der  Hand,  daß  das  Dogma  des  heil.  Augustinus  vom 

134 


Ebenso  positiv  wie  in  China  findet  sich  aber  die  Rück- 
wirkung wieder  bei  demjenigen  orientalischen  Volke,  wel- 
ches sogar  bereits  den  Übergang  zum  abendländischen  Geist 
bildet,  bei  den  Juden.  Bekanntlich  waren  bis  zu  Moses 
die  Töchter  von  der  Erbfolge  —  welche  reine  Intestat- 
erbfolge war  —  auch  beim  Nichtvorhandensein  von  Söhnen 
ausgeschlossen1).  Es  sukzedierten  dann  die  Brüder  des 
Verstorbenen  usf.  Nun  stirbt  Zelaphedad  ohne  Söhne, 
und  infolge  dessen  war  das  Eigentum  an  seiner  Hinter- 
lassenschaft an  seine  Brüder  übergegangen.  Da  aber  treten 
die  Töchter  Zelaphedads  auf  und  verlangen  damit  beteilt 
zu  werden  2)  :  „Warum  soll  denn  unseres  Vaters  Name 
unter  seinem  Geschlecht  untergehen,  ob  er  auch  keinen 
Sohn  hat  ?  Gebt  uns  auch  ein  Gut  unter  unseres  Vaters 
Brüdern."  Nichts  ist  naiver  und  lehrreicher  für  unseren 
Zweck,  als  die  Weise,  in  welcher  die  mosaischen  Urkunden 
fortfahren:  „Mose  brachte  ihre  Sache  vor  den  Herrn. 
Und  der  Herr  sprach  zu  ihm :  Die  Töchter  Zelaphedads 
haben  recht  geredet.  Du  sollst  ihnen  ein  Erbgut  unter 
ihres  Vaters  Brüdern  geben  und  sollst  ihres  Vaters  Erbe 
ihnen  zuwenden.  Und  sage  den  Kindern  Israel :  Wenn 
jemand  stirbt  und  hat  nicht  Söhne,  so  sollt  ihr  sein  Erbe 
seiner  Tochter  zuwenden"  usw.,  worauf  denn  das  neue 
Intestaterbfolgegesetz  weiter  entwickelt  wird. 

Der  jüdische  Gesetzgeber,  Gott,  beginnt  also  den  Erlaß 
eines   neuen   Intestatgesetzes   damit,   daß  er  dasselbe  auf 


Zustand  der  Gnade  und  sein  Kampf  gegen  die  Lehre  des 
Pelagius  auf  nichts  anderem  als  auf  der  Fortwirkung  jenes 
altasiatischen  Gedankens  von  der  Identität  der  Handlung  und 
des    Personenzustandes   beruht. 

x)  Siehe  1.  B.  Mos.,  Kap.  14,  15.  und  Michaelis,  Mosai- 
sches  Recht,   II,   59. 

2)  4.  B.  Mos.,  Kap.  4  fg. 

135 


einen  bereits  eingetretenen  Fall  anwendet  und  diese  An- 
wendung als  etwas  ganz  Selbstredendes  und  Ordnungs- 
mäßiges ansieht.  Zwar  war  das  Erbe  des  Zelaphedad 
kraft  des  bestehenden  Intestatrechtes  bereits  zum  recht- 
mäßig erworbenen  Eigentum  der  Agnaten  geworden,  zwar 
würde  man  das  heute  als  grellste  Verletzung  des  Eigen- 
tums und  als  Eingriff  in  erworbene  Rechte  bezeichnen ; 
allein  das  existiert  nicht  für  den  jüdischen  Gesetzgeber. 
Die  Töchter  Zelaphedads  haben  „recht  geredet", 
d.  h.  diese  Intestatfolge  entspricht  dem  gegenwärtigen 
Bewußtsein  und  wird  daher  auch  auf  den  schon  eingetre- 
tenen Fall  angewendet,  ohne  daß  hier  auch  nur  der  ge- 
ringste Zweifel  über  die  Recht-  und  Regelmäßigkeit  dieses 
als  ganz  selbstredend  betrachteten  Verfahrens  ins  Bewußt- 
sein tritt. 

Gott  macht  sich  hier  also,  ohne  auch  nur  eine  Ahnung 
davon  zu  haben,  einer  flagranten  Rückwirkung  in  Zivil- 
sachen schuldig ! 

Dafür  war  es  aber  auch  noch  ein  orientalischer 
Gott,  der  noch  keine  Pandekten  gehört  und  ebensowenig 
an  griechischer  Kunst  und  Bildung  sich  geschult  hatte ; 
mit  anderen  Worten :  der  Gott  eines  Volkes,  welchem  die 
Subjektivität  des  Geistes  weder  wie  in  Rom  in  der 
Rechtssubjektivität,  noch  wie  in  Hellas  in  der  schönen 
Individualität  zum  Bewußtsein  gekommen  war,  und  für 
den  daher  auch  die  in  der  einmal  ipso  jure  eingetretenen 
Erwerbung  der  Erbschaft  liegende  Handlung  (s.  §2 
A.)  von  einem  Verhältnis  des  objektiven  Seins  keinen 
Unterschied  machen  konnte. 

Das  griechische  Volk  ist  dasjenige,  in  welchem  der 
Begriff  der  Subjektivität  des  Geistes,  d.  h.  der  Freiheits- 
begnff,  daß  der  Geist  subjektives  Selbstbestimmen  und 
Selbsthervorbringung  sei,  zum  erstenmal  in  der  Weltge- 
ld 


schichte  und  in  seiner  ersten  Form  auftritt.  Und  darum 
sehen  wir  in  streng  geschlossener  Bestätigung  unserer  Ent- 
wicklung hier  zum  erstenmal,  und  hier  bereits  als 
eine  begriffliche  Notwendigkeit  den  Gedanken  der  Nicht - 
rückwirkung  heimisch,  wie  ihn  uns  Plato  oben  (S.  60) 
ausgesprochen  und  wie  wir  ihn  ebenso  im  hellenischen 
Rechte  tätig  finden1). 

Zugleich  haben  wir  aber  auch  in  dieser  Entwicklung 
an  diesem  einen  großartigen  Beispiel  ein  anderes  allge- 
meines Verhältnis  hervortreten  sehen,  welches  von  zu  hoher 
begrifflicher  Wichtigkeit  und  von  zu  gewaltigen  Konse- 
quenzen ist,  als  daß  wir  nicht  hier  seiner  Hervorhebung 
wenn  auch  nur  einige  wenige  Worte  widmen  sollten. 

Wir  meinen  das  wahrhafte  Verhältnis  des  Natur- 
rechtes  zum  positiven  oder  historischen  Recht, 
welches  bisher  allgemein  und  ebenso  sehr  auch  in  der 
Hegeischen  Schule  noch  irrig  und  durchaus  unerschöpfend 
aufgefaßt  wurde. 


1)  cf.  Demosth.  advers.  Eubulid.,  IV,  1330,  ed.  Dindorf : 
„rdig  ygovoig  roivvv  oihct)  cpaivexat  yeyovojg  ojote,  ei  y.al  xaxä 
ft&TEQa  aotös  r\v,  elvai  nolvnqv  ttqooi'jxelv  avtov  ykyovE  yäg 
7i q 6  EvxXelöov."  Nach  dem  unter  dem  Archonten  Euklides 
von  Aristophon  eingebrachten  Gesetz  mußte  man  nämlich,  um 
Bürger  zu  sein,  von  mütterlicher  wie  väterlicher  Seite  von 
bürgerlicher  Abkunft  sein.  Nach  seinem  Wortlaut  umfaßte  das 
Gesetz  zuerst  auch  solche,  die  vor  der  Amtsführung  des  Eukli- 
des geboren  waren,  wurde  aber  eben  deshalb  bald  darauf 
dahin  verbessert,  daß  es  nur  auf  die  nach  seiner  Magistratur 
Geborenen  sich  erstrecken  sollte  (siehe  die  Noten  bei  Din- 
dorf, in  1.  1.,  VII,  1339,  ed.  Oxonii).  Hierauf  beziehen  sich 
jene  Worte:  „denn  er  wurde  vor  dem  Euklides  ge- 
boren," und  wir  sehen  also,  wie  die  Nichtrückwirkung  im 
attischen  Recht  auch  im  öffentlichen  Recht  sorgfältig  gewahrt 
wird. 

137 


Wir  haben  oben  selbst  hervorgehoben  und  nachgewiesen, 
daß  die  Nichtrückwirkung  naturrechtlich  sei.  Wenn 
aber  bisher  vom  Naturrecht  die  Rede  war,  so  wurde 
dies  stets  als  ein  seit  ewig  und  allgemein  gül- 
tiges, als  ein  vernunftgültiges  gefaßt,  welches 
zum  positiven  oder  historischen  Recht  im  Ver- 
hältnis eines  allgemeinen  Gedankenkernes  zu  seiner  Aus- 
führung, oder,  wie  Hegel  selbst  sich  ausdrückt,  wie  im 
Verhältnis  der  Institutionen  zu  den  Pandekten  stehend  ge- 
dacht wurde.  Hieraus  ergibt  sich,  daß  das  Naturrecht  zwar 
i  m  positiven  oder  historischen  Recht  als  in  ihm  waltend 
gewußt  wurde,  daß  aber  die  Versöhnung  noch  einseitig 
und  unerschöpfend  war,  indem  das  Naturrecht  seiner- 
seits nicht  als  historisches  Recht,  nicht  als  von 
historischer  Natur  aufgefaßt  wurde.  —  Da  das 
Naturrecht  nicht  als  historischer  Natur  gedacht  wurde, 
sondern  als  jener  seit  ewig  und  allgemein  gültiger  Ge- 
dankenkern, ergab  sich  daraus  zweitens,  daß  die  Kategorien 
der  Rechtsphilosophie  als  ewige  und  absolute  Ka- 
tegorien, d.h.  als  Kategorien  des  logischen  Be- 
griffes gedacht  und  die  Rechtsphilosophie  von  Hegel  selbst 
in  dieser  Form  geschrieben  wurde.  Es  ergab  sich  drittens 
daraus,  daß  das  historische  Recht,  wo  es  dem 
Naturrecht  nicht  entsprach  oder  widersprach,  nicht 
aus  dem  inneren  We sen  des  Geistes  und  seiner 
begrifflichen  Tiefe,  sondern  aus  zufälligen  und  besonderen 
Umständen  und  Zweckmäßigkeitsgründen  oder  resp.  aus 
Willkür  und  Unvernunft  oder  Gewalt  herzufließen  schien 
und  als  rein  Positives  stehen  blieb.  Und  endlich  ergab  sich 
hieraus  besonders  ferner,  daß  wo  das  historische  Recht  in 
verschiedener  Weise  das  Naturrecht  zu  verwirklichen 
schien,  diese  Verschiedenheiten  als  gleichgültige 
oder  doch  nebeneinander  bestehende  Besonderheiten  d  e  s  - 

138 


selben  Gedankens  liegen  blieben,  wobei  der  sie  zu 
einem  qualitativ  Anderen  machende,  durch  sie  hin- 
durchgehende Unterschied  des  historischen  Geistes 
ganz  übersehen  wurde. 

Bei  dieser  Stellung  von  Rechtsphilosophie  und  histo- 
rischem Recht  zueinander  konnte  es  dann  freilich  nur  dazu 
kommen,  daß  beide  die  Arme  verlangend  nacheinander 
ausstreckten,  oder  höchstens  zu  einer  eingebildeten,  nicht 
wirklichen  Umarmung.  Eine  ganz  andere  Stellung  des  Na- 
turrechtes zum  historischen  Recht  hat  sich  uns  aus  dem 
obigen  Beispiel  ergeben. 

Wir  haben  gesehen,  daß  die  Nichtrückwirkung  natur- 
rechtlich  ist.  Aber  wir  haben  ebenso  gesehen,  daß  in 
der  gesamten  vorgriechischen  Geschichte  Rückwirkung 
besteht,  und  nicht  positiv  oder  bloß  historisch, 
durch  die  besondere  Verordnung  eines  Kaisers  usw.,  son- 
dern mit  immanenter  Notwendigkeit  aus  dem  Begriff 
des  asiatischen  Geistes  herfließend,  also  ihrer- 
seits naturrechtlich.  Wie  ist  das  nun  zu  verstehen  ? 
Gibt  es  zwei  Naturrechte  ?  Die  Auflösung  ist  ebenso 
einfach  und  liegt  bereits  in  dem  Vorigen.  Das  Natur- 
recht  ist  selbst  historisches  Recht,  ist  eine  Ka- 
tegorie von  historischer  Natur  und  Entwick- 
lung, und  m  u  ß  es  sein,  denn  der  Geist  selbst  ist  nur 
ein  Werden  in  der  Historie1).  Es  erhellt  hieraus, 


*)  Es  folgt  also  aus  dem  Obigen  von  selbst,  daß  die  Rechts- 
philosophie gar  nicht  in  der  Form  geschrieben  werden  kann, 
in  der  sie  Hegel  und  seine  Nachfolger  geschrieben  haben,  in 
der  Form  logischer  Kategorien  des  Begriffes.  In  dieser 
Form  kann  nur  die  Logik  und  die  Naturphilosophie  entwickelt 
werden.  Jede  historische  Wissenschaft  aber,  und  darum  auch 
das  Recht,  hat  es  nicht  mit  logischen  unveränder- 
lichen   Begriffen,    sondern   mit    Kategorien   des   histori- 

139 


daß,  was  bisher  als  bloß  positives  und  historisches  Recht 
liegen  gelassen  wurde,  vielmehr  als  notwendiger  Ausfluß 
des  Begriffes  des  Geistes  auf  der  bestimmten 
Stufe  seiner  inneren  Entwicklung,   oder  als  Ausfluß  des 


sehen  Geistes  und  darum  überall  mit  historischen  Be- 
griffen zu  tun.  Sie  ward  also  gar  nicht  behandeln  können: 
das  Eigentum,  den  Vertrag,  das  Unrecht,  die  Familie,  das 
Erbrecht,  die  bürgerliche  Gesellschaft,  die  Korporation,  den 
Staat  usw.,  was  alles  abstrakte  und  unwillkürliche  Allgemein- 
heiten sind,  sondern  sie  wird  aus  dem  historischen  Be- 
griff des  griechischen,  des  römischen,  des  germanischen  Geistes 
usw.  den  Begriff  des  griechischen,  des  römischen,  des  ger- 
manischen Eigentums,  des  griechischen,  des  römischen,  des  ger- 
manischen Staates  usw.  entwickeln  müssen,  wobei  sich  zeigen 
würde,  daß  manche  von  diesen  scheinbar  logischen  Kategorien 
nicht  nur,  was  bei  allen  der  Fall,  stets  einen  ganz  anderen 
geistigen  Inhalt  haben,  sondern  sogar  in  ihrer  formellen 
Existenz  überhaupt  nur  Produkt  eines  bestimmten  histori- 
schen Geistesbegriffes  sind  und  mit  diesem  kommen  und  ver- 
schwinden, z.  B.  die  bürgerliche  Gesellschaft,  die  Korporation 
usw.  Und  auch  nicht  bei  einer  solchen  Allgemeinheit,  wie  der 
germanische  Geist  überhaupt,  dürfte  stehen  geblieben,  sondern 
hier  müßte  wieder  auf  die  Unterschiede  des  historischen  Be- 
griffes in  den  verschiedenen  Geistesperioden  desselben  einge- 
gangen und  hieraus  die  verschiedene  Gestaltung  und  die  Um- 
änderungen der  Institute  seines  Privat-  und  öffentlichen  Rechtes 
abgeleitet  werden.  Es  müßte  also  die  Rechtsphilosophie  ähn- 
lich, wenn  auch  noch  genauer  eingehend,  entwickelt  werden, 
wie  Hegel  selbst  die  Religionsphilosophie  geschrieben  hat.  Man 
wäre  in  der  Religionsphilosophie  ebensowenig  vorwärts  ge- 
kommen, wenn  Hegel  nur  über  den  Gott,  das  Dogma,  das 
Jenseits  geschrieben  hätte.  Hier  entwickelte  er  vielmehr  be- 
stimmt den  jüdischen,  ägyptischen,  römischen, 
christlichen  Gott  usw.,  d.h.  das  Gottesbewußtsein  der 
Völker  in  der  Bestimmtheit  ihres  historischen  Gei- 
stes. Wenn  aber  die  Religionsphilosophie  nur  ist  die  Entwick- 
lung  des   Gottesbewußtseins,   so  ist  die  Rechtsphilosophie   nur 

140 


historischen  Geistes  begriffen  werden  muß,  woraus 
sich  dann  auch  die  angeblichen  bloßen  Verschiedenheiten 
der  Ausführung,  welche  das  historische  Recht  d  e  m  s  e  1  - 
b  e  n  naturrechtlichen  Gedanken,  derselben  Rechtskategorie, 


die  Entwicklung  des  Rech tsbewußtseins  der  Völker.  Man 
kann  somit  sagen,  wie  dies  übrigens  bereits  in  tieferer  Weise 
aus  dem  Obigen  folgt,  daß  die  Rechtsphilosophie  bei  Hegel 
eine  seinen  eigenen  Prinzipien  und  seinem  eigenen  System  wider- 
sprechende Gestalt  erhalten  hat  —  und  natürlich  von  seinen 
Nachfolgern  mumienartig  darin  bewahrt  worden  ist!  Der  Un- 
terschied zwischen  der  Rechts-  und  Religionsphilosophie  bei 
Hegel  mag  daher  rühren,  daß  die  Kategorien  des  Rechtes, 
Eigentum,  Vertrag  usw.  eine  vom  historischen  Volks-  und  Zeit- 
geiste unabhängige  Identität  durch  alle  Zeiten  hindurch  zu  be- 
wahren scheinen.  Aber  das  ist  eben  nur  ein  Schein,  der  nur 
entsteht,  solange  man  im  Abstrakt-Allgemeinen  stehen  bleibt, 
und  verschwindet,  wenn  man  auf  die  jederzeitige  Bestimmt- 
heit dieser  Rechtsinstitute  eingeht.  —  Daß  nun  trotz  des  hier 
Gesagten  auch  das  Identische  in  dem  allgemeinen  for- 
mellen Wesen  der  Rechtskategorien  (Eigentum,  Vertrag 
usw.),  was  aber  als  ein  bloßes  An  sich  aufzufassen  ist,  nicht 
übersehen  zu  werden  braucht,  kann  gleichfalls  schon  aus  dem 
Vergleich  mit  der  Hegeischen  Religionsphilosophie  hervorgehen, 
in  welcher  ja  gleichfalls  das  allgemeine  Wesen  der  Religionen 
als  ein  allen  Religionen  zugrunde  liegendes  Ansich  gewahrt 
worden  ist.  Das  begriffliche  Verhältnis  dieser  Form  der  Rechts- 
kategorien zu  den  Begriffen  des  historischen  Geistes, 
die  erst  das  wirkliche  Recht,  und  den  Inhalt  jener  for- 
mellen Kategorien  daher  immer  als  einen  begrifflich-ver- 
schiedenen, erzeugen,  könnte  streng  und  systematisch  nur  in 
einem  neuen  ,, System  der  Philosophie  des  Geistes"  nachge- 
wiesen werden. 

An  sich  bildet  einen  Versuch,  in  obiger  Hinsicht  über 
Hegel  hinauszugehen,  Gans'  „Erbrecht  in  weltgeschicht- 
licher Entwicklung,"  denn  hier  ist  nun  wirklich  mit  dem 
chinesischen,  indischen  usw.  Erbrecht  angefangen  und  auch  ver- 
sucht worden,  dies  mit  jedem  Volksgeiste  in  einen  Zusammen- 

141 


zu  geben  scheint,  vielmehr  als  das  Dasein  schlechthin 
verschiedener  und  entgegengesetzter  Be- 
griffe des  historischen  Geistes  ergeben,  s o  erst 
die  Hülle  ihrer  gleichgültigen  positiven  Verschiedenheit 
abstreifen  und  ihren  wahrhaften  Begriffsinhalt  hervortreten 
lassen. 

Erst  bei  dieser  Auffassung  bleiben  Naturrecht  und 
positives  oder  historisches  Recht  nicht  in  schattenhafter 
Entfernung  voneinander,  behalten  nichts  Apartes  gegen- 
einander, sondern  durchdringen  sich  wahrhaft. 

Kehren  wir  von  dieser  Andeutung,  die  ohnehin  hier 
nicht  klarer  gelegt  werden  kann1),  zu  dem  von  uns  ent- 

hang  zu  bringen.  Aber  es  ist  nur  an  sich  über  Hegel  hinaus- 
gegangen, oder  der  Versuch  ist  verfehlt;  denn  der  heutige 
Begriff  des  „Erbrechtes"  ist  wieder  als  eine  solche  lo- 
gische allgemeine  Kategorie  aufgefaßt  und  von  vorn- 
herein mitgebracht,  und  in  diesem  identischen  Begriff 
nur  die  Verschiedenheit  seiner  stofflichen  Rechtsaus- 
führung in  einem  gewissen  Zusammenhange  mit  dem  beson- 
deren Volke  nachzuweisen  versucht  worden.  Aber  davon,  daß 
der  Erbbegriff  selbst  im  Prozeß  des  historischen  Geistes 
ein  anderer  wird  und  ein  anderer  -  werden  muß,  daß  dem, 
was  wir  unter  „Erbrecht"  zusammenfassen,  stets  ganz  andere 
historische  Geistesbegriffe  zugrunde  liegen  —  davon 
hat  auch  Gans  keine  Ahnung,  und  verfehlt  daher  auch  wieder 
notwendig  gänzlich  den  Geist  des  historischen  Rechtes  (des 
römischen  Erbrechtes),  wie  wir  dies  alles  im  zweiten  Bande 
in  der  gesamten  Darstellung  des  Erbrechtes  nachweisen  und 
dort  erst  zum  wirklichen  Verständnis  werden  bringen  können. 
*)  Wohl  aber  werden  wir  im  gesamten  Verlaufe  dieses  Wer- 
kes, wo  dies  ohne  zu  große  Weitläufigkeit  geschehen  kann,  im 
konkreten  Stoffe  selbst  dies  nachzuweisen  suchen,  wie  das  an- 
geblich rein  Positive  und  Historische  nur  notwendiger  Ausfluß 
des  jederzeitigen  historischen  Geistesbegriffes  ist.  Das 
großartigste  Beispiel  hiervon,  das  wir  treffen  werden,  wird  die 
gesamte    Darstellung   des    Erbrechtes   im   zweiten   Bande    sein. 

142 


wickelten  Prinzip  über  die  Rückwirkung  zurück.  Wir  haben 
eine  philosophische  Begründung  gegeben,  und  es  ist  jetzt 
zunächst  ein  Blick  auf  den  großen  Umfang  der  Rechts- 
fragen zu  werfen,  welche  durch  dieses  oberste  Prinzip 
bereits  ihre  Entscheidung  empfangen.  Ein  Gesetz,  wel- 
ches die  Personenkapazität  ändert  oder  sie  einer  Klasse 
von  Personen  entzieht,  ändert  also  augenblicklich  die  Fähig- 
keit aller  Personen  und  entzieht  sie  sofort  allen  denen, 
welche  sie  bisher  bereits  hatten,  nach  dem  neuen  Gesetz 
aber  nicht  besitzen.  Aber  die  auf  Grund  dieser  Fähigkeit 
bereits  vorgenommenen  individuellen  Handlungen  bleiben 
gültig  bestehen  und  können  durch  das  neue  Gesetz  nicht 
mehr  vernichtet  werden. 

Wenn  also  ein  Gesetz  das  zur  Volljährigkeit  erforder- 
liche Alter,  wo  es  bisher  auf  21  Jahre  bestimmt  ist,  auf 
25  Jahre  fixiert,  so  ist  dadurch  mit  Recht  allen  auch  vier- 
undzwanzigj  ährigen  und  also  nach  dem  bisherigen  Gesetze 
schon  majorennen  Personen  die  hieran  geknüpfte  bereits 
vorhandene  Handlungsfähigkeit  wieder  entzogen.  Ein  sol- 
ches Individuum  wird  sich  in  nichts,  weder  über  Gesetz- 
geber noch  Richter  beschweren  können,  da  weder  Alter 
noch  Majorität  ein  Akt  seines  Willens  ist.  Das 
Alter  selbst  ist  eine  natürliche  Eigenschaft  und  nichts 
durch  den  Willen  Hervorgebrachtes.  Und  ebenso  ist  die 
Bestimmung  desjenigen  Alters,  das  zur  Majorennität 
erforderlich  sein  soll,  bloße  Festsetzung  des  Gesetzgebers 
und  eine  vom  Individuum  ganz  unabhängige  Sache.  Ein 
solches  Gesetz  darf  also  scheinbar  zurückwirken  und 
den  Individuen  die  bereits  erlangte  Volljährigkeit  wieder 
entziehen.  Es  ist  aber  genau  gesprochen  —  und  freilich 
ist  dies  in  dieser  Materie  sehr  nötig  —  gar  keine  „er- 
langte" (denn  es  fehlt  an  jeder  Willensaktion,  welche 
die  für  den  Begriff  des  Erlangens  unumgängliche  Voraus- 

143 


Setzung  bildet)  Majorennität,  sondern  nur  eine  vorhan- 
dene bestimmte  Handlungsfähigkeit  da,  die  also  mit  dem 
neuen  Gesetz  schlechterdings  vorhanden  zu  sein  aufhört. 
Mit  völligem  Unrecht  also  nehmen  Savigny  wie  Borne- 
mann an  1),  daß  ein  solches  Gesetz  ohne  unzulässige  Rück- 
wirkung nicht  auf  die  bereits  Großjährigen  angewendet 
werden,  noch  über  sie  verfügen  dürfe  (siehe  hierüber  aus- 
führlicher bei  der  Anwendung,  Abschnitt  III,  sub  I). 

Die  bereits  von  diesen  Individuen  auf  Grund  ihrer  bis- 
herigen Majorennität  getätigten  Rechtsgeschäfte  aber  blei- 
ben durchaus  zu  Recht  bestehen,  weil  sonst  freie  Willens- 
aktionen nachträglich  vernichtet  und  entstellt  werden 
würden. 

Und  man  sehe,  wie  genau  es  darauf  ankommt,  stets  den 
angegebenen  Begriff  scharf  im  Auge  zu  behalten,  statt 
ihn  in  eine  dann  notwendig  irreleitende  Formel  (über  den 
Personenzustand,  Rechtsfähigkeit  usw.)  verknorpeln  zu 
lassen.  Ist  nämlich  die  Majorennität  das  Produkt  einer 
Majorennitätserklärung,  die  z.  B.  auf  Antrag  des 
Vaters  oder  des  Minderjährigen  von  dem  Vormundschaft - 
liehen  Gericht  erlassen  wird  (vgl.  Allgemeines  Landrecht, 
T.  II,  Tit.  28,  216  und  T.  II,  Tit.  18,  §714  fg.),  so 
kann  dies  offenbar  durch  kein  späteres  Gesetz,  welches 
die  Majorennitätserklärungen  abschafft  oder  andere  Be- 
dingungen derselben  vorschreibt,  mehr  aufgehoben  werden. 
Der  Grund  ist,  daß  sie  hier  durch  individuelle  Hand- 
lungen vermittelt  und  erworben  ist,  die  nicht  mehr  ver- 
nichtet werden  können2). 


x)  Der  §  720  des  Allgemeinen  Landrechtes,  T,  II,  Tit.  18, 
geht  offenbar  von  der  oben  entwickelten  Ansicht  aus. 

2)  Wenn  man  hier  die  eigene  Handlung  des  Minderjährigen 
vermissen    wollte,    so   ist   §  2   zu  vergleichen.    Vater    wie   vor- 

144 


Werfen  wir  hierbei  gleich  einen  Blick  auf  die  Eman- 
zipation. Diese  betrifft  in  ihren  Folgen  die  Rechts- 
fähigkeit der  Kinder,  und  somit  den  Zustand  der  Per- 
son an  sich.  Sie  selbst  aber  ist  ein  Institut,  welches  im 
wahren  Familienrecht  wurzelt.  Savigny  (VIII,  504,  500) 
will  daher,  daß  wie  die  Entstehung  der  väterlichen 
Gewalt,  so  auch  ihre  Auflösung,  namentlich  durch  Eman- 
zipation, stets  unter  dem  Gesetz  der  Zeit  stehe,  unter 
welches  die  auflösende  Tatsache  fällt. 

Aber  es  handelt  sich  vielmehr  darum,  wodurch  die 
Emanzipation  hervorgerufen  wird,  und  je  hiernach  wird 
die  Entscheidung  eine  entgegengesetzte  sein  müssen. 

Nach  dem  Code  Napoleon  (Art.  372)  tritt  die  Auf- 
hebung der  väterlichen  Gewalt  ipso  jure  mit  der  Voll- 
jährigkeit ein.  Wird  also  das  zu  derselben  erforderliche 
Alter  dort  erhöht,  so  fallen  dadurch  die  betreffenden  bisher 
Volljährigen  auch  wieder  unter  die  väterliche  Gewalt  zu- 
rück. Diejenige  Emanzipation  aber  und  die  durch  sie  be- 
dingte Rechtsfähigkeit,  welche  zwar  gleichfalls  ipso 
jure  eintritt,  aber  als  Folge  einer  freiwilligen  Hand- 
lung des  Emanzipierten,  wie  dies  nach  dem  Code  Na- 
poleon z.  B.  bei  der  Heirat  der  Fall  ist  (Art.  476,  le 
mineur  est  emancipe  de  plein  droit  par  le  mariage),  — 
diese  wird  durch  ein  späteres  Gesetz  über  Emanzipation 
nicht  mehr  berührt,  weil  sie  durch  individuelle  Willens- 
aktion vermittelt  und  somit  erworben  ist.  Man  kann 
dies  Resultat  auch  noch  bestätigen  durch  die  sehr  alte, 
z.  B.  bereits  von  Bartolus  gegebene  Regel,  daß  ein  Gesetz, 
welches  als  contractus  vel  quasi  contractus  wirke,  d.  h. 
sich  in  die  Formel  auflöse  do  ut  facias,  vel  facio  ut  facias, 


mimdschaftliches   Gericht  handeln  überhaupt  für  den  Minder- 
jährigen. 

10  L»s»alle.   G«.  Schriften,   Band  IX  145 


nicht  durch  ein  späteres  Gesetz  in  praejudicium  quasi  con- 
trahentis  aufgehoben  werden  könne1).  In  ein  solches  kon- 
trahierendes Gesetz  löst  sich  aber  eben  ein  jedes 
auf,  welches  die  Erlangung  eines  Rechtes  oder  Zustandes 
von  der  Bedingung  individueller  Handlungen  abhängen 
läßt. 


y)  Bartolus,  Comm.  in  Dig..  lib.  I,  Nr.  28  (fol.  34,  ed. 
Bas.  1589):  Quarto  quaeritur,  utrum  liceat  facere  statutum 
super  his,  quae  ab  aliis  statutis  ejusdem  civitatis  sunt  disposita  ? 
—  —  Distingue :  Aut  statutum  stat  in  simplici  dispositione 
statuti,  aut  transit  in  contractum  vel  quasi.  Primo  casu  per 
sequens  potest  statutum  simplex  revocari  .  .  .  seeundo  casu  non 
potest  revocari  in  praejudicium  quasi  contrahentis.  Et  intellige 
rationem  contractus  vel  quasi,  qui  ex  decreto  vel  statuto  resul- 
tat.  Et  circa  praedieta  subjicio  unam  quaestionem,  ad  intelli- 
gentiam  ipsorum.  Statuto  cavetur,  quod  qui  venit  ad  habitandum 
in  tali  castro,  habeat  immunitatem  perpetuo.  Quidam  venerunt ; 
nunc  civitas  vult  revocare  statutum,  et  vult  ne  illi  gaudeant 
immunitate.  Certe  in  praejudicium  eorum  qui  jam  venerunt, 
non  potest  revocari.  Secus  in  his  qui  nondum  venerunt.  Nam 
dictum  statutum  transivit  in  contractum,  vel  quasi  contractum, 
do  ut  facias,  vel  facio  ut  facias,  id  est  concedo  tibi  immuni- 
tatem ut  venias.  Si  aliqui  venerunt,  ex  utraque  parte,  perfectus 
est  contractus,  et  ideo  non  est  locus  poenitentiae  sed  antequam 
veniunt. 

Was  an  dieser  von  Bartolus  gegebenen  Regel  richtig  ist, 
ist  die  Tätigkeit  des  oben  entwickelten  Begriffes  in  ihr.  Seine 
Regel  selbst  aber  ist  zu  weit  und  zu  eng.  Zu  weit  —  und 
darum  ist  gerade  das  von  ihm  gewählte  Beispiel  ganz  falsch 
— ,  wie  sich  in  §  7  zeigen  wird,  wo  sich  die  aus  der  konkreten 
Entwicklung  des  Begriffes  für  diese  Regel  folgenden  Ein- 
schränkungen ergeben  werden.  (Daselbst  wird  sich  auch  zeigen, 
welcher  durch  die  genauere  Begriffsbestimmung  gesetzten  Ein- 
schränkung das  unterliegt,  was  wir  oben  nur  beispielsweise  über 
die  Emanzipation  durch  Heirat  gesagt  haben.)  Zu  eng,  wie 
sich  dies  in  §§  2,  6  u.  a.  herausstellen  wird. 

146 


Mit  Unrecht  würde  man  aber  in  dem  erwähnten  Bei- 
spiele der  Emanzipation  durch  Heirat  den  Grund  viel- 
leicht etwa  darin  suchen  wollen,  daß,  weil  der  Minder- 
jährige ohne  väterliche  Erlaubnis  eine  Ehe  nicht  eingehen 
kann,  dieselbe  eine  Entlassung  aus  der  Gewalt  seitens  des 
Vaters  selbst  in  sich  einschließt.  Dies  trifft  hier  nur  zu- 
fällig zusammen ;  denn  dies  Zusammentreffen  wäre  nicht 
der  Fall  und  die  Folgen  für  die  Rechtsfähigkeit  dennoch 
dieselben,  wenn  die  individuelle  Handlung,  durch  welche 
sie  vermittelt  wird,  gar  nicht  der  Einwilligung  des  Vaters 
bedarf,  wie  z.B.  wenn  ein  Gesetz  nach  Art  Justinians 
in  der  Nov.  81  1)  die  Emanzipation  und  die  durch  sie 
hervorgebrachte  Rechtsfähigkeit  ipso  jure  als  Folgen  ge- 
wisser Würden  und  Staatsämter  eintreten  ließe.  Eine  väter- 
liche Einwilligung  findet  hierbei  nicht  statt.  Aber  die  Er- 
langung der  Würde  oder  des  Amtes  ist  ein  durch  indi- 
viduelle Verdienste  -und  Aktionen  des  Eman- 
zipierten Vermitteltes.  Auf  diese  Entstehung  der  Rechts- 
fähigkeit wirken  also  spätere  Gesetze  nicht  ein,  während 
sie  dies  wohl  tun,  wo  die  Emanzipation  bloß  durch  Alter 
eingetreten  ist.  Man  kann  also  nicht,  wie  die  französischen 
Autoren  stets  tun,  im  allgemeinen  sagen,  daß  die  Rechts- 
und Handlungsfähigkeit  den  Personen  stets  bloß  vom  Ge- 
setz verliehen  sei.  Sie  kann  auch  erworben  sein.  Auf  die 
Operation  der  obigen  Begriffsunterschiede  kommt  es  an. 
Man  kann  ebensowenig,  wie  Savigny  diesen  Gedanken  aus- 
drückt, sagen,  daß  der  Zustand  der  Personan  sich 
stets  der  sofortigen  Anwendung  des  neuen  Gesetzes  unter- 


1)  Cap.  1.  Quapropter  gravissima  Kac  lege  utentes  sanci- 
mus  ut  ordinarii  consules,  si  in  potestate  sint,  simul  cum  verbo, 
quod  ipsis  hoc  munus  tribuit,  suae  potestatis  fiant;  praeterea 
ut  consularibus  codicillis  ab  Imperatore  honoratis  et  sub  manu 
parentum  constitutis  codicilli  in  causa  sint,   ut  sui  juris  fiant  etc. 

10  •  147 


liegen  müsse.  Es  kommt  wiederum  auf  die  Operation  der 
obigen  Begriffsmomente,  auf  die  Frage  an,  ob  dieser  Zu- 
stand durch  das  Gesetz  verliehen  oder  ein  durch  die  indi- 
viduelle Willensaktion  Konstituiertes  und  Vermitteltes  sei. 
Will  man  noch  einen  entscheidenden  Beweis  hierfür,  so 
liegt  er  in  folgendem :  Nichts  betrifft  gewiß  den  Zustand 
der  Person  an  sich  in  höherem  Grade  als  die  Frage,  ob 
man  Sklave  oder  Freier  sei.  Nun  verordnen  die  Kaiser 
Diokletian  und  Maximinian1),  daß  der  Sklave,  der  sich 
zwanzig  Jahre  lang  im  redlichen  und  titulierten  Besitz  der 
Freiheit  befunden  (qui  bona  fide  in  possessione  libertatis 
etc.),  gegen  die  Vindikation  des  Herrn  geschützt  und  ein 
freier  römischer  Bürger  sein  solle  (ut  et  liberi  et  cives 
Romani  fiant).  Kein  Mensch  wird  annehmen,  daß  durch 
Abschaffung  dieses  Gesetzes  auch  diejenigen  hätten  be- 
rührt und  wieder  zu  Sklaven  gemacht  werden  können, 
welche  einmal  durch  den  Ablauf  der  zwanzig  Jahre  unter 
dem  Gesetze  zu  Freien  geworden  waren.  Und  warum 
ist  hier  der  Zustand  der  Person  an  sich  der  Einwirkung 
des  neuen  Gesetzes  entzogen  ?  Weil  jene  Sklaven  durch 
Ersitzung,  durch  Usukapion,  also  (s.  §  2  D. 
über  die  Usukapion)  durch  fortgesetzte  indivi- 
duelle Willensaktion  den  Zustand  eines  Freien  sich 
erzeugt  und  zu  dem  ihrigen  gemacht  hatten,  und  derselbe 
deshalb  ein  erworbener  war.  Auf  dieses  Begriffs- 
moment allein  also  kommt  es  an,  und  nur  darum  ist  die 
Formel  über  den  Personenzustand  meistens  richtig,  weil 
derselbe  in  den  meisten  Fällen  ein  bloß  vom  Gesetze 
verliehener  ist. 

Betrachten  wir  ferner  ein  Gesetz  über  Ehe  und  Ehe- 
scheidung nach  obigem  Prinzip. 


*)  L.  2,  C.  de  longi  temp.  praescr.  quae  pro  über.  (7,  22). 
148 


Soweit  dieses  Gesetz  die  Gatten  schon  dadurch  trifft, 
daß  es  die  organische  Institution  der  Ehe  selbst  ändert, 
soweit  es  also  die  Gatten  in  denjenigen  allgemeinen  Qua- 
litäten, Rechten  und  Pflichten  trifft,  welche  das  Gesetz 
den  Gatten  überhaupt  verleiht,  so  weit  wirkt 
es  augenblicklich  auf  alle  schon  bestehenden  Ehen  ein. 
Soweit  aber  das  Gesetz  die  Gatten  nicht  ausschließlich 
und  unmittelbar  durch  eine  Veränderung  jener  Eigenschaf- 
ten und  Rechte  treffen  würde,  welche  das  Gesetz  selbst  an 
die  Qualität  des  Gatten  knüpft,  sofern  es  also  sie 
nur  dann  treffen  würde,  wenn  hierzu  noch  eine  in  der 
Vergangenheit  liegende  freiwillige  Handlung  eines 
Gatten  hinzutritt,  so  weit  darf  dies  Gesetz  keinesfalls  ein- 
wirken. Denn  insoweit  würde  seine  Einwirkung  eine 
Rück  w  i  r  k  u  n  g  sein. 

Wenn  also  ein  neues  Gesetz  die  Scheidung  überhaupt 
aufhebt,  oder  die  Scheidung,  falls  sie  bis  dahin  verboten 
war,  einführt ;  wenn  ein  neues  Gesetz  die  persönlichen 
Rechte  und  Pflichten  der  Gatten  zueinander  (Gehorsam. 
Schutz  usw.)  ändert,  so  wirken  diese  Bestimmungen  sofort 
auT  alle  bestehenden  Ehen  ein.  Denn  die  Gatten  werden 
durch  dieses  Gesetz  nur  insofern  betroffen,  als  das  Institut 
der  Ehe  selbst,  als  die  allgemeinen  und  stets  vom  Gesetz 
verliehenen  Qualitäten  der  Ehemänner  und  Ehefrauen  da- 
durch verändert  werden.  Ob  die  Ehe  überhaupt  auflösbar 
oder  unauflösbar  ist,  ist  eine  rein  durch  das  Gesetz  der 
Ehe  verliehene  Qualität,  nicht  eine  Tat  und  ein 
Produkt  des  einzelnen  Gatten.  Die  Gatten  werden  durch 
dieses  Gesetz  unmittelbar  in  ihrer  allgemeinen  gesetzlichen 
Qualität  als  Gatten  getroffen,  ohne  Vermittlung 
einer  besonderen  freiwilligen  Handlung  ihrerseits. 

Ebenso  wenn  ein  Gesetz  neue  Ehescheidungs  gründe 
einführt  oder  bestehende  abschafft,  gilt  das  Gesetz  auch 

149 


in  dieser  Hinsicht  vom  Augenblick  seines  Erscheinens 
ab  für  alle  bestehenden  Ehen.  Was  ein  Ehescheidungs- 
grund überhaupt  sein  soll  oder  nicht,  ist  gleichfalls  nicht 
durch  die  Willensaktion  des  Individuums  hervorgebracht, 
sondern  eine  das  Institut  der  Ehe  selbst  betreffende  ge- 
setzgeberische Bestimmung.  Die  Gatten  können  daher  auch 
in  dieser  Hinsicht  dem  Gesetze  durchaus  keinen  Vorwurf 
der  Rückwirkung  machen ;  denn  da  es  sich  nicht  auf  die 
eigenen  Handlungen  eines  Gatten  vor  seinem  Er- 
scheinen erstreckt,  so  wird  keine  solche  eigene  Handlung 
ex  post  verändert,  und  wenn  von  nun  an  Handlungen  als 
Ehescheidungsgründe  gelten,  die  es  bis  dahin  nicht  waren, 
so  steht  es  dafür  in  der  Freiheit  des  Individuums,  von 
nun  an  diese  vom  Gesetz  bezeichneten  Handlungen  zu 
unterlassen.  Die  menschliche  Freiheit,  das  erste  Recht 
des  Individuums,  die  Natur  seiner  Handlung  vorher  wissen 
zu  können,  ist  also  gerettet. 

Wenn  man  aber  den  vom  neuen  Gesetz  statuierten  Elie- 
scheidungsgründen  mit  Savigny  (s.  oben  S.  75)  sogar  die 
Folge  geben  wollte,  daß  sie  auch  auf  die  frühere  Zeit 
anwendbar  seien,  dann  würde  allerdings  die  schreiendste 
Rückwirkung  vorliegen.  Denn  dann  würde  ja  eben  eine 
freiwillige,  vollbrachte  Handlung  des  Individu- 
ums nachträglich  einen  anderen  Charakter  und  andere  Fol- 
gen erhalten,  als  dasselbe  bei  der  Vollbringung  wissen 
konnte,  und  es  würde  den  Gesetzgeber  oder  Richter  der 
Vorwurf  treffen,  die  menschliche  Zurechnungsfähigkeit 
forciert  zu  haben  1)  ! 


1)  Und  nichtsdestoweniger  hat  der  rheinische  Appellations- 
gerichtshof zu  Köln  in  einem  Urteil  vom  22.  Juli  1850  und 
der  Berliner  Revisions-  und  Kassationschef  durch  Bestätigung 
desselben  durch  Urteil  vom  20.  Juni  1851  sich  nicht  gescheut, 
sich  dieses  schwersten  Vorwurfes  schuldig  zu  machen! 

150 


Betrachten  wir  die  Wirkung  unseres  Prinzipes  auf 
Ve  r  t  r  ä  g  e  ,  so  ergibt  sich  zunächst  in  bezug  auf  die 
Form  derselben,  daß  diese,  da  ja  Verträge  und  ihre  Er- 
richtung stets  freiwillige  Handlungen  sind,  immer  nur  nach 
den  Gesetzen  zur  Zeit  der  Stipulation  beurteilt  werden 
kann.  Aus  demselben  Grunde  aber  ergibt  sich  auch  für 
den  Inhalt  der  Verträge,  daß  sich  derselbe  in  bezug 
auf  Gültigkeit,  Art  und  Grad  seiner  Wirksamkeit,  An- 
fechtungsgründe usw.  immer  nur  nach  dem  Gesetz  zur  Zeit 
des  Kontraktes  richten  wird,  soweit  dies  nicht  Einschrän- 
kungen unterliegt,  die  aber  aus  unserem  Prinzip  selbst  her- 
vorfließen müssen,  statt  ihm  derogieren  zu  dürfen,  worüber 
später. 

Wie  im  Privatrecht,  so  ist  das  obige  Prinzip  nicht  min- 
der im  öffentlichen  Rechte  wirksam.  Vom  Strafrecht  haben 
wir  dies  bereits  gleich  im  Anfang  gesehen.  Es  ist  dies 
aber  nicht  weniger  bei  den  anderen  Teilen  des  öffentlichen 
Rechtes  der  Fall. 

Wenn  ein  Gesetz  die  zur  Erlangung  der  Naturalisation 
erforderlichen  Bedingungen  erschwert,  so  wirkt  dasselbe 
keineswegs  auf  diejenigen  Fremden  ein,  welche  die  Natu- 
ralisation nach  Maßgabe  der  früheren  Bedingungen  bereits 
erlangt  haben. 

Wenn  es  aber  z.  B.  einem  Staate  einfiele,  alle  zur  Zeit 
auf  seinem  Territorium  weilenden  Fremden  ohne  Rück- 
sicht auf  deren  Willen  mit  dem  Indigenat  zu  bekleiden, 
und  dieses  Gesetz  würde  später  wieder  aufgehoben,  so 
würde  die  Aufhebung  sich  auch  auf  diejenigen  Fremden 
erstrecken,  welchen  das  Indigenat  durch  das  erstere  Gesetz 
zuteil  geworden  war  [natürlich  mit  Ausnahme  solcher, 
welche  diese  Qualität  vor  dem  widerrufenden  Gesetze 
durch  ausdrückliche  Willenserklärung  oder  konkludente 
Handlungen   —  spätere   Domizilierung,   Errichtung  eines 

151 


Gewerbebetriebes  usw.  —  bereits  akzeptiert  und  so 
durch  eine  spätere  individuelle  Willensaktion  zu 
ihrem  individuellen  Eigentum  gemacht  hatten ;  denn  es 
ist  gleichgültig,  ob  das  Recht  erst  entsteht  durch  die 
individuelle  Willensaktion,  oder  ob  es  ursprünglich  aus 
dem  Gesetze  fließt,  das  Individuum  aber  es  durch  spä- 
tere Handlungen  ergreift  und  verseinigt ;  siehe  hierüber 
§  3].  Nicht  in  dieser  Rücknahme  also  würde  eine 
Rückwirkung  liegen,  nur  dem  ersten  Gesetze  würde 
man  eine  solche  beimessen  können,  weil  es  auf  Grund  des 
zeitigen  Aufenthaltes  diesem  freiwilligen  Faktum  rück- 
wirkend eine  ungewollte  Folge  gab  (und  außer- 
dem den  Betreffenden  dadurch  das  Staatsbürgerrecht  in 
ihrer  Heimat  entzog)  1). 


1)  Die  Supposition  eines  solchen  Gesetzes,  welches  ohne 
jede  Rücksicht  auf  den  Willen  der  Individuen  alle  Fremden 
ohne  weiteres  mit  dem  Indigenat  bekleidet,  kann  vielleicht  auf 
den  ersten  Blick  so  kindisch  scheinen,  daß  sie  selbst  das  Recht 
der  Theorie,  zum  Beweise  ihrer  Thesen  auch  die  unwahrschein- 
lichsten Fälle  zu  unterstellen,  überschreitet.  Dies  ist  aber  nicht 
nur  nicht  so,  sondern  solche  Gesetze  und  daraus  entspringende 
Fälle  von  der  größten  praktischen  Wichtigkeit  sind  sogar  da- 
gewesen. Zuerst  muß  hier  erinnert  werden  an  die  Konstitution 
des  Marcus  Antoninus,  von  der  uns  die  L.  17  D.  de  statu 
hominum  (I,  5)  erzählt,  durch  welche  alle  Bewohner  des  römi- 
schen Erdkreises  ohne  weiteres  zu  römischen  Bürgern  gemacht 
worden  sind.  (In  orbe  Romano  qui  sunt,  ex  Constitutione  Im- 
peratoris  Antonini  cives  Romani  effecti  sunt.)  Kein  Mensch 
wird  bezweifeln,  daß,  wenn  es  Marcus  Antoninus  gefallen  hätte, 
später  diese  Verordnung  wieder  aufzuheben  und  die  früheren 
Unterschiede  wiederherzustellen,  durch  diese  Aufhebung  auch 
die  lebenden  Geschlechter  mit  Recht  getroffen  worden  wären. 
Man  wird  dies  um  so  weniger  bestreiten  können,  als  dies  Edikt 
bei  den  Verhältnissen  der  alten  Welt  eigentlich  ein  Edikt  über 
die  Rechtsfähigkeit  darstellt.   Immerhin  war  diese  Rechts- 

152 


Ebenso  nimmt  ein  neues  die  Wahlfähigkeit  beschrän- 
kendes Wahlgesetz  diese  Fähigkeit  unzweifelhaft  auch  allen 
solchen  Bürgern,  die  sie  bisher  besaßen,  aber  die  bereits 
vollzogenen  Wahlen,  zu  denen  sie  auf  Grund  des  früheren 


fähigkeit  bloß  die  Folge  der  einmal  erlangten  Qualität  des 
römischen  Bürgers,  und  wäre  diese  durch  eine  individuelle  Lei- 
stung und  Willensaktion  erlangt  worden,  so  wäre  sie  —  und 
also  auch  die  jederzeit  aus  ihr  fließende  Rechtsfähigkeit  — 
unwiderruflich  gewesen.  Keinesfalls  liegt  der  wahre  Grund 
der  Widerruflichkeit  der  Verordnung  des  Marcus  Antoninus 
darin,  daß  sie  als  akzessorische  Folge  der  römischen  Bürger- 
eigenschaft über  die  Rechtsfähigkeit  statuierte.  Es  wird  sich 
bei  uns  gar  nicht  anders  mit  einer  solchen  Verordnung  ver- 
halten, obgleich  bei  den  faktischen  Verhältnissen  der  modernen 
Welt  die  Erteilung  des  Indigenates  durchaus  nicht  ein  bloßes 
Statut  über  die  Rechtsfähigkeit  darstellt.  Es  kann  sogar  das 
Indigenat  und  die  Rechtsfähigkeit  bei  uns  getrennt  sein  (vgl. 
Code  civ.,  Art.  7).  Ganz  bestimmt  war  dies  der  Fall  nach 
den  französischen  Gesetzen  vom  30.  April  1790  und  9.  De- 
zember desselben  Jahres  (Art.  24).  Ersteres  verordnet  que 
tous  ceux  qui  nes  hors  du  royaume,  de  parens  etrangers,  sont 
etablis  en  France,  sont  re'putes  Frangais,  et  admis,  en  pretant 
le  serment  civique,  ä  l'exercice  des  droits  de  citoyens  actifs, 
apres  cinq  ans  de  domicile  continu  dans  le  royaume,  s'ils  ont 
en  outre,  ou  acquis  des  immeubles,  ou  epouse  une  Francaise  etc. 

Merlin  hat  auf  das  unzweifelhafteste  nachgewiesen,  daß  dies 
Gesetz  von  der  Bedingung  des  Bürgereides  nur  die  Ausübung 
der  bürgerlichen  Rechte  abhängig  macht,  die  Qualität  eines 
Franzosen  aber  unabhängig  hiervon  und  ipso  jure  allen  denen 
überträgt,  welche  fünf  Jahre  hindurch  ihr  Domizil  in  Frank- 
reich gehabt  und  außerdem  ein  Grundstück  gekauft  oder  eine 
Französin   geheiratet  haben. 

War  dies  Gesetz  aber  nur  auf  die  Zukunft  anwendbar  oder 
war  es  auch  anwendbar  auf  solche,  welche  schon  vor  dem 
Erlaß  desselben  fünf  Jahre  ununterbrochen  ihr  Domizil 
in  Frankreich  gehabt  und  dazu  eine  Französin  geheiratet  hatten  ? 
Waren  nun  also  auch  diese,  die  diese  Folge  nicht  hatten  vor- 

153 


Gesetzes  mitgewirkt  haben,   werden  hierdurch  nicht  ver- 
nichtet ;    die   individuellen    Handlungen   bleiben   bestehen. 
Zugleich  ist  ersichtlich,   daß  dieses   Prinzip  den  An- 
forderungen entspricht,   welche  wir  oben   (S.  68 fg.)   für 


aussehen   können,   unabhängig  von  ihrem  Willen  zu   Franzosen 
gemacht  ? 

Merlin,  in  einem  bald  anzuführenden  Plädoyer,  das  er  als 
Generalprokurator  vor  dem  Pariser  Kassationshofe  hielt,  be- 
hauptete dies  letztere,  und  dies  war  eine  der  Hauptachsen,  um 
welche  sich  der  seiner  Zeit  so  berühmte  Prozeß  des  damaligen 
M-ajors  Mac-Mahon  gegen  seine  geschiedene  Gattin,  die  Frau 
von  Latour,  drehte.  Es  handelte  sich  in  diesem  Prozesse,  wel- 
cher drei  verschiedenen  Appcllhöfen  überwiesen  wurde  und  zwei 
kassierende  Urteile  des  Pariser  Kassationshofes  veranlaßte,  und 
in  welchem  Merlin  dem  Vorfahr  des  Siegers  von  Magenta 
doppelte  Felonie  und  Überläuferei  gegen  England  wie  Frank- 
reich und  Betrug  in  seinen  Ehepakten  nachwies,  darum,  zu 
wissen,  ob  Mac-Mahon,  der  bei  dem  Erlaß  des  Gesetzes  vom 
20.  April  1790  bereits  fünf  Jahre  in  Frankreich  gewohnt  und 
eine  Französin  geheiratet  hatte,  durch  dasselbe  ohne  seinen 
Willen  zum  Franzosen  geworden  war,  und  ob  folglich,  da  er 
zwei  Jahre  darauf  Frankreich  verließ,  die  damaligen  Gesetze 
über  Emigranten  auf  ihn  anzuwenden  waren.  Es  lag  somit  hier 
ganz  der  Fall  vor,  den  wir  oben  im  Text  supponiert  haben. 
Der  Appellhof  von  Orleans  entschied  hierüber  in  einem  schön 
motivierten  Urteil  (vom  ll.Thermidor  XIII):  „Attendu  — 
qu'un  acte  de  naturahsation  est  un  ventable  contrat  entre  le. 
gouvernement  qui  adopte  et  l'etranger  adopte,  que  ce  contrat 
comme  tous  les  autres  contrats,  exige  un  consentement  mutuel 
et  rfciproque;  que  ce  consentement  doit  etre  formel  ou  resulter 
d'actes  expres  et  positifs,  d'oü  il  suit  que  toute  disposition 
generale  qui  ddclarerait  naturalisee  teile  ou  teile  classe  des 
individus,  ne  pourrait  s'appliquer  reellement  qiCä  ceux  des  individus 
qui  en  auraient  reclame  ou    aeeepte    la  faveur  ou  lapphcation." 

Die  Richtigkeit  dieser  Motive  springt  in  die  Augen.  Trotz- 
dem erhob  sich  Merlin,  der  schon  ein  kassierendes  Urteil  in 
diesem    Prozeß    herbeigeführt    hatte,    mit    Macht   dagegen    vor 

154 


eine  wahrhafte  Theorie  aufgestellt  haben.  Wir  ver- 
langten hierzu,  daß  beide  Grundsätze,  sowohl  derjenige, 
welcher  bestimmt,  wo  sofortiges  Platzgreifen  der  Gesetze 
stattfinden  als  nicht  stattfinden  darf,  in  eine  gemein- 


dem  in  vereinigten  Kammern  sitzenden  Kassationshof.  Nach 
ihm  hätte  Mac-Mahon  gleich  nach  Erscheinen  des  Gesetzes 
sagen  müssen :  „Da  man  will,  daß  ich  auf  Grund  meines  Domi- 
ziles  Franzose  sei,  so  verlasse  ich  das  Territorium  eines  Gouver- 
nements, dessen  Adoption  mir  nicht  gefällt."  Merlin  vergißt, 
daß,  war  einmal  Mac-Mahon  durch  das  Gesetz  vom  30.  April 
1790  zum  Franzosen  geworden,  er  durch  das  sofortige  Ver- 
lassen Frankreichs  vielmehr  nur  sofort  damaligen  Emigranten- 
gesetzen verfallen,  seine  Lage  also  gar  nicht  geändert  worden 
wäre  und  daß  der  fortgesetzte  Aufenthalt  in  einem  Lande  — 
von  anderen  faktischen  Umständen  des  Falles  abgesehen  — 
keine  notwendige  Akzeptation  des  Indigenates  in  sich  schließt. 
Umsonst  beruft  sich  Merlin,  geradezu  die  Behauptung  auf- 
stellend, daß  die  Einwilligung  des  Individuums  in  die  Natu- 
ralisation gleichgültig  wäre,  auf  das  Gesetz  vom  5.  Ventose  V, 
welches  alle  Einwohner  des  eroberten  und  mit  Frankreich  ver- 
einigten belgischen  Gebietes  ohne  Rücksicht  auf  ihren  Willen 
zu  französischen  Bürgern  erklärt  hatte.  Er  vergißt,  daß  die 
Staatsangehörigkeit,  welche  ein  Staat  über  die  Kinder  seiner 
eigenen  Bürger  oder  über  die  Bürger  eroberter  und  zum  Staats- 
territorium  geschlagener  Länder  ausspricht,  ein  Zwangsge- 
setz ist  und  sein  muß,  von  dem  sich  der  einzelne  nur  unter 
den  bestimmten  Formen  der  Auswanderungsgesetze  befreien  kann, 
daß  aber  die  Stellung,  welche  ein  Staat  zu  den  Angehörigen 
fremder  Nationen  einnimmt,  eine  ganz  andere  ist. 

Durch  die  Überlegenheit  seines  Wissens  und  seines  Scharf- 
sinnes gewann  Merlin  die  Schlacht  gegen  Mac-Mahon,  trotz 
des  Widerstrebens  der  Appellhöfe  von  Paris  und  von  Orleans. 
Aber  er  gewann  sie  nicht  auf  Grund  des  in  Rede  stehenden 
Kassationsmittels,  sondern  aus  anderen  in  der  Sache  zur  Sprache 
kommenden  Gründen.  In  seinen  beiden  kassierenden  Urteilen 
vom  30.  Pluviöse  XIII  und  vom  22.  März  1806  vermeidet  viel- 
mehr der  Kassationshof  sich   über  die  Frage,   ob   Mac-Mahon 

155 


same  Rechtsidec  aufgelöst  werden.  Nur  dann  sei 
Einheit  —  und  mit  ihr  Theorie  —  vorhanden,  wenn 
diese  eine  Idee  die  Unterschiede  selbst  als  aus  ihr  flie- 
ßende erzeuge,  so  daß  sich  also  auch  aus  der  Idee  der 


als  Franzose  zu  betrachten  sei,  obgleich  sie  das  erste  Kas- 
sationsmittel bildete,  auszusprechen,  und  indem  er  das  zweite- 
mal —  en  chambres  reunies  sprechend  —  statt  dessen  auf  das 
vierte  Kassationsmittel  einging  und  ausdrücklich  erwog,  daß 
Mac-Mahon  sich  demselben  nicht  entziehen  könne  „sous  le 
pretexte  qu'il  est  etranger",  weil  dasselbe  zur  Geltung  komme 
„contre  tous  les  individus  soit  francais  -soit  etrangers",  hat  er 
deutlich  genug  seine  von  Merlin  hierin  abweichende  Ansicht  an 
den  Tag  gelegt  (s.  die  beiden  Plädoyers  Merlins  in  dieser  Sache, 
abgedruckt  in  seinem  Repert.  de  jurispr.  v°  Divorce  Sect.  IV, 
§  10,  T.  IV,  p.  664- — 709).  Von  dem  ersten  Kassationsurteil 
steht,  obwohl  es  sich  darüber  nicht  ausspricht,  sogar  unzweifel- 
haft fest,  daß  der  Kassationshof  Mac-Mahon  trotz  des  Ge- 
setzes vom  30.  April  1790  als  einen  Fremden  betrachtet  habe; 
denn  der  Präsident  der  Sektion  des  Kassationshofes,  welche 
jenes  Urteil  erließ,  Malleville,  bekundete  später,  daß  der  Hof 
Mac-Mahon  „quoique  oranger"  doch  seiner  Gattin  gegenüber 
für  einen  „absent  rentre"  gehalten  habe  (s.  Malleville,  Ana- 
lyse raisonnee  de  la  discussion  du  Code  civile  au  conseil  d  etat, 
art.   234). 

Wäre  man  aber  selbst  mit  Merlin  der  Meinung  gewesen, 
daß  ursprünglich  durch  das  Gesetz  vom  30.  April  1790  Mac- 
Mahon  zwangsweise  zum  Franzosen  gemacht  worden  war, 
so  hatte  doch  bereits  die  Konstitution  vom  3.  September  1791, 
Tit.  II,  Art.  3,  durch  eine  kleine  Änderung  in  dem  Wortlaut 
jenes  Gesetzes  demselben,  wie  Merlin  selbst  (das.,  S.  696) 
zugibt,  derogiert  und  die  Naturalisation  an  den  freien  Willen 
des  Individuums  gebunden.  Durch  eine  Umstellung  des  Satzes 
von  der  Leistung  des  Bürgereides  bewirkte  sie  nämlich,  daß 
nur  derjenige  für  einen  Franzosen  angesehen  werden  solle,  der 
außer  den  übrigen  Bedingungen  den  Bürgereid  geleistet  habe, 
worin  also  eine  ausdrückliche  individuelle  Willenserklärung  hegt. 
Und  folglich  hätte  man  —  obwohl  Mac-Mahon  dieses  Mittel, 

156 


Nichtrück Wirkung  selbst  die  Fälle  ergeben,  in 
denen  ein  neues  Gesetz  sofort  zur  Anwendung  zu  kom- 
men hat.  In  der  Tat  ist  dies  durch  das  obige  Prinzip  er- 
reicht, weil  dasselbe,  statt  eine  Formel  zu  bilden,  nur  die 
Rechtsidee  der  Nichtrück wirkung  darstellt. 


wie  es  scheint,  geltend  zu  machen  verabsäumte  —  immer  an- 
nehmen müssen,  daß  hierdurch  jener  Zwang  des  Gesetzes 
von  1790  fortzuwirken  aufgehört  habe.  Es  reicht  nicht 
hin  zu  sagen,  wie  Merlin  tut,  der,  offenbar  von  selbst  auf  diesen 
Gedanken  stoßend,  ihn  flüchtig  in  einem  Satze  berührt,  daß 
die  neue  Konstitution  „de  meme  qu'elle  ne  prive  pas  les  etran- 
gers  de  la  naturalisation  qu'ils  avaient  obtenue  avant  1789 
par  les  lettres  patentes  du  roi,  de  meme  aussi  eile  ne  les 
depouille  pas  de  celle,  qu' avaient  purement  et  simplement  attri- 
buee  les  lois  des  30  avril  et  9  decembre  1790".  Alle  diese 
Ausdrücke  passen  gar  nicht  einmal,  da  sie,  priver  wie  de- 
pouiller  usw.,  ein  Entziehen  der  Eigenschaft  gegen  den  Wil- 
len des  Individuums  voraussetzen.  Es  handelte  sich  vielmehr 
darum,  ob,  wenn  ein  Staat  ohne  Rücksicht  auf  vorhergängigen 
Willen  oder  nachfolgende  Akzeptation  ein  Individuum  zwangs- 
weise naturalisiert,  dieser  Zwang  nicht  in  demselben  Augen- 
blicke für  alle  nicht  akzeptiert  habenden  Individuen  fortzu- 
wirken aufhört,  sobald  der  Staat  seinerseits  von  dem 
Zwangsgesetz  zurücktritt.  Und  so  gestellt  kann  die  Be- 
antwortung der  Frage  nicht  zweifelhaft  sein.  Die  Fortdauer 
des  Zwangsverhältnisses  kann  nicht  aus  dem  Rechte  des  Indi- 
viduums gefolgert  werden,  wenn  dieses  weder  vorher  gewollt, 
noch  nachher  akzeptiert  hat,  sondern  eben  gezwungen  ist.  Sie 
kann  nicht  länger  aus  dem  Rechte  des  Staates  folgen,  wenn 
dieser  seinerseits  das  Zwangsgesetz  aufgehoben  hat  und  somit 
von  der  Zwangsanschauung  zurücktritt.  Woher  sollte  also  seine 
Fortdauer  kommen  können  ?  Die  Wirkung  der  vom  Staat  ver- 
fügten Zwangsansicht,  vermöge  welcher  Mac-Mahon  als  Fran- 
zose anzusehen  war  (sera  repute  Francais),  dauert  offenbar 
nur,  solange  der  Staat  diese  Zwangsansicht  festhält,  und  hört 
somit  in  dem  Moment  auf,  in  welchem  er  sie  aufgibt.  Dies  Ge- 
setz hat  nicht,  wie  oben  Bartolus  sagt,   als   Kontrakt,  sondern 

157 


Es  liegen  hier  nicht  mehr  zwei  äußerliche  Regeln  vor, 
von  denen  die  eine  bestimmt,  wo  Nichtrückwirkung,  und 
die  andere,  wo  Rückwirkung  stattfinden  soll.  Sondern  die 
Regel  der  Nichtrückwirkung  ist  hier  erstens  in  den  B  e  - 
griff  der  Nichtrückwirkung  selbst  zurückgeführt,  so  daß 
sie  zugleich  angibt,  auf  welcher  obersten  Rechts- 
i  d  e  e  der  Grundsatz  von  der  Nichtrückwirkung  überhaupt 
beruhte  und  warum  er  Wahrheit  habe  (vgl.  oben 
S.  120 fg.).  Ferner  sind  eben  dadurch  die  beiden  Re- 
geln, wo  der  Grundsatz  von  dem  sofortigen  Eingreifen 
der  Gesetze  zur  Anwendung  zu  kommen  habe,  in  eine 
begriffliche  Einheit  aufgehoben;  beide  Grund- 
sätze selbst  sind,  statt  sich  entgegengesetzte  zu  bleiben, 
von  denen  der  eine  auf  diesem,  der  andere  auf  jenem 
Rechtsgebiete  gelten  soll,  in  innere  Einheit  gesetzt, 
in  eine  gemeinsame  Rechtsidee  aufgelöst,  und  drit- 
tens ist  damit  das  ebenso  begriffliche  als  praktische  Re- 


als  Gesetz  gewirkt,  und  die  Wirkung  verschwindet  daher 
mit  dem  Gesetze  selbst.  Und  selbst  jeder  Kontrakt  erlischt, 
wenn  beide  Parteien  desistieren.  —  Die  entgegengesetzte  Ansicht 
—  die  Ansicht  Merlins  —  führt  zu  der  großen  Ungereimtheit, 
daß  der  Staat  zwar  durch  das  Zwangsgesetz  von  1790  auf  alle 
nicht  erst  zukünftig,  sondern  bereits  gegenwärtig  in  den 
von  ihm  vorhergesehenen  Lagen  befindlichen  Fremden  sofort 
habe  einwirken  und  somit  —  weil  ohne  Rücksicht  auf  ihren 
Willen  —  habe  rückwirken  können,  daß  aber  dem  späteren 
Gesetze  — ■  der  Konstitution  von  1791  — ,  welches  die  Natu- 
ralisation der  natürlichen  Willensfreiheit  des  Individuums  zu- 
rückgibt, eine  geringere  Kraft  einwohne  und  es  nicht  wie 
das  erstere  auf  die  gegenwärtigen  Zwangsverhältnisse,  son- 
dern erst  auf  die  Zukunft  einwirken  könne! 

Höchstens  hätte  man  also  annehmen  können,  daß  Mac-Mahon 
in  der  Zwischenzeit  vom  Gesetze  von  1790  bis  zur  Konstitution 
von  1791,  aber  nicht  mehr  bei  seiner  Flucht  (1792)  Franzose 
gewesen  sei. 

158 


sultat  erreicht,  daß  es  eine  zuverlässige  wirkliche  Rück- 
wirkung, eine  einzelne  oder  eine  Klassenausnahme 
von  dem  Prinzip  der  Nichtrückwirkung,  über- 
haupt nicht  gibt,  daß  vielmehr  auch  das  sofortige 
Platzgreifen  neuer  Gesetze  in  allen  Fällen,  wo  es  zulässig 
ist,  gerade  durch  den  Begriff  der  Nichtrückwirkung 
selbst  gesetzt  und  vermittelt  sein  muß,  und 
eine  solche  aus  diesem  Begriffe  selbst  hervorgehende  so- 
fortige Anwendung  nur  eine  augenblickliche  Einwir- 
kung —  wie  solche  im  Wesen  des  Gesetzes  liegt  — , 
keine  Rückwirkung  mehr  darstellt*). 


*)  Note  des  Herausgebers:  Die  in  der  Note  auf  Seite  150 
von  Lassalle  als  Rechtsbruch  gekennzeichneten  Entscheide  be- 
ziehen sich  höchstwahrscheinlich  auf  die  um  jene  Zeit  gegen 
die  Gräfin  Sophie  Hatzfeldt  rechtskräftig  erklärte  Ehescheidung. 


159 


II.  DER  BEGRIFF  UND  SEIN  UMFANG. 

§  2.     Der    Umfang    der    Willenshandlungen. 

Wenn  aber  nur  die  individuellen  Willenaktionen  von 
keinem  späteren  Gesetze  getroffen  werden  sollen,  oder, 
was  hiermit  identisch,  nur  solche  Rechte  erworbene 
Rechte  sind,  welche  durch  freie  Willensaktionen  vermit- 
telt sind,  so  muß  es  zunächst  scheinen,  daß  aus  bloßen 
Begebenheiten  und  Ereignissen  (z.  B.  also  die  eigene  Ge- 
burt, der  Tod  anderer),  oder  aus  den  Handlungen  dritter 
Personen  —  die  ja  in  bezug  auf  das  Individuum  bloße 
Ereignisse  sind  — ,  daß  also  aus  solchen  Fakten,  die  man 
im  Unterschied  von  den  eigenen  Willensaktionen  juristische 
Tatsachen  nennen  kann,  dem  Individuum  keine  erwor- 
benen Rechte  entstehen  können.  Wollte  man  nun  aus 
obigem  Begriffe  eine  solche  Regel  ableiten,  so  würde  die- 
selbe zwar  im  allgemeinen  auch  noch  richtig  sein;  sie 
würde  aber,  wie  jede  Regel,  zahlreiche  Ausnahmen  er- 
leiden, während  jener  Begriff  selbst  keine  erleidet,  es 
vielmehr,  wie  sich  gleich  zeigen  wird,  gerade  seine  eigene 
Tätigkeit  ist,  welche  diese  Ausnahmen  an  der  Regel  her- 
vorbringt. 

Es  gibt  nämlich  Rechte,  welche  scheinbar  an  Ereignisse 
und  Handlungen  dritter  Personen  geknüpft  sind,  aber,  ob- 
wohl sie  äußerlich  und  ihrer  sinnlichen  Gestalt  nach  als 
Folgen  solcher  facta  aliena  erscheinen,  doch  ihrer  i  n  - 
n e r e n  Natur  nach  vom  Rechte  aufgefaßt  wer- 
den als  eigene  Willensaktionen  des  Indivi- 
duums. 

160 


Ist  dies  der  Fall,  so  ist  es  natürlich  nur  eine  Forderung 
des  Begriffes  und  eine  glänzende  Bestätigung  seiner  Kon- 
sequenz, daß  solche  Rechte  und  nur  solche  Rechte,  die 
nach  ihrer  äußerlichen  Erscheinung  zwar  als  Folgen  frem- 
der Tatsachen  sich  darstellen,  vom  Gesetze  aber  als  auf 
der  eigenen  Willensaktion  des  Individuums  be- 
ruhend gedacht  werden,  erworbene  Rechte  bilden  und  also 
von  einem  späteren  Gesetze  nicht  berührt  werden  können. 

Dies  tritt  nun  in  der  Tat  ein,  und  es  sind  jetzt  diese 
scheinbaren  Anomalien  durchzugehen  und  in  ihre  wanre 
Natur  als  strenge  Konsequenzen  des  Begriffes  aufzu- 
lösen, i 

A.  Erb-  und  Familienrecht ;  Personenrepräsentation. 

Dahin  gehören  alle  solche  Rechte,  welche  dem  Indivi- 
duum durch  die  eigene  Geburt  oder  den  Tod  anderer  ent- 
stehen und  welche  vermittelt  sind  durch  das  Familien- 
recht.  Die  so  vermittelten  Rechte  sind  dem  Individuum 
erworben  vermöge  der  nach  der  Anschauung  des  Rech- 
tes innerhalb  der  Familie  herrschenden  Iden- 
tität der  Personenund  ihres  Willens.  Vermöge 
dieser  Identität  wird  vom  Rechte  diegültigeWillens- 
handlung  der  einen  Familienperson  zugleich 
als  Willenshandlung  der  anderen  angesehen. 
Wenn  geerbt  wird,  so  erscheint  dies  zunächst  als  die  Folge 
eines  bloßen  Ereignisses,  des  Todes  des  Erblassers.  In 
der  Tat  aber  beruht  der  Erwerb  auf  einem  entweder  aus- 
drücklichen letzten  Willen  desselben  —  testamentarische 
Erbschaft  —  oder  auf  einem  vom  Gesetz  präsumierten  — 
Intestaterbfolge.  Es  geschieht  also  dieser  Erwerb  durch 
eine   Willenshandlung  des   Erblassers1),   die   infolge 

v)  An  dieser  abstrakten,  von  allen  konkreten  Unterschieden 
absehenden   und    darum   auch   unrichtigen    Behauptung  muß    es 

11   Lassalle.  Ges.  Schriften,  Band  IX.  161 


der  angegebenen  das  Wesen  des  Familienrechtes  bestim- 
menden Identität  als  die  eigene  Willensaktion  des  Erben 
erscheint1). 

Das  Erbrecht  darf  also  nicht  als  ein  aus  einem  Ereignis 
oder  einer  fremden  Handlung  entspringendes  Recht  aufge- 
faßt werden,  sondern  wenn  dies  seine  äußerliche  Erschei- 
nung ist,  so  beruht  seine  spekulative  Natur  ur- 
sprünglich auf  der  durch  die  Identität  der  Familie  vermit- 
telten Willensaktion  des  Erben. 

Der  positive  Beweis  hierfür  kann  nur  durch  das 
genaueste  Eingehen  auf  das  Wesen  des  Erbrechtes,  also 
erst  im  zweiten  Bande  sich  ergeben,  welcher  dasselbe 
ebenso  nach  seinem  philosophischen  Gedankeninhalt  als 
nach  der  Verschiedenheit  seines  historischen  Gei- 


hier  noch  genügen.   Das  Wahrhafte  darüber  kann  sich  erst  im 
zweiten  Bande  ergeben. 

*)  Wenn  etwa  ein  Gesetz  alle  Testamentserbschaft  aus- 
schließt und  nur  Intestaterbfolge  anerkennt,  so  würde  man  frei- 
lich nicht  sagen  können,  daß  dieselbe  einen  präsumierten  Willen 
des  Erblassers  darstelle.  Allein  hier  entsteht  das  Recht  der 
Erben  überhaupt  nicht  erst  durch  den  Tod,  es  ist  vielmehr 
durch  die  Geburt  oder  bei  dem  Erwerb  des  Eigentums 
entstanden.  Das  Eigentum  ist  hier  von  vornherein  als  ein  an 
sich  gemeinschaftliches  Familieneigentum  erwor- 
ben, und  dieser  Wille,  es  als  solches  zu  setzen,  erscheint  als 
der  gemeinschaftliche  Wille  aller  Familienindividuen.  Es  ist 
nicht  anders  mit  dem  unter  diesem  Gesetze  bei  der  Geburt 
schon  vorhandenen  Eigentum  der  Ehern.  Die  Geburt  stellt  für 
das  Individuum  selbst  ein  Erzeugtsein,  ein  bloßes  Ereignis 
dar;  aber  dieses  Erzeugtsein  löst  sich  sofort  auf  in  eine  Er- 
zeugung, also  in  eine  Handlung  seitens  der  Eltern,  durch 
welche  Handlung  das  vorhandene  Eigentum  als  das  an  sich 
gemeinschaftliche  der  nun  entstandenen  Familie  gesetzt  und  diese 
Willensaktion  um  jener  unmittelbaren  Identität  willen  als  der 
gemeinschaftliche   Wille   aller   Familienglieder  erscheint. 

162 


st  es  betrachten  soll.  Dort  wird  dieser  Beweis  auf  die 
strengste  und  wissenschaftlichste  Weise  erbracht  werden. 
Bis  dahin  muß  das  soeben  Gesagte  als  eine  bloße  Asser- 
tion  und  Abbreviatur  aufgenommen  werden,  deren  Beweis 
nicht  bloß,  sondern  auch  deren  tieferes  Verständnis 
und  deren  innere  Unterschiede  erst  im  zweiten 
Bande  sich  entfalten  können.  —  Darauf  muß  also  einst- 
weilen hinverwiesen  werden. 

Aber  auffällig  oder  willkürlich  erscheinen  kann  diese 
Umwandlung  des  Erbrechtes  in  ein  durch  die  Willens- 
a  k  t  i  o  n  des  Erben  hervorgebrachtes  Recht  schon  nach 
dem  hier  Gesagten  nicht.  Sie  wäre  überdies  nur  eine  not- 
wendige und  spekulative  Folge  dessen,  was  schon  ander- 
weitig über  die  Personenidentität  als  das  Wesen  der  Fa- 
milie ausmachend  anerkannt  wurde,  und  findet  ihren  sinn- 
fälligen Erweis  in  der  Lehre  von  der  Repräsentation, 
nach  welcher  ja  auch  z.  B.  das  vom  Kinde  oder  römischen 
Sklaven  Erworbene  um  dieser  vom  Gesetz  angeschauten 
Identität  der  Personen  willen  als  der  rechtliche  Erwerb  des 
Vaters  oder  Herrn  gilt. 

Das  Erbrecht  ist  aber  nur  die  wichtigste  Anwendung 
dieser  durch  das  Familienrecht  bewirkten  Vermittlung,  und 
das  Gesagte  gilt  ebenso  für  alle  Rechte,  die  durch  das 
Familienrecht  vermittelt  sind.  So  z.  B.  die  Erwerbung 
des  Indigenats  durch  Geburt.  Die  Erwerbung  des  Indi- 
genats  durch  Naturalisation  oder  Niederlassung  erscheint 
auch  äußerlich  als  eine  Erwerbung  durch  individuelle  Wil- 
lensaktionen, und  von  ihr  begreift  sich  also  leicht,  daß  sie 
von  einem  späteren  Gesetz  nicht  aufgehoben  werden  kann. 
Das  durch  Geburt  erlangte  Indigenat  scheint  aber  ebenso 
wie  z.  B.  die  Volljährigkeit  aus  einem  bloßen  Ereignis, 
und  somit  lediglich  aus  dem  Gesetz,  nicht  aus  einer 
individuellen  Handlung  zu  fließen,  wonach  es  also  auch 

ii-  163 


für  ein  späteres  Gesetz  revokabel  sein  müßte.  Dem  ist 
aber  keineswegs  so.  Es  ist  bereits  bemerkt,  daß  die  Ge- 
burt zwar  für  das  Kind  selbst  nur  ein  Erzeugt  sein,  ein 
Ereignis,  für  die  Eltern  aber  eine  Erzeugung  und  also 
eine  freie  Handlung  darstellt.  Was  hierbei  somit  ein 
Sein  seitens  des  Kindes  ist,  ist  ein  Wollen  und  Tun 
seitens  der  Eltern,  und  vermöge  der  in  dem  Familienrecht 
vorhandenen  unmittelbaren  Willensidentität  der 
Personen  sind  daher  die  für  das  Kind  an  das  Sein 
geknüpften  gesetzlichen  Rechte  zugleich  als  durch  seine 
individuelle  Willensaktion  vermittelte   vorhanden. 

Es  erhellt  von  selbst,  wie  ebenso  die  Entlassung  aus  der 
väterlichen  Gewalt  durch  den  Vater,  die  anscheinend  gleich- 
falls nur  ein  aus  der  Handlung  eines  Dritten  fließendes 
Recht  darstellt,  wegen  dieser  unmittelbaren  Willensiden- 
tität als  die  identische  Willensaktion  des  Kindes  angesehen 
werden  muß,  und  daher  weder  durch  einen  späteren  Willen 
des  Vaters,  noch  durch  ein  späteres  Gesetz,  noch  durch 
ein  solches  mit  Zustimmung  des  Vaters  widerrufen  wer- 
den kann. 

An  die  auf  derselben  ideellen  Grundlage  beruhende 
Lehre  von  der  Personenrepräsentation  ist  bereits  erinnert 
worden. 

Was  daher  von  dem  Kinde  oder  dem  Sklaven  dem 
Paterfamilias  einmal  erworben  worden  ist,  kann  ihm,  ob- 
wohl es  zunächst  als  ein  aus  der  Handlung  eines  Dritten 
und  somit  aus  dem  Gesetz  ihm  zufließender  Erwerb 
erscheinen  könnte,  dennoch  durch  kein  Gesetz,  welches 
Sklaverei,  väterliche  Gewalt  usw.  ganz  abschafft  oder 
aber  jene  Repräsentation  aufhebt,  rückwirkend  entzogen 
werden,  weil  es  vermöge  derselben  als  durch  seine  eigenen 
individuellen  Handlungen  erworben  gilt. 


164 


B.    Ungewollte    Handlungen,    dolus,    Zwang,    echter   und 
unechter  Irrtum,  ignorantia  juris  et  facti.  Die  ädilizischen 
Klagen  und   Kondiktionen1), 
a)  Rechte,  welche  zwar  nicht  aus  Handlungen  drit- 
ter Personen,  aber  auch  nicht  aus  den  eigenen  Hand- 
lungen, sondern  vielmehr  gegen  dieselben  vom  Gesetze 

*)  Die  hier  sub  B  vorliegende  Ausführung  über  Handlungen 
aus  mangelndem  Willen,  Zwang,  Betrug  und  Irrtum  im  Beweg- 
grunde kann  zunächst  als  ganz  überflüssig  erscheinen,  da  ja 
Gesetze  hierüber  das  Individuum  immer  nur  durch  Vermittlung 
einer  individuellen  Handlung  berühren  können,  die  Rückwirkung 
derselben  also  schon  durch  das  im  §  1  formulierte  Prinzip  aus- 
geschlossen ist.  Allein  da  in  allen  den  genannten  Fällen  Wille 
und  Handlung  sich  spalten  und  der  Wille  des  Indivi- 
duums seiner  äußeren  Handlung  entgegensteht,  anderer- 
seits aber  nach  der  hier  entwickelten  Theorie  Rechte  dem  Indi- 
viduum nur  durch  seine  Willensaktion  erworben  werden 
können,  so  würde  man  es  gerade  bei  einer  solchen  tieferen 
Betrachtung  für  einen  inneren  Widerspruch  in  der  Theorie  halten 
können,  daß  dem  Individuum  hier  Rechte  durch  seine  gerade 
nicht  gewollte,  nur  äußerliche  Handlung  erworben  wer- 
den sollen.  Denn  dann  wäre  nicht  der  Wille  das  erwerbende 
Moment,  und  daher  eigentlich  nicht  abzusehen,  woraus  das 
Erworbensein  bei  der  gegenwärtigen  Theorie  eigentlich  fließen 
sollte.  Würde  man  also  auch  zugeben,  daß  auf  durch  Zwang, 
Betrug  und  Irrtum  hervorgerufene  Handlungen  durch  spätere 
Gesetze  nicht  eingewirkt  werden  kann  —  obgleich  auch  hierüber 
verschiedene  Meinungen  bei  den  Autoren  herrschen  — ,  und 
würde  man  auch  weiter  zugeben  müssen,  daß  dies  auch  durch 
die  Formel  unseres  Prinzipes  allerdings  äußerlich  bestimmt 
werde,  so  würde  man  doch  dies  Zusammentreffen  für  ein  nur 
äußerliches  und  gerade  im  Widerspruch  zu  der  inneren  Be- 
deutung der  Theorie  vorhandenes  betrachten  können.  —  Sollte 
es  also  ernst  genommen  werden  mit  den  Anforderungen,  die 
man  für  eine  Theorie  stellen  muß,  so  müßte  auch  dieser  Schein 
beseitigt  und  gezeigt  werden,  wie  es  in  der  Tat  nicht  die  äußere 
Handlung  des  Individuums,  sondern  vielmehr  die  innere  Wil- 

165 


gegeben  werden  und  daher  lediglich  aus  diesem  zu  ent- 
springen scheinen,  können  sich  bei  näherer  Betrachtung 
als  auf  dem  Dasein  der  individuellen  Wil- 
lensfreiheit beruhend  und  als  durch  sie  ver- 
mittelt erweisen,  und  können  dann  in  strenger  Kon- 
sequenz des  obigen  Begriffes  durch  spätere  Gesetze 
nicht  abgeändert  werden. 

Dies  tritt  ein  bei  der  Nichtigkeit,  welche  Gesetze  über 
Willenshandlungen  wegen  mangelndenWillens  ( Irr- 
tum in  der  Person,  error  in  corpore,  error  in  substantia) 
aussprechen.  Es  ist  im  Falle  eines  solchen  Vertrages  ein 
anderes  gewollt,  ein  anderes  getan  worden.  Seine 
äußere  Handlung  würde  freilich  dem  Individuum  kein 
Recht  auf  die  Nichtigkeit  des  Vertrages,  sondern  nur  auf 


lensaktion  desselben  ist,  welche  ihm  dies  Recht  und  zwar 
gerade  gegen  seine  äußere  Handlung  erwirbt.  Freilich  war 
hierzu  erforderlich,  die  gegenwärtig  über  Zwang,  Betrug  und 
Irrtum  herrschenden  irrigen  Ansichten  zu  beseitigen,  was  wie- 
derum nur  durch  eine,  wenn  auch  möglichst  knappe  organische 
Entwicklung  dieser  Lehre  aus  dem  Willensbegriff  heraus  er- 
reicht werden  konnte.  —  Ferner  war  aber  diese  Entwicklung 
aus  dem  Inneren  der  Theorie  auch  deshalb  ganz  erforderlich, 
um  zu  erklären,  daß  und  warum  auch  auf  die  irrtümlichen  oder 
unfreien  Unterlassungen  (s.  C.)  spätere  Gesetze  nicht  zu- 
rückwirken könnten.  Denn  hier  würde,  wenn  wir  uns  hätten 
mit  dem  bloß  äußeren  Zutreffen  der  Formel  begnügen  wollen, 
nicht  einmal  dieses  Zutreffen  derselben  vorliegen,  da  bei  Un- 
terlassungen nicht  einmal  die  äußere  individuelle  Handlung  da 
sein  würde,  durch  welche  die  Einwirkung  neuer  Gesetze  aus- 
geschlossen wäre.  Endlich  aber  war  die  Entwicklung  auch  noch 
deshalb  notwendig,  um  zu  zeigen,  warum  ohne  jede  innere  In- 
konsequenz für  die  durch  dolus  hervorgerufenen  Handlungen 
trotz  der  deliktartigen  Natur  des  dolus  ein  anderes  gelten  müsse, 
als  das  Gesetz,  was  sich  uns  später  bei  den  Obligationen  aus 
Delikten  ergeben  wird. 

166 


seine  Aufrechterhaltung  geben  können.  Aber  die  derselben 
entgegenstehende  innere  Willensaktion  gibt  ihm  ein 
solches  gegen  die  Handlung  als  eine  ungewollte.  Wenn 
man  daher  ein  späteres,  das  Vorhandensein  eines  solchen 
error  in  substantia  etc.  einschränkendes  Gesetz  auf  einen 
früheren  Vertrag  anwenden  wollte,  so  würde  hierdurch  die 
Rückwirkung  eintreten,  daß  ein  vom  Individuum  Nicht- 
gewolltes  ihm  nachträglich  durch  das  spätere  Gesetz 
in  ein  Gewolltes  verkehrt  und  befestigt  würde. 

b)  Analoger  Natur  sind  die  Rechte,  welche  scheinbar 
aus  den  Handlungen  dritter  Personen,  und  somit  aus 
dem  Gesetz,  dem  Individuum  entspringen,  ihm  in  der 
Tat  aber  gleichfalls  durch  die  Wirkung  seiner  eigenen 
Willensfreiheit  vermittelt  sind. 

Hierher    gehört    zunächst    die    vom    Gesetz    gegebene 
Klage,  Einrede  oder  Restitution  wegen  Zwanges1). 


*)  Savigny  hat  im  dritten  Bande  seines  Systemes  (und  Bei- 
lage VIII  daselbst)  mit  großem  Scharfsinn  der  Lehre  vom 
Zwang,  Betrug  und  Irrtum  eine  Gestalt  gegeben,  welche  durch 
ihn  zur  herrschenden  Ansicht  geworden  ist.  Indem  er  richtig 
nachwies,  daß  der  faktische  Irrtum  im  Beweggrund  nicht  überall, 
sondern  nur  in  bestimmten  Fällen  helfe,  kam  er  zu  dem  irrigen 
Resultate,  nur  m  der  unabsichtlichen  Willenserklärung  einen 
mangelnden  Willen  zu  erblicken,  aber  selbst  in  jenen  Fällen,  wo 
der  Irrtum  hilft,  dies  nicht  als  einen  Ausfluß  mangelnden 
Willens,  sondern  als  eine  äußere  Billigkeit  anzusehen, 
und  ferner  ebenso  Zwang  und  Betrug  nicht  als  das  Dasein 
des  freien  Willens  aufhebend,  sondern  die  dagegen  ge- 
gebenen Rechtsmittel  als  einen  bloß  positiven  Rechts- 
schutz gegen  Unsittlichkeit  aufzufassen.  Auch  ist  diese 
seine  Lehre  in  allen  ihren  Teilen  allgemein  angenommen  wor- 
den, z.  B.  von  Puchta,  Vangerow,  auch  Böcking  usw.  Gleich- 
wohl müssen  wir  uns  gegen  dieselbe  mit  Ausnahme  des  vorhin 
als  richtig  bezeichneten  Punktes  —  dessen  innere  Bewandtnis 
sich  später  herausstellen   wird   —  mit  voller   Bestimmtheit   er- 

167 


Wird  ein  Individuum  zu  einem  Akte  gezwungen,  so 
scheint  derselbe  zunächst  dennoch  als  eine  Äußerung  seines 
Willens  gelten  zu  können.  Denn  das  Individuum  konnte 
sich  dem  Zwange  widersetzen  oder  das  Angedrohte  er- 
dulden. Der  Zwang  kann  hiernach  somit  als  ein  bloßes 
Motiv  des  Willens,  nicht  als  seine  Ausschließung,  er- 
scheinen  (coactus  volui)1). 


heben  und  sie  als  eine  solche  bezeichnen,  welche  lediglich  der 
Verkennung  des  Willensbegriffes  entflossen  ist.  In  bezug  auf 
Zwang  und  Betrug  würde  sich  die  Ansicht  Savignys  schon  durch 
die  kurze  Bemerkung  widerlegen  lassen,  daß  Unsittlichkeit 
im  Gebiete  des  Willens  gar  nichts  anderes  heißt  als:  Auf- 
hebung seiner  Freiheit  und  eine  andere  Art  von  Unsitt- 
lichkeit gegen  den  Willen  gar  nicht  existiert.  Die  wahre  Wider- 
legung jedoch  kann  nur  durch  die  organische  und  konstruktive 
Darstellung  gegeben  werden,  welche,  von  nichts  als  dem  Wil- 
lensbegriff beginnend,  alle  jene  Rechtsinstitute  mit  ihren  Aus- 
nahmen und  Einzelheiten  als  notwendige  Folgen  des  Willens- 
begriffes zu  entwickeln  und  sie  so  in  denselben  aufzulösen 
vermag.  Nicht  also  in  den  Bemerkungen,  in  welchen  wir  hin 
und  wieder,  obwohl  so  selten  als  möglich,  auf  Savigny  aus- 
drücklich kritisch  Bezug  nehmen  werden,  sondern  vielmehr  in 
der  nachfolgenden  objektiven  Darstellung  erblicken  wir  seine 
wahrhafte  Widerlegung. 

*)  L.  21,  §  5  quod  metus  (4,  2):  Si  metu  coactus  adii 
hereditatem,  puto  me  heredem  effici,  quia  quamvis  si  liberum 
esset,  noluissem,  tarnen  coactus  volui;  sed  per  Praetorem  resti- 
tuendus  sum,  ut  abstinendi  mihi  potestas  tnbuitur.  Es  wird  also 
immerhin  selbst  bei  dieser  Auffassung  Restitution  gegen  die 
Handlung  erteilt.  —  Gewiß  aber  kann  nicht  mit  Savigny  (III, 
103)  hierher  bezogen  werden  die  L.  22  de  ritu  nupt.  (23,  2) : 
Si  patre  cogente  ducit  uxorem,  quam  non  duceret,  si  sui  arbitrii 
esset,  contraxit  tarnen  matrimonium,  quod  inter  invitos  non  con- 
trahitur,  maluisse  hoc  videtur.  Der  Grund  muß  aus  dem  Obigen 
in  Verbindung  mit  dem  sub  A  Gesagten  klar  sein.  Denn  wenn 
der  Vater  auch  hierzu  kein  Recht  hat  (L.  21,  ib.),  so  läßt  es 
doch  die  in  der  Familie  herrschende  Identität,   verbunden  mit 

168 


Bei  der  richtigen  Erfassung  des  Begriffes  des  freien 
Willens  verhält  es  sich  aber  damit  folgendermaßen. 

Der  Begriff  des  Willens  ist:individuelleSelbst- 
bestimmung.  Diese  Selbstbestimmung  hat  aber  auf- 
gehört, wenn  ein  zweites  Individuum,  in  rechts- 
widriger1) Weise  in  dieselbe  eingreifend,  das  erste  aus 
einem  sich  selbst  bestimmenden  Selbst  in  ein  durch  frem- 
den Willen  bestimmtwerdendes  verwandelt.  — 
Ist  dagegen  die  Furcht  nicht  durch  eine  fremde  Drohung 
hervorgerufen,  sondern  aus  dem  eigenen  Denken  des  han- 
delnden Individuums  hervorgegangen,  so  ist  jetzt  ersicht- 
lich, warum  sie  keine  die  Willensfreiheit  aufhebende  und 
somit  auch  keine  den  Vertrag  entkräftende  Wirkung  haben 
kann.  Denn  als  durch  die  eigene  Denkoperation 
des  Individuums  gesetzt,  erscheint  sie  als  seine 
eigene  willkürliche  Selbstbestimmung  und 
wird  darum  zum  gleichgültigen  Motiv  derselben2).   So- 


dem  auch  hierbei  dem  Vater  zustehenden  Autorisationsrecht, 
zu  keinem  solchen  Gegensatz  kommen,  daß  ein  Bestimmtsein 
eines  fremden  Selbst  durch  ein  fremdes  Selbst  und  also 
ein  Zwang  vorläge. 

*)  Also  nicht  dadurch,  daß  ich  mich  an  die  eigene  Ver- 
nunft des  Individuums,  also  doch  nur  an  seine  Selbstbestim- 
mung wende,  durch  Belehrung,  Überzeugung  usw.,  und  ebenso- 
wenig durch  eine  unerhebliche  oder  unwahrscheinliche  Drohung, 
weil  eine  solche  schon  durch  die  bloße  Vernunft  des  Indi- 
viduums —  und  diese  wird  beim  Zwange  ja  unberührt  gelassen 
—  der  die  Selbstbestimmung  aufhebenden  Einwirkung  entkleidet 
wird. 

2)  Wenn  also  Savigny  (III,  108),  um  zu  beweisen,  daß 
der  Zwang  die  Willensfreiheit  nicht  aufhebt,  sagt:  „Wenn  die 
Freiheit  durch  Furcht  ausgeschlossen  würde,  so  müßte  es  ganz 
gleichgültig  sein,  ob  diese  Furcht  durch  das  bloße  Denken 
des  Fürchtenden  allein,  oder  durch  fremde  Drohung  entstanden 
wäre,  da  in  beiden  Fällen  der  Seelenzustand  des  Fürchtenden 

169 


weit  also  ein  Gesetz  Rechtsmittel  gegen  die  durch  er- 
littenen Zwang  hervorgerufenen  Akte  an  die  Hand  gibt1), 
so  weit  beruhen  dieselben  allerdings  auf  der  Auffassung 
des  Gesetzes  vom  Dasein  der  individuellen  Willensfreiheit. 


derselbe  ist,"  so  zeigt  sich  dieser  Trugschluß  als  auf  einer 
gänzlichen  Verkennung  des  formellen  Willensbegriffes, 
der  nur  der  der  individuellen  Selbstbestimmung  ist,  beruhend. 
*)  Die  formelle  Verschiedenheit  der  sehr  mannigfaltigen  da- 
gegen gegebenen  Rechtsmittel  zu  untersuchen,  hegt  natürlich 
außer  dem  Kreis  der  hier  möglichen  Betrachtung.  Nur  so  viel 
mag  hier  im  allgemeinen  sowohl  für  Zwang  als  Betrug 
bemerkt  werden,  daß  die  Verschiedenheit  dieser  Rechtsmittel 
niemals  ihren  Grundcharakter  aufhebt,  Ausflüsse  der  gesetz- 
lichen Anschauung  mangelnder  Willensfreiheit,  i.  e.  man- 
gelnder Selbstbestimmung,  im  erzwungenen  oder  durch 
Betrug  entstandenen  Vertrag  zu  sein.  Wenn  der  durch  wesent- 
lichen Irrtum  (mangelnden  Willen)  entstandene  Vertrag  ipso 
jure  nichtig  ist,  der  durch  Zwang  und  Betrug  hervorgerufene 
aber  nicht,  hier  vielmehr  zur  Umstoßung  desselben  eine  be- 
sondere Klage  auf  Reszission  angestellt  werden  muß,  so  kann 
das  auf  den  ersten  Blick  dafür  zu  sprechen  und  daher  zu  kommen 
scheinen,  daß  das  römische  Recht  keine  mangelnde  Willens- 
freiheit in  dem  durch  Zwang  oder  Betrug  hervorgerufenen  Ver- 
trag erblickt,  hier  vielmehr  durch  eine  besondere  positive  Hand- 
lung jene  freiwillige  Vertragshandlung  erst  beseitigt  werden 
muß.  Dieser  täuschende  Schein  muß  aber  bei  näherer  Betrach- 
tung verschwinden.  Denn  da  ich  dem  durch  Betrug  oder  Zwang 
entstandenen  Vertrag,  wo  dies  für  meinen  praktischen  Zweck 
hinreicht,  auch  mit  der  bloßen  exceptio  doli  etc.  begegnen  kann, 
so  ist  hierin  bewiesen,  daß  ich  ihn,  auch  ohne  ihn  durch  Um- 
stoßung äußerlich  zu  beseitigen,  als  einen  für  mich  nicht 
vorhandenen  behandeln  kann.  Der  wirkliche  Grund,  wes- 
halb bei  mangelndem  Konsens  der  Vertrag  schlechthin  nichtig 
ist,  bei  Zwang  und  Betrug  aber  nicht,  und  hier  seine  Umstoßung 
erst  durch  die  Reszissionsklage  erfolgt,  ist  vielmehr  ein  gerade 
dem  Begriffe  von  der  Willensfreiheit  entflossener  und  zwar 
folgender:  bei  mangelndem  Konsens  liegt  ein  gegenseitiges 

170 


Es  liegt  somit  bei  einer  nach  den  gesetzlichen  Requi- 
siten zur  Zeit  der  Handlung  erzwungenen  Willensäußerung 
kein  sich  selbstbestimmender  und  somit  ein  unfreier,  kein 
wahrhafter  Wille  vor.  Wenn  dies  der  theoretische  Aus- 
druck der  Sache  ist,  so  kann  sie  praktisch  so  ausgedrückt 
werden :  Der  Gezwungene  hat  nicht  die  Handlung  begehen, 
sondern  sich  nur  durch  den  Schein  derselben  der  an- 
gedrohten Gefahr  entziehen  wollen,  auf  die  ihn  restituieren- 
den Gesetze  rechnend  (.  .  .  timore  coactus  fallens  adierit 


Mißverstehen  und  daher  von  beiden  Seiten  kein  Wille  vor. 
Dieser  Vertrag  muß  daher  plane  nichtig  sein.  Bei  dem  durch 
Zwang  oder  Betrug  entstandenen  Vertrag  dagegen  liegt  seitens 
des  Betrügers  usw.  eine  überall  durch  seine  eigene  Selbst- 
bestimmung gesetzte  Handlung  vor.  Für  ihn  muß  dieselbe 
daher  als  Dasein  seiner  Willensfreiheit  schlechthin  verbindlich 
bleiben,  wenn  der  Betrogene  durch  geänderte  Umstände  hieran 
Interesse  hat.  Und  nur  diesem  kann  es,  da  nur  seine  Selbst- 
bestimmung aufgehoben  worden  ist,  zustehen,  den  so  entstan- 
denen Vertrag  als  nicht  vorhanden  anzusehen  (exceptio)  oder 
auch  äußerlich  durch  Reszissionsklage  umzustoßen.  Wird  also 
der  Begriff  der  Willensfreiheit  bestimmt,  als  der  der  indi- 
viduellen Selbstbestimmung,  gefaßt,  so  erfordert  er  ge- 
rade diese  verschiedene  Behandlung  des  Falles.  —  Wohl  aber 
liegt  darin,  daß  der  Betrogene  oder  Gezwungene  nicht  zu  einer 
Klage  auf  Schadloshaltung  gegen  die  unsittliche 
Handlung  des  anderen  genötigt  ist  (actio  doli  etc.),  diese 
vielmehr  nur  subsidiarisch  hat,  und  vor  allem  mit  der  ge- 
wöhnlichen Kontraktsklage  auf  Umstoßung  des 
ganzen  Geschäftes  klagen  kann  (L.  11,  §  5,  de  act.  eml. 
vent. ;  L.  5,  8,  10  C.  de  resc.  vend. ;  L.  10  C-  de  distr. 
pign. ;  L.  23  loc  cond.  etc.),  ein  sehr  starker  Beweis  dafür, 
daß  hier  nicht  von  einer  durch  positive  Gesetze  eingeführten 
Abwehr  eines  aus  der  positiven  unsittlichen  Handlung  eines 
Dritten  entspringenden  Schadens,  sondern  von  einer  durch  ihre 
eigene  Willenlosigkeit  vermittelten  Unwirksamkeit  der  eige- 
nen  Handlung  des  Individuums  die  Rede  ist. 

171 


hereditatem)  x).  Die  Anwendung  späterer  die  Requisite 
des  Zwanges  erschwerender  Gesetze  würde  daher  wie  bei 
B.  a.  ein  vom  Individuum  Ungewolltes  und  durch  seine 
freie  Selbstbestimmung  Widerrufliches  in  ein  Gewolltes 
befestigt  werden. 

c)  Analog  verhält  es  sich  mit  den  wegen  dolus  ge- 
gebenen   Rechtsmitteln,   sei   es,    daß   diese   in   Klagen, 
Einrede  oder  Restitution  bestehen. 
Der  Betrug  besteht  darin,  daß  in  dem  handelnden  Indi- 
viduum von  einem  anderen  absichtlich  ein  Irrtum  in  bezug 
auf  eine  seinen  Willen  bestimmende  Tatsache  hervorge- 
bracht wird.  Zunächst  kann  wiederum  die  so  erregte  falsche 
Vorstellung  als  ein  bloßes  Motiv  des  Willens  und  als 
somit  das  Dasein  eines  freien  Willens  selbst  nicht  an- 
tastend erscheinen. 

Und  dies  würde  im  allgemeinen  wirklich  der  Fall  sein, 
wenn  die  falsche  Vorstellung  nicht  durch  die  andere  Person 
erregt  worden  ist,  wenn  also  Irrtum,  nicht  Betrug,  vor- 
Hegt2). 

Wo  aber  durch  ein  anderes  Subjekt  ein  falsches  Be- 
wußtsein in  dem  Individuum  herbeigeführt  wurde,  da  ist 
es  von  jenem  an  der  Wurzel  seines  Willens,  dem  Wis- 
sen, gefaßt  (s.  oben  S.  121  fg.)  und  aus  einem  Sich- 
selbstbestimmenden  in  ein  von  dem  anderen  Sub- 
jekte unfrei  Bestimmtseiendes  herabgesetzt,  und 
diesem  gegenüber  also  von  einer  Willensfreiheit  des 
Handelnden  nicht  mehr  die  Rede3). 


x)  L.   6,  §  7,  de  adquir.  vel  omitt.  her.   (29,  2). 

2)  Parallel  wie  oben  beim  Verhältnis  der  bloßen  Furcht 
zum  Zwang. 

3)  Wohl  aber  leitet  sich  ein  Unterschied  zwischen  Betrug 
und  Zwang  sofort  aus  der  obigen  Begriffsbestimmung  ab.  Beim 
Betrüge   ist    die   eigene   Selbstbestimmung    dadurch   aufgehoben 

172 


Alle  wegen  dolus  gegebenen  Rechtsmittel,  auch  die  Re- 
stitutionen, können  daher  aus  demselben  Grunde  wie  bei 
a  und  b  lediglich  nach  den  zur  Zeit  der  durch  den  dolus 
hervorgerufenen    Handlung    geltenden    Gesetzen    beurteilt 


worden,  daß  nicht  der  Wille  unmittelbar,  sondern  das  denselben 
bestimmende  Wissen  —  und  erst  hierdurch  der  Wille 
selbst  —  durch  die  falsche  Vorspiegelung  von  dem  fremden 
Subjekt  zu  einem  durch  seine  Willkür  bestimmten  herabgesetzt 
worden  ist.  Indem  sich  die  Einwirkung  hier  also  nicht  un- 
mittelbar auf  den  Willen  wandte,  kann  es  erscheinen  in  der 
Freiheit  des  Individuums  gestanden  zu  haben,  durch  einen  bloßen 
Akt  seines  Willens  (sorgfältigere  Untersuchung)  den  das  Wis- 
sen täuschenden  falschen  Schein  zu  beseitigen.  Daß  dies  nicht 
geschah,  kann  als  die  eigene  Willkür  des  die  Täuschung 
seines  Bewußtseins  zulassenden  Individuums  erscheinen.  Wird 
daher  die  Anschauung  der  Willensfreiheit  in  konsequentester 
Sprödigkeit  schlechthin  nur  in  das  Dasein  eigener  Will- 
kür gesetzt  und  dies  so  weit  festgehalten,  daß  auch  das  Nicht- 
wissen, sofern  es  nur  auf  eigener  Willkür  beruht,  als  ein 
gültiges  Dasein  persönlicher  Willkür  und  Selbst- 
bestimmung erscheint  — ,  so  wird  in  bezug  auf  den  durch 
Betrug  hervorgerufenen  Vertrag  ein  Doppeltes  eintreten  müssen. 
Er  wird  gültig  und  ungültig  zugleich  sein.  Den  am  Betrüge 
schuldlosen  Kontrahenten  gegenüber  wird  der  Vertrag  als  gültig 
erscheinen,  weil  ihnen  gegenüber  die  individuelle  Selbstbestim- 
mung des  Handelnden  nicht  aufgehoben  war,  in  bezug  auf 
sie  vielmehr  der  Vertrag  durch  des  Handelnden  eigene  und 
durch  sie  nicht  hervorgerufene  Willkür,  sein  Wissen  irreleiten 
zu  lassen,  gesetzt  erscheint.  In  bezug  auf  den  Betrüger  aber 
muß  er  ungültig  sein,  weil  ihm  gegenüber  die  Handlung  nach 
ihrer  im  Text  entwickelten  objektiven  Natur  zu  betrachten  ist 
als  eine  durch  die  Bestimmung  des  fremden  Selbst  gesetzte 
Bestimmtheit,  nicht  Selbstbestimmung  des  Individuums.  D.  h. 
also:  der  Betrug  wirkt  nur  in  personam,  nicht  in  rem.  Man 
kann  dies  in  einer  später  klarer  werdenden  Analogie  mit  einer 
nachfolgenden  Erörterung  auch  so  ausdrücken :  Der  bei  dem 
Betrug  obwaltende  Irrtum  wird  dem  Betrüger  gegenüber  zu  einem 

173 


werden.  Wir  sagen :  zur  Zeit  der  hervorgerufenen 
Handlung,  nicht :  zur  Zeit  des  verübten  dolus.  Denn 
beim  dolus  ist  sehr  gut  denkbar,  daß  er  selbst  und  die 
Handlung,  die  er  zur  Folge  hat,  zeitlich  auseinander- 


unverschuldeten, dem  dritten  schuldlosen  Kontrahenten  gegen- 
über aber  zu  dem  verhältnismäßig  verschuldeten  sich  haben  irre- 
führen zu  lassen.  —  Allein  diese  negative  Selbstbestimmung 
gewährt  doch  nur  den  Schein  einer  wirklichen  Selbstbestim- 
mung, oder  richtiger,  wie  sich  schon  aus  genauer  Betrachtung  des 
Gesagten  überall  ergibt,  diese  Selbstbestimmung  ist  keine  reale, 
sondern  nur  eine  relative.  Nur  im  Vergleich  seines  Verhält- 
nisses zum  Betrüger  selbst  mit  seinem  Verhältnis  zum 
schuldlosen  Kontrahenten  ist  sie  bei  dem  Betrogenen,  diesem 
schuldlosen  Kontrahenten  gegenüber,  vorhanden.  Denn  bloß  für 
sich  betrachtet,  erscheint  die  Handlung  nur  als  nicht  selbst- 
bestimmt und  also  nicht  gewollt;  nur  in  der  relativen  verglei- 
chenden Inbezugsetzung  ihrer  auf  die  Person  des  Betrügers  im 
Verhältnis  mit  ihrer  Beziehung  auf  die  Person  des  schuldlosen 
Kontrahenten  und  seiner  gar  nicht  vorhandenen  Einwirkung,  also 
nur  durch  diese  Relativität  und  Unterscheidung,  wird 
die  Handlung  letzterem  gegenüber  zu  einer  relativ  selbstbe- 
stimmten. Fällt  aber  der  Schwerpunkt  dieser  persönlichen  Rela- 
tivität, indem  der  Betrüger  rechtlich  nicht  mehr  in  Betracht 
gezogen  werden  kann,  überhaupt  fort,  d.  h.  wird  der  Betrüger 
zahlungsunfähig,  so  muß  der  für  sich  seiende  objektive 
Charakter  der  Handlung  wieder  zum  Vorschein  kommen,  und 
das  in  diesem  Falle  von  dem  Eingreifen  der  materiellen  Rechts- 
idee (aequitas)  in  den  Rechtsformalismus  (jus)  gegebene  Rechts- 
mittel der  Restitution  muß  dann,  auch  dem  schuldlosen  Kon- 
trahenten gegenüber  wirkend,  auch  beim  dolus  eine  actio  in  rem 
erzeugen  (L.   3,  §   1,  de  eo  per  quem  factum  etc.,  2,  10). 

Beim  Zwang  ist,  wie  auf  der  Hand  liegt,  für  alle  diese 
Unterscheidungen  gar  kein  Raum  vorhanden.  Denn  die  Dro- 
hung, d.  h.  die  angedrohte  Gefahr,  konnte  das  Individuum 
nicht  wie  die  Täuschung  durch  einen  Willensakt  abwehren. 
Wo  dies  der  Fall  wäre,  würde  nur  unerhebliche  Drohung  oder 
Drohung  einer  ungegründeten   Gefahr,   also  gar  kein  gesetz- 

174 


fallen,  so  daß  in  der  Zwischenzeit  ein  Gesetzwechsel 
stattgefunden  haben  kann.  Daß  es  aber  dann  nur  auf  die 
Gesetze  zur  Zeit  der  Handlung  ankommen  kann1),  ergibt 


licher  Zwang  vorliegen.  Der  Zwang  also  wirkt  deshalb  stets 
in  rem  (L.  14,  §  3,  quod  metus  causa,  4,  2;  L.  4,  §  33. 
de  doli  mali  et  met.  exe.  44,  4 ;  L.  3,  5  Cod.  de  his  quae 
vi  metusve  causa,  2,  20),  nicht  um  seiner  größeren  Gefähr- 
lichkeit willen,  wie  Savigny  (S.  117)  meint,  die  wegen  der 
größeren  Häufigkeit  und  Leichtigkeit  des  Betruges  sehr  proble- 
matisch erscheinen  kann  und  womit  sich  auch  die  gerade  der 
actio  doli  zugeschriebene  Entehrung  schlecht  verträgt,  sondern 
um  des  angegebenen  dialektischen  Unterschiedes  willen,  der 
nur  beim   Betrug  und  nicht  beim  Zwang  platzgreift. 

*)  Hieran  wird  niemand  zweifeln  wollen,  und  dennoch  würde 
dies  schwerlich  möglich  sein  können  nach  Savignys  Theorie 
vom  dolus,  nach  welcher  die  gegen  dolus  und  Zwang  gegebenen 
Rechtsmittel  nicht  dem  Dasein  der  Willensfreiheit  entfließen, 
sondern  nur  ein  positiver  äußerer  Rechtsschutz  gegen  Unsitt- 
lichkeit  sind.  Wäre  dies  der  Fall,  so  könnten  die  späteren  Ge- 
setze zur  Zeit  der  durch  dolus  bewirkten  Handlung,  namentlich 
wenn  sie  mehr  oder  wirksamere  Mittel  zur  Aufhebung  der 
Handlung  an  die  Hand  geben,  als  die  Gesetze  zur  Zeit  des 
verübten  dolus,  auch  dem  Verüber  des  dolus  selbst  gegenüber 
nicht  in  Anwendung  kommen,  weil  sie  dann  nach  Art  der  Selbst- 
bestimmungen aufzufassen  wären  und  also  nicht  rückwirken 
könnten,  der  Verüber  des  dolus  auch  behaupten  könnte,  daß 
seiner,  wenn  auch  dolosen  Handlung  die  Wirksamkeit  ver- 
bleiben müßte,  deren  sie  nach  den  Gesetzen  zur  Zeit  derselben 
fähig  war. 

Und  umgekehrt  könnten  dann  infolge  der  bisherigen  Ansicht, 
nach  welcher  die  Obligationen  aus  Delikten  stets  nach  den  zur 
Zeit  des  Deliktes  geltenden  Gesetzen  zu  beurteilen  sind,  die  in 
der  Zwischenzeit  zwischen  dem  dolus  und  der  infolge  desselben 
eingetretenen  Handlung  erlassenen,  den  Schutz  gegen  dolus  ver- 
mindernden Gesetze  gleichfalls  nicht  zur  Anwendung  kommen 
wegen  der  deliktartigen  Natur  des  dolus.  —  Können  gleichwohl 
nur  die  Gesetze  zur  Zeit  der  durch  den  dolus  erwirkten  Hand- 

175 


sich  daraus,  daß  erst  bei  der  Handlung  durch  die  von  der- 
selben verschieden  gedachte  wahrhafte  Willensaktion 
des  Betrogenen  ihm  die  Rechtsmittel  gegen  sein  äußeres 
unfreies  Tun  erworben  sind1). 


Iung,  nicht  die  Gesetze  zur  Zeit  des  dolus  platzgreifen,  so  ist 
das  eine  sehr  deutliche  praktische  Bestätigung,  daß  die  Un- 
gültigkeit nicht  Wirkung  eines  äußeren  positiven  Rechtsschutzes 
gegen  Unsittlichkeit,  sondern  durch  die  bei  der  Handlung  nicht 
vorhandene  Willensfreiheit  gesetzt  ist. 

x)  Erst  bei  der  obigen  Analyse  ist  nun  in  einer  wahrhaft 
konsequenten  und  befriedigenden  Weise  ersichtlich,  warum  auch 
die  Restitutionen  wegen  Zwang  und  Betrug  —  und  nicht  sie 
allein,  sondern  überhaupt  alle  Restitutionen  —  wahrhaft  er- 
worbene Rechte  bilden;  denn  alle  Restitutionen,  sowohl  auch 
noch  die  wegen  Irrtums,  Minderjährigkeit  und  Abwesenheit,  als 
auch  die  antiquierten  wegen  capitis  diminutio  und  wegen  alienatio 
judicii  mutandi  causa  facta  lösen  sich,  wie  von  der  Restitution 
wegen  Irrtums  aus  der  nachfolgenden  Betrachtung  desselben 
sich  ergibt,  von  den  anderen  aber  hier  zu  zeigen  nicht  der  Ort 
ist  —  übrigens  auch  nunmehr  von  selbst  auf  der  Hand  liegt 
— ,  in  die  Grundidee  der  individuellen  Willensfrei- 
heit auf,  die  weder  durch  die  eigene,  noch  durch  die  fremde 
ungewollte  Handlung  angetastet  werden  könne.  Wird  dies  nicht 
so  aufgefaßt,  so  ist  in  der  Tat  kein  wirklich  durchgreifender 
Grund  vorhanden  gegen  die  oft  geäußerte  Ansicht,  daß  die 
Restitution  bloße  Gnadensache  sei  und  es  ein  auf  sie  zu- 
stehendes Recht  nicht  gebe;  vgl.  Burchardi,  Lehre  von  der 
Wiedereinsetzung  in  den  vorigen  Stand,  S.  7,  20,  40,  41  (Göt- 
tingen 1831),  und  Meyer,  Principes  sur  les  questions  transitoires, 
S.  183  (Amsterdam  1813).  Es  ist  daher  nur  konsequent, 
wenn  Meyer,  weil  das  Recht  auf  Restitution  nicht  dem  Kon- 
trakt selbst  inhärent  sei,  und  ebenso  Weber  (Rückan- 
wendung positiver  Gesetze,  1811,  S.  54)  ein  die  Restitutionen 
abschaffendes  Gesetz  auch  auf  die  älteren  Kontrakte  einwirken 
läßt.  Wenn  Savigny  (VIII,  443  fg.)  die  Statthaftigkeit  hiervon 
leugnet  und  die  Restitution  für  ein  „wahres,  erworbenes  Recht" 
erklärt,  das  von  dem  Recht  auf  eine  Klage  oder  Einrede  ,,nur 

176 


d)  Seine  wirkliche  Aufklärung  empfängt 
dies  Gebiet  aber  erst,  wenn  nach  der  Gültigkeit 
des  einfachen  Irrtums,  sowie  danach  gefragt  wird, 


wenig  in  der  Form  verschieden  sei,"  so  ist  dies  zwar  richtig, 
steht  aber  innerlich  in  einem  nicht  lösbaren  Widerspruch 
mit  seiner  Auffassung  von  Zwang,  Betrug  und  Irrtum  als  bloß 
äußerer,  in  der  Willensfreiheit  nicht  wurzelnder,  positiver  Rechts- 
wohltaten, ohne  daß  seine  Ausführung  von  der  Restitution  als 
eines  objektiven  Gnadenaktes  (VII,  117)  hierin  etwas  ändert. 
Denn  wie  Savigny  hier  selbst  sagt,  soll  auch  bei  Verbrechern 
die  „rechte  Begnadigung"  eine  solche  objektive  sein,  die  nur 
dann  eintritt,  „wo  von  einem  höheren  Standpunkt  aus  die  strenge 
Anwendung  des  Gesetzes  als  Unrecht  erscheinen  würde,  mit 
Rücksicht  auf  die  besonderen  Umstände  des  einzelnen  Falles." 
Und  doch  würde  es  wohl  niemand  einfallen,  wenn  heute  die 
Gnadenbefugnis  abgeschafft  würde,  zu  behaupten,  daß  in  bezug 
auf  die  schon  begangenen  (noch  nicht  begnadigten)  Verbrechen 
den  Täteni  ein  Recht  auf  die  Fortdauer  jener  Befugnis  zu- 
stände. Savignys  richtiges  juristisches  Gefühl  steht  also  hier 
mit  seiner  Theorie  im  offenen  Widerspruch  und  zeigt  nur,  daß 
in  derselben  die  wahre  innerliche  Wurzel  der  Restitutionen 
wegen  Zwang,  Betrug  und  Irrtum  usw.  verkannt  wird.  — ■  Wenn 
Meyer  (a.  a.  O.,  S.  185)  die  sofortige  Einwirkung  eines  die 
Restitutionen  überhaupt  abschaffenden  Gesetzes  auch  damit  be- 
gründet, daß  dann  ja  gar  keine  Prozedurform  für  dieselben  ge- 
setzlich gegeben  sei,  so  würde  Savigny  aus  seiner  Theorie  über 
che  Rückwirkung  heraus  dies  um  so  weniger  widerlegen  können, 
als  vielmehr  nach  derselben  in  diesem  Falle  ja  die  Aufhebung 
eines  ganzen  Rechtsinstitutes  vorläge  und  somit  allerdings 
nach  ihm  die  aufhebenden  Gesetze  rückwirken  müßten.  Er 
befindet  sich  also  auch  hierbei,  durch  sein  richtigeres  Gefühl, 
wie  im  Widerspruch  mit  seiner  Theorie  vom  Zwang,  Betrug 
und  den  Restitutionen,  so  auch  im  Widerspruch  mit  seiner  Theorie 
von  der  Rückwirkung. 

Wenn  Weber  endlich  sogar  a.  a.  O.  ein  die  Restitution  ein- 
führendes oder  erweiterndes  Gesetz  auf  frühere  Verträge  an- 
wenden will,  so  erledigt  sich  dies  schon  durch  die  einfache  Be- 

12  Lassalle,  Ges.  Schriften.  Band  IX.  177 


wie  nach  dem  Vorigen  dennoch  Willensfreiheit  bei  dem- 
selben vorhanden  sein  könne. 

Wenn  die  Hervorbringung  einer  falschen  Vo  r  s  t  e  1  - 
1  u  n  g  über  die  den  Willen  bestimmende  Tatsache  im  Han- 
delnden die  Willensfreiheit  ausschließt,  warum  schließt  die 
unabhängig  von  einem  Dritten  in  ihm  vorhandene  falsche 
Vorstellung  seine  Willensfreiheit  nicht  aus  ?  Es  muß  hier 
zuvörderst  an  den  oben  (S.  169)  gegebenen  Begriff  er- 
innert werden  :  Willensfreiheit  ist  individuelle  Selbst- 
bestimmung. Jede  falsche  Vo  r  s  t  e  1 1  u  n  g  also, 
wenn  sie  die  eigene  Tätigkeit  des  Subjektes  ist,  er- 
scheint somit  als  ein  Akt  seiner  Freiheit,  und  zwar  gerade 
als  die  Gewähr  seiner  unbeschränkten  willkürlichen  Frei- 
heit, nicht  als  die  Aufhebung  derselben. 

Denn  wir  befinden  uns  hier  ja  in  dem  Gebiete  der 
formellen  Freiheit  oder  der  Privatwillkür,  wo 
auch  der  willkürliche  Wille  seine  volle  Gültigkeit  hat. 
Das  Subjekt  ist  hier  nicht  gezwungen,  das  Wahre 
zu  wissen  und  zu  wollen.  Es  hat  auch  das  formell- will- 
kürliche Recht  sich  um  die  Wahrheit  n  i  c  h  t  zu  bekümmern, 
die  Objektivität  nicht  zu  untersuchen  und  sein  Bewußt- 
sein mit  ihr  nicht  in  Übereinstimmung  zu  setzen.  Diese 
Sorglosigkeit  ist  also  eine  ihm  zustehende  Selbstbe- 
stimmung des  Individuums,  und  deshalb  ist  die  falsche 
Vorstellung,  die  es  selbst  sich  bildet,  weil  eigene  Tätig- 
keit seines  Geistes,  auch  als  seine  individuelle  Selbstbe- 
stimmung und  somit  als  Dasein  seines  freien  Willens  auf- 
zufassen. Hiermit  ist  also  nachgewiesen,  wie,  wenn  ein 
anderes  Subjekt  rechtswidrig  bestimmend  in  den  Willen 
des  Individuums  eingreift  (Betrug  und  Zwang),  von  dem 

trachtung,  daß  dann  seitens  des  anderen  Kontrahenten  der  Fall 
vorläge,  daß  spätere  Gesetze  auf  seine  frühere  individuelle 
Handlung  verändernd  einwirken. 

178 


Dasein  eines  freien  Willens  des  letzteren  nicht  mehr  die 
Rede  sein  kann,  während  die  selbst  produzierte  falsche 
Vorstellung  vielmehr  ein  Dasein  individueller  Selbstbe- 
stimmung ist  und  daher  als  solche  den  freien  Willen  noch 
nicht  aufhebt. 

Vergleichen  wir  die  bei  einer  Willenshandlung  konkur- 
rierende falsche  Vorstellung  mit  dem  oben  (B.  a.)  be- 
trachteten Falle  des  mangelnden  Willens,  so  ist  zunächst 
der  Unterschied  folgender :  dort  ist  der  obwaltende  Irr- 
tum derart,  daß  der  Inhalt  des  Wo  1 1  e  n  s  selbst  und  der 
Inhalt  des  Tuns  auseinanderfallen  und  andere  gegen- 
einander sind,  wonach  also  eine  ungewollte  äußere 
Handlung  vorliegt,  die  um  des  nicht  vorhandenen  Willens 
halber  kein  gültiges  Dasein  hat,  wie  z.  B.  wenn  ich  eine 
andere  Person  heiraten  wollte  und  eine  andere  geheiratet 
habe,  oder  wenn  ich  Wein  kaufen  wollte  und  Essig  ge- 
kauft habe  1). 

Anders  wenn  ich  einer  Person  etwas  schenkte,  urn  sie 
für  irrigerweise  vorausgesetzte  Dienste,  die  sie  mir  in  der 
Tat  nicht  erwies,  zu  belohnen  2),  oder  wenn  ich  eine  Sache 
um  ihres  irrigerweise  von  mir  angenommenen  Wertes  willen 
kaufte  und  sie  diesen  Wert  nicht  hat ;  denn  hier  wollte 
ich  eine  bestimmte  Person  beschenken  und  eine  bestimmte 
Sache  kaufen,  und  habe  diese  bestimmte  Person  be- 
schenkt und  diese  bestimmte  Sache  gekauft.  Wollen  und 
Tun  waren  hier  also  identisch,  und  nur  der  Beweggrund, 
der  zum  Wollen  antrieb,  war  ein  irriger. 

Hieraus  hat  man  also  die  Regel  entwickelt,  nur  auf 
den  Inhalt  des  Willens  und  ob  er  mit  dem  Tun  identisch 
sei,  nicht  auf  den  Beweggrund  des  Willens  käme 
es  an. 

1)  L.  9.  de  contr.  emt.  (18,  1). 

2)  L.  65,  §  2,  de  cond.  indeb.   (12,  6). 

12*  179 


Dies  ist  zwar,  wie  wir  soeben  sahen,  von  einer  ge- 
wissen Richtigkeit.  Allein  es  darf  hierbei  nicht  stehen 
geblieben  werden.  Es  muß  vielmehr  sofort  weiter  ge- 
gangen und  gesagt  werden:  die  Beweggründe  können  zu 
dem  Inhalt  des  Willens  in  einem  solchen  Verhältnisse 
stehen,  daß  sie  ihn  decken  und  mit  ihm  identisch 
sind  —  in  welchem  Falle  dann  bei  einem  Irrtum  in  den 
Beweggründen  zu  einer  Handlung  ein  mangelnder  Wille 
zur  Handlung  selbst  vorliegt  — ;  sie  können  aber  auch 
als  ihn  nicht  deckend  und  mit  ihm  nicht  identisch  er- 
scheinen. Mit  anderen  Worten:  die  Beweggründe  —  und 
ihre  die  Entschließung  entscheidende  Einwirkung  —  ste- 
hen in  einem  rein  quantitativen  Verhältnis 
zum  Willen  selbst. 

Hieraus  entspringt  erstens,  daß,  was  ein  Irrtum  in  den 
Beweggründen  ist,  auch  als  ein  Irrtum  in  dem  Inhalt  des 
Willens  —  in  der  vollzogenen  Handlung  —  sich  dar- 
stellen kann,  sowie  umgekehrt  auch  was  als  ein  Irrtum 
im  Inhalt  des  Willens  ausgedrückt  werden  kann,  wieder 
nur  als  ein  bloßer  Irrtum  in  den  Beweggründen  erscheint, 
oder  daß  der  unechte  Irrtum  (wie  Savigny  den  error 
in  persona,  in  corpore  und  in  substantia  zusammenfaßt) 
und  der  echte  Irrtum,  soweit  ihn  nämlich  das  Gesetz  als 
wirksam  anerkennt,  eine  durchaus  ineinan- 
der übergehende  Natur  haben. 

Dies  zeigt  sich  z.  B.,  um  zuvörderst  den  echten  Irrtum 
zu  betrachten,  bei  den  vorausgesetzten  Eigenschaften, 
um  derentwillen  ich  einen  Gegenstand  kaufe.  Außer  in  sehr 
wenigen  Fällen  ist  im  Römischen  Recht  der  Irrtum  in 
den  Eigenschaften  wirkungslos,  weil  er  als  bloßer  Irrtum 
im  Beweggrund  gedacht  wird.  Kaufe  ich  aber  eine  Sklavin 
statt  eines  Sklaven,  so  soll  (auch  ohne  Verschulden  des 
Verkäufers)  der  Irrtum  wirksam,  und  zwar  ein  echter, 

180 


wesentlicher  Iwtum  sein1).  Der  Grund  soll,  wie  Savigny 
mit  Recht  angibt,  darin  liegen,  daß,  weil  Sklavinnen  nur 
zur  häuslichen  Arbeit,  Sklaven  aber  zur  Feldarbeit  und 
Fabriken  benutzt  werden  konnten,  hier  nicht  ein  bloßer 
Irrtum  im  Beweggrund,  sondern  durch  die  ganz  verschie- 
dene Benutzungsart  ein  Irrtum  in  der  gekauften  Sache 
selbst  vorliegen  soll2).  Es  läßt  sich  in  der  Tat  sagen, 
daß  ich  hier  eine  ganz  andere  Nutzbarkeit  gekauft 
habe,  als  ich  kaufen  wollte.  Allein  einerseits  stellt  die 
Benutzungsart  doch  wiederum  nur  einen  Beweggrund  des 
Kaufens  dar,  und  andererseits,  wenn  ich  umgeschlagenen 
Wein  statt  guten  kaufe,  so  liegt  kein  wirksamer  Irrtum 
vor3),  und  doch  ist  der  Unterschied  in  der  Benutzungsart 
und  somit  in  der  Sache  hier,  da  umgeschlagener  Wein 
höchstens  zum  Kochen  verbrauchbar  oder  gar  nicht  ver- 
brauchbar sein  wird,  noch  weit  größer  als  bei  Sklaven  und 
Sklavinnen. 

Wenn  Sejus  mir  ein  Darlehen  gibt,  von  dem  ich  glaube, 
daß  es  von  Gajus  kommt,  so  entsteht  keine  Darlehens- 
obligation (hoc  enim  nisi  inter  consentientes  fieri  non  po- 
test)4).  Hierin  wird  vielmehr  mit  Recht  ein  Irrtum  in 
der  Person,  d.  h.  ein  unechter  Irrtum,  ein  mangelnder  Wille 
erblickt  (siehe  Savigny,  III,  270).  In  der  Tat  wollte 
ich  mit  dieser  Person  gar  nicht  kontrahieren.  Das  Geld 
aber  kann  Sejus  doch  nur  mit  einer  für  den  Irrtum  im 
Beweggrund  gegebenen  Klage,  mit  einer  condictio  ob 
causam  datorum  wiederfordern  (der  Iuventiana  condictio). 
In  der  Tat  hat  Sejus  nur  einen  Irrtum  im  Beweggrund  be- 
gangen und  nur  um  dessentwillen  kann  er  überhaupt  zu- 

!)  L.   11,  §  1,  de  contr.  emt.  (18,  1). 

2)  Savigny,  a.   a.  O.,   III,  282. 

3)  L.  9.  §  2,  de  contr.  emt.   (18,  1). 

4)  L.   32,  de  reb.  cred.   (12,   1). 

181 


rückfordern  ;  denn  er  kann  das  Geld,  dessen  er  sich  frei- 
willig entäußert  hat,  nur  zurückfordern,  weil  bei  dieser 
Entäußerung  sein  Beweggrund  nicht  der  war,  mir  zu 
schenken,  sondern  der,  mir  zu  leihen. 

•  Die  Fälle,  in  welchen  Anfechtungsklagen  wegen  eines 
irrigen  Beweggrundes  gegen  ein  Rechtsgeschäft  gegeben 
sind  ■ —  die  ädilizischen  Klagen  und  die  Kondiktionen 
— ,  sollen  als  rein  positive  Ausnahmen  erscheinen1). 
Die  ädilizischen  Edikte  verfügen,  daß  der  Käufer  von 
Sklaven  und  Vieh  bei  gewissen,  nicht  in  die  Augen  fallen- 
den Fehlern  (vitium  und  morbus)  auch  gegen  den  ven- 
ditor  ignorans  den  Kauf  aufheben  könne,  und  dies  wurde 
später  auf  alle  Arten  von  Sachen,  bewegliche  wie  unbe- 
wegliche, ausgedehnt.  So  kann  also  z.  B.  ein  Sklave,  dessen 
Gewohnheit  es  ist,  seinem  Herrn  zu  entfliehen  oder  auch 
nur  umherzulaufen  (fugitivus  errove),  oder  ein  krankes 
Tier  von  dem  Käufer  zurückgegeben  werden.  Aber  es  liegt 
auf  der  Hand,  daß  dieser  Irrtum  in  den  Beweggründen 
des  Kaufes  vielmehr  ein  Irrtum  in  den  Eigenschaften 
des  gekauften  Gegenstandes,  und  zwar  wiederum  ein  Irr- 
tum in  der  gekauften  Nutzbarkeit  ist,  so  daß  er  also, 
sollte  er  einmal  aufhebende  Wirkung  haben,  ebenso  gut 
wie  der  Irrtum  beim  Ankauf  einer  Sklavin  statt  eines 
Sklaven  als  ein  wesentlicher  Irrtum  (error  in  sub- 
stantia)  hätte  behandelt  werden  können.  Nicht  also  die 
Grundidee  der  ädilizischen  Edikte  selbst,  sondern  nur 
die  zwei  Arten  von  Sachen,  auf  welche  sie  ursprünglich 
ihre  Verfügung  einschränken,  und  die  besondere  Form, 
in  der  sie  Abhilfe  gewähren,  bilden  das  Positive 
daran2). 

!)  Savigny,  a.   a.   O.,  III.  359. 

2)  Dies  zeigt  sich  ja  auch  ganz  deutlich  an  dem  bereits  an- 
geführten   Umstände,    daß    die    Bestimmungen   der    ädilizischen 

182 


Wenn  ich  eine  Summe  zahle,  weil  ich  sie  schuldig  zu 
sein  glaubte,  wenn  ich  eine  dos  vorausgezahlt  habe  und  die 
Ehe  dann  nicht  zustande  kommt1),  wenn  ich  wegen  ab- 
handen gekommener  Sachen  dem   Berechtigten  eine  Ent- 


Edikte durch  diie  römische  Jurisprudenz  später  auf  die  zivil- 
rechllichen  Kontraktsklagen  und  auf  alle  Arten  von  Gegen- 
ständen übertragen  wurden.  Und  wenn  Savigny  (S.  359)  in 
der  Unzulässigkeit  der  Kontraktsklage  für  die  Fälle  der  ädi- 
lizischen  Klagen  einen  Beweis  der  bloßen  Positivität  derselben 
sieht,  so  muß  vielmehr  erwidert  werden,  daß  diese  Unzulässig- 
keit nicht  einmal  überall  statthatte.  Denn  in  der  L.  13,  §  1, 
de  actionibus  emti  et  vend.  (19,  1),  heißt  es  ausdrücklich: 
Item  qui  furem  vendidit,  aut  fugitivum,  si  quidem  sciens  prae- 
stare  debet,  quanti  emtoris  interfuit  non  decipi,  si  quidem  igno- 
rans  fecit,  id  tantum  ex  emti  actione  praestiturum,  quanto  mi- 
noris  essem  emturus,  si  id  ita  esse  sciissem.  Diese  Stelle  ge- 
währt also  ihrerseits  einen  starken  Beweis  für  die  von  uns 
entwickelte  Ansicht;  vgl.  L.  11,  §  6  und  7,  de  act.  emt. 
Und  einen  ebenso  starken  bietet  die  L.  19,  locat.  cond.  (19,  2) 
dar,  wo  Ulpian  sagt  (§  1):  ,,Si  quis  dolia  vitiosa  ignanis 
locaverit,  deinde  vinum  effluxerit,  tenebitur  in  id,  quod  interest, 
nee  ignorantia  ejus  erit  excusata;  et  ita  Cassius  scripsit.  Aliter 
atque  si  saltum  paseuum  locasti,  in  quo  herba  mala  nascebatur, 
hie  enim  si  pecora  vel  demortua  sunt  vel  etiam  deteriora  facta, 
quod  interest,  praestabitur,  si  seiisti;  si  ignorasti,  pensionem  non 
petes;  et  ita  Senüo  Labeoni,  Sabino  placuit."  Am  deutlichsten 
wird  hier  Savigny  von  dem  zweiten  Falle  widerlegt,  für  wel- 
chen gerade  sich  Ulpian  auf  die  Ansicht  der  alten  Juristen 
beruft.  Bei  der  Unwissenheit  des  Vermieters  soll  hier,  im 
Gegensatz  zu  dem  ersten  Beispiel,  kein  Ersatz  des  eingetretenen 
Schadens  von  ihm  zu  leisten  sein.  Der  Fall  wird  also  nicht  ein- 
mal als  culpa  behandelt.  Allein  den  Mietzins  soll  er  doch 
nicht  fordern  können,  und  zwar  soll  ihm  dieser  durch  bloße 
exceptio  in  der  gewöhnlichen  Kontraktsklage  wegen 
Irrtums  über  die  Brauchbarkeit  des  vermieteten  Gegenstandes 
trotz   des    Kontraktes   verweigert  werden. 

l)  L-  6,  7,  9,  de  condictione  causa  data  c.  non  sec.  (12,  4). 

183 


Schädigung  zahle  und  die  Sache  dann  wieder  in  seinen 
Besitz  gelangt1),  so  habe  ich  die  condictio  indebiti,  die 
condictio  ob  causam  datorum,  die  condictio  sine  causa. 
In  der  Tat  ist  in  allen  diesen  Fällen  das  Verhältnis  des 
Motivs  zu  der  Handlung  ein  solches,  daß  die  Hand- 
lung nur  die  einfache  Ausführung  des  Motives  ist 
und  durch  den  Irrtum  in  demselben  die  Art  der  Handlung 
sich  ändert.  Ich  wollte  zahlen,  ich  wollte  eine  dos  kon- 
stituieren, ich  wollte  entschädigen  —  und  ich  habe  ge- 
schenkt. Nicht  dies  ist  der  Fall  bei  dem  schon  oben 
angeführten  Beispiel,  wenn  ich  wegen  vorausgesetzter 
Dienste  jemanden  lohnen  wollte  und  diese  Dienste  auf 
einem  Irrtum  von  mir  beruhten.  Denn  belohnen  heißt 
rechtlich  gleichfalls  schenken,  nur  schenken  aus  einem 
bestimmten  Grunde,  und  indem  ich  geschenkt  habe,  ist  die 
rechtliche  Art  der  Handlung  dieselbe  geblieben2). 

Es  geht  also  auch  bei  den  Kondiktionen  der  Beweggrund 
dazu  über,  die  gesamte  Natur  der  Handlung  zu 
erschöpfen  und  durch  seinen  Irrtum  die  geschehene 
Handlung  zu  einer  ungewollten  zu  machen3). 


*)  L.  2,  de  condict.  sine  causa  (12,  7). 

2)  Irrtümlich  würde  man  versuchen,  eine  Unterschiedenheit 
der  Art  in  dieser  Handlung  etwa  durch  folgende  Fassung  her- 
zustellen .  Ich  habe  belohnen  wollen  —  und  habe  verschleudert. 
Denn  wie  belohnen  rechtlich  nur  heißt :  schenken  mit  Grund, 
so  heißt  verschleudern  nur  schenken  ohne  Grund.  Durch  diese 
Ausdrucksweise  wären  also  nur  die  Worte,  nicht  die  Sache, 
geändert. 

3)  Es  ist  hier  der  Ort,  nachzuweisen,  warum  der  Irrtum 
beim  Kaufen  oder  Mieten  über  den  Wert  (Preis)  einer  Sache 
niemals  den  Kauf  ungültig  machen  kann.  Es  wird  sich  dabei 
zeigen,  daß  der  Irrtum  über  den  Wert  auch  nicht  einmal 
einen  Irrtum  im  Beweggrund  darstellt.  Hiermit  wird  aber 
folglich  dargetan  sein,  daß  man  sich  der  Gleichgültigkeit,  mit 

184 


Die  Frage  also,  ob  die  Beweggründe  den  Inhalt  des 
Willens  erschöpfen  und,  seine  Entschließung  bestimmend, 


welcher  alle  Gesetzgebungen  höchst  vernünftigerweise  den  Irr- 
tum über  den  Wert  der  Sache  behandeln,  durchaus  nicht,  wie 
Savigny  überall  tut  (vgl.  z.  B.  III,  345,  355),  als  eines  gegen 
die  Bedeutung  des  Irrtums  im  Beweggrund  sprechenden  Argu- 
mentes bedienen  kann. 

Der  Grund,  weshalb  die  Gesetzgebungen  den  Irrtum  im 
Wert  (Preis)  als  einflußlos  ansehen  und  ansehen  müssen  — 
obwohl  der  Wert  zunächst  doch  auch  eine  Eigenschaft  der 
Sache  und  besonders  nach  heutigen  Begriffen  eine  sehr  wesent- 
liche zu  sein  scheint  — ,  beruht  auf  einem  ökonomischen 
Gegensatz  und  Gedankengesetz,  und  wahrscheinlich  deshalb 
haben  ihn  die  Juristen  nie  zu  begreifen  vermocht,  obwohl  das 
dunkle  Gefühl  der  Völker  ihm  stets  seine  gehörige  Wirksam- 
keit eingeräumt  hat.  Wer  kaufen  will,  hat  den  Tauschwert 
(Geld)  in  seiner  Hand,  und  dessen  will  er  sich  gerade  ent- 
äußern, um  dafür  einen  bestimmten  Nutzwert  zu  be- 
kommen (eine  reale  Sache,  Holz,  Fleisch,  Werkzeug  usw.). 
Wenn  also  der  Käufer  nur  die  bestimmte  Art  von  Nutzwert 
(Brauchbarkeit)  bekommt,  die  er  wollte,  so  ist  der  Gedanke 
der  Handlung  erschöpft,  der  notwendige  Beweggrund  des  Käu- 
fers vollständig  ausgeführt.  Wie  sich  dieser  reale  Nutzwert 
verhalten  würde,  wenn  man  ihn  nicht  benutzt,  sondern  wieder 
einmal  auf  sein  Gegenteil,  den  Tauschwert,  beziehen 
wollte  (verkaufen),  das  ist  eine  ganz  außerhalb  dieser  Ope- 
ration liegende  und  ihr  ganz  fremde  Frage,  die  selbst  durch 
die  eigene  Natur  der  Handlung  ausgeschlossen  erscheint; 
denn  der  Käufer  zeigte  in  dieser,  er  wolle  eben  nicht  Tausch- 
wert haben  —  diesen  gab  er  vielmehr  auf — ,  sondern  Nutz- 
wert, dessen  Dasein  durch  sein  Verhältnis  zum  Tauschwert 
nicht  im  geringsten  berührt  wird.  —  Dieser  Grundsatz  kann  hart 
und  drückend  erscheinen,  und  darum  vielleicht  zu  weichen  an- 
fangen in  einer  Zeit,  wo  durch  die  Gestaltung  der  ökonomischen 
Zustände,  durch  die  Entwicklung  von  Handels-  und  Kredit- 
leben fast  alle  Dinge  entweder  wirklich  immer  und  immer 
wieder  aufs  neue  durch  ihre  Geldform  hindurchkreisen,  oder 
wo   wenigstens   die   Fähigkeit   derselben,    sich   mit   dieser  zu 

185 


sein  Dasein  selbst  in  sich  enthalten,  oder  die 
Frage  nach  dem  Verhältnis  der  Beweggründe  zum  Wollen 


vergleichen,  zu  ihrem  hauptsächlichsten  Dasein  geworden 
ist,  zu  einer  Zeit  also,  wo  die  Wichtigkeit  der  realen  Kör- 
perlichkeit der  Dinge  und  ihrer  Benutzbarkeit  fast  zu  einem 
Schatten  zu  verblassen  und  dagegen  der  Schatten,  die  Figur, 
welche  ein  Ding  bei  der  Beziehung  auf  ein  außerhalb  seiner 
liegendes  Medium  wirft  —  der  Tauschwert  —  zu  seinem 
Körper  zu  werden  anfängt;  aber  er  bleibt  darum  nicht  weniger 
streng  logisch  und  juristisch. 

Daß  dies  nun  der  wirkliche  Grund  ist,  beweist  sich  ferner 
auch  darin,  daß,  wenn  ich  einen  Gegenstand  kaufe,  dessen  Be- 
stimmung es  nicht  ist,  als  Nutzwert,  sondern  gerade  immer 
als  Tauschwert  zu  fungieren,  allerdings  unter  Umständen 
wegen  mangelnden  Tauschwertes  ein  für  wesentlich  erklärter 
Irrtum  vorliegt.  So  bei  den  edeln  Metallen,  wenn  ich  Blei 
kaufe  für  Silber  oder  Bronze  für  Gold  (L.  9,  §  2;  L.  10; 
L.  14;  L.  41,  §  1,  de  contr.  emt.  18,  1).  Die  edeln  Metalle 
haben  eben  die  Bestimmung,  daß  sie  nicht  als  reale  Nutz- 
werte, sondern  stets  nur  als  Träger  von  Tauschwert 
in  Betracht  kommen.  Dies  ist  aber  nicht  nur  der  Fall,  wenn 
ich  Silber  und  Gold  in  Barren  kaufe,  welche  Handlung  keinen 
anderen  Zweck  haben  kann,  als  diese  Metalle  wieder  gegen 
andere  Gegenstände  umzusetzen  oder  für  späteren  Umsatz  auf- 
zuspeichern —  wobei  also  stets  ihr  Tauschwert  es  ist,  der 
die  Absicht  und  den  Beweggrund  meiner  Handlung  ausmacht 
— ,  sondern  ebenso  wenn  ich  goldene  und  silberne  Gerät- 
schaften kaufe.  Denn  diese  sind  zur  Pracht  bestimmt, 
und  Pracht  ist  wieder  nur :  Schaustellung  von  müßig 
liegendem  Tauschwert,  so  daß  ohne  diesen  auch  der 
Gebrauch  zur  Pracht  nicht  möglich  ist.  —  Diese  Bestim- 
mung über  die  edeln  Metalle  stellt  also  gleichfalls  nicht  eine 
Ausnahme,  sondern  eine  konsequente  Fortführung  des  Gedan- 
kens dar. 

Bin  ich  aber  beim  Ankauf  einer  Sache  in  ihrem  Nutz- 
wert durch  einen  heimlichen  Fehler  verkürzt,  so  ist  der  Kauf 
allerdings  ungültig,  und  dies  besorgen  eben  die  ädilizischen 
Klagen,   z.  B.    wenn   das   gekaufte   Grundstück   an   schädlichen 

186 


ist.  wie  wir  sahen,  eine  quantitative.    Und  weil  sie 
eine  quantitative  ist,  so  liegt  hier,  innerhalb  dieser  quan- 


Ausdünstungen  leidet  (Ulpian,  L.  49,  de  aed.  ed.  21,  1), 
oder  eine  vermietete  Weide  nur  schlechte  Kräuter  hervorbringt 
(Ulpian,  L.  19  locat.  cond.  19,  2,  und  L.  4  Cod.  de  aed. 
ed.),  oder  wenn  ein  Ochse  stößig  ist  (Paulus,  L.  43  de 
aed.  ed.),  oder  wenn  vermietete  Fässer  schadhaft  sind,  so 
daß  sie  den  Wein  durchlassen  (L.  19  loc.  cond.),  oder  mit 
einem  Worte,  wie  Ulpian  am  richtigsten  und  allgemeinsten 
den  Gedanken  der  Sache  heraushebt :  „proinde  si  quid  tale 
fuerit  vitii  seu  morbi  quod  usum  ministen umque  hominis  im- 
pediat,  id  dabit  redhibitioni  locum"  (L.  1,  §  8,  de  aed.  ed.); 
so  daß  hiernach  Savigny  sehr  unrecht  hat  zu  sagen  (III,  359), 
es  seien  die  Klagegründe  bei  den  ädilizischen  Klagen  „sehr 
eigentümlich  und  willkürlich  bestimmt."  Sie  entfließen  viel- 
mehr, wie  die  zuletzt  angeführten  kategorischen  Worte  Ul- 
pians  zeigen,  durchaus  dem  zum  Tauschwert  im  Gegensatz 
stehenden  Gedanken  des  Nutzwertes  der  Sache  und  er- 
schöpfen denselben.  Diesen  Worten  Ulpians  ist  auf  das 
richtigste  und  schärfste  der  Art.  1641  Code  civil  nachgebildet: 
,,Le  vendeur  est  tenu  de  la  garantie  ä  raison  des  defauts 
Caches  de  la  chose  vendue  qui  la  rendent  impropre  ä  l'usage 
auquel  on  la  destine,  ou  qui  diminuent  tellement  cet  usage 
que  l'acheteur  ne  l'aurait  pas  acquise  ou  n'en  aurait  donne 
qu'un  moindre  prix  s'il  les  avait  connus."  Es  zeigt  sich  jetzt 
also  als  ein  großer  und  folgenreicher  Irrtum  Savignys,  wenn 
derselbe  (III,  355)  als  Prinzip  aufstellt,  der  durch  Irrtum 
veranlaßte  Vertrag  bleibe  gleicherweise  gültig,  ,,der  Irrtum  möge 
nun  den  Wert  oder  die  Brauchbarkeit  des  Gegen- 
standes betreffen"  usw.,  und  hierauf  dann  die  ädilizischen 
Klagen  als  eine  bloße  positive  Ausnahme  von  dieser  Regel 
betrachtet.  Denn  es  ist  jetzt  evident,  erstens,  daß  man  über- 
haupt die  Gleichgültigkeit  des  Irrtums  im  Preise  gar  nicht 
einmal  als  Argument  für  die  Gleichgültigkeit  des  Irrtums  im 
Beweggrund  gebrauchen  kann,  weil  der  Irrtum  im  Wert  nach- 
gewiesenermaßen durchaus  keinen  Irrtum  auch  nur  im  Be- 
weggrund darstellt ;  zweitens,  daß  man  überhaupt  nicht  so  vom 
Irrtum   im   Wert   und   in   der   Brauchbarkeit   des  Gegenstandes 

187 


titativen  Grenze,  der  Punkt  vor,  wo  das  Positive  der 
verschiedenen    Gesetzgebungen   eingreifen   und    bestimmen 


als  von  parallelen  Dingen  sprechen  und  sie  identifizieren  kann, 
da  sie  vielmehr  Dinge  von  schlechthin  entgegengesetzter  Natur 
sind ;  drittens,  daß  nicht  das  Prinzip  gilt,  wie  Savigny  will, 
der  Irrtum  in  der  Brauchbarkeit  sei  gleichgültig  und  die  ädi- 
lizischen  Klagen  seien  eine  Ausnahme  hiervon,  sondern  umge- 
kehrt das  Prinzip  gilt:  der  Irrtum  in  der  Brauchbar- 
keit des  Gegenstandes  entkräftet  den  Vertrag  und  einer- 
seits die  hierherschlagenden  Fälle  des  wesentlichen  Irrtumes, 
andererseits  die  Einführung  und  doktrinelle  Ausbildung  der 
ädihzischen  Klagen  im  römischen  Recht  das  Dasein  und 
die   Entwicklung   dieses   Prinzipes   sind. 

Damit  diese  Demonstration  vollständig  sei,  müßte  noch  er- 
wiesen werden,  daß  die  Reszissionsklage  bei  verkauften  Grund- 
stücken wegen  Verletzung  im  Preis  ultra  dimidium  durchaus 
nicht  eine  Ungültigkeit  wegen  Irrtums  im  Preise  darstellt, 
in  welchem  Falle  sie  unsere  obige  Ausführung  widerlegen  würde. 
Dies  Gesetz  beruht  aber  vielmehr  auf  einem  sittlich-ökono- 
mischen Gedanken.  Daß  es  nicht  an  einen  Irrtum  im  Preise 
denkt,  geht  klar  daraus  hervor,  daß  dann  der  Käufer  wie  Ver- 
käufer des  Grundstückes  dies  Recht  haben  müßten.  Ja  dies 
müßte  hier  gerade  nur  für  den  Käufer  gelten,  da  der  Ver- 
käufer seine  Sache  kennen  muß.  Gleichwohl  hat  gerade  nur 
der  Verkäufer  dies  Recht;  dasselbe  beruht  also  gar  nicht 
auf  einem  unterstellten  Irrtum  im  Wert,  sondern  darauf,  daß 
der  Käufer  die  Not  eines  Verkäufers  nicht  unsittlich  mißbrau- 
chen soll.  Es  gehört  nach  seiner  Grundanschauung  zu  den 
Wuchergesetzen.  In  Not  aber  kann  nur  der  Verkäufer  sein, 
weil  dieser,  wie  groß  auch  sein  Reichtum  an  Nutzwerten 
sei,  sich  in  Verlegenheit  wegen  mangelnder  Zahl  mittel,  die 
nur  im  allgemeinen  Tauschwert  (Geld)  bestehen,  be- 
finden kann.  Bei  dem  Käufer  aber,  da  dieser  gerade  mit  dem 
allgemeinen  Tauschwert  bewaffnet  erscheint  und  diesen  viel- 
mehr gegen  eine  bestimmte  Nutzbarkeit,  deren  Erwerb  immer 
nur  Sache  der  völlig  freien  Wahl  ist,  hingeben  will,  ist  durch 
seine  Lage  selbst  die  Möglichkeit  der  Not  ausgeschlossen. 
(Es   muß    auch   noch   bemerkt   werden,   daß,   wenn   seitens   des 

188 


wird,  wo  und  wo  nicht  das  Quantitative  der  bloßen 


Käufers  der  Tauschwert  weder  als  Objekt  noch  Beweggrund 
der  Handlung  erscheint,  weil  er  sich  des  Tauschwertes  gerade 
entäußern  will,  um  dafür  Nutzwert  zu  erlangen,  dies  nicht 
seitens  des  Verkäufers  gilt.  Dieser  will  vielmehr  Nutzwert 
in  Tauschwert  verwandeln.  Als  sein  Beweggrund  und  Objekt 
seines  Willens  erscheint  also  allerdings  gerade  dies,  Tausch- 
wert an  sich  zu  bringen,  und  ist  er  hierin  —  im  Preise  — 
wesentlich  verkürzt,  so  erscheint  die  Rücksicht  hierauf  seiner- 
seits keineswegs  durch  die  logische  Natur  seiner  Handlung 
ausgeschlossen,  da  er  nicht  wie  der  Käufer  in  dem  verletzt 
ist,  dessen  er  sich  entäußern,  sondern  in  dem,  was  er  erwerben 
wollte.)  Wie  oft  daher  auch  Glossatoren  und  juristische  Schrift- 
steller, die  ökonomische  Natur  der  Sache  mißkennend,  das  be- 
rühmte Gesetz  des  Diocletian  und  Maximinian  (L.  2  Cod.  de 
resc.  vend.  4,  44)  auch  auf  den  Käufer  auszudehnen  versuchten, 
so  sind  doch  Gesetzgebungen  durch  ihren  praktischen  Takt 
stets  davor  bewahrt  worden,  und  es  ist  uns  nur  eine  einzige 
erinnerlich,  welche  jenes  Mißverständnis  des  römischen  Ge- 
setzes so  weit  trieb,  es  auch  auf  den  Käufer  ausdehnen  zu 
wollen,  das  piemontesische  Recht  vor  der  französischen 
Revolution  nämlich,  welches,  nach  mehrfachen  Entscheidungen 
des  Turiner  Senates,  durch  eine  Verordnung  von  1770  ausdrück- 
lich auch  dem  Käufer  dies  Recht  beilegte. 

Ganz  anders  aber  verhält  sich  dies  im  Allgemeinen  Land- 
recht. Denn  indem  hier  (T.  I,  Tit.  11,  §  58 — 69)  gerade  nur 
dem  Käufer  das  Anfechtungsrecht  wegen  laesio  enormis  ein- 
geräumt wird,  erscheint  dieselbe  hier  konsequent  aufgefaßt  als 
ausnahmsweise  Ungültigkeit  wegen  Irrtums  im  Beweg- 
gründe  (wie  dies  in  §  59  daselbst  auch  ausdrücklich  aus- 
gesprochen; es  wird  dieser  Zug  also  noch  der  bald  folgenden 
vergleichenden  Unterscheidung  hinzuzufügen  sein).  Und  wie  un- 
logisch und  unjuristisch  auch  an  und  für  sich  eine  solche  Auf- 
fassung erscheinen  mag,  so  ist  sie  doch  sehr  begreiflich  .in 
einer  Zeit,  wo  durch  die  Änderung  der  Kulturzustände  der 
Tauschwert  einer  Sache  zu  dem  alle  anderen  Eigenschaften 
absorbierenden  Wesen  derselben  geworden  ist,  und,  indem  in 
der    kreisenden    Zirkulation    beständig    alle    Dinge    immer    aufs 

189 


Beweggründe    in    das    Qualitative    des    Willens- 
aktes überzugehen  anfängt x). 


neue  durch  die  Form  des  Geldes  hindurchgejagt  werden, 
auch  ihr  hauptsächlichster  Nutzwert  in  ihrer  Ve r - 
tauschbar keit  und  also  in  ihrem  Tauschwert  oder  Geld- 
preis zu  bestehen  angefangen  hat.  Nur  aus  dieser  veränderten 
ökonomischen  Lage  der  Dinge  sind  diese  Bestimmungen  des 
Allgemeinen  Landrechtes  zu  erklären. 

x)  Das  innerste  Verständnis  dieses  Satzes  kann  sich  nur  aus 
der  Lehre  der  spekulativen  Logik  über  das  Verhältnis  der 
Quantität  zur  Qualität  ergeben.  —  So  viel  aber  wird  von 
selbst  klar  sein,  daß  stets,  wo  in  einem  Rechtsgebiete  quan- 
titative Bestimmungen  erforderlich  werden,  die  Fixierung  der- 
selben positiv  ist,  ohne  deshalb  das  Rechtsgebiet  selbst  zu 
einem  positiven  zu  machen.  So  haben  alle  Strafbestimmungen 
im  Strafgrad  eine  quantitative  Natur,  ohne  daß  es  deshalb  je- 
mand einfallen  wird,  das  Strafrecht  für  nur  positives  Recht  zu 
erklären.  Auch  wenn  man,  was  allerdings  richtig  wäre,  die 
quantitative  Bestimmung  als  eine  Modifikation  der  Grundan- 
schauung nachwiese,  wäre  hierdurch  nichts  geändert.  Die  Ehe 
gilt  nirgends  als  ein  bloß  positives  Recht.  Deswegen  hat  sie 
doch  im  Recht  der  verschiedenen  Völker  die  größten,  eine  Ent- 
wicklung ihrer  Grundanschauung  darstellenden  Modifikationen 
empfangen.  —  Werden  denn  nun  die  verschiedenen  quanti- 
tativen Bestimmungen  in  unserem  Gebiete  mit  einer  bestimmten 
geistigen  Grundanschauung  in  Verbindung  zu  setzen  sein,  so 
daß  sie  sich  als  die  von  dieser  Grundanschauung  gesetzten 
Modifikationen  erweisen?  Allerdings,  und  diese  wird  folgende 
sein:  Je  weiter,  härter  und  ausgebreiteter  eine  Gesetzgebung 
das  Recht  der  Person  auf  Willkür  auffaßt,  desto  ge- 
ringere Kraft  wird  sie  dem  Irrtum  im  Beweggrund,  desto 
größere  Gültigkeit  also  der  irrigen  Handlung  einräumen. 
(Die  innere  Wahrheit  dieses  scheinbar  sehr  paradox  klingen- 
den Satzes  ergibt  sich  aus  dem  oben  S.  169  fg.  und  Anm.  3 
zu  S:  172)  entwickelten  Begriff,  und  wird  sich  bei  der  Unter- 
scheidung des  faktischen  und  Rechtsirrtums  bald  noch  deut- 
licher herausstellen.)  Dieser  Satz  —  der  sich  schon  an  der 
Geschichte  des   römischen   Rechtes   selbst  nachweisen   ließe  — 

190 


Soweit  aber  die  positiven  Gesetzgebungen  über  dieses 
quantitative  Verhältnis  Festsetzungen  treffen  und  Grenz - 

bestätigt  sich  nun  auch  im  allgemeinen  durch  das  Verhältnis 
der  neueren  Gesetzgebungen  zum  römischen  Recht.  Denn  hier- 
aus entspringt  es,  daß  die  neueren  Gesetzgebungen,  wenn  sie 
auch  nicht  überall  ganz  konsequent  zu  Werke  gehen,  den  Irrtum 
weit  milder  behandeln,  d.  h.  dem  irrigen  Beweggrund  eine  viel 
weniger  bedingte  und  eine  größere  Wirksamkeit  zur  Aufhebung 
der  Handlung  einräumen  als  das  römische  Recht.  Savigny  (III, 
469)  bezieht  sich  zwar  auf  das  Allgemeine  Landrecht  in  dem 
Sinne,  daß  es  in  T.  I,  Tit.  4,  §  148  fg.,  seiner  Ansicht  ent- 
sprechend jeden  Irrtum  im  Beweggrunde  —  außer  bei  dem  bloß 
lukrativen  Akt  oder  bei  dem  Hinzutreten  von  dolus  —  für 
gleichgültig  erklärt  habe.  Allein  er  läßt  hierbei  unberücksich- 
tigt, daß  das  Allgemeine  Landrecht  (daselbst  §  145)  eine 
Definition  des  Ausdruckes:  Beweggrund,  aufstellt,  die  also 
lautet:  „Wird  bei  einer  Erklärung  eine  gewisse  Begebenheit 
oder  Tatsache  als  eine  solche,  die  schon  geschehen  ist, 
oder  noch  geschehen  soll,  bloß  vorausgesetzt,  so  ist  sie 
nur  als  ein  Bewegungsgrund  anzusehen"  [diese  falsa  causa 
hatte  aber  auch  im  römischen  Recht  keine  Wirkung  (§31  Inst. 
de  legib.,  2,  20,  L.  17.  §  2,  L.  72,  §  6,  de  condit,  35,  1. 
L.  1,  §  8,  de  dote  prael.,  34,  4)],  und  soweit  etwa  durch 
diese  ganz  allgemeine  Ausschließung  der  tatsächlichen  Bewe- 
gungsgründe der  Digestentitel  de  condictione  causa  data  causa 
non  secuta  aus  dem  Allgemeinen  Landrecht  ausgeschlossen  er- 
scheinen könnte,  ist  er  doch  wieder  durch  die  weitere  Fassung 
der  condictio  indebiti  (T.  I,  Tit.  16,  §  166  fg.)  in  dasselbe 
hineingebracht.  Dagegen  ist  durch  jene  Definition  die  Möglich- 
keit ausgeschlossen,  die  Eigenschaften  eines  Gegenstandes 
als  solchen  die  Gültigkeit  des  Rechtsgeschäftes  nicht  ausschlie- 
ßenden Beweggrund  anzusehen,  während  im  römischen  Recht, 
wie  Savigny  selbst  lehrt  (III,  304),  dies  mit  Ausnahme  sehr 
weniger  beschränkter  Fälle  allerdings  stattfand.  Das  Allge- 
meine Landrecht  erklärt  vielmehr  ausdrücklich  (T.  I,  Tit.  4, 
§  81)  :  „Irrtum  in  solchen  Eigenschaften  der  Person  oder  Sache, 
welche  dabei  gewöhnlich  vorausgesetzt  werden,  ent- 
kräftet ebenfalls  die  Willenserklärung."  Da  es  also  bei  einer 

191 


bestimmungen  darüber  angeben,  wo  das  Quantitative  des 
Beweggrundes  in  das  Qualitative  des  Willensaktes  über- 


solchen  Untersuchung  doch  nicht  auf  die  Worte,  sondern  auf 
die  Sache  ankommt,  und  da  bei  Käufen  und  anderen  Rechts- 
geschäften der  Beweggrund  gerade  in  der  Regel  in  der  voraus- 
gesetzten Eigenschaft  des  Gegenstandes  besteht  (ohne  daß  doch 
durch  das  Nichtvorhandensein  derselben  der  Gegenstand  zu 
einem  Gegenstande  anderer  Gattung  und  Art  wird,  in  wel- 
chem Falle  allein  im  römischen  Recht  ein  error  in  corpore  und 
in  substantia  vorliegt;  vgl.  Savigny,  S.  283),  so  muß  vielmehr 
gesagt  werden,  daß  das  Allgemeine  Landrecht  das  Einwirken 
irriger  Beweggründe  auf  die  Aufhebung  der  Handlung  bedeutend 
gegen  das  römische  Recht  erweitert  habe.  Ja  sogar  der  Irrtum 
in  allen,  auch  den  gewöhnlich  nicht  vorausgesetzten  Eigen- 
schaften einer  Person  oder  Sache  vereitelt  die  Willenserklärung, 
wenn  die  Voraussetzung  eine  ausdrückliche  war  (Allgemeines 
Landrecht,  daselbst  §  77)  und  also  die  den  Willen  bestimmende 
Einwirkung  des  Motivs  nur  ganz  feststeht.  Ferner  soll  bei  bloß 
lukrativen  Erklärungen  die  Willenserklärung  nie  kräftig  sein, 
, .sobald  erhellet,  daß  der  ausdrücklich  angeführte  irrige  Be- 
weggrund die  einzige  Ursache  der  Willenserklärung  gewesen 
sei"   (daselbst  §   150). 

Das  französische  Recht  ist  gleichfalls  und  in  noch  höherem 
Grade  milder  als  das  römische.  Es  erklärt  für  eine  Ursache 
der  Ungültigkeit  jeden  Irrtum  sur  la  substance  und  überläßt 
die  nähere  Explikation  dieses  Begriffes  gänzlich  der  Juris- 
prudenz. Diese  aber  hat  ihrerseits  denselben  dahin  erweitert, 
daß  auch  jeder  Irrtum  im  Beweggrund  dahinein  fällt,  wenn 
ersichtlich  ist,  daß  er  das  den  Willen  determinierende  Motiv 
gewesen  ist;  vgl.  Duvergier,  De  la  Vente,  No.  144:  ,,En 
outre  la  nullite  peut  resulter  de  l'absence  des  qualites  .  .  . 
mais  pour  cela  il  faut  que  les  circonstances  ou  les  expressions 
meines  de  l'acte  demontrent  que  les  parties  ont  considere  ces 
qualites  comme  motif  determinant  de  la  vente ;  en  d'autres 
termes  qu'elles  n'auraient  pas  contractu,  si  elles  avaient  su 
que  ces  qualites  n'existaient  pas."  Pardessus,  Cours  de  droit 
coram.,  No.  148:  ,,En  un  mot  l'erreur  sur  les  qualites  ou 
untres     accessoires      est   repute   substantielle  et   rend   la  conven- 

192 


gehe1),   soweit  sie  mit  andern  Worten  Mittel  zur  Ent- 
kräftung  einer   Handlung   wegen   echten   Irrtums    (durch 


tion  nulle  dans  l'interet  de  celui  qui  la  prenait  en  ccnsideration 
lorsqu'il  contractait."  Und  außerdem  erklärt  die  französische 
Jurisprudenz  einstimmig,  daß  der  Rechtsirrtum  ebenso  sehr 
die  Obligationen  anulliere  als  der  faktische;  vgl.  Duranton, 
T.  10,  Nr.  127;  Merlin,  Rep.,  v°  Testament,  Sect.  2,  §  5 ; 
Toullier,  T.  6,  Nr.  58;  Delvincourt,  II,  460;  Vazeille,  Suc- 
cessions,   Art.    887,   No.  2. 

x)  In  manchen  Fällen  setzen  die  neueren  Gesetzgebungen 
an  die  Stelle  der  positiven  Bestimmung  den  oben  entwickelten 
Begriff  selbst ;  so  z.  B.  das  Allgemeine  Landrecht  in  dem 
bereits  angeführten  §  150  (T.  I,  Tit.  4),  wo  es  die  lukrative 
Willenserklärung  für  ungültig  in  dem  Falle  erklärt,  „sobald 
erhellet,  daß  der  ausdrücklich  angeführte  irrige  Bewegungs- 
grund die  einzige  Ursache  der  Willensäußerung  selbst  gewesen 
sei."  —  In  der  Regel  wird  von  den  neueren  Gesetzgebungen 
diese  Bestimmung  als  einschränkende  Grenze  für  die 
durch  den  Irrtum  in  der  Person  hervorgerufene  Ungültigkeit 
angeführt.  So  das  Allgemeine  Landrecht  in  §  76  daselbst; 
„Ein  Gleiches  gilt  von  einem  Irrtum  in  der  Person  desjenigen, 
für  welchen  aus  der  Willenserklärung  ein  Recht  entstehen  soll, 
sobald  aus  den  Umständen  erhellt,  daß  ohne  diesen  Irrtum 
die  Erklärung  solchergestalt  nicht  erfolgt  wäre."  Und 
der  Code  Napoleon,  Art.  1110:  „L'erreur  n'est  point  une 
cause  de  nullite'.  lorsqu'elle  ne  tombe  que  sur  la  personne 
avec  laquelle  on  a  l'intention  de  contracter  ä  moins  que  la 
consideration  de  cette  personne  ne  soit  la  cause  principale  de 
la  Convention."  Anders  verhielt  es  sich  hierin  im  römischen 
Recht ;  da  der  Irrtum  in  der  Person  zu  dem  sub  B.  a.  behan- 
delten gehört,  in  welchem  der  Wille  ein  anderer  als  die  ge- 
schehene äußere  Willenshandlung  selbst  ist,  war  hier,  worin 
man  Savigny,  S.  279  fg.,  beipflichten  muß,  jeder  obligatorische 
Vertrag  bei  Verwechslung  des  einen  Kontrahenten  für  den 
anderen  nichtig,  wenn  derselbe  auch  gar  keine  Verletzung  seines 
Interesses  durch  die  Personenverwechslung  erlitt.  —  Hier  ging 
also  das  römische  Recht  in  der  dem  Irrtum  gegebenen  auf- 
hebenden  Wirkung    weiter    als    die   modernen    Gesetzgebungen. 

13    Lmuallc.  Ga.  Sclriften.  Band  IX.  193 


irrigen  Beweggrund  vermittelten  Willensmangel),  Betrug 
und  Zwang  angeben,  soweit  wird  man  also  sagen  müssen, 
daß  —  mögen  diese  Mittel  nun  in  der  Nichtigkeit  ipso 
jure,  in  der  Klage  oder  Exzeption  oder  in  der  Restitu- 
tion bestehen  —  dieselben  in  dem  betreffenden  Rechts- 
system nicht  auf  äußerer  Billigkeit,  sondern  auf  der  An- 
schauung nicht  vorhandenen  Willensdaseins  in  der  zu  ent- 
kräftenden Handlung  beruhen1). 


und  dies  scheint  gegen  das  in  der  vorigen  Anmerkung  hierüber 
Gesagte  zu  sprechen.  Bei  richtiger  Auffassung  aber  bestätigt 
es  vielmehr  nur  die  dort  gegebene  Grundanschauung.  Es  ist 
nämlich  ersichtlich,  daß  dieser  Unterschied  der  modernen  Rechte 
gegen  das  römische  daher  kommt,  daß  das  römische  Recht 
den  Willen  mehr  sieht  in  dem  spröden  Rechte  der  Person  auf 
ihre  formelle  Willkür,  die  modernen  Gesetzgebungen  aber 
ihn  mehr  erblicken  in  dem  vernünftigen  Inhalt  seiner 
Motive.  —  Es  ist  ferner  wieder  hierbei  ersichtlich,  wie  un- 
echter und  echter  Irrtum  ineinander  übergehen.  Denn  während 
im  römischen  Recht  Irrtum  in  der  Person  einfach  als  mangeln- 
der Wille  galt,  wird  derselbe  im  Allgemeinen  Landrecht  und 
französischen  Recht  durch  die  angeführte  Einschränkung  zum 
echten  Irrtum  und  zu  einem  durch  Irrtum  in  den  Motiven  ver- 
mittelten Willensmangel. 

1)  Eine  deutliche  Bestätigung  der  obigen  Entwicklung  gibt 
der  Code  Napoleon,  indem  er  Irrtum,  Zwang  und  Betrug  unter 
dem  Abschnitt  vom  „Consentement"  behandelt  (Sect.  I,  chap.  II, 
tit.  III)  und  dabei  (Art.  1109)  ausdrücklich  erklärt:  „//  n'y 
a  point  de  consentement  valable  si  le  consentement  n'a  ete 
donne  que  par  erreur,  ou  s'il  a  ete  extorque'  par  violence  ou 
surpris  par  dol."  Es  wird  also  auch  in  juristischer  Hin- 
sicht bei  dem  spekulativen  Freiheitsbegriff  schon  sein  Be- 
wenden haben  müssen,  und  nur  weil  Savigny  sich  den  letzteren 
nicht  klar  macht  und  nicht  von  ihm  ausgeht,  vielmehr  aus- 
drücklich meint  (III,  102),  daß  derselbe  hier  nichts  zu  tun 
habe,  kam  er  notwendig  zu  jener  irrtümlichen  Auffassung  dieser 
Lehre.    Und,    wie   beides    stets    Hand   in    Hand   geht,    kam  er 

194 


Und  kaum  ist  die  positive  Bestimmung  in  diesem  quan- 
titativen Gebiete  getroffen  und  festgesetzt  worden,  wo  der 
irrige  Beweggrund  zum  Willen  wird,  als  der  bisher  stets 
festgehaltene  und  entwickelte  Begriff  des  Willens  wieder 
hervorbricht  und  den  Unterschied  seiner  begrifflichen  Na- 
tur in  die  Art  des  Irrtums  im  Beweggrund  hinein  fort- 
setzt. —  Wir  meinen  den  Unterschied  des  faktischen 
und  des  Rechtsirrtums,  oder  besser,  da  auch  mancher 
Rechtsirrtum  entschuldigt  wird  und  mancher  faktische  nicht, 
des  unverschuldeten  und  verschuldeten  Irr- 
tums. 

Um  dies  genau  zu  verstehen,  ist  es  nötig,  noch  einmal 
auf  den  Unterschied  des  einfach  mangelnden  Willens  und 
des  erst  durch  Vermittelung  des  irrigen  Beweggrundes 
mangelnden  Willens,  also  auf  den  Unterschied  des  un- 
echten und  echten  Irrtums  zurückzugehen  und  den  Begriff 
desselben  noch  schärfer  als  bisher  festzustellen. 

Willensfreiheit,  sagten  wir,  ist  (im  Privatrecht)  indivi- 
duelle Selbstbestimmung.  Beim  unechten  Irrtum  ist  die- 
selbe überhaupt  nicht  vorhanden.  Denn  die  geschehene 
Handlung  ist  unterschieden  von  der  gewollten  Hand- 
lung. Beide  decken  einander  nicht.  Es  ist  somit  die  äußer- 
lich geschehene  Handlung  gar  nicht  durch  die  eigene 
Selbstbestimmung  des  Individuums  gesetzt.    Da  also  keine 


durch  diese  Abscheidung  des  philosophischen  Willensbegriffes 
vom  Rechtsgebiete  dazu,  sich  in  so  direkten  Widerspruch  mit 
den  juristischen  Quellen  versetzen  und  eine  so  große 
Anzahl  von  Pandektenstellen  der  Unrichtigkeit  beschuldigen 
zu  müssen,  wie  er  III,  342,  tut.  Dieselben  erweisen  sich  nach 
der  obigen  Entwicklung  jetzt  von  selbst  als  völlig  richtig  und 
als  in  völliger  Übereinstimmung  mit  dem,  was  von  Savigny 
als  ihnen  entgegenstehend  angeführt  wird,  (nämlich  die  Gleich- 
gültigkeit des  unwesentlichen  Irrtums  und  seine  dennoch  statt- 
findende Einwirkung,  sobald  er  durch  dolus  hervorgerufen  ist). 

13«  195 


solche  und  somit  keinerlei  Wille  vorhanden  ist,  so  ist  es 
ganz  gleichgültig,  durch  welches  Warum  das  Nichtdasein 
des  Willens  zur  Handlung  vermittelt  ist.  Es  erhellt  hier- 
aus die  Notwendigkeit,  weshalb  beim  unechten  Irr- 
tum nirgends  Raum  zur  Unterscheidung  zwischen  fakti- 
schem und  Rechtsirrtum  vorliegen  kann. 

Anders  beim  Irrtum  im  Beweggrund.  Hier  stimmen  die 
vollbrachte  Handlung  und  die  Handlung,  die  das  Indivi- 
duum vollbringen  wollte,  überein.  Es  ist  also  Selbst- 
bestimmung da.  Die  konkurrierende  falsche  Vorstellung 
hat  daher  nur  entkräftende  Wirkung,  wenn  sie  durch  ein 
anderes  Individuum  in  das  handelnde  hineingesetzt  und 
dessen  Selbstbestimmung  somit  aufgehoben  worden  ist 
(dolus),  ist  dagegen  gültig,  wenn  sie  vielmehr  als  die 
eigene  Tätigkeit  des  Individuums  erscheint  (error  con- 
comitans).  —  Der  Wille  hat  aber  überhaupt  seine  Ver- 
mittelung  im  Wissen  (s.  oben  S.  122 fg.).  Der  Irrtum 
im  Beweggrund  kann  daher  den  gesamten  Inhalt  des  Wil- 
lens absorbieren,  und  obwohl  die  äußere  Handlung, 
die  man  vornahm,  übereinstimmt  mit  der  äußern  Hand- 
lung, die  man  vornehmen  wollte,  doch  diese  selbst  zu  einem 
Nichtausdrucke  und  Gegenteil  des  wahrhaften  Willens, 
also  zu  einer  ungewollten  und  der  individuellen 
Selbstbestimmung  nicht  entflossenen  machen, 
welche  somit  als  reine  Äußerlichkeit  gegen  das  nur  an 
seine  Selbstbestimmung  gebundene  Individuum  nicht  be- 
stehen kann.  Aber  indem  hier  das  Nichtgewollte  der 
geschehenen  Handlung  nicht  besteht  in  der  einfachen  Ab- 
wesenheit der  Selbstbestimmung  zu  derselben,  sondern  diese 
Abwesenheit  selbst  erst  vermittelt  wird  durch  die  falsche 
Vorstellung  im  Beweggrund,  kann  man  —  wenn  man  den 
Begriff  der  individuellen  Selbstbestimmung  auf  das 
äußerste  festhält  —  zu  der  Folgerung  gelangen,  daß  diese 

106 


Ungültigkeit  nur  dann  eintreten  kann,  wenn  wenigstens 
jene  falsche  Vorstellung  im  Motiv  nicht  durch  die 
eigene  Tätigkeit  der  Selbstbestimmung  des 
Individuums  (obwohl  hier  kein  anderes  Individuum  mehr 
einwirkt)  gesetzt  erscheint.  Denn  ist  auch  dies  noch  der 
Fall,  so  ist  nun  die  Handlung  allerdings  in  allen  ihren 
Teilen  der  eigenen  Selbstbestimmung  des  Sub- 
jekts entflossen:  1.  in  bezug  auf  die  äußerlich  gesche- 
hene Handlung,  2.  in  bezug  auf  die  äußere  Handlung, 
die  man  vollbringen  wollte,  und  3.  in  bezug  auf  den 
Irrtum  im  Beweggrund. 

Als  so  in  allen  ihren  drei  Momenten  durch  die  indivi- 
duelle Selbstbestimmung  gesetzt,  wäre,  bei  konsequentester 
Festhaltung  dieses  Begriffes,  die  irrtümliche  Handlung 
allerdings  ein  gültiges  Dasein  der  Willensfreiheit. 

Die  falsche  Vorstellung  erscheint  nur  dann  nicht  als 
durch  die  eigene  Selbstbestimmung  des  Individuums  ge- 
setzt, wenn  sie  —  obwohl  hier  kein  fremdes  Subjekt  mehr 
eingreift  —  einen  faktischen  Irrtum  darstellt. 

Das  Wissen  des  Individuums  hat  einen  doppelten 
Gegenstand,  nach  welchem  es  sich  unterscheiden  kann : 
sich  selbst  und  das  ihm  Andere.  Das  Wissen 
des  Individuums  ist  daher  ein  Wissen  von  sich  und  ein 
Wissen  von  dem  ihm  Andern,  von  der  Außenwelt. 
Die  Außenwelt  ist  eine  dem  Individuum  fremde  und  selb- 
ständig gegenüberstehende  Gegenständlichkeit.  Ihr 
Inhalt  ist  das  Zufällige  und  seine  Verwickelung,  das  bloß 
Positive.  Wenn  daher  das  Individuum  diese  für  sich  selb- 
ständige Gegenständlichkeit  seinem  Wissen  nicht  zu  unter- 
werfen vermag,  wenn  es  im  Tatsächlichen  irrt,  so 
kann  dies  nicht  als  eine  Selbstbestimmung  des  In- 
dividuums erscheinen.  Denn  es  kann  nicht  gesagt  werden : 
das  Individuum  kann  und  soll  schlechthin  auch  das  ihm 

197 


Andere,  das  Reich  des  Tatsächlichen  durchdringen  (quum 
jus  fimtum  et  posset  esse  et  debeat,  facti  interpretatio 
plerumque  etiam  prudentissimos  fallat,  sagt  Neratius)  1). 
Der  Irrtum  im  Tatsächlichen  erscheint  also  gleichsam  als 
ein  Zwang  der  Außenwelt!  Dies  zeigt  sich  wieder 
recht  deutlich  an  der  Grenze,  wo  der  faktische  —  und 
deshalb  unschädliche  —  Irrtum  anfängt,  in  den  schädlichen 
überzugehen.  Dies  ist  dann  der  Fall,  wenn  das  Tatsäch- 
liche so  offen,  einfach  und  durchsichtig  vorliegt,  daß  das 
Individuum,  wenn  es  nur  im  geringsten  —  wie  sein  Be- 
griff erfordert  —  geistige  Tätigkeit  ist,  es  wahrnehmen 
und  wissen  konnte2).  Darum  sagen  Cäcilius  und  Ulpian, 
auf  diejenige  Krankheit  wenden  sich  die  ädilizischen  Edikte 
nicht  an,  qui  omnibus  potuit  apparere  ut  puta  caecus  homo 
veniebat  aut  qui  cicatricem  evidentem  et  periculosam  habe- 
bat .  .  .  ejus  nomine  non  teneri  Caecilius  ait,  und  Ulpian 
fügt  billigend  hinzu :  ,,ad  eos  enim  morbos  vitiaque  per- 
tinere  Edictum  Aedilium  probandum  est,  quae  quis  ignora- 
vit  vel  ignorare  potuit."3).  Er  konnte  den  Fehler  oder 
die  Krankheit  wissen,  heißt :  er  konnte  wissen,  wenn  er 
wollte.  Sein  Nichtwissen  wird  also  hier  zum  Dasein 
seiner  eigenenSelbstbestimmung,  wird  somit  dem 
Individuum  imputabel  und  daher  gültig  und  schädlich.  Des- 
halb sprechen  also  so  viele  Stellen  aus,  daß  der  faktische 


1)  L.  2  de  juris  et  facti  ignor.   (22,  6). 

2)  Darum  sagt  Ulpian,  es  sei  „nee  supina  ignorantia  ferenda 
nee  scmpulosa  inquisitio  exigenda,"  L.  6  de  jur.  et  ,fact.  ign., 
und  Paulus,  indem  er  lehrt,  der  faktische  Irrtum,  der  -auf 
summa  negligentia  beruhe,  sei  allerdings  schädlich,  ruft  aus : 
,,Quid  enim  si  omnes  in  civitate  sciant  quod  ille  solus  ignorat?" 
wenn  er  es  also  so  gut  wie  alle  anderen  wissen  konnte. 
L.  9.  §  2,  eod.  tit. 

3)  L.    14,   §    10,  de  aedilic.  edict.    (21,   1). 

198 


Irrtum  schade,  wenn  er  durch  crassa  negligentia  hervor- 
gebracht sei1). 

Entgegengesetzt  dem  Wissen  des  Individuums  von  der 
Gegenständlichkeit  und  ihrem  zufälligen  und  fremden  In- 
halt, erscheint  das  Wissen  des  Individuums  von 
sich.  Das  Wissen  des  Individuums  von  sich  nicht  so- 
wohl in  dem  Sinne  der  äußeren  tatsächlichen  Zufälligkeit, 
mit  welcher  das  empirische  Ich  noch  ohne  sein  Wissen 
verwickelt  sein  kann,  weil  sie  ihm  eben  eine  äußere, 
fremde  ist,  sondern  in  dem  Sinne :  Wissen  des  Individuums 
von  seiner   Innerlichkeit2).    Hier  ist  der   Gegenstand 


x)  Z.  B.  noch  die  L.  55  de  aedil.  ed.  (21,  1);  L.  11,  §  11, 
de  interr.    (11,   1);  L.  3  pr.   ad.  SC.   Mac.   (14,  6)  etc. 

2)  Erst  aus  der  obigen  Entwicklung  und  Einteilung,  in  wel- 
cher die  Schädlichkeit  des  Rechtsirrtums  überhaupt  nur  als 
die  Fortsetzung  und  Konsequenz  des  Wissens  von 
sich  erscheint,  ergibt  sich  nunmehr  von  selbst  das  wirkliche 
Verständnis  des  römischen  Ausdruckes :  jus  säum,  und  des 
Grundes,  warum  die  Unwissenheit  über  dasselbe  in  den  römi- 
schen Rechtsquellen  immer  als  eine  grundsätzlich  schädliche 
behandelt  wird,  obgleich,  wie  Savigny  diese  scheinbare  Ano- 
malie, ohne  sie  aber  erklären  zu  können,  mit  Recht  hervor- 
hebt (III,  327,  c),  die  Unwissenheit  über  das  jus  suum  ,, ge- 
rade gewöhnlich  auf  faktischen  Irrtümern  beruhen  wird." 
Denn  die  Unwissenheit  über  den  eigenen  persönlichen  Rechts- 
zustand, welche  unter  der  Unwissenheit  über  das  jus  suum 
verstanden  wird,  stellt  eine  Unwissenheit  des  Individuums  über 
seine  eigene  konstante  Beschaffenheit  dar.  So  heißt 
es  L.  2,  §  7,  de  j.  fisci  (49,  14)  :,,...  ita  demum  non  nocere 
cuiquam  se  detulisse,  si  ea  persona  sit,  quae  ignorare  propter 
rusticitatem  vel  propter  sexum  femininum  jus  suum  possit." 
Und  Pomponius  bringt,  unsere  obige  Entwicklung  deutlich  be- 
stätigend, die  Unwissenheit  de  jure  suo,  trotz  ihrer  meist  fak- 
tischen Beschaffenheit,  in  einen  prinzipiellen  Gegen- 
satz zur  faktischen  Unwissenheit,  die  er  als  eine  Ignoranz 
de  alterius  causa  et  facto  hinstellt   (Plurimum  interest,  utrum 

199 


des  Wissens  nichts  Fremdes  und  Zufälliges  mehr.  Er  ist 
sein  eigenes  Wesen,  das  jedes  Individuum  kennen  kann  und 
soll.  Das  Recht  ist  aber  nur  die  herausgesetzte  eigene 
Innerlichkeit  und  Verstandesnatur  des  Indi- 
viduums, das  Gesetz  nur  das  objektiv  gewordene  Rechts- 
bewußtsein der  Volksindividuen. 


quis  de  alterius  causa  et  facto  non  sciret,  an  de  jure  suo 
ignoret;  L.  3  pr.  de  juris  et  facti  ign.  22,  6).  Die  Ausnahme, 
welche  Paulus  bespricht  (daselbst  L.  1,  §  2),  wenn  jemand, 
als  Kind  ausgesetzt,  seine  Eltern  nicht  kenne  und  nun  glaube, 
daß  er  ein  Sklave  sei,  ist  gar  keine  wirkliche  Ausnahme.  Denn 
die  Frage  ex  quibus  natus  sit,  die  ursprünglich  überhaupt  an 
sich  eine  Frage  nach  einem  factum  alienum  ist,  ist  hier  durch 
die  Aussetzung  dem  Kinde  auch  als  solches  forterhal- 
ten worden  (und  zwar  wiederum  durch  das  factum  alienum 
der   Aussetzung). 

Hieraus  entspringt  nun  weiter  die  große  Schwierigkeit,  welche 
die  römischen  Rechtsquellen  in  der  Regel  an  den  Tag  legen, 
über  die  eigenen  Handlungen  überhaupt,  obgleich  diese 
doch  nur  ganz  vereinzelter,  zufälliger  und  verschwindender  Natur 
sein  können,  einen  unschädlichen  Irrtum  zuzulassen,  und  das 
Bestreben,  das  sie  zeigen,  ihn,  wo  er  unschädlich  sein  soll, 
ausdrücklich  auf  ein  factum  alienum  zu  reduzieren.  So 
Neratius,  L.  5,  §  1,  pro  suo  (41,  10).  Sed  iid  quod  quis 
quum  suum  esse  existimaret,  possederit,  usucapiet,  etiamsi  falsa 
fuerit  ejus  existimatio,  quod  tarnen  ita  interpretandum  est,  ut 
probabilis  error  possidentis  usucapioni  non  obstet,  veluti  si 
ob  id  aliquid  possideam,  quod  servum  meura  aut  ejus,  cujus 
in  locum  hercditario  jure  successi,  emisse  id  falso  existimem, 
quia  in  alieni  facti  ignorantia  tolerabilis  error  est.  Und  Gajus, 
L.  42  de  r.  j.  (50,  17):  Qui  in  alterius  locum  succedunt, 
justam  habent  causam  ignorantiae,  an  id  quod  peteretur  debe- 
retur.  Fidejussores  quoque  non  minus,  quam  heredes  justam 
ignorantiam  possunt  allegare.  Und  er  beschränkt  sogar  diese 
Unschädlichkeit  beim  Erben  noch  auf  den  Fall,  si  cum  eo 
agetur,  non  etiam  si  agat ;  nam  plane  qui  agit  certus  esse 
debet,  quum   sit  in  potestate    ejus   quando   velit  experiri  etc. 

200 


Im  Wissen  vom  Rechte  ist  daher  das  Individuum 
nicht  auf  einen  zufälligen,  sondern  auf  einen  not- 
wendigen Gegenstand,  nicht  auf  ein  ihm  Fremdes, 
sondern  nur  auf  sein  eigenes  Wesen  bezogen.  Wer 
also  über  das  Recht  irrt,  irrt  nicht  über  etwas  Gegenständ- 
liches, sondern  über  das  eigene  Wesen  des  Geistes, 
worüber  der  Geist,  weil  es  ihm  nichts  Fremdes  ist. 
nicht  zu  irren  braucht.  Sehr  gut  nennt  daher  Paulus  den 
Rechtsirrtum  einen  Irrtum  in  existimatione  mentis  und  setzt 
ihm  den  tatsächlichen  Irrtum  als  einen  Irrtum  in  re  ent- 
gegen1). Darum  gilt  die  Anschauung,  das  Recht  kann 
das  Individuum  stets  wissen,  wenn  es  will  2),  und  wenn  es 
dasselbe  nicht  weiß,  so  erscheint  dies  Nichtwissen  als 
durch  seine  willkürliche  Selbstbestimmung 
gesetzt,  und  wird  somit,  soweit  dies  in  der  Sphäre  des 
von  der  Willkür  beherrschten  P  ri  va  t  re  chts  3)  ge- 
schieht, zur  gültigen  selbstbestimmenden  Willkür  und 
also  zum  schädlichen  Irrtum. 


*)  L.  9,  §  4  h.  t.  (22,  6) :  „Qui  ignoravit  dominum  esse 
rei  venditorem,  plus  in  re  est  quam  in  existimatione  mentis, 
et  ideo  tametsi  existimet,  se  non  a  domino  emere,  tarnen  si  a 
domino  ei  tradatur,  dominus  efficitur." 

2)  Es  ergibt  sich  aus  der  obigen  Entwicklung,  daß  dies 
also  um  so  eher  da  gelten  wird,  wo  das  Recht  ein  wirklich 
aus  dem  eigenen  Volksleben  hervorgegangenes  Recht  ist,  und 
weniger  dort,  wo  es  ein  fremdes  und  anderswoher  übernom- 
menes ist. 

3)  Wir  wiederholen  diese  schon  früher  hervorgehobene  Hin- 
weisung auf  den  Begriff  des  Privatrechtes  absichtlich,  weil, 
wie  sich  zeigt,  eben  nur  durch  sein  Walten  die  Gültig- 
keit und  Schädlichkeit  des  Rechtsirrtums  vermittelt  wird,  und 
in  der  Tat,  durchaus  übereinstimmend  mit  unserer  Entwicklung, 
da  wo  diese  Willkür,  welche  der  allgemeine  Grundbegriff  des 
Privatrechtes  ist,  ihre  Geltung  verliert,  d.  h.,  da  wo  innerhalb 
desselben  aus  dem  öffentlichen  Recht  entflossene  Gesetze 

201 


Aber  eben  um  des  entwickelten  Begriffes  willen  müßte, 
wenn  seine  Anwendung  konsequent  sein  soll,  der  Rechts- 
platzgreifen, jede  Gültigkeit  und  mit  ihr  jede  Schäd- 
lichkeit der  Rechtsunwissenheit  sofort  aufhört.  Dies  zeigt 
sich  daran,  daß  bei  der  Zahlung  von  Spielschulden  und  Wucher- 
zinsen, deren  Gültigkeit  das  Gesetz  prohibiert,  auch  der  Rechts- 
irrtum schlechthin  jede  Schädlichkeit  verliert.  Mit  Unrecht 
würde  man  glauben,  dies  käme  nur  daher,  weil  diese  Zahlungen, 
selbst  wenn  sie  mit  vollem  Bewußtsein  von  der  rechtlichen  Un- 
verbindlichkeit  dieser  Schulden  gemacht  werden,  zurückgefor- 
dert werden  können.  Denn  in  der  Tat  machte  man  früher 
einen  Unterschied  zwischen  wissentlicher  und  unwissentlicher 
Zahlung  von  wucherlichen  Zinsen.  Waren  sie  wissentlich, 
gezahlt,  so  war  (s.  Paulus  R.  S.  II,  14,  §  2  und  4,  und 
Ulpian,  L.  26  pr.  de  cond.  indeb.  12,  6)  die  Zahlung  nicht 
eine  ungültige  und  zurückfordernde,  aber  sie  wurde 
als  auf  das  Kapital  geschehen  betrachtet  (repeti  quidem  non 
posse,  sed  sorti  imputandum  sagt  Ulpian).  Wurden  also  die 
Zinsen  vor  dem  Kapital  bezahlt,  so  kam  das  praktisch  frei- 
lich auf  dasselbe  hinaus,  indem  sich  nun  das  Kapital  um  so 
viel  verminderte.  Wurden  aber  Zinsen  und  Kapital  zugleich 
zurückerstattet  (wissentlich),  so  machte  dies  nun  auch  einen 
praktischen  Unterschied.  Denn  nach  der  früheren  strengeren 
Auffassung  konnten  jetzt  die  wucherlichen  Zinsen  nicht  zu- 
rückgefordert werden  (vgl.  Vangerow,  Pandekten,  Bd.  I,  §  76, 
6.  Aufl.).  Selbst  Ulpian,  der  sich  einer  milderen  Ansicht  zu- 
neigt, drückt  deutlich  die  Ungewißheit  und  die  bloß  billige 
Natur  derselben  aus  (Quid  si  simul  solvent  ?  Poterit  dici, 
et  tunc  repetitionem  locum  habere),  und  erst  Philippus  hob 
diese  veteris  juris  varietas  auf  (L.  18,  C.  de  usur.).  —  Waren 
dagegen  die  Zinsen  aus  Unkenntnis  der  Wuchergesetze  und 
also  aus  einem  Rechtsirrtum  bezahlt  (per  errorem  solutae), 
so  war  die  Zahlung  eine  ungültige,  und  sie  konnten  stets, 
ob  vor  ob  mit  dem  Kapital  gezahlt,  kondiktiert  werden  (vgl. 
Paulus  und  Vangerow,  a.  a.  O.).  Es  zeigt  sich  hierdurch, 
daß  es  sich  nicht  so  verhält,  wie  Savigny,  III,  S.  450  meint, 
als  hindere  bei  Wucher  schulden  der  Rechtsirrtum  die  Kon- 
diktion nur  deshalb   nicht,   weil   sogar  das   Bewußtsein  des 

202 


irrtum  da  keine  gültige  und  schädliche  Wirkung  haben. 
wo  das  Recht,  seine  obige  allgemeine,  für  alle  Individuen 
gewisse  und  mit  dem  Volksgeist  identische  Natur  ver- 
lierend, selbst  wieder  in  Zufälligkeit  ausläuft,  d.  h. 
also  bei  kontroversen  Rechtssätzen,  wo  ja  die  Entscheidung 
über  den  Inhalt  des  Rechts  aus  der  allgemeinen  geistigen 
Natur  des  Individuums  in  die  Besonderheit  der  persönlichen 
Ansicht  hinunterfällt,  und  ebenso  bei  dem  bloß  partiku- 
laren Lokalrecht,  weil  dieses  ja  nicht  mit  dem  ganzen 
Volksgeist  selbst  identisch  ist  und  somit  nicht  als  das 
allgemeine  Wesen  des  Individuums  ausdrückend  angesehen 
werden  kann.  Und  in  der  Tat  ist  anerkannt,  daß  in  diesen 
beiden  Fällen  der  Rechtsirrtum  keine  schädliche  Wirkung 
haben  soll 1). 

Zahlenden  von  der  Unverbindlichkeit  der  Schuld  sie  nicht  hin- 
dere, sondern  daß  vielmehr  auch,  wo  dies  Bewußtsein  hin- 
dert, die  Rechtsunwissenheit  zugute  kommt.  Und  wie 
ist  dies  möglich  ?  Dies  erhellt  aus  der  obigen  Begriffsentwicklung 
mit  Evidenz  und  Notwendigkeit.  Der  Rechtsirrtum  erscheint 
nur  als  schädlich,  weil  er  als  gültig  erscheint.  Und  er 
erscheint  nur  als  gültig,  weil  das  Nichtwissen  des  Rechtes 
als  die  eigene  formell  berechtigte  Selbstbestimmung  der  in- 
dividuellen Willkür  und  somit  als  ihre  Äußerung  er- 
scheint. Dies  kann  somit  nur  gelten  im  eigentlichen  Privat- 
recht als  dem  Dasein  dieser  Willkür.  Wo  dagegen  Bestim- 
mungen aus  dem  öffentlichen  Rechte  eingreifen,  d.  h.  wo  die 
willkürliche  Selbstbestimmung  des  Individuums  überhaupt  ihre 
Geltung  zu  verlieren  anfängt,  da  muß  auch  seine  Bestimmung 
zum  Nichtwissen  des  Rechtes  als  eine  nicht  mehr  in  seiner 
Willkür  stehende,  also  als  eine  ungültige  erscheinen  und 
der  Rechtsirrtum  also  unschädlich  sein.  Das  Recht,  nicht 
zu  wissen,  gilt  hier  gar  nicht,  und  erzeugt  darum  keine  Gültig- 
keit !  —  Man  sieht,  welche  festgeschlossene  Gestalt  bei  der 
obigen  Begriffsentwicklung  diese  Lehre  in  allen  ihren  Teilen, 
selbst   in   ihren   Einzelheiten   und   Subtihtäten   annimmt. 

x)  Vgl.  Savigny,  111,337.  Puchta,  Gewohnheitsrecht,  II,  21 7  fg. 

203 


Betrachtet  aber  das  Gesetz  bestimmte  Klassen  von  In- 
dividuen als  auf  einer  solchen  Stufe  der  geistigen  Potenz 
stehend,  daß  von  ihnen  nicht  schlechthin  gesagt  werden 
kann,  sie  konnten  das  Recht  wissen,  wenn  sie  wollten, 
so  erscheint  bei  ihnen  das  Nichtwissen  auch  nicht  als  eine 
willkürliche  Selbstbestimmung  und  der  Rechtsirrtum  ist 
deshalb  für  Minderjährige,  Frauen  und  rusticitas  in  ver- 
schiedenen Abstufungen  unschädlich. 

Die  Lehre  von  dem  faktischen  und  dem  Rechtsirrtum, 
oder  von  der  entschuldbaren  und  der  nicht  entschuldbaren 
Unwissenheit  hat  sich  uns  also  in  eine  Lehre  von  dem 
Wissen  des  Individuums  von  sich  und  von  anderem, 
in  eine  Lehre  von  dem  selbstverschuldeten, 
d.  h.  selbstgesetzten  und  dem  nicht  selbstgesetzten 
Irrtum  aufgehoben  und  sich  ebenso  wie  die  Lehre  vom 
Zwang  und  Betrug,  unechtem  und  echtem  Irrtum,  überall 
mit  der  größesten  Konsequenz  und  bis  in  alle  ihre  Aus- 
nahmen hinein,  als  auf  der  Auffassung  der  individu- 
ellen Selbstbestimmung,  als  dem  wirklichen  Be- 
griffe der  Willensfreiheit  beruhend,  erwiesen.  Zugleich 
ergibt  sich  aus  dem  Obigen,  daß,  wenn  der  den  Inhalt 
des  Willens  erschöpfende  irrige  Beweggrund,  falls  der 
Irrtum  ein  verschuldeter  ist,  die  Handlung  nicht  entkräftet, 
sondern  diese  gültig  bleibt,  dies  auf  der  strengen  Anschau- 
ung von  dem  willkürlichen  Rechte  der  Person 
beruht,  wenn  sie  nur  durchweg  selbst  als  das  Bestimmende 
erscheint,  auch  das  nicht  zu  wissen,  was  sie  w  i  s  s  e  n  s  o  1 1 
und  muß  (das  Recht),  wonach  dann  die  so  entstandene 
Handlung  als  ein  gültiges  Dasein  persönlicker 
Willkür  angesprochen  wird.  Tritt  an  die  Stelle  dieser 
spröden  formellen  Anschauung  die  andere,  daß  das  Nicht- 
wissen, wenn  auch  verschuldet,  als  dem  Begriffe  des 
Geistes  zuwider,  nicht  als  eine  gültige  Bestimmung  des- 

204 


selben  anzusehen  und  nicht  als  sein  Dasein,  sondern  nur 
als  sein  Nichtdasein  zu  betrachten  sei,  so  kann  auch 
beim  irrigen  Beweggrund  nicht  mehr  zwischen  verschul- 
detem und  nichtverschuldetem  Irrtum  unterschieden  wer- 
den, und  die  durch  einen  den  ganzen  Willen  absor- 
bierenden Irrtum  im  Beweggrund  hervorgerufene  Hand- 
lung wird  auch  durch  die  Verschuldung  des  Irrtums  zu 
keinem  gültigen  Dasein  des  Willens,  wie  dies 
in  der  Tat  in  neueren  Gesetzgebungen  der  Fall  ist1). 


x)  Sowie  bereits  gezeigt  (s.  die  Anmerkung  auf  S.  192). 
im  französischen  Recht,  wo  mit  Ausnahme  zweier  Fälle,  die, 
um  ihrer  besonderen  Natur  willen,  überhaupt  kaum  Ausnahmen 
hiervon  zu  nennen  sind  ([Art.  1305  und  2053]  des  Code  civil), 
ganz  allgemein  jeder  Unterschied  zwischen  faktischem  und 
Rechtsirrtum  aufgegeben  ist. 

Eine  mehr  schwankende  Stellung  nimmt  das  Allgemeine  Land- 
recht ein,  doch  ist  auch  von  ihm  nicht  zu  verkennen,  daß  es 
sich  darin  bedeutend  vom  römischen  Recht  unterscheidet  und 
sichtlich  unter  dem  Einfluß  der  oben  angegebenen  abweichen- 
den Anschauung  des  modernen  Geistes  steht.  In  §  12  der 
Einleitung  verfügt  es,  daß  sich  niemand  mit  der  Unwissenheit 
eines  gehörig  publizierten  Gesetzes  entschuldigen  könne.  Allein 
dieses  in  dieser  Allgemeinheit  ganz  richtige  und  gar  keinem 
Zweifel  unterliegende  Prinzip  hat  eben  um  dieser  Allgemeinheit 
willen  auch  gar  nichts  mit  der  oben  erwähnten  Anschauung  zu 
tun,  über  welche  vielmehr  erst  die  landrechtliche  Lehre  von 
den  Willenserklärungen  usw.  Aufschluß  geben  kann.  Hier  nun 
läßt  es  zunächst  bei  der  condictio  indebiti  (T.  I,  Tit.  16,  §  166, 
178,  118)  im  Prinzip  auch  den  Rechtsirrtum  zu,  v/enn  es  auch 
dem  Irrenden  den  Beweis  desselben  auferlegt.  Bei  dem  Irrtum 
in  den  gewöhnlich  vorausgesetzten  Eigenschaften  der 
Person  oder  Sache,  welcher  die  Willenserklärung  entkräften 
soll  (s.  oben  S.  192),  macht  es  diese  Wirkung  des  Irrtums 
davon  abhängig,  daß  er  nicht  durch  eigenes  Versehen  entstanden 
sei,  und  neigt  sich  insoweit  also  der  Anschauung  des  römi- 
schen Rechtes  zu  (T.   I,  Tit.  4,  §  82).  Allein  bei  dem  Irrtum 

205 


C.  Der  Quasikontrakt ;  negotiorum  gestio. 

Das  Gesetz  kann  einen  normalen  Willen  der  Per- 
son voraussetzen.  Rechte  also,  welche  scheinbar 
lediglich  aus  den  Handlungen  dritter  Personen  und  so- 
mit aus  dem  Gesetze  entspringen,  müssen,  obwohl  ohne 
jede  Handlung  des  Individuums,  dennoch  dann  in  rechtlicher 
Hinsicht  als  seiner  eigenen  individuellen  Wil- 
lensaktion entflossen  angesehen  werden,  wenn  das 
betreffende  Rechtsinstitut  den  Charakter  hat,  auf  einem 
solchen  vom  Gesetz  vorausgesetzten  norma- 
len Willen  des  Individuums  zu  beruhen  und  aus 
ihm  zu  entspringen. 

Die  aus  einem  solchen  Institut  dem  Individuum  hervor- 
gehenden Rechte  sind  dann  der  gesetzlichen  Anschauung 
nach  durch  die  eigene  vorausgesetzte  Willens- 
aktion des  Individuums  vermittelt,  somit  erworben, 
und  können  daher,  wenn  sie  so  einmal  entstanden  sind, 
durch  spätere  Gesetze  nicht  verändert  werden. 

in  ausdrücklich  vorausgesetzten  Eigenschaften  der 
Person  oder  Sache  soll  stets  die  Willenserklärung  ungültig 
sein,  auch  wenn  der  Erklärende  den  Irrtum  hätte  vermeiden 
können.  §  77,  78  (und  nur  eine  kulpose  Verpflichtung  zur 
Schadloshaltung  bei  eingetretenem  Schaden  wird  ganz  richtig 
eingeführt,  weil  in  der  Tat  nur  culpa,  nicht  Wille,  vorliegt). 
Indem  nun  (s.  oben  S.  192)  in  diesen  Irrtum  in  ausdrück- 
lich vorausgesetzten  Eigenschaften  nicht  nur  der  römische 
error  in  corpore  und  essentialis,  sondern  auch  jeder  bloße  Irr- 
tum im  Beweggrunde  hineinfällt,  der  auf  solchen  vielleicht 
selbst  ganz  unwichtigen  Eigenschaften  beruht,  läßt  das  All- 
gemeine Landrecht  hier  also  auch  bei  diesem  den  Rechtsirrtum 
und  verschuldeten  Irrtum  als  einen  unschädlichen,  d.  i.  ungül- 
tigen, zu.  Es  scheint  also  die  Unschädlichkeit  desselben  über- 
haupt nur  mehr  an  die  Bedingung  zu  binden,  daß  die  Einwirkung 
eines  irrigen  Motives  ganz  feststehe  (ausdrücklich  vor- 
ausgesetzt sei). 

206 


Dies  ist  der  Fall  bei  den  Quasikontrakten,  zunächst  bei 
der  negotiorum  gestio. 

Daß  diese  ganz  auf  einem  solchen,  um  seiner  Norma- 
lität halber  vom  Gesetz  vorausgesetzten  vernünftigen 
Willen  des  Individuums  beruht,  muß  von  selbst 
klar  sein,  und  soll  bloß,  weil  sich  diese  Auffassung  bei 
unseren  Rechtslehrern  nicht  findet1),  kurz  nachgewiesen 
werden. 

Es  steht  dem  nicht  entgegen,  daß  die  alten  römischen 
Juristen  immer  nur  von  der  magna  utilitas  dieses  Instituts 
reden  und  es  auch  ausdrücklich  als  um  seiner  Nützlich- 
keit willen  eingeführt  bezeichnen2).  Dieses  Nützlich- 
keitsargument drückt  vielmehr  nur  in  Form  äußerer 
Tatsächlichkeit  aus,  was  nach  uns  die  Rechtsidee 
des  Instituts  bildet.  Das  Gesetz  kann  hier  eben  nur  des- 
halb den  Willen  des  Individuums  voraussetzen,  und  setzt 
ihn  voraus,  weil  es  eben  normal  ist,  daß  jedes  Individuum 
selbst  das  ihm  Nützliche  will. 

Dieser  vorausgesetzte  Wille  erweist  sich  aber 
durch  folgendes  als  der  wahrhafte  Gedanke  des  Instituts  : 
1.  schon  historisch,  indem  die  römischen  Juristen  so  vor- 


1)  Aber  ebensowenig  auch  bei  den  Rechtsphilosophen.  Wenn 
z.B.  Stahl  (Philosophie  des  Rechtes,  I,  410  fg.,  3.  Aufl.) 
die  Quasikontrakte  und  speziell  die  negotiorum  gestio  einfach 
daraus  erklärt,  daß  , .nämlich  jenes  Bedürfnis,  durch  Über- 
einkunft sich  Rückgabe  oder  Ersatz  sichern  zu  können,"  eine 
solche  Forderung  auch  ohne  Übereinkunft  erwirke,  —  so  ist 
zu  bemerken,  daß,  um  das  Gajanische  utihtatis  causa  receptum 
est  abzuschreiben,  man  keine  Rechtsphilosophie  zu  schreiben 
braucht. 

2)  Z.  B.  Gajus.  L.  5  pr.  de  obl.  et  act.  (44,  7)  -  -  „sed 
utilitatis    caiisa    receptum  est,   invicem  eos   obligari,"    cf.    Inst., 

III,  27. 

207 


zugsweise  den  Fall  der  Abwesenheit  des  dominus1) 
als  den  Fall  der  negotiorum  gestio  hervorheben,  oder  ähn- 
liche Lagen,  in  welchen  also  der  dominus  einen  aus- 
drücklichen Willen  zu  haben  gehindert  ist2),  und 
diesen  Fall  der  Abwesenheit  auch  geradezu  als  den  histo- 
rischen Ursprung  des  Instituts  bezeichnen3);  2.  dadurch, 
daß  der  vom  Gesetz  vorausgesetzte  Wille  dem  vom  Indivi- 
duum ausgesprochenen,  die  Fiktion  der  Wirklich- 
keit weicht  und  daher  bei  einem  ausdrücklich  er- 
klärten  Nicht  wollen   seitens    des    dominus 4)    dem 


x)  Z.B.  Ulpian,  L.  1  de  neg.  gest.  (III,  5):  „Hoc  edic- 
tum  necessarium  est,  quoniam  magna  utihtas  absentium  ver- 
satur,  ne  indefensi"  etc.,  Gajus,  L.  2  ib.  ,,Si  quis  absentis 
negotia  gesserit  etc.,  Inst.,  III,  27,  §  1 :  Igitur  quum  quis 
absentis   negotia  gesserit"  etc. 

a)  S.  das  prätorische  Edikt  selbst  (L.  3  ib.):  Si  quis  negotia 
alterius,  sive  quis  negotia,  quae  cujusque  cum  is  moritur,  fu- 
erint,  gesserit  etc.  Der  Sterbende  wird  in  der  Regel  gehindert 
sein,  einen  ausdrücklichen  Willen  über  die  negotia  zu  haben, 
und  nach  dem  Tode  kann  vor  der  aditio  der  Erbe  in  dieser 
Lage  sein.  —  Das  Edikt  hebt  übrigens  den  Fall,  quum  is 
moritur,  nur  ausdrücklich  hervor,  um  die  Ungewißheit  des 
Rechtssubjektes,  dessen  Geschäfte  ich  geführt  habe,  unschäd- 
lich zu  machen ;  s.   Ulpian,  daselbst,  §  6. 

8)  Gajus  sagt  das  ausdrücklich  L.  5  pr.  de  obl.  et  act. 
(44,  7) :  —  ideo  autem  id  ita  reeeptam  est,  quia  plerumque 
homines  eo  animo  peregre  proficiseuntur  quasi  statim  redituri, 
nee  ob  id  ulli  curam  negotiorum  suorum  mandant,  deinde  novis 
causis  intervenientibus  ex  necessitate  diutius  absunt,  quorum 
negotia  deperire  iniquum  erat,  und  Inst.,   III,  27,  §   1. 

4)  Dies  ist  bekanntlich  die  übereinstimmende  Lehre  von 
Julian,  Pomponius,  Paulus  und  Ulpian  L.  8,  §  3  h.  t. ;  L.  40, 
mandati  (17,  1).  (Si  pro  te  praesente  et  vetante  fidejusserim, 
nee  mandati  actio  nee  negotiorum  gestorum  est;  sed  quidam 
utilem   putant    dari    oportere,    quibus   non   consentio,    seeundum 

203 


gestor  auch  für  die  nützlich  verwendeten  Aus- 
lagen, trotz  aller  Nützlichkeit,  die  Aktion  der  nego- 
tiorum gestio  nicht  zusteht1)  —  die  Nützlichkeit  erweist 
sich  also  schon  hiernach  nicht  als  die  eigentliche  letzte 
Rechtsidee  des  Instituts  — ;  3.  auch  dadurch,  daß  in  der 
Regel  die  Aktion  der  negotiorum  gestio  nur  dann  gegen  den 
dominus  zusteht,  wenn  es  sich  darum  handelt,  ihn  vor 
drohenden  Schaden  zu  bewahren,  in  Notfällen  usw.2), 
nicht  bei  lukrativen  Operationen,  denn  in  der  Tat  muß  bei 
jedem  vernünftigerweise  die  Absicht  vorausgesetzt  werden, 
nicht  in  Schaden  zu  kommen  und  das  zu  bewahren,  was  er 
hat,  während  die  Absicht  lukrativer  Unternehmungen,  ob- 
gleich nicht  weniger  nützlich,  keineswegs  als  der  normale 
Wille   jedes    Individuums    vorausgesetzt   werden   kann3); 


quod  et  Pomponio  videtur),  und  Justinian  hat  diese  Lehre  durch 
eine  besondere   Entscheidung    (L.    ult.   C.    2,   20)   festgestellt. 

1)  So  unterscheidet  sich  also  die  negotiorum  gestio,  wo 
man  den  Willen  des  Verpflichteten  ausführt,  wenn  auch  den 
präsumierten,  sehr  deutlich  z.B.  von  der  actio  funeraria, 
wo  man  die  Pflicht  desselben  ausführt,  und  wo  es  deshalb 
auch  auf  sein  ausdrückliches  Ve rbot  nicht  ankommt. 
L.   14,  §  6 — 16,  de  relig.  et  sumt.  funer.  (11,  7). 

2)  Vgl.   Vangerow,    Pandekten,   III,   484,   6.    Aufl. 

8)  Soweit  aber  der  dominus  die  entstandene  Bereicherung 
bewahren  will,  bleibt  er  allerdings  ersatzpflichtig,  denn  er  ak- 
zeptiert in  dem  lucrum  zugleich  den  für  dasselbe  notwendig 
gewesenen  Aufwand.  Aber  es  ist  hier  nicht  mehr  die  nego- 
tiorum gestio,  sondern  die  versio  in  rem,  welche  den  Anspruch 
gegen  den  dominus  gewährt,  L.  11,  43  de  neg.  gest.  (3,  5) 
und  L.  5  pr.  de  in  rem  vers.  (15,  3).  Der  große  juristische 
Unterschied  zwischen  beiden  zeigt  sich  darin,  daß  bei  der 
negotiorum  gestio  den  Zufall  (casus)  der  dominus  tragen  muß, 
bei  der  versio  in  rem  aber  der  gestor.  Dies  ist  aber  nur  die 
äußerliche  Darstellung  des  Gedankenunterschiedes,  daß  bei  der 
negotiorum  gestio  von  vornherein  aus  dem  Willen  des 

14   L«.alle.  Ge..  Schriften.  Band  IX.  209 


4.  zeigt  sich  in  ganz  entscheidender  Weise,  wie  nicht  der 
erwiesene  Nutzen,  sondern  der  eigene  vorausgesetzte  Wille 
des  dominus  den  Träger  dieses  Instituts  bildet,  dadurch, 
daß,  wenn  auch  der  erwartete  Nutzen  gar  nicht  einge- 
treten, sondern  durch  Unglücksfälle  verhindert  worden  ist, 
der  dominus  durch  die  Aktion  der  negotiorum  gestio  (con- 
traria)  für  den  Aufwand  des  gestor  verhaftet  bleibt1); 

5.  erklärt  sich  endlich  auch  nur  von  hier  aus  die  Möglich- 
keit einer  Kontroverse,  welche  alte  und  neue  römische  Ju- 
risten auf  das  lebhafteste  geteilt  hat,  die  nämlich  schon 
zwischen  Scävola  und  Ulpian  schwebende  Streitfrage, 
welchen  Einfluß  eine  spätere  Ratihabition  des  do- 
minus auf  die  negotiorum  gestio  hat,  ob  sie  diese  Aktion, 
wie  Scävola  will,  bestehen  läßt,  oder,  nach  der  Ansicht 
der  Gegner,  in  die  actio  mandati  umwandelt2). 

Fast  man  nämlich  rein  äußerlich  die  negotiorum  gestio 


dominus  gehandelt  worden  ist,  weshalb  ihn  selber  der  casus 
treffen  muß,  während  bei  der  versio  in  rem  der  Wille  desselben 
erst  hinterher  durch  die  Bewahrung  des  erlangten  lucrum 
eintritt,  weshalb,  da  hier  erst  der  wirklich  erreichte  Vorteil 
von  ihm  akzeptiert  wird,  der  casus  auf  die  Seite  des  gestor 
fällt.  —  Ebenso  kann  der  gestor  in  Schaden  geraten,  wenn  der 
dominus  den  Vorteil  nicht  bewahren  will.  Hier  wird  also  nicht 
wie  bei  der  zur  Abwehr  von  Schaden  eingetretenen  negotiorum 
gestio  der  stillschweigende  Wille  des  Individuums  in  verbind- 
licher Weise  vorausgesetzt.  Vgl.  Allgemeines  Landrecht,  T.  I, 
Tit.  13,  §  242:  ,, Entschlägt  sich  der,  dessen  Geschäfte  ohne 
seinen  Antrag  besorgt  wurden,  des  Vorteiles,  so  muß  der  Be- 
sorger die  Sache  auf  seine  Kosten  wieder  in  den  vorigen  Stand 
setzen  und  den  Eigentümer  entschädigen." 

J)  L.  10,  §  1;  L.  12,  §  2;  L.  22;  L.  31  pr.;  L.  32  pr.; 
L.  37,  §  1  h.  t. ;  L.  17  pr.  de  in  r.  v.  (15,  3) ;  L.  22  Cod.  h.  t. 

2)  S.  die.  Literatur  der  Kontroverse  bei  Glück,  V,  333  fg. ; 
Thibaut,  Versuche,  II,  Nr.  10,  Vangerow,  Pandekten,  III,  486, 
6.   Aufl. 

210 


als  eine  Geschäftsführung  ohne  Willen  des  dominus 
auf,  so  ist,  da  diese  Aktion  in  der  Tat  nur  gegeben  ist, 
wenn  kein  Auftrag  des  dominus  vorliegt,  und  zumal  bei 
der  Rückwirkung  auf  den  Anfang  der  Handlung, 
welche  das  römische  Recht  der  Ratihabition  überall  zu- 
schreibt, kaum  zu  begreifen,  wie  nach  einer  solchen  die 
negotiorum  gestio  dennoch  als  fortbestehend  angesprochen 
werden  kann. 

Bei  der  hier  gegebenen  Auffassung  der  negotiorum  ge- 
stio, als  auf  dem  vom  Gesetz  vorausgesetzten  W  i  1  - 
1  e  n  des  Individuums  beruhend,  liegt  erst  die  innere 
dialektische  Entstehung  und  Berechtigung  dieser 
Kontroverse  vor.  Denn  ist  ohnehin  der  Wille  des  dominus 
bei  der  negotiorum  gestio  vorausgesetzt,  warum  soll  gerade 
durch  die  Bestätigung  der  Voraussetzung  diese  Ak- 
tion verschwinden  ?  Dies  ist  das  innere  Gedankenmoment 
bei  Scävola1).  Andererseits: 

Wenn  die  negotiorum  gestio  auf  dem  Vorausgesetz- 
t  e  n  Willen  beruht,  so  hat  der  ausdrücklich  erklärte 
Wille  andere  und  resp.  stärkere  Folgen.  Durch  die  Be- 
stätigung der  Voraussetzung  tritt  also  der  ausdrück- 
liche Wille  mit  seinen  anders  qualifizierten  Folgen,  d.  h. 
die  actio  mandati  ein.  —  In  der  Tat  ist  aber  in  dieser 
Gedankendialektik  zugleich  schon  die  wahrhafte  Auflösung 
notwendig  gegeben,  wie  sie  Welcker  auf  anderem  Wege, 
durch  Analyse  der  betreffenden  Gesetzesstellen,  heraus- 
gestellt hat2):  Für  den  dominus  treten,  da  an  die  Stelle 


1)  Er  hebt  darum  hervor,  daß  die  Billigung  die  nego- 
tiorum actio  überhaupt  nicht  ausschlösse:  „Ceterum  si  ubi  pro- 
bavi,  non  est  negotiorum  actio,  quid  fiet,  si  a  debitore  meo 
exegerit,  et  probaverim,  quemodmodum  recipiam?"  (L.  9  h.  t.) 

2)  C  Th.  Welcker,  Diss.  jurid.  inaug.  Interpret,  exhibens 
leg.  9  de  neg.  gest.  etc.  (Gießen  1813),  und  Vangerow,  a.  a.  O 

14-  211 


seines  bloß  vorausgesetzten  und  deshalb,  wie  sich 
sofort  zeigen  wird,  bedingten  Willens  der  ausdrücklich 
erklärte  getreten  ist,  die  stärkeren  Folgen  desselben  ein; 
er  bleibt  daher  auch,  wenn  die  Geschäftsführung  eine 
schlechte  war,  durch  die  actio  mandati  verpflichtet,  wäh- 
rend der  von  der  negotiorum  actio  supponiertc  Wille  eben 
um  dieser  Voraussetzung  halber  nur  unter  der 
Bedingung  nützlichster  Geschäftsführung 
vorausgesetzt  werden  kann.  Seitens  des  gestor  da- 
gegen hat  sich  durch  die  eingetretene  Ratihabition  seine 
rechtliche  Voraussetzung  nur  bestätigt1),  sich  also 
nichts  an  der  Natur  seiner  Handlung  geändert.  Er  bleibt 
also  trotz  der  Ratihabition  nur  an  die  Pflichten,  die  ihm 
der  vorausgesetzte  Wille  auferlegte,  gebunden,  d.  h.  er 
ist  nur  mit  der  negotiorum  actio  anzugreifen. 

Es  ist  nach  dem  zuletzt  Gesagten  fast  überflüssig,  noch 
zu  bemerken,  daß  die  negotiorum  gestio  bei  dieser  Auf- 
fassung darum  durchaus  nicht  an  und  für  sich  in  ein  man- 
datum  tacitum  übergeht.  Auch  bei  diesem  wird,  insofern 
die  verschiedenen  Gesetzgebungen  ein  solches  mandatum 
tacitum  überhaupt  zulassen,  allerdings  ein  stillschweigender 
Wille  vorausgesetzt.  Aber  er  wird  hier  bloß  faktisch 
vorausgesetzt,  d.  h.  er  wird  vom  Gesetz  als  ein  wirklich 
daseiender  vorausgesetzt,  während  er  bei  der  nego- 
tiorum gestio  vom  Gesetz  ausdrücklich  ais  ein  voraus- 

a)  Wohl  aber  ist  hier  nun  auch  die  Möglichkeit  der 
anderen  Anschauung  erklärt,  die  negotiorum  gestio  wegen  der 
vom  gestor  vorausgesetzten  Billigung  des  dominus  als  ein  auf 
seiten  des  gestor  vorausgesetztes  Mandat  zu  betrachten  und 
demselben  daher  von  vornherein  ausdrücklich  die  Pflichten  des 
Mandates  aufzuerlegen,  wie  dies  der  Code  Napoleon  tut, 
Art.  1372  „II  (le  gerant)  se  soumet  ä  toutes  les  obligations 
qui  resulteraient  d'un  mandat  exprö  que  lui  aurait  donne  le 
proprietaire." 

212 


gesetzter  vorausgesetzt,  und  als  solcher  be- 
handelt wird.  Mit  andern  Worten:  Soweit  Gesetz- 
gebungen die  Annahme  eines  mandatum  tacitum  zulassen, 
ist  die  Anschauung  diese,  daß  die  Person  diese  bestimmte 
Handlung,  wenn  auch  stillschweigend,  wirklich  gewollt, 
resp.  einer  anderen  Person  die  Befugnis  zu  dieser  b  e  - 
stimmten  Handlung,  wenn  auch  stillschweigend,  über- 
tragen hat.  Beim  mandatum  tacitum  bleibt  daher  der  domi- 
nus, ganz  ebenso  wie  beim  ausdrücklichen  Mandat,  an  die 
Handlung  als  seine  bestimmte  unbedingte  Willensäußerung 
gebunden,  wenn  dieselbe  auch  keine  Nützlichkeit  gehabt 
hat.  oder  die  Mandatsführung,  die  nur  dolus  und  grobes 
Versehen  zu  prästieren  hat,  auch  nicht  die  zweckmäßigste 
gewesen  ist.  Bei  der  negotiorum  gestio  dagegen  wird  der 
Wille  des  dominus  auch  ausdrücklich  vom  Gesetz  als 
ein  um  seiner  Normalität  willen  vorausgesetzter 
behandelt;  d.  h.  seine  Unterstellung  wird  eben  durch  die 
Bedingung  vermittelt,  daß  es  schlechthin  normal 
und  vernünftig  sei,  so  zu  wollen.  Es  bleibt  also  die 
Annahme  des  Willens  an  die  Bedingung  gebunden,  daß 
die  Geschäftsführung  zu  einem  notwendigen  Zwecke 
unternommen  und  in  der  bestmöglichen  Weise1) 
betrieben  worden  sei,  wodurch  nicht  nur  auch  das  leichteste 
Versehen  als  diese  Bedingung  verletzend  dem  gestor  zur 
Last  fällt,  sondern  sogar  das  nützliche  Unternehmen, 
wenn  es  einen  wirklichen  Nutzen  herbeigeführt  hat,  weil 
hier  die  Bedingung  der  Willensunterstellung  erfüllt  ist,  für 
Rechnung  des  dominus,  und  wenn  es  einen  S c h a - 
den  herbeigeführt  hat,  für  eigene  Rechnung  betrieben 

l)  Vgl.  L.  20  C.  de  neg.  gest.  (2,  18).  und  besonders  Inst.. 
III,  27,  §  1  :  ,,nec  sufficit  talem  diligentiam  adhibere  qaalem 
suis  rebus  adhibere  soleret,  si  modo  alius  diligentior  commodius 
adtninistraturus  esset  negotia." 

213 


gilt1)»  die  Handlung  also  wegen  der  bedingten  Na- 
tur2) des  vorausgesetzten  Willens  ein  Doppelgcsicht  hat, 
welches  niemals  bei  dem  immerhin  einen  unbedingten 
Willen  darstellenden  mandatum  tacitum  platzgreif cn  kann 3). 
Zugleich  ist  nun  aber  durch  diese  Entwickelung  schon 
gegeben,  w  o  und  warum  die  negotiorum  gestio  durch 
ihre  dialektische  Gedankennatur  von  selbst  in  dies  man- 
datum tacitum  übergehen  muß.  Ein  vorausgesetzter 
Wille  des  dominus  kann  nur  da  sein,  wo  der  dominus  ent- 
weder sogar  von  der  Ursache  der  Geschäftsführung,  dem 
drohenden  Schaden  usw.,  nichts  wissen  kann,  oder  doch 
nichts  weiß,  also  z.  B.  wenn  er  absens  ist,  oder  wenn  er 
zwar  anwesend  ist,  und  somit  von  der  Ursache  der 
Geschäftsführung  wissen  kann  oder  wirklich  weiß  und 
nur  in  Unterschätzung  oder  Vernachlässigung  derselben 
nicht  handelt,  aber  von  der  Geschäftsführung  selbst 
nichts  weiß  und  also  in  bezug  auf  sie  ignorans  ist. 
Deshalb  wird  so  häufig  in  den  römischen  Gesetzen  die 
Forderung  erwähnt,  daß  der  dominus  ein  absens  et  igno- 
rans,  oder  doch   mindestens  das   letztere  sei4)-    War  er 


x)  L.    11   de  neg.   gest.    (3,   5). 

2)  Hierin  gehört  auch  die  aus  derselben  Bedingung  entsprin- 
gende Pflicht  des  gestor,  das  Unternehmen  zu  Ende  zu  führen, 
die  beim  Mandat  nicht  platzgreift. 

3)  ]^s  erscheint  also  nicht  konsequent  vom  französischen 
Gesetzbuch,  die  gestio  im  Art.  1372  (s.  S.  212,  Anm.  1) 
dem  mandat  expres  zu  assimilieren,  weshalb  auch  wieder  der 
Code  Napoleon  selbst  hierbei  nicht  stehen  bleiben  kann,  sondern 
in  den  folgenden  Artikeln  (1373  und  1374)  die  Pflichten  des 
gestor  wieder  über  die  des  Mandatars  hinaus  erschweren  muß. 

*)  Z.  B.  Gajus,  L.  2  (h.  t.) :  Si  quis  absentis  negotia  ges- 
serit,  licet  ignoranüs  etc.  Pomponius,  L.  11  (h.  t.):  Si  negotia 
absentis  et  ignoranüs  geras.  Papinianus,  L.  48  (h.  t.):  Igno- 
rante   quoque  sorore  etc. 

214 


aber  nicht  ignorans  in  bezug  auf  die  Geschäftsführung, 
wußte  er  von  ihr,  ohne  sie  zu  hindern,  so  kann  hier  nicht 
mehr  die  Rede  davon  sein,  seinen  Willen  zu  der  be- 
stimmten Handlung  bloß  als  einen  wegen  des  allgemeinen 
normalen  Willens  des  Individuums,  keinen  Schaden  zu  lei- 
den, nur  vorausgesetzten  zu  supplieren.  Hier  ist 
vielmehr  einer  jener  Fälle,  wo  die  Regel  qui  tacet  con- 
sentit  wirkliche  Geltung  hat.  Wer  wissend  und  ohne 
Einrede  seine  Geschäfte  von  einem  Dritten  führen  läßt, 
zeigt  sich  hierdurch  einverstanden.  Hier  braucht  also  nicht 
mehr  die  Voraussetzung  seines  Willens  durch  die  Bedin- 
gung der  Notwendigkeit  und  Nützlichkeit  des  Geschäfts 
und  die  höchste  Sorgfalt  der  Geschäftsführung  gerecht- 
fertigt zu  werden,  wie  dies  dann  notwendig  ist,  wenn  sein 
Wille  als  einer  ihm  unbekannten  Handlung  um  der  allge- 
meinen vernünftigen  Natur  des  Willens  halber  einwohnend 
betrachtet  werden  soll,  sondern  indem  hier  sein  Wille  zu 
der  bestimmten  ihm  bekannten  Handlung  des  gestor 
in  seinem  Stillschweigen  vorliegt,  fallen  hier  jene  Ver- 
mittelungsbedingungen  weg  und  die  negotiorum  gestio  geht 
hier  von  selbst  in  das  Mandatum  tacitum  über.  Mit  Recht 
sagt  daher  Ulpian1):  ..Semper  qui  non  prohibet  pro  se 
intervenire,  mandare  creditur". 

Es  ist  ersichtlich,  daß  es  von  der  größten  Wichtigkeit 
war,  die  negotiorum  gestio  in  diese  ihre  innere  Natur  eines 
vom  Gesetze  vorausgesetzten  und  darum  bedingten  Willens 
des  dominus  aufzulösen.  Denn  wäre  dies  nicht  der  Fall, 
so  würde  zwar  ein  im  Laufe  einer  negotiorum  gestio 
eintretendes  neues  Gesetz,  welches  die  Pflichten  des  gestor 
erschwert,  dennoch  nicht  zur  Anwendung  kommen 
können,  weil  seitens  des  gestor  auch  ganz  äußerlich  frei- 


M  L.   60  de  reg.   jur.    (50,   17). 

215 


willige  Handlungen  vorliegen,  die  nicht  rückwirkend  ver- 
ändert werden  können.  Wohl  aber  würde  es  von  einem 
im  Laufe  der  gestio  eintretenden  neuen  Gesetze,  welches 
die  Pflichten  des  gestor  erleichtert,  seine  Lage  so- 
mit nur  verbessert,  scheinen  können,  daß  es  demselben 
sofort  zugute  kommen  muß.  Und  in  der  Tat  würde  dies 
(vergl.  §  12)  der  Fall  sein,  wenn  die  Rechte  des  dominus 
nur  aus  dem  Gesetze,  und  nicht  vielmehr,  wie  nach- 
gewiesen, aus  seinem  eigenen,  vom  Gesetz  vorausge- 
setzten und  deshalb  bedingten  Willen  flössen, 
wodurch  die  negotiorum  gestio  den  Charakter  eines  zwi- 
schen gestor  und  dominus  geschlossenen  konditio- 
neilen Kontrakts  erhält,  woraus  er  st  die  Bezeich- 
nung der  „Quasikontrakte"  ihr  wahres  Licht  und 
innere  Berechtigung  empfängt1),  und  wonach  das  Er- 
worbensein der  beiderseitigen  Rechte  sich,  da  sie  durch 
wirklichen  und  angenommenen  individuellen  Willen  ver- 
mittelt sind,  mit  Notwendigkeit  ergibt. 

Dieselbe  Natur  wie  die  negotiorum  gestio  hat  auch  die 
condictio  indebiti  auf  seiten  des  Empfängers.  Das 
Gesetz  kann  bei  ihm  den  normalen  Willen  unterstellen, 
für  den  eventuellen  Fall,  daß  eine  Schuld  nicht  vorhanden 
sei,  zurückzuzahlen.  Die  Unterstellung  eines  entgegen- 
gesetzten eventuellen  Willens  würde  einen  dolus  in 
sich  schließen2),  der  nicht  präsumiert  werden  kann.    Es 

x)  Die  Institutionen  bewältigen  diese  innere  Berechtigung 
also  durchaus  nicht,  wenn  sie  in  der  äußerlichsten  Weise  de- 
finieren ,,sed  tarnen,  quia  non  ex  maleficio  substantiam  capiunt, 
quasi  ex  contractu  nasci  videntur"  (Inst.,  III,  27).  S.  über 
den  Quasikontrakt  später  beim  Erbrecht  (Bd.   2). 

2)  Denn  das  beim  Empfänger  vorhandene  Bewußtsein 
der  Nichtschuld  schließt  sogar  nach  römischem  Recht  einen 
Diebstahl  in  sich  ein.  L.  18  de  cond.  furtiva  (13,  1)  :  „  . .  .  fur- 
tum fit,  cum  quis  indebitos  numos  sciens  acceperit. 

216 


erscheint  daher  ganz  konsequent  und  der  vorstehenden 
Natur  der  Sache  entflossen,  wenn  der  Code  Napoleon. 
Art.  1376,  ausdrücklich  erklärt:  „Celui  qui  recoit  par 
erreur  ou  sciemment  ce  qui  ne  lui  est  pas  du,  s'oblige  ä  le 
restituer  ä  celui  de  qui  il  l'a  indüment  recu." 

D.  Usukapion. 

Rechte,  welche  scheinbar  aus  bloßen  Ereignissen 
entspringen,  können  sich,  auch  ohne  durch  das  Familien- 
recht vermittelt  zu  sein  (s.  sub  A),  in  solche  auflösen, 
die,  nach  der  Anschauung  des  Gesetzes,  vielmehr  der 
eigenen  Willensaktion  des  Individuums  entflossen  sind. 

Dies  ist  der  Fall  bei  der  Usukapion  (Ersitzung) 
und  den  ihr  analogen  Verjährungsarten  (longi  temporis 
praescriptio  und  nonusus  bei  Servituten). 

Die  Usukapion  kann  zunächst  erscheinen  als  ein  Recht, 
das  bloß  durch  den  Ablauf  eines  Zeitraums  ent- 
steht ;  oder  als  ein  bloß  positives  zur  Vermeidung 
von  Unsicherheit  und  Streitigkeiten  vom  Gesetz  einge- 
führtes Zweckmäßigkeitsinstitut.  Dann  würde  das  aus 
ihr  entspringende  Recht  als  ein  bloß  vom  Gesetz  ge- 
gebenes, auch  nach  bereits  vollendeter  Usukapion 
durch  ein  dieses  Institut  aufhebendes  oder  ihre  Folgen 
modifizierendes  neues  Gesetz  getroffen  werden  müssen. 
Diese  Folgerung  tritt  aber  nicht  ein,  weil  jene  Voraus- 
setzung, auf  der  sie  beruht,  eine  irrige  wäre. 

Der  durch  die  Usukapion  vermittelte  Erwerb  entspringt 
vielmehr  aus  dem  Bewußtsein  und  der  Tätigkeit 
des  Individuums.  Ich  vermeinige  eine  Sache  dadurch,  daß 
ich  sie  mit  meinem  Wissen  (bona  fides)  und  Willen  als 
die  m  e  i  n  i  g  e  setze  und  einen  bestimmten  Zeitraum  hin- 
durch als  solche  behandele.  Das  Wissen  ihrer 
als   der  meinigen   ist   daher  erforderlich,   weil   sonst  der 

217 


Wille,  sie  als  die  m  e  i  n  i  g  e  zu  s  e  t  z  e  n  l),  ausgeschlossen 
oder  wegen  seines  dolus  unwirksam  wäre.  Es  ist  also  der 
animus  domini,  der  bestimmte  Wille  des  Individuums,  eine 
Sache  als  die  seinige  zu  setzen  und  zu  behandeln,  welcher 
sie  ihm  als  die  seinige  erzeugt.  Die  Usukapion 
hat  also  eine  analoge  Natur  wie  die  Okkupation  einer 
herrenlosen  Sache  durch  den  individuellen  Willen,  nur, 
daß  bei  der  Usukapion  der  Erwerb  nicht  durch  die  bloße 
Ergreifung  geschehen  kann,  sondern  das  Individuum  sie 
eine  bestimmte  Zeit  hindurch  als  die  seinige  gewollt  und 
behandelt  haben  muß,  ohne  daß  in  dieser  Zeit  der  Eigen- 
tümer seinen  Willen  an  ihr  gesetzt  hat.  Nur  die  quanti- 
tative Bestimmung  dieser  Zeitdauer,  welche  der  Wille 
und  die  Tätigkeit  des  Individuums  braucht,  um  wirksam 
zu  werden  und  die  einem  Dritten  gehörende  Sache  für 
sich  zu  erwerben,  ist  wahrhaft  positiver  Natur  an  der 
Usukapion. 

Ist  daher  die  vom  Gesetz  gegebene  Frist  einmal  abge- 
laufen, so  ist  die  Usukapion  als  ein  durch  die  individuelle 
Willensaktion  vermittelter  Erwerb  ein  wahrhaft  erworbenes 
Recht,  welches  daher  durch  kein  späteres  die  Usukapion 
modifizierendes  Gesetz  berührt  werden  darf. 

Zugleich  folgt  gerade  aus  dem  Gesagten  von  selbst,  daß 
die  quantitativen  Fristen,  innerhalb  deren  die  Usu- 
kapion wirksam  wird,  als  rein  positive  und  nur  vom 
Gesetz  gegebene  Bestimmungen,  eben  deshalb  während 
ihres    Laufes    jedem   Gesetzwechsel   unterworfen   bleiben 


*)  Es  reicht  deshalb  nicht  die  Abwesenheit  der  mala  fides 
hin,  sondern  es  ist  das  positive  Wissen  der  Sache  als  der 
meinigen  notwendig,  damit  die  Usukapion  beginne,  s.  z.  B.  L.  1 
C.  de  acqu.  et  ret.  poss.  (7,  32),  per  liberam  personam  igno- 
ranli  quoque  possessionem  adquiri,  et  postquam  säentia  inter- 
venerit,  usucapionis  conditionem  inclwari  posse  etc. 

218 


und  durch  ein  Eintreten  desselben  sofort  verlängert  und 
resp.  verkürzt  werden  müssen.  Hier  wird  keine  indivi- 
duelle Handlung  ex  post  verändert,  da  die  wirksame  indi- 
viduelle Handlung  bei  der  Usukapion  nur  die  eine  ist, 
welche  erst  mit  ihrer  Ausdehnung  über  den  bestimmten 
Zeitraum  vollbracht  ist  und  die  einzelnen  Tathandlungen 
des  Individuums  bis  dahin  bloß  eine  faktisch  vorbereitende, 
keine  juristisch  oder  begrifflich  wirksame  Natur  haben. 

E.  Unterlassungen.  Klagverjährung  ;  obligatio  naturalis  und 

civilis.    ■ — ■    Erleichterndes   Gesetz ;    Beweisförmlichkeiten 

und   Formen  für  das    Dasein  eines   zivilen   Willens. 

Rechte,  welche  aus  bloßen  Unterlassungen  ent- 
stehen, sind  durch  individuelle  Handlungen  vermittelt  und 
haben  somit  die  Natur  erworbener  Rechte,  wenn  diese 
Unterlassungen  ein  verstecktes  Handeln  darstellen. 

Dies  ist  der  Fall,  wenn  Gesetze  die  Erhaltung  von 
Rechten  an  ihre  Wahrnehmung  innerhalb  eines  bestimmten 
Zeitraums  knüpfen  (vgl.  §  6).  Das  Nichthandeln  inner- 
halb desselben  wird  hier  zum  Handeln ;  zur  freiwilli- 
gen Entäußerung  des  vorhanden  gewesenen  Rechts. 
Dies  tritt  ein  bei  der  Klagverjährung1). 

Es  ist  dieser  Gedanke,  welcher  Paulus  zu  dem  Aus- 
spruche bestimmt :  ,,Qui  non  facit  quod  facere  debet,  vide- 
tur  facere  adversus  ea  quia  non  facit"  2). 

Wenn  hiernach  seitens  des  Gläubigers  bei  der  Klag- 
verjährung   stillschweigend    ein    freiwilliges   individuelles 

x)  Wegen  dieser  ihrer  eine  freiwillige  Handlung  darstellen- 
den Natur  muß  es  daher  heißen :  ,,agcre  non  volenti  non  carrit 
praeseiptio." 

2)  L.  121  De  R.  J.  (50,  17),  cf.  L.  28  pr.  de  V.  S.  (50, 
16) :  Eum  quoque  alienare  dicitur  qui  non  utendo  amisit  Ser- 
vitutes. 

219 


Handeln  vorliegt,  so  wird  nicht  weniger  auf  Seiten  des 
Verpflichteten  ein  solches  nachweisbar  sein.  Denn  wenn 
man  auch  hierauf  die  Regeln  von  der  Schenkung  und  dem 
Verzicht  anwenden  will,  nach  welchen  im  allgemeinen 
stets  Akzeptation  erforderlich  ist,  um  den  Verzicht  bindend 
zu  machen1),  so  würde  doch  schon  die  allgemeine  An- 
nahme schwerlich  eine  erhebliche  Schwierigkeit  verursachen 
können,  daß,  wo  der  Verzicht  ein  stillschweigen- 
der ist,  auch  der  Natur  der  Sache  nach  die  Akzepta- 
tion desselben  nur  eine  still  schweigende  zu  sein 
braucht,  ja,  häufig  nur  sein  kann  und  daher  hinreichend 
in  dem  Faktum  der  Nichtzahlung  vorliegt.  Hiermit  würde 
auch  übereinstimmen,  daß  in  den  sehr  wenigen  Fällen,  wo 
Schenkungen  durch  bloße  Unterlassungen  zulässig  sind2), 
eine  besondere  Akzeptation  nicht  gefordert  wird  und  häu- 
fig selbst  nicht  denkbar  erscheint. 

In  der  Tat  aber  ist  es  zu  einer  gründlicheren  Beseitigung 
dieser  Schwierigkeit  erforderlich,  den  Umfang  der  Ent- 
äußerung genauer  zu  bestimmen,  welche  in  der  Hand- 
lung des  Berechtigten  vorliegt,  wobei  sich  zugleich  Licht 
über  eine  andere  vielbestrittene  Frage  ergeben  wird.  — 
In  dem  Eintretenlassen  der  Klagverjährung  liegt  seitens 
des  Berechtigten  nicht  die  notwendige  Absicht,  den 
Schuldner  zu  bereichern,  es  liegt  nicht  die  positive 
Absicht  notwendig  darin,  nicht  bezahlt  zu  werden, 
sondern  nur  dies  liegt  dann:  es  auf  den  freien  Willen 
des  andern  ankommen  lassen  zu  wollen,  ob  er 
werde  zahlen  wollen  oder  nicht.  Hieraus  folgt 
also:  es  wird  nur  auf  das  Zwangsmittel  zur  Beitrei- 


*)  Vgl.  von  Meyerfeld,  Die  Lehre  von  den  Schenkungen 
(Marburg  1835),  I,  208,  und  Fritz  im  Jur.  Archiv,  VIII. 
Nr.  15. 

2)  Vgl.   Savigny,  System,  Beil.   IX  zu  Bd.   4. 

220 


bung  der  Forderung  verzichtet,  nicht  auf  diese  selbst1), 
oder,  was  hierdurch  wieder  notwendig  gegeben  ist,  es  wird 
nur  auf  den  zivilen  Charakter  der  Obligation  verzichtet, 
die  obligatio  naturalis  bleibt  bestehen2). 

Wer  eine  Schuld,  die  nur  eine  obligatio  naturalis  dar- 
stellt, freiwillig  bezahlt  oder  expromittiert,  schenkt  da- 
durch nicht,  weil  er  den  andern  dadurch  nicht  wirklich  be- 
reichert, sondern,  obgleich  er  nicht  durch  Zwang  zur 
Zahlung  angehalten  werden  konnte,  ihm  doch  nur  leistet, 
was  ihm  ohnehin  wirklich  zustand3).  „Der  Umfang  des 
Vermögens  ist  dadurch  nicht  erweitert"4). 


*)  Ein  Gegensatz,  den  man  gewöhnlich,  obgleich  nicht  ganz 
angemessen,  so  ausdrückt:  daß  die  actio,  nicht  das  Recht, 
zerstört   wird. 

2)  Aus  der  obigen  Entwicklung  scheint  uns  ein  entschei- 
dendes Licht  auf  die  sehr  kontroverse  Frage  zu  fallen,  ob 
die  Klagverjährung  eine  obligatio  naturalis  übrig  läßt  oder 
nicht  (s.  die  Literatur  bei  Savigny,  System,  V,  373,  Note), 
eine  Frage,  die  ohnehin  von  den  meisten  und  angesehensten 
Autoren  im  bejahenden  Sinne  entschieden  wird.  Näher  hier 
darauf  einzugehen,  ist  nicht  am  Ort.  Nur  so  viel  ist  zu  be- 
merken, daß  das  hier  von  der  Klagverjährung  Gesagte  natür- 
lich nur  von  den  persönlichen  Klagen  gelten  kann.  Bei 
den  Klagen  in  rem  liegt  der  Schwerpunkt  in  der  von  der 
Klagverjährung  ganz  verschiedenen  Usukapion,  d.  h.  in  der  in- 
dividuellen Tätigkeit,  bei  welcher  sich  (s.  oben  sub  D.)  der 
individuelle  Wille  durch  seine  Tätigkeit  die  Sache  als  die 
seinige  erzeugt  (erwirbt),  ganz  unabhängig  von  dem  Eigen- 
tümer, und  daher  actio  und  obligatio  zugleich  ausschließt.  Die 
auch  bei  der  Usukapion  seitens  des  früheren  Eigentümers  unter- 
laufende Nichthandlung  und  Klagverjährung  tritt  hier  ganz  in 
den  Hintergrund  und  gibt  nur  die  bloße  Möglichkeit  für  den 
Usukapienten  ab,   sich  das  Eigentum  zu  erzeugen. 

3)  L.  19,  §  4  de  don.  (39,  5);  L.  64  de  cond.  indeb. 
(12,  6)   naturale   agnovit  debitum." 

4)  Worte  Savignys,   IV,   53. 

221 


Dies  wird  daher,  wenn  durch  die  Klagverjährung  die 
obligatio  naturalis  nicht  aufgehoben  wird,  jeder  auch  für 
die  Zahlung  der  verjährten  Schuld  gelten  lassen  müssen. 
Bewirkt  die  Zahlung  der  bloßen  obligatio  naturalis  keine 
Bereicherung  des  Gläubigers,  weil  diese  ohnehin  im  recht- 
lichen Sinne  zu  seinem  Vermögen  gehört,  so  kann  auch 
die  in  einer  Unterlassung  stehende  Handlung,  durch  welche 
eine  zivile  Obligation  zu  einer  bloß  naturalen  wird,  keine 
rechtliche  Bereicherung  des  Schuldners  bilden.  Dieser 
Rückschluß  ist  bereits  von  Savigny  versucht  worden1). 
Derselbe  gerät  jedoch  dabei  wieder  ins  Schwanken.  „Für 
ganz  entscheidend,"  sagt  er2),  „dürfte  indessen  dieser 
Grund  nicht  gelten.  Die  naturalis  obligatio  hat  ihren  Halt, 
abgesehen  von  zufälligen  Zwangsmitteln,  in  der  rechtlichen 
Gesinnung  des  Schuldners,  und  darum  hauptsächlich  gilt 
hier  die  freiwillige  Zahlung  oder  Expromission  nicht  als 
Schenkung,  sondern  als  gewöhnliche  Schuldenzahlung. 
Wenn  aber  der  Gläubiger  die  Klag  Verjährung  wissentlich 
ablaufen  läßt,  welches  nur  eine  Form  des  Erlasses 
ist,  so  ist  durch  dessen  Willen  in  dem  Schuldner  jener 
Beweggrund  (der  freiwilligen  Pflichterfüllung)  aufge- 
hoben." 

Es  muß  aber  bereits  klar  sein,  auf  welcher  nicht  hin- 
reichend scharfen  Unterscheidung  dieser  Einwurf,  den 
Savigny  sich  macht,  beruht,  und  wie  er  mit  der  obigen 
Begriffsbestimmung  von  selbst  verschwindet.  Es  ist  näm- 
lich nicht  wahr,  daß  die  Klagverjährung  eine  „Form 
des  Erlasses"  ist.    Denn  die  Schuld  selbst  wird  bei 


x)  System,  IV,  583:  ,,Da  nun  durch  die  Klagverjährung 
lediglich  eine  civilis  obligatio  in  eine  naturalis  verwandelt  wird, 
so  scheint  auch  diese  umgekehrte  Veränderung  nicht  als  Schen- 
kung  betrachtet    werden   zu   dürfen." 

-)  Das.   Note  a. 

222 


ihr  ni  cht  erlassen  1),  sondern  nur,  indem  auf  die  Zwangs- 
mittel verzichtet  wird,  die  Bezahlung  derselben  in  den 
rechtlichen  Willen  des  Schuldners  gestellt2). 
Indem  nun  aber  der  rechtliche  Wille  auf  die  freiwillige 
Pflichterfüllung  gerichtet  sein  soll,  fällt,  weil  eben  nur  an 
diesen  Willen  appelliert,  die  Schuld  selbst  aber  nicht 
erlassen  worden  ist,  der  Beweggrund  der  freiwilligen 
Pflichterfüllung  durchaus  nicht  fort  und  die  naturalis  obli- 
gatio bleibt  bestehen.    Oder,  was  der  richtigere  und  den 


-1)  Dies  beweist  sich  aufs  strengste  durch  die  juristische 
Wirkung,  welche  der  naturalis  obligatio  noch  immer  als  ex- 
ceptio zukommt,  z.  B.  zum  Behuf  der  Kompensation  oder  bei 
dem  Pfandrecht  usw.  Eine  solche  fortdauernde  juristische  Wirk- 
samkeit der  naturalis  obligatio  wäre  ja  aber  schlechterdings  un- 
möglich, wenn  durch  die  Reduzierung  der  civilis  obligatio 
auf  die  naturalis  obligatio  die  Schuld  selbst  erlassen  würde 
[gleichviel  ob  diese  Reduktion  durch  Klagverjährung  oder  durch 
eine  andere  ebenso  wirkende  Ursache  vor  sich  geht,  wie  z.  B. 
die  Prozeßverjährung,  von  der  ja  ganz  positiv  feststeht, 
daß  sie  —  L.  8,  §  1  ratam  rem  (46,  8)  —  ein  „naturale  de- 
bitum,"  das  kompensiert  werden  kann  usw.,  zurückläßt].  Ja, 
wer  einmal,  wie  Savigny,  der  Ansicht  ist,  daß  die  Klagver- 
jährung eine  naturalis  obligatio  bestehen  läßt,  der  müßte  dann 
ja,  weil  doch  durch  sie  eben  gar  nichts  anderes  bewirkt 
wird  als  die  Reduktion  der  civilis  auf  die  naturalis  obligatio, 
wenn  diese  dennoch  einen  Schulderlaß  in  sich  schließen  soll, 
ebenso  gut  bei  allen  anderen  freiwilligen  Handlungen,  durch 
welche  ich  Anlaß  zu  einer  diese  Reduktion  bewirkenden  exceptio 
(z.B.  zur  exceptio  SC.  Macedoniani)  gebe,  einen  solchen  Er- 
1  a  ß  der  Schuld  annehmen. 

2)  Dies  ist  also  der  durchgreifende  Gedankenunterschied  zwi- 
schen dem  Eintretenlassen  der  Verjährung  und  zwischen  der 
Akzeptilation  oder  dem  Paktum,  welche  eben  den  Erlaß 
der  Schuld  selbst  darstellen  und  deshalb  durch  ihre  Ver- 
tragsform auch"  die  besondere  Akzeptation  des  Schuldners  er- 
fordern. 

223 


wahrhaften  Grund  enthaltende  Ausdruck  der  Sache  ist,  es 
ist  wegen  des  Verzichts  auf  den  Zwang  noch  nicht  die 
positive  Absicht,  den  Schuldner  zu  bereichern,  vor- 
handen. Der  Gläubiger  hat  sich  nur  der  Zwangsmittel 
entäußert,  nicht  der  Forderung  selbst.  Diese  frei- 
willige, aber  auf  die  bloßen  Zwangsmittel  beschränkte 
Entäußerung  des  Gläubigers  liegt  sogar  auch  dann  vor, 
wenn  derselbe  aus  bloßer  Nachlässigkeit  die  Klagverjäh- 
rung eintreten  ließ.  Denn  wer  sich  um  die  Formen  und 
Bedingungen,  welche  ihm  das  jus  civile  zur  gesicherten  Er- 
langung seiner  Rechte  vorschreibt,  nicht  bekümmert,  ver- 
zichtet allerdings  freiwillig  auf  diese  ihm  durch  das 
positive  Recht  dargebotene  Sicherheit  und  kann  somit 
um  jedes  zivile  Mittel  zur  Durchführung  seiner  Ansprüche 
kommen ;  allein  eine  positive  Absicht  zu  schenken  ist  auch 
bei  ihm  nicht  vorhanden1). 

Wenn  aber  feststeht,  daß  die  Klagverjährung  seitens 
des  Gläubigers,  obwohl  eine  freiwillige  Handlung  desselben 
und  eine  Entäußerung  der  Zwangsmittel  darstellend,  den- 
noch keine  notwendige  Absicht  zu  bereichern  in  sich 
schließt,  so  ist  damit  auch  erklärt,  warum  bei  diesem 
Verzicht  keine  besondere  Akzeptation  hinzuzutreten 
braucht,  um  denselben  bindend  zu  machen. 


x)  Die  Klagverjährung  ist,  wie  ihr  Begriff  und  ihre  Ge- 
schichte gleichmäßig  zeigen,  zunächst  ein  rein  positives 
Rechtsinstitut.  Zu  einer  Willensaktion  des  Individuums 
wird  sie  erst  dadurch,  daß  unter  dem  Dasein  dieses  Gesetzes 
das  Individuum  die  von  demselben  gegebenen  Fristen,  welche 
ihm  zur  Wahrung  seiner  Rechte  gestellte  Bedingungen  aus- 
machen, freiwillig  verstreichen  läßt.  Das  ursprünglich  rein  legale 
Recht  wird  also,  wie  bei  der  Klage  (s.  §  3  und  6),  durch 
Ergreifung  desselben  durch  das  Individuum  zu  einem  indi- 
viduellen, nur  daß  hier  die  Handlung  in  der  Form  des  Nicht- 
handelns  auftritt. 

224 


In  der  Tat  liegt  aber  diese  Annahme,  stillschweigend 
wie  der  Verzicht  des  Gläubigers,  ebenso  auf  Seite  des 
Schuldners  vor. 

Wenn  der  Gläubiger  durch  seine  Unterlassung  erklärt, 
daß  die  Zahlung  der  Schuld  auf  den  Willen  des  Schuld- 
ners ankommen  solle,  so  ist  die  Unterlassung  des  letztern 
—  das  Nichtzahlen  innerhalb  der  Verjährungsfrist  — 
gleichfalls  ein  verborgenes  Handeln,  durch  welches  er 
dies  annimmt,  daß  es  von  nun  an  auf  seinen  Willen 
ankommen  solle1).  Dies  ist  auch  dann  der  Fall,  wenn 
der  Schuldner  aus  bloßer  Sorglosigkeit  oder  Unkenntnis 
der  Schuld  nicht  gezahlt  hat.  Diese  Sorglosigkeit  und 
Unkenntnis  selbst  drückt  gewiß  aus,  daß  er  damit  zu- 
frieden ist,  wenn  zivile  Zwangsmittel  gegen  ihn  untergehen 
und  die  Erfüllung  seiner  rechtlichen  Pflichten  in  seine 
natürliche  und  moralische  Verbindlichkeit  übergeht2).  Wer 
dies  nicht  will,  wer  den  Gläubiger  gegen  sich  selbst  oder 
z.  B.  seine  eigenen  Erben  sichern  will,  der  muß  sich 
um  seine  Schulden  bekümmern  und  vor  dem  Ablauf  der 
Verjährung  zahlen.    Es  liegt  also  ein  zwar  stillschweigen- 


*)  Es  fällt  von  hier  aus  ein  Blick  mehr  auf  die  Bedeutung 
der  Regel  des  Ulpian,  L.  1  de  except.  (44,  1):  ,,Agere  enim 
is  videtur  qui  exceptione  utitur,  nam  reus  in  exceptione  actor 
est."  Wenn  der  handelt,  der  sich  einer  Exception  bedient,  so 
handelt  gewiß  auch  der,  der  sich  durch  willkürliches 
Nichthandeln   diese    Exzeption    schafft. 

2)  Die  bestimmte  Hervorhebung  dieses  Punktes  ist  durchaus 
nicht  überflüssig,  denn  es  verhält  sich  allerdings  so,  daß  keinem 
eine  Vermögensvergrößerung  wider  seinen  Willen  aufgezwungen 
werden  und  hierin  sogar  eine  injuria  liegen  kann ;  s.  Böcking, 
Pandekten  des  römischen  Privatrechtes,  I,  366.  Note  12.  Aus 
dem  Obigen  folgt  nun  aber  auch,  daß  der  Schuldner  trotz 
der  bereits  eingetretenen  Klagverjährung  vom  Gläubiger  nicht 
gehindert   werden    kann,    die   verjährte    Schuld   zurückzuzahlen. 

15   L««ll«.  Ges.  Schritten.  Bana  IX.  225 


des,  aber  deshalb  nicht  weniger  vollständiges  beiderseitiges 
Übereinkommen  vor,  durch  welches  ein  ursprüng- 
liches Geschäft  des  Zivilrechts  aus  der  Sphäre  des  Zivil- 
rechts heraus-  und  in  den  freien  naturalen  Willen  hinein- 
versetzt wird,  gerade  so,  wie  es  den  Parteien  ja  von  vorn- 
herein freigestanden  hätte,  ihre  Handlungen  so  einzurich- 
ten, daß  sie  gleich  ursprünglich  den  Kreis  des  Zivilrechts 
vermieden  und  nur  ein  Verhältnis  zu  dem  bloß  natürlichen 
Willen  begründeten. 

Wenn  unter  einem  Gesetze,  welches  bei  einem  Dar- 
lehnsvertrage  die  zivile  Gültigkeit  der  Zinsverabredung  von 
dem  Dasein  eines  schriftlichen  Vertrags  abhängig  macht 1), 
der  Gläubiger  unter  bloß  mündlicher  Verabredung  auf 
Zinsen  borgt,  so  ist  hierbei  gewiß  von  keiner  Absicht 
zu  bereichern  seitens  des  Gläubigers  die  Rede.  Diese 
ist  durch  seine  eigene  Handlung  —  die  mündliche 
Verabredung  Zinsen  zu  zahlen  —  vielmehr  aus- 
drücklich ausgeschlossen,  und  die  Errichtung 
eines  schriftlichen  Vertrags  nur  wegen  eines  Vertrauens 
auf  die  Gesinnung  des  Schuldners  oder  aus  Nachlässig- 
keit unterlassen  worden.  Aber  diese  Verpflichtung  wurde 
durch  die  Unterlassung  des  schriftlichen  Vertrags  von 
beiden  Seiten  von  vornherein  außerhalb  der  Zivilrechts- 
sphäre in  den  bloß  naturalen  Willen  aes  Schuldners  gesetzt 
und  bleibt  daher  nur  an  diesen  gebunden. 


x)  So  z.B.  Allgemeines  Landrecht,  T.  I,  Tit.  11.  §  729: 
„Soll  aber  ein  Darlehensvertrag  auf  eine  andere  bestimmte 
Zeit  gegen  Interessen  oder  auf  andere  Bedingungen  ge- 
schlossen werden,  so  ist,  wenn  dem  Gläubiger  eine  Klage  auf 
Erfüllung  dieeser  Verabredungen  zustehen  soll,  ohne 
Unterschied  der  geliehenen  Summe  ein  schriftlicher  Vertrag 
erforderlich." 

226 


Da  somit  ganz  ebenso  die  Klagverjährung  das  beider- 
seitige Übereinkommen  in  sich  schließt,  die  Erfül- 
lung einer  früher  zivilen  Verpflichtung  jetzt  in  den  natu- 
ralen Willen  des  Schuldners  zu  setzen,  so  wird  natürlich 
dieses  Übereinkommen,  wenn  es  einmal,  durch  Ablauf  der 
Frist,  eingetreten  ist,  durch  spätere,  die  Klagverjäh- 
rung aufhebende  Gesetze  nicht  mehr  geändert,  während 
ebenso  natürlich  solche  während  der  Verjährungsfrist 
—  also  ehe  ein  Übereinkommen  vorliegt  —  eintretende, 
die  Verjährung  aufhebende  oder  modifizierende  Gesetze 
sofort  einwirken  müssen. 

Vielleicht  würde  man  gegen  diese  Darstellung  ein- 
wenden wollen,  sie  laufe,  da  sie  die  Klagverjährung  als 
ein  Übereinkommen  auffaßt,  welches  die  Schuld  zwar  nicht 
erläßt,  aber  ihre  Entrichtung  nur  an  den  naturalen  Willen 
des  Schuldners  bindet,  auf  eine  Stipulation  hinaus,  durch 
welche  der  Schuldner  unter  der  Bedingung,  si  velit,  etwas 
verspricht,  eine  bekanntlich  das  Dasein  einer  Obligation 
ganz  vernichtende  Stipulation1).  Diese  Vergleichung  ist 
zwar  von  scheinbarer,  in  der  Tat  aber  von  gänzlich  täu- 
schender Natur.  Wenn  ich  stipuliere  und  dabei  meine 
Verpflichtung  an  die  bloße  Bedingung  meines  Willens 
binde,  so  begehe  ich  den  sich  selbst  aufhebenden  Wider- 
spruch, daß  ich  gleichzeitig  mich  zivilrechtlich 
verpflichte,  und  diese  zivilrechtliche  Verpflichtung 
zugleich  auch  wieder  aufhebe,  indem  ich  sie  an  meinen 
natürlichen  Willen  binde.  Durch  diese  Gleichzeitigkeit 
stellt  die  Erklärung  einen  sich  absolut  zerstörenden  inneren 
Widerspruch  dar.    Indem  ich  zugleich  stipuliere  und  die 


-)  L.  17;  L.  46.  §  3;  L.  108,  §  1,  de  vcrb.  oblig.  (45,  1); 
L.  7  pr.  de  contr.  emt.  (18,  1);  vgl.  Allgemeines  Landrecht, 
T.   I,  Tit.  4,  §  108,  und  Code  Napoleon,  Art.   1174. 

iß*  227 


Stipulation   wieder  aufhebe,  habe  ich  notwendig  nichts 
getan1). 

Ganz  anders  stellt  sich  das  Verhältnis  in  dem  von  uns 
betrachteten  Fall.  Hier  ist  —  bei  der  Klagverjährung  — , 
indem  der  zivilrechtliche  Zwang  nicht,  wie  bei  der  rein 
potestativen  Stipulation,  durch  die  Übereinkunft  selbst 
erst  gesetzt  wird,  sondern  ihr  vielmehr  vorausgeht2), 

x)  Durch  ein  interessantes  Urteil  entschied  der  Pariser  Kas- 
sationshof am  31.  Dezember  1843  (Sirey,  35,  1,  525),  daß 
ein  Kaufkontrakt,  welcher  die  Bestimmung  enthielt,  daß  der 
Kaufpreis  zahlbar  sein  solle  „ä  la  volonte  de  l'acquereur" 
und  bis  dahin  jährlich  exigible  Zinsen  tragen  solle,  keine  un- 
gültig machende  potestative  Bedingung  in  sich  schlösse,  weil 
er  eine  Rentenkonstitution  darstelle.  —  Wir  halten  die  Ent- 
scheidung für  richtig,  aber  schwerlich  das  so  ausgedrückte  Mo- 
tiv. Einen  Rentenkonstitutionsakt  hatten  die  Parteien  nicht  be- 
absichtigt, und  schon  deshalb  konnte  der  Akt  nicht  wohl  für 
einen  solchen  ausgegeben  werden.  Aber  durch  die  jährlich  exi- 
gibeln  Zinsen  war  allerdings  hervorgebracht,  daß  der  Akt  nicht 
den  oben  entwickelten  Widerspruch  enthielt,  einen  zivilen  Willen 
zu  setzen  und  ihn  wieder  gänzlich  aufzuheben  und  der  natu- 
ralen Freiheit  unterzuordnen.  In  bezug  auf  die  Hauptstipulation, 
die  Kaufpreiszahlung,  war  dies  der  Fall.  Aber  es  blieb  die 
zivile  Verpflichtung,  dann  Zinsen  zu  zahlen.  Es  war  somit 
etwas  getan,  ein  ziviler  Zwang  übriggeblieben  und  somit  die 
Selbstzerstörung,  welche,  wie  oben  gezeigt,  das  Wesen  der 
conditio   si   velit   bildet,   nicht  vollbracht. 

")  Mit  diesem  Vorausgehen  des  Zwangsverhältnis- 
ses hängt  es  auch  zusammen,  daß  bei  der  Erbeinsetzung  des 
Suus,  welcher  unfreiwilliger  Erbe  ist,  die  Hinzufügung  der 
Bedingung  si  velit  nicht  ungültig  ist,  sondern  seine  Verpflich- 
tung vielmehr  wirksam  aufhebt  und  den  Erwerb  der  Erbschaft 
für  ihn  zu  einem  freiwilligen  macht  (L.  86  de  her.  inst.,  28, 
5;  L.  12  de  cond.  inst.,  28,  7).  Man  kann  nicht  sagen,  es 
komme  dies  daher,  weil  dem  Suus  durch  das  Testament  auch 
erst  das  —  durch  die  Willensbedingungen  nur  modifizierte  — 
Recht  übertragen  werde.  Der  Suus  empfängt  das  Recht  nicht 

228 


und  durch  sie  nur  aufgehoben  wird,  allerdings 
etwas  getan  worden,  und  zwar  etwas  sich  selbst  durchaus 
nicht  Widersprechendes  und  sehr  Wirksames1). 

Gesetze  über  Klag  Verjährung  —  dies  war  das  Resultat 
unserer  Entwicklung  —  können  deshalb  auf  bereits  ver- 
jährte Forderungen  nicht  rückwirken,  weil,  wenn  einmal 
durch  die  beiderseitige  individuelle  Willensaktion  in  gül- 
tiger Weise  eine  Verpflichtung  von  dem  bloß  naturalen 
Willen  abhängig  und  dem  Zivilzwange  entsagt  worden  ist, 
diese  Beschränkung  der  Verpflichtung  auf  den  naturalen 
Willen  und  diese  Entsagung  auf  den  Zivilzwang  durch 
spätere  Gesetze  nicht  verändert  wrerden  können,  ohne 
frühere  individuelle  Handlungen  zu  alterieren  und  ihre 
Wirksamkeit  zu  entstellen. 

durch  das  Testament.  Er  hat  es  vor  demselben  und  trotz 
desselben,  wenn  er  in  ihm  präteriert  ist.  Damit  er  es  nicht  habe, 
muß  er  formell  exherediert,  das  Recht  ihm  also  durch  das 
Testament  erst  genommen  sein.  Auch  wird,  da  der  Suus  ja 
eben  zur  Erbschaft  gezwungen  ist,  durch  das  si  velit  nicht 
sein  Recht,  sondern  nur  seine  Verpflichtung  aufgehoben, 
und  es  ist  dies  also  allerdings  eine  Bestimmung,  durch  welche 
die  Verpflichtung  eines  Verpflichteten  an  seinen  natu- 
ralen Willen  gebunden  wird.  Die  Zulässigkeit  kommt  daher,  daß 
die  zivilrechtliche  Verpflichtung  dem  Testament  bereits 
vorhergeht  und  durch  dasselbe  nur  aufgehoben,  nicht  ge- 
setzt und  aufgehoben  zu  gleicher  Zeit  wird.  —  Nicht  hierher 
zu  ziehen  ist  der  ganz  anders  zusammenhängende  Fall  der 
conditio  si  velit  beim  Legat. 

*)  Und  ebenso  liegt  in  dem  obigen  Beispiel,  wo  kein  schrift- 
licher Vertrag  über  die  Zinsverabredung  gemacht  wurde,  nicht 
der  logische  Widerspruch  vor,  zugleich  eine  zivile  Pflicht  ein- 
zugehen und  sie  an  den  naturalen  Willen  zu  binden,  d.  h.  auf- 
zuheben, sondern  es  ist  nur  eine  Verpflichtung  des  bloß  natu- 
ralen Willens  hervorgebracht  und  die  Zivilsphäre  in  bezug  hier- 
auf ganz  vermieden  worden ;  ein  ganz  logisches  und  darum  voll- 
ständig wirksames  Tun. 

22Q 


Damit  haben  wir  aber  zugleich  das  Gesetz  für  eine 
sehr  wichtige  Frage  entwickelt,  die  nur  in  diesem  Zu- 
sammenhange in  ihrer  wahren  Natur  zu  begreifen  ist,  und 
deren  Verkennung  die  falschesten  Entscheidungen  zur 
Folge  gehabt  hat.  Diese  Frage  wäre,  bei  strengster  Fest- 
haltung der  logischen  Disposition  des  Werkes,  erst  an 
anderer  Stelle  zu  entwickeln.  Da  aber  ihre  Beantwortung 
ihrer  inneren  Natur  nach  ganz  aus  der  letzten  Entwicke- 
lung  resultiert,  so  ist  es  ein  wesentlicher  Vorteil  der 
Kürze  und  Deutlichkeit,  dieselbe  gleich  hier  anzureihen. 
Es  wird  daher  im  Interesse  der  logischen  Disposition  ge- 
nügen zu  bemerken,  daß  hier  eigentlich  der  §  2,  d.  h.  der 
Nachweis  des  versteckten  Umfangs  des  Begriffes,  sein 
Ende  erreicht  hat  und  der  nachfolgende  Exkurs  nur  des- 
halb hier  seine  Stelle  findet,  weil  die  betreffende  Frage 
doch  nur  im  Zusammenhange  mit  der  gegenwärtigen  Ent- 
wickelung  zu  begreifen  ist  und  durch  ihre  Einreihung  hier- 
selbst  daher  sonst  unerläßliche  weitläufige  Wiederholungen 
vermieden  werden.  —  Wir  stellen  die  Frage  gleich  so,  wie 
sie  ihrer  begrifflichen  Natur  nach  wirklich  gestellt  wer- 
den muß,  obgleich  sie  in  den  Fällen,  in  welchen  sie  inner- 
lich zur  Anwendung  kam,  eben  nicht  so  gestellt  worden  ist 
und  hieraus  dann  die  irrigen  Entscheidungen  fließen  mußten. 

Wie  wird  es  sich  nämlich  verhalten,  wenn  der  bloß 
naturale  Wille  durch  eine  Änderung  in  der  Gesetz- 
gebung in  die  Lage  kommt,  nunmehr  auch  den  Anforde- 
rungen zu  entsprechen,  die  an  das  Dasein  eines  zivilen 
Willens  gestellt  werden  ?  Wird  die  zur  Zeit  der  Hand- 
lung in  den  bloß  naturalen  Willen  gesetzte  Verpflichtung 
durch  das  neue  Gesetz,  wenn  nach  diesem  dieselbe  Hand- 
lung jetzt  auch  zur  Begründung  eines  zivilen  Willens 
hinreichen  würde,  hierdurch  nachträglich  zu  einer  zivilen 
Verpflichtung  ? 

230 


Die  Frage  braucht  aber  nur  so  gestellt  und  durch  diese 
Art  der  Fragestellung  in  ihre  wahrhafte  begriffliche  Na- 
tur aufgelöst  zu  werden,  um  nach  dem  oben  Entwickelten 
ihre  unbedingte  Verneinung  gewiß  zu  machen.  Denn  es 
würde  sonst  eine  unzweifelhafte  Rückwirkung  vorliegen. 
Es  würde  durch  diese  vom  Individuum  ungewollte  Ver- 
wandlung seines  naturalen  Willens  in  einen  zivilen  ihm 
Gewalt  angetan,  die  Freiheit,  die  es  sich  vorbehielt,  auf- 
gehoben und  seiner  Handlung  eine  größere  Wirksamkeit 
aufgezwungen,  als  sie  nach  der  Absicht  der  sich  mit  der 
Verpflichtung  des  naturalen  Willens  begnügenden,  dem 
Zivilzwange  entsagenden  Individuen  hatte  und  haben  sollte. 

Dies  kommt  zunächst  zur  Anwendung  bei  der  schon 
oben  (S.  226,  Anm.  1)  beispielsweise  angezogenen  Vor- 
schrift des  Allgemeinen  Landrechtes,  nach  welcher  die 
Zinsverabredung  beim  Darlehn  nur  dann  eine  Klage  ,,auf 
Erfüllung  dieser  Verabredung"  erzeugen  soll,  wenn 
ein  schriftlicher  Vertrag  darüber  geschlossen  worden. 

Wenn  nun  ein  neues  Gesetz  diese  Notwendigkeit  des 
schriftlichen  Zinsversprechens  aufhöbe,  würde  eine  imter 
dem  Allgemeinen  Landrecht  getroffene  mündliche  Zins- 
verabredung dadurch  wirksam  werden  ?  Man  entscheidet 
diese  Frage  verneinend,  und  diese  Entscheidung  ist  richtig. 
Aber  es  ist  nicht  bloß  von  theoretischem,  sondern,  wie  sich 
bald  zeigen  wird,  von  handgreiflich  praktischem  Interesse, 
darzutun,  wie  die  Gründe,  auf  welche  man  diese  Ent- 
scheidung stützt,  nicht  erschöpfend  sind  und  deshalb  in 
ihren  Konsequenzen  auf  große  materielle  Irrtümer  ge- 
führt haben  und  führen  mußten. 

Man  gründet  diese  Entscheidung  darauf,  daß  die  Form 
eines  Rechtsgeschäftes  stets  nach  den  Gesetzen  zur  Zeit 
seiner  Vollbringung  zu  beurteilen  sei,  und  verwechselt 
dabei,  sie  unterschiedslos  als  identisch  betrachtend,  d  i  e  - 

231 


jenige  Form  des  Rechtsgeschäftes,  welche  nach  dem 
Gesetze  zum  Dasein  eines  zivilen  Willens  über- 
haupt erforderlich  ist,  und  diejenige  Form,  welche 
vom  Gesetze  bloß  für  die  Beweis  fähigkeit  einer 
Handlung  gefordert  wird. 

Wenn  man  diese  Unterscheidung  nicht  macht,  so  ist  die 
Formel,  daß  es  in  bezug  auf  die  Form  des  Rechts- 
geschäftes auf  das  Gesetz  zur  Zeit  der  Handlung  an- 
kommt, zwar  unbedingt  richtig,  wenn  das  spätere  Gesetz 
die  Formen  des  Rechtsgeschäftes  erschwert.  Denn  hier 
würde  durch  die  Anwendung  des  späteren  Gesetzes  die 
früher  gewollte  Handlung  des  Individuums  vernichtet  wer- 
den. Aber  die  Formel  wird  sofort  schwierig  und  zweifel- 
haft, wenn  das  neue  Gesetz  die  Form  des  Rechtsgeschäftes 
nicht  erschwert,  sondern  erleichtert,  und  seine  An- 
wendung somit  nur  die  Aufrechterhaltung  des  in- 
dividuellen Willens  hervorbringt.  Hier  wird  die 
Formel  nicht  mehr  unbedingt  gelten1),  und  auch  wo  sie 
gilt,  scheint  sie  ihren  inneren  Grund,  ihre  begriffliche 
Wahrheit  zu  verlieren.  In  der  Tat,  worauf  gründet  sich 
jene  Formel,  daß  der  Kontrakt  nach  den  Gesetzen  zur 
Zeit  seiner  Schließung  zu  beurteilen  sei  ?  Darauf,  daß 
die  individuelle  Willensaktion  nicht  rückwirkend  dena- 
turiert werden  darf.  In  dem  von  uns  unterstellten  Falle 
war  aber  die  individuelle  Handlung  die,  daß  der 
Schuldner,  wie  wir  voraussetzen,  eingestandener- 
maßen Zinsen  zu  leisten  verabredet  hat.  Wie  also, 
wenn  nicht  weiter  unterschieden  wird,  könnte  er  sich  bei 
Anwendung  des  neuen  Gesetzes  über  rückwirkende  Ent- 
stellung seiner  individuellen  Willensaktion  beschweren  ? 


*)  Z.  B.  nicht  bei  den  Testamenten,  vgl.  Allgemeines  Land- 
recht und  unten  §  11. 

232 


Die  hier  entwickelte  Schwierigkeit  gewinnt  nur  eine 
äußere  Konsistenz  mehr  unter  der  Herrschaft  des  All- 
gemeinen Landrechtes  durch  den  §  17  der  Einleitung  des- 
selben, welcher  verordnet : 

„Frühere  Handlungen,  welche  wegen  eines  Mangels 
der  Förmlichkeit  nach  den  älteren  Gesetzen  ungültig  sein 
würden,  sind  gültig,  insofern  nur  die  nach  den  neueren 
Gesetzen  erforderlichen  Förmlichkeiten  zur  Zeit  des  dar- 
über entstandenen  Streits  dabei  angetroffen  werden." 

Allerdings  wird  dieser  Paragraph  von  fast  allen  Schrift- 
stellern (Savigny,  VIII,  409fg.  ;  Bornemann,  S.  17fg.) 
hart  getadelt,  Aber  seine  relative  Richtigkeit,  die  wohl 
hier  bereits  durchschimmert,  wird  uns  bald  ganz  deutlich 
zutage  treten.  Und  jedenfalls  muß  diese  gesetzgeberische 
Bestimmung  das  Gewicht  der  eben  entwickelten  begriff- 
lichen Einwendungen  gegen  die  ausreichende  Richtigkeit 
der  Formel  noch  verstärken. 

Faßt  man  die  Formel  tempus  regit  actum  gar  ausdrück- 
lich, wie  häufig  geschieht,  als  eine  Regel  über  die  Be- 
weisfähigkeit der  Handlung  auf,  so  bleibt  sie  rich- 
tig, wenn  das  neue  Gesetz  früher  zulässige  Beweismittel 
aufhebt.  Denn  die  Beweiskraft,  die  der  bestimmten  Form 
einer  individuellen  Handlung  nach  dem  Gesetze  beiwohnt, 
ist  ein  von  dem  Individuum,  das  diese  Handlung  vornahm, 
wie  jeder  andere  Teil  seiner  Handlung  freiwillig  G  e  - 
s  e  t  z  t  e  s  und  somit  wie  alles  seiner  Handlung  Inne- 
wohnende  von  ihm   Erworbenes1).    Das   Individuum 


1)  Diese  erworbene  Natur  der  in  einer  Handlung  nach  dem 
Gesetz  zur  Zeit  ihrer  Vollbringung  liegenden  Beweiskraft  ver- 
kennt Bergmann  gänzlich,  wenn  er  S.  84  meint,  daß  nach 
der  reinen  Idee  der  Sache,  die  er  in  höchst  gespenstischer 
Weise  überall  zu  den  positiven  Rechten  in  Gegensatz  bringt, 
auch  das  zur  Zeit  der  Handlung  zulässige  Beweismittel  durch 

233 


wählte  diese  Form  der  Handlung,  weil  sie  nach  dem  Ge- 
setze bereits  genügte,  den  Beweis  zu  erbringen,  und  würde 


das  neue  erschwerende  Gesetz  ausgeschlossen  werden  müßte. 
Er  gründet  dies  darauf,  daß  es  beim  Beweis  auf  die  Über- 
zeugung des  Richters  ankomme,  welche  durchaus  Sache 
der  Gegenwart  sei.  ,,Es  könnte  demnach,"  sagt  er,  „bei 
jenem  Resultat  nicht  darauf  gesehen  werden,  ob  die  zu  be- 
weisende Tatsache  in  der  Vorzeit  geschehen  sei,  zu  einer  Zeit, 
wo  man  die  Aussicht  auf  eine  leichte  Beweisführung  hatte ; 
es  könnte  nicht  einmal  darauf  ankommen,  ob  sie  bei  einem 
pendenten  Prozesse  schon  in  der  Vorzeit  durch  ein  Urteil  be- 
stimmt gewesen,  wie  der  Beweis  einzurichten  sei,  oder  ob  da- 
mals die  Beweisführung  schon  vorgenommen  worden  —  denn 
allen  diesen  Rechten  und  Erwartungen  müßte  die  jetzige 
Wahrheit  derogieren."  Dieses  Räsonnement  wurzelt  offenbar 
nur  in  dem  gänzlichen  Verkennen  des  Begriffes  der  Rückwirkung, 
der  nur  in  der  Aufhebung  individueller  Handlungen  und  durch 
sie  erworbener  Rechte  besteht  und  also  ebenso  gut  auch  auf 
das  durch  eine  Handlung  erworbene  Recht  ihrer  Beweiskraft 
platzgreift.  Erscheint  auch  der  Beweis  dem  Richter  nach  seinen 
jetzigen  Urteilsnormen  nicht  mehr  als  eine  Wahrheit  be- 
gründend, so  können  doch  die  Parteien  innerhalb  der  Privat- 
rechtssphäre, weil  und  soweit  sie  hier  über  das  Objekt 
des  Rechtsverhältnisses  selbst  willkürlich  transigieren 
können,  mit  derselben  gültigen  und  für  den  Richter  verbind- 
lichen Willkür  bestimmen,  was  für  sie  eine  Wahrheit  oder 
derselben  gleichstehende  Wirksamkeit  begründen  solle.  Die 
Pflicht  des  Richters,  die  Wahrheit  nach  seinem  Bewußtsein 
zu  untersuchen,  tritt  nur  ein,  insoweit  eine  solche  Bestimmung 
von  den  Parteien  nicht  getroffen  oder  insoweit  es  sich  um 
Dinge  handelt,  über  welche  die  Privatwillkür  nicht  transi- 
gieren kann,  weil  sie  dem  jus  publicum  entflossen  (hierüber 
s.  §  7).  Aber  auch  bei  diesen  kann  nicht  die  Rede  davon  sein, 
einer  vollbrachten  freiwilligen  Handlung  den  Zeugenbeweis  zu 
versagen,  weil  ein  späteres  Gesetz  nur  im  schriftlichen  Beweis 
die  Wahrheit  erblickt.  Denn  es  würde  diese  Anwendung  des 
neuen  Gesetzes  nicht  bloß  die  jetzige  Beweiskraft  der 
Vorschrift     desselben     unterwerfen,    sondern    vielmehr    hervor- 

234 


andernfalls  eine  andere  Form  gewählt  haben.  Hier  also 
kann  man  allerdings  die  Fiktion  anwenden,  daß  die  In- 
dividuen beim  Kontrakt  auch  über  die  Zulässigkeit  der 
zur  Zeit  gesetzlich  zulässigen  Beweismittel  kontrahieren. 
Aber  ganz  anders  stellt  sich  die  Frage,  und  ganz  falsch 
wird  die  Anwendung  dieser  Formel  da,  wo  das  neue  Ge- 
setz früher  nicht  zulässige  Beweismittel  zuläßt,  z.B. 
den  Zeugenbeweis,  wo  er  früher  ausgeschlossen  war.  In 
dem  ersten  Fall  hat  der  Kontrahent  durch  die  damals  be- 
weisfähige Form,  die  er  für  seine  Handlung  wählte,  diese 
Beweisfähigkeit  als  einen  Teil  der  Handlung  bildend  zu 
einem  Erworbenen  gemacht.  In  dem  zweiten  Fall  hat  er. 
da  er  keine  Handlung  wählte,  die  nach  dem  damaligen 
Gesetze  beweisfähig  war,  keinen  Beweis  seiner  Hand- 
lung erworben,  er  hat  nur  kein  erworbenes  Recht  auf 
Beweis,  und  steht  somit  schon  darum  unter  der  so- 
fortigen Einwirkung  des  Gesetzes.  Denn  wo- 
her sollte  er  das  Recht  erworben  haben,  sich  durch 
keine  andern  Beweismittel  beweisen  zu  lassen,  als  durch 
die  zur  Zeit  des  Rechtsgeschäftes  gesetzlich  zulässigen,  die 
er  aber  noch  dazu  damals  nicht  ergriff  und  in  individuelle 
Handlungen  verwandelte,  die  also  um  so  mehr  bleiben,  was 
sie  waren :   bloße  gesetzliche  Bestimmungen  ? 

bringen,  daß  die  in  mündlicher  Form  geschehene  und  nach 
dem  Gesetze  zur  Zeit  ihrer  Vollbringung  in  dieser  Form  gültige 
und  wirksame  individuelle  Handlung  durch  das  neue  Gesetz 
zu  einem,  weil  nicht  in  schriftlicher  Form  gehandelt 
würde,  ungültigen  und  unwirksamen  Handeln  herabgesetzt  würde. 
Es  würde  also  die  Anwendung  des  Gesetzes  sich  aus  einer  An- 
wendung auf  die  jetzige  Beweiskraft  in  eine  Anwendung  auf 
die  formelle  Perfektion  der  damaligen  Handlung  ver- 
kehren, d.  h.  in  die  schreiendste  Rückwirkung,  in  die  nach- 
trägliche Vernichtung  der  formellen  Gültigkeit  indivi- 
dueller Handlungen. 

235 


Zur  Zeit  der  Handlung  waren  diese  Beweismittel  un- 
zulässig. Aber  nur  durch  die  Kraft  des  Gesetzes. 
Welche  Beweismittel  zulässig  sein  sollen  —  dies  ist  eine 
bloße  Bestimmung  des  Gesetzes,  an  und  für  sich  ganz 
unabhängig  vom  Willen  des  Individuums.  Diese  Bestim- 
mung ist  nun  auch  in  keiner  Weise  vom  Individuum  ver- 
seinigt worden,  denn  durch  Nichthandeln  —  in  der 
gesetzlich  beweisenden  Form,  ein  weiteres  liegt  nicht  vor 
—  erwirbt  sich  keiner  Rechte,  zu  deren  Erzeugung  ja 
eben  die  individuelle  Handlung  erforderlich  ist.  Noch 
deutlicher  wird  dies  vielleicht  in  folgender  Wendung :  Die 
Zulässigkeit  eines  Beweismittels  kann  erworben 
werden,  wenn  das  Individuum  dieselbe  eben  zu  seiner 
Willensaktion  und  Handlung  macht.  Sie  überdauert  daher 
den  Gesetz  Wechsel.  Die  Unzulässigkeit  eines  Be- 
weismittels dagegen  ist  eine  rein  prohibitive  Be- 
stimmung des  Gesetzes,  die  somit  von  der  individuellen 
Willkür  unabhängig,  niemals  von  selbst  und  stillschweigend 
als  ein  durch  sie  Gesetztes  erscheinen  kann.  Um  sie  zu 
einem  solchen  zu  machen,  bedürfte  es  einer  ausdrück- 
lichen Vertragsbestimmung  darüber,  daß  dies  Be- 
weismittel durch  den  Willen  der  Parteien  stets  aus- 
geschlossen bleiben  soll,  und  eine  solche  Vertragsbestim- 
mung liegt  nicht  vor,  wo  kein  schriftlicher  Vertrag  vor- 
liegt, oder  würde  sich  eventuell  wieder  nur  durch  Zu- 
lassung des  Zeugenbewejses  erweisen  lassen  können.  Darin 
aber,  daß  die  Parteien  das  gesetzlich  unzulässige  Beweis- 
mittel nicht  ausdrücklich  als  zulässig  bestimmt 
haben,  liegt  um  so  weniger  eine  stillschweigende  Aus- 
schließung seiner  Zulässigkeit  durch  ihre  eigene  Willkür 
vor,  als  vielmehr  eine  solche  Stipulation,  solange  das 
prohibitive  Gesetz  bestand,  ganz  ohne  Wirkung  geblieben 
wäre.   Die  übliche  Fiktion,  die  gesetzlichen  Verordnungen 

236 


als  stillschweigend  von  den  Parteien  in  den  Kontrakt  ge- 
schriebene Willensbestimmungen  zu  betrachten,  läßt  sich 
nur  auf  solche  Gesetze  anwenden,  die  vermittelnder,  nicht 
absoluter  Natur  sind,  d.  h.  auf  solche,  die  auch  ein  Ab- 
weichen von  ihrer  Vorschrift  der  individuellen  Willkür 
gestatten.  Hier  wird  durch  das  Nichtabweichen  von  der 
gesetzlichen  Regel  der  Rückschluß  begründet,  daß  der 
individuelle  Wille,  gerade  weil  er  von  der  gesetzlichen 
Regel  abweichen  konnte  und  dies  nicht  tat,  auch 
nicht  abweichen  wollte  und  somit  ihren  Inhalt  als  seinen 
individuellen  Willen  und  Bedingung  stillschweigend  in  den 
Kontrakt  gesetzt  hat.  Allein  jede  logische  Möglichkeit 
dieses  sich  nur  auf  das  Abweichen  können  gründenden 
Schlusses  fällt  fort,  wo  das  Gesetz  ein  absolutes  und  des- 
halb den  individuellen  Willen  ausschließendes  war1). 
Das  Festhalten  jener  Formel  für  diesen  Fall,  in  welchem 
ihr  Sinn  verschwunden,  wird  zum  sinnlosesten  Formel- 
kram!   Ebenso  liegt  in  dem  Nichthandeln  in  der  damals 


*)  Es  ist  nur  dieselbe  streng  logische  Unterscheidung,  welche 
2.  B.  das  französische  Gesetz  vom  18.  Pluviöse  V  veranlaßt 
hat,  einen  Unterschied  zu  machen  zwischen  den  Erbschafts- 
entsagungen der  Töchter,  welche  vor  dem  die  Gleichheit  im  Erb- 
recht herstellenden  Gesetz  vom  8.  April  1791  unter  Gewohn- 
heitsrechten ausgegangen  waren,  welche  die  Töchter  ohnehin 
von  der  Erbschaft  ausschlössen  und  unter  solchen,  welche  das 
nicht  taten.  Auf  den  Vorschlag  von  Tronchet  entschied  der 
gesetzgebende  Körper,  daß  die  Töchter,  welche  früher  unter 
der  Herrschaft  der  Coutümes  d'exclusion  entsagt  hatten,  schon 
zu  den  vom  Datum  des  Gesetzes  vom  8.  April  1791  ab  er- 
öffneten Erbschaften  berufen  sein  sollten,  da  diese  Renoncia- 
tionen  nur  „corame  surerogatoire"  zu  betrachten  seien ;  daß  da- 
gegen die  Töchter,  welche  unter  der  Herrschaft  von  Coutümes 
de  non-exclusion  entsagt  hatten,  erst  von  dem  Konventsdekrete 
vom  5.  Brumairc  II  ab,  welches  diese  Entsagungen  ausdrück- 
lich vernichtet  hatte,  berufen  sein  sollten. 

237 


beweisenden  Form  nur,  wir  wiederholen  es,  ein 
Nichter  werben  von  Beweis,  nicht  ein  Erwerben 
eines  Rechtes  auf  Nichtbeweis!  Dies  wird  noch 
evidenter  daran,  daß  die  Frage,  ob  mein  Mitkontrahent 
mir  einen  Beweis  wird  erbringen  können,  eine  Frage  ist 
nach  dem  objektiven  Dasein  einer  Tatsache, 
die  somit,  mindestens  wenn  nicht  ein  ausdrücklicher  Ver- 
zicht meines  Mitkontrahenten  vorliegt,  ganz  außerhalb 
der  rechtlichen  Ein  wir  kung  meines  indivi- 
duellen Willens  liegt.  Denn  wenn  auch  die  zu  be- 
weisende Tatsache  in  meiner  eigenen  Handlung  besteht, 
so  ist  dieselbe,  ehe  ich  sie  vornahm,  Sache  meines  freien 
Willens,  einmal  vorgenommen  aber  zu  einer  objek- 
tiven und  von  mir  unabhängigen  äußeren  Tatsache  ge- 
worden, bei  deren  Nachweisung  der  Gegner  es  also  durch- 
aus nicht  mit  einem  an  meinen  Willen  Geknüpftes,  son- 
dern lediglich  mit  der  richterlichen  Überzeugung  und  der 
gesetzlichen  Erlaubnis  zu  tun  hat.  Ein  freiwilliger  Ver- 
zicht aber  auf  den  Zeugenbeweis,  wo  das  Gesetz 
ihn  ausschließt,  ist  gerade  deshalb  nicht  bei  ihm 
vorhanden,  während  sein  Verzicht  auf  die  beweisfähige 
Form  des  schriftlichen  Vertrages  nur  ein  Vertrauen  und 
nichts  hierüber  Hinausgehendes,  keinesfalls  aber  doch  einen 
Verzicht  auf  Zeugen,  sondern  höchstens  eben  einen  Ver- 
zicht auf  Schrift  darstellen  können  würde. 

Wie  sollte  der  Beklagte  also  in  der  Anwendung  des 
neuen  den  Zeugenbeweis  zulassenden  Gesetzes  eine  Rück- 
wirkung behaupten  können  ?  Die  einzige  Form,  die  einer 
solchen  Behauptung  zu  geben  wäre,  wäre  diese :  Er  habe 
damals  ebendeshalb  nur  mündliche  Verabredung  getroffen, 
u  m  überhaupt  jeden  Beweis  seiner  Handlung  ausschließen, 
jede  Spur  ihrer  Wirklichkeit  verwischen  zu  können,  und 
durch  die  Zulassung  des  Beweises  verändere  man  die  Ab- 

238 


sieht  bei  seiner  individuellen  Handlung,  d.  h.  er  würde 
seinen  eigenen  dolus  einwenden  und  folglich  nicht  zu 
hören  sein. 

Wenn  nichtsdestoweniger  oben  die  Entscheidung  (S.  231 ), 
daß  auf  die  gegenwärtig  unter  dem  Allgemeinen  Land- 
recht getroffene  mündliche  Zinsverabredung  nicht  ein  die 
Notwendigkeit  des  schriftlichen  Vertrages  aufhebendes 
neues  Gesetz  angewendet  werden  kann,  von  uns  als  rich- 
tig zugegeben  worden  ist,  so  beruht  dies  auf  folgenden 
Gründen.  Die  in  Rede  stehende  Vorschrift  des  All- 
gemeinen Landrechtes  (T.  I,  Tit.  11,  §729)  bildet  gar 
keine  Verordnung  über  die  Beweisfähigkeit  der  Zins- 
verabredung. Indem  sie  nämlich  sagt,  es  sei  „wenn  dem 
Gläubiger  eine  Klage  auf  Erfüllung  dieser  Ver- 
abredung zustehen  soll",  ein  schriftlicher  Vertrag  er- 
forderlich, unterstellt  sie  das  wirkliche  Dasein  der  münd- 
lichen Verabredung  und  verweigert  dennoch  die  Klage. 
Der  Beklagte  würde  also  hier  die  Wahrheit  der  vom 
Kläger  behaupteten  Zinsverabredung  eingestehen  kön- 
nen, und  es  wird  gleichwohl  die  Abweisung  der  Klage 
folgen  müssen.  Dies  heißt  aber  nichts  anderes,  als  daß 
diese  Vorschrift  des  Allgemeinen  Landrechtes  die  schrift- 
liche Errichtung  hier  nicht  als  Beweismittel  des  Ver- 
trages auffaßt,  sondern  als  Bedingung  für  das  Dasein  eines 
zivilen  verbindlichen  Willens  überhaupt.  So- 
bald diese  Bedingung  nicht  eingetreten,  ist  nach  dem  All- 
gemeinen Landrecht  in  bezug  auf  die  Zinsleistung  die  Ver- 
pflichtung nur  in  den  naturalen  Willen  gestellt ;  der  zivile 
Wille  ist  gar  nicht  verpflichtet  worden  und  darum  kein 
richterlicher  Schutz  vorhanden. 

Ist  aber  von  den  Parteien  etwas  in  den  bloß  naturalen 
Willen  gestellt  worden,  so  bleibt  dies  trotz  alles  Gesetz- 
wechsels notwendig  bestehen,  und  der  bloß  naturale  Wille 

239 


kann  durch  ein  späteres  Gesetz  nicht  in  einen  zwingenden 
zivilen  verwandelt  werden,  ohne  die  Wirksamkeit  indivi- 
dueller Willenshandlung  gewaltsam  zu  verändern. 

Nun  aber  erst  beginnt  das  praktische  Interesse  dieser 
Erörterung. 

Wenn  nämlich  ein  Gesetz,  wie  der  Art.  1341  Code 
Nap.1),  den  Zeugenbeweis  bei  jedem  Werte  über  eine 
bestimmte  Höhe  ausschließt,  und  nun  z.  B.  ein  Darlehn 
ohne  schriftlichen  Beweis  geschlossen  worden  ist,  wird, 
wenn  ein  neues  Gesetz  die  Unzulässigkeit  des  Zeugen- 
beweises aufhebt,  der  Zeugenbeweis  für  jenes  Darlehn 
zulässig  sein  ?  Französische  und  deutsche  Autoren  haben 
mit  einer  seltenen  Einstimmigkeit  die  Formel  festgestellt, 
daß,  weil  die  Beweisfrage  kein  ordinatorium,  sondern  ein 
decisorium  litis  bildet,  und  somit  „plus  au  droit  qu'ä  la 
forme' '  gehöre,  die  Frage  nach  der  Zulässigkeit  oder 
Unzulässigkeit  eines  Zeugenbeweises  lediglich  nach 
dem  Gesetz  zur  Zeit  der  Handlung  zu  beurteilen  sei.  So 
z.  B.  Merlin2)  :  „Ainsi  sagit-il  dune  preuve  par  temoins  ? 
La  forme  dans  laquelle  il  doit  etre  procede,  dans  les 
matieres  qui  en  sont  susceptibles,  ne  depend  que  de  la 
loi  du  temps  oü  la  preuve  se  fait.  Mais  la  questlon  de 
üadmissibilite  ou  de  V inadmissibillte  de  cette  preuve  ne 
peut  etre  jugee  que  par  la  loi  du  temps  oü  laction  a 
pris  naissance."  Die  zahlreichsten  Entscheidungen  des 
Pariser  Kassationshofes  haben  diese  Formel  bestätigt3). 

-1)  II  doit  etre  passe  acte  devant  notaire  ou  sous  signature 
privee  de  toutes  choses  excedant  la  somme  ou  valeur  de  cent 
cinquante  francs  meme  pour  depots  volontaires,  et  il  n'est  regu 
aucune  preuve  par  temoins  contre  et  outre  le  contenu  aux 
actes  etc. 

2)  Rep.  de  Jurispr.  v°  Effet  retroactif,  Sect.   I,  §  8,  T.  5, 

S.  599. 

3)  S.  Urteil  des  Pariser  Kassationshofes  vom  18.  November 
240 


Zwar  sind  diese  Entscheidungen,  da  der  Code  civil  das 
strengere  Gesetz  bildete,  in  Fällen  ergangen,  wo  das 
neue  Gesetz  den  früher  zulässigen  Zeugenbeweis  aus- 
schloß und  somit  in  ihrem  Fall  ganz  richtig.  Allein  es 
unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  auch  im  umgekehrten  Fall, 
wenn  in  solchen  Gebieten,  wo  bisher  der  Code  civil  gilt, 
ein  den  Zeugenbeweis  zulassendes  Gesetz  eingeführt  wer- 
den würde,  die  tötende  Macht  der  Formel  fortreißen  und 
dieselbe  Entscheidung  herbeiführen  würde.  Ja,  dies  steht 
sogar  ganz  fest.  Denn  nicht  nur  bringt  es  die  kategorische 
Form  des  angeführten  Grundsatzes  notwendig  so  mit  sich, 
sondern  die  Schriftsteller  fassen  auch  ausdrücklich  diesen 
Fall,  daß  das  neue  Gesetz  früher  unzulässige  Beweis- 
mittel zuläßt,  ins  Auge  und  behaupten  gleichwohl  die 
Anwendbarkeit  jener  Formel  auch  hierauf.  So  z.  B.  Mer- 
lin1): ,,S'il  en  est  ainsi  d'une  loi  ancienne  qui  admsttait 
comme  probant  un  acte  ä  qui  la  loi  nouvelle  en  refuse 
le  caractere,  si  cet  acte  conserve  sous  la  loi  nouvelle  la 
force  probante  que  lui  attribuait  la  loi  ancienne,  iL  taut 
necessairement  dire,  par  la  raison  Inverse,  que  la  loi  nou- 
velle ne  peut  pas  rendre  probante  un  acte  qui,  d'apres 
la  loi  sous  laquelle  il  a  ete  passe,  ne  pouvait  pas  faire 
preuve."  Denselben  falschen  Rückschluß  findet  man  aus- 
drücklich bei  Bergrram2)  :  ,,Wenn  ferner  für  den  Be- 
weis gewisser  Tatsachen  besondere  Beweismittel  neu  vor- 
geschrieben werden,  welche  sich  zu  verschaffen  man  bis 
dahin  kein  Interesse  hatte,  so  können  dergleichen  Prozeß - 


1806,  vom  22.  März  1810,  vom  9.  April  1811,  vom  8.  Mai 
1811,  vom  17.  November  1829,  vom  16.  August  1831,  vom 
23.  Mai  1832.  Vgl.  Toullier,  T.  IX,  Nr.  61.  Duranton.  T.  I, 
Nr.  66. 

1)  a.  a.  O.,  V.  569. 

2)  a.    a.   O.,   S.    170. 

16  La.salU.  G«.  Schriften.  Band  IX  241 


gesetze  als  solche  durchaus  nicht  auf  ältere  Tatsachen  an- 
gewendet werden.  Und  das  darf  eigentlich  nicht  etwa 
nur  in  der  Beziehung  gelten,  wenn  durch  neue  Rechts- 
formen die  Beweisführung  erschwert  ist,  sondern  muß  auch 
dann  eintreten,  wenn  sich  in  den  neuen  Gesetzen  eine  E  r  - 
leichterung  findet,  von  der  sich  nicht  nachweisen  läßt, 
daß  sie  in  den  einzelnen  Prozessen  beiden  Parteien  gleich- 
mäßig zugute  kommen  würde.  Die  Parteien  können  sich 
in  solchen  Fällen  mit  Recht  darauf  berufen,  daß,  wenn 
sie  die  Zulässigkeit  eines  solchen  Beweismittels  voraus- 
gesehen, sie  sich  in  Ansehung  des  direkten  oder  indirekten 
Gegenbeweises  besser  vorgesehen  haben  würden1)." 

Derselben  Ansicht  sind  Savigny  (VIII,  409 fg.)  und 
Bornemann  (S.  17 fg.),  welche  deshalb  auch  den  oben 
bezogenen  §  17  der  Einleitung  zum  Allgemeinen  Land- 
recht geradezu  als  theoretisch  falsch  verwerfen,  ohne  seine 
relative  Richtigkeit  anzuerkennen2). 

Diesem  Einklang  der  Autoren  gegenüber  ist  es  erforder- 
lich, auf  das  unzweifelhafteste  darzutun,  wie  in  dem  bei- 
spielsweise von  uns  gestellten  Fall  des  unter  der  Herr- 
schaft des  Art.  1341  Code  Nap.  ohne  schriftlichen  Be- 
weis gegebenen  Darlehns  ein  späteres,  den  Zeugenbeweis 
zulassendes  Gesetz  schlechthin  zur  Anwendung  kommen 
müßte. 

Beeilen  wir  uns,  den  prinzipiellen  Unterschied  zu  kon- 
statieren, der  diesen  Fall  von  dem  vorher  erörterten  der 
mangelnden  schriftlichen  Zinsverabredung  trennt.  Wir 
haben  dort  gezeigt,  wie  der  Beklagte  die  mündliche  Zins- 
verabredung eingestehen  könnte,  ohne  verurteilt  wer- 
den zu  dürfen,  wie  also  das  Gesetz  hierdurch  den  schrift- 


*)  Derselben  Ansicht   ist   Struve,   a.    a.   O.,   S.   27. 
2)  Ebenso   Struve,    a.    a.   O.,   S.    90. 


242 


liehen  Vertrag  nicht  als  bloßes  Beweismittel,  sondern  als 
notwendiges  Requisit  für  das  Dasein  eines  zivilen 
bindenden  Willens  überhaupt  hinstellt.  Ganz  anders 
in  den  Fällen  des  Art.  1341  Code  Nap. ;  denn  hier  kann 
der  Kläger,  worüber  kein  Streit  herrscht,  durch  gericht- 
liches Eingeständnis  des  Beklagten  oder  Eidesdelation  an 
denselben  beweisen,  und  der  Beklagte  muß  dann  verurteilt 
werden.  Nur  das  bestimmte  Mittel  des  Zeugenbeweises 
ist  ausgeschlossen.  Hiermit  ist  aber  bewiesen,  daß  das 
Gesetz  in  diesem  Falle  die  schriftliche  Form  nicht  als 
Bedingung  für  die  Existenz  eines  zivilen  bindenden  Wil- 
lens —  sonst  würde  weder  Eidesdelation  noch  Geständ- 
nis des  Beklagten  helfen  können,  er  würde  ja  immer  nur 
einen  naturalen,  nicht  zwingenden  Willen  eingestehen,  und 
die  Eidesdelation  wäre  deshalb  sogar  unzulässig  — ,  son- 
dern als  bloßes  Beweismittel  fordert.  Wenn  dies 
aber  bewiesen  ist,  so  ist  durch  das  vorher  Gesagte  auch 
erwiesen,  daß  nun  die  umgekehrte  Folge  eintreten  und 
jetzt  der  Zeugenbeweis  des  neuen  Gesetzes  zulässig  sein 
muß.  Da  der  Beklagte  hier  seinen  zivilen  Willen  ver- 
pflichtet hat,  wie  wird  er  in  der  Anwendung  jenes  Gesetzes 
eine  Rückwirkung  behaupten  können?  Leugnet  er 
den  ganzen  mündlichen  Darlehnskontrakt,  so  kann  er  nicht 
einwenden,  daß  ihm  eine  individuelle  Handlung  durch 
ein  späteres  Gesetz  denaturiert  werde.  Denn  er  behauptet 
dann  eben,  gar  nicht  gehandelt,  also  auch  nichts 
ausgeschlossen  zu  haben.  Hier  also,  wo  es  sich  um  das 
geleugnete  Dasein  eines  Kontraktes  überhaupt  handelt, 
wird  die  Formel  von  dem  Gesetz  zur  Zeit  des  Kontraktes 
schlechthin  sinnlos  und  unanwendbar.  Ihre  Anwendung 
würde  nur  zeigen,  wie  der  Formelkram  sogar  den  richtigen 
Gedanken  tötet,  aus  welchem  die  Formel  hervorging. 
Leugnet  der  Beklagte  nicht  den  Darlehnsvertrag  selbst. 

w  243 


sondern  nur  einen  Teil  desselben,  z.  B.  die  Höhe  der 
Summe  oder  eine  Bedingung,  so  gibt  er  zwar  eine  indivi- 
duelle Handlung  zu,  allein  er  kann,  wie  wir  schon  oben 
sahen,  keine  Denaturierung  derselben  behaupten. 
Durch  den  bloßen  Erweis  des  Daseins  und  Inhalts 
einer  Handlung  wird  dieselbe  nicht  geändert,  son- 
dern im  Gegenteil  ihre  Integrität  gegen  einen  nachträglichen 
Änderungsversuch  des  Handelnden  aufrecht  gehalten.  Ein 
an  und  für  sich  in  der  Handlung  eingeschlossenes  Recht 
des  Handelnden,  dieselbe  für  nicht  geschehen  auszugeben, 
kann  nicht  gedacht  werden ;  es  wäre  dies  der  logische 
Widerspruch  selbst,  da  die  einmal  geschehene  Handlung 
eben  hierdurch  aufhört,  dem  Willen  des  Handelnden  an- 
zugehören und  zum  objektiven  Umstand  wird.  Auf  Berg- 
manns Einwand,  daß,  wenn  der  Zeugenbeweis  damals  ge- 
setzlich zulässig  gewesen  wäre,  das  Individuum  sich  in  An- 
sehung des  Beweises  oder  Gegenbeweises  besser  vor- 
gesehen haben  wrürde,  ist  zu  entgegnen,  daß  die  Aus- 
schließung des  Zeugenbeweises  durch  das  Gesetz  nicht  ein 
Ausschließen  desselben  durch  individuelle  Willkür  dar- 
stellt und  diese  Ausschließung  daher  nicht  zu  einer  still- 
schweigenden Verabredung  macht,  die  Ausschließung  des 
Gesetzes  aber  mit  dem  Dasein  aufhört ;  daß  ferner,  wenn 
das  Individuum  als  ein  solches  erscheinen  wollte,  das  bei 
seiner  Handlung  die  schwankende  und  unsichere  Natur 
des  Zeugenbeweises  habe  vermeiden  wollen,  es  zu  die- 
sem Zwecke  gerade  hätte  in  schriftlicher  Form 
handeln  und  so  die  sichere  Form  des  Beweises  setzen 
müssen,  daß  es  aber  eine  wahre  logische  Monstruosität  ist. 
schließen  zu  wollen :  weil  ich  nicht  in  schriftlicher 
Form,  sondern  nur  mündlich  gehandelt,  habe  ich  hier- 
durch den  mündlichen  Beweis  exkludieren  wollen. 
Eine  Denaturierung  der  individuellen  Handlung  würde 

244 


also  nur  dann  vorliegen,  wenn  das  Individuum  behaup- 
tete, es  sei  von  vornherein  bei  seiner  Handlung  seine 
besondere  Absicht  gewesen,  sie  hinterher  ableugnen  zu 
können,  und  zu  diesem  Zwecke  habe  es  damals  den  schrift- 
lichen Beweis  unterlassen.  Durch  diese  Auslassung  allein 
würde  die  Anwendung  des  neuen  Gesetzes  zu  einer  fakti- 
schen (aber  nicht  rechtlichen)  Rückwirkung.  Dieser 
Einwand  kann  aber  nicht  erhoben  werden,  weil  er  den 
eigenen  dolus  exzipieren  würde,  und  selbst  abgesehen  hier- 
von, wegen  des  Eingeständnisses  der  Handlung, 
auf  dem  er  beruht  und  beruhen  muß,  um  faktisch  erhoben 
werden  zu  können,  durch  dieses  Eingeständnis  allein  den 
Rechtsstreit  zu  Ende  bringt1). 

Durch  die  vorstehende  Diskussion  muß  sich  nun  bereits 
ergeben  haben,  welcher  wahre  und  von  den  Tadlern  des- 
selben stets  verkannte  Gedanke  dem  §  17  der  Einleitung 
zum  Allgemeinen  Landrecht  zugrunde  liegt,  welcher  ver- 
fügt, daß  frühere  Handlungen,  welche  wegen  eines  Man- 
gels der  Förmlichkeit  nach  den  älteren  Gesetzen  ungültig 

*)  Die  im  vorstehenden  entwickelte  Theorie  ist  anerkannt 
in  zwei  hannoverischen  Verordnungen  vom  14.  April  1815  für 
das  Fürstentum  Hildesheim,  §  137,  und  vom  13.  September 
1815  für  die  Kreise  Meppen  und  Emsbüren  (s.  Hagemann, 
Sammlung  der  hannoverischen  Landesverordnungen,  Jahrgang 
1815,  S.  187  und  703).  Die  angezogenen  Paragraphen  dieser 
transitorischen  Gesetze  lauten:  „Die  Beschaffenheit  der  Ur- 
kunden und  die  davon  abhängende  Beweiskraft  derselben 
werden  nach  den  Gesetzen  bestimmt,  während  deren  Gültigkeit 
der  Beweis  geführt  werden  soll.  Es  sollen  jedoch  die  vor 
Wiedereinführung  der  gemeinen  Rechte  errichteten  Urkunden 
diejenige  Beweiskraft  behalten,  welche  sie  nach  den 
zur  Zeit  ihrer  Errichtung  gültig  gewesenen  Gesetzen  gehabt 
haben,  wenngleich  sie  nach  den  zur  Zeit  der  Beweisführung 
gültigen  Gesetzen  eine  geringere  oder  gar  keine  Be- 
weiskraft haben  würden." 

245 


sein  würden,  gültig  sein  sollen,  insofern  nur  die  nach  den 
neueren  Gesetzen  erforderlichen  Förmlichkeiten  dabei  an- 
getroffen werden.  Zuvörderst  wirft  man  diesem  Para- 
graphen vor,  daß  er  in  Widerspruch  stehen  solle1)  mit 
den  §§  43,  44  des  Tit.  4,  Teil  I  des  Allgemeinen  Land- 
rechts, welche  verfügen : 

„Eine  Handlung,  die  wegen  Verabsäumung  der  gesetz- 
lichen Form  von  Anfang  an  nichtig  war,  kann  in  der  Folge 
niemals  gültig  werden." 

„Wird  die  Handlung  in  der  gesetzmäßigen  Form 
wiederholt,  so  gilt  sie  nur  von  dem  Zeitpunkte  dieser 
Wiederholung." 

Andere  haben  diesen  angeblichen  Widerspruch  in  sehr 
unbefriedigender  Weise  versöhnen  wollen2).  Es  ist  zum 
Verwundern,  daß  man  nicht  gesehen  hat,  wie  gar  kein 
Widerspruch  vorliegt  und  gar  keine  Versöhnung  erforder- 
lich ist.  Im  §  17  der  Einleitung  hat  nämlich  der  Gesetz- 
geber nur  den  Fall  vor  Augen,  daß  eine  Änderung  in 
der  Gesetzgebung  eintritt,  also  eine  Rechtsände- 
rung.  In  den  angeblich  widersprechenden  Paragraphen 
dagegen  denkt  der  Gesetzgeber  nur  daran,  daß  nicht  eine 
Änderung  im  Recht,  sondern  in  der  faktischen  Hand- 
lung eintritt,  wie  z.  B.  durch  Ratihabition.  Dies 
müßte  von  selbst  evident  sein,  ist  übrigens  auch  dadurch 
völlig  erwiesen,  daß  der  §  17  in  der  Einleitung  steht, 
welche  „von  den  Gesetzen"  handelt,  jene  §§43  und 
44  aber  in  dem  Titel  3,  welcher  „von  den  Hand- 
lungen" handelt3).   Da  beides  an  und  für  sich  ganz  ver- 


*)  Siehe  Bornemann,  a.  a.  O.,  S.   17. 

2)  Vgl.    Koch,    Lehrbuch,    I,    131.   Temme,    Handbuch   des 
preußischen   Rechtes,    S.    19. 

3)  Auch  ist  durch  den  oben  zitierten  §  44  des  Tit.  3,  T.  I. 

246 


schiedene  Arten  von  Veränderung  sind1),  so  ist  hier  auch 
von  keinem  Widerspruch  zu  sprechen. 

Es  kann  sich  also  nunmehr  nur  noch  darum  handeln,  ob 
der  §  17  der  Einleitung  in  sich  selber  theoretisch  falsch 
sei  —  Man  hat  bemerkt,  daß  diese  Gesetzesstelle2)  „auf 
Förmlichkeiten  bezogen  werden  könne,  welche  entweder 
zur  Beglaubigung  dienen,  wie  die  notarielle  oder  gericht- 
liche Form  im  allgemeinen,  oder  welche  positiv  vorge- 
schrieben werden,  um  auf  richterlichen  Schutz  Anspruch 
machen  zu  können,  wie  die  Schrift,  oder  im  französischen 
Rechte  die  Vollziehung  der  Ehe  durch  den  Zivilakt". 

Das  Verkennen  liegt  eben  darin,  daß  man  diese  beiden 
Kategorien,  aus  welchen  Förmlichkeiten  vom  Gesetz 
gefordert  werden3),  gleichfalls  und  gleichmäßig  behandeln, 
will,  während  in  ihnen  gerade  der  konstitutive  Unterschied 
ruht. 

Wird  die  Förmlichkeit  gefordert,  „um  auf  richter- 
lichen Schutz  Anspruch  machen  zu  können",  wird 
also  bei  ihrem  Mangel  der  Handlung,  selbst  im  Falle  des 
Eingeständnisses  derselben  durch  den  Handelnden, 
der  Rechtszwang  versagt,   so  ist  es  eine  solche,   die  das 


welcher  ausdrücklich  den  Fall  der  Ratihabition  ins  Auge  faßt, 
der  nachgewiesene   Gedanke  unzweifelhaft  belegt. 

1)  Siehe  hierüber  unten  §  10. 

2)  Siehe  Bornemann,  a.  a.  O.,  S.  17;  Koch,  Lehrbuch. 
1,    131,   und   Temme,   Handb.   d.   preußischen   Rechtes,   S.    19. 

8)  Wir  sprechen  nicht  von  zwei  Arten  der  Förmlich- 
keiten; denn  dieselbe  Förmlichkeit,  z.B.  die  Schrift  oder 
die  notarielle  Form,  kann  vom  Gesetz  bald  als  bloße  Be- 
glaubigung (Beweis),  bald  als  Bedingung  des  richterlichen 
Schutzes  der  Handlung  selbst,  d.  h.  als  Bedingung  des  Daseins 
eines  zivilen  Willens  überhaupt,  gefordert  werden.  Aus  wel- 
chem dieser  beiden  Gründe  das  Gesetz  sie  fordert,  darauf 
kommt  es  an  ! 

247 


Gesetz  als  Requisit  für  das  Dasein  eines  zivilen 
Willens  überhaupt  hingestellt  hat,  und  bei  deren  Mangel 
sich  daher  nur  der  naturale  Wille  ohne  Unterwerfung 
unter  zwangsweise  Aufrechterhaltung  verpflichtet  hat,  so 
daß  also  nur  eine,  sei  es  in  gewissen  Fällen  wirksame  obli- 
gatio naturalis,  sei  es  eine  überhaupt  rechtlich  wirkungslose 
moralische  Verbindlichkeit  entstanden  ist. 

Wird  die  Förmlichkeit  dagegen  nur  zur  Beglaubi- 
gung der  Handlung,  also  qua  Beweismittel  derselben  ge- 
fordert, genießt  also  die  Handlung,  wenn  sie  zwar  ohne 
jene  Förmlichkeit  vollbracht,  aber  gerichtlich  einge- 
standen ist,  den  Zwangsschutz,  so  ist  hierdurch  be- 
wiesen, daß  nach  der  gesetzlichen  Anschauung  zur  Zeit 
der  Handlung  von  Anfang  an  ein  ziviler  und  sich  in  zwin- 
gender Weise  verpflichtender  Wille  beim  Handelnden 
vorhanden  war,  so  daß  bei  einer  Aufrechterhaltung  von 
einer  Denaturierung  desselben  keine  Rede  ist.  Indem  jetzt 
die  Förmlichkeit  bloß  die  Bedeutung  hat,  den  Beweis 
einer  geschehenen  Handlung  zu  erbringen,  und  einerseits 
niemand  ein  erworbenes  Recht  auf  den  Nichtbeweis  seiner 
Handlung,  andererseits  der  Gegner  ein  peremtorisches 
und  erworbenes  Reckt  hat,  daß  alles,  was  aus  neuen 
Gesetzen  folgt,  auch  für  ihn  da  sei  (s.  §  12),  insofern 
es  nicht  erworbene  Rechte  alteriert,  so  tritt  die  Zulässigkeit 
des  neuen  Beweismittels  jetzt  unbedingt  ein. 

Das  durchgreifende  und  untrügliche  Kennzeichen  aber, 
ob  eine  Förmlichkeit  vom  Gesetz  bloß  qua  Beweismittel 
oder  qua  Requisit  des  zivilen  Willens  selbst  gefordert  wird, 
liegt  eben  plann,  ob  die  mangelnde  Förmlichkeit  durch 
Eingeständnis  der  Handlung  oder  eventuelle  Eidesdelation 
ersetzt  werden  kann,  oder  selbst  in  diesem  Falle  der 
Handlung  der  Rechtsschutz  versagt  bleibt. 

Der  §  17  der  Einleitung  zum  Allgemeinen  Landrecht 

248 


verwirklicht  somit  einen  durchaus  richtigen  theoretischen 
Gedanken,  insoweit  er  die  aus  Mangel  an  B  e  g  1  a  u  - 
b  i  g  u  n  g  s  förmlichkeiten  ungültige  Handlung  gültig  sein 
läßt,  wenn  sie  nur  den  zurzeit  des  Streits  vom  Gesetz  ge- 
forderten Förmlichkeiten  entspricht.  Und  nur  seine  höchst 
ungenaue  Terminologie  ist  zu  tadeln,  nach  welcher  auch 
solche  Ungültigkeiten  mit  eingeschlossen  zu  sein  scheinen 
können,  welche  das  Dasein  eines  zivilen  Willens  selbst 
ausschließen.  Daß  aber  wirklich  etwas  von  dem  darge- 
legten Unterschied  dem  Allgemeinen  Landrecht  vorge- 
schwebt hat,  ergibt  sich  gerade  aus  der  Vergleichung  mit 
dem  früher  bezogenen  §  43,  Tit.  3,  Teil  I,  wo  bestimmt 
wird,  daß  diejenige  Handlung  in  der  Folge  niemals  gültig 
werden  kann,  welche  „wegen  Verabsäumung  der  gesetz- 
mäßigen Form  von  Anfang  an  n  i  c  h  t  i  g  war".  Denn  unter 
Nichtigkeit  einer  Handlung  wegen  Verabsäumung  der 
gesetzlichen  Form  wird  man  immer  nur  die  Nichterfüllung 
solcher  Formen  verstehen  können,  welche  vom  Gesetz  als 
Bedingung  des  Daseins  eines  zivilen  wirksamen  Willens 
hingestellt  worden  sind1). 


Jetzt  erst,  nachdem  gezeigt  worden  ist,  wie  auch  die 
scheinbaren  Begebenheiten,  auf  welche  neue  Gesetze 
nicht  rückwirken  dürfen,  die  durch  das  Famihenrecht  ver- 
mittelten Rechtstatsachen,  besonders  die  Erbschaften, 
und  ebenso  auch  dolus,  Zwang,  Irrtum,  negotiorum  gestio, 
Usukapion,  Klagverjährung,  nicht  gtiaSe  gebenheiten, 
sondern  nur  um  dessentwillen,  weil  sie  individuelle 
Willensaktionen  darstellen,  erworbene  Rechte  bil- 
den und  die  Anwendung  späterer  Gesetze  ausschließen 
müssen,  —  jetzt  erst  kann  davon  die  Rede  sein,  den  von 


x)  Siehe  die   weitere   Fortsetzung  der   obigen   Untersuchung 
im  §   11. 

249 


uns  im  §  1  entwickelten  Begriff  der  individuellen  Willens- 
freiheit als  des  alleinigen  und  wahrhaften  Trägers  des 
Nichtrückwirkungsgedankens  nachgewiesen  und  durchge- 
führt zu  haben.  Noch  im  §  1  mußte  es  dem  Leser  schei- 
nen, als  sei  das  dort  Entwickelte  wenn  auch  richtig,  doch 
schlechthin  unzureichend,  weil  es  in  einem  unlösbaren 
Widerspruch  stehe  mit  der  ebenso  sehr  durch  alle  Gesetz- 
gebungen wie  durch  alles  juristische  Rechtsgefühl  aner- 
kannten Tatsache,  daß  auch  auf  viele  bloße  Begeben- 
heiten und  aus  ihnen  dem  Individuum  erwachsenden 
Rechte,  wie  Erbschaft  usw.,  Rückwirkung  nicht  stattfinden 
dürfe.  Erst  nach  dieser  Auflösung  dieser  scheinbaren  Be- 
gebenheiten in  ihre  innere  Natur  war  es  möglich,  jenen 
Begriff  als  das  waltende  Gesetz  der  Sache  zu  erkennen  und 
zur  Durchführung  zu  bringen.  Nichts  mußte  daher  bis  jetzt 
diese  Erkenntnis  so  sehr  hindern  als  die  mangelnde  Auf- 
lösung jener  Begebenheiten.  Es  zeigt  sich  dies  beispiels- 
weise recht  deutlich  an  dem  §  14  der  Einleitung  zum 
Allgemeinen  Landrecht,  welcher  ausdrücklich  verordnet : 
„Neue  Gesetze  können  auf  schon  vorhin  vorgefallene 
Handlungen  und  Begebenheiten  nicht  angewendet 
werden." 
Praktisch  ist  dies  insoweit  ganz  richtig,  als  es  gewisse 
Begebenheiten  gibt,  welche  nicht  unter  die  Einwirkung 
neuer  Gesetze  gestellt  werden  dürfen,  was  eben  den  täu- 
schenden Schein  erzeugte,  als  seien  alle  Begebenheiten 
dieser  Einwirkung  entzogen1).   Theoretisch  ist  es  sogar  in 


1)  Auch  hält  daher  das  Allgemeine  Landrecht  selbst  durch- 
aus nicht  daran  fest,  daß  alle  Begebenheiten  der  Einwirkung 
neuer  Gesetze  entzogen  sein  sollen.  So  ist  der  Anfang  einer 
laufenden  Verjährung  bereits  eine  Begebenheit;  zur  indi- 
viduellen Handlung  eines  Verzichtes  (s.  §  2  E.) 
wird  sie  aber  erst  mit  dem  Ablauf  der  Frist.  Nun  soll  aber 

250 


bezug  auf  jene,  von  denen  dies  wirklich  gelten  muß,  ganz 
falsch.  Denn  es  gilt  auch  von  ihnen  nur,  weil  diese  Be- 
gebenheiten eben  ihrer  innersten  rechtlichen  N  a  - 
t  u  r  nach  nicht  Begebenheiten,  sondern  eigeneWillens- 
a  k  t  i  o  n  e  n  darstellen.  Dieses  theoretische  Selbstmißver- 
ständnis mußte  aber  wiederum  auch  praktisch  zu  ganz  fal- 
schen Folgen  führen,  indem  nun  alle  Begebenheiten,  und 
auch  bei  den  Handlungen  nicht  bloß  das,  was  der  eige- 
nen Willensaktion,  sondern  auch  das,  was  lediglich  den 
Handlungen  Dritter  entflossen  und  somit  für  das  Indivi- 
duum wirklich  eine  bloße  Begebenheit  war,  im  Wider- 
spruch mit  dem  eigenen  Gedanken  unter  demselben  Ge- 
setze der  Nichtrückwirkung  zu  stehen  schien. 

Dies  ist  jedoch  nicht  etwa  infolge  jenes  Paragraphen 
des  Allgemeinen  Landrechts  unter  diesem  Gesetzbuch  mehr 
als  anderwärts  der  Fall,  findet  vielmehr  in  ganz  demselben 
Maße  bei  den  römischen  und  französischen  Juristen  statt, 
in  deren  Gesetzbüchern  nicht,  wie  im  §  14  des  Allgemeinen 
Landrechts,  noch  außer  den  Handlungen  die  Begeben- 
heiten als  der  Einwirkung  neuer  Gesetze  entzogen  auf- 
geführt waren.  Der  Grund  hiervon  ist  der  sehr  natürliche, 
daß  der  §  14  hierin  nicht  eine  neue  Lehre  schuf,  sondern 


nach  dem  Allgemeinen  Landrecht,  wenn  die  Verjährung  nur 
zu  laufen  angefangen  hat,  d.  h.  wenn  erst  die  bloße  B  e  - 
gebenheit  eingetreten  ist,  das  neue  Gesetz  zur  Anwendung 
kommen,  auch  z.  B.  in  bezug  auf  die  Frage,  ob  Verjährung 
dieses  Anspruches,  obgleich  sie  bereits  begonnen,  überhaupt 
zulässig  sei  (vgl.  Publikationspatent  vom  5.  Februar  1794, 
§  17).  —  Ebenso  stellt  es  auch  eine  Begebenheit  dar, 
wenn  bei  einer  Handlung  eine  Form  versäumt  worden  ist, 
und  dennoch  soll  nach  §  17  des  Allgemeinen  Landrechtes 
das  neue,  diese  Form  nicht  mehr  erfordernde  Gesetz  dann 
zur  Anwendung  kommen  und  das  Schädliche  dieser  Begeben- 
heit beseitigen  usw. 

251 


nur  der  allgemein  juristischen,  unter  römischen 
wie  französischen  Rechtslehrern  bis  zum  heutigen  Tage 
ganz  ebenso  gäng  und  geben  Auffassung,  die  besonders 
durch  die  scheinbar  reine  Begebenheiten  darstellenden  In- 
stitute der  Erbschaft,  der  Quasikontrakte  und  der  Ver- 
lährung  entstanden  ist,  Ausdruck  gegeben  hat. 

Wir  sagten  soeben,  daß  auch  die  falschen  praktischen 
Folgen  den  Gesetzgebungen  und  Juristen  nur  im  Wider- 
spruch mit  dem  eigenen  Gedanken  zugestoßen  seien.  — 
In  der  Tat,  der  Begriff,  den  wir  als  den  alleinigen  Träger 
des  Rückwirkungsverbotes  nachgewiesen  haben  und  weiter 
nachweisen  werden,  ist  nicht  in  dem  Sinne  neu,  daß  hier 
zum  erstenmal  nach  demselben  verfahren  würde.  Wäre  er 
in  diesem  Sinne  neu,  so  wäre  er  eben  deshalb  auch 
ganz  unbedingt  falsch!  Wir  behaupten  vielmehr, 
und  müssen  dies  behaupten,  wenn  wir  eine  wahre 
Theorie  aufstellen  wollen,  daß  von  Theodosius  bis  auf 
Savigny  kein  Gesetzgeber  und  kein  Jurist  über  dieses 
Thema  gedacht,  verordnet  und  geschrieben  hat,  ohne  daß 
der  hier  entwickelte  Begriff  das  in  ihm  operie- 
rende und  tätige  Moment  gewesen  wäre.  Wir  glauben  dies 
schon  bis  hierher  durch  die  Betrachtung  der  bisherigen 
Masse  von  empirischem  Gesetzesstoff  und  juristischen 
Entscheidungen  zu  klarem  Nachweis  gebracht  zu  haben, 
und  werden  im  Verlauf  diesen  Nachweis  immer  mehr  er- 
weitern und  schärfen.  Neu  ist  der  hier  entwickelte  Be- 
griff nur  in  dem  Sinne,  daß  er  hier  zum  erstenmal  zum 
Erkennen  seiner  selbst  gelangt  ist  und  somit  erst  aus  dieser 
seiner  für  sich  selbst  erlangten  Durchsichtigkeit  die  sich 
durch  den  gesamten  Rechtsorganismus  hindurchführende 
adäquate  Ausführung  seiner  selbst,  die  systematische  Theo- 
rie oder  Lehre,  erzeugen  kann.  —  Alle  Formeln,  welche 
früher   von   Autoren   über   diesen   Gegenstand   aufgestellt 

252 


worden,  sind  diesem  Begriff  entflossen  und  haben  hierin 
den  Grund  ihrer  relativen  Richtigkeit,  sowie  sie  zugleich 
in  ihrem  Nichterschöpfen  des  Begriffes,  aus  dessen  Wirk- 
samkeit sie  hervorgingen,  auch  wieder  den  Grund  ihrer 
großen  praktischen  Unrichtigkeit  haben.  Auch  trat  hierbei 
wieder  jenes  allgemeine  begriffliche  Gesetz  ein,  daß,  je 
mehr  die  Verstandesvorstellung  in  ihrem  ahnenden  Ver- 
hältnis sich  dem  spekulativen  Begriff  nähert,  sie  ihn  um 
desto  mehr  wieder  von  der  anderen  Seite  verfehlt 
und  somit  um  so  größere  Unrichtigkeiten  hervorbringt.  So 
berichtet  Bergmann  (a.  a.  O.  S.  57)  :  „Einige  sagen  in 
Beziehung  auf  die  allgemeine  Idee  von  dem  Schutz  er- 
worbener Rechte :  es  sei  nur  bei  Verträgenund  Erb- 
schaften von  erworbenen  Rechten  die  Rede,  ohne 
dafür  besondere  Gründe  zu  nennen",  und  er  be- 
zieht sich  dafür  auf  Blanchard  zu  Maleville,  zu  Art.  384 
des  Code  Nap.  Hier  war  also  ein  Unterschied  zwischen 
konventionellen  und  legalen  Rechten  angenommen 
worden  und  nur  bei  ersteren  die  Rückwirkung  ausgeschlos- 
sen. Allein  erstens  hieß  das  überhaupt  nichts,  ohne,  wie 
Bergmann  mit  recht  tadelnd  hervorhebt,  besondere  Gründe 
dafür  zu  nennen,  und  diese  wären  wieder  nur  durch  die  im 
§  1  gegebene,  diese  Behauptung  selbst  ganz  aufhebende 
und  umwandelnde  Begriffsentwickelung  zu  erbringen  ge- 
wesen. Zweitens  mußte  die  Gleichsetzung  der  Erb- 
schaften mit  den  konventionellen  Rechten,  statt 
mit  den  legalen,  unbegreiflich  erscheinen ;  eine  Gleichset- 
zung, die  zu  ihrer  Begreiflichkeit  und  ihrer  Durchführung 
nichts  Geringeres  bedarf  als  jene  Ausführungen,  welche 
den  Inhalt  unseres  zweiten  Bandes  bilden  werden.  Drit- 
tens mußten  dann  die  durch  das  Familienrecht  vermittelten 
Rechte,  z.  B.  das  Reichsbürgerrecht  (s.  oben  S.  163),  die 
Repräsentation  und  ebenso  die  condictio  indebiti,  die  nego- 

233 


tiorum  gestio,  die  Verjährung  usw.,  als  nicht  auf  einen 
Vertrag  sich  stützend,  für  nur  legale  Rechte  und  dem 
Einwirken  neuer  Gesetze  unterworfen  gelten,  und  es  hätten 
sich  also  hieraus  die  praktisch  verderblichsten  Irrtümer 
entwickeln  müssen.  Viertens  ist  überhaupt  der  Begriff 
konventioneller  Rechte  ein  schiefer.  Denn  da  hier- 
mit nur  solche,  die  durch  Verabredung  entstanden,  be- 
zeichnet sind,  so  würden  nicht  einmal  die  durch  bereits 
angestellte  Klage  (s.  §  3)  ergriffenen,  ursprünglich  legalen 
Rechte  usw.  vor  der  Rückwirkung  geschützt  sein. 

Bergmann  referiert  daher  weiter  :  „Andere  sprechen  nur 
von  Verträgen  und  stützen  die  Behauptung,  daß  wegen 
einer  in  der  Vorzeit  liegenden  Kontrahierung  der  ganze 
Fortgang  der  daraus  hervorgehenden  Obligationen  aus  den 
alten  Rechtsnormen  beurteilt  werden  müsse,  darauf,  daß 
die  Privatwillkür  im  voraus  sich  dem  neuen 
Gesetzeentzogenhabe,"  und  nennt  hierfür  Pfeiffer, 
S.  425  -1).  Es  ist  wieder  in  diesen  Worten  das  Hervor- 
schimmern des  Begriffes  unverkennbar.  Aber  erstens  wirft, 
da  hier  sogar  auch  noch  die  Erbschaften  weggelassen  sind, 
Weber  (a.  a.  O.,  S.  41)  mit  Recht  ein,  daß  hiernach  auch 
das  gesetzliche  Erbrecht,  das  jemand  als  suus  heres  schon 
ipso  jure  erworben,  nicht  fortdauern  dürfte,  wenn  ein  neues 
Gesetz  die  Erbfolge  anders  bestimmte.  Zweitens  gelten 
hier  wieder  alle  gegen  Blanchard  gemachten  Einwürfe. 
Drittens  gilt  endlich  noch  gegen  Pfeiffer  wie  Blanchard 
gemeinschaftlich,  daß  einerseits  die  Privatwillkür  sich 
durchaus  nicht  unbegrenzt  im  voraus  späteren  Gesetzen 
entziehen  kann,  wie  wir  dies  in  §  7  bei  den  prohibitiven 
Gesetzen  sehen  werden,  und  daß  andererseits,  wie  sich 

x)  In  der  Zeitschrift  ,, Germanien",  von  Crome  und  Jaup, 
1810,  Bd.  3,  Heft  3,  S.  411  fg.,  ein  Aufsatz,  dessen  wir  trotz 
unserer  Bemühung   nicht  haben  habhaft   werden   können. 

254 


gleichfalls  zeigen  wird,  auch  abgesehen  von  Prohibitiv- 
gesetzen  und  trotz  aller  über  das  ausschließliche  Maß- 
geben  der  Gesetze  zur  Zeit  der  Kontraktschließung  zirku- 
lierenden Formeln  auch  die  Wirkung  der  Verträge  durch 
spätere  Gesetze  berührt  werden  kann,  wenn  die  individuelle 
Willensfreiheit  dadurch  nicht  verletzt  erscheint. 

Es  ist  daher  nur  ganz  begreiflich,  wenn  jene  Unter- 
scheidung von  konventionellen  und  legalen  Rech- 
ten, trotzdem  sie  sich  in  intuitiver  Weise  dem  Begriffe 
sehr  zu  nähern  scheint,  dennoch,  da  sie  denselben  anderer- 
seits wieder  ganz  verfehlt  und  in  vollständige  Divergenz 
mit  ihm  gerät,  von  keiner  Einwirkung  auf  die  späteren 
Rechtslehrer  sein  konnte,  diese  vielmehr,  wie  z.  B.  Savigny. 
Bornemann  usw.,  jene  Unterscheidung  nicht  einmal 
erwähnen,  sich  dagegen  in  anderer  Weise  der  Natur 
der  Sache  zu  bemächtigen  suchen  und  sie  in  Formeln 
bringen,  die  einerseits  sehr  wie  jene  von  dem  wahrhaften 
Begriff  hervorgetrieben  sind,  als  sie  ihn  andererseits,  weil 
er  noch  nicht  zur  spekulativen  Selbstdurchsichtigkeit  ge- 
langt ist,  ebenso  sehr  wieder  verfehlen. 

Aber  diese  Ahnung  und  innere  Tätigkeit  des  hier 
entwickelten  Begriffes,  welche  durch  die  Lehre  aller 
Autoren,  wie  durch  die  praktischen  Aussprüche  aller  Ge- 
setzgeber hindurchgeht,  ist  selbst  der  beste  Beweis  für 
seine  Objektivität  und  Unwillkür,  sowie  für  die  Richtigkeit 
auch  jener  notwendigen  Folgerungen  desselben,  welche  mit 
den  bisherigen  Annahmen  wegen  der  Verkümmerung  und 
festen  Verfilzung.  die  jeder  aus  dem  Begriff  bloß  hervor- 
getriebenen und  ihn  nicht  in  seiner  ganzen  Reinheit  ent- 
haltenden Formel  eigen  ist,  in  entschiedenem  Widerspruche 
stehen  müssen. 


255 


III.  DER  BEGRIFF 
UND  SEINE  KONSEQUENZEN. 

§  3.    Die  nachträgliche  Ergreifung.  Rechts- 
hängigkeit. Novation.  Urteil  und  Vergleich. 

Wir  haben  in  §  2  nur  den  versteckten  Umfang  des 
Begriffes  dargelegt.  Jetzt  erst  gehen  wir  dazu  über,  die 
weiteren  Folgen  des  Begriffes  zu  entwickeln. 

Wenn  Rückwirkung  nur  darin  besteht  und  nur  deshalb 
ausgeschlossen  ist,  weil  die  individuelle  Willensaktion  des 
einzelnen  nicht  nachträglich  alteriert  werden  darf,  so  ist 
es  notwendig  ganz  gleichgültig,  ob  ein  Recht  ursprünglich 
dem  individuellen  Willen  entflossen,  oder  ob  es  zwar  ur- 
sprünglich ein  lediglich  durch  das  Gesetz  gegebenes 
war,  dann  aber  von  dem  Individuum  ergriffen  und 
verseinigt  worden  ist.  Mit  anderen  Worten :  auf  be- 
reits rechtshängige  Sachen  können  neue,  das  frü- 
here Recht  aufhebende  und  modifizierende  Gesetze  nicht 
einwirken. 

Dieser  Grundsatz  unterliegt  wieder  gewissen,  durch  die 
Natur  des  Begriffes  selbst  gesetzten  Beschränkungen,  die 
erst  in  den  §§  7  fg.  entwickelt  werden  können.  Hier  inter- 
essiert zuvörderst  nur  der  allgemeine  Grundsatz  selbst. 

Die  Richtigkeit  desselben  ist  seit  je  herausgefühlt  wor- 
den, aber  seine  wahre  Begründung,  die  erst  in  diesem 
Zusammenhang  hervortritt  und  hervortreten  kann,  war  bis- 
her unmöglich.  So  ist  es  nur  eine  ganz  äußerliche  und 
haltlose  Argumentation,  wenn  z.  B.  Bornemann  (a.a.O., 

256 


S.  6)  denselben  also  begründet:  „In  Ermangelung  einer 
solchen  (ausdrücklich-gesetzgeberischen)  Bestimmung  muß 
die  Rückwirkung  als  Ausnahme  von  der  Regel  an  und 
für  sich  auf  die  engsten  Grenzen,  mithin  auf  noch 
nicht  rechtshängig  gewordene  Sachen  be- 
schränkt werden." 

Der  wahre  Grund  ist  vielmehr  der  angegebene.  Durch 
die  Einklagung  bemächtigt  sich  das  Individuum  seiner  bloß 
legalen  Rechte  und  setzt  sie  als  die  seinigen.  Die 
Klageanstellung  macht  deshalb  das  bloß  aus  den  Gesetzen 
fließende  Recht  zu  einem  dem  Individuum  durch  seinen 
eigenen  Willen  vermittelten,  oder  zu  einem  erwor- 
benen. Die  Zinsen  werden  zugebilligt  vom  Tag  der 
Klage.  Die  Einklagung  stellt  also  eine  individuelle,  Rechte 
erwerbende  Willenshandlung  dar,  auf  welche  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  durch  spätere  Gesetze  eingewirkt  wer- 
den kann  als  auf  einen  anderen  freiwilligen  Akt,  z.  B. 
einen  Vertrag,  durch  welchen  ein  Individuum  sich 
Rechte  erzeugt. 

Es  ergibt  sich  aus  dem  Gesagten,  daß  es  —  mit  Aus- 
nahme eines  erst  in  §  8  zur  Sprache  kommenden  begriff- 
lichen Unterschiedes  —  für  die  Ausschließung  der  neuen 
Gesetze  gleich  sein  muß,  ob  schon  ein  Urteil  in  der 
Klage  eingetreten  ist  oder  nicht,  daß  also  nicht  in  der  res 
iudicata,  sondern  schon  in  der  Klageanstellung  selbst  das 
durchschlagende  Moment  liegt  und  der  Schutz  der  res 
iudicata  gegen  spätere  Gesetze  nur  auf  demselben  Grund- 
gedanken beruht. 

Savigny  vermag  bei  seiner  Theorie  ebensowenig  wie 
Bornemann  den  wahren  Grund  von  beidem  zu  entdecken. 
Savigny  sagt  darüber  (VIII,  510)  :  „Merk  würdiger- 
weise fügt  das  römische  Recht  für  den  Fall  der  (die 
Rückwirkung)   erweiternden   Ausnahmegesetze  eine   Ein- 

17   Lastalle.  Ges.  Schriften,  Band  IX.  257 


schränkung  hinzu,  die  also  als  die  Ausnahme  einer  Aus- 
nahme zu  betrachten  ist.  Die  ausnahmsweise  vorgeschrie- 
bene Rückwirkung  soll  nämlich  nicht  eintreten,  wenn  das 
Rechtsverhältnis,  worauf  sie  bezogen  werden  könnte,  be- 
reits durch  Urteil  oder  Vergleich  entschieden  worden  ist 
(judicatum  vel  transactum).  Diese  Einschränkung  ist  zwar 
nirgends  als  bleibender  allgemeiner  Grundsatz  ausge- 
sprochen, sie  wird  aber  in  so  vielen  einzelnen  Stellen  des 
römischen  Rechtes  übereinstimmend  wiederholt,  daß  sie 
unzweifelhaft  als  eine  von  den  Römern  allgemein  aner- 
kannte Regel  betrachtet  werden  muß.  Sie  hat  auch  einen 
inneren  Grund  darin,  daß  sowohl  das  Urteil  als 
der  Vergleich  das  ursprüngliche  Rechtsver- 
hältnis umbildet,  so  daß  nun  an  die  Stelle  des 
Rechtsverhältnisses,  worauf  sich  das  neue  Gesetz  bezog, 
eigentlich  ein  anderes  getreten  ist.  —  Unter  dem  Urteil 
aber  ist  hier  nicht  bloß  ein  rechtskräftiges  zu  verstehen, 
sondern  bei  noch  schwebendem  Rechtsstreit  auch  schon  ein 
Urteil  erster  Instanz,  wenn  etwa  während  der  Appella- 
tionsinstanz das  neue  Gesetz  erscheint." 

Hierbei  ist  zweierlei  hervorzuheben.  Erstens,  daß  Sa- 
vigny  hier  der  bloßen  Rechtshängigkeit,  wenn  noch  gar 
kein  Urteil  erfolgt  ist,  schlechthin  keinen  Schutz  gegen 
die  Anwendung  neuer  materieller  Gesetze  einräumen  zu 
wollen  scheinen  könnte,  was  in  sich  falsch  wäre  und  auch 
mit  der  übereinstimmenden  juristischen  Lehre  und  Praxis 
in  völligem  Widerspruch  stehen  würde.  Zweitens :  wenn 
Savigny  als  den  inneren  Grund  der  Sache  zugibt,  daß  so- 
wohl Urteil  als  Vergleich  das  ursprüngliche  Rechts  - 
verhältnis  umbilden,  so  ist  zu  fragen :  worin  denn 
aber  diese  Umbildung  bestehe?  Und  hierauf  läßt  sich 
eben  nur  die  im  allgemeinen  für  Urteil,  Vergleich  und 
Klageanstellung  gleichmäßig  gültige  Antwort  geben :  sie 

258 


bestehe  in  der  Umwandelung  von  an  sich  vorhandenen 
Rechtsverhältnissen,  die  auch  bloß  dem  Gesetz  entflossen 
sein  können,  in  solche,  die  durch  individuelle  Wil- 
lensaktion und  Handlung  erworben  und  be- 
stimmt sind,  so  daß  es  hiernach  auf  ihre  ursprüng- 
liche Beschaffenheit  gar  nicht  mehr  ankommt. 

Hieraus  ergibt  sich  auch  beiläufig,  inwiefern  man  in 
der  Litiskontestation  und  wieder  im  Urteil  wirklich  eine 
Novation  zu  behaupten  vermag  und  inwieweit  Justinian 
mit  recht  sagt :  ,,Si  enim  novatur  judicati  actione  prior  con- 
tra ctus"  usw.  -1). 


1)  L.  3  C.  de  usur.  rei  jud.  (7,  54).  Bekanntlich  hat  sich 
Savigny  (System,  VI,  24  fg.,  307  fg.)  mit  großer  Bestimmt- 
heit gegen  die  Annahme  einer  Novation  durch  Litiskontestation 
oder  Urteil  erklärt,  nachdem  er  früher  (V,  325)  selbst  eine 
solche  darin  erblickt  hatte,  und  in  der  oben  angeführten  Stelle 
des  achten  Bandes  doch  wieder  eine  Umbildung  darin  erblickt, 
die  ihrem  Gedanken  nach  auf  eine  Novation  im  obigen  Sinne 
hinausläuft. 

Die  Savignysche  Annahme,  daß  die  Kraft  der  res  judicata 
auf  der  Fiktion  der  absoluten  Wahrheit  beruhe,  reicht  nur 
für  Strafurteile  hin  und  ist  nur  für  diese  richtig.  Sollte 
sie  auch  für  die  Zivilurteile  gelten,  so  müßte  dann  auch  bei 
diesen,  wie  dies  von  den  Straf  urteilen  später  nachgewiesen 
werden  wird,  bei  einer  Abschaffung  der  Gesetze,  auf  deren 
Grundlage  doch  diese  Fiktion  beruht,  entweder  von  selbst  die 
Folge  eintreten,  oder  doch  dem  Gesetzgeber  mindestens  die 
Befugnis  zustehen,  die  Hinfälligkeit  der  auf  den  abgeschaff- 
ten Gesetzen  beruhenden  rechtskräftigen  Urteile  zu  verfügen 
(vgl.  §  12).  Ganz  auf  der  Hand  liegend  wäre  dies  jedenfalls 
bei  interpretierenden  Gesetzen,  die  ja  rückbezogen  wer- 
den sollen,  und  durch  die  also  entgegenstehende  rechtskräftige 
Urteile,  die  jetzt  ja  zur  erwiesenen  Unwahrheit  geworden 
sind,  außer  Kraft  gesetzt  werden  müßten,  wenn  sie  auf  der 
Fiktion  der  absoluten  Wahrheit  beruhten. 

Bei  dem  Zivilurteil  kann  dies  aber  nicht  eintreten,  weil  seine 

17-  259 


Es  ergibt  sich  ferner  hieraus  die  begriffliche  Ursache, 
weshalb  auch  auf  Vergleiche  nicht  durch  spätere  Ge- 
setze eingewirkt  werden  darf  und  weshalb  Justinian  mit 
Recht  Vergleich  und  Urteil  immer  zusammen  er- 
wähnt und,  sie  wie  Dinge  identischer  Natur  behandelnd, 
mit  denselben  stereotypen  Formeln  der  von  ihm  verord- 
neten sofortigen  Anwendung  neuer  Gesetze  zu  entziehen 
pflegt,  z.  B.  L.  17  C.  de  fide  instrum.  (4,  21):  ,,nisi 
jam  super  his  transactumsit  veljudicatum,quae  retractari 
non possunt,"  oder  L.  ult.,  C.  de  legit.  her.  (6,  58)  :  ,,Si 
qui  autem  casus  jam  evenerunt  et  per  juditialem  sententiam 
vel  amicalem  transactlonem  sopiti  sunt  nullam  sentiant  ex 
hac  lege  retractationem  etc." 

Es  kann  durch  den  Vergleich  das  Individuum  eine 
Leistung  oder  Verpflichtung  auf  sich  genommen  haben,  zu 
der  es  nach  den  neuen  Gesetzen  keineswegs  verpflichtet  war, 
und  diese  wären  ihm  zugute  gekommen,  wenn  es  gewartet 
hätte.  Es  hatte  auch  nicht  die  Absicht,  die  Gegenpartei 
durch  die  Einräumungen  im  Vergleich  zu  bereichern,  son- 
dern im  Gegenteil  die  Rechte  derselben  auf  das  nach  dem 
damaligen  Gesetz  möglichst  geringe  Maß  herabzusetzen. 
Aber  es  ist  von  ihm  selbst  gehandelt,  eine  bloß  durch 
das  Gesetz  vorhandene  und  darum  mit  dem  Gesetz  vor- 
übergehende Verpflichtung  durch  eigene  Selbstbestimmung 
konfirmiert  und  als  das  Recht  des  andern  gesetzt  worden, 
und  diese  beiderseitigen  individuellen  Handlungen 
können  nun  durch  kein  späteres  Gesetz  zerstört  werden. 

Es  ist  ersichtlich,  wie  sich  durch  die  Ausführungen 
dieses  Paragraphen  die  Nichtalteration  individueller  Wil- 


Kraft  vielmehr  auf  der  Fiktion  eines  Vergleiches,  auf  der 
durch  den  individuellen  Willen  selbst  gesetzten 
Schlichtung  beruht. 

260 


lensaktionen  als  der  einzige  und  wahrhafte  Träger  des 
Rückwirkungsgedankens  von  neuem  bestätigt.  Denn  bloß 
dieser  und  kein  anderer  Unterschied  wird  zwischen  den 
bloß  gesetzlich  einklagbaren  und  bereits  eingeklagten  Rech- 
ten zu  entdecken  sein  und  ihrem  gleichwohl  so  verschie- 
denen Verhältnis  zu  der  Einwirkung  neuer  Gesetze. 

§  4.   Das  Optionsrecht. 

Wenn  es  schlechthin  gleichgültig  bleiben  muß,  ob  das 
Recht  von  vornherein  durch  die  individuelle  Willensaktion 
konstituiert  ist,  oder  ob  es  ursprünglich  aus  dem  Gesetze 
stammt  und  das  Individuum  es,  nachträglich  zu  ihm  heran- 
tretend, durch  seine  Ergreifung  zu  einem  durch  seine  indi- 
viduelle Willensaktion  gesetzten  Recht  und  somit  fest  und 
erworben  macht,  so  erhellt  hiermit  zugleich,  daß  diese  Er- 
greifung durchaus  nicht  bloß  in  dem  im  vorigen  Paragraph 
betrachteten  Fall  der  prozessualischen  Klageanstel  - 
1  u n g  ,  sondern  daß  sie  eben  in  jeder  Handlung  vor- 
liegt, durch  welche  das  Individuum  ein  gesetzliches  Recht 
als  das  seinige  setzt.  Jedes  vom  Gesetz  übertragene  bloß 
fakultative,  jedes  Optionsrecht  wird  also  in 
strenger  Konsequenz  des  Entwickelten  erst  durch  die  wirk- 
lich eingetretene  Wahlhandlung  des  Individuums  zu 
einem  erworbenen,  und  kann  ihm  bis  zu  der  geschehenen 
Wahl  durch  Gesetzgebungswechsel  ohne  jede  Rückwirkung 
entzogen  werden. 

Diese  Folgerung  des  Begriffes  ist  besonders  dem  juri- 
stischen Gefühl  der  Franzosen  zum  deutlichen  Bewußtsein 
gekommen,  vgl.  z.  B.  Merlin,  Rep.  de  Junspr.,  v°  Effet 
retr.,  Sect.  II,  §  1,  V,  537:  „Mais  tel  (d.  h.  ein  droit 
acquis)  n'est  jamais  un  droit  purement  facultatif  ä  moins 
qu'il  n'ait  ete  exerce  et  que  par  Vexerclce  qui  en  a  ete  fait, 
la  chose  qui  en  est  l'objet,  ne  soit  devenue  notre  pröpriete. 

261 


,,En  effet,  il  en  est  des  facultes  accordees  par  la  loi, 
comme  des  facultas  accordees  par  les  individus.  Tant  que 
celles-ci  ne  prennent  pas  le  caractere  de  droits,  elles  sont 
toujours  et  essentiellement  revocables :  Or,  le  legislateur  ne 
contracte  jamais  lorsqu'il  accorde  une  faculte ;  il  permet, 
mais  il  ne  s'oblige  pas ;  il  conserve  donc  toujours  le  pouvoir 
de  retirer  sa  permission;  et  ceux  ä  qui  il  la  retire  avant 
qu  ils  en  aient  fait  usage,  n'ont  aucun  pretexte  pour  s'en 
plaindre." 

Aber  indem  dieser  im  allgemeinen  ganz  richtige  Gedanke 
sich  den  Franzosen  ohne  die  theoretische  Begründung,  als 
deren  Folgerung  er  sich  uns  ergeben  hat,  aufdrängt,  treibt 
er  sich  ihnen  einerseits  bis  zur  Einseitigkeit  und  Unwahr- 
heit (siehe  z.  B.  oben  S.  147),  andererseits  bleibt  er  ihnen 
deshalb,  statt  sich  zu  dem  die  gesamte  Materie  beherrschen- 
den Begriff  fortzuarbeiten,  als  eine  bloße  Formel  neben 
anderen  Formeln  stehen  und  führt  sich  deshalb  nicht  ein- 
mal zu  seinen  nächstliegenden  Konsequenzen  fort  (s.  z.  B. 
§  5),  und  drittens  wird  er  endlich  deshalb  auch  ausdrück-' 
lieh  wieder  von  ihnen  aufgehoben,  wie  z.  B.  derselbe  Mer- 
lin, a.a.O.,  S.  551  fg.,  sagt,  daß  es  auch  solche  Rechte 
(droits  acquis)  gebe,  mit  denen  „la  loi  elle-meme  m'ait  in- 
vesti  et  me  i  alt  confere  purement  et  simplement  et  sans 
y  attacher  la  condition  que  je  ne  Vacquerrais  que  par 
Vexercice  que  j'en  ferais,"  ohne  daß  dies  mit  dem  Vorigen 
irgendwie  auszusöhnen  und  in  innere  Übereinstimmung  zu 
setzen  versucht  wird. 

§  5.  Das  Einspruchsrecht. 

Es  ergibt  sich  daher  nunmehr  als  eine  notwendige  Folge 
des  Begriffes,  daß  jedes  Recht  des  Einspruches  gegen 
eine  Handlung  oder  einen  Vertrag,  welchen  das  Gesetz 
Dritten  einräumt  —  natürlich  falls  dadurch  nicht  o  h  n  e- 

262 


hin  selbständig  erworbene  Rechte  dieser  Dritten,  z.  B. 
der  Gläubiger,  beeinträchtigt  werden  — ,  durch  ein  dieses 
Einspruchsrecht  aufhebendes  Gesetz  auch  in  bezug  auf  die 
schon  früher  geschlossenen  Verträge  beseitigt  ist,  ohne 
daß  deshalb  von  Rückwirkung  irgend  die  Rede  sein  kann. 

Die  formelle  Regel,  daß  Verträge  in  jeder  Hinsicht 
nur  nach  dem  Gesetz  zur  Zeit  ihrer  Schließung  zu  be- 
urteilen sind,  wird  also  hier  irrig  und  m  u  ß  es  werden, 
weil  sie  hier  mit  dem  wahren  begrifflichen  Grund- 
gedanken, dem  sie  entflossen,  in  Widerspruch  tritt. 

Der  Grund  ist  einfach.  Die  vertragschließenden  Indi- 
viduen können  durch  keine  Fiktion  so  angesehen  wer- 
den, als  wenn  sie  selbst  hätten  den  Dritten  still- 
schweigend das  Recht  stipulieren  wollen,  gegen 
ihre  eigene  Willenserklärung  anzugehen.  Ebensowenig 
ist  von  den  Dritten  selbst  gehandelt  und  durch 
Willensaktion  etwas  erworben  worden.  Das  Recht  der 
Dritten  auf  Einspruch  ist  daher  nicht  wie  die  anderen 
Wirkungen  des  Kontraktes  durch  die  individuelle  Willens- 
freiheit gesetzt,  sondern  stammt  lediglich  aus  dem 
Gesetz  als  solchem  und  geht  somit  mit  diesem  vorüber. 

Merlin  hat  also  Unrecht  und  widerspricht  den  eigenen 
Konsequenzen  des  von  ihm,  wie  wir  in  §  4  sahen,  ein- 
geräumten Grundsatzes,  vertritt  aber  gleichwohl  nur  die 
bei  französischen  wie  deutschen  Autoren  ganz  allgemein 
herrschende  Theorie,  wenn  er  z.  B.,  die  Ehe  betrachtend, 
sagt :  ein  neues  Gesetz  könne  nicht  durch  seine  alleinige 
Kraft  eine  Ehe  gültig  machen,  welche  im  Augenblick  der 
Gesetzesverkündung  nach  dem  Gesetz  zur  Zeit  ihrer 
Eingehung  ungültig  war1),  wobei  er  nämlich  ausdrücklich 

!)  A.  a.  O.,  Sect.  III,  §  2.  Art.  5,  V,  543:  „Une  loi 
nouvelle  ne  peut  pas  valider  immediatement,  et  par  sa  scule 
puissance,    un    manage    qui    au    moment    de    sa   publication    se 

263 


voraussetzt,  daß  die  Klage  auf  Nichtigkeit  der  Ehe  nicht 
nur  für  die  Ehegatten  selbst,  sondern  auch  für  die  Drit- 
ten, nach  dem  früheren  Gesetz  hierzu  Berechtigten,  ein 
erworbenes  Recht  bilde1). 

Dies  ist  also  in  bezug  auf  die  Dritten2)  nicht  der 
Fall,  und  so  kann  denn  allerdings  insofern  ein  Kontrakt, 
welcher  nach  dem  Gesetz  zur  Zeit  der  Schließung  durch 
das  Einspruchsrecht  eines  Dritten  ungültig  und  wirkungs- 
los gewesen  wäre,  durch  ein  späteres  Gesetz  validiert 
werden.  Betrachten  wir  den  Fall  der  mangelnden  väter- 
lichen Einwilligung.    Nach  §§  972,  973,  Tit.  1,  T.  II  des 


trouve,  d'apres  la  loi  sous  laquelle  il  a  ete  celebre,  entache 
de  vices  qui  en  emportent  la  nullite ;  et  si  eile  le  f  aisait,  eile 
retroagirait  manifestement,  eile  ravirait  un  droit  acquis ;  rien 
ne  pourrait   la   justifier." 

*)  Denn  er  fährt  nach  den  angeführten  Worten  fort:  „Mais 
eile  peut  sans  retroagir  subordonner  la  recevabilite  de  Vactiow 
en  nullite  de  mariage  qui  est  acquise  .soit  aux  deux  epoux, 
soit  ä  Tun  deux,  soit  ä  des  tiers,  avant  sa  publication,  ä  des 
diligences  dependantes  de  leur  volonte,  et  declarer  qu'ä  defaut 
ohne  weiteres  nehmen,  und  nimmt  es  ihnen  in  der  Tat  dadurch 
des  ces  diligences,  leur  action  ne  sera  plus  recevable."  Das 
Gesetz  kann  diesen  Dritten  das  Einspruchsrecht  vielmehr 
allein,  daß  es  ein  solches  Recht  nicht  mehr  anerkennt,  auch  für 
die   schon   geschlossenen  Ehen. 

9)  Natürlich  hat  das  Obige  keine  Anwendung  z.  B.  auf  den 
Fall  des  §  936,  Tit.  I,  T.  II  des  Allgemeinen  Landrechtes, 
oder  Art.  147  des  Code  Napoleon,  wo  jemand  bei  noch  be- 
stehender erster  Ehe  eine  zweite  schließt.  Freilich  ist  der 
Gatte  aus  der  ersten  Ehe  für  diesen  zweiten  Ehekontrakt  auch 
ein  Dritter ;  aber  sein  Einspruchsrecht  ist  vermittelt  durch  seine 
eigene  individuelle  Handlung  —  seine  eigene  unter  diesem  Ge- 
setz geschlossene  Ehe  — ;  es  ist  also  nur  die  Folge  seines 
ohnehin  selbständigen  erworbenen  Rechtes,  und  es  liegt 
somit  einer  jener  Fälle  vor,  die  wir  bereits  bei  Eingang  dieses 
Paragraphen  von  demselben   ausgeschlossen  haben. 

264 


Allgemeinen  Landrechtes  können  (vgl.  §§  994,  995  das.) 
nur  diejenigen,  welche  das  Ehehindernis  zu  rügen  berech- 
tigt sind,  also  z.  B.  der  Vater  die  wegen  Mangels  seiner 
Einwilligung  ungültige  Ehe  als  nichtig  aufheben  lassen. 
Hier  hat  also  der  Heiratende  ebensowenig  wie  der  Vater 
ein  erworbenes  Recht  auf  die  Aufhebung  der  Ehe. 
Dem  Vater  steht  dies  Recht  nur  aus  dem  Gesetze  zu1); 
dem  Heiratenden  selbst  steht  dies  Recht  auf  Nichtigkeit 
der  Ehe  gar  nicht  als  Recht  zu;  er  kann  es  nicht  gel- 
tend machen.  Nur  als  faktische  Folge  kann  diese 
Nichtigkeit  für  ihn  eintreten  und  nicht  eintreten,  je  nach 
dem  von  ihm  unabhängigen  Willen  eines  Dritten, 
des  Vaters,  der  also  für  den  Handelnden  statt  zu  seiner 
eigenen  Willensaktion  zu  gehören,  nur  die  Natur  eines 
äußeren  Umstandes  hat.  Indem  so  der  Handelnde 
sich  selbst  in  die  Lage  gebracht  hat,  die  Validierung  oder 


1)  Denn  hier  kann  natürlich  die  Fiktion,  daß  um  der  im 
Familienrecht  herrschenden  Identität  willen  (§  2  A.)  das  Ein- 
spruchsrecht der  Eltern  als  durch  ihre  eigene  Willensaktion 
erworben  angesehen  werden  müsse,  nicht  zur  Anwendung  kom- 
men. Diese  allgemeine  Fiktion  beruht  ja  gerade  auf  der  ge- 
setzlichen Unterstellung  der  Willensidentität  dieser  Per- 
sonen. Dieselbe  auf  den  Fall  anwenden,  wo  der  Sohn  gegen 
den  Willen  des  Vaters  heiratet,  und  also  sagen,  daß  der  Sohn 
durch  seinen  Willen  als  einen  mit  dem  des  Vaters  iden- 
tischen letzterem  das  Recht  auf  Negation  dieses  seines 
Willens  erwirbt,  würde  eine  contradictio  in  adjecto  bilden ;  denn 
es  würde  heißen  in  die  logische  Monstruosität  verfallen,  den 
Willen  der  beiden  Personen  zu  gleicher  Zeit  als  identisch 
und  als  sich  entgegengesetzt  zu  behandeln,  und  jene 
Rechtsfiktion  somit  zum  absoluten  sich  selbst  zerstörenden 
Widersinn  treiben.  Hier  ist  also  einer  jener  Fälle,  wo  der  römi- 
sche Grundsatz  zur  Anwendung  kommt :  fictio  cedit  veritati,  und 
jenes  Einspruchsrecht  des  Vaters  ist  daher  nur  ein  Ausfluß 
der  ihm  vom  Gesetz  verliehenen  väterlichen  Gewalt. 

265 


Invalidierung  seiner  Ehe  von  einem  seinem  Willen  frem- 
den Umstand  abhängen  zu  lassen,  der  nicht  einmal  die 
Natur  einer  Bedingung  hat,  da  seine  resolutorische  Wir- 
kung vom  Handelnden  selbst  nicht  geltend  gemacht  wer- 
den kann,  ist  hier  von  einem  Erworbensein  überhaupt 
nicht  die  Rede,  und  der  Handelnde  kann  sich  ebensowenig 
über  Denaturierung  seiner  Handlung,  also  über  Rück- 
wirkung beklagen,  wenn  das  Gesetz,  an  Stelle  des  Vaters 
tretend,  den  Konsens  dadurch  erteilt,  daß  es  die  Nichtig- 
keitsklage dem  Vater  entzieht,  als  wenn  der  Vater  von 
selbst  die  Ungültigkeit  nicht  gerügt  hätte,  oder  etwa  noch 
innerhalb  der  Frist  gestorben  und  durch  dieses  Ereignis 
die  Ehe  validiert  worden  wäre. 

Etwas  verschieden  verhält  es  sich  bei  dem  Art.  182 
des  Code  Nap.  insofern,  als  dieser  bei  dem  Mangel  der 
väterlichen  Einwilligung  nicht  nur  dem  Vater,  sondern 
auch  demjenigen  Gatten,  der  dieser  Einwilligung  benötigt 
war.  das  Recht  gibt,  auf  Nichtigkeit  der  Ehe  zu  klagen. 
Durch  ein  die  Notwendigkeit  der  väterlichen  Einwilligung 
aufhebendes  Gesetz  wird  hier  folgendes  eintreten  müssen. 
Der  Vater  hat  hier,  wie  gezeigt,  durch  das  neue  Gesetz 
das  Recht  verloren,  gegen  den  Willen  des  Sohnes 
auf  die  Nichtigkeit  seiner  Ehe  zu  klagen,  denn  für  ihn  ist 
dies  Recht  niemals  ein  erworbenes  gewesen.  Der  Sohn 
selbst  aber  könnte,  da  für  ihn  dies  Recht  als  ein  durch 
seine  eigene  Handlung  stillschweigend  gesetztes  erscheint, 
auch  nach  wie  vor  dem  neuen  Gesetz,  solange  er  nur  in 
der  Frist  ist,  auf  Nichtigkeit  klagen,  insofern  hier  nicht 
andere  Grundsätze  in  Betracht  kämen,  die  erst  im  §  10 
begrifflich  entwickelt  werden  können. 

Ebenso  ist  nun  klar,  daß,  wenn  der  Art.  184  des  Code 
Nap.  außer  den  Gatten  selbst  auch  noch  allen  dabei  inter- 
essierten  Dritten   und  dem  öffentlichen   Ministerium  das 

266 


Recht  gibt,  wegen  nicht  hinreichenden  Alters  oder  ver- 
botener Verwandtschaftsgrade  auf  Nichtigkeit  einer  Ehe 
zu  klagen,  diesen  Dritten  und  ebenso  dem  öffentlichen 
Ministerium  durch  gesetzliche  Aufhebung  dieser  Ehe- 
hindernisse das  Klagerecht  entzogen  wäre. 

Es  ist  gleichfalls  eine  Folge  und  Bestätigung  des  in 
diesem  Paragraphen  entwickelten  Prinzips,  daß  das  statu- 
tarische Wiederkaufsrecht  —  der  retrait  lignager  — ,  wel- 
ches in  dem  alten  französischen  Gewohnheitsrecht,  wie  im 
Allgemeinen  Landrecht,  T.  II,  T.  4,  §  227fg.,  denVer- 
wandten  des  Verkäufers  eines  Grundstückes  zustand 
und  sie  berechtigte,  sich  dem  Ankäufer  subrogieren  zu 
lassen,  in  den  Fällen,  wo  es  noch  nicht  durch  Handlungen 
der  Verwandten  ausgeübt  und  hierdurch  erworben  wor- 
den war,  durch  den  dies  Recht  nicht  mehr  anerkennenden 
Code  Nap.  als  beseitigt  gelten  mußte,  worüber  bei  den 
französischen  Autoren  kein  Streit  obwaltet  (vgl.  Meyer, 
Questions  transit.,  S.  194fg.,  Merlin,  a.  a.  O.,  S.  566fg.). 

§6.     Neue   Willensäußerungen.     Fristen.     Um- 
änderung von  Pfandrechten  ;  von  Testamenten. 
Rückkauf.       Emphyteuse.        Rentenkontrakt. 
Widerruf  von  Schenkungen.    Unterschiede. 

Wenn  nun  lediglich  die  Aufrechterhaltung  der 
individuellen  Willensfreiheit  den  alleinigen 
Träger  des  Nichtrückwirkungsgedankens  bildet,  so  ergibt 
sich  hieraus  eine  Folgerung,  welche,  hart  an  die  Aufhebung 
dieses  Begriffes  anstreifend,  ihn  dennoch  gerade  am  klar- 
sten als  das  wahrhafte  Gesetz  der  Sache  darlegt. 

Es  werden  dann  nämlich  spätere  Gesetze  auch  er- 
worbene Rechte,  auch  geschlossene  Verträge  und  ihre 
Wirkungen  in  bedingter  Weise  ändern  und  zerstören 
können,  wenn  sie  nur  die  Aufrechterhaltung  dieser 

267 


Rechte  von  einer  solchen  Bedingung  abhängig  machen, 
deren  Erfüllung  lediglich  in  dem  freien  Willen 
des  berechtigten  Individuums  gelegen  ist. 

Es  ist  nach  dem  entwickelten  Begriff  evident,  daß  sich 
das  Individuum  dann  nicht  über  eine  Denaturierung  seiner 
Handlung,  über  eine  Verletzung  seiner  Willensfreiheit  be- 
schweren kann,  wenn  die  Aufrechterhaltung  derselben  doch 
wieder  nur  seinem  alleinigen  Willen  anheimgegeben  ist. 
Da  die  Bedingung,  welche  dem  Individuum  zur  Aufrecht- 
erhaltung zugemutet  wird,  nur  darin  besteht :  seinen 
Willen  zu  setzen,  respektive  noch  einmal  zu 
setzen,  so  muß  vielmehr  die  Zerstörung  seines  er- 
worbenen Rechtes,  die  das  Gesetz  aus  der  Nichterfüllung 
dieser  Bedingung  folgen  läßt,  als  ein  freiwilliges 
Aufgeben  seines  Rechtes,  nicht  als  eine  gewaltsame 
Änderung  seines  Willens,  erscheinen. 

Hieraus  folgt  also,  daß  ein  neues  Gesetz,  ohne  Rück- 
wirkung zu  begehen,  vorschreiben  kann,  die  Form  von 
schon  früher  geschehenen  und  damals  gültigen  Handlungen, 
falls  dies  noch  möglich  ist  und  nur  von  dem  Willen  des 
berechtigten  Individuums  abhängt,  zu  ändern,  um  die  Hand- 
lung als  gültig  zu  erhalten ;  daß  ein  Gesetz  Fristen  zur 
Wahrnehmung  von  erworbenen  Rechten  einführen  und  re- 
spektive vorhandene  abkürzen  kann,  bei  deren  Nichtwahr- 
nehmung  die  erworbenen  Rechte  verfallen  sein  sollen ;  daß 
es  den  Fortbestand  eines  kontraktlichen  Rechtes  von  der 
Vollbringung  formeller  Handlungen,  z.  B.  der  Inskription, 
abhängig  machen  kann,  die  nur  im  Willen  des  Berech- 
tigten liegen ;  daß  es  sogar  in  den  unmittelbaren  Inhalt 
eines  Vertragsverhältnisses  eingreifen  kann,  wenn  nur  immer 
dies  beobachtet  wird,  daß  die  Abänderung  oder  Ent- 
ziehung des  Rechtes  durch  den  bloßen  Willen  des 
Berechtigten  verhindert  werden  kann. 

268 


Ist  dies  richtig,  so  zeigt  sich  hier,  daß  auch  die  Formel, 
welche  viele  über  die  Rückwirkung  aufstellen,  daß  näm- 
lich vollbrachte  Tatsachen  (faits  accomplis)  von 
neuen  Gesetzen  nicht  berührt  werden  dürfen,  abgesehen 
davon,  daß  sie  ganz  unzureichend,  auch  nicht  richtig 
ist.  Denn  vollbrachte  und  bisher  für  sich  allein  vollkommen 
gültige  und  wirksame  Tatsachen  werden  hier  ohne  Rück- 
wirkung zerstört  und  geändert,  wenn  die  Bedingung  der 
neuen  Willensaktion  nicht  erfüllt  wird. 

Es  zeigt  sich  ebenso,  daß  auch  der  Kontrakt  a  1  s 
solcher  durchaus  nicht  bloß  durch  das  Gesetz  zur  Zeit 
seiner  Schließung  regiert  wird,  wie  die  gewöhnlichen 
Formeln  besagen,  sondern  daß  auch  in  ihm,  wie  in  der 
ganzen  Sphäre  des  Rechtes,  nichts  anderes  der  verändern- 
den Einwirkung  späterer  Gesetze  entzogen  wird  und  zu 
entziehen  ist,  als  der  Begriff  der  individuellen 
Willensfreiheit. 

Daß  vom  Gesetz  zur  Aufrechterhaltung  des  früher 
schon  in  genügender  Form  gesetzten  Willens  eine  neue 
Willensaktion  gefordert  wird  —  dies  wird  niemand  für 
Rückwirkung  ausgeben  können.  Denn  dies  würde  heißen 
das  positive  Recht  des  Staates  bestreiten  wollen,  Lei- 
stungen des  Individuums  als  Bedingung  des 
Zivilschutzes  und  seiner  Forterhaltung  zu  for- 
dern, ein  Recht,  welches  ihm  also  ebensoviel  die  Befug- 
nis gibt,  im  Interesse  z.  B.  der  Unzweifelhaftigkeit  des 
letzten  Willens  oder  der  Konformität  der  Pfandrechte, 
oder  der  größeren  Sicherheit  und  schnelleren  Klarlegung 
der  Rechtsverhältnisse  eine  nochmalige  Erklärung  des 
letzten  Willens  in  geänderter  Form,  oder  eine  neue  hypo- 
thekarische Inskription  in  bestimmter  Weise,  oder  eine 
schnellere  Darlegung  des  Willens,  seine  Rechte  zu  wahren. 
d.  h.    eine   Klageanstellung   in   kürzeren   Fristen,    zu   be- 

269 


gehren.  Und  indem  sich  alle  diese  Forderungen  in  bloße 
Willensäußerungen  auflösen,  das  Individuum  also 
in  bezug  auf  Erhaltung  und  Verlust  seiner  Rechte  nur 
von  seinem  eigenen  Willen  abhängig  gemacht  wird,  kann, 
wenn  ohne  hinreichenden  Grund  das  Gesetz  ihm  die  Last 
auferlegt,  zur  Erhaltung  seines  Rechtes  seinen  Willen 
nochmals  an  den  Tag  zu  legen,  dies  unter  Umständen 
ein  lästiges  und  schlechtes  Gesetz  sein,  aber  von  einem 
rückwirkenden,  den  individuellen  Willen  brechen- 
den Charakter  desselben  kann  keine  Rede  sein. 

Wenn  jetzt  der  theoretische  Beweis  für  die  entwickelte 
Folgerung  erbracht  ist,  so  würde  nun  die  Frage  entstehen, 
ob  dieselbe  nicht  auch  schon  bisher  in  dem  empirisch- 
juristischen  Stoff  irgendwo  anerkannt  worden  ist. 

Merkwürdigerweise  ist  es  nun  gerade  diese  vom  Begriff 
hervorgetriebene  Folgerung,  welche  seit  jeher  auf  das  viel- 
fachste und  unzweideutigste  anerkannt  worden  ist,  ohne  daß 
sie  doch  vermocht  hätte,  den  Begriff  der  individuellen 
Willensfreiheit,  dem  sie  entsprungen  und  den  sie  als  den 
alleinigen  Kern  der  Rückwirkungsfrage  so  scharf  nach- 
weist, zum  Bewußtsein  zu  bringen.  Davon  war  dann  wie- 
der die  Folge,  daß  sie  nicht  zu  den  Konsequenzen  fort- 
geführt würde,  die  sie  in  sich  trägt. 

Ausdrücklich  anerkannt  wurde  sie  im  §  16  der  Ein- 
leitung zum  Allgemeinen  Landrecht : 

,,Soll  nur  die  äußere  Form  einer  Handlung  ge- 
ändert und  diese  Vorschrift  bei  allen  noch  a  b  - 
zuändernmöglichen  Handlungen  beobachtet  wer- 
den, so  muß  das  Gesetz  hierzu  eine  hinlängliche  Frist 
bestimmt  haben1)." 

x)  Mit  Unrecht  führt  also  Bornemann  (a.  a.  O.,  S.  16) 
diese  Vorschrift  unter  folgender  Vorausschickung  an :  „Der 
Gesetzgeber  kann  zwar  auch  die  rückwirkende  Kraft  eines 

270 


Unter  dieser  Bedingung  also,  daß  die  Abänderung  dem 
Individuum  noch  faktisch  möglich  ist  und  daß  dazu 
eine  hinlängliche  Frist  gegeben  wird,  erblickt  der  preu- 
ßische Gesetzgeber  keine  Rückwirkung  dann,  wenn  selbst 
die  äußere  Form  der  Handlung,  die  doch  sonst  ledig- 
lich und  allein  unter  dem  Gesetze  ihrer  Zeit  steht,  zu 
ändern  vom  Gesetz  verlangt  wird. 

So  wurden  in  den  mehrfachen  Fällen,  in  welchen  die 
preußische  Hypothekenordnung  an  Stelle  des  bis  dahin 
geltenden  gemeinrechtlichen  Pfandrechtes  gesetzt  wurde, 
die  Pfandgläubiger  aufgefordert,  binnen  einer  bestimmten 
Frist  die  Eintragung  ihrer  Forderungen  in  die  neuen 
Hypothekenbücher  vornehmen  zu  lassen.  Niemand  hat 
in  dem  Verlangen  dieser  neuen  Inskription  zur  Erhaltung 
eines  bis  dahin  schon  erworbenen  und  wirksamen  Rechtes 
eine  Rückwirkung  gesehen.  Wohl  aber  wäre  eine  solche 
in  vollem  Maße  vorhanden  gewesen,  wenn  den  Pfand- 
gläubigern nicht  diese  Eintragung  innerhalb  einer  be- 
stimmten Frist  gestattet,  oder  wenn  ihnen,  insoweit  ihnen 
für  die  Konformierung  ihrer  Ansprüche  keine  Frist  ge- 
stellt wurde  oder  diese  Beibringung  der  neuen  Form 
nicht  mehr  möglich  war,  ihre  bisherigen  Rechte  nicht 
erhalten  geblieben  wären1). 


solchen  (nämlich  die  Form  von  Rechtsgeschäften  betreffenden) 
Gesetzes  anordnen."  Es  ist  vielmehr,  wie  gezeigt,  auch  nicht 
eine  Spur  von  Rückwirkung  darin ! 

*)  Hieraus  ergibt  sich  der  große  Irrtum,  den  Bornemann, 
S.  22  fg.,  begeht,  wo  er  in  eine  wahrhafte  Rückwirkung  ver- 
fällt. In  Übereinstimmung  mit  zwei  Ministerialreskripten  vom 
13.  Februar  1792  und  30.  Mai  1801  (mit  denen  wieder  das 
Reskript  vom  16.  März  1787  als  das  richtige  in  Widerspruch 
steht)  hatte  das  Kammergericht  in  einem  späteren  Falle  die 
Umschreibung  eines  im  Jahre  1744  eingetragenen  und  an  den 
letzten   Inhaber  zurückgezahlten   Kapitals   auf  den   Namen  des 

271 


Es  ist  daher  nur  eine  ausdrückliche  Anerkennung  un- 
seres Prinzipes  und  des  §  16  der  Einleitung  zum  All- 
Gutsbesitzers,  der  die  Zahlung  geleistet  hatte,  verweigert,  weil 
der  letzte  Inhaber  sich  nur  durch  eine  außergerichtliche  Privat- 
zession vom  7.  Dezember  1748  legitimieren  und  auch  den 
Übergang  der  Forderung  an  seine  Vordermänner  nur  durch 
solche  Privatzessionen  nachweisen  konnte.  Der  Gutsbesitzer 
klagte  nun  gegen  den  letzten  Inhaber  und  dieser  wurde  in  der 
Tat  rechtskräftig  verurteilt,  sich  in  einer  bestimmten  Frist  als 
Eigentümer  des  Kapitals  in  hypothekarischer  Form  zu 
legitimieren !  Gedrängt  durch  Exekution  und  bei  der  Unmög- 
lichkeit, die  verlangte  Legitimation  nach  Verlauf  von  mehr  als 
60  Jahren  zu  beschaffen,  wandte  sich  der  letzte  Inhaber  im 
Jahre  1833  an  den  damaligen  Justizminister  mit  der  Bitte,  die 
Umschreibung  des  Postens  ohne  weiteres  anzuordnen.  Der  Justiz- 
minister kam  diesem  Antrage  auch  ganz  sachgemäß  in  einer 
richtig  motivierten  Ausführung  nach  (s.  Bornemann,  S.  21, 
und  Kamptz,  Jahrb.,  Bd.  41,  S.  525  fg.)  und  veranlaßte,  um 
den  Widerspruch  mit  dem  Reskript  von  1801  zu  erledigen, 
einen  allerhöchsten  Erlaß  vom  29.  Mai  1833,  in  welchem 
richtig  bestimmt  wurde,  daß  die  Vorschriften  der  Hypotheken- 
ordnung, §  60  fg.,  199,  248  fg.,  auf  früher  errichtete  Verträge 
und  einseitig  ausgestellte  Urkunden  und  deren  äußere  Form 
keine  Anwendung  finden  könnten.  Ein  ähnliches  Reskript,  in 
bezug  auf  die  wiedervereinigten  Provinzen  und  das  für  sie 
erlassene  Patent  vom  22.  Mai  1815  nebst  Instruktion  vom 
30.  Mai  1815,  erging  unterm  14.  August  1837,  bestimmend, 
daß  auf  Grund  der  unter  der  Herrschaft  des  gemeinen  Rechtes 
errichteten  Privaturkunden,  welche  nach  den  damaligen  Ge- 
setzen in  formeller  und  materieller  Hinsicht  zum  Eigentums- 
erwerb genügten  und  keine  sichtbaren  Mängel  an  sich  trügen, 
die  Besitztitelberichtigung  ohne  weiteres  erfolgen  müsse. 

Dem  gegenüber  ergreift  nun  Bornemann  die  Partei  der  älteren 
Ministerialreskripte  von  1792  und  1801  und  erklärt  die  Aus- 
führung des  Justizministers  in  dem  im  Jahre  1833  erstatteten 
Bericht  für  „nicht  durchaus  zutreffend".  Seine  Gründe  sind 
diese:  Auch  nach  preußischen  Gesetzen  genügten  bloße  Privat- 
urkunden als  causa  praecedens  des  Erwerbes  von  Sachen  und 

272 


gemeinen  Landrecht,  wenn  der  preußische  Gesetzgeber  in 
den    transitorischen    Patenten    für    diejenigen    Provinzen, 


Rechten.  Nur  nicht  für  hypothekarische  Eintragung  ohne  wei- 
teres. Hierzu  bestimme  vielmehr  die  Hypothekenordnung,  daß 
solche  Privaturkunden  dem  Aussteller  zuvörderst  zur  Aner- 
kennung vorgelegt  werden  sollten.  „Wenn  nun,"  sagt  Borne- 
mann, „die  älteren  Reskripte  vorschreiben,  daß  diese  Bestim- 
mung auch  auf  die  unter  der  Herrschaft  des  gemeinen  Rechtes 
errichteten  Urkunden  anzuwenden  sei,  so  wird  dadurch  der 
Hypothekenordnung  keine  rückwirkende  Kraft  beigelegt.  Denn 
die  formelle  Gültigkeit  dieser  Urkunden  bleibt  unbe- 
rührt. (!)  Es  soll  ihnen  nur  in  bezug  auf  eine  Einrichtung, 
welche  dem  gemeinen  Rechte  fremd  ist  und  auf  welche  dasselbe 
daher  nicht  einwirken  kann,  keine  mehrere  Kraft  beige- 
legt werden  als  den  unter  der  Herrschaft  des  preußischen 
Rechtes  errichteten  Urkunden  derselben  Art.  Meines  Erachtens 
entsprechen  die  älteren  Reskripte  daher  der  strengen  Anwen- 
dung des  allgemeinen  Grundsatzes  über  die  zeitlichen  Grenzen 
der  Herrschaft  der  Gesetze." 

Aber  dieser  Scharfsinn  ist  ein  in  hohem  Grade  sich  selbst 
verwirrender.  Die  einzige  Frage,  die  in  dem  Falle  überhaupt 
zu  untersuchen  war,  ist  lediglich  die,  ob  nach  dem  damaligen 
gemeinen  Recht  die  Privatzession  vom  7.  Dezember  1748  die 
grundbücherliche  Forderung  mit  voller  Wirksamkeit  übertrug 
(und  zur  grundbücherlichen  Umschreibung  berechtigte).  Dies 
bestreitet  Bornemann  nicht,  und  somit  ist  die  Frage  entschie- 
den. Denn  daß  auch  die  preußischen  Gesetze  Privaturkunden 
zur  hypothekarischen  Eintragung  zulassen,  aber  nur  nachdem 
der  Aussteller  zuvor  rekognosziert  hat,  kann  keinen  Einfluß 
üben  und  macht  den  Fall  gar  nicht  anders  stehen,  als  er  stünde, 
wenn  das  preußische  Gesetz  gar  keine  Privaturkunde,  son- 
dern nur  notarielle  zur  Eintragung  zuließe.  Das  preußische  Ge- 
setz kann  für  die  unter  seiner  Herrschaft  errichteten  Urkunden 
vorschreiben,  daß,  um  bestimmte  Arten  von  Wirksamkeit 
zu  haben,  Urkunden  bestimmte  Formen  beobachten  müssen, 
z.  B.  gerichtliche  oder  notarielle  Form,  oder  die  Form  der 
Rekognoszierung.  Bei  Nichtbeobachtung  dieser  Formen  kann 
es  ihnen  alle  oder  doch  gewisse  Wirksamkeiten  versagen.  Wer 

18  LawallB.  G«.  Schriften,  Band  IX  273 


welche  bis  dahin  unter  französischem  Rechte  gestanden 
hatten  und  wo  somit  olographische  und  notarielle  Testa- 
mente gültig  gewesen  waren,  in  dem  Bestreben,  die  Veri- 
tät und  Unanfechtbarkeit  der  letztwilligen  Verordnungen 


somit  unter  preußischem  Gesetz  eine  Privaturkunde  empfängt, 
weiß  und  unterwirft  sich  dem  mit  Freiheit,  daß  er  zur  Ein- 
tragung die  Rekognoszierung  des  Ausstellers  nachsuchen  muß. 
Wenn  aber  die  frühere  Privatzession  einmal  das  volle  Recht 
auf  die  grundbücherliche  Eintragung,  an  deren  Stelle  das 
neue  Hypothekenwesen  getreten  war,  ohne  Rekognoszierung  er- 
teilte, so  konnte  der  Richter  nicht  das  früher  gültig  erworbene 
Recht  wegen  Nichterfülltseins  der  neuen  Form  für  stillschwei- 
gend vom  Gesetz  vernichtet  erachten.  Der  Gesetzgeber  hätte 
verlangen  können,  daß  schon  bestehende  Privaturkunden, 
die  dies  bisher  nicht  nötig  hatten,  nachträglich  vom  Aussteller 
zur  Eintragung  rekognosziert  werden  müßten;  er  hätte  eine 
Frist  hierfür  festsetzen  können,  bei  deren  Nichtbeachtung  das 
Recht  entzogen  sein  solle.  Aber  da  der  Gesetzgeber  die  Nach- 
holung der  neuen  Form  nicht  ausdrücklich  verordnete,  durfte 
sie  der  Richter  nicht  von  selbst  supplieren.  Und  der  Gesetz- 
geber selbst  hätte  diese  Forderung  nur  stellen  dürfen 
für  solche  Fälle,  wo  die  Nachholung  der  neuen  Form  (Re- 
kognoszierung) noch  möglich  und  bloß  von  dem  Willen  des 
Zessionars  abhängig  war,  also  wo  der  Aussteller  noch  lebte 
und  prozessualisch  zur  Rekognoszierung  genötigt 
werden  konnte,  nicht  aber  bei  Urkunden  von  1748  und  früher. 
Jede  andere  Entscheidung  des  Gesetzgebers,  und  um  so  mehr 
des  Richters,  verletzt  die  oben  entwickelte  Natur  der  Sache 
und  den  §  16  der  Einleitung  zum  Allgemeinen  Landrecht,  wie 
gleichfalls  aus  dem  Obigen  sich  ergibt. 

Ist  es  nicht  bezeichnend,  daß  Bornemann,  der,  wie  wir  sahen, 
in  diesem  §  16,  der  keine  Spur  von  Rückwirkung  enthält,  eine 
„rückwirkende  Kraft"  erblickt,  gerade  dadurch  hier  selbst 
in  flagrante  Rückwirkung  verfallen  muß  ?  Wir  wollen  nicht 
verschweigen,  daß  Bornemann  darauf  selbst  erklärt,  wie  seine 
Entscheidung  zwar  streng  rechtlich  sei,  aber  zu  sehr  bedenk- 
lichen  Ubelständen  führen   könne,   weshalb  er  derartige   Fälle 

274 


mehr  zu  sichern,  eine  neue  gerichtliche  Anfertigung  der 
Testamente  nach  den  Vorschriften  des  Allgemeinen  Land- 
rechtes, auch  in  bezug  auf  die  schon  gültig  bestehenden, 
verlangte.    Das  Patent  vom  9.  September   1814  für  die 
Provinzen  jenseits  der  Elbe1),  verordnet  hierüber  in  §  7 : 
,,Es  sollen  aber  die  von  den  Erblassern  eigenhändig 
ge-  und  unterschriebenen,  ohne  Beobachtung  einer  wei- 
teren  Form   bisher   gültig  gewesenen   Testamente,   in- 
gleichen diejenigen,  welche  vor  Notarien  aufgenommen 
worden,   nur  noch  während  eines  Jahres,  vom 
1.  Januar    1815   an  gerechnet,  als  rechtsbeständig  er- 
achtet werden. 

Nach  Ablauf  dieses  Zeitraumes  tritt  in  Ermange- 
lung einer  gültig  aufgenommenen  Disposition  die  ge- 
setzliche Erbfolge  ein,  wofern  nicht  nachge- 
wiesen werden  kann,  daß  der  Erblasser  während  des 
ganzen  Zeitraumes  von  Errichtung  eines  Testamentes 
nach  den  Vorschriften  des  Allgemeinen  Landrechtes 
verhindert  gewesen  ist." 

Alle  Forderungen  des  Begriffes  sind  hier  sorgfältig  er- 
füllt. Es  ist  eine  hinreichende  Frist  gegeben,  innerhalb 
welcher  der  Testierende  seinen  Willen  von  neuem  dar- 
legen kann  und  soll,  und  bis  zu  deren  Ende  die  frühere 
Darlegung  gültig  bleibt,  und  selbst  nach  Ablauf  dieser 
Frist  ist  der  Gegenbeweis  zugelassen,  daß  der  Te- 
stierende sich   in  faktischer  Unmöglichkeit  be- 


deni  Ermessen  des  Hypothekenrichters  anheimzustellen  vor- 
schlägt. Allein  es  gibt  dabei  nichts  anheimzustellen,  weil  die 
Entscheidung  Bornemanns  nicht  unbillig,  wie  er  meint,  sondern 
dies  nur  nebenbei  und  vor  allem  unjuristisch  ist. 

x)  Und  ebenso  in  dem  Patent  für  Westpreußen  vom  9.  No- 
vember 1816,  §  9.  und  für  das  Großherzogtum  Posen,  vom 
selben  Tage,   §  9. 

i8-  275 


funden  habe ;  das  Individuum  ist  also  schlechthin  nur  von 
seinem  eigenen  Willen  abhängig  gemacht. 

Es  ist  also  höchlich  auffällig,  wenn  Savigny  (VIII, 
478)  diese  Verordnung  eine  „ganz  eigentümliche 
Bestimmung"  nennt,  in  welcher  „nun  augenscheinlich  der 
Ausdruck  eines  allgemeinen  bleibenden  Grund- 
satzes nicht  enthalten  ist,  sondern  nur  die  Not- 
hilfe für  einen  einzelnen  Fall.  Auch  findet  sich  in  den 
übrigen  transitorischen  Gesetzen  eine  ähnliche  Bestimmung 
gar  nicht". 

Jedenfalls  hätte  Savigny  sehen  müssen,  daß  diese  an- 
geblich ganz  eigentümliche  Bestimmung  den  allgemeinen 
bleibenden  Grundsatz  des  §  16  der  Einleitung  zum  All- 
gemeinen Landrecht  in  sich  enthält ;  daß  sie  nur  denselben 
Grundsatz  enthält,  von  dem  auch  das  Verfahren  bei  der 
Hypothekenordnung,  das  er  selbst  billigt  (s.  VIII,  539), 
nur  ein  Ausfluß  ist ;  denselben  Grundsatz,  der,  statt  eigen- 
tümlich zu  sein,  in  den  verschiedensten  Gesetzgebungen 
nachgewiesen  werden  kann. 

So  erklärt  zwar  Justinian  in  der  Nov.  66,  Kap.  1,  §  4, 
daß  die  zur  Zeit  bereits  bestehenden  Testamente  in  bezug 
auf  die  Gültigkeit  ihrer  Form  nicht  nach  seinen  neuen 
Vorschriften  zu  beurteilen  und  von  neuem  aufzunehmen 
wären  (nee  aecusentur  quod  eo  tempore,  quo  illi  vixe- 
runt,  eas  non  mutaverint)  ;  aber  er  erklärt  ausdrück- 
lich, daß  er  nur  deshalb  dies  nicht  fordere,  weil  dies 
in  sehr  vielen  Fällen  dem  testierenden  Individuum  nicht 
mehr  faktisch  möglich  sein  würde  und  nur  aus 
diesem  Grunde  eine  solche  Forderung  unzulässig  wäre; 
denn  unmittelbar  nach  den  angeführten  Worten,  in  wel- 
chen er  gesagt,  daß  die  Neuerrichtung  der  Testamente 
nicht  verlangt  werden  könne,  fährt  er,  dies  begründend, 
also  fort :  „neque  enim  omnia  in  nostra  potestate  sunt,  nee 

276 


semper  aliquis  tempus  testandi  habet.  Nam  saepe  mors 
repente  homines  opprimit  iisque  facultatem  testandi  adimlt 
(xfjg  rov  dia&eo&ai  rovxovg  iijovoiag  äcpaigov/tevai).  Quare 
quod  ab  initio  recte  factum  est"  usw. 

Justinian  spricht  also  deutlich  genug  aus,  daß,  wäre 
nicht  jenes  Bedenken  von  der  faktischen  Unmöglichkeit, 
d.  h.  von  der  nicht  immer  vorhandenen  Abhängigkeit  der 
Erfüllung  von  dem  bloßen  individuellenWillen1) 
—  ein  Bedenken,  welches  in  den  preußischen  Patenten 
so  sorgfältig  gewahrt  wird  —  die  Erneuerung  der  Te- 
stamente vom  Gesetzgeber  gar  wohl  verlangt  werden 
könnte. 

Ebenso  direkt  wie  in  den  preußischen  Patenten  ist  der 
Grundsatz  in  den  Annalen  der  französischen  Gesetz- 
gebung nachzuweisen.  Die  französischen  Gesetze  vom 
5.  Brumaire  und  17.  Nivose  II  hatten  die  Testierfähig- 
keit gänzlich  verändert  und  insoweit  freilich  ohne  jede  Be- 
ziehung auf  das  in  Rede  stehende  Prinzip  die  Testamente 
der  noch  Lebenden  vernichtet.  Allein  sie  hatten  noch 
eine  quotite  disponible  übrig  gelassen,  über  welche  te- 
stiert werden  konnte  (ein  Zehntel  des  Vermögens,  wenn 
direkte  Erben,  und  ein  Sechstel,  wenn  nur  Kollateralerben 
vorhanden  waren).  Es  entstand  jetzt  die  Frage,  ob  nicht 
wenigstens  für  diesen  Betrag  die  bereits  bestehenden  und 
in  verbotener  Weise  ä  titre  umversel  verfügenden  Testa- 
mente aufrecht  zu  erhalten  seien,  oder  ob  sie  als  gänzlich 


J)  Die  faktische  Möglichkeit  in  diesem  Sinne,  d.h. 
die  Abhängigkeit  einer  Handlung  von  dem  bloßen  indivi- 
duellen Willen,  wird  daher  mit  Recht  überall  da  zur  recht- 
lichen Kategorie,  wo  es  auf  den  individuellen  Willen  an- 
kommt; vgl.  beispielsweise  oben  über  die  Verjährung  (agere 
non  valenti  non  currit  praescriptio,  S.  130),  die  L.  18,  C.  de 
testibus  (4,  20),  usw. 

277 


nichtig  zu  betrachten  und  die  Errichtung  neuer  Testa- 
mente zur  Verfügung  über  den  jetzt  noch  erlaubten  Teil 
erforderlich  wäre.  Insofern  war  dies  nur  eine  Frage 
nach  der  formellen  äußeren  Gültigkeit  der  be- 
stehenden Testamente,  oder  konnte  doch  mindestens  als 
solche  äußere  Formfrage  aufgefaßt  werden  und  wurde, 
wie  wir  sehen  werden,  schließlich  nur  so  aufgefaßt.  Der 
Konvent  entschied  hierüber  durch  Art.  47  des  Dekretes 
vom  22.Ventöse  II  mit  folgenden  Worten: 

,,Que  la  loi  a  aboli  ces  anciennes  dispositions  et  que 
si  eile  a  simplement  reduit  ä  une  quotite  Celles  dont 
l'auteur  decede  ne  pouvait  refaire  un  nouvel  acte,  ce 
motif  a  cesse  lorsque  cet  auteur  a  survecu  ä  la  Pro- 
mulgation de  la  loi  du  5  brumaire ;  qu'ainsi  et  s'il  ne 
l'a  pas  fait,  l'ancienne  disposition  est  nulle  pour  le 
tout." 

Der  Konvent  stimmte  also  mit  dem  preußischen  Ge- 
setzgeber ganz  in  den  Prinzipien  überein,  sowohl  im 
Grundsatz,  daß  die  neue  Errichtung  von  Testamenten  ge- 
fordert werden  könne,  als  auch  darin,  daß  diese  Forde- 
rung nur  dann  zulässig  sei,  wenn  der  Testator  das 
Testament  neu  machen  könne.  Nur  daß  der  Konvent 
das  ,,ne  pouvait  pas  refaire"  lediglich  in  dem  Tode  des 
Testators  erblicken  wollte. 

Nun  wurden  (s.  oben  S.  96fg.)  die  Gesetze  vom  5.  Bru- 
maire, 17.  Nivose  und  22.Ventose  II  gerade  wegen  ihrer, 
sei  es  wahren,  sei  es  vermeintlichen  Rückwirkung  später 
—  in  bezug  auf  diesen  rückwirkenden  Effekt  —  zurück- 
genommen. Hierbei  bestimmte  nun  das  unter  dem  Direk- 
torium erlassene  Gesetz  vom  18.  Pluviose  V  (6.  Februar 
1797)  in  bezug  auf  die  uns  hier  beschäftigende  Frage  in 
Art.  4 : 

278 


,,Les  actes  de  derniere  volonte  faits  anterieurement  ä 
la  publication  des  lois  des  5  brumaire  et  17  nivose  an 
II  et  qui  n'ont  pas   ete  refaits  ou  renouveles   depuis, 
dans  les  cas  memes  ou  la  loi  en  indiquait  Vobligation, 
restent  neanmoins  valables  et  sont  seulement  reductibles 
jusqu'ä  la  concurrence  de  la  quotite  disponible,    lors- 
quHls  sont  Uouvrage,  1  °  de  militaires  decedes  au  Ser- 
vice de  la  patrie,  ou  de  personnes  mortes  au  service 
des  armees ;   2  °  de  personnes  decedees  en  maison  de 
reclusion  ou  qui  ont  peri  en  vertu  de  jugements  revo- 
lutionnaires,  ou  qui  ont  demeure  cachees  par  suite  de 
mises  hors  la  loi  ou  de  mandats  d'arret ;  3°  de  per- 
sonnes mortes  en  voyages  de  long  cours." 
Das  heißt  also,  in  solchen  Fällen,   wo  die   Erneuerung 
des  Testamentes  trotz  des  Fortlebens  des  Testators  nicht 
mehr  von  seinem  bloßen  Willen  abgehangen  hatte, 
ihm  vielmehr  offenbar  unmöglich  gewesen  war,  sollte  das 
alte  Testament  formell  gültig  bleiben  (bis  zum  erlaubten 
Betrage).    Gänzlich  ungültig  sollten  dagegen  die  Testa- 
mente aller  solcher  Personen  sein,  die,  ohne  sich  in  diesen 
Verhinderungsfällen   zu   befinden,    die   Publikation   jener 
Gesetze    überlebt    hatten,    ohne    die    Testamente    zu    er- 
neuern (par  des  personnes  qui  ont  survecu  ä  la  publica- 
tion de  la  dite  loi  sans  les  renouveler).   Also  auch  jetzt, 
wo  man  sehr  aufgelegt  war  (s.  oben  S.  105),  den  Begriff 
der  Rückwirkung  sehr  weit  zu  fassen  und  solche  beson- 
ders in  den  Verordnungen  des   Konventes  leicht  zu  er- 
blicken, vermochte  man  doch  eine  solche  nicht  darin  zu 
sehen,  daß  das  Gesetz  die  formelle  Erneuerung  verlangt 
hatte,  und  schloß  dies  in  den  Widerruf  des  retroaktiven 
Effekts    der    Brumaire-    und    Nivose -Gesetze    nicht   ein. 
Nur  noch  eine  sehr  wichtige  Hinzufügung  macht  das  an- 
gezogene Gesetz.    Trotz  des  Vorhergesagten  sollten  näm- 

270 


lieh  bis  zum  Betrag  der  quotite  disponible  gültig  bleiben 
alle  Testamente  in  allen  solchen  Fällen,  wo  sich  die  Erb- 
schaften zwar  nach  den  Gesetzen  vom  5.  Brumaire  und 
17.  Nivose,  aber   vor  dem  Gesetz  vom  22.Ventose   II 

,,qui  a  declare  formellement  la  necessite  de  renouveler 

les  dispositions  ä  titre  universel." 
eröffnet  hatten.  —  Diese  beschränkende  Hinzufügung  und 
ihre  angeführte  Motivierung  ist  aus  zweierlei  Gründen 
sehr  wichtig.  Einmal  zeigt  sich  darin,  daß  der  gesetz- 
gebende Körper  die  Ungültigkeit  der  Testamente  nicht 
auffaßte  als  eine  Folge  der  Hinfälligkeit  ihrer  prohi- 
bierten Bestimmungen,  als  eine  materielle  Nichtigkeit,  die, 
das  prohibierte  Testament  überhaupt  beseitigend,  die  reine 
Intestaterbfolge  eintreten  lassen  mußte.  Diese  der  Sache 
jede  nähere  Beziehung  auf  unseren  jetzigen  Gesichtspunkt 
raubende  Auffassung,  welche  seit  je  bei  den  Testamenten 
eine  große  Rolle  gespielt  hat,  welche  aber  überhaupt 
schwerlich  möglich  sein  dürfte,  wo  die  Errichtung  des 
Testamentes  dem  prohibierenden  Gesetze  vorhergeht, 
lag  hier  nicht  vor,  denn  sonst  würde  diese  Nichtigkeit 
der  Testamente  auch  bei  den  schon  seit  den  Gesetzen 
vom  5.  Brumaire  und  17.  Nivose  eröffneten  Erbschaften 
haben  eintreten  müssen,  weil  diese  Gesetze  es  ja  eben 
waren,  welche  jene  prohibitiven  Bestimmungen  enthielten. 
Dennoch  sollte  diese  Ungültigkeit  erst  vom  Ventose- 
Gesetz  ab  eintreten,  und  zwar  ausdrücklich,  weil  dieses 
—  in  dem  oben  angeführten  Art.  47  —  „formell  die 
Notwendigkeit  erklärt  hatte,  jene  Testa- 
mente zu  erneuern".  Der  legislative  Körper  faßte 
also  die  Ungültigkeit  der  Testamente  nur  als  die  Folge 
der  Nichterfüllung  der  Vorschrift  über  die  Nach- 
holung der  äußeren  testamentarischen  Form 
auf,   welche  er  in  jenem  Art.  47  des  Ventose- Gesetzes 

280 


erblickte,  in  demselben  Sinne,  wie  die  bezogenen  preußi- 
schen Patente  eine  solche  enthalten. 

Zweitens  erkannte  durch  diese  Bestimmung  der  legis- 
lative Körper  das  schon  oben  (Anm.  1  zu  S.  270)  gegen 
Bornemann  von  uns  entwickelte  Prinzip  an,  daß,  wo  die 
Notwendigkeit  vorliegen  soll,  die  Wirksamkeit  einer 
früheren  Handlung  durch  Nachholung  einer  äußeren,  von 
neuen  Gesetzen  verfügten  Form  aufrechtzuhalten,  diese 
Forderung  vom  Gesetzgeber  ausdrücklich  aus- 
gesprochen sein  muß,  und  wenn  eine  solche  Bestimmung 
fehlt,  durch  keine  Interpretation  aus  den  Gesetzen  gefol- 
gert werden  darf.  Darum  räumte  der  legislative  Körper 
nicht  ein,  daß  schon  in  die  Gesetze  vom  5.  Brumaire  und 
17.  Nivose  —  so  nahe  ihnen  diese  Interpretation  lag  — 
durch  Folgerung  die  Forderung  hineingetragen  werden 
dürfe,  die  bereits  bestehenden  Testamente  zu  erneuern, 
sondern  erst  von  der  ausdrücklichen  Aufforderung 
des  Ventose- Gesetzes  an  datiert  er  die  Wirkung,  die  be- 
stehenden nicht  erneuerten  Testamente  ungültig  zu  machen. 
—  Der  Grund  hiervon  ist  der  oben  entwickelte.  Die 
Bestimmungen,  die  wir  bisher  in  diesem  Paragraphen  be- 
trachtet haben,  lösen  sich  in  die  gesetzgeberische  Forde- 
rung an  das  Individuum  auf,  seinen  Willen  noch  ein- 
mal zu  setzen,  wenn  er  aufrecht  bleiben  solle.  Da  dieser 
Wille  bereits  in  an  und  für  sich  wirksamer  Form  voll- 
bracht ist,  so  ist  diese  Forderung  eine  dem  Individuum 
auferlegte  Last,  rechtfertigt  sich  aber  durch  das  Recht 
des  Staates,  Leistungen  für  die  Gewährung  des  Zivil- 
schutzes zu  fordern.  Eben  deshalb  aber  hat  nur  der  Ge- 
setzgeber das  Recht,  diese  Last  und  Leistung  zur  Auf- 
rechterhaltung des  an  und  für  sich  schon  Gültigen  auf- 
zuerlegen ;  der  Richter,  dem  dies  positive  Recht  nicht  zu- 
steht,  kann,   wo  sie  nicht  ausdrücklich  auferlegt  ist,  sie 

281 


nicht  durch  Folgerungen  schaffen  und  dem  an  und  für 
sich  Gültigen  seine  Anerkennung  versagen. 

Ebenso  ausdrücklich  wie  der  §  16  der  Einleitung  zum 
Allgemeinen  Landrecht,  und  in  noch  allgemeinerer  Weise 
erkennt  Merlin  die  von  uns  im  Anfang  dieses  Paragraphen 
entwickelte  Folgerung  des  Begriffes  an.  Er  sagt1):  ob- 
gleich kontraktliche  Rechte,  seien  es  aktuelle,  even- 
tuelle oder  exspektative,  außer  dem  Bereich  eines  spä- 
teren Gesetzes  stehen,  so  könne  das  spätere  Gesetz  doch 
nichtsdestoweniger  ,,en  subordonner  l'exercice  ä  telles  for- 
malites, ä  telles  diligences,  ä  telles  conditions  qu'il  lui 
plait,  pourvu  que  ces  formalites,  ces  diligences  et  ces 
conditions  ne  dependent  point  d'evenements  ou  de  faits 
etrangers  ä  la  volonte  des  partles  auxquelles  eile  les  im- 
pose,  ou,  en  d'autres  termes,  pourvu  que  ces  parties  ne 
puissent  imputer  qu'ä  leur  propre  incurle  la  perte  qu'elles 
eprouvent  par  l'omission  ou  l'inaccomplissement  de  ces 
formalites,  de  ces  diligences,  de  ces  conditions. 

„Ainsi,  comme  nous  venons  de  le  voir,  la  loi  ne  peut 
pas  en  reduisant  aujourdhui  l'interet  conventionnel  de 
l'argent,  empecher  qu'un  interet  plus  haut  qui  a  ete  pre- 
cedemment  stipule  sous  une  loi  qui  l'autorisait,  ne  con- 
tinue  d'etre  exigible ;  mais  eile  peut  dire  au  creancier  ä 
qui  eile  conserve  forcement  le  droit  d'exiger  des  interets 
sur  le  pied  de  leur  stipulation  primitive :  «tu  te  feras 
desormais  payer  ces  interets  dans  tel  delai ;  et  faute  de 
diligence  de  ta  part  pour  te  les  faire  payer  dans  ce  delai, 
ils  seront  prescrits.»  Et  voilä  pourquoi  nul  ne  doute  que 
l'art.  2277  du  Code  civil  qui  assujettit  let  interets  a 
la  prescription  de  cinq  ans,  ne  soit  applicable  aux  interets 

J)  Rep.  de  Jurisprud.  v°  Effet  retr.,  Sect.  III,  §  3,  Art.  3, 
No.  11.  T.  V,  p.575. 

282 


qui,  bien  que  stipules  anterieurement  au  Code  civil  et 
dans  les  pays  oü,  ä  l'epoque  de  leur  stipulation,  ils 
n'etaient  prescriptibles  que  par  trente  ans,  ne  sont  nean- 
moins  echus  que  posterieurement  ä  la  mise  en  activite 
de  cet  article. 

,,Ainsi,  la  loi  du  11  brumaire  an  VII,  en  etablissant 
un  nouveau  Systeme  hypothecaire,  n'a  pas  pu  abolir  les 
hypotheques  qui  avaient  ete  constituees,  suivant  1  ancien 
mode ;  mais  eile  a  tres-bien  pu  dire  aux  creanciers  ä  qui 
appartenaient  ces  hypotheques  et  eile  leur  a  dit  en  effet : 
vous  ferez  inscrire  ces  hypotheques  aux  bureaux  des  con- 
servateurs  dans  teile  forme  et  tel  delai ;  sinon  vous  serez 
dechus." 

Schwerlich  sind  jemals  Worte  deutlicher  durch  die 
Tätigkeit  des  Begriffes  hervorgetrieben  worden  als  die 
eben  angeführten,  welche  die  von  uns  im  Anfang  dieses 
Paragraphen  entwickelte  Folgerung  so  ausdrücklich  aus- 
sprechen. Und  nur  das  könnte  fast  wundernehmen,  wie 
Merlin,  trotz  dieser  so  klaren  und,  wie  wir  schon  oben 
aufmerksam  machten,  den  wahren  und  alleinigen  Inhalt 
des  Rückwirkungsbegriffes  in  so  durchsichtiger  und  ent- 
scheidender Weise  bloßlegenden  Worte,  dennoch  nie  dazu 
gelangte,  sich  diesen  Begriff  selbst  und  somit  erst  die 
wahre  theoretische  Begründung  der  hier  von  ihm  selbst 
gezogenen  Folgerung  zum  Bewußtsein  zu  bringen.  Es 
könnte  dies  wundernehmen,  wenn  dies  nicht  eben  die  be- 
sondere Eigentümlichkeit  der  Franzosen  wäre,  unter  der 
treibenden  Herrschaft  des  echten  Begriffes  zu  stehen, 
ohne  sich  über  ihn  selbst  klar  zu  werden. 

Mehr  wunder  kann  daher  nehmen,  daß  Merlin  nicht 
einmal  die  juristische  Verstandeskonsequenz  seiner  Worte 
streng  festhält,   wie  sich  in  folgendem   zeigt. 

In  dem   Bezirk  des  Parlamentes  von  Toulouse  genoß 

283 


der  durch  Zwangsverkauf  expropriierte  Schuldner  das 
Recht,  während  zehn  Jahren  ä  rabattre  le  decret,  d.  h. 
gegen  Erstattung  von  Preis  und  Kosten  den  Adjudikator 
zu  evinzieren.  Insofern  Schuldner  solche  Zwangsverkäufe 
unter  der  Herrschaft  dieses  Gesetzes  hatten  eintreten 
lassen,  mußte  dieses  Eviktionsrecht  mit  Grund  als  ein 
droit  conventionnel,  als  eine  stillschweigend  beim  Ver- 
kauf stipulierte  resolutorische  Bedingung  gelten.  Nichts- 
destoweniger wurde  durch  Gesetz  vom  25.  August  1792 
dies  Recht  in  bezug  auf  die  schon  geschehenen  Zwangs- 
verkäufe aufgehoben.  Der  Konvent  aber  fühlte  sehr  bald 
die  hierin  liegende  Rückwirkung  und  weit  entfernt,  eine 
solche  zu  wollen,  verfügte  er  durch  ein  anderes  Gesetz 
vom  12.  Februar  1793  (Art.  2),  daß  die  Abschaffung 
jenes  Rechtes  nur  die  nach  dem  Gesetz  vom  25.  August 
1792  geschehenen  Adjudikationen  treffen,  in  bezug  auf 
frühere  Adjudikationen  aber  die  alten  Eigentümer  das- 
selbe, solange  sie  noch  in  der  früheren  (zehnjährigen) 
Frist  sich  befänden,  behalten  sollten. 

Unterm  ,17.  Germinal  II  erging  jedoch  ein  neues  Ge- 
setz, welches  diese  Frist  abkürzte  und  verordnete,  daß 
nach  dem  1 .  Vendemiaire  III  eine  action  en  rabattement 
nicht  mehr  zulässig  sein  solle. 

In  der  Reaktionsperiode  war  man  aber  auch  von  diesem 
fristabkürzenden  Gesetz  der  Ansicht,  daß  es  rückwirkend 
sei.  Infolgedessen  wurde  es  durch  Gesetz  vom  25.  Bru- 
maire  VI  rapportiert,  weil  es  in  sich  einschlösse  „des  dis- 
positions  de  retroactivite  egalement  contraire  ä  la  justice 
et  ä  la  declaration  des  droits". 

Merlin,  welcher  jenes  Gesetz  vom  17.  Germinal  II 
bespricht,  ist  gleichfalls  der  Meinung,  daß  es  rückwirkend 
gewesen  sei.  „Denn,"  sagt  er  (a.  a.  O.,  S.  567),  ,,si  la 
loi  peut  abroger  le  delai  d'un  retrait  purement  legal,  eile 

284 


n'a  pas  le  merae  pouvoir  ä  l'egard  d'un  retrait  ä  la  fois 
legal  et  tacitement  conventionnel." 

Allein,  wenn  man  auch  der  Ansicht  sein  muß,  daß  das 
Gesetz  rückwirkend  war,  —  aus  diesem  Grunde,  daß 
die  Frist  stillschweigend  konventionell  war,  ein  Grund, 
der  vielmehr  zu  einer  ganz  falschen  Theorie  führen  müßte, 
war  es  dies  gewiß  nicht !  Denn  warum  sollte  das  Gesetz 
nicht  eine  stillschweigend  stipulierte  Frist,  ja  selbst  eine 
ausdrücklich  ausbedungene,  ohne  Rückwirkung  abkürzen 
können  ?  . 

Einstimmig  ist  man  der  Ansicht,  und  Merlin  selbst  hat 
sie  in  den  oben  angeführten  Worten  (S.  282)  ausgesprochen, 
daß  das  Gesetz  Verjährungsfristen  auch  in  bezug  auf 
schon  entstandene  Forderungen  ohne  jede  Rückwirkung 
abkürzen  kann.  Und  ist  nicht  ebenso  in  jedem  Kontrakt, 
durch  den  eine  Forderung  erworben  wird,  die  stillschwei- 
gende Bedingung  zu  erblicken,  daß  sie  nur  in  der  zur 
Zeit  des  Kontraktes  gesetzlich  bestimmten  Frist  verjähren 
soll,  wie  in  dem  Zwangs  verkauf  unter  jenem  Gesetz  die 
tazite  Bedingung,  in  der  Frist  des  Gesetzes  das  Eigen- 
tumsrecht geltend  zu  machen,  zu  erblicken  ist  ? 

Hierin  also,  weil  die  Frist  eine  stillschweigend 
konventionelle  war,  liegt  nicht  der  Grund.  Nicht 
einmal  die  ausdrückliche  Bestellung  der  Verjährungsfrist  in 
einem  Kontrakte  würde  gegen  ein  späteres  kürzere  Fristen 
einführendes  Gesetz  schützen. 

Der  Unterschied  liegt  vielmehr  in  einem  schon  oben 
hervorgehobenen  Begriffsmoment. 

Bei  der  Ver j  ährung  genügt  der  bloße  Wille  des 
Individuums,  sein  Recht  aufrechtzuerhalten.  Wenn  es  sich 
auch  stillschweigend  oder  ausdrücklich  eine  längere  Frist 
ausbedungen  hat,  es  kann  jederzeit  klagen,  wenn  ihm 
das  Gesetz  dies  aufgibt.   Es  wird  hierdurch  also  von  k  e  i  - 

2S5 


nem  anderen  Umstand  als  von  seinem  Willen  ab- 
hängig gemacht.  Zu  der  Bewerkstelligung  des  Rückkaufs 
dagegen  genügt  nicht  die  einfache  individuelle  Willens- 
erklärung, wie  bei  der  Klage,  sondern  es  muß  hierzu  auch 
noch  die  Offerte  des  Kaufpreises  treten,  also  eine  von 
seiner  bloßen  Willensmanifestation  unabhängige  objektive 
Leistung.  Zur  Beschaffung  dieser  Mittel  hat  sich  das 
Individuum  in  der  stillschweigend  konventionellen  Frist 
einen  bestimmten  Zeitraum  ausbedungen.  Dieser  darf  ihm 
also  nicht  verkürzt  werden,  weil  einerseits  die  Rück- 
nahme des  Gutes  ein  bloßes  vorbehaltenes  Recht  des  alten 
Eigentümers,  keine  Pflicht  desselben  bildet  und  anderer- 
seits durch  die  gegen  seinen  Willen  eintretende  Verkür- 
zung dieser  Frist  ihn  um  den  Inhalt  dieses  Rechtes  selbst 
bringen  kann,  da  zur  Ausübung  desselben  der  bloße  Wille 
nicht  hinreicht. 

Es  ergibt  sich  aus  dieser  Analyse  die  allgemeine  Folge : 
Fristen,  mögen  sie  stillschweigend  oder  ausdrücklich  aus- 
bedungen  sein,  können  durch  spätere  Gesetze  ohne  Rück- 
wirkung verkürzt  werden,  wenn  zur  Aufrechterhaltung 
des  dabei  in  Rede  stehenden  Rechtes  der  bloße  individuelle 
Wille  hinreicht.  Sie  können  nicht  verkürzt  werden, 
wenn  zu  dieser  Aufrechterhaltung  das  Individuum  noch 
irgendeine  außerhalb  des  bloßen  individuellen  Willens 
liegende  Bedingung  bedarf1). 

In  der  bisherigen  Untersuchung  war  immer  nur  von 
Fällen  die  Rede,  wo,  wie  bei  dem  Testament,  der  Hypo- 
thekeninskription, der  Verjährung,  nur  ein  einseitiger  Be- 
rechtigter vorhanden  war,  welcher  zur  Aufrechterhaltung 


*)  Insoweit  liegt  also  in  dem  die  Frist  der  action  en  rabatte- 
ment  abkürzenden  Gesetz- vom  17.  Germinal  II  eine  wirkliche 
Rückwirkung  vor. 

286 


seines  bereits  bestehenden  Rechtes  seinen  Willen  zu  setzen, 
resp.  noch  einmal  zu  setzen  hatte. 

Es  folgt  aber  aus  dem  Inhalt  des  hier  betrachteten  Be- 
griffsmoments und  ist  deshalb  schon  im  Anfang  dieses  Pa- 
ragraphen entwickelt  worden,  daß  das  wie  in  erworbene 
Rechte  überhaupt,  so  auch  in  bestehende  zweiseitige 
Verträge  ohne  Rückwirkung  eingreifen  und  dieselben 
ganz  oder  teilweise  aufheben  oder  ändern 
kann,  wenn  es  nur  eben  das  Ausschließen  dieser 
seiner  ändernden  Einwirkung  und  das  weitere 
Aufrechterhalten  des  bisherigen  Rechtes  von 
nichts  anderem  abhängig  macht,  als  von  einer  lediglich 
in  dem  Willen  des  bisher  mit  dem  betreffen- 
den Recht  ausgerüsteten  Individuums  gele- 
genen Handlung. 

Es  handelt  sich  jetzt  darum,  dies  überaus  wichtige  Prin- 
zip, dessen  theoretischer  Beweis  schon  in  dem  Eingang 
dieses  Paragraphen  gegeben  ist,  und  dessen  Verkennung  so 
viele  falsche  Entscheidungen  und  irreführende  Formeln 
über  das  Verhältnis  der  Verträge  zu  den  Gesetzen  veran- 
laßt hat,  gleichwohl  wiederum  als  schon  im  empirisch-juri- 
stischen Stoff  anerkannt  und  tätig  nachzuweisen. 

Dies  mag  zunächst  an  der  Justinianischen  Novella  120 
de  alienatione  et  emphyteusi  rerum  ecclesiasticarum  ge- 
schehen, die  auf  das  sichtlichste  von  ihm  regiert  wird. 

Justinian  verordnet  im  achten  Kapitel  dieser  Novelle : 
,.Si  locator  aliquis  vel  emphyteuta  rei  pertinentis  vel  ad 
sanctissimam  magnam  ecclesiam  vel  ad  aliam  venerabilem 
domum  in  quocunque  loco  reipublicae  notrae  sitam  aut  de- 
teriorem  reddat  rem,  quam  accepit  vel  post  haec  accipiet, 
aut  per  biennium  emphyteuticum  vel  locationis  canonem  a 
se  promissum  non  solvat,  potestatem   venerabili  domui,  a 

287 


qua  locatio  vel  emphyteusis  celebrata  est,  concedimus,  ut 
ea  quae  ei  pro  tempore  praeterito  debentur,  veteremque 
statum  rei  locatae  vel  in  emphyteusin  datae  exigat  et  emphy- 
teusi  vel  locatione  ejiciat,  ut  qui  nee  de  meliorationibus 
actionem  quandam  contra  venerabiles  domos  movere 
possit." 

Es  soll  also  der  Mieter  und  selbst  der  Pächter  auf 
emphyteutischen  Titel,  wenn  er  binnen  zwei  Jahren  den 
stipuherten  Kanon  nicht  entrichtet  oder  das  Grundstück 
deterioriert,  vom  Eigentümer  aus  der  Emphyteuse  heraus- 
geworfen werden  können,  und  dies  soll  auch  für  die  bereits 
geschlossenen  Verträge  gelten. 

Der  abändernde  Eingriff  in  das  bestehende  Vertrags- 
verhältnis ist  unleugbar.  Dem  emphyteutischen  Pächter 
wird  sein  erworbenes  Recht  auf  das  Vertragsverhältnis  ent- 
zogen durch  die  gesetzliche  Verfügung  einer  Bedingung, 
welcher  er  sich  bei  Eingehung  des  Vertrages  weder  aus- 
drücklich noch  stillschweigend  unterworfen  habe.  Aber 
dieser  Eingriff  ist  durchaus  ohne  Rückwirkung  und  voll- 
kommen regelmäßig,  weil  die  Aufrechterhaltung  seines 
bisherigen  Rechtes  nur  abhängig  gemacht  ist  von  zwei 
lediglich  in  seinem  Willen  stehenden  Handlungen, 
von  der  Nichtdeteriorierung  des  Grundstückes,  und  von  der 
nicht  zwei  Jahre  hintereinander  eintretenden  Verletzung 
seiner  kontraktlichen  Pflicht  zur  Erlegung  des  jährlichen 
Kanons.  Sehr  irrig  wäre  es,  in  letzterer  Hinsicht  geltend 
machen  zu  wollen,  daß  zu  dieser  Entrichtung  der  bloße 
Wille  nicht  genüge,  vielmehr  außer  demselben  auch 
Zahlmittel  erforderlich  seien,  und  daß  es  sich  daher  ebenso 
verhalte,  wie  oben  bei  der  Frist  für  das  Rückkaufsrecht. 
Dort  trat  Rückwirkung  ein,  weil  keine  Verbindlich- 
keit zum  Rückkauf,  sondern  lediglich  ein  Recht  hierauf 
vorlag  und  dieses  Recht  durch  die  Verkürzung  der 

288 


Frist  wegen  nicht  vorhandener  Zahlmittel  illusorisch  ge- 
macht werden  konnte. 

Im  gegenwärtigen  halle  aber  wird  dem  emphyteu- 
tischen  Pächter  nicht  durch  das  Gesetz  auferlegt, 
eine  Zahlung  zu  machen,  zu  der  er  nur  berechtigt,  nicht 
verpflichtet  ist :  es  wird  ihm  ebensowenig  auferlegt, 
früher  zu  zahlen,  als  er  sich  verpflichtet  hat.  Es 
wird  vom  Gesetz  nur  die  Nichtverletzung  einer 
selbstübernommenen  Verbindlichkeit  von  ihm 
gefordert. 

Dies  aber,  übernommene  Verbindlichkeiten  nicht  zu  ver- 
letzen, muß  nach  der  rechtlichen  Anschauung  stets  als  in 
der  alleinigen  Willensfreiheit  des  Indivi- 
duums stehend  angenommen  werden.  Die  einzige  Aus- 
nahme hiervon  sind  die  Fälle  der  force  majeure,  die  darum 
eben  auch  helfen  und  helfen  müssen. 

Sehr  beachtenswert  ist  der  sorgfältig  beobachtete  Unter- 
schied im  Gebrauch  der  tempora  und  modi  in  der  Justia- 
nischen  Novelle,  der  im  griechischen  Text  noch  schärfer 
hervortritt.  Justinian  sagt,  seine  Verordnung  solle  platz- 
greifen, wenn  einer  eine  Sache  in  Emphyteuse  ange- 
nommen hat  oder  annehmen  w  i  r  d  ,  —  quam  accepit 
vel  post  acclpiet  (ötieq  T]  tkaßev  i)  fierd  xavxa  Xäßoi).  Hier- 
für soll  es  also  ganz  gleich  bleiben,  ob  die  Handlung  — 
die  Vertragschließung  —  schon  geschehen  ist  oder  erst 
eintreten  wird,  wie  wir  in  der  Tat  gesehen  haben,  daß  in 
beiden  Fällen  die  Willensfreiheit  des  Pächters  gleich- 
mäßig erhalten  bleibt.  Dagegen  heißt  es  :  das  Gesetz  solle 
platzgreifen,  wenn  der  Pächter  das  Grundstück  deterio- 
rieren  oder  den  Kanon  während  zwei  Jahren  nicht  zahlen 
wird.  Hier  steht  der  in  der  Verbindung  mit  den  Bedin- 
gungspartikeln stets  Futuralbedeutung  annehmende  Kon- 
junktiv :  „Eidhig y  yeigov  noiijof)  xb  Trgäyfta,  otcf.q  k'ka- 

19  Lawalle.  Gm.  Schriften.  Band  IX.  2SQ 


ßev,  ij  zm  dtextav  fj,r]  xaxaßdXtj  xbv  jiclq  avxov  6 aoloytjdhxa 
1/LiqjvxevxiHov  i)  faoßcoxixov  xavova "  (si  —  deteriorem  reddat  — 
non  solvat,  oder,  wie  die  Glosse  noch  bestimmter  über- 
setzt:  aut  per  biennium  non  intulerit?).  Diese  sich  gleich- 
bleibende Abwechselung  in  den  Zeitformen  der  unmittel- 
bar aufeinander  folgenden  Verba  zeigt,  daß  Justinian  sehr 
richtig  gefühlt  hat,  worauf  es  ankomme.  Von  bereits 
vorgefallenen  Deteriorierungen  oder  Nichtzahlungen 
soll  und  darf  die  Aufrechterhaltung  des  Vertragsverhält- 
nisses nicht  abhängig  gemacht  werden ;  denn  dann  würde 
sie  von  Handlungen  abhängig  gemacht,  die,  als  vergan- 
gene, nicht  mehr  in  dem  Willen  des  berechtigten 
Individuums  stehen. 

Nun  setze  man  aber  den  Fall  umgekehrt.  Angenommen, 
daß  unter  einer  Gesetzgebung,  wo  diese  Justinianische  No- 
velle gilt,  emphyteutische  Verträge  geschlossen  sind  und 
nun  ein  Gesetz  erscheint,  nach  welchem  die  zweijährige 
Nichtzahlung  des  Kanons  nicht  mehr  die  Wirkung  hat, 
den  Eigentümer  zur  Auflösung  des  Vertragsverhältnisses 
zu  berechtigen.  Es  ist  ersichtlich,  daß  dieses  auf- 
hebende Gesetz  auf  die  bestehenden  Verträge  nicht 
einwirken  kann.  Denn  aus  den  früher  geschlossenen  Ver- 
trägen war  durch  die  als  stillschweigende  Willensbedingung 
wirkende  Kraft  jener  Novelle  den  Eigentümern  das  Recht 
erworben,  im  Falle  zweijähriger  Nichtentrichtung  des  Ka- 
nons das  Grundstück  einzuziehen,  und  die  Aufrecht- 
haltung dieses  bestehenden  Rechtes  würde  durch  Ein- 
führung des  neuen  Gesetzes,  da  Zahlung  oder  Nichtzahlung 
des  Pächters  nicht  ein  vom  Eigentümer  abhängiges 
Willensfaktum  ist,  nicht,  wie  im  vorigen  Falle,  von  dem 
Willen  des  Berechtigten  abhängig  gemacht.  Hier 
läge  also  vollständige  Rückwirkung  vor. 

Wenn  also  Göschel,  gerade  diesen  letzten  von  uns  sup- 

290 


ponierten  Fall  betrachtend,  sagt1),  daß,  wenn  eine  Kirche 
vor  dem  Eintritt  des  Allgemeinen  Landrechtes  vertrags- 
mäßig ein  Grundstück  in  Erbzins  auszutun  sich  verpflichtet 
habe,  zwar  auf  Erfüllung  und  Reszission  des  Vertrages 
nach  den  älteren  Gesetzen  geklagt  werden  könne,  daß  da- 
gegen die  Emphyteuse  selbst,  wenn  nichts  Besonderes 
vertragsmäßig  festgesetzt  ist,  wegen  des  vom  Landrecht 
aufgehobenen  Unterschiedes  der  persönlichen  Eigenschaft 
des' Erbzinsherrn  (Teil  I,  Tit.  18,  §§  772,  773)  nicht 
mehr  in  zwei,  sondern  nun  erst  in  drei  Jahren  ver- 
loren gehe,  so  ist  der  große  Irrtum  dieser  Entscheidung 
jetzt  positiv  nachgewiesen2).   Zugleich  ist  aber  auch  nach- 


x)  Simon  und  v.  Strampff,  Zeitschrift,   II,  20  fg. 

2)  Man  kann  diese  Göschelsche  Entscheidung  auch  nicht 
aus  dem  Grunde  aufrecht  halten  wollen,  weil  (vgl.  §  7)  die 
landrechtliche  Aufhebung  des  Unterschiedes  in  der  persönlichen 
Qualität  des  Erbzinsherrn  dem  öffentlichen  Recht  entflossen 
und  somit  ein  zwingendes  Gesetz  sei.  Gewiß  ist  sie  dies 
insoweit,  daß  unter  dem  Allgemeinen  Landrecht  nicht  mehr 
ein  Erbzinsvertrag  geschlossen  werden  kann,  in  welchem  eine 
Kirche  sich  ausdrücklich  auf  Grund  dessen,  daß  sie 
Kirche  und  nicht  gewöhnlicher  Erbzinsherr  sei,  mit  Bezug- 
nahme auf  jene  Novelle  die  zweijährige  Frist  stipuliert.  Dies 
würde  contra  leges  gehen.  Aber  in  bezug  auf  die  älteren  Ver- 
träge wirkt  der  Vorzug  der  Kirchenqualität  nur  als  ein  gleich- 
gültiges Motiv  zu  dem  Willen  der  Parteien,  den  Verlust 
der  Emphyteuse  an  zweijährige  Nichtzahlung  zu  binden.  Dieser 
Wille  selbst  ist  aber  durch  das  Landrecht  nicht  zwingend 
ausgeschlossen;  vielmehr  kann  jeder  Erbzinsherr  eine  be- 
liebig kürzere  oder  längere  Zeit  für  den  Verlust  der  Emphy- 
teuse festsetzen,  wie  sowohl  von  selbst  klar  ist,  als  im  §  774, 
Tit.  18,  T.  I,  noch  ausdrücklich  gesagt  wird.  Das  Landrecht 
derogiert  also  der  Privatwillkür  hierin  durchaus  nicht.  —  Würde 
es  dagegen  durch  ein  prohibitives  Gesetz  ausschließen,  daß 
eine    kürzere    als    eine    dreijährige    Frist    bestimmt    werde,    so 

291 


gewiesen,  welches  der  wahre  Gedanke  in  der  von  ihm 
—  und  schon  vor  ihm  von  Meyer  in  seinen  Principes  sur 
les  questions  transitoires  —  aufgestellten  Unterscheidung 
ist  zwischen  den  „unmittelbaren  und  den  mittel- 
baren Folgen  eines  Vertrages,"  von  denen  die  ersteren 
nur  nach  dem  älteren,  die  letzteren  nach  dem  neuen  Gesetze 
sich  richten  sollen.  Daß  dieser  Gedanke  in  dieser  Form, 
wie  er  bei  Göschel  und  Meyer  herausgerungen  ist,  falsch 
und  prinziplos  ist,  ist  ihnen  von  allen  Seiten  hinlänglich 
eingeworfen  und  soeben  noch  durch  die  betrachtete  Ent- 
scheidung Göscheis  gezeigt  worden.  Das  Wahre  aber, 
welches  sie  zu  dieser  Unterscheidung  getrieben  hat  und 
nur  wegen  der  nicht  klaren  begrifflichen  Erfassung  des 
Gedankens,  unter  dessen  Einwirkung  sie  standen,  sich  zu 
einer  die  begriffliche  Natur  der  Sache  nicht  erschöpfenden 
und  darum  falschen  Formel  verkehrt  hat,  ist  eben  jenes 
aus  dem  Begriff  entwickelte  und  an  der  Justinianischen 
Novelle  belegte  Gedankenprinzip. 

Und  es  ist,  wie  nunmehr  gleichfalls  von  selbst  klar  sein 
wird,  nur  die  sich  geltend  machende  Kraft  desselben 
Prinzips,  welche  den  badischen  Gesetzgeber  getrieben  hat, 
unter  die  Zusätze,  mit  welchen  der  Code  Napoleon  als 
Landesgesetz  für  Baden  verkündet  worden  ist,  folgenden 
Zusatz  zum  Art.  2  des  Code  Nap.  aufzunehmen : 

„Künftige  Folgen  einer  vergangenen  Be- 
gebenheit, wozu  ein  früheres  Gesetz  das  Recht 
gegeben  hatte,  kann  ein  späteres  ändern,  ohne 
rückwirkend  zu  sein,  solange  es  nur  noch 
zwischen  eintritt,  ehe  der  Fall  entsteht,  der 
die  Folgen  erzeugt." 


würde  dann  aus  diesem  Grunde  die  Göschelsche  Entschei- 
dung allerdings   zutreffen,   wie  sich  in   §  7  ergeben  wird. 

292 


Man  sieht,  wie  hier  derselbe  Gedanke  zugrunde  liegt, 
den  wir  in  der  Novelle  nachgewiesen  haben.  Der  ältere 
Kontrakt  ist  eine  vergangene  Begebenheit.  Gleichwohl 
kann  das  neuere  Gesetz,  ohne  rückwirkend  zu  sein,  abän- 
dernd einwirken,  weil  der  diese  Folgen  erzeugende  Fall 
der  Nichtzahlung  ein  erst  künftig  ,  nach  dem  neuen  Ge- 
setze, eintretender  ist.  Weil  aber  der  badische  Gesetzgeber 
den  ihn  bestimmenden  Gedanken  nicht  klar  beherrscht, 
treibt  sich  derselbe  nicht  nur  zu  einem  unklaren,  sondern 
auch  positiv  falschen  Ausdruck.  Denn  es  reicht 
nicht  hin,  daß  der  die  Folgen  erzeugende  Fall  erst 
nach  dem  neuen  Gesetze  entsteht,  es  hätte  auch  noch 
gesagt  sein  müssen,  daß  sein  Eintreten,  um  ändernde  Wir- 
kung haben  zu  dürfen,  lediglich  von  dem  Willen 
dessen  abhängen  muß,  dessen  Recht  entzogen  oder 
vermindert,  oder  dessen  Verbindlichkeit  vergrößert  wer- 
den soll. 

Ohne  diese  Bestimmung  müssen  große  Irrtümer,  wie 
die  falsche  Göschelsche  Entscheidung  und  andere  ähn- 
liche1), die  Folge  dieses  sich  selbst  mißverstehenden  Ge- 
dankenausdruckes sein. 


1)  So  heißt  es  bei  Brauer  (Erläuterungen  über  den 
Code  Napoleon  und  die  großherzoglich  badische  bürger- 
liche Gesetzgebung,  I,  28) :  wenn  unter  einer  Gesetzgebung, 
welche  Ernährung  des  Kindes,  Kindbettkosten  und  Jung- 
fernschaftsvergütung zur  Folge  einer  Schwängerung  er- 
klärte, eine  Schwängerung  eingetreten  und  während  der- 
selben der  Code  Napoleon  eingeführt  worden  wäre,  so  würde 
diese  Einführung  zwar  nicht  die  Entrichtung  der  Jungferntaxe, 
wohl  aber  der  Kindbettkosten  und  des  Unterhaltes  für  den 
Nichtanerkennungsfall  beseitigen,  weil  diese  nicht  von  der 
Tatsache  der  Schwängerung,  sondern  von  jener 
der  Geburt  abhingen,  die  später  wäre  als  die  neue 
Gesetzgebung ! !    Schon    die   erste   Voraussetzung    ist    unrichtig. 

293 


Dasselbe  Prinzip  ist  es,  welches  —  und  diesmal  inso- 
weit in  richtigster  Anwendung  —  die  französische  Juris- 
prudenz zu  ihrer  Auslegung  des  Art.  1912  Cod.  Nap. 
bestimmt  hat.  Derselbe  verordnet,  daß  der  Schuldner  einer 
in  perpetuum  konstituierten  Rente  zur  Wiedergabe  des 
Kapitals  solle  gezwungen  werden  können,  wenn  er  seinen 
Verpflichtungen  während  zweier  Jahre  nicht  nachkommt, 
oder  wenn  er  dem  Darleiher  die  im  Vertrag  versprochenen 
Sicherheiten  zu  liefern  unterläßt. 

Wie  die  Justinianische  Novelle  ausdrücklich1)  anordnet, 
daß  es  gleichgültig  sein  solle,  ob  der  emphyteutische  Ver- 


weil die  betreffenden  Bestimmungen  des  Code  Napoleon  durch- 
aus prohibitiv  sind  und  deshalb,  wie  wir  im  folgenden  Para- 
graph sehen  werden,  sofort  eingreifen  müssen.  Sieht  man  aber 
hiervon  ab,  so  muß  auch  die  Verpflichtung  für  die  Kindbett- 
kosten usw.,  weil  doch  die  Niederkunft  nach  einmal  gegebener 
Schwängerung  nicht  mehr  durch  den  Willen  vermeidlich  ist, 
bestehen  bleiben,  und  diese  Brauersche,  dem  Text  des  Gesetzes 
freiwillig  ganz  gemäße  Folgerung  muß  durch  ihre  schlagende 
Inkonsequenz  fast  Gelächter  erregen,  zeigt  aber  dadurch  am 
besten,  wie  wenig  es  hinreicht,  daß  die  Tatsache  nach  dem 
Gesetz  eintritt,  wenn  sie  nicht  eine  freiwillige  ist. 

x)  Wir  wollen  hier  Gelegenheit  nehmen  zu  bemerken,  wie 
willkürlich  und  seltsam  häufig  viele  Autoren  mit  der  Benutzung 
solcher  Gesetze,  die  ausdrücklich  sofortige  Einwirkung  auf  be- 
stehende Verhältnisse  verordnen,  umgehen.  Das  einemal  führen 
sie  dies  als  eine  Anerkennung  seitens  des  Gesetzgebers  an,  daß 
diese  sofortige  Einwirkung  (vulgo  Rückwirkung)  in  der  recht- 
lichen Natur  der  Sache  liege.  Und  gegen  diese  Benutzung 
wird  sich  auch  im  allgemeinen  nichts  einwenden  lassen.  Das 
anderemal  dagegen  führen  sie  die  ausdrückliche  Verordnung 
als  eine  Anerkennung  des  Gesetzgebers  an,  daß  ohne  diese 
spezielle  Verordnung  das  Gesetz  rechtlich  nicht  sofort 
einwirken  dürfe,  diese  Kraft  ihm  vielmehr  ausnahms- 
weise durch  eine  die  Kraft  der  Rechtsregeln  unterdrückende 
Vorschrift   erteilt    werden    müsse.    Diese    Schlußfolgerung    ist 

294 


trag  in  der  Vergangenheit  geschlossen  sei,  so  hat,  obwohl 
sich  der  Art.  1912  Code  Nap.  hierüber  nicht  äußert,  die 
französische  Jurisprudenz  sehr  richtig  aus  der  rechtlichen 
Natur  der  Sache  die  Folgerung  gezogen,  daß  es  gleich 
bleibe,   ob  der  Rentenkontrakt  unter  der  älteren  Gesetz- 


besonders  Bergmanns  Steckenpferd,  und  seine  ganze  Theorie 
beruht  auf  derselben.  Man  sieht  aber  sofort,  daß  es  gar  nichts 
Lahmeres  gibt  als  diesen  Schluß.  Der  Gesetzgeber  kann  sehr 
wohl,  gerade  wenn  er  fest  überzeugt  ist,  daß  ein  Gesetz  seiner 
rechtlichen  Natur  nach  sofort  eingreifen  müsse,  dies  ausdrück- 
lich anordnen,  um  mögliche  Zweifel  der  Richter  zu  vermeiden 
oder  widersprechenden  und  irrigen  Auslegungen  im  voraus  in 
den  Weg  zu  treten.  Man  wird  überhaupt  im  allgemeinen  nie- 
mals annehmen  können,  daß,  wenn  der  Gesetzgeber,  um  uns 
der  Kürze  halber  hier  dieses  schiefen  Ausdruckes  zu  bedienen, 
Rückwirkung  verordnet,  er  gegen  seine  eigene  Ansicht 
von  dem,  was  die  rechtliche  Natur  der  Sache  erfor- 
dere, handle!  Nur  daß  der  Gesetzgeber,  der  ja  keine  Theorie 
schreibt,  sehr  gut  der  Ansicht  sein  kann,  daß  zwar  auf  Ver- 
träge im  allgemeinen  nicht  rückgewirkt  werden  dürfe,  daß  aber 
diese  besondere  Art  von  Vertrag  oder  diese  besondere  Wirkung 
eines  solchen  der  rechtlichen  Natur  der  Sache  nach  Rückwir- 
kung erfordere.  Er  würde  sich  dann  sogar  noch  sehr  gut 
des  Wortes  „ausnahmsweise",  welches  seinen  Sinn  empfängt 
im  Gegensatz  zu  dem  allgemeinen  Rechtsgebiete  (z.  B.  Ver- 
träge), auf  dem  er  sich  gerade  bewegt  und  zu  dem,  was  für 
dieses  allgemeine  Gebiet  zulässig  ist,  bedienen  und  doch  über- 
zeugt sein,  daß  die  einzelne  konkrete  Bestimmung,  die  er  gerade 
trifft,  der  Natur  der  Sache  nach  rückwirken  müsse  oder 
dürfe.  Die  Auslegung,  daß  der  Gesetzgeber  nach  seiner 
eigenen  Ansicht  gegen  das  Recht  handle,  wird  daher 
nur  in  den  allerseltensten  Fällen  und  nur  auf  Grund  ganz  be- 
sonderer Beweise  zulässig  sein.  Das  Verhältnis  der  Justiniani- 
schen Novelle,  welche  die  Vorschrift  der  sogenannten  Rück- 
wirkung ausdrücklich  enthält,  zu  dem  Art.  1912  C.  c,  welcher 
sie  nicht  enthält  und  dennoch  so  ausgelegt  wird,  geben  einen 
Beleg  von   dem   Unkritischen   dieser   Bergmannschen   Methode. 

295 


gebung,  welche  diese  Verpflichtung  dem  Schuldner  nicht 
auferlegte,  getätigt  sei,  wenn  nur  dies  zweijährige  Unter- 
bleiben der  Rentenzahlungen  unter  der  Herrschaft  des 
Code  Napoleon  erfolgt  sei1). 

So  entschied  man  auch  noch  mit  demselben  Rechte,  daß 
der  Art.  1977  des  Code  Napoleon,  welcher  verfügt,  daß 
derjenige,  zu  dessen  Gunsten  eine  vermittelst  eines  Kauf- 
preises erworbene  Leibrente  bestellt  sei,  die  Resiliation  des 
Vertrages  fordern  kann,  wenn  der  Schuldner  die  im  Ver- 
trage festgesetzten  Sicherheiten  nicht  liefert,  auch  auf 
Leibrentenverträge  anwendbar  sei,  die  vor  dem  Code  Na- 
poleon konstituiert  worden2). 

Aber  die  tötende  Macht  der  Formel,  diese  ewige  sich 


1)  Dagegen  sprechen  Proudhon,  des  Personnes,  I,  64  (ed. 
Valette) ;  Chabot,  Quest.  trans.  v°  Rentes  constituees,  §  1er ; 
Duranton,  T.  17,  Nr.  615;  Valette  sur  Proudhon  1.  1.  Demo- 
lombe,  Cours  de  cod.  civ.,  T.  1,  Nr.  55.  Aber  die  richtige 
Ansicht  vertritt  die  weit  größere  und  gewichtigere  Zahl  der 
Autoren;  so  Merlin,  Rep.  v°  Rente  constituee,  §  12,  Nr.  3, 
und  v°  Effet  retroactif,  Sect.  III,  §  3,  Art.  3,  V,  576  sqq. ; 
Delvincourt,  III,  413;  Toullier,  T.  6,  Nr.  250;  Troplong, 
du  Pret,  Nr.  485 ;  Duvergier,  Nr.  355  fg.  ;  Richelot,  Princip. 
de  droit  civ.,  T.  I,  Nr.  31.  Und  einstimmig  hat  sich  die 
Jurisprudenz  der  Gerichtshöfe  hierfür  ausgesprochen.  So  die 
Urteile  der  Appellhöfe  von  Poitiers  vom  27.  Dezember  1809, 
von  Bordeaux  vom  25.  April  1811,  von  Turin  vom  3.  Mai  1811  ; 
und  der  Pariser  Kassationshof  in  seinen  Urteilen  vom  6.  Juli 
1812,  vom  4.  November  1812,  vom  10.  November  1818,  vom 
25.  November  1839.  Ebenso  war  in  der  belgischen  Jurisprudenz 
ein  heißer  Kampf  hierüber,  der  endlich  durch  den  obersten 
Gerichtshof  von  Brüssel  im  richtigen  Sinne  entschieden  wurde ; 
s.  Urteil  vom  5.  Mai  1820  und  die  Pasicrisie  beige  zum  Urteil 
vom  16.  Mai  1823. 

2)  Urteil  des  A.  H.  v.  Riom  vom  4.  August  1818.  (Sirey, 
19,  2,  37.) 

296 


bei  jedem   Schritt  an   seine   Füße   heftende   Gefahr  des 
Juristen  riß  hin  ! x) 

Weil  man  jene  Punkte  mit  Recht  so  entschieden  hatte, 
so  entschied  man  nun  auch,  durch  die  äußere  Gleichheit 
verführt,  daß  der  Art.  1978  des  Code  Napoleon,  welcher 
verfügt,  daß  das  bloße  Ausbleiben  der  Rentenzahlungen 
den  Leibrentengläubiger  nicht  berechtige,  die  Rückzah- 
lung des  Kapitals  zu  verlangen,  auch  auf  solche  Leibrenten- 


*)  Unglücklicher-  oder  glücklicherweise  ist  es  ganz  un- 
möglich, die  Wahrheit  in  eine  Formel  zu  bringen !  Ein  klarer 
Beleg  hierzu  mag  sein,  daß  die  von  uns  selbst  im  §  1  auf- 
gestellte Formel  —  wenn  man  sie  nur  wörtlich  als  solche  und 
nicht  nach  ihrem  begrifflichen  Sinn  auffaßt. —  an  den  in  dem 
gegenwärtigen  Paragraph  betrachteten  Fällen  bereits  falsch 
geworden  ist.  Denn  die  hier  betrachteten  Gesetze  sind  sämt- 
lich solche,  welche  das  Individuum  allerdings  durch  Vermitt- 
lung einer  früheren  Willensaktion  desselben  treffen  —  und 
es  dennoch  mit  Recht  und  ohne  Rückwirkung  treffen !  Die 
Formel  ist  also  schon  hier  falsch  geworden  —  und  dennoch 
wird  man  uns  jedenfalls  das  zugeben,  daß  alles  bisher  Gesagte 
mit  eiserner  Konsequenz  aus  dem  von  uns  im  §  1  auf- 
gestellten Begriff  entwickelt  ist.  Aber  die  Formel  als  solche 
kann  und  muß  hier  falsch  werden,  weil  außer  der  früheren 
Willensaktion,  durch  deren  Vermittlung  das  neue  Gesetz  das 
Individuum  trifft,  hier  auch  noch  eine  neue  zweite  und  erst 
nach  dem  Gesetz  eintretende  individuelle  Willenshandlung  da 
ist,  ohne  deren  Vermittlung  das  Gesetz  das  Individuum  nicht 
treffen  würde  und  durch  deren  Begehung  das  Individuum  sich 
den  Folgen  des  neuen  Gesetzes  mit  Freiheit  unterwirft. 

Ebenso  wird  die  Formel  am  folgenden  Paragraph  zuschan- 
den,  obgleich  er  wieder  nur  die  strengste  Konsequenz  des  in 
ihr  waltenden  Begriffes  ist.  Soll  eine  wahrhafte  Formel 
für  die  Rückwirkung  gegeben  werden,  so  kann  es  nur  die  des 
Begriffes  selbst  sein:  die  individuelle  Willensfreiheit  dürfe 
nicht  verletzt  werden.  Aber  was  hierin  enthalten  ist  und  nicht, 
zeigt  nur  der  Reichtum  der  gesamten  Ausführung. 

297 


vertrage  anwendbar  sei,  welche  unter  einem  Gesetz  ge- 
schlossen, das  den  Gläubiger  in  diesem  Falle  zur  Resolu- 
tion des  Kontrakts  berechtigt  hatte1).  So  entriß  man  ein 
kontraktlich  erworbenes,  stillschweigend  ausbedungenes 
Recht,  wrelches  das  Motiv  und  die  vorausgesetzte  Bedin- 
gung des  Leibrentenvertrages  gewesen  war  oder  gewesen 
sein  konnte,  ohne  daß  seine  Aufrechterhaltung  von  der 
Willensfreiheit  des  Betroffenen  abhängig  gewesen  wäre2). 

1)  Diese  flagrante  Rückwirkung  beging  der  Kassationshof 
von  Paris  in  seinen  Urteilen  vom  18.  Dezember  1822  und  vom 
17.  Juli  1824,  und  der  A.  H.  von  Bordeaux  durch  Urteil  vom 
19.  August  1829.  Dagegen  entschieden  — ■  und  diesmal  also 
mit  Recht  —  Chabot,  Quest.  trans.  v°  Rentes  viag.,  §  1er, 
II,  284,  und  der  A.  H.  von  Bordeaux  in  seinen  Urteilen  vom 
10.    Februar   1807  und  vom   15.   Dezember   1812. 

')  Dieses  falsche  Resultat  kann  nicht  wundernehmen,  wenn 
man  z.B.  liest,  wie  Troplong  an  der  oben  (S.  296,  Note  1) 
angeführten  Stelle  seine  richtige  Ansicht  über  den  Art.  1912 
begründet.  Er  sagt :  ,,De  quoi  s'^git-il  ?  d'une  cause  de  reso- 
lution  naissant  de  faits  d'execution  postcrieurs  au  contrat  (daß 
die  faits  spätere  sind,  reicht  durchaus  noch  nicht  hin)  et  qua- 
hfies  par  la  loi  nouvelle.  Or  l'execution  des  contracts  se 
regle  par  la  loi  vivante  ä  l'epoque  oü  l'execution  est  reclamee." 
Diese  letztere  Behauptung  ist  in  dieser  Allgemeinheit  ebenso- 
wenig richtig,  und  mit  solchen  abstrakten  Begründungen  muß 
man  freilich  dann  notwendigerweise  zu  den  falschesten  Resul- 
taten kommen,  wenn  sie  auch  bei  Gelegenheit  von  Gesetz- 
artikeln gegeben  werden,  auf  die  sie  wirklich  passen,  aber  nur 
passen  wegen  anderer  und  gerade  übersehener  konkreterer 
Bestimmungen,  die  dabei  in  Betracht  kommen. 

Mehr  wundernehmen  müßte  dagegen  jenes  falsche  Resultat, 
wenn  man  sieht,  daß  schon  Merlin  in  bezug  auf  diesen  Punkt 
die  Formel  ganz  richtig  und  konkret  hingestellt  hat,  sie 
aus  den  angeführten  Entscheidungen  über  den  Art.  1912  und 
seinen  oben  (S.  282)  angeführten  Worten  mit  sicherem  logi- 
schen Takt  ableitend.  Er  fragt  sich  (Rep.  v°  Effet  retr.,  V, 
582),   ob   ein    Gesetz,    welches   neue    Resolutionsgründe 

298 


Es  muß  jetzt  aus  dem  Vorigen  von  selbst  ersichtlich 
sein,  wie  es  sich  in  bezug  auf  gewisse  vom  Gesetz  zur 
Anfechtung  der  Gültigkeit  gewisser  Obligationen  gewährte 
Gründe  verhält.  Gewiß  entscheidet  Weber1)  mit  Un- 
recht, daß  bei  dem  Widerruf  einer  Schenkung  wegen  Un- 
dankbarkeit oder  wegen  nachgeborener  Kinder  nicht  das 
Gesetz  zur  Zeit  der  Schenkung,  sondern  das  Gesetz  zur 
Zeit  der  Widerrufsklage  maßgebend  sei,  weil  die  Schen- 
kung an  und  für  sich  gültig  sei  und  erst  durch  eine  be- 
sondere Klage  entkräftet  werde.  Gewiß  entscheidet 
Meyer-)  ebenso  mit  Unrecht,  daß  es  in  diesen  Fällen 
nicht  auf  das  Gesetz  zur  Zeit  der  Schenkung,  sondern  auf 
das  Gesetz  zur  Zeit  des  späteren  Ereignisses,  resp.   der 


einführt,  auf  die  früheren  Verträge  einwirken  könne?  und  er 
antwortet:  „Non",  si  ces  causes  derivent  de  faits  anterieurs 
ä  la  loi  nouvelle,  ou  si  lorsqu'ils  sont  poste'rieurs,  ils  ne 
dependent  pas  de  la  volonte  de  la  partie  contre  laquelle  on 
voudrait  provoquer  la  resolution.  Oui,  si  elles  derivent  de 
faits  ä  la  fois  posterieurs  ä  la  nouvelle  loi  et  dipendans 
aniquement  de  la  volonte  de  cette  partie."  Man  müßte  wahr- 
haft erstaunt  sein,  wie  hier  die  ganz  richtige  Ansicht  entwickelt 
sein  konnte,  ohne  dennoch  in  30  Jahren  auf  deutsche  und  selbst 
auf  französische  Autoren  und  Gerichtshöfe  den  geringsten  Ein- 
fluß zu  üben  und  sie  von  jenen  falschen  Resultaten  abzuhalten, 
wenn  der  Grund  hiervon  nicht  eben  darin  läge,  daß  diese  richtige 
Unterscheidung,  welche  Merlin  über  die  ,,effets  des  contrats 
aufstellt,"  dennoch  bei  ihm,  nur  durch  einen  logischen  Instinkt 
hervorgetrieben,  in  keinem  systematischen  Zusammenhang  mit 
seiner  sonstigen  Ansicht  von  der  Rückwirkung  steht,  die  viel- 
mehr mit  den  bisher  üblichen  Theorien  übereinstimmt,  so  daß, 
indem  er  die  Rückwirkung  nicht  in  ihrem  Begriff,  als  Verletzung 
der  individuellen  Willensfreiheit,  aufzufassen  weiß,  jene  Un- 
terscheidung in  dieser  Isolierung  ihre  wahrhafte  Begründung 
und  Beweiskraft  gänzlich  verliert. 

')  A.  a.  O.,  S.  107. 

-)  A.  a.  O.,  S.  175,  177,  188  fg. 

299 


Widerrufsklage  ankomme,  weil  die  Parteien  bei  der 
Schenkung  an  diese  Ereignisse,  die  nur  „akzidentelle 
Folgen"  seien,  nicht  hätten  denken  können. 

Gewiß  hat  Savigny1)  diese  Behauptungen  hinreichend 
widerlegt  und  die  Halt-  und  Prinziplosigkeit  derselben 
genügend  nachgewiesen,  die  denn  auch  allgemein  aner- 
kannt ist2). 

Aber  gewiß  ist  es  nicht  minder  falsch,  wenn  nun  Sa- 
vigny selbst  hierüber  also  spricht3):  „Widerruf  einer 
Schenkung  wegen  Undankbarkeit  oder  wegen  nachgeborener 
Kinder.  Es  entscheidet  die  Zeit  der  Schenkung,  nicht  die 
Zeit  des  späteren  Ereignisses,  noch  weniger  die  Zeit  der 
auf  Widerruf  angestellten  Klage."  Es  ist  dies  eben  falsch, 
sagen  wir,  ja  es  kann  auf  diesem  Formelnwege  gar  nicht 
zur  Wahrheit  durchgebrochen  werden.  Der  Weg  zu  dieser 
ist  vielmehr  grundsätzlich  dadurch  versperrt.  Es  muß 
vielmehr  eine  zweifache  Unterscheidung  gemacht  werden. 
Widerruf  wegen  Undankbarkeit  und  Widerruf  wegen  nach- 
geborener Kinder  sind  nicht  von  derselben  Natur.  Der 
eine  findet  statt  wegen  einer  auf  seiten  des  Beschenk- 
ten vorgenommenen  freien  Willenshandlung,  der  andere 
wegen  eines  nur  seitens  des  Schenkers  eingetretenen 
Ereignisses.  Nur  in  einem  bestimmten  Fall  wirken  beide 
Gründe,  wie  wir  sehen  werden,  in  derselben  Weise  ein, 
und  dies  hat  verführt,  sie  überhaupt  als  unterschiedslose 
zu  betrachten.  Der  zweite,  noch  wichtigere  Unterschied, 
der  gemacht  werden  muß,  ist  der :  sind  die  Widerrufs - 
gründe  durch  das  Gesetz  zur  Zeit  der  Schenkung  gegeben 
und  werden  sie  durch  das  neue  aufgehoben?  oder 
fanden  sie  umgekehrt  zur  Zeit  der  Schenkung  nicht  statt 

*)  System,  VIII,  438  fg. 

3)  Vgl.   Bornemann,   a.  a.   O.,  S.  25  fg. 

3)  A.  a.  O.,  S.  442. 

300 


und  sind  erst  durch  das  neue  Gesetz  eingeführt  ?  Es  ist 
im  hohen  Grade  verwunderlich,  daß  die  Juristen  stets 
und  fast  ohne  Ausnahme  beide  Arten  von  Gesetzwechsel 
für  identisch  wirkend  betrachten,  nicht  nur  in  diesen,  son- 
dern ebenso  in  allen  ähnlichen  Fällen1).  Nichts  hat  ver- 
derblicher gewirkt  und  mehr  zum  Irrtum  gezwungen 
als  diese  unselige  Formelnmethode,  da  nur  in  zu  häufigen 
Fällen  der  konstitutive  Unterschied  gerade  darin  liegen 
wird,  ob  es  das  alte  Gesetz  ist,  welches  die  Befugnis 
übertrug,  die  von  dem  neuen  aufgehoben  werden  soll,  oder 
ob  sie  umgekehrt  erst  durch  das  neue  Gesetz  eingeführt 
wird. 

Betrachten  wir  also  die  Zulässigkeit  jener  Widerrufs- 
klagen nach  den  angegebenen  Unterscheidungen.  Sind  die 
Widerrufsgründe  durch  das  Gesetz  zur  Zeit  der  Schen- 
kung gegeben,  so  wirken  sie  als  stillschweigender  Vor- 
behalt des  Schenkenden,  und  hier  ist  es  dann  deshalb 
gleichgültig,  ob  der  Widerruf  sich  auf  Undankbarkeit 
oder  auf  nachgeborene  Kinder  gründet.  In  beiden  Fällen 
hat  sich  der  Schenkende  durch  die  als  stillschweigende 
Bedingung  in  den  Kontrakt  übergehende  gesetzliche  Be- 
stimmung kontraktlich  den  Widerruf  vorbehalten  und  der 
Beschenkte  sich  dem  unterworfen.  Der  Schenker  hat  nur 
mit  Hinblick  auf  diese  Widerruflichkeit,  falls  ihm  Kin- 
der entstünden  oder  Undankbarkeit  zugefügt  würde,  ge- 
schenkt. Er  kann  wenigstens  nur  mit  Hinsicht  auf  diese 
Garantie  die  Schenkung  getätigt  haben,  die  er  sonst  viel- 
leicht ganz  unterlassen  oder  anders  eingerichtet  haben 
würde.  Wie  wäre  es  also  möglich,  ohne  Denaturierung 
seiner  Handlung,  und  also  ohne  eine  seinem  Willen  Ge- 


*)  Vgl.  z.  B.  über  die  Zulässigkeit  des  Zeugenbeweises  oben 
S.  248  fg. 

301 


vvalt  antuende  Rückwirkung  ihm  diese  kontraktlichen  Vor- 
behalte zu  rauben,  bloß  weil  ein  neues  Gesetz  sie  nicht 
mehr  als  schon  ohne  besondere  Verabredung  gültige,  selbst  - 
rcdende  Vorbehalte  anerkennt  ? 

Anders  wenn  das  Gesetz  zur  Zeit  der  Schenkung  die 
Widerrufsgründe  nicht  kannte  und  sie  ein  neues  Gesetz 
einführt.  H  i  e  r  ist  zu  unterscheiden,  ob  sich  der  Wider- 
ruf auf  nachgeborene  Kinder  oder  auf  Undankbarkeit 
gründet.  Im  ersteren  Falle  kann  das  neue  Gesetz  durch- 
aus nicht  einwirken.  Es  wurde  dem  Beschenkten  eine  un- 
widerrufliche Schenkung  gemacht,  und  er  hat  sie  als 
solche  akzeptiert.  Wäre  sie  widerruflich  gewesen, 
so  würde  er  sie  vielleicht  gar  nicht  angenommen  und  sich 
so  z.  B.  der  Chance  ausgesetzt  haben,  nach  Empfang  eines 
Vermögenszuwachses,  der  ihn  zu  einer  Änderung  seiner 
Lebensweise  oder  einem  Aufgeben  oder  Vertauschen  seines 
Geschäftsbetriebes  veranlassen  konnte,  dies  Vermögen  spä- 
ter eventuell  zurückgeben  zu  müssen  und  dann  hierdurch 
schlimmer  zu  stehen  als  vor  dem  Empfang  desselben.  Hier 
also  wendet  sich  der  Bruch  seines  Willens  und  die  Rück- 
wirkung gegen  den  Beschenkten. 

Aber  nicht  so  verhält  es  sich,  wenn  der  Widerruf  sich 
auf  Undankbarkeit  gründet  (natürlich  insofern  die  Hand- 
lungen der  Undankbarkeit  nicht  schon  dem  neuen  Gesetze 
vorausgegangene  sind).  Wenn  der  Beschenkte  die  Erzeu- 
gung von  Kindern  seitens  des  Schenkers  nicht  verhindern 
kann,  so  hängt  es  dagegen  nur  von  seinem  Willen  ab,  von 
jetzt  ab  keine  Handlungen  der  Undankbarkeit  zu  begehen. 
Begeht  er  sie  dennoch,  so  hat  er  sich  mit  freiem  Wil  - 
1  e  n  den  ihm  bekannten  Folgen  unterworfen,  die  das  jetzt 
geltende  Gesetz  daran  knüpft,  hat  selbst  auf  die  Unwider- 
ruflichkeit der  Schenkung  verzichtet.  Da  es  nur  bei 
ihm  stand,  dieselbe  aufrechtzuerhalten  --  wie  kann  er  sich 

302 


über  auf  seinen  Willen  ausgeübte  Gewalt  und  also  über 
Rückwirkung  beklagen  ?  Was  soll  ihm  das  neue  Gesetz 
entrissen  haben  ?  Die  Schenkung  noch  nicht  —  sondern 
nur  ein  Recht  auf  Undankbarkeit.  Ein  solches 
gibt  es  überhaupt  nicht,  und  am  allerwenigsten  ein  er- 
worbenes. Wenn  man  sehr  weit  gehen  will,  so  würde 
man  nur  sagen  können,  es  ist  ihm  eine  gesetzliche  Befugnis 
entrissen,  gewisse  Handlungen  zu  begehen.  Aber  solche 
abstrakte  gesetzliche  Befugnisse  sollen  ja  eben,  wie  allge- 
mein anerkannte  Lehre  und  auch  diejenige  Savignys  ist, 
durch  neue  Gesetze  sofort  geändert  werden. 

§7.  Absolute  Gesetze.  Begriffliche  Ein- 
wirkung auf  erworbene  Rechte.  Aufhebung 
ohne  und  mit  Entschädigung.  Auflösung  des 
Entschädigungsscheines.  Das  begriffliche 
Prinzip  des  Unterschiedes.  Beispiele.  Fran- 
zösischeundpreußische  Gesetze.  Die  Grün d- 
st  euerf  reiheit.  Die  beiden  Klassen  von  ab- 
soluten Gesetzen  und  ihr  begrifflicher 
Unterschied.  Wucher  gesetz;  lex  commissoria. 
Die  Pandektentheorie. 

Das  Individuum  kann  durch  seine  Handlungen,  durch 
einseitigen  oder  zweiseitigen  Vertrag,  sich  oder  anderen 
Personen  Rechte  nur  sichern,  wenn  und  insoweit 
die  bestehenden  Gesetze  dies  erlauben. 

Es  kann  selbst  wundernehmen,  in  einer  wissenschaft- 
lichen Behandlung  des  Rechts  einen  so  elementaren  und 
sich  von  selbst  verstehenden  Satz  erst  noch  ausdrücklich 
erwähnt  zu  sehen. 

Und  dennoch  ist  es  nur  die  Vernachlässigung  dieses 
einfachen  Elementarsatzes  und  seiner  in  ihm  enthaltenen 
Konsequenzen,  welche  die  Quelle  von  unzähligen  Schwie- 

303 


rigkeilen  gewesen  ist,  die  man  sich  selbst  bereitet  hat,  und 
von  ebenso  zahlreichen  und  großen  Irrtümern,  in  die  man 
bei  der  beabsichtigten  Lösung  jener  Schwierigkeiten 
verfiel. 

Denn  in  jenem  hervorgehobenen  Satze  ist  auch  schon 
von  selbst  der  Folgesatz  enthalten :  das  Individuum  kann 
sich  und  andern  nur  insoweit  und  auf  so  lange 
Rechte  sichern,  insoweit  und  so  lange  die 
jederzeit  bestehenden  Gesetze  diesen  Rechtsinhalt  als  einen 
erlaubten  ansehen. 

Mit  anderen  Worten :  wir  haben  hier  den  Gedanken- 
grund der  zerstörenden  und  dennoch  von  jeder  Rückwir- 
kung freien  Einwirkung  prohibitiver  oder  zwin- 
gender Gesetze1)  auf  frühere  Verträge  vor 
uns,  und  es  ist  gegenwärtig  unsere  Aufgabe,  die  Recht- 
mäßigkeit dieser  Einwirkung,  die  begrifflichen  Grenzen 
derselben  und  ihre  Übereinstimmung  mit  unserer  Theorie 
der  individuellen  Willensfreiheit  näher  zu  ent- 
wickeln. 

Diese   Rechtmäßigkeit  und   —  was  damit  zusammen- 
fällt ■ —  die  Nichtverletzung  des  Begriffes  der  rechtlichen 
Willensfreiheit  ist  aber  durch  den  einen  Satz  erwiesen,  dem 
seine  Begründung  sofort  auf  dem  Fuße  folgen  soll,  daß : 
jedem  Vertrage  von  Anfang  an  die  still- 
schweigende Klausel  hinzuzudenken  ist, 
es  solle  das  in  demselben  für  sich  oder  andere  sti- 
pulierte   Recht  nur  auf  so  lange   Zeit  Gel- 


*)  Savigny  hat  die  sehr  passende  Benennung:  absolute 
Gesetze,  für  sie  eingeführt,  unter  welchen  alle  solche  Gesetze 
verstanden  werden,  über  welche  der  Privatwille  nicht  paziszieren 
kann,  während  alle  Gesetze,  welche  ein  Abweichen  der  Privat- 
willkür  gestatten,  von  ihm  als  vermittelnde  bezeichnet 
werden. 

304 


tung  haben,  solange  die  Gesetzgebung  ein 
solches  Recht  überhaupt  als  zulässig  be- 
trachten wird. 
Und  diese  Klausel  ist  um  so  mehr  in  jeden  Vertrag  als 
die  eigene  Willenserklärung  der  Parteien  hineinzudenken, 
als  ein  entgegengesetzter  Wille  derselben  ein  von 
Haus  aus  unrechtlicher  und  ungültiger  wäre. 
Die  Begründung  ist  einfach.  Die  alleinige  Quelle  des 
Rechtes  ist  das  gemeinsame  Bewußtsein  des  ganzen  Vol- 
kes; der  allgemeine  Geist.  Seit  Hegel  ist  dieser  Satz 
theoretisch  so  festgestellt,  daß  er  keines  neuen  Beweises 
bedarf.  Seit  Savigny  x)  ist  er  den  positiven  Juristen  so  ein- 
geimpft, daß  auch  von  ihnen  kein  Widerspruch  mehr  zu 
befürchten  ist.  Savigny  unterließ  nur,  die  für  unser  Gebiet 
erforderliche  erschöpfende  Folgerung  daraus  zu  ziehen. 
Diese  streng  logisch-notwendige  Folgerung  ist  die :  daß 
es  für  das  Individuum  rechtlich  unmöglich  ist,  die 
Gemeinschaft  mit  dieser  alleinigen  Substanz  des 
Rechtes  aufzugeben,  seinen  Zusammenhang  mit  ihr  zu  zer- 
reißen und  sich  gegen  ihren  Wandel  festhalten  zu  wollen. 
Eine  solche  Absicht  des  Individuums  würde,  statt  recht- 
lich in  Betracht  zu  kommen,  vielmehr  (ähnlich  wie  wir 
dies  von  der  Rückwirkung  in  §  1  gesehen  haben)  das  ab- 
solute Unrecht  bilden,  den  Rechtsbegriff  selbst 
aufzuheben.  Denn  dieser  besteht  eben  nur  in  dieser 
Gemeinschaft,  besteht  nur  darin,  daß  das,  was 
jederzeit  den  absoluten  Inhalt  des  allgemeinen  Bewußt- 
seins bildet,  auch  für  alle  einzelnen  da  und  vor- 
handen sei. 


*)  Und  gerade  auch  wieder  bei  unserer  Materie  erinnert  er 
ausdrücklich  an  denselben  (VIII.  533:  ,,Das  Recht  hat  seine 
Wurzel  in  dem  gemeinsamen  Bewußtsein  des  Volkes."  und 
S.  536),  ohne  ihn  aber  zu  seinen  Konsequenzen  zu  entwickeln. 

20  La^alle.  Ge>    Schriften.  Band  TX.  305 


Die  Absicht,  durch  das  Erwerben  eines  Rechtes 
dasselbe  gegen  eine  spätere  dieses  Recht  aus- 
schließende Gestalt  des  öffentlichen  Rechtsbewußt - 
seins  zu  befestigen  und  sich  also  gegen  den  Zusammenhang 
mit  diesem  und  seine  Fortwandlung  in  isolierter  Selbst- 
herrlichkeit festhalten  zu  wollen,  würde  somit  den  sich  so- 
fort logisch  selbstzerstörenden  Widerspruch  in  sich 
einschließen,  in  demselben  Akt  die  Gemeinschaft  mit 
dem  allgemeinen  Rechtsbewußtsein  und  die  Trennung 
von  demselben  zu  gleicher  Zeit  zu  setzen.  Denn  das  ein- 
zelne Recht,  das  eben  erworben  werden  soll,  hat  zum 
letzten  und  wahren  Titel  seiner  Gültigkeit  wiederum  nicht 
das  bestimmte  es  gestattende  Gesetz,  welches  selbst  nur 
ein  einzelner  Ausfluß  des  Rechtsbewußtseins  ist,  sondern 
es  hat  zu  seinem  wirklichen  Träger  vielmehr  nur  den 
Quell  dieses  Ausflusses,  jenes  allgemeine  Rechtsbewußt- 
sein des  Volkes  selbst.  Auch  während  seines  Beste- 
hens und  Geltens  besteht  und  gilt  dies  Recht  als  ein 
Recht  nur  auf  Grund  seiner  konformen  Gemeinschaft 
mit  diesem  Wesen  alles  Rechtes.  Ein  Recht  erwerben 
und  es  auch  für  d  i  e  Zeit  festhalten  wollen,  wo  das  all- 
gemeine Bewußtsein  dies  Recht  nicht  mehr  als  zulässig 
und  erlaubt  anschauen  wird,  heißt  also  in  einem  Atem  den 
Rechtstitel,  auf  Grund  dessen  man  erwirbt,  die  Über- 
einstimmung mit  dem  allgemeinen  Bewußtsein,  setzen 
und  aufheben,  anrufen  und  ausschließen  zu 
gleicher  Zeit ! 

Durch  Erwerbung  eines  Rechtes  kann  sich  daher 
das  Individuum  niemals  der  Einwirkung  des  allgemeinen 
Rechtsbewußtseins  entziehen  wollen.  Sondern  gerade  eher 
nur  durch  Nichterwerbung  wäre  dies  insoweit  min- 
destens ohne  logischen  Widerspruch  möglich,  und  nur  ein 
solches   Individuum  würde  diese   Einwirkung  wirklich 

306 


von  sich  abhalten  können,  welches,  wenn  dies  denkbar  wäre, 
nun  und  niemals  ein  Recht  weder  erwerben 
noch  ausüben  und  haben  wollte.  Denn  Er- 
werben heißt  seitens  des  Individuums  selbst  das  öffent- 
liche Bewußtsein  als  ein  für  den  Handelnden  gültiges 
und  verbindliches  bestellen,  und  die  nicht 
erworbenen  Rechte  sind,  wie  wir  früher  gesehen  haben, 
überhaupt  nur  vom  Gesetz  verliehene  und  mit  jedem,  sogar 
nicht  prohibitiven  Ruck  desselben  wandelnde  Fähig- 
keiten ! 

Das  Individuum  kann  sich  also  von  vornherein 
ein  Recht  in  gültiger  Weise  nur  auf  so  lange  stipulieren. 
so  lange  die  Gesetze  dies  Recht  für  ein  erlaubtes  be- 
trachten werden. 

Das  Gesagte  ändert  sich  auch  durchaus  nicht,  wenn  ein 
Gesetz  in  aeternum  und  ausdrücklich  gegen  jeden  künftigen 
prohibitiven  Gesetzgebungswandel  ein  bestimmtes  Recht 
sich  zu  sichern  den  Individuen  erlauben  sollte.  Ein  solches 
Gesetz  würde  natürlich  gar  keine  längere  Zeitdauer 
beanspruchen  können  als  jedes  andere  Gesetz,  d.  h. 
keine  längere  Dauer  als  eben  d  i  e  seines  gesetzlichen 
Bestehens.  Ein  solches  Gesetz,  welches  nur  aus  einer 
irrigen  Auffassung  der  inneren  und  ewigen  Natur  alles 
Rechtes  hervorgegangen  wäre,  würde  natürlich  mit  der 
besseren  Erkenntnis  des  Rechtes  als  der  stetigen  Verwirk- 
lichung des  jederzeitigen  allgemeinen  Vernunftgehaltes  so- 
fort von  selbst  verschwinden  und  wirkungslos  werden  müs- 
sen. Auch  würde  diesem  Gesetze  ebensowenig  durch 
eine  es  ergreifende  Handlung  des  Individuums  (§  3)  zu 
einer  längeren  Dauer  verholfen  werden  können  als  einem 
anderen  Gesetze,  d.  h.  zu  längerer  Dauer  als  bis  eben 
zu  dem  Moment,  wo  seine  Geltung  durch  eine  die  Natur 

2o*  307 


des  Rechtes  besser  erkennende  Gesetzgebung  prohibiert 
und  ausgeschlossen  ist. 

Es  läßt  sich  also  vom  Individuum  kein  Pflock  in  den 
Rechtsboden  schlagen  und  sich  mittels  desselben  für 
selbstherrlich  für  alle  Zeiten  und  gegen  alle  künf- 
tigen zwingenden  oder  prohibitiven  Gesetze1)  erklären. 
Denn  nichts  anderes  als  diese  verlangte  Selbst- 
souveränität des  Individuums  liegt  in  der  For- 
derung, daß  ein  erworbenes  Recht  auch  für  solche  Zeiten 
fortdauern  soll,  wo  prohibitive  Gesetze  seine  Zulässigkeit 
ausschließen. 

Ein  zeitweilig  bestehendes  Gesetz  stellt  einen  Rechts- 
inhalt als  einen  erlaubten  hin.  Das  Individuum  kann  den- 
selben erwerben,  d.  1.  zu  dem  seinigen  machen  und  for- 
dern, daß  dieser  Rechtsinhalt  für  es  bestehe,  solange 
irgend  die  Gesetzgebung  denselben  als  einen  erlaubten 
und  zu  erwerbenden  zuläßt.  Aber  was  dem  einzelnen 
nicht  zustehen  kann,  ist  dies,  das  zeitweilig  bestehende 
Gesetz  zu  dem  für  ewige  Zeiten,  trotz  aller  spä- 
teren ausschließenden  Gesetze,  für  ihn  bestehen- 
den und  ihn  regierenden  Gesetz  zu  proklamieren.  Es  heißt 
dies  durch  die  Kraft  der  Logik  gar  nichts  anderes,  als  : 
sich  selbst  zu  seinem  eigenen  Gesetzgeber  erklären, 
indem  man  durch  eigene  Machtvollkommenheit  ein  Gesetz 
über  die  Zeit  seiner  Dauer  hinaus  und  in  die  Zeit  der 
diesen  Rechtsinhalt  ausschließenden,  prohibitiven  Gesetze 
hinein  als  noch  maßgebend  und  verbindlich  kontinuieren 
will.  Es  braucht  aber  dieser  Anspruch  nur  auf  diese  seine 
logische  Natur  zurückgeführt  zu  werden,  um  seine  ganze 
Nichtigkeit,  sein  totales  Verstoßen  gegen  den  Rechts - 

*)  Wir  bemerkten  bereits  (S.  304,  Anm.  1),  daß  wir  hier- 
unter mit  Savigny  alle  solche  verstehen,  welche  kein  Abweichen 
der   Privatwillkür   gestatten   (vgl.    oben   S.  74  fg.). 

308 


begriff  selbst,  und  sein  ebenso  rechtswidriges  als 
unsittliches  Zerreißen  des  Zusammenhanges  mit  der  allei- 
nigen Substanz  alles  Rechtes,  dem  allgemeinen  Bewußt- 
sein,  bloßzulegen. 

Es  läßt  sich  also,  sagen  wir,  ebensowenig  ein  solcher 
Pflock  in  den  Rechtsboden  treiben,  als  sich  ein  Pflock  in 
das  Erdreich  schlagen  und  verlangen  läßt,  daß  dieser 
selbst  dann  noch  an  seiner  Stelle  bleibe,  wenn  sich  das 
ganze  Erdreich,  in  dem  er  haftet,  in  Bewegung  setzt. 

Dies  ist  der  wahre  Sinn  des  oft  gehörten  Anspruches : 
es  gibt  kein  Recht  gegen  das  Recht.  Es  heißt  dies  nichts 
anderes,  als  daß  jedes  einzelne  Recht  der  Umwandlung 
der  Rechtssubstanz  selbst  folgt,  aus  der  es  hervorgegangen 
und  in  der  es  haftet. 

So  einfach  und  leicht  zu  lösen  sind  die  über  das  Ein- 
greifen späterer  Prohibitivgesetze  der  verschiedensten 
Art1)  so  unaufhörlich  erhobenen  Schwierigkeiten,  und  so 
sehr  diese  Entwicklung  nur  auf  den  innersten  Konse- 
quenzen des  von  unserer  gesamten  modernen  Philosophie 
aufgestellten  Rechtsbegriffes  beruht2),  ebensosehr  ist  sie 
vermöge  ihrer  logischen  Natur,  wie  wir  später  sehen  wer- 
den,   in   den    Entscheidungen    der   alten    römischen 


x)  Wir  heben  aber  einstweilen  hervor,  daß,  wie  schon  in 
unserer  Ausdrucksweise  deutlich  genug  liegt,  wir  hier  immer 
nur  von  materiellen  Prohibitivgesetzen  reden,  nicht  also  von 
solchen,  die  sich  nur  gegen  die  Form  von  Handlungen  richten. 
Siehe  im  Verlauf  dieses  Paragraphen  über  die  beiden  Klas- 
sen von   Prohibitivgesetzen. 

2)  Siehe  z.B.  Fichte,  „Gesamte  Werke",  VII,  560:  „Nun 
kann  aber  der  Mensch  nichts  versprechen,  er  kann  sich  in  nichts 
binden,  was  gegen  seine  Bestimmung  ist.  —  Gründlich :  es 
gibt  nach  mir  gar  keine  geltenden  Verträge,  als  die 
durch  das   Recht  geforderten." 

309 


Juristen  stets  tätig  gewesen  und  zur  Anerkennung  ge- 
kommen. 

Von  dem  Gesagten  aus  ergibt  sich  nun  bereits  zu- 
nächst mit  einem  Blicke  die  ganze  Hohlheit  und  tiefe 
Rechtswidrigkeit  des  sinnverwirrenden  interessierten  Ge- 
schreies, welches  die  Berechtigten  jederzeit  anheben,  wenn 
der  öffentliche  Geist  in  seiner  Fortentwickelung  dazu  ge- 
langt ist,  den  Fortbestand  eines  früheren  Rechtes,  z.  B. 
Leibeigenschaft,  Hörigkeit,  Roboten,  Bann-  und  Zwang- 
gerechtigkeiten, Dienste  und  Abgaben  bestimmter  Natur, 
Jagdrecht,  Grundsteuerfreiheit,  fideikommissarische  Erb- 
folge  usw.    von   jetzt  ab   auszuschließen. 

Von  einer  Rückwirkung,  von  irgendwelcher  Krän- 
kung erworbener  Rechte,  kann,  wie  wir  gesehen 
haben,  in  allen  diesen  Fällen  gar  nicht  die  Rede  sein. 

Machen  wir  hier  einen  kurzen  vorläufigen  Ruhepunkt 
und  überblicken  wir  schon  hier  das  Verhältnis  unserer 
Theorie,  wie  sie  sich  bisher  in  konsequentester  Folge  vom 
strengsten  Begriff  der  individuellen  Willensfreiheit  aus- 
gehend entwickelt  hat,  zu  der  von  dem  philosophischen 
Verklärer  einer  untergehenden  Welt,  Herrn  Stahl,  auf- 
gestellten Lehre,  obgleich  die  letzte  Begründung  des  im 
Anfang  des  gegenwärtigen  Paragraphen  Gesagten  und  seine 
innerste  Einheit  mit  dem  in  §  1  aufgestellten  Begriffe, 
aus  welchem  wir  alles  weitere  abgeleitet  haben,  in  noch 
tieferer  Weise  und  noch  strengerer  Systematik  sich 
erst  im  weiteren  Verlauf  dieses  Paragraphen  sowie  des 
§  10   (vgl.  auch  §  13)  ergeben  wird. 

Der  moderne  Neuplatoniker,  Herr  Stahl,  beginnt  seine 
Lehre  über  die  erworbenen  Rechte  (Philosophie 
des  Rechts,  dritte  Auflage,  Bd.  2,  §§15—18,  S.  336 
bis  343)  damit,  daß  er  dieselben  definiert  als  solche,  die 
„bestimmte    Handlungen    oder    bestimmte   Vor- 

310 


gänge  und  Lagen  voraussetzen"  (S.  336).  Der 
Schutz  der  erworbenen  Rechte  wird  dann  darauf  ba- 
siert, daß  die  Person  „handelndes  Subjekt"  ist, 
und  es  „zum  Wesen  der  Person  gehört,  für  ihren  Zu- 
stand wirksam  und  ihres  Zustandes  sicher  zu 
sein",  daß  also  „der  Rechtszustand  eines  Menschen  nicht 
bloß  Resultat  seines  Begriffes  als  Persönlic  h  - 
k e i t ,  sondern  zum  Teil  auch  sein  eigenes  Werk, 
Resultat  seines  Handelns  und  beziehentlich  des 
Handelns  der  anderen  Personen  sein  müsse  ' , 
da,  wenn  dieser  von  der  Person  siqh  selbst  konstituierte 
Zustand  nicht  anerkannt  würde,  dem  Menschen  die  „Selbst- 
ursächlichkeit"  entzogen  wäre ;  weshalb  der  Zustand,  wie 
ihn  der  Mensch  „der  bestehenden  Ordnung  gemäß  (legal) 
begründet  oder  durch  Ereignisse  gewonnen  hat", 
ihm  „unentziehbar  als  Erweiterung  seiner  selbst" 
bleiben  müsse.  Er  würde  sonst  „nicht  wahrhaft  als  Per- 
son behandelt  werden,  sondern  lediglich  als  Begriff 
oder  Objekt,  welchem  gewisse  Wirkungen  not- 
wendig zukommen".  Insoweit  hier  in  dieser  Be- 
tonung, daß  die  Person  handelndes  Subjekt  und  darum 
Selbstursächlichkeit  ihres  Zustandes  sein  müsse,  der  Be- 
griff der  individuellen  Willensfreiheit  tätig 
ist,  so  ist  derselbe  gerade  erst  bei  uns  (§1)  zu  seiner 
wahrhaften  Anerkennung  und  begrifflichen  Entwickelung 
gelangt,  indem  gezeigt  wurde,  daß  jede  Vernichtung  oder 
Verletzung  einer  individuellen  Willensaktion  als  Denatu- 
rierung des  Wissens  und  Wollens  des  Subjektes  den 
Begriff  des  subjektiven  Geistes,  seine  Frei- 
heit und  Zurechnungsfähigkeit  aufheben,  den 
Geist  zur  Sache  machen  würde ;  daß  also  auch  die 
Idee  der  erworbenen  Rechte  nur  im  Begriff  des  Men- 
schen beruht  und  letzterer  daher,  wenn  er  in  erworbenen 

311 


Rechten  geschützt  wird,  gleichfalls  nur  „lediglich  als 
—  ein  bestimmter  Begriff,  welchem  gewisse  Wir- 
kungen notwendig  zukommen",  behandelt  wird. 
Herr  Stahl  bemüht  sich  also  ebenso  vergeblich  wie  grund- 
los, gegen  die  Behandlung  des  Menschen  nach  seinem 
Begriffe  zu  polemisieren  und  irgend  anderswo  in  der 
Luft  ein  Prinzip  zu  finden,  auf  welches  der  „Schutz' 
der  erworbenen  Rechte  zu  gründen  sei1). 

Nur  insofern  ist  diese  Polemik  gegen  den  Begriff  sub- 
jektiv allerdings  berechtigt,  als  bei  Herrn  Stahl  von 
Anfang  an  in  greulichster  Begriffsverwir- 
rung die  entschiedensten  Gegensätze  fried- 
lich   beieinander   schlummern!    Wenn   nämlich 


1)  Herr  Stahl  urgiert  dies  nochmals  in  der  Anmerkung, 
wo  er  sagt:  „Dieser  Irrtum  —  der  Nichtanerkennung  erwor- 
bener Rechte  —  hängt  auf  das  engste  mit  dem  rationalistischen 
Prinzip  zusammen:  Anerkennung  nur  dessen,  was  logisch 
folgt,  Ausschließung  alles  dessen,  was  Persönlich- 
keit, Freiheit,  Tat  zur  Ursache  hat,"  weshalb  denn  auch 
Hegel,  wie  seine  Abhandlung  über  die  württembergischen  Land- 
stände, die  englische  Reformbill  usw.  zeige,  keinen  Sinn  für 
erworbene  Rechte  gehabt  habe.  Aber  dieser  Gegensatz,  wie 
er  hier  aufgestellt  wird,  ist  überhaupt  gar  kein  Gegensatz! 
Was  wahrhaft  durch  „Persönlichkeit,  Freiheit,  Tat" 
begründet  wird,  ist  zugleich  das,  was  logisch  folgt,  aus 
dem  logischen  Begriff  des  subjektiven  Geistes  folgt, 
wie  wir  dies  gerade  durch  unsere  gesamten,  von  dem  Begriff  der 
subjektiven  Freiheit  ausgehenden  Ausführungen  bereits  bisher 
zur  klarsten  Evidenz  gebracht  haben  und  weiter  bringen  werden. 
Freilich  hat  bei  Herrn  Stahl  dieses  Ankämpfen  gegen  den 
Begriff  seinen  tieferen  Grund ;  denn  wo  von  dem  Begriff  und 
der  begrifflichen  Freiheit  des  Subjektes  ausgegangen  wird, 
da  ist  dann  freilich  der  Sprung  in  die  individuelle  Willkür 
der  germanischen  Feudalwelt  und  das  Festhalten  ihrer  ver- 
steinten Ordnung  gegen  den  Fluß  des  historischen  Begriffes 
nicht  mehr  möglich. 

312 


Herr  Stahl  schon  in  der  zuerst  angeführten  Definition  der 
erworbenen  Rechte  sie  als  solche  bezeichnet,  welche  „be- 
stimmte Handlungen  oder  bestimmte  Vorgänge  und 
Lagen  voraussetzen",  so  wird  von  ihm  gänzlich  außer 
acht  gelassen,  daß  diese  beiden  Faktoren,  Handlungen 
einerseits  und  Vorgänge  und  Lagen  andererseits,  ja 
gerade  in  bezug  auf  den  Punkt,  aus  welchem  der 
Schutz  der  erworbenen  Rechte  fließen  soll,  die  strik- 
testen Gegenteile  sind.  Denn  wenn  derselbe  darauf 
basiert  werden  soll,  daß  die  Person  „Selbstursächlich- 
keit"  ihres  Zustandes,  „handelndes  Subjekt"  sei,  ihr  Zu- 
stand „ihr  Werk  sein  müsse",  so  kann  dieses  Moment 
ja  schlechterdings  nur  für  die  eigenen  individuellen 
Handlungen  des  Individuums  angerufen  werden, 
aber  nicht  für  das,  was  ihm  durch  objektive  Vorgänge 
und  Lagen  entstanden  ist,  weil  solche  ja  eben  nicht 
in  der  Selbstursächlichkeit  des  handelnden 
Subjektes  ihren  Grund  haben  und  diese  daher  auch 
nicht  durch  die  Entziehung  eines  durch  sie  nicht  Ent- 
standenen  beeinträchtigt  werden  würde. 

Wenn  durch  einen  bloßen  Vorgang  oder  eine  Lage 
ein  erworbenes  Recht  entstehen  könnte,  so  müßten 
dann  sogar  auch  lediglich  durch  die  Handlungen 
dritter  Personen,  z.B.  durch  Schenkung  vor  der 
Akzeptation  oder  durch  erlittene  Beschädigung  —  die  ein 
bloßes  willenloses  Leiden  darstellt  —  erworbene 
Rechte  entstehen  können,  wie  Herr  Stahl  auch  ausdrück- 
lich betont,  es  müsse  der  Rechtszustand  des  Menschen 
zum  Teil  auch  sein  „eigenes  Werk,  Resultat  seines  Han- 
delns und  beziehentlich  des  Handelns  der  anderen 
Personen  sein".  Ja,  es  müßten  dann  ganz  ebensogut 
auch  die  bloß  durch  das  Gesetz  verliehenen  Rechte  er- 
worben  sein.     Denn   auch    unter   einem   bestimmten    Ge- 

313 


setze  geboren  sein,  ist  eine  Lage,  oder  wenn  ein  Ge- 
setz während  meines  Lebens  erlassen  wird,  so  ist  dies 
ein  Vorgang,  durch  den  mir  Rechte  entstehen.  Auch 
ist  zwischen  den  Handlungen  dritter  Personen  und 
denen  des  ganzen  Volkes  —  dem  Erlaß  von  Ge- 
setzen —  überhaupt  dem  Begriff  nach  für  den  hier  in 
Rede  stehenden  Punkt  gar  kein  Unterschied.  Denn  alle 
Individuen  in  ihrer  Gesamtheit  —  das  ganze  Volk  —  sind 
für  das  einzelne  Individuum  gewiß  um  nichts  mehr 
(sondern  wegen  der  geistigen  Gemeinsamkeit  nur  eher 
weniger)  andere  gegen  es,  als  die  besondere  andere 
Person. 

Wenn  daher  eine  Theorie  wahrhaft,  wie  die  gegen- 
wärtige, von  dem  Begriff  der  individuellen  Wil- 
lensfreiheit ausgehen  will,  so  muß  sie  vor  allem  die 
Handlungen  dritter  Personen  und  die  Aktion  der  Ge- 
setze, als  gleich  wenig  der  eigenen  Willensaktion 
des  Individuums  entflossen,  dieser  gegenüberstellen 
und  als  erworbenes  Recht  nur  das  bestimmen,  was  durch 
die  eigene  individuelle  Willensaktion  erzeugt  worden  ist. 
Eine  solche  Theorie  muß  dann  zeigen,  wie  wir  dies  in 
§  2  A — E  getan  haben,  wie  die  aus  dem  Erbrecht,  Quasi- 
kontrakt, negotiorum  gestio,  Klag  Verjährung  und  Usu- 
kapion entspringenden  Rechte  (vgl.  §  9  über  den  Besitz) 
nur  scheinbar  aus  Handlungen  dritter  Personen  oder 
Vorgängen  und  Ereignissen  entstehen,  nach  ihrer  begriff- 
lichen Natur  sich  aber  in  Wahrheit  als  durch  die  ei- 
gene Willensaktion  des  berechtigten  Individuums  er- 
zeugt darstellen.  Nicht  einmal  das  Erbrecht  würde  uns 
haben  als  ein  erworbenes  Recht  gelten  können  —  was  frei- 
lich dann  mit  gutem  Grunde  dem  gesunden  Rechtsgefühl 
als  bester  Beweis  für  die  Unwahrheit  der  Theorie  ge- 
golten haben   würde   — ,   wenn  es  nicht  bei   der  tieferen 

314 


begrifflichen  Betrachtung  seinen  sinnlichen  Schein  abge- 
streift und  sich  als  die  eigene  Willensaktion  des  Indivi- 
duums ergeben  hätte  (s.  §  2,  A  und  Bd.  2).  Selbst  die 
durch  dolus,  Irrtum  und  Zwang  dem  Individuum  entstehen- 
den Rechte  mußten  sich  erst  in  solche,  die  durch  die 
eigene  innere  Willensaktion  hervorgebracht  sind,  auf- 
lösen, damit  es  nicht  scheinen  könne,  daß  erworbene 
Rechte  dem  Individuum  durch  Handlungen  dritter  Per- 
sonen oder  selbst  durch  eigene  Handlungen,  die  aber 
dennoch  nicht  Produkt  seiner  Willensfreiheit  sind 
(ungewollte  Handlungen),  entstehen  können  (§  2,  B). 

Wenn  die  Auflösung  dieser  Institute  eine  theore- 
tische Notwendigkeit  war,  um  überhaupt  von  dem  Be- 
griff der  individuellen  Willensfreiheit  als  dem  Gesetz  der 
Materie  sprechen  zu  können,  so  zeigt  sich  dann  die  prak- 
tische Wichtigkeit  dieses  Gegensatzes  darin,  daß  nur 
durch  seine  schärfste  Festhaltung  die  Verwirrung  ver- 
mieden wird,  die  realiter  bloß  durch  Ereignisse  oder 
Handlungen  dritter  Personen  entstandenen  Rechte  (s. 
z.  B.  §  5  das  Einspruchsrecht ;  die  Unterschiede  beim 
Widerruf  von  Schenkungsakten  in  §  6  ;  die  Obligationen 
aus  den  Delikten,  s.  sub  III  Anwendungen  Nr.  III ;  die 
Unterschiede  im  Erbrecht)  für  erworbene  zu  nehmen. 
Ja,  wie  erst  durch  diesen  Gegensatz  klar  wird,  warum 
Ereignisse,  Handlungen  dritter  Personen  und  Gesetz 
sämtlich  auf  derselben  Linie  und  der  individuellen 
Willensaktion  gegenüberstehen,  so  wird  auch  hier  erst 
klar,  warum  die  nur  durch  das  Gesetz  verliehenen 
Rechte  schlechterdings  niemals  erworbene  sein  können. 

Indem  Herr  Stahl  aber  von  Anfang  an  die  Begründung 
von  Rechten  durch  individuelle  Handlungen  und  durch 
Vorgänge,  Lagen,  Ereignisse  und  das  Handeln  anderer 
Personen  ganz  unbefangen  als  identische  statt  als  ent- 

315 


gegengesetzte  nimmt  und  gleichmäßig  als  erworbene 
behandelt,  so  entsteht  zunächst  als  natürliche  Folge,  daß, 
was  zuerst  von  ihm  als  Grund  für  den  Schutz  der  er- 
worbenen Rechte  ausgegeben  wird  —  die  Anerkennung 
der  Person  als  handelndes  Subjekt  —  auf  das,  was 
er  sagt  und  behauptet,  in  keiner  Weise  paßt  und  nur 
die  Rolle  einer  falschen  Phrasenverbrämung 
spielt.  Es  liegt  in  dieser  unbefangenen  Behandlung  strik- 
ter Gegensätze  als  identischer  Begriffe,  wenn  sie  un- 
bewußt geschieht,  ein  für  ein  philosophisches  Werk  un- 
erträglicher Mangel  des  einfachsten  theoretischen  Denkens, 
oder,  wenn  sie  bewußt  geschieht,  eine  widerwärtige  So- 
phistik. 

Aber  wir  zeigten  bereits,  daß  die  notwendige  Gedanken- 
folge dieser  Gleichstellung  von  individuellen  Handlungen 
und  Vorgängen,  Lagen  und  Handlungen  Dritter  diejenige 
sein  müsse,  auch  die  durch  das  Gesetz  entstandenen 
Rechte  —  weil  sie  dem  Individuum  gegenüber  mit  jenen 
nur  auf  gleicher  Linie  stehen  —  zu  erworbenen 
Rechten  zu  machen.  Und  in  der  Tat  macht  sich  diese 
Konsequenz  sofort  bei  Herrn  Stahl  geltend,  und  das  bei 
ihm  Folgende  läßt  keinen  Zweifel  darüber,  daß  dies  sein 
wahrer  Sinn  sei.  So  sagt  er  bereits  auf  der  folgenden 
Seite,  wie  der  Mensch  „seinen  Rechtszustand  der  be- 
stehenden Ordnung  gemäß  begründet  oder  durch  Ereig- 
nisse gewonnen  hat,  so  muß  er  ihm  unentziehbar  blei- 
ben als  Erweiterung  seiner  selbst".  Zu  den  „Ereig- 
nissen", durch  welche  ein  Rechtszustand  „gewonnen' 
wird,  gehört  doch  aber  auch  unbedingt  der  Erlaß  eines 
Gesetzes,  das  mich  durch  seine  bloße  Aktion  mit  einem 
bestimmten  Rechtszustande  befaßt,  und  so  rückt  die  Kon- 
sequenz näher  und  näher,  daß  auch  die  nur  durch  das 
Gesetz  selbst  übertragenen  Rechte  feste,  keinem  Ge- 

316 


setzwechsel  mehr  zugängige  Versteinerungen  sein  sollen. 
Und  in  der  Tat  heißt  es  noch  auf  derselben  Seite :  die 
Nichtanerkennung  erworbener  Rechte  entziehe  dem  Men- 
schen die  Selbstursächlichkeit  und  Sicherheit  für  seine 
Rechtssphäre  ,, —  sie  gewährt  ihm  nur,  was  in  jedem 
Augenblick  die  übrigen  für  sein  Recht  ansehen,  nicht 
was  nach  einer  unzweideutigen  gegenständlichen 
Ordnung  sein  Recht  ist".  Während  also  oben  der 
phraseologische  Anschein  genommen  wurde,  vom  „han- 
delnden Subjekt"  auszugehen,  sind  wir  hier  bereits  bei  der 
Heiligsprechung  der  bestehenden  „gegenständlichen 
Ordnung"  angelangt,  die  nun  mit  allen  aus  ihr  fließenden 
Rechten  das  erworbene  Recht  der  Person  bilden 
soll ! ! 

Und  nun  freilich  kann  es  nicht  mehr  wundernehmen, 
wenn  wir  sofort  auf  der  nächsten  Seite  hören  (S.  338)  : 
„Auch  politische  Stellungen  werden  auf  diesem 
Wege  als  Rechte  erworben",  wobei  an  die  englische 
Pairie  erinnert  wird. 

Da  „politische  Stellungen"  immer  nur  allgemeine  von 
dem  Gesetz  selbst  übertragene  Qualitäten  sind  —  Stahl 
selbst  bezeichnet  hierbei  die  Pairie  als  die  individuelle 
geschichtliche  Gestaltung  einer  im  Wesen  des 
Staates  begründeten  organischen  Stellung  — ,  so 
tritt  also  hier  auf  das  stärkste  heraus,  daß  selbst  die  bloß 
durch  das  Gesetz  verliehenen  Rechte,  mit  denen  das 
Individuum  nur  von  der  Gesellschaft  befaßt  wird 
(s.  §  1),  nach  Herrn  Stahl  erworbene  Rechte  bilden, 
wobei  sich  nun  freilich  die  Phrasen  vom  „handelnden 
Subjekt"  in  ihr  striktes  Gegenteil  getrieben  haben. 

Da  Herr  Stahl  nicht  von  dem  wahrhaften  Begriffe  des 
subjektiven  Geistes  ausgeht,  so  kann  er  natürlich  noch 
viel   weniger  zu   der  in   dem  gegenwärtigen   Paragraphen 

317 


entwickelten  Folgerung  von  dem  rechtmäßigen  Einwirken 
prohibitiver  Gesetze  auf  Rechte,  die  wirklich  durch  in- 
dividuelle Willensaktion  erworben  worden  sind,  gelangen, 
eine  Folgerung,  die  sich,  wie  bereits  im  Eingange  dieses 
Paragraphen  gezeigt  worden  ist  und  im  Verlauf  des- 
selben, sowie  in  den  §§10  und  13  noch  näher  zum  Vor- 
schein kommen  wird,  schlechterdings  nur  aus  dem  philo- 
sophischen Begriffe  des  subjektiven  Geistes  und  dem 
daraus  herfließenden  Verhältnis  des  freien  individuellen 
Willens  zu  seiner  eigenen  Substanz,  dem  allgemeinen 
Geiste,  ergibt. 

Für  Herrn  Stahl  ist  also  die  berühmte  Nacht  vom 
4.  August  1789,  auf  welche  wir  bald  näher  zu  sprechen 
kommen  werden,  der  „Zugführer"  des  europäischen  Un- 
rechtes, die  „Bartholomäusnacht  des  Eigentums"  (S.341). 
Nach  ihm  müssen  (S.  338),  „auch  wenn  der  Rechts- 
zustand nicht  vollkommen,  ja  nicht  angemessen  war,  nach 
welchem  diese  zufälligen  politischen  Berechtigungen  und 
Ungleichheiten  entstehen  konnten",  die  Berechtigungen,  die 
„einmal  rechtmäßig  entstanden  sind1)",  kraft  des 
Rechtes  der  Person  (!!)  geachtet  und  geschützt 
werden. 

„Dies  gilt"  —  fährt  Herr  Stahl  fort  —  „namentlich 
auch  von  den  sogenannten  feudalen  Rechten.  Auf  ihre 
Angemessenheit  für  die  damalige  oder  die  jetzige  Zeit 
kommt  nichts  an.  Darüber  mag  man  streiten  und  dürfte 
das  Urteil  wohl  ja  für  die  verschiedenen  Rechte  ver- 
schieden ausfallen.  Ihre  Rechtmäßigkeit  für  damals 
unterliegt   keinem   Zweifel    und   danach   stehen   sie   allen 


l)  Was  wiederum  sehr  genau  auf  alle  bloß  legalen  Berech- 
tigungen paßt.  Denn  die  „rechtmäßige  Entstehung"  derselben 
für  den  einzelnen,  dem  sie  durch  das  Gesetz  attribuiert  werden, 
läßt  sich  doch  gewiß  nicht  in  Abrede  stellen. 

318 


anderen  erworbenen  Rechten  gleich.  Keine  Zeit  ist  be- 
rufen, Gericht  zu  halten  über  die  Vergangenheit  und  die 
aus  derselben  stammenden  Rechte  je  nach  ihrem  Urteil 
über  die  Angemessenheit  anzuerkennen  oder  zu  vernich- 
ten." Daß  keine  Zeit  berufen  ist,  Gericht  zu  halten 
über  die  Vergangenheit,  ist  sehr  richtig,  und  sowohl  im 
Verlaufe  dieses  Paragraphen  wie  des  §  10  wird  hier- 
mit Ernst  gemacht  und  nachgewiesen  werden,  welche 
begrifflichen  und  juristischen  Unterschiede  hieraus  ent- 
springen und  wie  die  Vergangenheit  immer  von  ihrem 
Rechte  beherrscht  bleiben  muß.  Aber  die  Folgerung,  die 
Herr  Stahl  daraus  ziehen  will,  folgt  sicher  nicht  daraus. 
Denn  gerade  die  Autonomie,  die  Herr  Stahl  hier 
jeder  Zeit  zuspricht,  bringt  notwendig  hervor,  daß 
keine  Zeit  unter  der  Herrschaft  der  anderen  stehen 
und  also  auch  nicht  rechtlich  verpflichtet  sein  kann,  in 
ihr  selbst  noch  fortwirken  zu  lassen,  was  ihrem 
Rechtsbewußtsein  widerspricht,  und  von  ihr  also  von 
jetzt  ab  als  ein  Dasein  des  Unrechtes,  statt  des 
Rechtes,  angeschaut  würde.  Stände  eine  Gegenwart 
unter  einem  solchen  Herrschaftsrecht  der  Vergangen- 
heit, so  wäre  es  ja  eben  nicht  wahr,  daß  jede  Zeit 
autonom  sei,  und  könnte  erst  im  Prinzip  zugegeben 
werden,  daß  eine  Zeit  unter  der  rechtlichen  Herr- 
schaft einer  anderen  stehen  kann,  so  würde  der  Ge- 
danke, das  Verhältnis  umzukehren  und  lieber  die  Ver- 
gangenheit unter  die  rechtliche  Herrschaft  der  stärkeren 
und  entwickelteren  Gegenwart  zu  setzen  und  rück- 
wirkend widerrechtlich  zu  durchwühlen,  also  die  nach  dem 
heutigen  Rechtsbewußtsein  unzulässigen  und  widerrecht- 
lichen Handlungen  als  auch  schon  für  die  Vergangen- 
heit unzulässige  und  wirkungslose,  als  von  Haus 
aus   widerrechtliche,   zu   bestimmen,   damit   nur  auf 

319 


derselben  begrifflichen  und  juristischen 
Linie  stehen,  so  daß  also  die  „Kommunisten",  gegen 
welche  Herr  Stahl  S.  338  polemisiert,  gar  keinen  Grund 
hätten,  die  Konsequenzen  seiner  Lehre  von  sich  zu  weisen ! 

Herr  Stahl  muß  also  bei  seiner  Auffassung  der  er- 
worbenen Rechte  jeden  einmal  bestehenden  Rechtszustand 
als  erworbenes  Recht  hinstellen  und  heilig  sprechen,  und 
er  tut  dies  auch,  wie  wir  gesehen  haben ! 

Aber  nicht  nur  die  ernste  Hingabe  an  die  moderne 
Philosophie  hat  ihre  unvermeidlichen  Folgen,  sondern 
keiner  kann  auch  nur  buhlen  mit  ihr,  ohne  Schaden  an 
seiner  Seele  zu  nehmen.  Und  Herr  Stahl  hat  viel  zu 
viel  mit  ihr  gebuhlt,  um  nicht  diese  Folge  tragen  zu 
müssen. 

Statt  also  bei  der  Kanonisierung  jedes  einmal  gewor- 
denen Rechtszustandes  stehen  zu  bleiben,  statt  sich  zu  der 
Hallerschen  Theorie  der  isolierten  Selbstherrlichkeit  des 
Individuums  (s.  oben  S.  308)  zu  bekennen,  die  jedes  ein- 
mal entstandene  Recht  als  unangreifbar  für  alle  Ewigkeit 
hinstellt  und  die  in  der  Tat  den  wahren  Gedanken  des 
Stahlschen  Standpunktes  bildet,  verwirft  Herr  Stahl  die- 
selbe ausdrücklich  (S.  343),  indem  er  sie  für  „eine  äu- 
ßerste und  faktisch  gar  nicht  ausführbare  Übertrei- 
bung" erklärt,  und  stellt  statt  derselben  in  §  16  (S.  339) 
nun  folgende  Einschränkung  auf:  „Eine  Grenze  jedoch 
hat  die  Geltung  der  erworbenen  Rechte  gleich  aller 
menschlichen  Freiheit  und  Tat  in  dem,  was  die  Idee 
des  Gemeinzustandes  und  der  Rechtsordnung,  oder  die 
naturgemäße  Fortbildung  derselben  mit  unabweis- 
barer Notwendigkeit  fordert  oder  ausschließt." 

Plötzlich  also,  trotzdem  wir  eben  hörten,  daß  es  für 
die  Fortgeltung  früher  entstandener  Rechte  durchaus  nicht 
auf  die  Angemessenheit  derselben  für  das  Rechtsbewußt- 

320 


sein  der  Gegenwart  ankomme,  soll  doch  wieder  eine 
Grenze  für  diese  Fortgeltung  existieren,  und  es  wird, 
wie  es  scheint,  das  feste  Prinzip  einer  solchen  Grenze  an- 
gegeben. Sehen  wir,  in  welche  unendliche  theoretische 
Verwirrung  und  in  welche  vollständigste  Verschwommen- 
heit und  Haltlosigkeit  sich  diese  scheinbar  feste  Grenze 
auflöst. 

Zunächst  muß  im  rein  philosophischen  Interesse  gegen 
die  Verwirrung  Verwahrung  eingelegt  werden,  als  ob  die 
„menschliche  Freiheit"  eine  Grenze  habe,  und  als  ob 
aus  dieser  Grenze  der  Freiheit  die  Grenze  für  die 
Geltung  erworbener  Rechte  hervorfließe.  Der  Frei- 
heitsbegriff hat  keine  Grenze,  da  alles,  was  aus  ihm 
folgt,  gilt,  und,  was  mißverständlich  als  seine  Grenze 
erscheinen  könnte,  vielmehr  nur  sein  eigenes  positives 
Setzen  und  Bestimmen  ist.  Es  kann  auch  für  den  Frei- 
heitsbegriff um  so  weniger  eine  Grenze  aus  der  Idee 
des  Gemeinzustandes  hervorfließen,  als  er  mit  dieser 
vielmehr  identisch  und  der  Gemeinzustand  nur  die 
Realisierung  des  Freiheitsbegriffes  ist.  Nicht 
also  die  Freiheit,  sondern,  was  scharf  zu  unterscheiden 
ist,  die  individuelle  Willkür  hat  ihre  Grenze,  eine 
Grenze,  die  gerade  durch  das  positive  und  substan- 
tielle Wesen  der  menschlichen  Freiheit  an  ihr 
gesetzt  wird,  und  aus  diesem  positiven  Wesen  der  Frei- 
heit, nicht  aus  ihrer  Grenze,  fließt  die  Grenze  der  un- 
beschränkten Dauer  erworbener  Rechte  hervor.  Wir  wer- 
den nämlich  noch  im  Verlauf  dieses  Paragraphen  sehen, 
worauf  hier  nur  hinverwiesen  werden  kann,  daß,  wenn  ab- 
solute, verbietende  Gesetze  erlassen  werden,  diese  immer 
nur  darauf  beruhen,  daß  ein  früher  als  veräußer- 
lich gedachter  Teil  der  menschlichen  Freiheit  (Privat- 
willkür  auch   von   den   Juristen   genannt)    jetzt   als   un- 

?1     I  n.saUe.  Cr*.  Schriften.  Band  IX.  32  1 


veräußerliche  Freiheit  des  Menschen  angesehen 
wird,  weshalb  er  nun  durch  keine  Transaktion  mehr  in 
das  Eigentum  eines  Dritten  gebracht  werden  oder 
darin  verbleiben  kann.  Die  hierdurch  bewirkte  Aufhebung 
der  von  mir  erworbenen  Rechte  an  solchen  unveräußer- 
lichen Freiheitsbefugnissen  eines  anderen  Individuums  be- 
ruht also  auf  einer  positiven  Vermehrung  und 
Erweiterung  des  menschlichen  Freiheits- 
begriffes, und  begrenzt  nur  zugunsten  desselben 
die  Befugnis  der  Privatwillkür,  das  noch  länger  als  ein 
Veräußerliches  zu  behandeln,  was  sich  jetzt  durch  eine 
höhere  Entwickelung  des  Rechtsbewußtseins  nicht  mehr 
als  in  die  Sphäre  der  Privatwillkür  und  ihres  Schaltens 
fallend,  sondern  als  ein  unveräußerlicher  Ausfluß  des 
menschlichen  Freiheitsbegriffes  gezeigt  hat. 

Allein  um  von  den  höheren  Anforderungen  der  Theorie 
abzusehen,  muß  jener  angeblichen  Grenzbestimmung  des 
Herrn  Stahl  ein  Einwurf  gemacht  werden,  der  in  philo- 
sophischer, wie  juristischer,  wie  praktischer  Hinsicht 
gleichmäßig  ein  kapitaler  ist.  Die  Grenze  für  die  Gel- 
tung erworbener  Rechte  soll  nach  Herrn  Stahl  liegen  ,,in 
dem,  was  die  Idee  des  Gemeinzustandes  und  der  Rechts- 
ordnung oder  die  naturgemäße  Fortbildung  derselben  mit 
unabweisbarer  Notwendigkeit  fordert  oder  aus- 
schließt". 

Allein  hiermit  ist  ja  die  Frage  nach  der  Grenze  auch 
nicht  im  geringsten  beantwortet,  denn  nun  entsteht  ja  die 
ganze  Frage  wieder  in  der  Gestalt:  Wo  liegt  unab- 
weisbare Notwendigkeit  für  den  Gemeinzustand 
vor?  Was  ist  notwendig?  Jeder  Mensch  und  jede  Par- 
tei, die  bisher  die  Aufhebung  erworbener  Rechte  for- 
derte, hat  noch  immer  behauptet,  daß  dies  notwendig 
sei.     Solange  uns    Herr   Stahl   also   nicht  einen   wissen- 

322 


schaftlichen  Maßstab  liefert,  um  zu  beurteilen,  was  not- 
wendig sei,  hat  er  uns  überhaupt  gar  nichts  gesagt,  son- 
dern die  Frage  mit  der  Frage  beantwortet.  Denn  es 
bleibt  nun  für  jedes  zu  erlassende  Gesetz  die  Verlegen- 
heit, Herrn  Stahl  erst  als  seinen  königlichen  Ratgeber 
herbeirufen  zu  müssen.  Und  da  dies  nicht  immer  ausführ- 
bar sein  wird,  so  wird  nichts  übrig  bleiben  als  die  Not- 
wendigkeit, im  Sinne  des  praktischen  Bedürf- 
nisses und  nach  der  subjektiven  Ansicht  der  Ur- 
teilenden zu  entscheiden.  Die  Rechtsphilosophie  fällt  also 
plötzlich  von  ihrem  hohen  wissenschaftlichen  Kothurn  in 
die  vulgärste  Kategorie  des  gewöhnlichen  Bedürfnisses 
und  seines  schwankenden  praktischen  Dafürhaltens  her- 
unter. 

Man  mißverstehe  uns  nicht.  Wir  verlangen  natürlich 
nicht  von  Herrn  Stahl,  daß  er  inhaltlich  angebe,  was 
alles  in  jeder  künftigen  Zeit  notwendig  sein  wird. 
Dies  wäre  weder  möglich,  noch  seine  Aufgabe.  Aber 
das  verlangen  wir  ganz  positiv  von  ihm,  daß  er  das 
formelle  Kriterium  der  Beurteilung  angebe,  wo  und 
wo  nicht  Notwendigkeit  vorliege. 

Wer  dieses  Gesetz  nicht  zu  entwickeln  vermag,  hat 
eben  nur  tautologisch  gesprochen  und  muß  keine  Rechts- 
philosophie schreiben.  Denn  diese  hat  eben  wissen- 
schaftlich darzulegen,  wo  und  wann  Aufhebung 
bestehender  Rechte  notwendig  ist,  und  zwar  hat  sie 
ferner  diese  Notwendigkeit  und  das  allgemeine  begriff- 
liche Kriterium  derselben  aus  der  Rechtsidee  selbst 
abzuleiten.  Und  erst  hierdurch  wird  die  bis  dahin  bloß 
tatsächliche  und  dem  Rechte  entgegenstehende  Not- 
wendigkeit  zu  einer   Rechtskategorie  erhoben. 

Wir  selbst  haben  bisher  in  diesem  Paragraphen  bereits 
entwickelt,  wie  vermöge  der  rechtlichen  Natur  des 

n*  323 


individuellen  Willens  die  Aufhebung  des  bestehenden 
Rechtes  beim  Erlaß  prohibitiver  Gesetze  nicht  als  eine 
entgegenstehende  faktische  Notwendigkeit  das 
Recht  bricht,  sondern  als  eine  geistige  und  vorher- 
bestimmte Notwendigkeit  in  Recht  und  Willen 
hineingeschrieben  ist.  Gleichwohl  aber  heben  wir  selbst 
hervor,  daß  auch  wir  bisher  noch  nicht  das  begriffliche 
Gesetz  entwickelt  haben,  nach  welchem  Kriterium 
zu  jeder  Zeit  die  Notwendigkeit  und  Recht- 
mäßigkeit des  Erlasses  solcher  Gesetze  zu  erkennen 
und  zu  beurteilen  sei.  "Aber  noch  der  gegenwärtige  Para- 
graph wird  diese  Entwickelung  enthalten,  und  zwar  wird 
sie  sich  von  selbst  vollbringen  durch  die  tiefere  Betrach- 
tung der  prohibitiven  Gesetze  und  des  in  ihnen  statt- 
findenden Unterschiedes. 

Herr  Stahl  aber,  dessen  Lehre  sich  jetzt,  von  den 
Phrasen  entblößt,  ihrer  Substanz  nach  getreu  in  die  Worte 
zusammenfassen  läßt:  es  ist  notwendig,  daß  erworbene 
Rechte  bestehen,  wenn  es  nicht  notwendig1)  ist,  sie  für 
das  Gesamtwohl  aufzuheben  —  ein  Satz,  wie  ihn  das 
gewöhnlichste  praktische  juristische  Handbuch  Scheu 
tragen  würde  niederzuschreiben  — -,  hat  in  dieser  leeren 
Tautologie  auf  jede  wissenschaftliche  Bestimmung  seines 


J)  Notwendig  ist,  was  nicht  anders  sein  kann.  Indem 
Herr  Stahl  also  sagt :  „Die  erworbenen  Rechte  können  für  das 
Gesamtwohl  nur  dann  aufgehoben  werden,  wenn  dies  „,,unab- 
weislich  notwendig""  ist,"  bricht  er  in  den  geistvollen 
Satz  aus:  ,,sie  können  aufgehoben  werden,  wenn  sie- nicht 
anders  können  als  aufgehoben  werden"  —  womit  freilich 
die  Untersuchung  ganz  eminent  gefördert  ist !  Und  ferner  auch 
abgesehen  von  dieser  tautologischen  Leerheit,  und  wenn  auch 
inhaltlich  ganz  bestimmt  angegeben  wäre,  was  alles  heute  und 
jemals  notwendig  sein  wird,  sagen  wir :  Notwendigkeit  ist  an 
und   für    sich    keine    Recht  skategorie,    sondern    wie    Wirkung 

324 


Gegenstandes  verzichtet.  Auch  ändert  sich  dies  gar  nicht 
dadurch,  daß  auf  das  Gesamtwohl  — ■  ,,die  Idee  des  Ge- 
meinzustandes" —  Bezug  genommen  wird.  Denn  es  ist 
überhaupt  noch  niemandem  eingefallen,  anderes  als  im 
Namen  des  Gesamtwohles  die  Aufhebung  bestehender 
Rechte  zu  fordern,  und  die  Frage  ist  ja  eben  die,  wo 
und  wann  im  Namen  des  Gesamtwohles  eine  solche 
Aufhebung  rechtmäßig  gefordert  werden  könne,  eine 
Rechtmäßigkeit,  die  Herr  Stahl  lediglich  von  ihrer 
Notwendigkeit  abhängen  läßt,  ohne  diese  letztere  bis- 
her irgendwie  zu  bestimmen.  Selbstredend  ist  dadurch 
wieder,  so  wenig  dies  in  der  Absicht  des  Herrn  Stahl 
gelegen  sein  möchte,  durch  die  natürliche  Unfähigkeit  so 
unbestimmter  Vorstellungen,  eine  Grenze  anzugeben, 
jeder  noch  so  jakobinischen  Ausschweifung  Tür  und  Tor 
geöffnet,  denn  was  könnte  nicht  alles  für  eine  ,, unabweis- 
bare Notwendigkeit"  für  die  ,,Idee  des  Gemeinzustandes 
und  der  Rechtsordnung  oder  die  naturgemäße  Fortbil- 
dung derselben"  ausgegeben  werden?! 

Herr  Stahl  fühlt  aber  selbst,  daß  er  gar  nichts  ge- 
sagt hat,  solange  er  nicht  bestimmt  hat,  wo  Notwendig- 
keit vorliege  und  wo  nicht,  und  er  entschließt  sich  also 
später,   letztere   näher   zu   definieren.     Er   wirft  nämlich 


und  Ursache  usw.  eine  logische  Kategorie,  resp.  Bezeichnung 
eines  bestimmten  Zusammenhanges  tatsächlicher  Verhält- 
nisse. Die  Frage  ist  also  weiter  die:  wie  und  wo  geht  ein 
bestimmter  Zusammenhang  tatsächlicher  Verhältnisse  (resp.  eine 
Kategorie  des  reinen  logischen  Gedankens)  dazu  über, 
in  dem  Begriff  der  subjektiven  Geistes-  und  Willens- 
freiheit, ohne  diesen  zu  verletzen  und  vielmehr  als 
aus  ihm  selbst  herfließend,  eine  Rolle  zu  spielen?  Erst 
hiermit  wird  die  Notwendigkeit  zur  Rechtskategorie,  d.  h. 
zur  rechtlichen  Notwendigkeit.  Der  Tod  ist  auch  eine  Not- 
wendigkeit,  aber  keine  des   Rechtssysteme s. 

325 


(S.  341)  der  „neueren  Bildung"  vor,  daß  sie  von  der 
„unleugbaren  Zulässigkeit",  die  Aufhebung  von  erwor- 
benen Rechten  „durch  das  Gemeinwohl  (salus  pu- 
blica, salut  public)"  zu  rechtfertigen,  eine  falsche  An- 
wendung mache.  Denn  unter  der  salus  publica,  sagt 
Herr  Stahl,  verstehe  jene  Bildung  nicht  „die  öffent- 
liche Notwendigkeit,  d.h.  das  unabweisbare  Er- 
fordernis für  gesunden  gedeihlichen  Fortbestand  und  or- 
ganische Entwickelung,  sondern  den  bloßen  Nutzen 
(hierum)". 

Endlich  haben  wir  eine  Definition !  Darin  also  soll 
für  Herrn  Stahl  das  unterscheidende  Kriterium  der  Not- 
wendigkeit liegen,  daß  sie  für  jenen  Fortbestand, 
für  die  Erhaltung,  nicht  für  das  lucrum  erforderlich 
sei.  Durch  diese  Unterscheidung  von  lucrum  —  welches 
Wort  Herr  Stahl  selbst  in  Parenthese  beifügt  —  und 
Fortbestand,  wird  also  hier  eine  Anwendung  von  dem 
Unterschiede  gemacht,  der  bekanntlich  bei  den  privat- 
rechtlichen Ansprüchen  der  Personen  untereinander  zwi- 
schen lucrum  und  Vermeidung  von  damnum  stattfindet. 
Allein  zunächst,  in  welchem  Sinne  spricht  Herr  Stahl 
von  einer  „öffentlichen  Notwendigkeit"?  Meint  er 
eine  Notwendigkeit  für  das  geistige  Rechtsbewußt- 
sein der  Gesellschaft?  Im  Rechtsbewußtsein,  als 
einer  geistigen  unteilbaren  Potenz,  kann  es  den  quan- 
titativen Unterschied  von  lucrum  und  vermiedenem 
damnum  gar  nicht  geben.  Wenn  das  Rechtsbewußtsein 
des  Geistes  sich  verwirklicht,  wenn  ihm  das  Bestehende 
entspricht,  so  ist  dies  für  es  lucrum,  und  wenn  das 
Bestehende  dem  Rechtsbewußtsein  widerspricht, 
dieses  also  negiert,  so  ist  dies  für  es  damnum  und  der 
Gefrierpunkt  zwischen  beiden  nicht  zu  finden. 

Aber   Herr  Stahl   spricht  auch  gar  nicht,  wenn  man 

326 


dies  auch  in  einer  Rechtsphilosophie  erwarten  sollte,  von 
einer  geistigen  Notwendigkeit  für  das  öf  ff  entliche 
Rechtsbewußtsein,  und  kann  dies  auch  gar  nicht,  da 
wir  schon  früher  von  ihm  gehört  haben,  daß  es  auf  die 
„Angemessenheit"  eines  früheren  Rechtszustandes  für 
das  zeitige  Rechtsbewußtsein  gar  nicht  ankommen  könne. 
Er  spricht  vielmehr,  wie  seine  Erläuterung  dieser  Not- 
wendigkeit, als  eines  Erfordernisses  ,,für  gesunden  ge- 
deihlichen Fortbestand",  und  auch  das  darauf  weiter  Fol- 
gende zeigt,  von  den  Erfordernissen  des  materiellen,  öko- 
nomischen „Wohlbestandes".  Allein  wenn  freilich  bei 
den  Privatansprüchen  der  einzelnen  nichts  bestimmter 
sich  unterscheidet,  als  die  Erhaltung  eines  bestehenden  Ver- 
mögensstandes oder  die  Vermeidung  von  Schaden  und  von 
der  Erzielung  von  lucrum,  weil  jedes  Privatvermögen  und 
jedes  durch  eine  bestimmte  Operation,  wie  z.  B.  nego- 
tiorum gestio,  für  dasselbe  entstandene  Resultat  bestimmt 
festgestellt  werden  kann,  so  ist  doch  nichts  unmöglicher, 
als  diese  Unterscheidung  zwischen  Erhaltung  und  Ver- 
mehrung oder  ein  lucrum  auf  nationale  Verhältnisse  an- 
zuwenden. Denn  schon  die  Grenze  zwischen  beiden  ist 
hier  schlechthin  unbestimmbar,  und  weder  der  materielle 
noch  der  geistige  Besitzstand  einer  Nation  und  noch  we- 
niger das  Resultat  einer  bestimmten  Maßregel  läßt 
sich  in  der  Weise  konstatieren,  daß  anzugeben  wäre, 
ob  eine  nützliche  Maßregel,  wenn  sie  unterlassen  wor- 
den wäre,  nicht  sogar  Schaden  zur  Folge  gehabt  hätte, 
und  ob  eine  Maßregel,  die  für  die  Erhaltung  des 
nationalen  Wohlbestandes  angerufen  wird,  nicht  vielmehr 
bloß  lucrum  zur  Wirkung  hat  und  der  nationale  Besitz- 
stand auf  seinem  gegenwärtigen  Niveau  auch  ohne 
sie  geblieben  wäre.  Was  also  für  eine  Nation  not- 
wendig sei,  bloß  um  zu  erhalten,  ohne  zu  bereichern. 

327 


und  was  bloß  Iukros  notwendig  sei,  ohne  daß  seine 
Unterlassung  eine  Verminderung  des  Bestandes  zur  Folge 
haben  würde,  läßt  sich  gar  nicht  abgrenzen.  Aber  die 
Grenze  läßt  sich  nicht  nur  nicht  praktisch  be- 
stimmen, sie  existiert  auch  gar  nicht!  Und  sie  kann 
nicht  existieren,  weil  zum  Begriffe  eines  Volkes,  zum 
Unterschiede  vom  Privatindividuum,  die  Entwickelung 
gehört,  also  die  Vermehrung  oder  das  lucrum,  wenn 
schon  einmal  diese  Kategorie  hier  analogisch  angewendet 
werden  soll. 

Ein  Volk,  das  sich  nicht  entwickelt,  also  nicht 
lukriert,  geistig  wie  materiell,  bleibt  nicht  stehen 
auf  seinem  gegenwärtigen  Bestände,  sondern  schreitet 
zurück,  wie  heutzutage  schon  jedes  Kind  weiß.  Für 
ein  Volk  ist  also  lukrieren  schon  erforderlich,  damit  nur 
gesunder  Fortbestand  da  sei.  Und  im  Grunde  weiß  das 
Herr  Stahl  auch  und  verlangt  ebendeshalb  nicht  nur  „ge- 
sunden ',  sondern  auch  „gedeihlichen  Fortbestand" 
und  „.organische  Entwickelung"  und  (S.  339)  „natur- 
gemäße Fortbildung",  und  indem  alle  diese  Ausdrücke: 
Entwickelung,  Fortbildung,  Gedeihen,  mit  dem  Begriff  des 
Lukrierens  in  der  materiellen  Sphäre  identisch  sind, 
verlangt  er,  indem  er  einen  „gedeihlichen  Fortbe- 
stand" verlangt,  selbst  einen  lukrosen  Fortbestand,  und 
erklärt  also  alle  solche  Aufhebungen  bestehender  Rechte 
für  eine  „öffentlicheNotwendi  gkei  t",  welche  zur 
Erzielung  eines  lukrosen  Fortbestandes  des  Volkswohls 
erforderlich  sind.  D.  h.  es  ist  eben  nur  ein  ganz  sinnloses 
und  sich  mit  jedem  Wort  aufhebendes  leeres  Gerede,  das, 
wenn  man  Ernst  mit  ihm  machte,  vielmehr  gerade  nur  zu 
dem  durchaus  unzulässigen  und  rechtswidrigen  Resultate 
führen  würde,  um  des  bloßen  Nutzens  willen  erwor- 
bene Rechte  aufheben  zu  dürfen. 

328 


Herr  Stahl  entwickelt  nun  aus  dieser  seiner  angeblichen 
Grenze  (S.  339)  drei  Folgerungen.  Erstens,  daß  die  Skla- 
venhändler sich  vergeblich  auf  ihr  jus  quaesitum  berufen, 
weil  erworbene  Rechte  nicht  als  unantastbar  gelten  können, 
soweit  sie  das  Recht  der  Persönlichkeit  anderer  auf- 
heben —  wobei  man  freilich  nicht  erfährt,  warum  das  z.  B. 
nicht  ebenso  auch  von  den  feudalen  Rechten  gelten  soll,  die 
gleichfalls  in  so  vielen  Abstufungen  das  Recht  der  Persön- 
lichkeit  anderer   aufhoben.    Nach   dieser   abgezwungenen 
Konzession  atmet  Herr  Stahl  wieder  frei  auf  und  poniert 
als  zweite  Folge :  ,,2.  In  der  ausgebildeten  Staatsverfas- 
sung, in  welcher  jedem  Gliede  seine  organische  Stelle  für 
das  Ganze  angewiesen  ist,  kann  für  die  Zukunft  im 
wesentlichen  kein  Erwerb  neuer  politischer  Rechte,  keine 
Ungleichheit  durch  bloß  zufällige   Handlungen  der  ein- 
zelnen  Beteiligten  platzgreifen."    Herr  Stahl  druckt  die 
Worte  ,,f ür  die  Zukunft"  breit,  um  zu  betonen,  daß 
dies  wieder  ohne  Einfluß  auf  die  schon  bestehenden  Rechte 
dieser  Art  bleiben  müsse,  legt  aber  gerade  dadurch  nur  die 
höchste  theoretische  Gedankenlosigkeit  an  den  Tag.  Denn 
es  wird  sich  später  zeigen,  daß  der  Rechtsidee  zufolge  nie- 
mals ein  Rechtsinhalt  für  die  Zukunft  von  der  indivi- 
duellen Erwerbung  ausgeschlossen  werden  kann,   solange 
derselbe  in  den  Fällen  früherer  Entstehung  noch  als  gül- 
tiger anerkannt  wird,  resp.  daß  ein  solches  Gesetz  nur 
ein  unlogisches  und  widerrechtliches,  die  individuelle  Wil- 
lensfreiheit verletzendes  Verbieten  darstellen  würde.    Es 
kann  hierüber,  wie  gesagt,  nur  auf  das  später  Folgende  ver- 
wiesen werden.   Einstweilen  mag  nur  bemerkt  werden,  daß 
schon  der  Jurist  Savigny  dem  angeblichen  Rechtsphiloso- 
phen hier  siebenmal   theoretisch  überlegen   ist.    Denn  in 
Savignys   Formel,   daß   Gesetze   über  das   Dasein  der 
Rechte    auf    die    früheren    Erwerbungen    rück  wirken 

329 


müssen,  liegt  bereits,  daß  ein  Rechtsinhalt,  der  in  der 
Zukunft  nicht  mehr  entstehen  kann,  auch  aus  der  Ver- 
gangenheit her  nicht  mehr  fortbestehen  dürfe,  und 
daß  ersteres  gerade  das  Kriterium  für  die  Entschei- 
dung über  das  letztere  ist.  Wenn  aber  Herr  Stahl  wieder- 
holt bei  seinen  Ausführungen  seine  Bewunderung  vor  der 
„römischen  Ehrfurcht"  vor  den  erworbenen  Rechten 
ausspricht,  so  mag  ihm  die  beruhigende  Versicherung  er- 
teilt werden,  daß  in  diesem  ganzen  Paragraphen  nichts  ge- 
sagt ist,  was  nicht  am  Schluß  desselben  in  der  strengsten 
Weise  als  römische  Pandektentheorie  nachgewiesen  wer- 
den wird. 

Drittens  konkludiert  Herr  Stahl :  In  der  „großen  welt- 
geschichtlichen Fortbildung  des  ganzen  öffentlichen  Zu- 
standes  müssen  die  erworbenen  Rechte  einzelner  Menschen 
oder  Klassen  zuletzt  weichen".  Aber  sie  haben  „zu 
weichen  als  Recht  und  in  Anerkennung  des- 
selben", d.  h.  „wo  das  überhaupt  möglich,  gegen  Ent- 
schädigung". Dieser  sehr  vulgäre  Irrtum  wird  ohne- 
hin bald  zur  gründlichen  Untersuchung  gelangen,  weshalb 
hier  darauf  hinzudeuten  genügt.  Herr  Stahl  schließt : 
„Auch  ist  die  gewaltsame  Abstoß  ung  envorbener 
Rechte  nach  politischen  Rücksichten  nicht  eine 
fortwährende  und  regelmäßige  Funktion  des  Staatsorganis- 
mus,  sondern  bloß  das  Werk  besonderer  Zeitepochen,  und 
hat  daher  mehr  eine  weltgeschichtliche  als  eine 
juristische   Rechtfertigung." 

Es  ist  wieder  jener  unvermeidliche  jakobinische  Hauch, 
den  jeder  der  modernen  Philosophie  Nahende  auch  wider 
Willen  von  ihr  empfängt,  der  Herrn  Stahl  hier  hinreißt, 
der  „Weltgeschichte"  die  welthistorische  Absolution  für 
die  „gewaltsame  Abstoßung  erworbener  Rechte 
nach  politischen  Rücksichten"  zu  erteilen.    Frei- 

330 


lieh  war  diese  welthistorische  Absolution  für  Herrn  Stahl 
um  so  bequemer,  als  er  nun  damit  einer  rechtswissen- 
schaftlichen Theorie  darüber  überhoben  war,  eine 
Aufgabe,  von  der  Herr  Stahl  selbst  fühlen  mochte,  daß  er 
sie  in  keiner  Weise  gelöst  hat  und  vor  der  er  sich  daher 
mit  dieser  welthistorischen  Verbeugung  vorbeistiehlt. 
Allein  damit  ist  ja  gerade  prinzipiell  auf  die  wissen- 
schaftliche Aufgabe  der  Rechtsphilosophie  verzichtet, 
und  das  alte  leere  Gerede  von  dem  Gegensatz  von  Recht 
und  Weltgeschichte  bleibt  nicht  nur  wieder  in  voller  Blüte, 
sondern  der  Geschichte  wird  nun  auch  noch  ein  besonderes 
Recht  zu  gewalttätigem  Unrecht  eingeräumt,  wovon  dann 
die  von  Herrn  Stahl  so  hart  angegriffenen  „Kommunisten 
und  „Liberalen",  sich  gewiß  gern  mit  der  „welthistorischen 
Rechtfertigung"  begnügend,  Akt  ergreifen  mögen.  Wir  un- 
sererseits bedürfen  eines  solchen  besonderen  welthisto- 
rischen Rechtes,  eines  Rechtes  auf  Unrecht,  keineswegs. 
Wir  statuieren  auch  der  Geschichte  ein  Recht  auf  eine 
widerrechtliche  Abstoßung  erworbener  Rechte  nach  „poli- 
tischen Rücksichten"  keineswegs,  sind  aber  freilich  dieser 
Verkleidung  der  Gedankenunfähigkeit,  die  rechtliche  Be- 
wegung der  Geschichte  theoretisch  zu  begreifen,  auch  nicht 
benötigt.  Wir  halten  es  vielmehr  gerade  für  die  unbe- 
dingte Aufgabe  der  Rechtsphilosophie,  die  wissen- 
schaftliche Theorie  aus  der  reinen  Rechtsidee 
selbst  abzuleiten.  Wir  bedürfen  hierbei  auch  keines 
Unterschiedes  zwischen  politischem  Recht  und 
Privatrecht,  und  können  hierin  keinen  solchen  statu- 
ieren, denn  beide  sollen  doch  eben  Recht  bleiben  und  die 
politische  Entwickelung  oder  die  Bewegung  des 
öffentlichen  Rechtes  ist  eben  gar  nichts  anderes 
als  die  Entwickelung  der  Rechtsidee  selbst. 
Und  in  der  Tat  werden  wir  sehen,  wie  das,  was  in  jenen 

331 


„welthistorischen"  Epochen,  wie  die  französische  Revo- 
lution und  andere,  in  bezug  auf  die  Aufhebung  erworbener 
Rechte  wahrhaft  vor  sich  ging,  nur  auf  derselben  „fort- 
währenden und  regelmäßigen  Funktion  des  Staatsorganis  - 
mus",  nur  auf  derselben  beständig  tätigen  Entwickelung  der 
Rechtsidee  beruht,  welche  in  stillerer,  aber  prinzipiell  ganz 
gleichstehender  Weise  in  der  ununterbrochenen  Rechtsbil- 
dung des  reinen  Privatrechtes,  in  Gesetzen  über  Wucher. 
Alimente,  Zeugenbeweis  usw.  usw.  und  alle  Materien  jeder 
Art  stets  stattfindet. 

Wir  kehren  jetzt  zu  unserer  positiven  Aufgabe  zurück, 
bei  der  wir  uns  die  Kurzweil  dieses  Exkurses  nur  gegönnt 
haben,  um  gelegentlich  einen  Beweis  zu  liefern,  durch 
welches  inhalts-  und  gedankenlose,  sich  selbst  vernichtende 
Gerede  man  sich  heutzutage  in  dem  Vaterlande  Hegels  die 
Reputation  eines  Denkers  erwirbt ! 

Wenden  wir  uns  also  zunächst  zu  einigen  positiven  Bei- 
spielen solcher  Gesetze,  zunächst  zu  solchen,  die  am  eng- 
sten mit  dem  öffentlichen  Recht  zusammenhängen,  die  aber 
deshalb  um  nichts  mehr  und  aus  gar  keinem  anderen 
Grunde  auf  bestehende  Rechte  einwirken  dürfen,  als  aus 
dem  für  absolute  Gesetze  überhaupt  entwickelten  Sach- 
verhältnis. 

So  waren  also  die  Dekrete  der  berühmten  Nacht  vom 
4.  August  1789,  durch  welche  die  französische  konstitu- 
ierende Versammlung  alle  aus  der  Feudalherrschaft  her- 
fließenden Rechte  aufhob,  von  jeder  Rechtsverletzung  und 
Rückwirkung  frei.  Denn  wenn  selbst  erworben,  waren  diese 
Rechte  von  Anfang  an  nur  auf  so  lange  gültig  er- 
worben, b  i  s  eine  andere  und  ausschließende  Gestalt,  zu 
der  das  öffentliche  Bewußtsein  in  seinem  Entwickelungs- 
prozeß  herangereift  sein  würde,  das  Dasein  derselben 
für   rechtlich  unmöglich   anschauen,   bis   sie  in  ihnen  ein 

332 


Daseindes  Unrechts  statt  eines  Daseins  der  Rechts- 
substanz erkennen  würde. 

Glücklicherweise  kommt  den  Menschen,  lange  ehe  eine 
Theorie  sich  zu  der  Gestalt  sich  selbst  verstehender  Klar- 
heit vergeistigt,  das  Richtige  unmittelbar  zum  Bewußtsein 
durch  jene  instinktive  Operation  des  Begriffes,  die  wir  nun 
schon  zu  so  wiederholten  Malen  in  unserer  Ausführung  klar 
nachgewiesen  zu  haben  hoffen. 

So  konnten  diese  Gesetze  erlassen,  so  konnten  sie  ver- 
teidigt werden,  ehe  eine  wahrhafte  Theorie  da  war,  die 
sie  rechtfertigte! 

Aber  die  nur  instinktive  Tätigkeit  des  Begriffes  hat  zu 
ihren  notwendigen  Folgen  die  nur  stück-  und  stoßweise 
Form,  in  der  er  sich  zum  Bewußtsein  bringt,  die  Inkonse- 
quenz, den  eigenen  Widerspruch,  die  Rückfälle,  die 
Schwankungen,  den  Mangel  an  Beweiskraft  und  daher 
einerseits  die  Mißgriffe,  andererseits  den  unablässig  von 
neuem  auftauchenden  Widerstand,  mit  welchem  ihm 
auf  jedem  Schritte  seiner  praktischen  Verwirklichung  ent- 
gegengetreten wird,  ein  Widerstand,  der  erst  machtlos 
werden  kann,  wenn  eine  wahrhafte,  sich  selbst  durchsichtige 
Theorie  die  Schwierigkeiten  gelöst  hat,  an  denen  sich  bis 
dahin  der  dunkle  Drang  des  Richtigen  gestoßen. 

Es  tritt  dies  recht  deutlich  an  den  Tag,  wenn  wir  zu- 
nächst einen  Blick  werfen  auf  die  Weise,  in  der  Merlin 
die  Dekrete  der  Augustnacht  verteidigt. 

„C'est  ainsi,"  sagt  er  (Repert.  de  Jurisprud.  v°  Eff. 
retroactif,  Sect.  2,  V,  534),  ,,que  l'assemblee  Constituante, 
toute  ennemie  quelle  s'est  montree  constamment  de  toute 
espece  de  retroactivite,  n'a  pas  craint,  dans  la  celebre  nuit 
du  4  aoüt  1789,  de  detruire  la  servitude  personnelle,  la 
main-morte  et  la  feodalite.  Et  certes  une  loi  nouvelle  ne 
retroagit  pas  rMlement,    lorsqu'en  faisant  revivre  une  loi 

333 


ecrite  dans  le  code  ettrnel  et  imprescriptible  de  la  nature, 
eile  efface  par  sa  toute-puissance,  les  actes  qui,  pendant  le 
sommeil  de  celle-ci,  ont  porte  atteinte  aux  droits  les  plus 
sacres  de  l'homme." 

Aber  der  „ewige  und  unverjährbare  Code  der  Natur", 
der  „Schlummer  der  Rechte",  die  hier  den  Gesetzen  prä- 
existent sind,  und  durch  diese  verletzt  werden  —  alles  dies 
sind  Ausdrücke,  denen  zwar  wiederum  in  dunkeler  Weise 
richtige  Ahnungen  zugrunde  liegen ;  aber  diese  in  weitester 
Unbestimmtheit  alles  und  nichts  in  sich  schließenden 
Worte,  zu  denen  sogar  dieser  sonst  so  scharfe  juristische 
Denker  greifen  muß,  um  sein  instinktives  Gefühl  des 
Richtigen  zu  verteidigen,  sind  keine  wissenschaft- 
lichen juristischen  Gründe  und  müssen,  statt  zu 
beweisen,  Gefahr  laufen,  bloße  Deklamationen  genannt  zu 
werden,  mit  denen  sich  in  der  Tat,  solange  sie  nicht  zu 
präzisen  begrifflichen  Gesetzen  herausgerungen  werden, 
alles,  auch  das  Unrechtmäßigste,  rechtfertigen  ließe. 

Aber  nicht  nur  die  Beweiskraft  für  andere  mangelt  die- 
sem unbestimmten  Gefühle,  sondern  Merlin  selbst  geht, 
gerade  weil  er  zu  weit  geht,  deshalb  notwendig  nicht 
weit  genug.  Er  fährt  unmittelbar  hinter  jenen  Worten 
fort : 

..Quelquefois  aussi  des  considerations  politiques  peuvent 
determiner  le  legislateur  ä  retroaglr  dans  des  matieres  de 
pur  droit  prive.  C'est  ainsi  que,  par  la  loi  du  14  novem- 
bre  1792,  la  Convention  nationale  a  aboli  les  substitutions 
fideicomm  issalres,  qui  avaient  ete  creees  precedemment  et 
n  etaient   pas  encore  ouvertes." 

Von  diesem  Gesetze  gibt  also  Merlin  zu,  daß  es  wirk- 
lich zurückgewirkt  habe. 

Und  bald  darauf  (S.  538),  auf  eine  Bestimmung  dieses 
Gesetzes  näher  eingehend,  sagt  er : 

334 


„C'est  meme  sur  le  principe  consacre  par  ces  ar- 
rets  que  se  sont  fondes  ceux  qui,  apres  le  18  brumaire 
an  8,  ont  provoque  par  des  petitions  au  tribunat  et  au 
gouvernement  le  rapport  de  l'art  2  de  la  loi  du  14  no- 
vembre  1792  qui,  pour  abolir  les  substitutions  anteri- 
eures  non  encore  ouvertes,  avait  rendu  sans  effet  les  con- 
ditions  encore  pendantes  sous  lesquelles  les  substitues 
deja  nes  ou  concus  etaient  appeles  par  des  testamente 
dont  les  auteurs  etaient  alors  decedes.  —  Et  ce  n'est 
pas  en  contestant  ce  principe,  ce  n'est  pas  en  niant  la  re- 
troactivite,  qu'on  leur  a  repondu.  On  leur  a  seulement 
dit  que  la  raison  civile  devait  ceder  ä  la  raison  politique  : 
que  linteret  general  de  l'etat,  qui  doit  toujours  predo- 
miner  dans  l'esprit  du  legislateur,  devait  faire  taire  tous 
les  interets  particuliers ;  et  qu'au  surplus  la  loi  du  14 
novembre  1792  n'avait  fait,  en  retroagissant  sur  les  sub- 
stitutions anterieures  pour  les  abroger  entierement,  que 
ce  qu 'avait  fait  precedemment  l'ordonnance  de  Moulins 
de  1566,  pour  reduire  ä  quatre  degres  les  substitutions 
perpetuelles,  qui  avaient  ete  fondees  avant  l'ordonnance 
d'Orleans  de    1560." 

Es  stünde  schlimm  um  dieses  Gesetz,  wenn  wirklich 
zuzugeben  wäre,  daß  es  ein  rückwirkendes  gewesen  sei. 
Denn  der  Gesetzgeber  kann,  wie  wir  (§1)  gesehen 
haben,  aus  politischen  Gründen  ganz  ebensowenig  wie 
aus  irgendwelchen  anderen  ein  rückwirkendes  Gesetz  er- 
lassen, ohne  damit  die  individuelle  Freiheit  und  Zurech- 
nungsfähigkeit, und  somit  den  Begriff  des  Rechtes  bis 
in  seine  Wurzel  aufzuheben.  Aber  es  kann,  wie  gezeigt, 
von  Rückwirkung  bei  jenem  Gesetze  in  der  Hinsicht,  wie 
Merlin   dies   meint x)    —   nämlich   weil   das   Gesetz   den 


1)  In  welcher  anderen,  von  Merlin  nicht  gemeinten  Hinsicht 
dasselbe  aber  wirklich  rückwirkend  war,   und   zwar  ge- 

335 


Fortbestand  der  f ideikommissarischen  Substitutionen 
aboliert  — ,  auch  gar  nicht  die  Rede  sein !  Das  Gesetz 
tat  nichts  anderes,  als  daß  es  im  Art.  1  alle  Substitu- 
tionen für  prohibiert  erklärte,  und  freilich  mußte  nun  in 
strenger  Folgerichtigkeit  hiervon  auch  das  Fortwirken 
der  früheren  Substitutionsordnung  von  jetzt  ab  unter- 
sagt und  hierdurch  die  Fideikommisse  von  jetzt  ab  in 
freies  Eigentum  in  der  Hand  ihrer  gegenwär- 
tigen gebundenen  Eigentümer  verwandelt  sein. 
Und  indem  in  das  fideikommissarische  Instrument  von 
vornherein  durch  die  notwendige  Natur  alles  Rechtes  die 
Bestimmung  hineinzudenken  ist,  daß  die  angeordnete  Sub- 
stitution nur  unter  der  Voraussetzung  Dasein  haben 
solle,  daß  die  Gesetze  sie  erlauben  und  auf  so  lange, 
als  sie  sie  erlauben,  jede  andere  auch  ausdrücklich 
entgegengesetzte  Bestimmung  aber  dieselbe  Ungültigkeit 
haben  würde,  wie  eine  gegen  verbietende  Gesetze 
angehende,  so  kann  so  wenig  im  Namen  des  verstor- 
benen Testators  als  des  bereits  konzipierten  oder  gebore- 
nen Anwärters,  der  seinen  Anwartschaftsanspruch  auf 
eventuelles  Einrücken  nach  der  Primogenitur-  oder  son- 
stigen Sukzessionsordnung  bei  der  Geburt  wieder  nur 
unter  der  unvermeidlichen  Bedingung  erwirbt, 
daß  nicht  vor  dem  Anfall  des  Fideikommisses 
prohibitive  Gesetze  dazwischentreten,  auch 
nur  der  Schatten  eines  Vorwurfes  von  Rückwirkung  und 
Verletzung  der  individuellen  Willensfreiheit  wegen  der 
abrogierten  Fortdauer  der  Substitutionsord- 
nung auf  jenes  Gesetz  fallen.  Die  individuelle  Willens- 
freiheit ist  vielmehr  damit  nun  in  gar  keine  anderen  Schran- 

rade  dadurch,  daß  es  nicht  weit  genug  ging,  werden 
wir  in  den  Anwendungen  sub  II,  B.  bei  der  Spezialuntersuchung 
der  Fideikommißmaterie  nachweisen. 

336 


ken  gewiesen,  als  in  die  rechtlichen  Schranken 
überhaupt,  an  die  sie  durch  die  Gesetze  unter  allen 
Gesetzgebungen  jederzeit  gebunden  erscheint. 

Werfen  wir  hierbei  einen  Blick  auf  Savigny. 

Wir  werden  später  genauer  sehen,  wie  nahe  Savignys 
Theorie  in  bezug  auf  die  uns  in  diesem  Paragraphen  be- 
schäftigende Frage  an  das  Richtige  anstreift  —  und  wie 
sie  sich  dennoch  wieder  die  wirkliche  Erfassung  desselben 
völlig  und  grundsätzlich  unmöglich  macht !  Von  selbst 
erhellt  jedoch,  wie  die  Savignysche  Formel,  daß  nur 
Gesetze  über  den  Erwerb  von  Rechten  nicht  rück- 
wirken,  Gesetze  aber  über  das  Dasein  von  Rechten 
rückwirken  sollen,  in  ihrem  Resultate  mit  dem  praktischen 
Ergebnis  unserer  Entwickelung  bei  vielen  Gesetzen  dieser 
Art  übereinstimmen  muß.  Aber  abgesehen  davon,  daß 
Savigny  dies  mit  Unrecht  als  eine  Rückwirkung,  wenn 
auch  als  eine  nach  ihm  zulässige  qualifiziert,  stellen  sich 
zunächst  zwei  Punkte  als  Folgen  der  Mangelhaftigkeit 
seiner  Theorie  heraus.  Die  erste  dieser  Folgen  ist  die 
schwankende  Weise,  in  der  sich  Savigny  gerade  über 
ein  neues  Gesetz  der  letzterwähnten  Art  —  Aufhebung 
von  Fideikommissen  —  äußert.  Er  sagt  hierüber  (VIII, 
537) :  ,, —  Wenn  daher  gegen  die  Gesetze,  wodurch 
Rechtsinstitute  aufgehoben  oder  umgebildet  werden,  wegen 
des  Eingriffes  in  erworbene  Rechte  ein  unbedingter  Wider- 
spruch erhoben  werden  soll,  so  ist  dieser  Widerspruch 
wenigstens  wegen  der  beschränkten  Natur  des  Trä- 
gers erworbener  Rechte  nach  zwei  Seiten  hin  in  enge 
Grenzen  zu  verweisen. 

„Dem  neuen  Gesetze  könnte  höchstens  seine  recht- 
mäßige Einwirkung  bestritten  werden,  solange  der  Träger 
eines  erworbenen  Rechtes  lebt.  Hinterläßt  er  Erben,  so 
haben  diese  zur  Zeit  der  Erscheinung  des  neuen  Gesetzes 

22  La.aalle.    G...  Schrift«.    Bind   IX  337 


... 

kein  verletzbares  erworbenes  Recht.  Mit  anderen  Worten  : 
Alles  Erbrecht  ist  rein  positives,  und  wenn  dasselbe  durch 
ein  neues  Gesetz  an  gewisse  Bedingungen  und  Schranken 
geknüpft  wird,  so  kann  darin  niemals  ein  Eingriff  in  er- 
worbene Rechte  gefunden  werden.  Wir  wollen  dieses  auf 
den  oben  als  Beispiel  gewählten  Fall  anwenden.  Wenn 
das  neue  Gesetz,  welches  die  Sklaverei  beseitigen  wollte, 
die  Bestimmung  gäbe,  daß  in  Zukunft  kein  Erbe  durch 
Erbfolge  das  Eigentum  von  Sklaven  erwerben  könnte,  so 
läge  darin  gewiß  nicht  die  Verletzung  eines  erworbenen 
Rechtes.  —  Diese  Betrachtung  gründete  sich  auf  das 
nahe  Ende  jedes  menschlichen  Lebens.  Eben  dahin  führt 
aber  die  Erwägung  des  Anfanges.  Jeder  Mensch  muß 
den  Rechtszustand  anerkennen,  den  er  bei  seiner  Geburt 
bestimmt  findet.  Wenn  also  vor  seiner  Geburt  ein  Rechts- 
institut durch  neues  Gesetz  aufgehoben  oder  umgebildet 
wird,  so  kann  wenigstens  ihm  nicht  ein  erworbenes  Recht 
dadurch  verletzt  sein."  Und  als  Anmerkung  hierzu  be- 
merkt Savigny :  „Ein  Gesetz,  welches  die  Lehen  oder 
Fideikommisse  aufhebt,  verletzt  daher  gewiß  nicht 
die  Rechte  derjenigen,  die  erst  später  erzeugt  wer- 
den." 

Aus  dem  hervorgehobenen  „höchstens"  und  „ge- 
wiß nicht"  in  der  angeführten  Stelle  fühlt  sich  wohl 
deutlich  genug  heraus,  daß  Savigny  in  dem  Nochnichter- 
zeugtsein  der  fideikommissarischen  Anwärter  nur  einen 
Umstand  sieht,  der  a  fortiori  das  Gesetz  gegen  den  Vor- 
wurf einer  Rechtswidrigkeit  schützt,  daß  er  aber,  auf  die 
Konsequenz  gedrängt,  im  Grunde  auch  wenn  Anwärter 
bereits  geboren  sind,  in  einem  ihr  Anwartschaftsrecht  auf 
Einrücken  in  das  Fideikommiß  nach  der  Primogenitur- 
ordnung  aufhebenden  Gesetz  keine  Rechtswidrigkeit  er- 
blicken würde,  und  mindestens  wäre  dies  die  konsequente 

338 


und  richtige  Folge  von  seiner  Formel,  daß  Gesetze  über 
das  Sein  oder  Nichtsein  von  Rechten  rückwirken  sollen. 
—  Immerhin  bleibt  diese  schwankende  Weise  ein  irre- 
führender Übelstand,  der  auf  keinem  irgend  haltbaren  juri- 
stischen Grunde  beruht.  Nach  der  von  uns  entwickelten 
Theorie  erweist  es  sich  vielmehr  in  bezug  auf  den  Fort- 
bestand der  fideikommissarischen  Primogeniturordnung  als 
schlechterdings  gleichgültig,  ob  bereits  An- 
wärter geboren  sind  oder  nicht,  da,  so  erworben  ihre  An- 
rechte sein  mögen,  sie  immer  doch  mit  der  einen  Be- 
dingung erworben  werden,  nicht  auf  Prohibitivgesetze  zu 
stoßen,  da  sich  contra  leges  nichts  erwerben  und  ebenso- 
wenig Erworbenes  festhalten  läßt,  wie  z.  B.  Sklaven, 
Leibeigene  oder  irgendwelche  andere  Objekte  oder  Befug- 
nisse, welche  bisher  zum  Eigentum  gehörten  und  von 
welchen  ein  neues  Gesetz  erklärt,  daß  sie  nicht  mehr 
eigentümlich  besessen  werden  können.  Und  dies  muß  um 
so  unzweifelhafter  und  um  so  mehr  ohne  alle  Schwierig- 
keit von  dem  bereits  lebenden  Fideikommißanwärter  gel- 
ten, als,  wie  unsere  Entwickelung  schon  gezeigt  hat  und 
wie  später  am  Zinsvertrage,  an  der  lex  commissoria  und 
selbst  durch  noch  entscheidendere  Fälle  bis  zur  letzten 
Evidenz  erwiesen  werden  wird,  nicht  einmal  durch  Ver- 
t  rag  ein  gegen  prohibitive  Gesetze  fortbestehendes  Recht 
erworben  werden  kann,  dem  Geboren-  oder  Erzeugtwerden 
des  Fideikomnnßan Wärters  aber  doch  allerhöchstens  die 
Wirkung  einer  vertragsmäßigen  Erwerbung  zugeschrieben 
werden  könnte  *). 


1)  Welches  ist  der  Grund,  weshalb  man  fideikommissarische 
Anwärter  in  bezug  auf  die  durch  die  fideikommissarische  Sub- 
stitutionsordnung ihnen  verliehenen  Rechte  nicht  einfach 
wie  Testamentserben  behandelt,  bei  welchen  letzteren  man  nicht 
zweifelhaft   darüber    ist.    daß.    solange   der    Erbanfall    nicht 

22«  33"-) 


Wenn  sich  Savigny  in  bezug  auf  den  erörterten  Punkt 
nur  unbestimmt  und  schwankend  ausdrückt,  so  verfällt  er 
dagegen  in  anderer  Hinsicht  infolge  seiner  Theorie  in  einen 

eingetreten,  Gesetze  über  den  Inhalt  des  Testamentes  und 
über  die  Fähigkeil  des  Honorierten  stets  sofort  platzgreifen  ? 
Der  Grund  ist  der,  daß  das  Testament  bei  Lebzeiten  des  Testa- 
tors nur  einen  stets  revokabeln  Willen  darstellt,  der  daher 
■ —  ebenso  wie  das  Intestaterbfolgegesetz  für  den  Intestaterben 
—  solange  eine  bloße  Erwartung  und  kein  erworbenes  Recht 
gewährt,  solange  er  nicht  unwiderruflich  geworden,  was 
also  erst  mit  dem  Tode  des  Testators  der  Fall  ist.  Bei  Erb- 
verträgen und  Fideikommissen  dagegen  liegt  eine  unwider- 
rufliche Bestimmung  vor,  die  eben  deshalb  ein  erworbenes 
Recht  gewährt.  Dieser  Unterschied  ist  in  der  Tat  der  einzige, 
der  in  der  hier  betrachteten  Hinsicht  zwischen  beiden  Fällen 
stattfindet,  und  die  aus  ihm  gezogene  Folgerung  ist  auch  an 
sich  eine  ganz  richtige.  Wie  wenig  aber  diese  Unwiderruf- 
lichkeit der  Substitutionsordnung  gegen  Prohibi- 
tivgesetze  zu  bestehen  vermag,  soll  noch  durch  einen  Fall 
bestätigt  werden,  der  nach  dem  Vorausgeschickten  juristisch 
ganz  auf  gleicher  Linie  nn\  den  Fideikommissen  steht.  Vor  der 
französischen  Revolution  galt  in  vielen  Provinzen,  z.  B.  in  den 
Statuten  von  Hainaut,  Brabant,  Lüttich,  im  Gebiet  von  Weißen- 
burg im  Elsaß,  und  auch  im  Herzogtum  Berg,  das  sogenannte 
Devolutionsrecht.  Hiernach  hatten  die  Kinder  ersten  Bet- 
tes, deren  Vater  sich  wieder  verheiratet  hatte,  das  Recht,  in 
seinem  Nachlaß  alle  Güter  vor  der  Teilung  vorabzunehmen, 
in  deren  Besitz  sich  der  Vater  beim  Tode  ihrer  Mutter  be- 
funden hatte.  Infolge  desselben  Devolutionsrechtes  war  es  aber 
dem  Vater  auch  schon  vom  Tode  der  Frau  ab  untersagt, 
diese  Güter  zum  Nachteil  jener  Kinder  zu  veräußern  oder 
zu  verhypothezieren.  Hierin  zeigt  sich  auf  das  unleug- 
barste, daß  die  Devolution  ein  unwiderrufliches  Recht 
der  Kinder  erster  Ehe  hervorbrachte,  ganz  wie  das  fideikommis- 
sarische  Instrument  für  den  geborenen  Anwärter.  Durch  Gesetz 
vom  8./15.  April  1791  wurden  alle  statutarischen  Bestimmungen 
aufgehoben,  welche  bei  der  Teilung  der  Nachlassenschaft  des- 

340 


ebenso  entschiedenen  als  wichtigen  Irrtum,  der  gleich  hier 
näher  zu  betrachten  ist. 

Er  stellt  nämlich  (a.a.O.,  S.  538 fg.)  die  Forderung 


selben  Vaters  oder  derselben  Mutter  Unterschiede  zwischen 
den  Kindern  aus  verschiedenem  Bett  begründeten.  Es  entstand 
nun  die  Frage,  ob,  wenn  zwar  die  Mütter  unter  altem  Recht 
gestorben,  die  Güter  also  bereits  den  Kindern  erster  Ehe  durch 
Devolution  anerfallen  waren,  der  Vater  aber  erst  nach 
dem  Gesetz  vom  8.  April  1791  gestorben  war,  die  Kinder 
zweiten  Bettes  von  der  Teilung  derselben  ausgeschlossen  sein 
sollten  ?  Der  Nationalkonvent  entschied  diese  Frage  durch  das 
motivierte  Tagesordnungsdekret  vom  18.  Vendem.  II  mit  Recht 
zugunsten  der  Kinder  zweiter  Ehe,  weil  die  Wirkungen  des 
Gesetzes  vom  8.  April  1791  „doivent  avoir  Heu  sur  les  biens 
meubles  et  immeubles  qui,  ä  l'epoque  de  sa  publication,  etaient 
frappes  de  devolution  dans  la  main  de  l'epoux  survivant  avec 
enfants."  Als  später  im  Jahre  IV  die  rückwirkenden  Be- 
stimmungen der  früheren  Gesetze  zurückgenommen  wurden  und 
deshalb  auch  hierauf  zurückzukommen  versucht  wurde,  erklärte 
der  Kassationshof  von  Paris  durch  Urteil  vom  8.  Messidor 
und  10.  Nivose  XIII,  daß  jenes  Dekret  keine  Rückwirkung 
in  sich  enthielte.  Zu  einer  lebhaften  Kontroverse  hat  dieselbe 
Frage  vor  dem  rheinischen  Appellationsgerichtshofe  zu  Köln 
und  dem  rheinischen  Revisions-  und  Kassationshofe  zu  Berlin 
Anlaß  gegeben.  Durch  sieben  Urteile  (vom  30.  Juni  und  3.  Juli 
1823,  29.  April  und  19.  Juni  1824,  11.  Februar  1825,  9.  April 
1829  und  16.  Juli  1830)  erklärte  sich  der  rheinische  Appel- 
lationsgerichtshof zu  Köln  —  in  Fällen,  in  welchen  der  Tod 
des  Vaters  nach  Einführung  des  Code  Napoleon  eingetreten 
war  —  für  die  Aufrcchtcrhaltung  des  Devolutionsrechtes  der 
Kinder  erster  Ehe.  Der  rheinische  Revisions-  und  Kassations- 
hof zu  Berlin  dagegen  entschied  durch  seine  Urteile  vom  15.  Fe- 
bruar 1826  (Rheinisches  Archiv,  8,  2,  45),  vom  28.  Februar 
1832  (Rheinisches  Archiv,  16,  2,  9)  und  vom  11.  Dezember 
1843  (Rheinisches  Archiv,  37,  2,  3).  unter  Kassation  jener 
Urteile  des  Kölner  Appcllhofes,  daß  die  Kinder  zweiter  Ehe 
zur  Teilung   zuzulassen   seien.    Diese   Entscheidung   ist   richtig. 

341 


auf,  daß  bei  der  Aufhebung  solcher  Rechtsinstitute,  die 
sich  auf  fortwährende  Rechtsverhältnisse  beziehen,  eine 
, .wahre,  vollständige  Entschädigung  des  Berechtig- 

Sieht  man  aber  auf  die  vom  Revisionshof  angegebenen  Gründe, 
so  ist  die  Unhaltbarkeit  derselben  einleuchtend.  Der  Revi- 
sionshof sagt,  die  Güter  devolvierten  erst  dann  an  die  Kinder 
erster  Ehe,  wenn  nach  einer  von  dem  Überlebenden  ihrer  Eltern 
eingegangenen  zweiten  Ehe  die  in  der  ersten  Ehe  erzeugten 
Kinder  jenen  Überlebenden  überlebten.  Es  könne  daher  erst 
beim  Absterben  des  in  Rede  stehenden  Ehegatten  beur- 
teilt werden,  ob  eine  Vinkulation  stattfinde,  und  folg- 
lich erlangten  die  Kinder  erster  Ehe  erst  durch  dieses  Ab- 
sterben auch  des  zweiten  Ehegatten  ein  erworbenes  Recht. 
Ebenso  nennt  der  Pariser  Kassationshof  die  Devolution  ,,une 
simple  expectative".  Allein  ganz  abgesehen  davon,  daß  sich 
einzelne  Coutumen  ausdrücken,  wie  z.  B.  die  von  Laleu.  Art.  28 : 
,,dans  le  cas  d  entravestissement  de  sang,  la  propriete  de  tous 
les  heritages  sujets  au  dit  echevinage  et  appartenage  et  ap- 
partenans  aux  epoux  au  deces  du  premier  mourant,  sera  devolue 
et  appartiendra  aux  enfants,  issus  du  manage  et  au  dernier 
vivant  d'iceux,  pour,  apres  le  trepas  du  survivant,  etre  l'iisufruit 
reuni  ä  la  propriete"  (ebenso  die  Coutume  von  Lüttich,  Kap.  11, 
Art.  15),  was  freilich  nicht  die  Regel  ist,  so  ist  doch  jedenfalls 
nicht  zu  bestreiten,  daß  die  Vinkulation  sofort  vom  Tode 
des  ersten  Ehegatten  an  vorhanden  war,  da  von  diesem 
Augenblick  an  der  Überlebende  die  Güter  nicht  mehr  veräußern 
noch  beschweren  kann  und  er  auch  von  diesem  Augenblick  ab 
als  „proprietaire  bridt?"  qualifiziert  wurde  (siehe  Stockmans 
de  jure  Devolutionis,  Kap.  5,  Nr.  1;  Kap.  6,  Nr.  4).  Sohet, 
in  seinen  Inst,  de  droit  pour  le  pays  de  Liege,  I,  271  fg., 
vergleicht  das  Devolutionsrecht  der  Kinder  sehr  richtig  ä  un 
fidäcommis  '  conditionnel  qui  s'evanouit  s'ils  meurent  avant  le 
parent.  Die  Ansicht  des  Revisionshofes  stützt  sich  darauf,  daß, 
wenn  der  Vater  die  Güter  veräußert,  diese  Veräußerung  gleich- 
wohl nicht  schlechthin  nichtig  ist,  sondern  gültig  wird,  wenn 
die  Kinder  vor  ihm  —  ohne  Rücklassung  von  Kindern  —  ster- 
ben.   Allein    hieraus   kann   man   durchaus   nicht    schließen,   daß 

342 


ten"  geleistet  werde.  „Jeder  wahre  politische  oder  volks- 
wirtschaftliche Zweck,"  sagt  er,  ,,wird  durch  die  Ablösung 
mit  Entschädigung  vollständig  erreicht,  ohne  Bereicherung 


erst  die  Zeit  des  Todes  zeige,  ob  Vinkulation  vorhanden  war. 
Diese  war  jedenfalls  vorhanden  und  die  ungültige  Ver- 
äußerung konvalesziert  nur  nachträglich,  wenn  die 
Kinder  kinderlos  vor  dem  Vater  sterben.  Wenn  der  römische 
Ehemann  Dotalgrundstücke  veräußert,  so  ist  dies  eine  durchaus 
nichtige  Handlung.  Allein  wenn  ihm  späterhin  die  ganze  Dos 
zufällt,  so  konvalesziert  die  Veräußerung  von  selbst  und  es 
braucht  auch  nicht  einmal  Wiederholung  der  früheren  Tradition 
einzutreten  (L.  42  de  usurp.,  41,  3).  Deshalb  wird  niemand 
behaupten  wollen,  daß  die  Vinkulation  der  Dos  erst  bei  Auf- 
lösung der  Ehe  beurteilt  werden  könne,  und  ebensowenig  be- 
zweifeln, daß  die  Unveräußerlichkeit  der  Dos  ein  erworbenes 
Recht  der  Frau  bilde.  Sogar  wenn  ein  Nichteigentümer 
eine  Sache  veräußert  und  später  das  Eigentum  an  ihr  erwirbt, 
konvalesziert  dadurch  die  Veräußerung  ohne  eine  Tradition  von 
selbst  (L.  eadem.,  L.  4,  §  32,  de  doli  exe,  44,  4).  Ebenso 
wird  die  ungültige  Veräußerung  der  lucra  propter  nuptias  nach- 
träglich gültig,  wenn  sämtliche  Kinder  erster  Ehe  vor  dem 
Vater  sterben  (Nov.  22,  c.  26). 

Es  ist  also  nicht  wahr,  was  der  Berliner  Revisions-  und 
Kassationshof  sagt,  daß  sich  erst  zur  Zeit  des  Todes  beurteilen 
lasse,  ob  Vinkulation  vorhanden  gewesen  sei.  Diese  war  jeden- 
falls vorhanden  gewesen,  ein  Gewesensein,  welches  auf 
Grund  späterer  Gesetze  oder  Facta  leugnen  zu  wollen,  die 
Blüte  einer  in  Verlegenheit  gesetzten  Sophistik  ist.  Es  ist 
ebenso  nicht  wahr,  was  der  Pariser  Kassationshof  sagt,  daß 
das  Recht  der  Kinder  eine  „bloße  Erwartung"  bildet.  Es  bildet 
vielmehr  ein  in  jure  irrevokables  Recht,  welches  nur 
unter  bestimmten  faktischen  Bestimmungen  fortfallen  soll, 
ein  Recht,  das  daher  mindestens  ganz  so  erworben  und 
unwiderruflich  ist  wie  das  eines  bedingten  Ve  r  - 
träges,  in  welchem  das  Recht  sogar  erst  von  dem  Ein- 
treten bestimmter  faktischer  Ereignisse  abhängig  gemacht  wird. 
Aber    das    Devolutionsrecht    begründet    nicht    (außer    in    jener 

343 


des  einen  Teils  auf  Kosten  des  andern,  die  durch  die 
Natur  solcher  Gesetze  auf  keine  Weise  zu  rechtfer- 
tigen ist." 

Auf  diese  allgemeine  Behauptung  muß  zunächst  erwi- 
dert werden,  daß  es  gar  keinen  größeren  Irrtum  gibt, 
als  diese  Annahme  eines  angeblichen  Rechtes  auf  Ent- 
schädigung in  den  gedachten  Fällen. 

Dies  ergibt  sich  mit  unvermeidlicher  logischer  Not- 
wendigkeit aus  der  von  uns  entwickelten  Theorie.  Das 
Recht  konnte  selbst  durch  Vertrag  von  Haus  aus  von  dem 
Individuum  mit  Gültigkeit  nur  stipuliert  werden  b  i  s  z  u 
dem  Tage,  wo  das  allgemeine  Dasein  eines  solchen 
Rechtes  auf  ein  es  negierendes  und  für  unmöglich  er- 
klärendes Bewußtsein  des  öffentlichen  Geistes  stoßen 
würde.  Das  Recht  hat  gegolten,  solange  es  gelten  konnte 
und  sollte.  Jener  Tag  des  Verhängnisses,  der  Tag  der 
von  Haus  aus  dem  Akte  vorherbestimmten  Notwendig- 
keit, ist  nun  eingetreten  —  und  alles  ist  gesagt ! 

Ausnahme-Coutume  von  Laleu  usw.,  wo  allerdings  auch  anders 
entschieden  werden  müßte)  einen  aktuellen  Übergang  des 
Eigentums  der  Güter  vom  Vater  auf  die  Kinder,  sondern  ein 
erworbenes  Recht  auf  Erbschaft  für  die  letzteren  (wie 
im  älteren  deutschen  Rechte  das  Recht  der  nächsten  Erben 
ein  solches  war).  Der  prohibitive  Geist  des  neuen  französischen 
Rechtsbewußtseins  war  aber  eben  der:  Erworbenes  Recht 
auf  Sukzession  soll  überhaupt  nicht  sein,  sondern  diese 
nur  vom  Gesetz  verliehen  werden  können  (weswegen  z.B. 
auch  die  Erbverträge  aufgehoben  und  im  Art.  1389  des  Code 
civil  den  Ehegatten  verboten  wurde,  in  den  Ehepakten  ab- 
weichende Bestimmungen  über  die  legale  Sukzession  der  Kinder 
zu  treffen),  in  specie :  Vorzugsrecht  in  der  Sukzession  zwischen 
den  Kindern  desselben  Vaters  oder  derselben  Mutter  solle  nicht 
sein  können,  —  und  darum  also  wich  von  jetzt  ab  auch 
das  erworbene  Recht  auf  Erbschaft  als  ein  nur  bis  dahin 
erworbenes. 

344 


Die  Grenze,  bis  zu  welcher  das  Recht  gelten 
sollte  und  konnte,  ist  erreicht,  und  es  ist  daher  hier 
logisch  und  juristisch  weder  Raum  noch  Grund  denk- 
bar für  eine  Entschädigung.  —  Es  gibt  hier  nichts  zu 
entschädigen.  Denn  es  ist  hier  dem  einzelnen  nichts  ge- 
nommen worden,  was,  wie  bei  der  Expropriation,  noch 
ferner  als  ein  rechtmäßiges  Eigentum  aner- 
kannt würde.  Ein  Recht  der  Entschädigung  dennoch 
annehmen,  da,  wo  der  Inhalt  des  aufgehobenen  Rechtes 
vom  öffentlichen  Bewußtsein  bereits  prohibiert,  d.  i. 
als  widerrechtlich  bestimmt  ist,  hieße  vermöge  der  Kraft 
der  Logik  gar  nichts  Geringeres,  als  Klassen  oder 
Individuen  das  Recht  zusprechen:  dem  öffent- 
lichen Geiste  einen  Tribut  für  seine  Fort- 
entwickelung aufzuerlegen,  hieße  also  nichts 
anderes,  als  ein  tributpflichtiges  Hörigkeits-  oder  Abhän- 
gigkeitsverhältnis des  öffentlichen  Geistes  von  jenen  be- 
rechtigten Klassen  oder  Individuen  annehmen.   — 

So  unzerbrechlich  und  genügend  diese  streng  logische 
Folgerung  ist,  so  würde  doch  das  Gesagte  zu  ebenso 
großen  Irrtümern  Anlaß  geben  können  wie  die 
Worte  Savignys  nach  der  entgegengesetzten  Seite  hin,  wenn 
nicht  noch  ein  hierbei  in  Betracht  kommender  Unter- 
schied dargelegt  würde,  der  freilich  nie  außer  Augen 
verloren  werden  darf. 

Es  ist  hier  also  der  Ort,  die  Theorie  der  Ent- 
schädigung bei  Aufhebung  bestehender  Rechte  durch 
Prohibitivgesetze  im  öffentlichen  wie  im  Privatrecht  zu 
entwickeln,  welche  die  bisherige  Unklarheit  hierüber  be- 
seitigen und  sich  als  die  immanente  Folge  oder  viel- 
mehr nur  als  eine  nähere  identische  Anwendung 
desselben  Begriffes  herausstellen  wird,  durch  den 
sich    uns   auch    die    Aufhebung   der    bestehenden    Rechte 

345 


selbst,  bei  einer  negativen  Gestaltung  des  allgemeinen 
Bewußtseins,  als  notwendiger  Ausfluß  der  Rechtsidee  er- 
geben hat. 

Man  muß  nämlich  genau  darauf  achten,  was  durch 
den  neuen  geistigen  Inhalt  des  Bewußtseins  wirklich 
prohibiert  und  ausgeschlossen  wird:  ob  das 
Rechtsverhältnis  selbst  oder  nur  ein  bestimm- 
ter Modus  seiner  Ausübung. 

Dies  bedarf  einer  schärferen  Entwickelung. 

Ein  Recht  qualifiziert  sich  juristisch  nicht  bloß  durch 
den  Eigentumsinhalt  oder  die  Forderung,  auf  die  es 
einen  Anspruch  gewährt,  sondern  ebenso  auch  durch  die 
Beschaffenheit  des  Rechtstitels  selbst,  aus  welchem 
der  Anspruch  fließt.  Erst  beides  zusammen  quali- 
fiziert das  wirkliche  bestimmte  Recht.  Ich  kann  dieselbe 
Summe  Geldes,  dasselbe  Quantum  Naturalien,  dieselben 
Dienstleistungen  zu  fordern  haben.  Aber  es  fragt  sich,  ob 
ich  sie  auf  einen  Kauf-  oder  Nutznießer,  oder  emphyteu- 
tischen  Titel  usw.,  auf  einen  Titel  kontraktlicher  oder 
gesetzlicher  Nutznießung,  auf  einen  dinglichen  oder  obli- 
gatorischen, auf  einen  lästigen  oder  unentgeltlichen  Titel 
usw.  zu  fordern  habe.  Die  juristische  Bestimmtheit 
des  wirklichen  Rechtes  tritt  also  erst  durch  die  Hinzu- 
nahme  des  Rechtsgrundes  zu  dem  Inhalt  und 
Objekt  des  Rechtes  hervor. 

Ist  nun  die  negative  Wendung  des  neuen  Bewußtseins 
die  totale,  daß  nach  ihm  einerseits  ein  bestimmtes 
dingliches  oder  obligatorisches  Recht  von  seiner  Fortexi- 
stenz ausgeschlossen  ist  und  andererseits  zugleich  aus 
diesem  Rechtsgrunde  (z.  B.  aus  herrenschaftlichen 
Rechten)  überhaupt  keinerlei  Recht  auf  den 
Gegenstand  des  bisherigen  Rechtes  mehr 
entstehen   können   soll,    —   so   tritt   die  oben  ent- 

346 


wickelte  Folge  ein,  und  von  Entschädigung  kann  nicht 
die  Rede  sein. 

Geht  aber  die  Prohibition  des  neuen  Bewußtseins  nur 
s  o  weit,  daß  aus  diesem  Rechtsgrunde  allerdings 
noch  Rechte,  und  zwar  auch  Rechte  auf  das  bisherige 
Rechtsobjekt  (resp.  auf  ein  Rechtsobjekt  dersel- 
ben Art1)  entstehen  können  sollen,  nur  nicht  die  be- 
stimmte bisher  gewählte  Art  der  Rechtsbefrie- 

*)  So  wird  z.  B.  bei  der  Expropriation  eines  Terrains  zum 
Zweck  öffentlicher  Bauten  zwar  das  bestimmte  bisherige  Rechts- 
objekt selbst  publiziert,  aber  nur  das  einzelne  zufällige 
Exemplar,  nicht  die  Art  dieses  Rechtsobjektes.  Grundstücke 
können  noch  weiter  erworben  werden  und  im  Privateigentum  sein. 
Eben  deshalb  muß  Entschädigung  gezahlt  werden.  Aber  selbst 
hier  ist  die  Entschädigung  bloßer  Schein  und  löst  sich,  ganz  in 
Gemäßheit  des  im  Text  sofort  weiter  Gesagten,  auf  in  eine 
Umwandlung  des  Eigentums  an  dem  Grundstück  aus  seiner 
prohibierten  in  seine  noch  unprohibierte  Form.  Das 
Eigentum  an  jeder  Sache  umfaßt  (vgl.  hierüber  oben  Note  3 
zu  S.  184)  zweierlei:  erstens  das  Eigentum  an  ihrer  singu- 
lären  Existenz  (Nutzbarkeit),  zweitens  das  Eigentum 
an  ihrem  allgemeinen  Tauschwert.  Das  Grundstück,  das 
zum  Zwecke  öffentlicher  Bauten  expropriiert  wird,  ist  seiner 
singulären  Existenz  nach  publiziert;  insoweit  ist  das  Pri- 
vateigentum daran  aufgehoben,  und  hierfür  wird  auch  keine 
Entschädigung  gezahlt ;  denn  das  pretium  merae  cffectionis  wird 
von  den  Expropriationsgesetzen  nicht  gegeben.  Sachen  derselben 
Art  und  Gattung  (Grundstücke)  können  aber  noch  Privat- 
eigentum sein.  Die  Art  ist  das  Allgemeine  der  individuellen 
Sache.  Da  also  das  Allgemeine  derselben  noch  nicht 
publiziert  ist,  Privateigentum  daran  noch  ferner  anerkannt  wird. 
so  muß  dem  Einzelnen  das  in  dem  speziellen  Grundstück  für 
ihn  vorhandene  Eigentum  an  dem  allgemeinen  Charakter 
der  Sache  auch  gelassen,  d.h.  der  allgemeine  Tausch- 
wert entrichtet  werden,  was  somit  gleichfalls  nur  eine 
Überleitung  des  prohibierten  Eigentums  in  die  noch  unprohi- 
bierte   Form    desselben    darstellt. 

347 


d  i  g  u  n  g  wegen  besonderer  Schädlichkeit  oder  Unstatt- 
haftigkeit  derselben  (z.  B.  keine  dinglichen  Rechte  mehr, 
wohl  aber  obligatorische  usw.).  —  so  muß  nun  allerdings 
eine  Umwandlung  eintreten.  Diese  kann  und  wird 
oft  die  Form  einer  Entschädigung  haben.  Aber 
dies  ist  nur  ihre  täuschende  Außenseite.  In  der  Tat  ist 
sie  nur  eine  Umwandlung,  d.  h.  eine  Überleitung 
des  noch  als  wirksam  anerkannten  Rechtsinhaltes  aus 
der  prohibierten  Art  seiner  Befriedigung  in  seine 
un prohibierte.  Diese  Umwandlung  muß  eintreten 
und  zwar  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  ja  nicht  mehr 
aufgehoben  werden  darf,  als  durch  die  Anschauung  des 
neuen  Rechtsbewußtseins  wirklich  prohibiert  ist. 
Wenn  also  im  öffentlichen  Bewußtsein  noch  nicht  pro- 
hibiert ist,  daß  aus  diesem  bestimmten  Rechtsgrunde 
Ansprüche  überhaupt,  und  zwar  Ansprüche  an  dies  be- 
stimmte Objekt  des  Rechtsverhältnisses,  hervorgehen, 
so  muß,  indem  die  Prohibition  nicht  weiter  geführt  wer- 
den darf,  als  sie  eben  reicht,  die  Überleitung  aus 
der  jetzt  unerlaubt  gewordenen  in  eine  noch  erlaubte 
Form  jenes  noch  als  wirksam  angeschauten  Rechtsinhaltes 
vor  sich  gehen.  Von  einer  Entschädigung  als  solcher 
ist  dabei,  auch  wenn  sie  in  Geld  gezahlt  wird,  in  Wahr- 
heit gar  nicht  die  Rede.  Es  wird  bloß  nicht  mehr 
unterdrückt,  als  eben  durch  den  jetzigen  Stand  des 
öffentlichen  Geistes  unterdrückt  werden  soll,  und  so- 
mit tritt  logisch  von  selbst,  bloß  durch  die  Nicht  - 
prohibition,  die  in  dieser  Hinsicht  vorliegt,  der  er- 
laubte Modus  der  Befriedigung  an  Stelle  des  pro- 
hibierten, Abgabe  vom  Reinertrag  an  Stelle  der  Ab- 
gabe vom  Rohertrag,  Geldabgabe  an  Stelle  der  Natural- 
abgabe usw. 

Es  ist  zunächst  erforderlich,  das  Gesagte  durch  kon- 

348 


krete  Beispiele  zu  größerer  Anschaulichkeit  zu  bringen. 

Die  konstituierende  Versammlung,  welche  im  Jahre 
1789  in  Frankreich  zusammentrat,  fand  in  dem  bis  dahin 
herrschenden  Feudalsystem  und  den  Lasten,  Diensten  und 
Abgaben  aller  Art,  durch  welche  es  die  Freiheit  der 
Personen  und  des  Eigentumes  fesselte,  zwei  große  und 
prinzipiell  verschiedene  Gattungen  dieser  Rechte  vor.  Die 
einen  dieser  Lasten,  Dienste,  Abgaben,  Verpflichtungen 
und  Beschränkungen  aller  Art  waren  hervorgegangen  aus 
der  herrenschaftlichen  Gewalt,  welche  früher  den  adeligen 
Grundeigentümern,  religiösen  Orden  und  Stiftungen  der 
leibeigenen  und  hörigen  Bevölkerung  gegenüber  zuge- 
kommen war,  und  wurzelten  somit  ursprünglich  im  reinen 
Personenrecht.  Die  anderen  waren  auch  ursprünglich  gegen 
eine  Verleihung  von  Grund  und  Boden,  also  auf  lästigen 
Titel,  von  den  Grundherren  erworben  worden. 

Was  nun  die  Rechte  der  ersten  Gattung  anbetraf,  so 
war  die  neue  Anschauung  des  Bewußtseins  eben  die,  daß 
persönliche  Oberherrlichkeit,  und  rechtlicher  Unterschied 
der  Person  überhaupt,  nicht  mehr  sein  solle,  daß  aus 
dem  Personenunterschied  kein  Recht  mehr  hervorfließen 
solle.  —  Indem  daher  die  Prohibition  des  Geistes  sich 
ebensowohl  abolierend  gegen  das  Fortbestehen  dieses  be- 
stimmten Rechtsinhaltes  als  gegen  den  Rechtsgrund 
dieser  Verhältnisse  überhaupt  wandte  und  diesen  als  nicht 
mehr  rechtlich  wirksam  anschaute,  mußte  die  Pro- 
hibition die  totale  sein.  Da  dieser  Rechtsgrund 
selbst  keinerlei  Wirkung  mehr  haben  können,  keiner- 
lei Recht  mehr  aus  ihm  entstehen  können  sollte,  so  konnte 
das  Recht  auch  nicht  bloß  die  Form  wechseln  und  ein 
Recht  an  Stelle  des  anderen  treten. 

Hier  war  daher  auch  für  eine  Entschädigung  gar 
keine  logische  Möglichkeit  vorhanden.    Denn  durch  jede 

349 


solche  wäre  gerade  als  rechtlich  fortwirkend  gesetzt 
und  anerkannt  worden,  was  aus  dem  tiefsten  Inneren  des 
öffentlichen  Geistes  heraus  als  Unrecht  und  als  absolut 
wirkungslos  bestimmt  war. 

Ganz  anders  verhielt  es  sich  mit  der  zweiten  Klasse 
von  Rechten,  die  ursprünglich  gegen  eine  Verleihung 
von  Grund  und  Boden,  also  auf  lästigen  Titel1), 
stipuliert  worden  waren. 

Daß  aus  solchem  Rechtsgrunde  Rechte  stipuliert  wer- 
den konnten,  sowohl  irgendein  Anteil  an  dem  Ertrag  des 
Grundstückes,  als  auch  Rechte  auf  Dienstleistungen 
der  Personen,  denen  dafür  Werte  abgetreten  worden  waren, 

!)  Unter  lästigem  Titel  können  niemals  verstanden  werden 
diejenigen  Lasten,  welche  vom  Berechtigten  schon  deshalb  über- 
nommen werden  müssen,  um  die  bloße  Fortdauer  des  ihm 
eingeräumten  Genusses  zu  sichern.  Diese  bilden  kein  Äqui- 
valent für  die  Einräumung  des  Rechtes,  sondern  bloß  eine 
notwendige  Last  der  Erhaltung  desselben.  Es  heißt  daher 
in  dieser  Hinsicht  äußerst  richtig  im  Art.  24,  Tit.  2  des  Gesetzes 
vom  15.  März  1790:  „Sont  exceptees  de  la  suppression  ci_- 
dessus  et  seront  rachetables :  .  .  .  .  2)  les  banalites  qui  seront 
prouvees  avoir  ete  etablies  par  une  Convention  souscritepar 
une  communaute  d'habitants  et  son  seigneur,  et  par  laquelle 
le  seigneur  aura  fait  ä  la  communaute  quelque  ovantage  de 
plus  que  de  s'obliger  ä  tenir  perpetuellement  en  etat  les  moulins, 
fours  ou  autres  objets  banaux." 

Ebenso  kann  ein  Titel,  der  vielleicht  ursprünglich  lästig  war. 
zu  einem  nicht  mehr  lästigen  werden,  indem  die  Last  des- 
selben in  darin  stipulierten  fortwährenden  Gegenleistungen  und 
Diensten  bestand,  welche  durch  die  geänderte  Natur  der  Ver- 
hältnisse untunlich  oder  unzulässig  geworden  smd  (wie  z.  B. 
die  mittelalterlichen  Ritterdienste  der  adeligen  Grundherren  in 
Preußen  oder  der  von  ihnen  den  bäuerlichen  Hofinsassen  zu- 
gesicherte Schutz  usw.).  Er  ist  dann  von  da  an  notwendig  zu 
einem  nicht  lästigen  Titel  geworden  und  als  solcher  zu  be- 
handeln 

350 


daß  also  Rechte  aus  solchem  Rechtsgrunde  hervor- 
gehen, und  zwar  auf  dieselben  Rechtsobjekte  her- 
vorgehen konnten  —  dies  war  durch  das  neue  Bewußtsein 
nicht  prohibiert.  Vielmehr  durften  fortwährend  von 
neuem  auf  entgeltlichen  Titel  Reallasten  und  obliga- 
torische Rechte  auf  menschliche  Handlungen  geschaffen 
werden.  Nur  der  bestimmte  Modus  der  vorgefundenen 
Rechte,  nur  die  gewählte  Art  der  Rechtsbefrie- 
digung jener  an  sich  noch  immer  zulässigen  Rechte,  war 
aus  verschiedenen  Gründen  durch  das  neue  Rechtsbewußt- 
sein des  Volkes  prohibiert.  So  boten  z.  B.  die  Zehenten 
den  großen  Übelstand  dar,  daß  sie  als  eine  Abgabe  vom 
Rohertrage  die  Amelioration  des  Bodens  hinderten  usw. 

Alle  diese  Realabgaben  und  ebenso  die  für  Grund- 
verleihungen auferlegten  persönlichen  Dienste  (corvees 
reelles)  waren  insoweit  durch  den  Inhalt  des  gegen- 
wärtigen Geistes  prohibiert,  daß  sie  in  aeternum  eine  be- 
stimmte und  auf  ewig  für  unablösbar  erklärte  Art  von  ge- 
wissen Naturalabgaben  oder  Dienstleistungen  auferlegten. 
Sie  beschränkten  so  die  freie  Benutzung  des  Grundeigen- 
tumes und  brachten,  indem  sie  zu  einer  stationären  Be- 
bauung desselben  zwangen,  eine  künstliche  Verminderung 
des  Bodenertrages  und  eine  Verarmung  des  Volkes  hervor. 

Sie  verletzten  ebenso  den  jetzt  zum  Bewußtsein  ge- 
kommenen nicht  weniger  imperativen  Grundsatz,  die  per- 
sönliche Freiheit  des  Menschen  nicht  auf  ewig  zu  einer 
bestimmten  Art  von  Handlungen  verpflichten  und  ihn  der 
Freiheit  berauben  zu  können,  sich  durch  eine  Restitution 
des  Wertäquivalentes  (Ablösung)  der  übernommenen  Ver- 
pflichtung zu  bestimmten  Diensten  oder  auch  zur  Ver- 
zinsung fremder  Werte  zu  entziehen1). 

1)  Weshalb  im  Gesetz  vom  18.  Dezember  1790  verholen 
wurde,   de  ne  plus   ä  l'avenir  creer  aueune  redevance   fonciere 

351 


Was  somit  jetzt  wirklich  durch  den  Fortschritt  des 
Geistes  prohibiert  war,  war  hier  nicht  das  Recht  selbst, 
sondern  überhaupt  bloß  seine  Unablösbarkeit,  war 
nicht  die  Substanz  des  Rechtes,  sondern  nur  der  be- 
stimmte Modus  der  Befriedigung  desselben,  der  in 
jenen  Verträgen  gewählt  worden  war. 

Indem  nun  also  natürlich  nicht  mehr  aufgehoben 
werden  konnte,  als  durch  den  Inhalt  des  Bewußtseins  ge- 
boten war,  mußte  und  konnte  nur  die  Unablösbarkeit 
solcher  Rechte,  nicht  diese  selbst,  aufgehoben  werden. 
Dies  gab  somit  von  selbst  ihre  Ablöslichkeit,  die  so- 
mit nur  scheinbar  als  eine  Entschädigung  für  ein 
Prohibiertes,  in  der  Tat  aber  nur  der  logisch-not- 
wendige Fortbestand  des  noch  nicht  Prohibierten 
war. 

Hätte  man  hier  weiter  gehen  und  jene  Rechte,  weil 
siealsunablösbare  auf  ewige  Zeiten  konstituiert  waren, 
aus  dem  Grunde  einfach  unterdrücken  wollen,  weil  das 
neue  Bewußtsein  solche  Rechte  nicht  mehr  anerkenne, 
so  wäre  hier  allerdings  Rückwirkung  eingetreten.  Denn 
wenn  das  Individuum  sich  im  voraus  unterwirft  und  unter- 
werfen muß  dem  Erlöschen  seines  Rechtes  von  dem  Zeit- 
punkt an,  wo  das  öffentliche  Bewußtsein  —  dieser  ein- 
zige wahrhafte  Rechtsboden  —  einen  bestimmten  Rechts- 
inhalt als  substantiell  nichtig  anschauen  wird,  so  unter- 
wirft sich  das  Individuum  deshalb  doch  nicht  der  mate- 
riellen Abolition  seines  Rechtes  für  den  Fall,  wo  nicht 
die  Substanz,  sondern  nur  eine  bestimmte  Befriedigungs- 
art desselben  vor  den  Augen  des  neuen  Gesetzgebers 
nichtig  ist  und  übergehen  muß,  also  z.  B.  Unablöslichkeit 

non  remboursable,  was  dann  zu  dem  ganz  allgemeinen  in  den 
Code  übergegangenen  Grundsatz  führte:  chaque  rente  perpe- 
tuelle  est   essentiellement   remboursable. 

352 


in  Ablöslichkeit  oder  Naturalabgabe  in  Geldabgabe  usw. 
Wenn  hier  statt  dessen  die  gänzliche  Unterdrückung  er- 
folgt wäre,  weil  die  bloße  Formbestimmtheit,  in  der 
das  Recht  konstituiert  wurde,  nicht  fortdauern  kann,  so 
würde  das  Individuum  hier  allerdings  den  Vorwurf  gegen 
den  Gesetzgeber  erheben  können :  es  würde,  falls  jene 
Form  des  Rechtes  bei  der  Konstituierung  desselben  unter- 
sagt gewesen  wäre,  die  andere  noch  jetzt  erlaubte 
Form  sich  stipuliert  haben,  und  dieser  Vorwurf  würde 
eine  wirkliche  Rückwirkung  in  sich  einschließen,  wie 
wir  im  Verlauf  noch  tiefer  sehen  werden.  Im  ersten  Falle 
aber  kann  das  Individuum  diesen  Vorwurf  nicht  erheben, 
weil  ja  auch  in  keiner  anderen  gewählten  Form  das 
absolut  unzulässig  und  substantiell  nichtig  gewordene  Recht 
länger  hätte  kontinuiert  werden  können. 

Oder  mit  anderen  Worten.  Wenn,  wie  wir  als  das 
Gesetz  der  Sache  gesehen  haben,  jedem  Vertrage  die  still- 
schweigende Stipulation  hinzuzudenken  ist,  daß  das  in 
ihm  konstituierte  Recht  so  lange  dauern  solle,  solange 
nur  dasselbe  dem  allgemeinen  Geiste  als  rechtlich  mög- 
lich und  somit  als  nicht  prohibiert  erscheinen  wird,  so  ist 
nun  ebendeshalb  für  diesen  Fall  der  Prohibition  dem  Ver- 
trage notwendig  auch  noch  die  andere  stillschwei- 
gende  Stipulation   hinzuzudenken :    daß 

solange  aus  diesem  Rechtsgrunde  und  an  diesem 
Rechtsobjekt  überhaupt  noch  ein  Rechtsanspruch  von 
neuem  erworben  werden  kann  und  somit  als  rechtlich 
möglich  anerkannt  werden  wird,  das  vom  Individuum 
sich  konstituierte  Recht  in  jeder  anderen  Form 
und  Bestimmtheit  fortbestehen  sol[e,  welche 
vor  dem  Bewußtsein  des  neuen  Gesetzgebers 
noch  als  zulässig  erscheinen  wird;  d.h.  also 
In  jeder  Form,  in  welcher  aus  diesem  Rechtsgrunde 

23  LbmJIb,  Gci   S.Lrlft«    IW1  IX.  353 


und  auf  dieses   Rechtsobjekt  auch  noch  nach  dem 

neuen  Gesetze  Rechte  neu  erworben  werden  können1). 

Und  die  Verletzung  dieser  stillschweigenden  Kon- 
traktsstipulation,  welche  die  konsequente  Abstufung  jener 
ersten  ist,  deren  notwendiges  und  stillschweigendes  Dasein 
allein  die  Rückwirkung  ausschließt,  würde  somit  in  der 
Tat  eine  wirkliche  Rückwirkung  in  sich  tragen. 

Wir  werden  so  von  allen  Seiten  immer  wieder  auf 
unseren  systematischen  Gedanken  zurückgeführt  und  sehen, 
wie  derselbe  die  Kraft  hat,  die  begrifflichen  Unterschiede 
der  Materie  aus  sich  zu  erzeugen. 

Ganz  so  nun,  wie  wir  es  hier  als  notwendig  aus  dem 
Begriffe  fließend  nachgewiesen  haben,  verfuhren  die  fran- 
zösischen Versammlungen  der  Revolutionszeit,  indem  sie 

*)  Wie  sehr  die  von  uns  entwickelte  Überleitung  des  Rechtes 
in  seine  noch  unprohibierte  Gestalt  als  die  wahrhafte  logische 
Idee  der  Sache  hervortritt,  in  Rechtsgebieten,  in  denen  von  Ent- 
schädigung gar  keine  Rede  sein  kann,  mag  beispielsweise 
an  dem  Gesetz  vom  8.  Mai  1816  gezeigt  werden,  durch  welches 
die  Restauration  in  Frankreich  die  Ehescheidung  aufhob.  Klagen 
auf  Trennung  von  Tisch  und  Bett  (separahon  de  corps)  blieben 
zulässig.  Infolge  dessen  verfügte  der  Art.  2  des  Gesetzes,  daß 
alle  hängigen  Scheidungsklagen  und  —  da  unter  dem  Code  civil 
die  Scheidung  vom  Richter  nur  zugelassen  und  erst  vom  Zivil- 
standesbeamten ausgesprochen  wird  —  alle  bereits  erlassenen, 
aber  noch  nicht  exekutiven  Scheidungsurteile  in  Separations- 
klagen und  Separationsurteile  umgewandelt  sein  sollten. 
—  Scheidung  sollte  nicht  mehr  sein  können,  somit  blieb  die 
Separation  als  die  noch  erlaubte  Form  der  Trennung,  obgleich 
nicht  hierauf  geklagt  und  erkannt  worden  war  und  für  die 
Separationsklage  andere  Formen  als  für  die  Scheidungs- 
klage galten.  Aber  da  auch  jetzt  noch  auf  Separation  geklagt 
werden  konnte,  hätte  es  geheißen,  die  Gültigkeit  individueller 
Handlungen  rückwirkend  vernichten,  wenn  man  diejenigen,  die 
ein  Scheidungsurteil  erlangt  hatten,  jetzt  hätte  nötigen  wollen, 
von  neuem  auf  Separation  zu  klagen. 

354 


mit  der  wahrhaften  Logik  des  Begriffes  alle  Lasten, 
Rechte  und  Beschränkungen  der  ersten  Klasse  für  ohne 
weiteres  und  ohne  jede  Entschädigung  aufgehoben,  alle 
solche  aber,  welche  ,,der  Preis  und  die  Bedingung 
einer  ursprünglichen  Verleihung  von  Grund 
und  Boden"  waren,  bloß  für  ablösbar  (rachetable) 
erklärten.  Dies  Prinzip  wird  schon  gleich  in  dem  ersten 
Dekrete  der  berühmten  Augustnacht  angedeutet,  wo  es 
heißt  Art.  1  :  „L'assemblee  nationale  detruit  entierement 
le  regime  feodal  et  decrete  que,  dans  les  droits  et  de- 
voirs  tant  feodaux  que  censuels,  ceux  qui  Hennent  ä  la 
inain-morte  reelle  ou  personnelle  et  ä  la  servitude  per- 
sonnelle  sont  abolis  sans  indemnite'  et  tous  les  autres 
declares  rachetables." 

Zu  seinem  reinen  begrifflichen  Ausdruck  kam  dies  De- 
kret erst  in  dem  ausführenden  Dekrete  derselben  National- 
versammlung vom  15.  März  1790,  wo  es  in  Tit.  3,  Art.  1, 
heißt : 

„Seront  simplement  radietables  et  continueront  d'etre 
paye's  jusqiCau  rachat  effectui  tous  les  droits  et  devoirs 
feodaux  et  censuels  utiles  qui  sont  le  prix  et  la  conditio n 
d'une  concession  primitive  de  fonds(i,  nachdem  in  den  vor- 
hergehenden Titeln  alle  anderen  für  unentgeltlich  aboliert 
erklärt  worden  waren.  Nach  anderen  ausführenden  Ge- 
setzen, vom  3.  Mai,  14.  November,  23.  Dezember  179U 
und  13.  April  1791  gelangte  dies  Prinzip  zu  seiner  wahr- 
haft konsequenten  Durchführung  erst  durch  das  Gesetz 
der  assemblee  legislative  vom  25.  August  1792,  wozu  dann 
später  das  Schlußdekret  des  Konventes  vom  17.  Juli  1793 
kam 1 ) . 

-1)  Von  den  ausführenden  Gesetzen  ist  oben  nur  an  die 
wichtigsten  erinnert  worden ;  andere,  wie  die  vom  28.  Oktober 
1790   über   die   dimes   infeodees,    vom   26.    Juli    1792    über  die 

"•  355 


Untersuchen  wir  nun  beiläufig  von  dem  festgewonnenen 
Standpunkt  unseres  Pnnzipes  aus  das  preußische  Gesetz 
über  die  Regulierung  und  Ablösung  der  gutsherrlichen  und 
bäuerlichen  Verhältnisse  vom  2.  März  1850,  so  sind  es 
traurige   Resultate,   die  sich  uns  ergeben. 

Zwar  erklärt  dieses  Gesetz  in  den  §§  2  und  3  eine  An- 
zahl von  Berechtigungen  für  unentgeltlich  aufgehoben,  ins- 
besondere auch  (§  2,  Nr.  1  und  2)  das  Obereigentum  des 
Lehnsherrn,  des  Guts-  oder  Grundherrn  und  des  Erbzins- 
herrn, desgleichen  das  Eigentum  des  Erbverpächters,  und 
spricht  dem  Erbzinsmann  und  Erbpächter  das  volle  Eigen- 
tum durch  die  bloße  Kraft  des  Gesetzes  zu.    Zwar  scheint 
dies  Gesetz  auch   ganz  direkt  dem  von  uns  aufgestellten 
Prinzip  entflossen  zu  sein,  indem  es  in  §  3,  Nr.  10,  aus- 
drücklich für  ohne   Entschädigung  aufgehoben  erklärt : 
, .die  aus  den  früheren  gutsherrlichen,  schutz- 
herrlichen und  grund herrlichen  Rechten  ab- 
geleiteten und  hergebrachten  Abgaben  und  Leistungen, 
welche,  ohne  zum  öffentlichen  Steuereinkommen  zu  ge- 
hören, die  Natur  der  Steuern  haben" 
und  indem  es  am  Schluß  des  §  3  verordnet : 

..Insofern  jedoch  die  in  diesem  Paragraphen  ge- 
dachten Dienste,  Abgaben  und  Leistungen  für  die  Ver- 
leihung oder  Veräußerung  eines  Grund- 
stückes ausdrücklich  übernommen  worden  sind,  bleibt 
deren  unentgeltliche  Aufhebung  ausgeschlossen." 


droits  casuels  pour  mutation  de  propriete,  vom  17.  und  20. 
August  1 792  über  die  droits  feodaux  fixes  et  casuels,  vom 
28.  August  und  7.  Dezember  1792,  vom  10.  Juni  1793  usw., 
sind  übergangen.  Ebenso  folgten  noch  auf  das  obige  Dekret 
des  Konventes  einzelne  ausführende  und  interpretierende  De- 
krete vom  7.  September  1793,  2.  Oktober  1793,  1.  Brumaire. 
lJ.    Brumaire.    1     Frimaire.  28.    Nivose.   29    Floreal   II   usw. 

356 


Und  gewiß  ist  nach  diesen  beiden  angeführten  Bestim- 
mungen unleugbar,  daß  jener  von  uns  oben  (S.  345 fg.)  in 
allgemeinerer  begrifflichen  Fassung  nachgewiesene  Unter- 
schied bei  diesem  Gegenstande  praktisch  dem  eigenen 
Rechtsgefühl  des  preußischen  Gesetzgebers  nach  dem  Vor- 
gang der  französischen  Versammlungen  zum  Bewußtsein 
gekommen  war. 

Aber  schon  sehr  bedenklich  erscheint  es,  wenn  der 
§  5  verordnet : 

„Die  mit  dem  §  2,  Nr.  1  und  2,  bestimmte  Aufhebung 
des  Obereigentumes  des  Lehnsherrn,  Guts-  oder  Grund- 
herrn und  Erbzinsherrn,  sowie  des  Eigentumes  des  Erb- 
verpächters, hat  nicht  zugleich  die  Aufhebung  der  aus 
diesen    Verhältnissen    entspringenden     Be- 
rechtigungen  auf  Abgaben  oder   Leistungen 
oder  ausdrücklich  vorbehaltene  Nutzungen  zur  Folge  ; 
vielmehr    bleiben    diese    Berechtigungen,    sofern    sie 
nicht  etwa  in  dem  gegenwärtigen  Gesetze  besonders 
für  aufgehoben  erklärt  worden  sind,  fortbestehend." 
Und  hierauf  werden  in  §  6  ,,a  1 1  e  beständigen  Abgaben 
und  Leistungen,  welche  auf  eigentümlich  oder  bisher  erb- 
pachts-   oder  erbzinsweise  besessenen  Grundstücken  oder 
Gerechtigkeiten  haften",  der  Ablösung  unterworfen. 

Nun  läßt  sich  aber  historisch  nicht  leugnen,  und  nichts 
ist  besser  und  wiederholter  nachgewiesen  worden,  als  daß 
besonders  der  Erbzins  häufig  auch  aus  bloßen  Schutz- 
und  Vogt  ei  Verhältnissen  entstanden  ist,  in  die  sich  freie 
Bauern  mit  ihrem  Gute  zu  adeligen  Herren  oder  Stiftern 
begeben  hatten,  ihnen  sehr  häufig  und  durch  bloße  Usur- 
pation und  durch  das  Überhandnehmen  feudaler  Anschau- 
ungen1)  im  Mittelalter  aufgebürdet  worden  ist2). 

1)  Vgl.    z.B.    die   Maxime:   nulle   terre   sans   seigneur. 

2)  Siehe   Anm.   2   zu  S.    359. 

357 


Zwar  wird  man  sagen  können,  daß  der  §  5  jene  Ab- 
gaben und  Leistungen  bloß  insofern  der  Ablösung  unter- 
werfe, ,, sofern  sie  nicht  etwa  in  dem  gegenwärtigen  Ge- 
setze besonders  erklärt  worden  sind",  und  daß  folg- 
lich in  der  vorhin  angeführten  Nr.  10  des  §  3,  welche  alle 
solche  Abgaben  und  Leistungen  unentgeltlich  aufhebe,  die 
lediglich  auf  feudalem  oder  gutsherrlichem  usw.  Nexus 
beruhen,  auch  Erbzins e  usw.  unentgeltlich  aufgehoben 
sind,  insofern  ein  solcher  feudaler  Ursprung 
derselben  nachgewiesen  werden  kann1). 


!)  Sicher  ist  es  übrigens  durchaus  nicht,  daß  man  mit 
dieser  Auslegung  vor  unseren  Tribunalen  durchkommen  würde. 
Denn  hier  würde  gesagt  werden  können,  daß  die  aus  Erb- 
zins-  usw.  Verhältnissen  als  solchen  entspringenden  Berech- 
tigungen ausdrücklich  vom  §  5  für  fortbestehend  erklärt 
werden  und  daher  auf  ihren  besonderen  faktischen  oder  örtlichen 
Ursprung  nicht  zurückgegangen  werden  dürfe;  daß  allerdings 
dieser  Paragraph  auch  bei  Erbzinsgütern  usw.  solche  auf  ihnen 
haftende  Abgaben  ausnehme,  welche  in  dem  Gesetz  „beson- 
ders für  aufgehoben  erklärt  worden  sind"  ;  daß  der  §  3,  Nr.  10. 
aber,  welcher  alle  Berechtigungen  unentgeltlich  aufhebe,  welche 
die  „Natur  von  Steuern  haben",  hierdurch  nur  eine  allge- 
meine Kategorie  aufstelle,  aber  nicht  den  Erbzins  „be- 
sonders" (namentlich)  für  unter  irgendwelchen  Umständen 
aufgehoben  erkläre;  daß  im  Gegenteil  der  Erbzins  als  sol- 
cher in  der  Tat  nicht  die  „Natur  von  Steuern",  sondern  die 
einer  reinen  Reallast  (Grundabgabe)  habe  (vgl.  Allgemeines 
Landrecht,  T.  I.  Tit.  18,  §  680  fg.  und  §  813  fg.),  und  daß 
daher  der  Gegenbeweis,  daß  ein  bestimmter  Erbzins  durch 
seinen  faktischen  und  örtlichen  Ursprung  eine  ähnliche  Natur 
habe,    als    nicht    von   dem    Gesetz    gestattet   zu  betrachten    sei. 

Faßt  man  das  Gesetz  in  dieser  dem  Bauer  den  Gegen- 
beweis des  feudalen  Ursprunges  gegen  die  gesetzliche 
Vermutung  der  Grundverleihung  abschneidenden  Weise 
auf,   so   gilt  dann   auch  in  dieser  Hinsicht  auf  das  härteste 

358 


Wenn  man  das  Gesetz  aber  selbst  in  diesem  Sinne 
auslegt,  so  enthält  es  immer  noch  in  bezug  auf  den  Erb- 
zins usw.  die  Aufstellung  einer  Präsumtion  zugunsten  des 
Berechtigten  und  schiebt  hierin  dem  Verpflichteten 
die  Last  des  Beweises  zu,  wie  dies  allerdings  auch  in 
Frankreich  zuerst  durch  das  Gesetz  der  Konstituante  vom 
15.  März  1790  geschehen  war1),  ein  Gesetz,  welches 
aber  in  Aufstellung  dieser  gegen  das  historische  Sach- 
verhältnis laufenden,  für  deutsche  Bauernverhält- 
nisse   übrigens    aus    historischen    Gründen2)    noch    viel 


von  diesem  Gesetz  das,  was  wir  sehr  bald  in  bezug  auf  andere 
Bestimmungen  desselben  dartun  werden. 

Jedenfalls  werden  die  Interessen  der  berechtigten  Grund- 
aristokratie  mit  ganz  anderer  Sorgfalt  von  diesem  Gesetz  ge- 
wahrt. Denn  zu  ihren  Gunsten  wird,  wie  wir  schon  gesehen 
haben,  am  Schlüsse  des  §  3  ganz  ausdrücklich  bestimmt, 
daß  auch  die  vom  Gesetz  für  unentgeltlich  aufgehoben 
erklärten  Berechtigungen  dennoch  fortbestehen  sollen,  wenn 
ihre  Entstehung  für  Verleihung  oder  Veräußerung  eines  Grund- 
stückes erwiesen  wird. 

*)  Art.  2:  Et  sont  presumes  tels  (nämlich  als  prix  dune 
concession  primitive  de  fonds,  und  daher  rachetables)  sauf 
la  preuve  contraire:  1  °  Toutes  les  redevances  seigneuriales 
annuelles  en  argent,  grains,  volailles,  cire,  denrees  ou  fruits 
de  la  terre,  servis  sous  la  denomination  de  cens,  censives,  ventes 
feodales,  seigneuriales  et  emphyteotiques  etc.  etc.  qui  ne  se 
paient  et  ne  sont  dues  que  par  le  proprietaire  ou  possesseur 
dun  fonds,  sauf  qu'il  est  proprietaire  ou  possesseur  et  ä  raison 
de  la  duree  de  sa  possession. 

2)  Siehe  hierüber  und  zu  dem  Vorhergesagten  über  die  aus 
Schutzverhältnissen  (in  die  sich  Freie  mit  ihren  Gütern  be- 
geben hatten)  übernommenen  und  aus  anderen  Feudalzuständen 
freien  Bauerngütern  aufgezwungenen  Erbzinse  usw.  Mitter- 
maier,  Grundsätze  des  gemeinen  deutschen  Privatrechtes, 
7.  Aufl.,  Bd.  1,  §§  80-92,  und  Bd.  2.  §  480  fg.;  Moser, 
Osnabrückische    Geschichte,    T.    2.    Abschnitt    2.    §§    22—24. 

359 


weniger  als  für  Frankreich  gültigen  und  somit  grundlos 
die  Regeln    der    juristischen    Beweislast    umkehrenden1) 


und  Abschnitt  3,  §§  13 — 15;  Haggenmüller,  Geschichte  von 
Kempten,  S.  101,  215;  Eichhorn,  Deutsche  Staats-  und  Rechts- 
geschichte, §§  195,  196,  223,  247  Anmerk.  2,  343,  368, 
448,  545,  169,  194;  desselben  Einleitung  usw.,  §  50  zu  Ende, 
§§  51,  52c,  54  fg.;  Kindlinger,  Geschichte  der  deutschen 
Hörigkeit.  §'§  2  fg.,  15,  16,  42  fg.;  Grimm,  D.  R.  A., 
S.  503,  562;  Sommer,  Rechtsverhältnisse  usw.,  S.  113;  des- 
selben Bauergüter,  S.  113,  124;  Zimmermann,  Geschichte  der 
Bauernkriege,  den  ganzen  ersten  Band  und  die  bei  diesen  Autoren, 
besonders  Mittermaier,  angeführte  Literatur. 

1)  So  sind  z.  B.  im  Herzogtum  Westfalen  die  sogenannten 
Erbzinsgüter  dennoch  seit  je  volles  Eigentum  der  Be- 
sitzer (also  nicht  geteiltes  Eigentum  oder  Erbzinsgüter  im  Sinne 
des  Allgemeinen  Landrechtes  am  vorher  angeführten  Orte) ; 
s.  Sommer,  Bauerngüter  im  Herzogtum  Westfalen,  §§  13,  14, 
59.  Dasselbe  gilt  von  den  Erbzinsgütern  im  Fürstentum  Siegen ; 
s.  Schenk,  „Statistik  von  Siegen",  §  54.  Ebenso  kommen  im 
Eichsfelde  unter  dem  Namen  Erbzinsgüter  häufig  reine  Zins- 
güter vor;  s.  Revidierter  Entwurf  des  Provinzialrechtes  des 
Eichsfeldes,  §  46,  Motive,  S.  68  und  Akta  des  Ministeriums 
des  Innern,  Regulierungen  und  Gemeinheitsteilungen  Gen.,  Nr. 
9  b,  Bl.  11  fg.,  angezogen  bei  Dönniges,  Die  Landeskultur- 
gesetzgebung Preußens,  im  höheren  Auftrage  mit  Benutzung 
amtlicher  Quellen,  Bd.  2,  S.  95.  Ebenso  erscheinen  im  Für- 
stentum Minden  unter  dem  Namen  Erbmeier-  (Erbpachts-) 
Güter,  freie,  im  vollen  Eigentum  befindliche  Güter;  s.  Wi- 
gand,  Provinzialrecht  von  Minden,   I,   120. 

Es  läßt  sich  aber  überhaupt  kein  stichhaltiger  Grund  ab- 
sehen, warum  der  Berechtigte  nicht  ebenso  gut,  wie  er  das 
Dasein  und  den  Umfang  seines  Anspruches  zu  erweisen 
hat  (vgl.  Struckmann  in  den  Beiträgen  zum  Osnabrückischen 
Eigentumsrecht,  Beitr.  10,  S.  28;  Reyscher,  Württembergisches 
Privatrecht,  I,  411),  auch  die  Qualität  seines  Anspruches  er- 
weisen soll,  und  warum  das  Gesetz  hier,  und  bei  solchen  histo- 
rischen Umständen,  eine  den  allgemeinen  Regeln  über  die  Be- 

360 


Vermutung  den  Berechtigten  nur  noch  viel  zu  günstig 
war1). 

Allein  das  Gesetz  vom  2.  März  1850  enthält  andere 
Punkte,  die  keinem  Versuche  einer  Beschönigung  zu- 
gänglich und  deren  kritische  Bloßlegung  in  einem  noch 
engeren  Zusammenhange  mit  den  von  uns  untersuchten 
Prinzipien  steht. 

Durch  Tit.  2,  §11,  desselben  werden  nämlich  auch  die 
ungemessenen  Dienste  der  Ablösung  unter- 
worfen. 

Die  ungemessenen  Dienste  tragen  aber  so  deut- 
lich den  Stempel  ihres  feudalen  Ursprunges  auf  der  Stirn, 
daß  derselbe  vom  preußischen  Gesetzgeber  selbst 
eingestanden  worden  ist.  In  dem  für  die  westfälischen,  ber- 
gischen und  hanseatischen  Landesteile  zur  Schlichtung  der 
Zweifel  über  das,  was  durch  die  französische  Periode 
daselbst  abgeschafft  worden  sei  oder  nicht,  erlassenen 
preußischen  Gesetze  vom  25.  September  1820 
(Gesetzsammlung,   S.  169)  heißt  es: 


weislast  widersprechende  Vermutung  aufstellt,  zumal  endlich, 
wo  der  Erbzins  usw.  durch  Verleihung  von  Grundstücken  ent- 
standen ist,  der  Berechtigte  mindestens  in  der  Regel  eine 
Urkunde  darüber  besitzen  wird,  wo  er  aber  etwa  durch  Miß- 
brauch der  Feudalgewalt  entstand,  ein  Revers  hierüber  vom 
Feudalherrn  freilich  nicht  ausgestellt  wurde ! 

x)  Schon  durch  die  assemblee  legislative  wurde  daher  durch 
Gesetz  vom  25. /28.  August  1792,  Art.  1  und  4,  die  Ver- 
mutung jenes  Gesetzes  von  1790  umgekehrt  und  alle  dort  für 
ablöshch  erklärten  Rechte  für  unentgeltlich  aufgehoben  erklärt, 
wenn  nicht  bewiesen  würde,  daß  sie  in  einer  Abtretung  eines 
Grundstückes  ihren  Ursprung  haben,  welcher  Beweis  ledig- 
lich durch  Vorlegung  der  ursprünglichen  „Belehr ungs-, 
Zins-  oder  Erbverpachtungsurkunde"  geführt  werden 
dürfe. 

361 


§  3.  ,.Die  Leibeigenschaft  und  Erbuntertänigkeit  ist  und 
bleibt  mit  ihren  Folgen  aufgehoben." 

§  4.  „Zu  diesen  Folgen  werden  gerechnet  und 
sind  daher  aufgehoben:  ...  Nr.  4  alle  unge- 
messenen Dienste,  wenn  sie  auch  in  Rück- 
sicht des  Besitzes  eines  Grundstückes  obliegen." 

Indem  jetzt  gleichwohl  diese  Dienste  der  Ablösung 
unterworfen  wurden,  liegt  hierin  nicht  nur  eine  inter- 
essante Probe  von  dem  Fortschritt  unserer  konstitutionellen 
Periode  gegen  die  Zeit  des  Absolutismus,  sondern  noch 
etwas  viel  Ernsteres  vor. 

Die  Wissenschaft,  deren  erste  Pflicht  schärfstes  Den- 
ken ist,  kann  deshalb  auch  gar  nicht  auf  das  Recht  ver- 
zichten, die  Schärfe  der  Begriffsbestimmungen  in  der  ihr 
allein  entsprechenden  Scharfe  und  Bestimmtheit  der  Aus- 
drücke niederzulegen.  Es  muß  hiernach  gesagt  werden, 
daß  es  geradezu  nichts  anderes  war,  als  ein  widerrecht- 
lich am  armen  Manne  zugunsten  der  reichen  Grundaristo- 
kratie begangener  —  Raub,  wenn  das  Gesetz  für  nur  ab- 
lösbar und  also  fortbestehend  Dienste  erklärte,  welche 
vom  preußischen  Gesetzgeber  selbst  als  „Folgen  der  Leib- 
eigenschaft und  Erbuntertänigkeit"  anerkannt  worden 
waren. 

Die  widerrechtliche  Beraubung  bestand  darin,  daß  man 
diese  Fronen  trotz  ihres  feudalen  Ursprunges  für  fort- 
bestehend erklärte  in  demselben  Augenblicke,  wo 
man  die  prohibitive  Wendung  des  gesamten  Rechtsbewußt- 
seins der  Zeit  gegen  jene  feudalen  Verhältnisse  gesetz- 
geberisch so  sehr  anerkannte,  daß  man  (s.  §§  2  und  3 
des  Gesetzes,  besonders  Nr.  10  und  am  Schluß)  die  Fort- 

362 


dauer   dieser  Verhältnisse   als  eine  unrechtliche  abo- 

lierte1)- 

Nun  erst  war  die  gleichwohl  dekretierte  Fortdauer 
iener  Dienste,  die  entsprungen  waren  aus  Verhältnissen, 
welche  der  Gesetzgeber  selbst  als  ein  Dasein  des 
Unrechtes  eingestanden  hatte,  zu  einem  wahrhaften  Un- 
recht und  zu  einer  durch  keine  bona  fides  mehr  ge- 
deckten gewaltsamen  Eigentumsverletzung  der  ärmeren 
Klasse  geworden.  Im  Mittelalter  konnten  wenigstens, 
da  das  juristische  Recht  stets  nach  dem  Bewußtsein  der 
Zeit  bemessen  werden  muß,  in  rechtlicher  Weise  auf 
Grund  damals  geltender  Verhältnisse  des  öffentlichen 
Rechtes  feudale  Lasten  bäuerlichen  Gütern  und  ihren  Be- 
sitzern auferlegt  werden,  wenn  es  auch  der  historischen 
Wirklichkeit  zufolge  meist  durch  Gewalt,  Usurpation  und 
Unterdrückung  geschah.  Jetzt  aber  dekretierte  man  den 
Fortbestand  und  den  Kapitalabkauf  dieser  Berech- 
tigungen zu  einer  Zeit,  wo  man  selbst  nicht  mehr  den 
Glauben  an  dieses  Recht  hatte,  in  demselben  Augen- 
blicke, wo  vielmehr  die  Widerrechtlichkeit  und 
Ungültigkeit  aller  aus  feudalem  Titel  entsprun- 
genen Rechte  —  vgl.  noch  Art.  42  der  Verfassung 
vom    31.  Januar    18502)    —    als   die   gebieterische 


x)  ,, weil  das  ganze  Ablösungsgesetz,  insbesondere  aber 

die  §§  2  und  3  desselben  ergeben,  daß  alle  auf  dem  Grund- 
eigentum ruhenden  Reallasten,  die  ihre  Entstehung  in  einem 
feudalen  oder  gutsherrlichen  usw.  Nexus  gehabt 
haben,  aufgehoben  werden  sollen."  (Erwägungsgründe  des 
5.  Senates  des  Obertribunals  Präj.  vom  6.  November  1855. 
Archiv  für   Rechtsf,   XVIII,   277.) 

2)  Lautend:  „Aufgehoben  ohne  Entschädigung  sind:  1.  die 
Gerichtsherrlichkeit,  die  gutsherrliche  Polizei  und  obrigkeit- 
liche Gewalt,  sowie  die  gewissen  Grundstücken  zustehenden 
Hoheitsrechte  und    Privilegien;   2.    die   aus   diesen   Befug  - 

363 


Vorschrift  des  allgemeinen  Rechtsbewußtseins  vom  Ge- 
setzgeber selbst  proklamiert  wurde.  Dieser  Mangel  des 
Glaubens  an  sich  selbst,  die  in  dem  Kapitalabkauf 
vorliegende  Aufrechterhaltung  des  Rechtes  gegen  den 
zwingenden  Inhalt  des  eigenen  gesetzgeberischen  Bewußt- 
seins, macht  jenen  dennoch  verordneten  Abkauf  zu  einer 
widerrechtlich  und  wider  das  eigene  Rechts- 
bewußtsein verordneten  Vermögensverletzung  der  ärm- 
sten Klassen  zugunsten  der  adeligen  Grundbesitzer,  und 
somit  allerdings  logisch-konsequent  zu  einem  Raube1). 
Nicht  viel  anders  verhält  es  sich  in  bezug  auf  die  Be- 
sitzveränderungsabgaben (Laudemien),  von  denen  in  den 
§§  36 — 40  dieses  Gesetzes  nur  die  bei  Veränderungen  in 
herrschender  Hand  eintretenden  aufgehoben,  aber  die  bei 
Veränderungen  in  dienender  Hand  eintretenden  —  und  be- 
kanntlich ist  letzteres  die  Regel  —  mit  Ausnahme  der 
Gerichtssporteln  (§  39)  sämtlich  der  Ablösung  unter- 
worfen wurden,  falls  nur  die  Laudemienpflichtigkeit  des 


ms sen,  aus  der  Schutzherrlichkeit,  der  früheren  Erbunter- 
tänigkeit,  der  früheren  Steuer-  und  Gewerbeverfassung  her- 
stammenden Verpflichtungen." 

1)  Diese  Kritik  läßt  sich  natürlich  nicht  auf  solche  Ab- 
lösungen von  ungemessenen  Diensten  anwenden,  welche  z.  B. 
in  Preußen  in  der  Gesetzgebungsperiode  von  1810  und  den 
folgenden  Jahren  angeordnet  wurden.  Damals  traten  diese  Maß- 
regeln als  ein  merum  beneficium  zur  zweckmäßigen  Verbes- 
serung der  Lage  der  ländlichen  Bevölkerung  ein,  ohne  einem 
prohibitiven  Rechtsbewußtsein  des  Gesetzgebers  entflossen  zu 
sein.  Damals  wurde  daher  auch  nicht  die  unentgeltliche 
Aufhebung  der  feudalherrlichen  Lasten  als  gesetzgeberische 
Rechtsanschauung  proklamiert.  Daß  dies  1850  geschah  und 
gegen  diese  vom  Gesetzgeber  selbst  (durch  Verfassung  wie 
Gesetz)  verkündete  Prohibition  des  allgemeinen  Rechtsbewußt- 
seins die  Ablösung  verfügt  wurde,  ist  es,  was  die  obige  Kritik 
begründet. 

364 


Gutes,  auch  ohne  Angabe  ihres  Rechtsgrundes, 
in  einer  öffentlichen  Urkunde  anerkannt  war.  Unmöglich 
kann  von  den  Laudemien  geleugnet  werden,  daß  sie  histo- 
risch mindestens  in  den  zahlreichsten  Fällen  in  feudaler 
Weise,  nicht  als  reine  Grundabgabe  (Reallast)  entstanden 
sind.  Gleichwohl  lassen  die  §§  36 — 40  (und  am  klarsten 
der  Schluß  des  §  3  des  Gesetzes,  vgl.  mit  §  39)  keinen 
Zweifel  darüber,  daß  in  bezug  auf  die  Laudemien  dem 
bäuerlichen  Besitzer  selbst  der  Gegenbeweis  der  feu- 
dalen Entstehung  abgeschnitten  ist. 

Endlich  ist  bei  diesem  Gesetz  noch  folgendes  in  Be- 
tracht zu  ziehen. 

Sogar  die  französische  Konstituierende  Versammlung 
hatte,  wie  wir  gesehen  haben,  nur  die  Unablöslich- 
keit  jener  auf  Grund  einer  Bodenverleihung  entstandenen 
Lasten,  weil  der  Freiheit  des  Bodens  und  des  Individuums 
widersprechend,  aufgehoben.  Sie  hatte  in  richtiger  Kon- 
sequenz dessen  nicht  mehr  aufgehoben,  als  durch  den 
prohibitiven  Inhalt  des  Bewußtseins  aufzuheben  geboten 
war,  nämlich  die  Zwangsbestimmung  der  Unablöslich- 
keit.  Sie  hatte  daher  diese  Rechte  nur  für  ablöslich 
erklärt  (rachetables)  und  diese  Befugnis  in  die  freie  Wahl 
der  Verpflichteten  gestellt1). 

In  zwingender  Weise  dagegen  trat  das  Gesetz  vom 
2.  März  1850  auf.  Es  stellte  (s.  §  64,  94  und  das  Ge- 
setz über  die  Rentenbank  vom  selben  Tage)  die  Forde- 
rung der  Ablösung  nicht  bloß  in  die  Wahl  der  Verpflich- 
teten, sondern  ebenso  auch  in  die  der  Berechtigten, 
und  machte  so  den  Kapitalabkauf  der  Dienste  und 
Leistungen  aus  einer  freien  Wahl  zu  einer  unfreiwilligen 

x)  Siehe  den  Rapport  von  Tronchet,  vom  28.  März  1790. 
T  XVI  des  proc.  verb.  He  l'Assemblee.  Ebenso  z.  B.  die  han- 
noverische  Ablösungsordnung   von    1833. 

365 


Pflicht,  statt  zu  einer  Konsequenz  der  persönlichen 
Freiheit  der  Verpflichteten  zu  einem  Zwange  für  die- 
selben. Es  hätte  sich  dies  Gesetz  statt  Gesetz  über  die 
„Ablösbarkeit",  richtiger  als  ein  Gesetz  über  A b  - 
lösungszwang  charakterisieren  sollen.  Fragt  man  sich, 
wie  dies  zur  Zeit  höchster  Reaktion  so  auffällige, 
die  französische  revolutionäre  Versammlung  noch  weit 
hinter  sich  lassende  zwingende  Auftreten  zugunsten  der 
persönlichen  Freiheit  zu  verstehen  und  zu  erklären  sei,  so 
bietet  sich  darauf  als  Antwort  in  einleuchtender  Analogie 
die  Motivierung,  mit  welcher  sogar  jetzt  unter  einem 
liberalen  Ministerium  der  den  Kammern  vorgelegte  Ent- 
wurf zur  Aufhebung  und  Entschädigung  der  Grundsteuer- 
freiheit1) ausdrücklich  versehen  ist.  Die  Regierung 
—  heißt  es  hier  —  hofft  hierdurch :  „eine  Frage  zur  be- 
friedigenden Lösung  zu  bringen,  welche,  wenn  letztere 
nicht  bald  erfolgt,  einer  weniger  rücksichtsvollen 
Behandlung    unaufhaltsam   entgegeneilt". 

Der  Feudalist  fühlt  die  ihm  so  knapp  zugemessene 
Zeit  —  und  greift  schnell  noch  mit  beiden  Händen  von 
neuem  in  die  Taschen  des  Volkes,  um  noch  vor  dem 
Hahnenschrei  durch  eine  neue  Gewalt  seinen  feudalen 
Besitz   in   bürgerlichen   zu   verwandeln2)! 


x)  In  der  Session  von  1859-1860. 

8)  Kann  es  wundern,  wenn  ein  Gesetz  von  den  Tribunalen 
in  dem  Geiste  interpretiert  wird,  in  welchem  es  erlassen  wor- 
den? Das  Obertribunal  hat  dies  reichlich  getan.  So  konnte  zwar 
nicht  geleugnet  werden,  daß  die  unter  der  Benennung  „Ge- 
schoß" und  „Erbgeschoß"  vorkommende  Abgabe  aus  den 
früheren  schutzherrlichen  Rechten,  insbesondere  aus  der  Ge- 
richtsherrlichkeit  herzuleiten  und  daher  unentgeltlich  aufgehoben 
sei  (Präj.  des  Obertribunals  vom  10.  Dezember  1853  und 
vom  3.  Juli  1855;  Entscheidungen,  XXVII,  272,  und  Zeit- 
schrift des  Revisionskoll.,  IX,  55),  aber  das  Obertribunal  brachte 

366 


Kehren  wir  nunmehr  von  dieser  Kritik  des  Gesetzes 
vom  2.  März  1850  zu  dem  oben  entwickelten  begriff- 
lichen Unterschied  zurück.    Wir  haben  in  demselben  ein 


gleichwohl  fertig  zu  erklären,  daß,  wenn  nur  die  —  von 
den  Berechtigten  selbst  herrührenden  —  Quittun- 
gen eine  Abgabe  als  Geschoß,  Geschoßgeld,  Geschoßzins 
usw.  bezeichnen,  hieraus  für  sich  allein  die  Entstehung  der 
Abgabe  aus  einem  schutzherrlichen,  gutsherrlichen  oder  grund- 
herrlichen  Rechte  oder  ihre  steuerartige  Natur  nicht  herzu- 
leiten sei  (Präj.  des  Obertribunals,  II.  Senat  vom  29.  Januar 
1856;  Archiv  für  Rechtsf.,  XX,  95),  obgleich  schon  durch 
ein  Urteil  vom  16.  Oktober  1847  (Entscheidungen,  XVI,  264) 
das  Obertribunal  die  Steuernatur  des  „Geschoß"  nachgewiesen 
hatte ;  vgl.  das  schon  bezogene  gründlich  motivierte  Erkenntnis 
vom  10.  Dezember  1853.  —  Der  §  3,  Nr.  8  des  Gesetzes, 
hatte  die  unentgeltliche  Aufhebung  der  zu  persönlichen  Be- 
dürfnissen der  Gutsherrschaft  und  ihrer  Beamten  bestimmten 
Dienste  ausgesprochen.  Aber  trotz  des  offenbar  herren- 
schaftlichen  Ursprunges  derselben  und  trotz  der  im  §  3 
verfügten  Aufhebung  aller  so  entstandenen  „Abgaben  und 
Leistungen"  brachte  der  zweite  Senat  des  Obertribunals 
fertig,  zu  erklären,  daß  die  Abgaben,  in  welche  solche 
Dienste  erweislich  umgewandelt  worden,  nicht  auf- 
gehoben seien  (Präj.  vom  21.  März  1854,  Entscheidungen, 
XXVIII,  261),  obwohl  der  V.  Senat  des  Obertribunals  sehr 
richtig  erwägt :  „daß  sich  kein  Grund  denken  läßt,  aus  wel- 
chem der  Gesetzgeber,  welcher  die  aus  dem  Jagdrecht  origi- 
nierenden  Dienste  und  Leistungen  unentgeltlich  aufhebt,  die 
aus  gleichem  Grunde  entstandenen  Abgaben  fortbestehen  zu 
lassen  bezweckt  haben  sollte,  da  der  reprobierte  Ver- 
pflichtungsgrund zu  einer  solchen  Reallast  derselbe  bleibt, 
ob  die  Dienste  in  Natur  geleistet  werden,  oder  ob  sie 
durch  Vertrag  oder  Herkommen  in  eine  Geldrente 
umgewandelt  worden  sind"  (Präj.  vom  6.  November  1855 ; 
Archiv  für  Rechtsf,  XVIII,  278),  und  obwohl  bereits  durch 
Urteil  des  Obertribunals  vom  15.  Juni  1852  (Archiv  für 
Rechtsf.,  VII,  219)  dasselbe  entschieden  worden  war.   —  Die 

367 


ebenso  unangreifbares  als  leicht  anzuwendendes  Prinzip 
gefunden,  nach  welchem  jetzt  überall  mit  vollständiger 
Sicherheit  zu  bestimmen  ist,  wo  Entschädigung,  respektive 
Umwandlung  und  Ablösung  einzutreten  hat  und  wo  nicht. 
Handelt  es  sich  z.  B.  um  Aufhebung  der  Leibeigen- 
schaft, so  kann  von  einer  Ablösung  nicht  die  Rede  sein, 
weil  hier  aus  diesem  Rechtsgrunde  —  persönliche 
Oberherrlichkeit  über  Menschen  —  überhaupt  kein  Recht 
mehr  nach  dem  gegenwärtigen  Bewußtsein  bestehen  kann. 
Es  ändert  gar  nichts,  wenn  der  Leibeigene  durch  Kauf 
erworben  wäre ;  denn  es  kann  dabei  nur  ankommen  auf 
das  Recht  des  ursprünglichen  Besitzers.  Kein  Verkäufer 
kann  größere  Rechte  übertragen,  als  er  selber  hat,  und 
jeder  Titel  geht  über  mit  der  Kaduzität,  die  ihm  anklebt, 
insbesondere  also  mit  der  Kaduzität  vor  dem  späteren 
prohibitiven  Gesetz.  Dasselbe  Resultat  ergibt  sich  übrigens 
auch  nach  unserer  Formulierung  des  Grundsatzes,  wenn 
man  nur  auf  den  letzten  Ankauf  sieht.  Kauf  an  sich  ist 
noch  ein  gültiger  Rechtsgrund,  aus  welchem  Rechte  ent- 
stehen können.  Aber  an  diesem  Rechtsobjekt  — 
dem  Menschen  -  sollen  aus  diesem  Rechtsgrund  keine 
Rechte  mehr  entstehen  können,  Menschen  nicht  käuflich 
sein,   und  es   ist   daher  die   Prohibition  die   totale,   keine 


Entscheidung  des  II.  Senates  des  königlichen  Obertribunals 
(vom  22.  April  1852),  daß  das  Gesetz  vom  2.  März  1850 
auf  die  in  den  ehemals  französisch-hanseatischen  Landesteilen 
auf  drei  Vererbungsfälle  geschlossenen  Erbpachten  nicht  an- 
wendbar sei,  hat  bereits  bei  Gierse,  „Über  die  Natur  der 
münsterschen  Erbpächte"  usw.,  und  in  der  preußischen  Ge- 
richtszeitung, 1859,  Nr.  53,  ihre  genügende  Kritik  gefunden. 
Man  beschuldige  diese  und  andere  Entscheidungen  der  Nicht- 
übereinstimmung mit  dem  Gesetz,  so  viel  man  will.  In  dem 
..Geiste"  des  Gesetzes  hat  das  Obertribunal  jedenfalls  ent- 
schieden ! 

368 


Umwandlung  zulassende,  da  kein  Recht  mehr  fortexistiert, 
welches   den  Grund   derselben  abgeben  könnte. 

Oder  es  handelt  sich  um  Aufhebung  der  Jagd- 
gerechtigkeit. 

Im  allgemeinen  ist  dies  Recht  von  feudal-gutsherr- 
lichem Ursprünge  und  insoweit  daher  infolge  der  das 
Hervorgehen  von  Rechten  aus  diesem  Rechtsgrund  pro- 
hibierenden Anschauung  des  Rechtsbewußtseins  absolut 
abrogiert.  Daß  diese  ursprünglich  feudale  Gerechtigkeit 
später  durch  käuflichen  Titel  übertragen  worden  sei,  bleibt 
ein  leeres  Gerede,  das  die  Natur  der  Sache  nicht  ändert, 
da  hier  wie  überall  der  Titel  durch  seine  Übertragung 
keine  größere  Gültigkeit  empfangen  kann,  als  ihm  ur- 
sprünglich zukam,  und  der  Eigentümer  jedes  Recht,  wie 
jede   Sache,   immer   auf   Gefahr   des   Unterganges   kauft. 

Dagegen  macht  die  Unparteilichkeit  der  Wissenschaft 
allerdings  zur  Pflicht,  zu  bemerken,  daß,  da  einerseits, 
wie  selten  auch  diese  Voraussetzung  eintreffen  möchte, 
möglicherweise  doch  auch  ursprünglich  eine  Jagd- 
gerechtigkeit auf  einen  entgeltlichen,  nicht-feudalen  Titel 
vom  Grundeigentümer  dem  Jagdberechtigten  konstituiert 
sein  konnte,  und  da  andererseits  das  Jagdgesetz  vom 
31.  Oktober  1848  selbst  in  seinem  §  2  nicht  jede  Tren- 
nung des  Jagdrechtes  vom  Grund  und  Boden,  sondern 
solche  nur  in  der  Form  eines  dinglichen 
Rechtes  prohibiert1)»  aus  diesen  Gründen  das  bezogene 
Gesetz  der  preußischen  Nationalversammlung  vom  31.0k- 


1)  §  2:  „Eine  Trennung  des  Jagdrechtes  vom  Grund  und 
Boden  kann  als  dingliches  Recht  künftig  nicht  statt- 
finden," weshalb  dann  auch  durch  das  Gesetz  vom  7.  März 
1850  unter  besonderen  Bedingungen  Verpachtungen  der  Jagd 
zugelassen    wurden. 

24    Laj«!;,      Co    Schritt«.    Band  IX.  360 


tober  1848  zwar  die  unentgeltliche  Aufhebung  des  aus 
herren schaftlichen  Rechten  hervorgegangenen  Jagd- 
rechtes und  die  gesetzliche  Vermutung  dieses  Ursprunges 
für  alle  Jagdgerechtigkeiten  hätte  aussprechen,  zugleich 
aber  auch  den  Gegenbeweis  entgeltlicher  Veräußerung 
durch  den  Bodeneigentümer  hätte  zulassen  und  in  diesem 
Falle  die  Ablösung  verordnen  müssen.  Nur  genau  so 
weit  kann  der  Einwurf  gegen  jenes  Gesetz  getrieben 
werden.  Denn  dies  freilich  läßt  sich  nach  der  oben  aus- 
einandergesetzten begrifflichen  Natur  der  Sache  nicht  ab- 
sehen, warum  selbst  insoweit  und  in  bezug  auf  die 
Form,  in  welcher  Jagdrecht  auch  nach  dem  neuen  Ge- 
setze noch  sollte  neu  entstehen  können,  dasselbe  in 
bezug  auf  früher  geschlossene  Verträge  ohne  Umwand- 
lung und  Ablösung  unterdrückt  sein  sollte.  —  Hierbei 
mag  übrigens  noch  genau  hervorgehoben  werden,  daß 
diese  Ablösung  da  nicht  einzutreten  hatte,  wo  früher 
von  Seiten  eines  Gutsherrn  einem  bäuerlichen  Besitzer  ur- 
sprünglich ein  Grundstück  mit  Vorbehalt  der  Jagdgerech- 
tigkeit abgetreten  worden  war.  Denn  dieser  Vorbehalt 
war  ein  in  der  Feudalzeit  schon  den  Verhältnissen  der 
Gutsoberherrlichkeit  und  des  öffentlichen  Rechtes  ent- 
flossener und  deshalb  diese  Trennung,  als  jetzt  gänzlich 
von  dem  jetzigen  Bewußtsein  prohibiert,  von  nun  au 
wirkungslos  in  sich  zusammengesunken.  Nur  wo  nach- 
weislich das  Bodeneigentum  des  bäuerlichen  Besitzers  der 
Abtretung  der  Jagdgerechtigkeit  durch  ihn  vorher- 
gegangen, diese  somit  von  ihm  selbst  besessen  und 
durch  einen  freien  Willenskontrakt  veräußert  worden 
war  —  oder  wo  zwar  ursprünglich  bei  der  Abtretung  des 
Eigentumes  die  Jagdgerechtigkeit  vorbehalten,  diese  Ver- 
äußerung aber  zwischen  Rechtsgleichen  (adeligen 
Grundherren  oder  Bauern  unter  sich)  und  also  ohne  Ein- 

370 


fluß  des  öffentlichen  Rechtes  geschehen  war1)  -— ,  nur 
da  durfte  und  mußte  Ablösung  eintreten. 

Umsonst  würde  man  sich  gegen  diese  Kritik  unserer 
obigen  Formel  zugunsten  dieses  Gesetzes  bedienen  und 
etwa  sagen  wollen:  Aus  diesem  Rechtsgrund  —  Kauf 
—  können  allerdings  noch  Rechte  hervorgehen,  aber  nicht 
mehr  auf  dieses  Rechtsobjekt  —  Wild  auf 
fremdem  Acker  — ,  und  die  Aufhebung  ohne  Ent- 
schädigung ist  daher  in  allen  Fällen  gerechtfertigt.  Die 
Antwort  darauf  liegt  in  dem  bereits  hervorgehobenen  Mo- 
mente, daß  auch  nach  dem  Gesetze  vom  31.  Oktober 
das  Jagdrecht  nur  als  dingliches  Recht  ausgeschlossen 
worden  ist,  nicht  aber  als  persönliches  Pacht- 
recht, in  welcher  Form  es  vielmehr  zugelassen  wird 
unter  Bedingungen,  die  dann  durch  das  Gesetz  vom 
7.  März  1850  näher  festgestellt  worden  sind.  Nun  stellt 
aber  Pachtung  gleichfalls  einen  Kauf  dar,  nämlich 
einen  Kauf  der  Nutzungen  auf  bestimmte  Jahre, 
und  es  ist  also  z.  B.  nicht  abzusehen,  warum  die  Jagd- 
gerechtigkeit, unter  den  oben  erörterten  Voraussetzungen 
ihrer  Entstehung,  wenn  die  sonstigen  Bedingungen  des 
Gesetzes  vom  7.  März  1850  vorliegen,  nicht  in  ein  Pacht- 
recht auf  die  in  §  10  desselben  vorgeschriebene  längste 
Dauer  von  zwölf  Jahren  übergegangen  oder  in  anderer 
Weise  abgelöst  worden  ist.    Es  wurde  also  mehr  pro- 


*)  Ganz  angemessen  bestimmt  daher  z.  B.,  offenbar  durch 
diesen  Gedankengang  geleitet,  das  Gesetz  der  französischen 
Nationalversammlung  vom  15.  März  1790  in  Tit.  2,  Art.  24: 
,,Sont  exceptees  de  la  suppression  ci-dessus  et  seront  rache- 
tables:  1.  Les  banalites  qui  seront  prouvees  avoir  ete  etablies 
par  une  Convention  souscrite  entre  une  communautc  d'habitants 
et  un  particulier  non  seigneur." 

24»  371 


hibiert,   als  durcji   den   Inhalt  des  gesetzgeberischen   Be- 
wußtseins selbst  zu  prohibieren  gefordert  wurde1). 

Setzen  wir  nun,  in  unserer  Musterung  der  Fälle  fort- 
fahrend, in  welchen  Entschädigung,  d.  h.  Umwandlung, 
eintreten  und  nicht  eintreten  darf,  es  handle  sich  um  die 
Aufhebung  von  Grundsteuerfreiheit  gewisser  Klassen  von 
Grundbesitzern.  Die  prohibitive  Anschauung  des  Rechts- 
bewußtseins ist  hier  die :  Vorrechte  sollen  nicht  sein. 
Rechtsgrund  und  Inhalt  des  Rechtes  ist  also  gleichmäßig 
aufs  stärkste  von  jeder  Fortwirkung  ausgeschlossen.  Was 
also  einzutreten  hat,  ist  nichts  als  sofortiges  Weichen  des 
Rechtes  selbst  und  durchaus  nicht  eine  formelle  Um- 
wandlung desselben.  Eine  solche  aber  und  somit  nicht 
eine  Aufhebung,  sondern  gerade  eine  fortgesetzte  An- 
erkennung und  perpetuierlich  gemachte  Fort- 
wirkung des  durch  das  Rechtsbewußtsein  des  Volkes 
aufgehobenen  Vorrechtes,  würde  die  Entschädigung, 
wie  wir  gesehen  haben,  notwendig  darstellen.  Der  Ein- 
wurf, die  betreffenden  Güter  seien  nicht  bloß  ererbt, 
sondern  auch  käuflich  erworben  und  in  diesem  Falle 
nach  dem  Reinertrage  mit  Berücksichtigung  ihrer  Steuer- 
freiheit bezahlt,  so  daß  diese  die  Natur  wahren  Eigen- 


*)  Wenn  diese  Kritik  im  Interesse  der  strengen  Unpartei- 
lichkeit, welche  die  Pflicht  wissenschaftlicher  Theorie  ist,  ge- 
übt wurde,  so  erhellt  von  selbst,  daß  aus  der  Nichtbeachtung 
dieses  theoretischen  Unterschiedes  im  gewaltigsten  Drange  prak- 
tischer Ereignisse  der  Nationalversammlung  von  1848  keinerlei 
Vorwurf  entstehen  kann,  und  um  so  weniger,  als  dieser  Unter- 
schied eben  nur  eine  mehr  theoretische  Bedeutung  hat  und 
schwerlich  irgend  zahlreiche  Fälle  der  Art  vorlagen,  in  wel- 
chen nach  den  obigen  Auseinandersetzungen  die  Ablösung  wirk- 
lich hätte  eintreten  müssen,  der  Jurist  aber,  wie  bereits  das 
römische  Rechtsadagio  sagt,  hauptsächlich  auf  das  sieht,  quod 
plerumque  fit     — 

372 


tunies  annehme,  bleibt  ein  widerwärtig  leeres  Gerede. 
Das  Vorrecht  der  Steuerfreiheit  läßt  sich  auf  länger, 
als  der  Staat  es  anerkennt,  um  gar  nichts  gültiger  von 
seinem  ersten  Inhaber  kaufen,  als  von  ihm  erben. 
Der  Verkäufer  hat  das  Gut  nur  so  verkauft,  wie  er  es 
selbst  besessen,  mit  dem  Vorrecht  der  Steuerfreiheit  bis 
zum  Tage  des  prohibitiven  Gesetzes.  Wurde  ein  Recht 
mitgekauft,  welches  jetzt  zugrunde  gegangen  ist,  so  gilt 
der  alte  Grundsatz  alles  Eigentumsrechtes :  res  perit 
domino.  —  Der  Zinsvertrag  stellt  gewiß  ein  wahrhaft 
erworbenes  Recht  dar.  Dennoch  hat  man,  wenn  z.  B. 
Justinian,  die  preußische  Regierung  und  andere  Gesetz- 
geber Gesetze  über  ein  Zinsmaximum  mit  Einwirkung 
auf  die  bereits  bestehenden  Verträge  erließen  und  diese 
somit  auf  die  Höhe  des  jetzt  noch  erlaubten  Zinssatzes 
reduziert  waren,  noch  nie  gehört,  daß  die  Gläubiger 
sich  herausgenommen  hätten,  vom  Staate  eine  Ent- 
schädigung für  den  Betrag  der  entzogenen  Zinsen  zu  for- 
dern, eine  Entschädigung,  die  ja  wiederum  nur  in  der  Ent- 
richtung dieser  vom  Gesetz  verbotenen  Zinsen  hätte  be- 
stehen können.  Wenn  aber  hier,  im  reinen  Privatrecht, 
an  welches  hierbei  nur  als  argumentum  a  fortiori  erinnert 
wurde,  die  jedem  Vertrage  von  Haus  aus  anklebende 
Kaduzität  vor  dem  späteren  Prohibitivgesetz  bisher  noch 
Schwierigkeiten  machen  konnte,  die  erst  vor  einer  voll- 
ständig entwickelten  Theorie  verschwinden  können,  so 
konnten  im  öffentlichen  Rechte  solche  Schwierig- 
keiten doch  auch  nicht  einmal  mit  dem  leisesten  Anschein 
erhoben  werden. 

Endlich  gar  noch  der  Steuer  gegenüber  mußte  jeder- 
mann wissen,  daß  kein  das  Recht  der  Staatssouveränität, 
Leistungen  für  das  öffentliche  Wesen  zu  begehren,  in 
Perpetuum  ausschließendes  Recht  auch  nur  denkbar  sei. 

373 


und  daß  daher  alle  Steuerfreiheit  nur  die  Natur  eines 
zeitweiligen  Vorteiles  haben  könne.  Es  war  am 
Käufer,  die  Größe  desselben  und  sein  mögliches  Ende  bei 
dem  Ankaufe  zu  veranschlagen,  ohne  daß  die  etwaige 
Unterlassung  hiervon  für  den  Staat  eine  Verpflichtung 
schaffen  kann.  —  Wenn  somit  der  angebliche  von  der 
Zugrundelegung  des  steuerfreien  Reinertrages  bei  dem 
Kaufe  hergeleitete  Grund  nach  allen  Seiten  hin  von  einer 
so  durch  und  durch  unjuristischen  und  völlig  sinnlosen 
Natur  ist,  wie  selten  ein  Grund,  der  jemals  in  einer 
ernsten  Frage  angerufen  wurde,  so  nimmt  derselbe  durch 
eine  andere  Betrachtung  noch  dazu  die  Gestalt  der  mon- 
struosesten  Absurdität  an.  Vermöchte  jener  Grund  näm- 
lich irgend  etwas  zu  beweisen,  so  bewiese  er  in  seiner 
Konsequenz  nichts  Geringeres  als  ein  erworbenes  Recht 
auf  die  quantitative  Un Veränderlichkeit  aller  Steuer. 
Alle  Grundstücke  werden  mit  Zugrundelegung  ihres  Rein- 
ertrages und  somit  stets  mit  Berücksichtigung  ihrer  zeitigen 
Grundsteuerlast  gekauft.  Wird  also  die  Grundsteuer  vom 
Staate  erhöht,  ohne  daß  —  was  bisher  noch  nie  und 
nirgends  bei  solchem  Anlaß  geschah  und  auch  bei  den 
gegenwärtigen  Steuerverhältnissen  nicht  einmal  möglich 
ist  —  die  Steuer  auf  das  mobile  Kapital,  und  zwar  auf 
alle  Arten,  in  denen  mobiles  Kapital  angelegt  sein  und 
existieren  kann,  genau  in  demselben  Verhältnis  erhöht 
wird,  so  kann  es  sich  unter  Umständen  sehr  wohl  fügen, 
daß  hierdurch  eine  Verminderung  des  Reinertrages  der 
angekauften  Güter  im  Vergleich  zu  dem  Ertrag  eintritt, 
welchen  der  auf  sie  angelegte  Kapitalkaufpreis  weiter 
abgeworfen  haben  würde.  Der  Staat  wäre  daher  auch 
nicht  zur  Erhöhung  der  Grundsteuer  berechtigt  über 
die  Quote  hinaus,  bei  deren  zeitigem  Bestehen  gekauft 
worden    ist.     Noch    mehr!     Der    Reinertrag   der   Grund  - 

374 


stücke  oder  die  Grundrente  beruht  auf  dem  Preis  des  Ge- 
treides, und  dieser  hat  zu  seinem  Regulator  das  Maxi- 
mum des  Kostenpreises,  zu  welchem  sich  eine  Nation 
das  ihr  nötige  Getreide  auf  eigenen  Äckern  erzeugen  oder 
von  fremden  Ländern  beschaffen  muß.  Durch  eine  Her- 
untersetzung oder  Aufhebung  der  in  einem  Staate  be- 
stehenden Getreideeinfuhrzölle  wird  daher  stets  und  un- 
vermeidlich der  Reinertrag  der  Grundstücke  ver- 
mindert. Der  Staat  hätte  daher  wegen  der  zur  Zeit  dieser 
Einfuhrzölle  und  mit  Zugrundelegung  des  unter  ihnen  be- 
stehenden Reinertrages  geschehenen  Ankäufe  von  Grund- 
stücken keinerlei  Recht,  auch  nur  die  Einfuhrzölle  auf 
Getreide  aufzuheben  oder  zu  vermindern ;  oder  aber  er 
müßte  die  Grundbesitzer  für  diese  Aufhebung  der  Zölle 
durch  Auszahlung  eines  Kapitales  entschädigen,  dessen 
Zinsen  ganz  oder  annähernd  das  Äquivalent  des  durch 
den  jetzt  verminderten  Getreidepreis  fortgefallenen  Grund - 
rentenbetrages  darzustellen  hätten.  —  In  der  Tat  haben 
sich  die  englischen  Tories  aus  jenem  Interesse  lange  ge- 
nug der  Aufhebung  der  Getreidezölle  in  England  wider- 
setzt. Aber  sie  haben  das  in  Form  der  Behauptung  ge- 
tan, daß  durch  diese  Zollaufhebung  die  Ackerbauinter- 
essen  des  gesamten  Landes  litten.  Und  als  durch  das 
öffentliche  Bewußtsein  die  Zollaufhebung  einmal  un- 
widerruflich beschlossen  war,  so  haben  sie  nicht  die 
Schamlosigkeit  gehabt,  eine  Kapitalentschädigung  von  der 
Nation  zur  Deckung  ihrer  Revenuenausfälle  zu  verlangen 
und  sich  aus  ihren  jetzt  unspekulativ  gewordenen  Güter- 
ankäufen ein  Ersatzrecht  gegen  den  öffentlichen  Geist  zu 
drehen.  Nicht  genug  hiermit.  Da,  wie  gesagt,  die  Grund- 
rente sich  durch  den  Kostenpreis  des  Getreides  auf  dem 
unergiebigsten  Acker  regelt,  den  eine  Nation  zur  Ge- 
winnung des  erforderlichen  Vorrates  noch  bebauen  muß. 

375 


so  würde  der  Staat,  falls  er  zu  der  Überzeugung  karre, 
daß  die  Äcker  schlechtester  Klasse  unrechtmäßig  oder 
zu  hoch  besteuert  sind,  nicht  einmal  die  Befugnis  haben, 
dies  eingesehene  Unrecht  zu  ändern  und  die  Steuer  auf 
diesen  Äckern  zu  ermäßigen  oder  aufzuheben,  oder  er 
müßte  dieses  Recht  erst  den  Grundbesitzern  der  anderen 
Ackerklassen  durch  eine  Kapitalsumme  abkaufen,  da  ja 
durch  eine  Ermäßigung  oder  Abschaffung  jener  Steuer 
auf  den  schlechtesten  Äckern  gleichfalls  der  bei  den  bis- 
herigen Ankäufen  von  Äckern  besserer  Klasse  gekaufte 
Reinertrag  sich  schmälern  würde. 

Der  letzte  und  wahre  Sinn  jenes  Entschädigungs- 
anspruches ist,  wie  wir  somit  von  allen  Seiten  sehen,  gar 
kein  anderer  als  der,  daß  es  überhaupt  kein  öffent- 
liches Recht  gibt,  sondern  daß  alles  öffentliche  Recht 
nur  das  Privateigentum  einer  besitzenden 
Klasse  ist,  von  welcher  jede  Erlaubnis  zur  Fortent- 
wickelung vom  Staate  losgekauft  werden  muß. 

Wenn  also  dennoch  Entschädigung  für  Aufhebung  der 
Grundsteuerfreiheit  von  Rittergütern  bewilligt  wird,  so 
tritt  hier,  da  dies  Vorrecht  durch  das  prohibitive  Rechts - 
bewußtsein  der  Zeit  seiner  Substanz  nach  vernichtet  und 
somit  nichts  von  ihm  übriggeblieben  ist,  was  entschädigt, 
umgewandelt  oder  abgelöst  werden  könnte,  auf  das  stärkste 
ein,  was  schon  oben  (S.  341  fg.)  nachgewiesen  wurde.  Eine 
solche  Entschädigung  ist,  da  nichts  Abzulösendes  mehr 
existiert,  keine  Ablösung,  sondern  sie  stellt  einen 
Tribut  dar,  welchen  ein  Volk  einer  herrschenden  und 
gerade  dadurch  als  herrschend  anerkannten  Klasse  ent- 
richtet, um  von  dieser  ein  —  partielles  —  Recht  auf  die 
Fortentwickelung  des  öffentlichen  Geistes  zu  erkaufen. 
Der  Widerspruch  ist  hier  der  ungeheuere  und  kate- 
gorische, weil  zu  gleicher  Zeit  die  prohibitive  Aufhebung 

376 


des  Standesvorrechtes  durch  das  gesetzgeberische  Bewußt- 
sein selbst  und  zu  gleicher  Zeit  wieder,  diesen  ersten  Satz 
vernichtend,  in  jenem  Tribut  vielmehr  das  Herrschafts - 
recht  der  bevorrechteten  Klasse  proklamiert  und  seine 
Anerkennung  dem  Volke  zugemutet  wird !  Es  wird  sogar 
dadurch  das  Vorrecht  aus  einem  zeitigen  nun  erst  in  ein 
definites  und  perpetuelles  verwandelt,  da  natürlich 
das  für  die  Ablösung  der  Steuerfreiheit  gewährte  Kapital 
in  seinen  perpetuellen  Zinsen  für  immer  das  Äquivalent 
der  Steuerfreiheit  sichert,  die  bis  dahin  nur  zeitig  bestand. 
Ein  solcher  Vorschlag  stellt  daher  eine  kategorische  E  m  - 
pörung  gegen  die  Logik  selber  dar,  und  muß  deshalb 
wieder  eine  Empörung  jedes  unbefangenen  Rechtssinnes 
zur  Folge  haben. 

Wenn  eine  Staatsregierung  —  wie  dies  während  der 
Niederschreibung  dieser  Zeilen1)  von  der  preußischen 
Staatsregierung  angekündigt  worden  ist  —  die  unbegreif- 
liche Schwäche  hat,  einen  solchen  Vorschlag  zu  machen, 
so  verzichtet  sie  dabei  grundsätzlich  auf  das  Souveräni- 
tätsrecht des  Staates,  und  wenn  eine  Kammer  pflicht- 
vergessen genug  sein  könnte,  aus  Rücksicht  auf  diese 
Schwäche    auf    einen    solchen   Vorschlag    einzugehen2), 

*)  Winter   1859. 

2)  Das  oben  Entwickelte  ist  eine  bloße  Folge  der  rein 
allgemeinen,  in  dieser  Materie  herrschenden  Grundsätze.  Noch 
viel  widerrechtlicher  und  schlimmer  aber  verhält  sich  ein  sol- 
cher Vorschlag  in  Preußen,  weil  hier  schon  durch  das  Gesetz 
vom  27.  Oktober  1810  über  die  Abgabencinrichtung  und  die 
Finanzen  des  Staates  die  unentgeltliche  Aufhebung  der 
adeligen  Grundsteuerfreiheit  gesetzlich  verfügt 
worden  ist.  Es  heißt  in  diesem  Gesetze:  „Auf  dem  kürzesten 
Wege  wird  daher  auch  ein  neues  Kataster  angelegt  werden,  um 
die  Grundsteuer  danach  zu  bestimmen.  Unsere  Absicht  ist  hier- 
bei keineswegs  auf  eine  Vermehrung  der  bisher  aufgekommenen 

377 


so  würde  sie  wenigstens  weit  logischer  handeln,  gleich 
geradezu    die    Hörigkeit    des   Volkes    von    den 

gerichtet ;  nur  auf  eine  gleiche  und  verhältnismäßige  Verteilung 
auf  alle  Grundsteuerpflichtigen.  Jedoch  sollen  alle  Exem- 
tionen wegfallen,  die  weder  mit  der  natürlichen  Ge- 
rechtigkeit (!!),  noch  mit  dem  Geist  der  Verwaltung 
in  anderen  Staaten  (sie!)  länger  vereinbar  sind.  Die  bis 
jetzt  von  der  Grundsteuer  befreit  gebliebenen  Grundstücke  sollen 
also  ohne  Ausnahme  damit  belegt  werden,  und  wir 
wollen,  daß  es  auch  in  Absicht  auf  unsere  eigenen  Domanial- 
besitzungen  geschieht.  Wir  hoffen,  daß  diejenigen,  auf  welche 
diese  Maßregel  Anwendung  findet,  sich  damit  beruhigen  wer- 
den, daß  künftig  der  Vorwurf  sie  nicht  weiter  tref- 
fen kann,  daß  sie  sich  auf  Kosten  ihrer  Mitunter- 
tanen öffentlichen  Lasten  entziehen,  sowie  mit  den 
Betrachtungen:  daß  die  von  ihnen  künftig  zu  entrichtenden 
Grundsteuern  dem  Aufwände  nicht  gleichkommen,  den 
sie  haben  würden,  wenn  man  die  ursprünglich  auf 
ihren  Gütern  haftenden  Ritterdiens  t  ver  p  f  1  i  ch  - 
tungen  von  ihnen  forderte,  für  welche  die  bisherigen 
ganz  unverhältnismäßigen  Abgaben  gegeen  die  Grundsteuer  weg- 
fallen." 

So  sprach  das  Gesetz  schon  1810!  Dieses  Gesetz  wurde  nie 
aufgehoben,  und  nur  seine  Ausführung  wußte  der  Adel  zu  ver- 
hindern Schon  1810  bestand  die  Grundsteuerfreiheit,  wie  das 
Gesetz  ausdrücklich  anerkennt,  „gegen  die  natürliche  Ge- 
rechtigkeit." Seitdem  besteht  sie  auch,  nun  fünfzig  Jahre 
hindurch,  gegen  das  Gesetz,  das  sie  ausdrücklich  unent- 
geltlich aufhob  und  dessen  Grundsätze  überall  mit  den  oben 
entwickelten  übereinstimmen.  Wenn  es  nicht  überraschen  kann, 
daß  die  von  Friedrich  Wilhelm  III.  ausgesprochene  utopische 
Hoffnung,  daß  sich  die  Betroffenen  durch  den  Hinweis  auf 
ihr  rechtliches  Gewissen  beruhigen  würden,  an  dem  für  Recht 
und  Gewissen  tauben,  ewiger  Ausbeutungswut  dahingegebenen 
Geiste  der  Aristokratie  zu  schänden  werden  mußte,  so  muß  es 
dagegen  wahrhaft  und  aufs  höchste  überraschen,  wenn  eine 
Regierung,  welche  die  konstitutionelle  Fahne  tragen  will,  die 
Widerrechtlichkeit  auf   sich   nimmt,   für  ein   gegen  die  „natür- 

378 


adeligen  Grundbesitzern  neu  zu  prokla- 
mieren1) ! 

Wir  wenden  uns  von  dieser  Entwicklung  des  begriff- 
lichen Unterschiedes,  wo  die  bloße  Aufhebung  und  wo 
die  Umwandlung  oder  Ablösung  bestehender  Rechte  durch 
prohibitive  Gesetze  geboten  sei,  zu  unserer  Hauptunter- 
suchung selbst  zurück. 

Wir  haben  bisher  nachgewiesen,  daß  und  weshalb  pro- 
hibitive Gesetze,  welche  ein  früheres  Recht  als  unerlaubt 
aus  der  Rechtssphäre  ausschließen,  ohne  jede  Rückwirkung 
und  ohne  jede  Beeinträchtigung  der  rechtlichen  Willens- 
freiheit und  des  Grundsatzes  von  der  Festigkeit  erwor- 
bener Rechte,  auch  auf  die  bestehenden  Verträge  ein- 
greifen und  dem  jetzt  als  unerlaubt  gesetzten  Rechtsinhalt 
sofort  jede  Fortexistenz  entziehen  müssen. 

Nunmehr  müssen  wir  jedoch  auch  noch  die  begriff- 
liche  Schranke   entwickeln,    innerhalb   welcher   allein 


liehe  Gerechtigkeit"  und  seit  fünfzig  Jahren  auch  gegen  das 
Gesetz  gehendes  abgeschafftes  Vorrecht  jetzt  eine  Entschädi- 
gung zu  beantragen  und  so  allem  Volke  deutlich  zu  beweisen 
wagt,  wie  wir  mit  allem  Verfassungsgerede  noch  lange  nicht 
einmal  auf  der  Höhe  des  freisinnigen  Absolutismus 
wieder  angelangt  sind. 

*)  Man  kennt  übrigens  das  Schicksal,  das  dieser  in  der 
Session  1859/1860  von  dem  Ministerium  vorgelegte  Entschädi- 
gungsgesetzentwurf seitdem  gehabt  hat.  Von  der  Zweiten  Kam- 
mer angenommen,  wurde  er  es  selbstredend  auch,  natür- 
lich mit  der  Miene  einer  heroischen  Opferwilligkeit  (1), 
vom  Herrenhause,  darauf  aber  vom  Ministerium  deshalb  zu- 
rückgezogen, weil  diese  Vorlage  konnex  mit  einer  anderen  über 
die  Grundsteuerausgleichung  der  verschiedenen  Provinzen  ge- 
wesen war,  die  der  Grundaristokratie  nicht  „Opfer"  dieser 
Art  auferlegt  hatte  und  deshalb  vom  Herrenhause  verworfen 
worden  war. 

370 


das  Gesagte  Gültigkeit  hat.  Es  wird  also  jetzt  zu  zeigen 
sein,  wann  prohibitive  Gesetze  die  angegebene  Wirkung 
haben  müssen,  und  wann  sie  sie  nicht  haben  dürfen, 
ohne  sich  mit   Rückwirkung  zu  beflecken. 

Der  Nachweis  dieses  Unterschiedes  wird  aber  das  bis- 
her Entwickelte  in  keiner  Weise  umstoßen,  da  er 
nur  die  ausdrückliche  Heraushebung  dessen  sein 
wird,  was  bisher  stillschweigend  voraus- 
gesetzt wurde. 

Er  wird  vielmehr  einerseits  auch  das  Bisherige  durch 
die  Entwickelung  der  einzigen  Schranke,  welche  für  die 
sofortige  Einwirkung  zwingender  Gesetze  auf  bestehende 
Rechtsverhältnisse  existiert,  durch  noch  tiefere  Be- 
gründung erst  völlig  sicher  stellen  und  unanfecht- 
bar machen,  andererseits  jeden  Mißbrauch  des  entwickel- 
ten Gesetzes  verhüten  und  die  Wahrheit  unserer  Theorie 
gerade  durch  die  Hindurchführung  durch  ihren  begriff- 
lichen Unterschied  erst  zur  letzten  Evidenz  bringen. 

Nachdem  wir  also  bisher  nur  im  allgemeinen  gesehen, 
daß  prohibitive  Gesetze  sofort  einwirken  müssen,  handelt 
es  sich  jetzt  darum,  das  genaue  begriffliche  Gesetz  zu  ent- 
wickeln, wann  und  wann  nicht  Prohibitivgesetze  diese 
Wirkung  haben  dürfen. 

Savigny  verwirft  bekanntlich  durchaus  die  Einwirkung 
der  Prohibitivgesetze  auf  frühere  Verträge1)- 

Und  merkwürdigerweise  ist  es  gerade  der  von  Savigny 
seiner  Theorie  zugrunde  gelegte  Gedanke,  welcher,  wenn 
er  in  seiner  wahren  Bedeutung  erfaßt  wird,  Grenze 


l)  Z.B.  VIII,  436:  „ so  daß  die  nicht  selten  aufge- 
stellte Behauptung  verworfen  werden  muß,  nach  welcher  neue 
Prohibitivgesetze  die  Natur  der  früher  geschlossenen  Verträge 
sollen  umändern   können"   usw. 

360 


und  Grund  angibt,   in  welchen  Fällen   prohibitive  Ge- 
setze sofort  eingreifen  dürfen  und  in  welchen  nicht ! 

Savigny  selbst  ist  diese  wahre  Natur  und  Bedeutung 
des  ihn  treibenden  Gedankens  verhüllt  geblieben.  Und  sie 
mußte  ihm  verhüllt  bleiben,  weil  Savigny  in  diesem  Ge- 
danken, welcher  gerade  nur  die  aus  dem  Begriffe  sich  er- 
gebende Folgerung  für  die  spezielle  Frage  der  Ein- 
wirkung von  Prohibitivgesetzen  in  sich  enthält,  miß- 
verständlichweise das  Hauptgesetz  für  die  gesamte 
Rückwirkungsmaterie,  d.h.  für  die  gesamte  Frage 
der  zeitlichen  Kollision  der  Gesetze  erblicken  wollte. 

Aus  dieser  falschen  Stellung  gingen  dann  notwendiger- 
weise sowohl  die  praktisch-falschen  Folgerungen  hervor, 
die  Savigny  aus  jenem  Gedanken  zog,  als  auch  die  nicht- 
begriffliche und  schiefe  Auffassung  und  die  weder  er- 
schöpfende und  kategorische  noch  richtige  Entwickelung, 
zu  welcher  bei  Savigny  in  seiner  Formel  vom  Erwerb 
und  vom  Dasein  der  Rechte  sich  dieser  in  ihm  arbei- 
tende   Gedanke   verkümmert    hat. 

Dennoch  wird  es  für  jeden  Denkenden  klar  sein,  daß 
das  Nachfolgende  nur  den  in  seinen  eigenen  Begriff 
erhobenen,  nur  den  zu  seiner  eigenen  Wahrheit 
gebrachten  in  Savigny  tätigen  Gedanken  darstellt. 

Das  Gesetz,  welches  wir  hier  zu  entwickeln  haben  und 
von  dem  wir  später  zeigen  werden,  wie  es  mit  imma- 
nenter Notwendigkeit  aus  dem  von  uns  aufgestellten 
Begriffe   der    Nichtrückwirkung    herfließt,    ist   folgendes. 

Alle  prohibitiven  oder  zwingenden  Gesetze,  so  viel- 
fach verschiedenen  Inhaltes  sie  auch  sein  mögen,  können 
immer  nur  von  zweierlei  Art  sein . 

Sie  können  entweder  bestimmen,  daß  ein  bisher  be- 
stehendes   bestimmtes    Recht    (Rechtsinhalt")    überhaupt 

381 


nicht  mehr  Eigentum1)  des  Individuums  sein  und 
durch  keinerlei  Willenshandlung  dazu  gemacht  werden 
könne2). 

x)  Es  erhellt  von  selbst,  daß  wir  dies  Wort  hier  nicht 
in  dem  engen  Sinne  des  dinglichen  Eigentums  nehmen,  sondern 
in  jenem  allgemeineren,  in  welchem  alles  Eigentum  des  Indi- 
viduums genannt  werden  muß,  was  der  ausschließenden 
Herrschaft  eines  individuellen  Willens  unter- 
worfen werden  kann;  also  in  dem  Sinne,  in  welchem  das 
Allgemeine  Landrecht  das  Eigentum  definiert,  T.  I,  Tit.  8, 
§  1 :  „Eigentümer  heißt  derjenige,  welcher  befugt  ist,  über 
die  Substanz  einer  Sache  oder  eines  Rechtes  mit  Aus- 
schließung anderer  aus  eigener  Macht  durch  sich  selbst 
oder  einen  Dritten  zu  verfügen."  —  Wir  würden  den  Ausdruck 
,, Vermögensrechte"  anwenden,  welcher  gleichfalls  ebenso  ding- 
liche wie  obligatorische  Rechte  in  sich  schließt,  wenn  nicht 
Vermögensrechte  bloß  Ansprüche  materieller  Natur  bezeich- 
neten, während,  wie  z.  B.  im  Familienrecht,  Eherecht  usw., 
auch  Rechte  ideeller  Natur,  die  der  väterlichen,  eheherrlichen, 
hausherrlichen  und  der  Personengewalt  überhaupt  entfließen, 
der  ausschließenden  Herrschaft  des  individuellen  Willens  un- 
terworfen sein   könnten. 

2)  Es  ist  also  hier  von  Gesetzen  die  Rede,  welche  einen 
Rechtsinhalt,  um  an  eine  römische  Einteilung  zu  erinnern,  extra 
nostrum  Patrimonium  erklären.  Denn  es  ist  klar,  daß  die  obige 
Unterscheidung  auf  demselben  Gedanken  beruht,  welcher  der 
römischen  Einteilung  der  Sachen  in  res  quae  in  nostro  patri- 
monio  vel  extra  nostrum  Patrimonium  habentur  (Gajus,  II, 
1 — 11.  Inst,  de  rerum  divis.,  II,  1.  D.  de  divis.  rer.  et  quäl., 
I,  8)  zugrunde  liegt,  nur  daß  diese  von  den  Römern  nur  auf 
körperliche  Sachen  angewendete  Einteilung,  analog  der  schon 
im  Landrecht  (s.  die  vorige  Note)  vorliegenden  Erweiterung 
des  Eigentumsbegriffes,  hier  auch  auf  die  persönlichen 
Rechte  ausgedehnt  worden  ist.  Die  Einteilung  der  Sachen  in 
res  quae  in  patrim.  vel  extra  nostr.  patr.  habentur  ist  übrigens 
wieder  identisch  mit  der  Einteilung  in  res  quae  in  commercio 
und  quae  extra  commercium  sunt,  worüber  am  Ende  dieses 
Paragraphen. 

382 


Oder  aber  sie  können  das  bestimmte  Recht  als  ein 
solches,  das  Eigentum  des  Individuums  sein  und  dazu 
gemacht  werden  kann,  fortbestehen  lassen  und  nur  die 
Frage  betreffen,  in  welcher  Form  und  unter  welchen 
Bedingungen  die  Verbindung  des  Individuums  mit 
dem  Inhalte  dieses  Rechtes  erfolgen  muß,  um  rechtmäßig 
und  gültig  zu  sein. 

Prohibitivgesetze  der  ersten  Art,  welche  also  ver- 
neinen1), daß  ein  Rechtsinhalt  überhaupt  noch  vom  In- 
dividuum zu  seinem  Eigentum  gemacht,  seinem  Privat- 
willen unterworfen  werden  könne  (also  Gesetze,  welche 
einen  Rechtsinhalt  extra  nostrum  Patrimonium  erklären, 
s.  Note  2,  p.  382),  müssen  sofort  auf  alle  be- 
stehenden Verträge  und  um  so  mehr  auf  alle  ande- 
ren Rechtsverhältnisse  einwirken. 

Prohibitivgesetze  der  zweiten  Art,  welche  ohne  die 
Fähigkeit  eines  Rechtes,  zum  individuellen  Eigentum  ge- 
macht zu  werden,  aufzuheben,  bloß  jene  Rechtsregeln  be- 
treffen, welche  bestimmen,  in  welcher  Form  von  Willens- 
handlungen und  unter  welchen  Bedingungen  derselben 
die  Verbindung  des  Individuums  mit  jenem  Recht  er- 
folgen muß,  um  es  zu  seinem  Eigentum  zu  machen,  dürfen 
niemals  auf  bestehende,  durch  individuelle  Willensaktion 
vermittelte  Rechtsverhältnisse  einwirken  2) . 

x)  Auf  die  Ausdrucksform  des  Gesetzes  kommt  es  natür- 
lich nicht  an.  Es  kann  ebenso  gut  ein  zwingendes  Gesetz  in 
positiver  Satzform  sein,  welches  dann  ebenso  sehr  verneinend 
ist,  dadurch,  daß  es  sein  Gegenteil  ausschließt.  Es  ist  über- 
flüssig, zu  wiederholen,  daß  wir  unter  prohibitiven  oder  zwin- 
genden Gesetzen  alle  absoluten  Gesetze  verstehen,  welche 
alles    Abweichen    des    Privatwillcns    ausschließen. 

")  Es  muß  schon  hier  von  selbst  erhellen,  inwieweit  dem 
Obigen  die  Savignysche  Formel  von  Gesetzen  über  den  Er- 
werb und   von   Gesetzen  über   das   Dasein   der   Rechte  ent- 

383 


Um  den  Schein  zu  beseitigen,  daß  dieser  kategorische 
Unterschied  kein  den  Reichtum  der  Materie  erschöpfender 

spricht.  In  der  Tat  ist  dieselbe  dann  ganz  richtig,  wenn 
man  erstens  ihre  Gültigkeit  lediglich  auf  die  prohibi- 
tiven  (absoluten)  Gesetze  beschränkt,  und  zweitens  sie 
in  ihren  oben  entwickelten  Begriff  auflöst,  wodurch 
dann  erkannt  wird,  daß  auch  Wuchergesetze,  Aufhebung 
der  lex  commissoria  etc.  etc.  (siehe  später)  zu  den  Ge- 
setzen über  das  Dasein  der  Rechte  gehören,  und  endlich 
drittens  genau  festhält,  daß  auch  prohibitive  Gesetze  immer 
nur  vom  Moment  ihres  Erscheinens  an  wirken,  also  der  Fort- 
wirkung  eines  früher  vorhandenen  Rechtszustandes  von  jetzt 
ab  ein  Ziel  setzen,  niemals  aber  früher  vollbrachten  individuellen 
Handlungen  nachträglich  eine  Wirkung  in  der  Vergangenheit 
beilegen  können,  die  sie  nach  dem  damaligen  Gesetze  nicht 
hatten,  oder  sie  der  Wirkung,  die  sie  damals  hatten,  schon  für 
die  Vergangenheit  berauben  können  —  drei  Punkte,  deren 
Verkennung  in  der  Savignyschen  Theorie  innerlich  auf  das 
genaueste  zusammenhängt.  Daß  aber,  wenn  die  Savignysche 
Formel  in  ihren  oben  entwickelten  Begriff  aufgehoben 
wird,  damit  etwas  ganz  anderes  aus  ihr  geworden,  bedarf 
keiner  weiteren  Klarlegung  und  zeigt  sich  eben  am  sinnlichsten 
schon  darin,  daß  Gesetze,  welche  nach  der  Savignyschen  Formel 
zu  den  Gesetzen  über  den  Erwerb  der  Rechte  gehören,  z.B. 
Wuchergesetze  usw.,  nach  der  obigen  Begriffsbestimmung,  weil 
sie  einen  Rechtsinhalt  außerhalb  des  Eigentums  (extra  Patri- 
monium) erklären,  vielmehr  zu  Gesetzen  über  das  Dasein  der 
Rechte  werden.  —  Die  Savignysche  Formel  von  den  Gesetzen 
über  den  Erwerb  und  über  das  Dasein  der  Rechte  hat  aber 
auch  als  bloße  Verstandes  ab  straktion  das  ewige  Schick- 
sal einer  solchen,  daß  ihre  Unterschiede  verschwindende 
und  haltlos  ineinander  übergehende  sind,  und  also 
nicht  einmal  eine  feste  Grenze  gegeneinander  haben.  Man 
hat  dies  merkwürdigerweise  bei  dieser  Savignyschen  Einteilung 
stets  übersehen.  Aber  bei  den  Anwendungen  (1.  über  Per- 
sonenzustand,  2.  jura  in  re)  wird  nachgewiesen  werden,  worauf 
hier  Bezug  zu  nehmen  genügt,  daß  dieselben  Gesetze  sich 
notwendig,  je  nachdem  man  sich  auf  den  Standpunkt  des  In- 

384 


sei  oder  zu  Widersprüchen  mit  dem  früher  Gesagten  führe, 
muß  zuvörderst  gleich  hier  ausdrücklich  hervorgehoben 
werden,  daß  bei  den  Obligationen,  weil  diese  ihre 
bestimmte  juristische  Natur  nicht  bloß  durch  die  Hand- 
lung empfangen,  auf  welche  sie  ein  Recht  gewähren, 
sondern  ebensosehr  durch  ihren  Erwerbungsgrund, 
Gesetze,  welche  aufheben,  daß  aus  diesem  bestimmten 
Erwerbungsgrund  eine  Obligation  überhaupt  oder 
eine  Obligation  von  bestimmter  Beschaffenheit  hervor- 
gehen könne,  zu  jenen  Prohibitivgesetzen  erster  Klasse 
gehören,  welche  negieren,  daß  ein  qualitativ  bestimmtes 
Recht  überhaupt  noch  ferner  existieren,  unter  die  Herr- 
schaft des  individuellen  Willens  gebracht  werden  könne. 
Denn  die  obligatorische  Forderung  hat  erst  an 
ihrem  Erwerbungsgrund  (Kauf,  Darlehn,  Entschä- 
digung usw.)  ihre  individuelle  Natur  und  juristische  Quali- 
fikation, welche  dem  Rechte  seine  Bestimmtheit  ver- 
leiht, es  zu  dem  macht,  was  es  ist.  —  Anders  bei  den 
dinglichen  Rechten.  Diese  qualifizieren  sich  lediglich 
durch  die  Bestimmtheit  des  Rechtsinhaltes,  auf  wel- 
chen sie  Anspruch  gewähren,  und  des  Rechtsobjek- 
tes, das  sie  demselben  unterwerfen.  Hier  sinkt  daher 
der  Erwerbungsgrund,  ob  z.  B.  Eigentum  durch  Usu- 
kapion, Erbschaft,  Kauf  usw.  erworben  worden  sei,  zum 

dividuums  oder  auf  den  des  Gesetzes  stellt,  das  einemal 
als  Gesetze  über  den  Ervverb,  das  anderemal  als  Gesetze 
über  das  Dasein  der  Rechte  darstellen,  diese  Formel  also 
überhaupt  nicht  einmal  zu  einer  Einteilung  zu  dienen  vermag. 
—  Gleichwohl  ist  es  nur  das  Walten  des  oben  entwickel- 
ten Begriffes,  das  der  Savignyschen  Formel  in  ahnender 
Verkümmerung  zugrunde  liegt.  Der  Unterschied  zwischen  beiden 
ist  nur  derjenige,  der  immer  stattfindet,  wenn  ein  geistiger 
Inhalt,  statt  in  die  Form  des  Begriffes  erhoben  zu  werden, 
sich  nur   als   abstrakte   Verstandes  vor  stel  lung  erfaßt. 

2S  Lasialle.    Gm.  Schriften.   Band  IX.  385 


gleichgültigen  Mittel,  zur  bloßen  Form  der  erwerbenden 
Handlung  zusammen. 

Prohibitivgesetze  über  den  Erwerbungs- 
grund gehören  daher  bei  den  Obligationen  zu  den 
Gesetzen  erster,  bei  den  dinglichen  Rechten  zu 
denen  zweiter  Art. 

Nur  dann  wird  der  Rechtsgrund,  aus  welchem 
ein  dingliches  Recht  hervorfließt,  von  Einfluß,  wenn 
er  auch  wieder  in  dem  Inhalte  des  Rechtes  als  eine 
nähere  Bestimmtheit  desselben  hervortritt.  Ding- 
liche Rechte  waren  z.  B.  im  deutschen  Recht  aus- 
herrenschaftlichen  Rechten  (Oberhoheit,  Erbunter- 
tänigkeit usw.)  hervorgegangen.  Dies  scheint  zunächst  nur 
ein  Erwerbungsgrund,  und  somit  von  der  gleich- 
gültigen Natur  zu  sein,  welche  bei  dinglichen  Rechten  dem 
Erwerbungsgrund  als  solchem  zukommt.  Allein  dieser 
Rechts-  oder  Erwerbungsgrund  trat  hier  auch  als  eine 
nähere  Qualifikation  des  konstituierten  ding- 
lichen Rechtes  selbst  an  demselben  hervor.  Es 
war  feudales1)  Obereigentum  an  dem  Eigentum 
(dominium  utile)  eines  anderen.  Oder  es  war  Ober- 
hoheit an  seinem  vollen  Eigentum.  Dies  quali- 
tativ-bestimmte Recht  sollte  nicht  mehr  sein,  war 
prohibiert,  und  somit  waren  auch  solche  Geldabgaben 
prohibiert,  die  an  sich  und  aus  anderem  Rechts- 
grunde noch  sehr  wohl  ferner  stipuliert  werden  konnten. 
Aber  nicht  in  der  äußerlichen  Abgabe,  in  die  sich  die  Be- 
friedigung eines  Rechtes  auflöst  —  fast  alle  Rechte  lösen 
sich  zuletzt  freilich  in  Geld  auf  — ,  sondern  in  der  an- 
gegebenen genauen  Qualifikation  dieses  Rechts- 

*)  Wenn  es  nämlich  aus  feudalem  Grunde  usw.,  nicht 
aus  der  Verleihung  des  Grundstückes  unter  Vorbehalt 
des  dominium  directum  hervorgegangen  war. 

386 


Inhaltes  lag  die  juristische  Natur  desselben.  Hier 
war  also  der  Erwerbungsgrund  deshalb  von  Influenz,  weil 
er  sich  an  dem  Rechtsinhalt  selbst,  durch  welchen  sich 
die  dinglichen  Rechte  qualifizieren,  als  eine  nähere  und 
jetzt  untersagte  Bestimmtheit  derselben  heraus- 
stellte. Grundstücke  dagegen,  zu  deren  Eigentümer  sich 
die  Adeligen  früher,  wenn  auch  in  feudalster  und  unrecht- 
mäßigster Weise  gemacht  hatten,  wurden  ihnen  durch  die 
Französische  Revolution  natürlich  nicht  entzogen  und 
konnten  es  nicht  werden,  weil  hier  der  feudale  Erwerbungs- 
grund nicht  mehr  als  nähere  Bestimmtheit  an  dem 
konstituierten  dinglichen  Recht  fortlebte,  son- 
dern dies  schlechtweg  Eigentum  überhaupt  ge- 
worden war.  —  So  wird  hier  dem,  was  wir  oben  über 
den  Einfluß  des  Rechtsgrundes  gesagt  haben,  auch  in  be- 
zug  auf  dingliche  Rechte  nicht  widersprochen,  sondern 
dasselbe  nur  vervollständigt  und  tiefer  begründet. 

Zu  welcher  von  jenen  beiden  Arten  nun  ein  Prohibitiv- 
gesetz  gehöre,  wird  bei  nur  einigermaßen  genauer  Er- 
wägung seines  bestimmten  Inhaltes  und  Zweckes  niemals 
zweifelhaft  sein  können. 

Ehe  wir  aber  nachweisen,  mit  welcher  inneren  be- 
grifflichen Notwendigkeit  der  angegebene  Unter- 
schied aus  unserer  gesamten  Theorie  hervorfließt,  sich  aus 
ihr  rechtfertigt  und  wieder  wechselweise  ihr  Bestätigung 
verleiht,  wollen  wir  denselben  zuvor  durch  einige  konkrete 
Beispiele  zur  Anschaulichkeit  bringen. 

Ein  Gesetz  also,  welches  den  Übertrag  von  Eigentum 
ohne  Tradition  oder  Schenkungen  ohne  Insinuation  für 
ungültig  erklärt,  darf  trotz  seiner  prohibitiven  Natur  auf 
früher  geschlossene  Kaufverträge  und  Schenkungen  nicht 
einwirken.  Denn  es  hebt  nicht  das  Recht  des  Individuums 
auf,    das    Eigentum    an    solchen    Objekten    zu   erwerben. 

ö*  3S7 


sondern  betrifft  nur  die  Frage,  in  welcher  Form  diese 
Verbindung  zu  geschehen  hat.  Dies  gilt  natürlich  für  alle 
Gesetze  über  die  äußere  Form  und  Gültigkeit  von  Hand- 
lungen. 

Ebenso  wenn  durch  ein  neues  Gesetz  Frauen  für  un- 
fähig erklärt  werden,  ohne  Autorisation  des  Ehemannes. 
Söhne  ohne  väterliche  oder  vormundschaftliche  Einwilli- 
gung, oder  wenn  Personen  selbst  überhaupt  und  unter 
allen  Umständen  für  unfähig  erklärt  werden,  bestimmte 
oder  alle  Arten  von  Obligationen  gültig  zu  kontrahieren, 
so  wirken  diese  prohibitiven  Gesetze  auf  die  bereits  ge- 
tätigten Obligationen  nicht  ein.  Denn  so  lange  das  In- 
dividuum den  Anspruch  auf  eine  bestimmte  Art  von  Lei- 
stungen anderer  zu  seinem  rechtlichen  Eigentum  machen 
kann,  so  lange  haben  die  Gesetze,  welche  die  Bedingungen 
feststellen,  unter  welchen  derselbe  auf  gewisse  Personen, 
oder  selbst  die  Klassen  von  Personen,  auf  die  er  über- 
haupt erlangt  oder  nicht  erlangt  werden  kann,  immer  nur 
die  Natur,  über  die  bestimmten  Formen  und  Modali- 
täten zu  handeln,  unter  welchen  der  noch  als  möglich  an- 
erkannte Anspruch  auf  diese  bestimmte  Art  von 
Leistungen  gültig  zum  individuellen  Eigentum  gemacht 
werden  kann.  Sie  handeln  also  immer  nur  über  den  Er- 
werb, nicht  über  das  Dasein  des  Rechtes  in  unserem 
Sinne.  Gesetze  also,  wie  das  Sc.  Macedonianum  oder 
Vellejanum,  selbst  wenn  sie  wahrhaft  prohibitive  Gesetze 
sind,  was  jedenfalls  das  letztere  nicht  ist,  weil  den  Frauen 
erlaubt  war,  gleich  im  Bürgschaftsakt  auf  den  Schutz 
dieses  Senatuskonsults  zu  verzichten,  kurz,  alle  Gesetze 
über  die  persönliche  Handlungsfähigkeit  über- 
haupt können  niemals  auf  frühere  Verträge  einwirken. 
Ebenso  wenn  ein  Gesetz  Erbschaft  überhaupt  oder  Ver- 
erbung  einer   bestimmten   Art   von   Objekten   aufhebt,   so 

388 


wirkt  dasselbe  selbstredend  auf  die  früher  bereits,  er- 
langten Erbschaften  nicht  ein.  In  der  Tat  ist  Erbschaft 
nur  ein  bestimmter  Erwerbungsgrund,  ein  Eigentum  zu 
erlangen :  durch  Fortsetzung  der  Personenidentität  nach 
dem  Tode.  Durch  andere  Handlungen,  durch  Kauf,  Okku- 
pation, Usukapion  usw.  kann  noch  Eigentum,  und  zwar 
Eigentum  an  diesen  Objekten,  erworben  werden. 

.Wenn  aber  ein  Gesetz  Eigentum  überhaupt  oder  Eigen- 
tum an  bestimmten  Objekten  aufhebt,  so  ist  nun  die  ganz 
selbstredende  Folge,  in  der  niemand  eine  Rückwirkung 
finden  kann,  daß  alle  diese  auch  durch  frühere  Erb- 
schaften erworbenen  Objekte,  ebensogut  wie  die  durch 
Kauf  oder  irgendwie  erworbenen,  von  jetzt  ab  aus  dem 
Eigentum  der  Individuen  herausfallen.  Es  ist  diesen 
Rechtsobjekten  eben  die  Möglichkeit  abgesprochen,  eigen- 
tümlich besessen  zu  werden. 

Alle  die  früher  von  uns  analysierten  Gesetze  über  Fidei- 
kommisse,  Feudallasten,  unablösliche  Renten  usw.  ge- 
hören nun  zu  diesen  Gesetzen,  welche  dies  auf- 
heben :  daß  ein  bestimmtes  Recht  überhaupt  in  der 
Eigentumssphäre  des  Individuums  sein  könne 
—  und  haben  deshalb  notwendig  die  sofortige  Abro- 
gation der  weiteren  Wirkung  solcher  auch  durch  frühere 
Verträge  gesetzten  Rechte  zur  Folge.  Ein  Gesetz,  wel- 
ches fideikommissarische  Substitutionen  verbietet,  löst  sich 
auf  in  ein  Gesetz,  welches  aufhebt,  daß  die  Befugnis, 
durch  graduierte  Vererbung1)  spätere  Generationen  an 
der  freien  Disposition  von  Todes  wegen  wie  unter  Leben- 
den, oder  spätere  Gesetze  in  ihrer  freien  Verfügung  über 
Intestaterbfolge,   zu  beschränken,   mit  in  das   Eigentums- 

x)  Resp.  durch  Übertragung  des  Eigentums  auf  noch  unge- 
borene Generationen,  s.  über  die  Familicnfidcikommisse  des 
deutschen  Rechtes  sub  III,  Anwendungen.  II  B. 

380 


recht  des  testierenden  Sacheigentümers  hineinfalle.  Es 
leugnet,  daß  ein  Recht  auf  solche  Bestimmung  irgend 
rechtliches  Eigentum  eines  Individuums  sein  könne.  Es 
erklärt  also  ein  früher  eigentümlich  besessenes  Recht 
außerhalb  des  Eigentumes,  extra  nostrum  Patrimonium, 
i.  e.  außerhalb  der  Herrschaftssphäre  des  individuellen 
Willens,  und  entzieht  ihm  so  die  Fähigkeit,  überhaupt 
noch  besessen  zu  werden. 

Ein  Gesetz,  welches  die  aus  feudalem  Ursprung  her- 
vorgehenden Rechte  prohibiert,  negiert,  wie  wir  sahen, 
daß  ein  Recht  auf  Oberherrlichkeit  über  andere  Per- 
sonen oder  ihre  Güter  zum  individuellen  Eigentum  ge- 
macht werden  könne. 

Ein  Gesetz,  welches  die  Unablöslichkeit  von 
Diensten,  von  Natural-  oder  Geldrenten  untersagt,  leug- 
net, auf  seinen  letzten  Grund  reduziert,  daß  jene  Be- 
schränkung der  menschlichen  Handlungsfreiheit,  welche 
in  der  Verpflichtung  eines  Individuums  zu  perpetuellen 
Handlungen  einer  bestimmten  Art  —  ohne  das  Recht 
desselben,  diese  Verpflichtung  in  einen  Schadenersatz  auf- 
zulösen —  vorliegt,  zum  rechtlichen  Eigentume  eines 
anderen   Individuums  werden  könne. 

Aus  diesem  Grunde,  weil  sie  ein  bisheriges  Recht 
außerhalb  des  Privateigentumes  erklären,  ihm 
die  Fähigkeit,  Eigentum  zu  sein,  überhaupt  ent- 
ziehen1),  müssen  diese  Gesetze  unterschiedslos  auch  auf 

*)  So  paradox  diese  Behauptung  auf  den  ersten  Blick  auch 
erscheinen  mag,  so  besteht  dennoch  im  allgemeinen  der  kultur- 
historische Gang  aller  Rechtsgeschichte  eben  darin, 
immer  mehr  die  Eigentumssphäre  des  Privatindivi- 
duums zu  beschränken,  immer  mehr  Objekte  außerhalb 
des  Privateigentums  zu  setzen.  Und  wenn  eine  wahrhafte 
Rechtshistorie  vom  kulturhistorischen  Standpunkt  aus  ge- 
schrieben werden  sollte,  so  müßte  dies  einer  der  hauptsächlich 

390 


die   bestehenden    Rechts-    und    Vertragsverhältnisse    ein- 
greifen. 

leitenden  Gedanken  sein.  Freilich  ist  dies  noch  nie  versucht 
worden.  In  der  Regel  macht  man  sich  auch  die  richtige  Be- 
trachtung ganz  unmöglich,  indem  man  sich  durch  die  dialek- 
tische Natur  der  einzelnen  Folgerungen  täuschen  läßt,  statt  auf 
den  Grund  zu  gehen.  So  hält  man  z.  B.  Abschaffung  der  Fidei- 
kommisse  immer  für  eine  Vermehrung  der  Freiheit  des 
Eigentums,  für  eine  Aufhebung  seiner  Beschränkungen.  Dies 
ist  aber  nur  als  faktische  Folge  der  Fall  und  äußert  sich  so 
für  das  Bewußtsein  derer,  die  sie  wünschen.  Der  Sache  nach 
ist  es,  wie  oben  gezeigt,  vielmehr  die  Aufhebung  der  Eigen- 
tumsfreiheit des  Eigentümers,  diese  und  jene  Bestimmung  über 
sein  Eigentum  treffen  zu  können,  vermindert  also  den  Um- 
fang des  Eigentumsrechtes.  Oder  man  faßt  in  der  Regel  die 
Periode  und  Herrschaft  der  freien  Konkurrenz  als  eine 
solche,  durch  welche  das  Eigentum  erst  zu  seiner  vollen  und 
wahren  Freiheit  und  Entwicklung  gekommen  sei.  Man  quali- 
fiziert sie  so,  und  „unbeschränkte  Freiheit  des  Eigentums' 
pflegt  das  Stichwort  derer  zu  sein,  welche  diese  Richtung  führen. 
Diese  Seite  ist  vermöge  der  allen  Begriffsbestimmungen  zu- 
kommenden Dialektik  in  den  realen  Folgen  in  der  Tat 
auch  vollständig  da  und  nicht  zu  leugnen.  In  ihrem  innersten 
Grunde  genommen  beruht  aber  die  Einführung  der  freien  Kon- 
kurrenz und  die  Aufhebung  der  Monopole  und  Zünfte  vielmehr 
auf  dem  Gedanken,  daß  ein  ausschließendes  Recht  auf 
Gewerbebetrieb  und  Absatz,  d.  h.  ein  Recht  darauf,  daß  andere 
Personen  an  sich  erlaubte  Handlungen  nicht  vornehmen  dürfen, 
unmöglich  Privateigentum  des  Individuums  sein  könne.  —  Wie 
sehr  auch  der  angegebene  Gedanke  der  zunehmenden  Aufhebung 
des  Privateigentumsumfanges  als  eines  wirklichen  Gesetzes  der 
kulturhistorischen  Bewegung  des  Rechtes  auf  den  ersten  An- 
schein zum  Widerspruch  reizen  und  für  paradox  gehalten  werden 
kann,  so  sehr  bewährt  er  sich  bei  eingehender  detaillierter  Be- 
trachtung, obwohl  statt  solcher  hier  nur  einige  sehr  oberfläch- 
liche Blicke  hingeworfen  werden  können. 

Es  ist  natürlich,  daß  der  Mensch  am  Anfang  der  Geschichte, 
wie  das  Kind  noch  heute,  nach  allem  seine  Hände  ausstreckt. 

391 


Es   ist   bereits   in   dem   Bisherigen   enthalten   und   be- 
darf nur  scharfer   Hervorhebung,  daß  es  notwendig  ist, 


alles  als  sein  setzt  und  keine  Grenze  kennt  für  den  Umfang  seiner 
Privatwillkür.  Erst  spät  und  in  immer  vorschreitendem  Maße 
lernt  er  dieselbe  finden.  Der  Fetischdiener  zerbricht  noch  seine 
Idole,  wenn  sie  ihm  den  Willen  nicht  erfüllen,  und  behandelt 
so  selbst  seine  Götter  als  sein  Eigentum !  Früh  wurden  die 
sacra  der  Privatwillkür  entzogen,  aber  noch  lange  blieb  der 
Mensch  selbst  Eigentumsgegenstand  des  anderen  Menschen.  Das 
Leben  des  im  Kriege  Überwundenen  wird  zum  Eigentum  des 
Siegers,  und  dies  Eigentumsrecht  erhält  sich  noch  lange  in  un- 
bedingter, dann  in  bedingter  Weise  beim  Sklaven.  Das  Eheweib 
ist  ein  Eigentum,  wird  gekauft  (vgl.  noch  die  römische  coemptio, 
conventio  in  manum  etc.),  die  Kinder  sind  Eigentum  des  Vaters, 
der  sie  nach  der  Strenge  des  alten  Rechtes  töten  kann,  und  der 
insolvente  Schuldner  wird  mit  Freiheit,  Leib  und  Leben  zum 
Eigentum  des  Gläubigers. 

Das  Recht  der  Eigentumsverfügung  ist  selbst  der  Familie 
gegenüber  das  unbeschränkte  vollständiger  Enterbung.  Die  mäh- 
lich entstehenden  Gesetze  über  Pflichtteile  bei  Vermächtnissen 
und  Schenkungen  sind  ebenso  viele  Beschränkungen  und  Auf- 
hebungen von  Eigentumsrechten.  Die  Sklaverei  mildert  sich  zur 
Leibeigenschaft,  das  Eigentumsrecht  an  dem  Leben  des  Men- 
schen vermindert  sich  zu  einem  Eigentum  an  seiner  lebensläng- 
lichen Arbeitskraft,  zu  einem  Recht  auf  lebenslängliche  und 
totale  Ausnutzung  desselben.  Die  Leibeigenschaft  vermindert 
sich  zur  Hörigkeit  in  verschiedenen  Abstufungen,  d.  h.  das 
Eigentumsrecht  an  der  totalen  Arbeitskraft  des  anderen  fällt 
fort  und  mindert  sich  zu  einem  Eigentumsrecht  an  einer  be- 
stimmten Art  der  Benutzbarkeit  des  Hörigen  und  an  einem 
bestimmten  Teile  seiner  Arbeitskraft  und  Zeit,  woneben  er 
jetzt  also  auch  für  sich  erwerben  kann.  Das  jus  primae  noctis 
ist  schon  die  Aufhebung  des  beständigen  Eigentumsrechtes  an 
dem  Leib  der  Sklavin  und  die  Beschränkung  desselben  auf  ihre 
Jungfrauenblüte.  —  Das  Mittelalter  ist  eben  die  Periode,  wo, 
ohne  daß  Sklaverei  mehr  vorhanden  ist,  der  mensch- 
liche Wille  nach  allen  seinen  drei  Momenten  (Allge- 

392 


daß  das  prohibierende  Recht,  dasselbe  aber  in  seiner  ge- 
nauen Bestimmtheit  genommen,  durch  keinerlei  in- 


meinheit,  Einzelheit,  Besonderheit)  als  Privateigentum  ge- 
setzt werden  kann.  Denn  es  ist  die  Periode,  wo  erstens  die 
Allgemeinheit  des  Willens  oder  der  öffentliche  Wille 
in  den  verschiedensten  Abstufungen  als  Privateigentum  vor- 
handen ist :  in  den  an  den  Grundbesitz  geknüpften  Souveräne- 
tätsrechten  und  der  Teilnahme  an  solchen,  in  den  mannigfachen 
anderen  öffentlichen  und  staatlichen  Privilegien  der  verschie- 
denen Stände  und  Klassen;  in  den  durch  Erbschaft  und  Kauf 
eigentümlichen  öffentlichen  Ämtern;  es  ist  die  Periode,  in  wel- 
cher, da,  wie  sich  ein  französischer  Rechtshistoriker  richtig 
ausdrückt,  ,,das  feudale  Eigentum  die  Anmaßung  hatte,  alles 
umfassen  zu  wollen,  Luft  und  Wasser,  öffentliche  und  reli- 
giöse Dinge,"  Fürsten  sogar  über  die  Erbfolge  in  die  Regierung 
ihrer  Länder  beliebig  testieren  (vgl.  z.  B.  die  Testamente  bei 
Sismondi  .Histoire  des  Francais,  VII,  328  fg.,  und  in  den 
Preuves  de  l'Histoire  de  Lorraine  par  Dom  Calmet,  III, 
277  fg.);  es  ist  ferner  die  Periode,  wo  zweitens  der  indivi- 
duelle Wille  als  Privateigentum  da  ist,  in  der  persön- 
lichen Unfreiheit  in  allen  ihren  Abstufungen  der  Leib- 
eigenschaft und  Hörigkeit,  ja  selbst  bei  persönlich  Freien,  z.  B. 
die  beliebige  Freiheit  der  Verheiratung  einer  weiblichen  Lehns- 
nachfolgerin, und  selbst  männlicher  Nachfolger  in  dasselbe,  in 
das  Eigentum  des  Lehnsherrn  gesetzt  erscheint,  und  wo  drittens 
endlich  auch,  und  zwar  bei  den  Freien,  die  Besonderheit 
seines  Willens  (welche  Beschäftigung  und  Gewerbe  er  nicht 
ergreifen  darf,  wo  er  seinen  Absatz  suchen,  wo  seinen  Bedarf 
einkaufen  muß)  in  der  Monopol-  und  Zunftordnung,  den 
Bann-  und  Zwangsgerechtigkeiten  usw.  als  Privateigen- 
tum anderer  gesetzt  wird.  Dies,  daß  der  menschlicheWille 
hier  nach  allen  seinen  drei  Momenten  hin  als  Privateigentum 
gesetzt  werden  kann,  ist  es,  was  in  rechtsphilosophischer 
Hinsicht  das  Mittelalter  charakterisiert. 

Da  der  Wille  nach  allen  seinen  drei  Momenten  als  Eigentum 
erscheint,  kann  somit  unter  diesem  System  alles  Mögliche 
zum  Eigentum  erhoben  werden,  und  die  Unfreiheit  ist  die 

393 


dividuelle  Willenshandlung  fernerhin  zu  erlangen 
sein  darf,  wenn  das  prohibitive  Gesetz  auch  auf  die  schon 

totale.  Und  gerade  wieder  weil  hier  alles  mögliche,  ja  der 
Wille  selbst,  zum  Eigentum  werden  kann  und  eine  Schranke 
hierfür  gar  nicht  existiert,  entspringt  hieraus  gerade  und  ist 
nur  von  hier  aus  zu  begreifen  die  dem  Mittelalter  eigen- 
tümliche Geteiltheit  des  Eigentumsrechtes.  Wenn  nämlich 
bei  der  spröden  Exklusivität  der  freien  römischen  Individua- 
lität kein  solches,  auch  an  sich  zulässiges  Recht  auf  eine  Sache, 
Eigentumsrecht  sein  kann,  welches  erst  durch  den  indi- 
viduellen Willen  eines  anderen  Individuums,  des 
Sacheigentümers  selbst,  hindurchgehen  und  ihn  sich  un- 
terwerfen müßte,  solche  Rechte  sich  vielmehr  in  Rom  sofort 
nur  als  persönliche  Forderungen  darstellen,  kann  hier, 
im  germanischen  Mittelalter,  weil  hier  eben  der  freie  mensch- 
liche Wille  selbst  als  Eigentum  gesetzt  werden  kann,  nun  auch 
ganz  unbefangen  jedes  solche  Recht  zu  einem  dinglichen  Eigen- 
tum werden,  welches  zu  seiner  Operation  erst  durch  den  Wil- 
len eines  anderen  Eigentümers  hindurchgehen  und  diesen 
sich  unterwerfen  muß.  Die  langen  und  trostlosen  Versuche  der 
Germanisten,  den  germanischen  Eigentumsbegriff  mit  dem  römi- 
schen zu  versöhnen,  ihre  kläglichen  und  gequälten  Anstrengungen. 
den  ersteren  auch  nur  irgend  zu  begreifen,  ihre  Eingeständnisse, 
daß  ihnen  derselbe  eine  „contradictio  in  adjecto"  sei,  da  sie 
immer  und  stets  unbewußt  von  dem  römischen  Begriff  des  un- 
teilbaren Eigentumsrechtes  und  dem  Begriff  der  römischen 
individuellen  Willensfreiheit  ausgingen,  zerfallen  von 
hier  aus  in  ihr  Nichts  und  lassen  nun  deutlich  ihre  Ungründ- 
lichkeit  und  die  Notwendigkeit  ihres  Mißlingens  hervortreten. 
Keinem  ist  es  eingefallen,  daß,  was  doch  so  nahe  lag,  wenn  der 
Eigentumsbegriff  eines  Volkes  bestimmt  werden  soll,  zu- 
vor auf  den  Willensbegriff  dieses  Volkes  zurück- 
gegangen und  dieser  untersucht  werden  muß.  Keinem  ist  ein- 
gefallen, daß  der  Willensbegriff  selbst  bei  den  verschie- 
denen Völkern  ein  verschiedener  ist  und  zwar  die  ganze 
Verschiedenheit  ihres  historischen  Geistes  in  sich 
enthält.  Denn  sonst  hätte  ihnen  freilich  wohl  auch  einfallen 
müssen,  an  jenen  urgermanischen  Zug  zu  denken,  den  uns  schon 

394 


bestehenden,  durch  individuelle  Handlungen  begründeten 
Rechtsverhältnisse  einwirken  dürfen  soll.    Der  Grund  ist 

Tacitus  berichtet,  daß  Freie  sich  selbst  zu  Sklaven  veräußern 
können  (German.,  c.  24),  während  kein  Römer  sich  durch 
Vertrag  zum  Sklaven  eines  anderen  veräußern  konnte.  ,,Con- 
ventio  privata  neque  servum  quemquam,  neque  libertum  alicujus 
facere  potest,"  L.  37  de  lib.  caus.  (40,  12).  Nichts  ist  be- 
zeichnender und  lehrreicher  als  die  Weise,  in  welcher  der 
überraschte  Römer  seine  Verwunderung  darüber  ausdrückt,  daß 
der  Germane,  der  sich  im  Spiel  veräußert  hat.  wenn  er  auch 
jünger,  wenn  er  auch  stärker  ist,  dennoch  leidet,  daß  er  ge- 
bunden und  als  Sklave  behandelt  wird :  „quamvis  juvenior, 
quamvis  robustior,  adligari  se  ac  venire  patitur;  ea  est  in  re 
prava  pervicacia  —  ipsi  fidem  vocant"  —  „so  groß  ist  ihre 
hartnäckige  Ausdauer  in  einer  schlechten  Sache  —  sie 
selbst  aber  nennen  es  fides,  Treue  gegen  die  einge- 
gangene Verpflichtung"  —  fügt  er  hinzu,  Worte,  die 
durch  den  sich  in  ihnen  aussprechenden  Gegensatz  den  tiefsten 
Einblick  in  die  Psychologie  des  germanischen  Geistes  und  daher 
in  seine  Rechtsentwicklung  und  politische  Geschichte  zugleich 
gewähren.  Denn  wenn  der  germanische  Willensbegriff  der  ist, 
daß  die  individuelle  Willkür  die  Befugnis  hat,  durch  ihr  Schal- 
ten und  Vcrpf lichten  über  die  eigene  totale  Willensfrei- 
heit zu  verfügen  und  sie  zum  Eigentum  eines  anderen 
zu  machen,  so  ist  es  klar,  daß  sie  ebenso  gut  einen  par- 
tiellen Umfang  derselben,  eine  bestimmte  Willens- 
aktion, zu  der  sie  sich  —  überhaupt  oder  in  bezug  auf  ein 
bestimmtes  Objekt  —  verpflichtet,  zum  rechtlichen  Eigentum 
eines  anderen  individuellen  Willens  machen  kann.  Nicht  nur 
also  die  Benutzung  eines  Grundstückes,  das  einem  fremden 
Eigentümer  gehört  und  dessen  Benutzung  sich  also  doch  immer 
nur  durch  den  zulassenden  Willen  des  Eigentümers  vermittelt, 
im  System  des  römischen  Rechtes  sich  also  als  persönliche 
Forderung  charakterisiert,  sondern  sogar  die  bestimmte  Be- 
nutzungsart, in  der  er  selbst  es  auszubeuten  hat, 
kann  (durch  eine  auf  Hafer,  auf  Klee  usw.  lautende  ewige 
Rente)  zu  meinem  perpetuierlichen  dinglichen  Eigentum 
werden.   Ober-   und   Untereigentum,   Nutzungs-   und   Sacheigen- 

395 


sehr  einfach.  Ist  dasselbe  Recht  auch  fernerhin  noch 
durch    irgendeine   andere    Willenshandlung   zu   er- 

tum  fallen  daher  in  den  mannigfaltigsten  Formen  auseinander 
und  erzeugen  die  allen  landwirtschaftlichen  und  industriellen 
Fortschritt   hemmende    Division   des    Eigentumsrechtes. 

Die  Französische  Revolution  ist,  was  schon  durch  die  früher 
gegebene  Analyse  einiger  besonders  wichtigen  aus  ihr  hervor- 
gegangenen Gesetze  klar  sein  muß,  nur  die  Aufhebung  jenes 
Privateigentums  an  den  drei  Momenten  des  menschlichen  Wil- 
lens, wie  jeder  große  Kulturfortschritt  stets  in  einer  Vermin- 
derung des  Eigentumsumfanges  besteht.  —  Es  braucht  wohl 
nicht  erst  näher  hervorgehoben  zu  werden,  daß  der  Begriff 
Eigentum  hier  in  seinem  wahren  Sinne  genommen  ist,  als  aus- 
schließendes Privateigentum  des  besonderen  Individuums. 
Was  dem  einzelnen  als  solchem,  also  jedem  ein- 
zelnen ohne  Unterschied  jgehört,  ist  nicht  mehr  Eigentum, 
wie  dies  schon  die  Römer  wußten,  und  zeigt  sich  hier  nur  wie- 
der die  Identität  des  begrifflichen  Momentes  der  Einzel- 
heit und  des  Allgemeinen. 

Es  liegt  nicht  von  dieser  Erörterung  ab,  zu  bemerken,  daß 
wenn  man  die  gegenwärtige  Periode  als  diejenige  des  Indivi 
dualismus  zu  bezeichnen  und  diese  Bezeichnung  als  den 
Charakter  des  Liberalismus  zu  denken  pflegt,  dies  zwar 
im  Sprachgebrauch  eine  solche  Geltung  erhalten  hat,  daß  da- 
gegen nicht  aufzukommen  sein  wird,  daß  es  aber  dennoch  durch- 
aus unrichtig  ist.  Wahrer  Individualismus  würde  sich 
vielmehr  sehr  revolutionär  nicht  nur  gegen  die  noch  bestehenden 
Einrichtungen,  sondern  auch  gegen  die  Tendenzen  unseres  so- 
genannten Liberalismus  verhalten  (man  denke  nur  z.B.  an 
Fichte).  Das,  wogegen  die  tiefer  gehenden  Strömungen  unserer 
Zeit  gerichtet  sind  und  woran  sie  sich  noch  abquälen,  ist  nicht 
das  Moment  des  Individuellen  —  dieses  würde  vielmehr 
mit  eben  solcher  Konsequenz  auf  ihrer  Seite  stehen  wie  das 
des  Allgemeinen  — ,  sondern  es  ist  der  noch  aus  dem 
Mittelalter  mit  herübergebrachte  und  uns  immer  noch  im  Fleische 
haftende  Knorren  der  Besonderheit.  Denn  zum  Knorren 
wird  dies  Moment  da,  wo  es  außerhalb  des  Umkreises  der 
auch  ihm  zukommenden  begrifflichen  Berechtigung  —  also  außer - 

396 


werben,  so  richtet  sich  die  Prohibition  des  Gesetzes  gar 
nicht  gegen  das  Recht  selbst,  das  ja  noch  fortwährend 

halb  der  Sphäre  alles  dessen,  was  mit  Recht  dem  reinen  Be- 
lieben und  der  bloßen  Privatwillkür  unterliegt  —  sich  Geltung 
verschaffen  will.  Der  Liberalismus  will  die  Rechte,  die  er 
will,  politische,  wie  das  Wahlrecht,  oder  soziale,  wie  das  in  der 
Gewerbefreiheit  liegende  Recht  auf  freie  Betätigung  der  Ar- 
beitskraft, nie  für  das  Individuum,  sondern  immer  nur 
für  das  in  besonderer  Lage  befindliche,  so  und  so  viel 
Steuern  zahlende,  mit  Kapital  ausgerüstete  usw.  Individuum ; 
also  immer  nur  für  den  Besonderen. 

Gegenwärtig  steht  nun  Europa  besonders  an  folgenden  zwei 
sehr  interessanten  Eigentumsfragen! 

Die  orientalische  Despotie  und  die  europäische  absolute 
Monarchie  unterscheiden  sich  bereits  in  rechtlicher  Hinsicht 
im  allgemeinen  gerade  so,  daß  dort  auch  die  privatrechtlichen 
Verhältnisse  der  Individuen  Eigentum  des  Herrschers  sind,  hier 
aber  nur,  was  zur  Kompetenz  des  öffentlichen  Willens  ge- 
hört, das  mehr  oder  weniger  ausschließliche  Eigentum  einer 
bestimmten  Familie  ist. 

In  politischer  Hinsicht  steht  nun  Europa  an  der  Aufhebung 
dessen,  daß  der  öffentliche  Wille  einer  Nation  Eigentum 
einer  Familie  sein  könne. 

Dies  ist  vorläufig  nur  in  Frankreich  erreicht,  nicht  nur  in 
den  Prinzipien  der  Französischen  Revolution,  sondern  auch 
trotz  mannigfach  entgegenstehenden  Scheines  in  der  Wirklich- 
keit. Dies  zeigt  sich  daran,  daß  seit  siebzig  Jahren  keine  Fa- 
milie mehr  in  Frankreich  Dynastie  machen  konnte ;  ferner  daran, 
daß  auch  unterdrückende  Herrscher  daselbst  gezwungen  sind, 
sich  auf  die  Volkswahl  statt  auf  ein  Eigentumsrecht,  als  den 
Titel  ihrer  Stellung  zu  berufen  und  so  nur  als  zeitliche,  wie 
immer  auch  beschaffene  und  verfälschende  Träger,  nicht  Eigen- 
tümer, des  nationalen  Willens  erscheinen ;  drittens  dadurch,  daß 
dieselben  genötigt  sind,  auch  im  Auslande  dies  Prinzip,  daß 
der  öffentliche  Wille  einer  Nation  nicht  Familieneigentum  sein 
könne,  gleichviel  mit  welcher  Halbheit  und  welchen  Wider- 
sprüchen, zu  vertreten  (Nationalitätsprinzip). 

In  Deutschland  nimmt  diese  Frage  eine  noch  viel  intensivere 

397 


erzeugt  werden  kann,  sondern  nur  gegen  diese  oder  jene 
besondere  Art  seiner  Erwerbung.    Es  gehört  dann 

Gestalt  an,  indem  hier  nicht  nur  der  Inhalt  des  Volkswillens, 
sondern  sogar  dies,  daß  überhaupt  kein  deutsches 
Volk  da  sei  —  ein  Recht  auf  Zerteillheit  des  Volksgeistes 
— ,  als  das  Eigentumsrecht  mehrerer  Familien  behauptet  wird ! 

In  sozialer  Beziehung  steht  die  Welt  an  der  Frage,  ob  heute, 
wo  es  kein  Eigentum  an  der  unmittelbaren  Benutzbarkeit  eines 
anderen  Menschen  mehr  gibt,  ein  solches  auf  seine  mittel- 
bare Ausbeutung  existieren  solle,  d.h.  gründlich:  ob  die  freie 
Betätigung  und  Entwickulng  der  eigenen  Arbeitskraft  ausschließ- 
liches Privateigentum  des  Besitzers  von  Arbeitssubstrat  und  Ar- 
beitsvorschuß (Kapital)  sein  und  ob  folgeweise  dem  Unter- 
nehmer als  solchem,  und  abgesehen  von  der  Remuneration 
seiner  etwaigen  geistigen  Arbeit,  ein  Eigentum  an  frem- 
dem Arbeitswert  (Kapitalprämie,  Kapitalprofit,  der  sich 
bildet  durch  die  Differenz  zwischen  dem  Verkaufs- 
preis des  Produktes  und  der  Summe  der  Löhne  und  Vergütun- 
gen sämtlicher,  auch  geistiger  Arbeiten,  die  in  irgend 
welcher  Weise  zum  Zustandekommen  des  Produktes  beigetragen 
haben)  zustehen  solle. 

Das  Wort :  „Emanzipieren",  welches  man  jetzt  in  einem  ver- 
wischten und  den  Sprechenden  undeutlichen  Sinne  auf  jedes 
Freiheitsbestreben  anzuwenden  pflegt,  ist  gerade  dann  ganz 
zutreffend,  wenn  man  es  in  seinem  ursprünglichen  strengen  Sinne 
auffaßt:  emancipio,  außerdem  Eigentum  erklären.  — 

Daß  der  Kulturgang  der  Rechtsentwicklung  in  der  Tat  in 
dieser  fortschreitenden  Verminderung  des  Eigentumsumfanges 
besteht,  was  hier  nur  in  sehr  flüchtigen  Umrissen  angedeutet 
worden  ist,  läßt  sich  im  genauen  und  einzelnen  nur  bei  einer 
ebenso  eindringenden  und  kritischen  Kenntnis  der  ökonomi- 
schen Gesetze  und  Verhältnisse  jeder  Zeit,  wie  der  juri- 
stischen, und  nur  durch  das  detaillierteste  Eingehen  auf  die 
Zustände  der  verschiedenen  Geschichtsperioden  darlegen.  Bereits 
aber  muß  durch  diese  kurze  Ausführung  dies  von  uns  aufge- 
zeigte Gesetz  der  geschichtlichen  Bewegung  seinen  ursprüng- 
lichen Anschein  von  Paradoxie  völlig  verloren  haben,  und  es 
muß  bereits   deutlich  geworden   sein,   wie  diese  fortschreitende 

398 


also  zu  der  zweiten  von  den  oben  unterschiedenen  Arten 
von  Prohibitivgesetzen,  die,  weil  sie  gar  nicht  dem  Recht 

Verminderung  des  Privateigentumsumfanges  auf  nichts  anderem 
als  der  positiven  Entwicklung  der  menschlichen 
Freiheit  beruht  und  hier  nur  zu  seiner  Realisierung  gekommen 
ist,  was  wir  schon  S.  321  angedeutet  haben.  Wir  machten  da- 
selbst bereits  darauf  aufmerksam,  wie  gerade  die  positive  Ent- 
wicklung der  Freiheitsidee  zur  Folge  haben  müsse,  daß  in 
immer  fortschreitender  Steigerung  ein  früher  als  ver äußer- 
lich gedachter  Teil  der  menschlichen  Freiheit  —  auch  von 
den  Juristen  schon  Privat willkür  genannt  —  sich  jetzt 
als  zur  unveräußerlichen  Freiheit  des  Menschen  gehörig 
bestimmt  [weshalb  er  nun  als  der  sittlichen  Idee  und  dem 
öffentlichen  Recht  entflossen  angesehen  und  durch  ab- 
solute (zwingende)  Gesetze  geregelt  wird],  so  daß  nun  durch 
keine  Willenstransaktion  mehr  und  ebensowenig  durch  Facta, 
die  wie  eine  solche  wirken,  z.  B.  Krieg,  Geburt,  Abstammung, 
Gewerbe  usw.,  dieser  früher  veräußerliche  Ted  der  mensch- 
lichen Freiheit  ferner  veräußert  werden  oder  veräußert  blei- 
ben kann.  Daß  dies  eine  stetige  Vermehrung  der  menschlichen 
Freiheit  ist,  ist  von  selbst  evident;  denn  vermindert  und  be- 
schränkt wird  dadurch  eben  nur  die  Willkür  —  die  eigene 
oder  die  fremde  — ,  das  positive  Wesen  der  Freiheit  zu  ne- 
gieren. Diese  Entfaltung  und  Vermehrung  der  Frei- 
heit ist  es  nun  aber,  welche  sich,  in  bezug  auf  das  Verhältnis 
der  einzelnen  untereinander,  notwendig  als  eine  Beschrän- 
kung dessen,  was  der  ausschließenden  Willensherr- 
schaft besonderer  Individuen  unterworfen  werden  kann, 
ausdrücken  und  sich  somit  als  eine  Verminderung  des 
Privateigentumsumfanges  darstellen  muß  und  wirk- 
lich darstellt,  wie  die  vorstehende  Skizze  gezeigt  hat. 

Ganz  parallel  der  angegebenen  Bewegung  der  Rechtshistorie, 
immer  mehr  Inhalt  aus  der  Eigentumssphäre  herauszuwerfen, 
läuft  in  der  ökonomischen  Entwicklung  die  genau  entspre- 
chende Tendenz,  immer  mehr  Faktoren  der  Produktion 
und  resp.  die  Produkte  selbst  in  immer  größerem  quanti- 
tativen Umfang  aus  der  ökonomischen  Ei_gentums- 
sphäre,    der    Entgeltlichkeit,    in   diejenige    der    Unent- 

39^ 


die  Fähigkeit,  zum  individuellen  Eigentum  gemacht  zu 
werden,  absprechen,  auch  nicht  auf  ein  solches,  gleich- 
viel durch  welche  andere  Willensaktionen,  bereits  erwor- 
benes Eigentumsverhältnis  einwirken  (s.  oben  S.  381  fg.). 

Nehmen  wir  z.  B.  an,  daß  ein  Gesetz  die  Großjährig- 
keit auf  vierundzwanzig  Jahre  fixiert,  zugleich  aber  be- 
stimmt, es  solle  schon  bei  zurückgelegtem  zwanzigsten 
Jahre  sowohl  durch  Heirat  als  auch  durch  Führung  einer 
besonderen  Wirtschaft  die  Großjährigkeit  erworben  wer- 
den können.  Es  erscheint  nun  ein  Gesetz,  welches  fort- 
bestehen läßt,  daß  nach  dem  zwanzigsten  Jahre  durch 
Heirat  Großjährigkeit  erworben  werde,  aber  dies  auf- 
hebt, daß  sie  durch  bloße  Führung  einer  besonderen  Wirt- 
schaft erworben  werden  könne.  Wie  prohibitiv  dies  Ge- 
setz auch  gefaßt  sein  möge,  es  kann  nicht  einwirken  auf 
diejenigen,  welche  sich  bereits  in  dieser  Weise  Groß- 
jährigkeit erzeugt  haben.  Denn  da  es  die  Erwerbung 
derselben  durch  Heirat  offen  läßt,  so  wäre  die  Ein- 
wirkung auf  die  Großjährigkeit  jener  anderen  eine 
Rückwirkung  auf  die  besondere  Handlung,  durch 
welche  sie  sich  die  Großjährigkeit  konstituiert  haben. 

Wenn  aber  ein  Gesetzgeber  von  der  Ansicht  ausgeht, 
daß  die  mit  der  Großjährigkeit  gegebene  Handlungs- 
fähigkeit ausschließlich  ein  Produkt  der  nur  mit  dem 
natürlichen  Alter  eintretenden  Reife  der  Vernunft 
sein   dürfe   und   deshalb   schlechterdings   durch   keiner - 


geltlichkeit  (gratuite,  communaute)  hinüberzuwerfen  (durch 
Reduktion  des  Verkaufspreises  auf  den  Kostenpreis  und  die 
beständige  Verminderung  der  Erzeugungskosten),  ein  an  sich 
ganz  richtiger  Grundgedanke,  welchem  Bastiat  in  seinen  Har- 
monies  economiques  wegen  des  ihm  mangelnden  kritischen  Ver- 
ständnisses der  ökonomischen  Kategorien  eine  ganz  falsche  und 
einseitige  Ausführung  gegeben  hat. 

400 


lei  individuelle  Willenshandlung  erworben  und  antizipiert 
werden  könne,  so  wird  durch  ein  solches  Gesetz  auch 
jenen  schon  verheirateten  oder  eine  besondere  Wirtschaft 
führenden  Zwanzigjährigen  die  bisherige  Majorennität  wie- 
der entzogen  werden.  Es  wird  dies  deshalb  ohne  Rück- 
wirkung eintreten  können,  weil  nach  der  Anschauung  des 
jetzigen  Gesetzes  Majorennitätsrecht  überhaupt  gar  nicht 
erworben  werden  kann.  Denn  das  Eintreten  des- 
selben durch  das  erreichte  Alter  ist,  wie  früher  bereits 
bemerkt  (S.  143),  da  das  Alter  kein  Produkt  einer  Willens- 
aktion ist,  keine  Erwerbung,  sondern  immer  nur  ein 
Vorhandensein;  nicht  ein  vom  Individuum  sich  kon- 
stituiertes Eigentum,  sondern  eine  bloß  infolge  des 
Gesetzes  daseiende  Befugnis.  Diejenigen  aber,  welche 
sich  durch  individuelle  Handlungen  Groß]  ährigkei tsrecht 
erworben  haben,  können  dasselbe  unmöglich  auf  länger 
beanspruchen,  als  der  Gesetzgeber  dasselbe  als  ein  über- 
haupt des  Erworbenwerdens  fähiges  ansehen  wird1). 

Der  Grund  aber,  warum  nur  die  Prohibitivgesetze 
der  ersten  Art  sofort  einwirken  dürfen,  dieser  Grund,  von 
welchem  die  soeben  betrachtete  faktische  Bestimmung, 
daß  jedes  Prohibitivgesetz,  welches  noch  übrig  läßt,  das- 

1)  Hier  vervollständigt  sich  also  das  von  uns  in  §  1,  S.  143 
bis  148,  Gesagte.  Die  bloße  Verschiebung  des  natürlichen  Groß- 
jährigkeitsalters,  z.  B.  von  21  auf  24  Jahre,  ändert  also  nichts 
an  der  Großjähngkeit  der  für  majorenn  Erklärten,  solange  irgend 
eine  solche  Erwerbung  der  Majorennität  durch  Handlungen, 
vormundschaftliche  Erklärung  vor  dem  natürlichen  Alter  usw., 
gesetzlich  zulässig  bleibt.  Umgekehrt  kann  ohne  daß  der 
Alterstermin  der  Großjährigkeit  geändert  würde,  allen  durch 
Handlungen  (Erklärungen  usw.)  großjährig  Gewordenen  das 
Majorennitätsrecht  wieder  entzogen  werden,  wenn  der  Gesetz- 
geber der  Ansicht  ist,  daß  dasselbe  durch  nichts  anderes  als 
das  natürliche   Alter  eintreten  kann. 

26  Lw.alle.    G«.  Schriften.   Band  IX.  40  i 


selbe  Recht  noch  durch  andere  Willenshandlungen  zu 
erwerben,  zu  den  Prohibitivgesetzen  der  zweiten  Art 
gehört,  nur  eine  Anwendung  ist,  —  dieser  Grund  ist, 
weit  entfernt  ein  äußerer  Reflexionsgrund  zu  sein,  nichts 
anderes  als  die  konsequente  und  systematische 
Folge  unserer  gesamten  Theorie.  Er  ist  nichts 
anderes  als  der  durch  jenen  Begriff  der  indivi- 
duellen Willensfreiheit  selbst,  durch  dessen  allei- 
nige Operation  wir  bisher  die  ganze  Theorie  entwickelt 
haben,   mit  Notwendigkeit  gegebene  Unterschied. 

Denn  wenn  in  der  Abrogation  der  weiteren  Dauer 
eines  stipulierten  Rechtes  durch  ein  dieses  Recht  über- 
haupt abolierendes  Gesetz  keine  Verletzung  der  Willens- 
freiheit, keine  Denaturierung  einer  individuellen  Handlung 
liegt,  weil  logisch  und  rechtlich  Wille  und  Handlung 
von  vornherein  ein  Recht,  vermöge  der  Natur  der  Rechts - 
Substanz  selbst,  nur  auf  so  lange  ergreifen  und  dem 
Individuum  sichern  können,  wie  dieser  Rechtsinhalt  im 
gesamten  Rechtsbewußtsein  ein  mögliches  Dasein 
bewahren  und  nicht  als  schlechthin  unzulässig  aus- 
geschlossen sein  wird,  wenn  also  hierin  statt  einer  Dena- 
turierung der  Handlung  nur  die  notwendige  Einschrän- 
kung derselben  auf  die  ihr  logisch  von  Haus  aus  ge- 
setzte Grenze  ihrer  Wirksamkeit  vorliegt,  so 
würde  dagegen  die  Anwendung  von  Prohibitivgesetzen  der 
zweiten  Art  auf  Rechtsverhältnisse,  die  durch  den  in- 
dividuellen Willen  vermittelt  sind,  eine  wahrhafte  Dena- 
turierung individueller  Handlungen  und  somit  eine 
durchaus  unzulässige  Rückwirkung  in  sich  schließen. 

Denn  Prohibitivgesetze  dieser  Art  erklären  nicht  ein 
Recht  überhaupt  als  aus  der  Rechtssphäre  herausgefallen 
und  unfähig,  individuelles  Eigentum  zu  sein.  Sie  lassen 
vielmehr  dasselbe  noch  fortbestehen  und  noch  weiter  durch  | 

402 


individuelle  Willenshandlungen  erworben  werden,  und 
schließen  nur  besondere  Bestimmtheiten  von  Wil- 
lenshandlungen von  der  Fähigkeit  dieses  Rechtserwerbes 
aus.  Solche  Prohibitivgesetze  lösen  sich  also  auf  in  ein 
negatives  Urteil  des  Geistes  über  die  Gültigkeit  und  Wirk- 
samkeit besonderer  individueller  Handlungen. 
Wenn  aber  das  Individuum  die  Dauer  des  erworbenen 
Rechtes  dem  prohibitiven  Urteil  des  allgemeinen  Geistes 
unterwerfen  muß,  so  ist  es  dagegen  logisch  ganz  unmög- 
lich, daß  es  die  besondere  Beschaffenheit  seiner 
momentanen  erwerbenden  Handlung  einer  an- 
deren Norm  unterwerfe,  als  der  zur  Zeit  dieser  Hand- 
lung vorhanden  gewesenen.  Hier  würde  also,  solange 
dasselbe  qualitativ-bestimmte  Recht  durch  an- 
dere Willenshandlungen  überhaupt  noch  erworben  werden 
kann,  mit  voller  Kraft  der  Rückwirkungsvorwurf  seitens 
des  Individuums  aufwachen  (s.  S.  121  und  353  fg.):  es 
würde,  falls  es  dies  gewußt  hätte,  das  Recht  unter  jenen 
anderen,  es  noch  heute  erwerbenden  Formen  und  Be- 
dingungen sich  konstituiert  haben.  Hier  entsteht  also  jener 
Vorwurf,  menschliche  Freiheit  und  Zurechnungsfähigkeit 
forciert  zu  haben,  der  aus  den  entwickelten  Gründen  nur 
dann  nicht  entsteht,  wenn  keine  Willenshandlung  mehr  zur 
Erwerbung  dieses  qualitativ-bestimmten  Rechtes  führen 
kann !  Er  entsteht  hier,  weil  die  Prohibition  sich  hier  gar 
nicht  gegen  den  Inhalt  des  Rechtes,  sondern  nur  gegen 
die  besondere  Handlung  richtet.  Er  entsteht  hier, 
weil  die  erwerbende  Handlung  als  solche,  als  ein  in  der 
Zeit  Vorübergehendes,  nur  während  ihrerVoll- 
bringung  an  die  Gemeinsamkeit  mit  dem  gesamten 
Rechtsbewußtsein  des  Volkes  gebunden  und  also  nur  den 
zeitigen  Prohibitivbestimmungen  unterworfen  bleibt, 
während   der   ergriffene    Rechtsinhalt   selbst,   als   ein 

26-  403 


für  alle  Zeiten  Dauerndes,  daher  für  alle  Zeiten  an 
diese  Gemeinsamkeit  gewiesen  und  deshalb  den  Prohibitiv- 
gesetzen  aller  Zeiten  unterworfen  bleibt. 

Zugleich  folgt  aus  dem  angegebenen  Begriffsunterschied, 
und  schon  aus  dem  begrifflichen  Grunde  der  Einwirkung 
prohibitiver  Gesetze  überhaupt,  daß  diese  selbstredend 
erst  von  der  Zeit  ihres  Erscheinens  ab  die  Fort- 
dauer des  prohibitiven  Rechtes  aufheben,  daß  somit  alle 
dem  Gesetze  bereits  vorausgegangenen  rechtlichen 
Folgen  bestehen  bleiben.  Eine  Auslöschung  derselben 
würde  wieder  notwendig  Rückwirkung  in  sich  schließen, 
da  sich  das  Individuum  nur  unterworfen  hat  und  unter- 
werfen mußte  dem  Nichtdasein  seines  Rechtes  vom 
Tage  ab  seiner  Exklusion  durch  das  allgemeine  Rechts- 
bewußtsein. 

Erst  gegenwärtig  liegt  die  Theorie  der  Einwirkung  ab- 
soluter Gesetze  in  vollständiger  Entwickelung 
vor,  und  es  wird  jetzt  überall  bestimmt  werden  können, 
ob  ein  prohibitives  Gesetz  auf  die  bestehenden  Rechts- 
verhältnisse eingreifen  darf  oder  nicht,  wobei  es  nur  darauf 
ankommt,  das  qualitativ-bestimmte  Recht,  das  in 
Frage  steht,  genau  aufzufassen,  da  sich  nur  hieraus  beant- 
wortet, ob  das  neue  Gesetz  einen  Rechtsinhalt  aus  der 
Privateigentumssphäre  herauswirft  oder  nicht,  und  ob  es 
demnach  eingreifen  muß  oder  nicht  darf. 

Wenden  wir  uns  zunächst  zu  einigen  auf  die  bestehen- 
den Verträge  nicht  einwirkenden  Prohibitivgesetzen. 

Wenn  ein  Gesetz  über  laesio  enormis  bei  Verkäufen  da, 
wo  solches  bisher  nicht  gegolten  hat,  erscheint,  so  wird 
es,  selbst  wenn  es  ein  wahres  Prohibitivgesetz  darstellt 
(d.  h.  wenn  es  den  Verzicht  auf  diese  Einrede  für  wir- 
kungslos erklärt),  auf  früher  geschlossene  Kaufverträge 
nicht  anwendbar  sein.   Das  Recht  auf  unwiderrufliche  Ent- 

404 


äußerung  und  auf  das  unwiderrufliche  Eigentum  an  der 
Kauf  summe  ist  nicht  aufgehoben,  sondern  kann  nach  wie 
vor  erzeugt  werden,  und  nur  Bedingungen  über  das  Ver- 
hältnis der  Kauf  summe  zum  Objektswert  sind  für  die  Er- 
werbung dieses  Rechtes  festgesetzt.  Somit  betrifft  der 
prohibitive  Inhalt  des  Gesetzes  nur  die  Gültigkeit  der  be- 
sonderen Handlung,  welche  dieses  Recht  im  gegebenen 
Falle  erwirbt,  und  wirkt  somit  auf  frühere  Handlungen 
nicht  ein1). 

Wenn  ein  Gesetz,  wie  z.  B.  der  Art.  1341  Code  Nap., 
bei  Forderungen  über  eine  gewisse  Höhe  den  Zeugen- 
beweis ausschließt2),  so  schreibt  ein  solches  Gesetz  nur 


x)  Es  ergibt  sich  hier  also  von  dieser  Seite  die  Bestätigung 
dessen,  was  wir  oben  (S.  299 — 303)  gesehen.  —  (Wenn  das 
Gesetz  über  die  laesio  enormis  zur  Zeit  des  Kaufkontraktes 
bestand  und  später  aufgehoben  wird,  so  stellt  diese  Aufhebung 
durchaus  keine  Prohibition  dar.  Denn  die  Verkäufer  würden 
nicht  gehindert  sein,  diese  Bedingung  im  Kaufakt  zu  stipu- 
lieren.  Das  frühere  Gesetz  würde  also  als  stillschweigende 
Bedingung  in  bezug  auf  die  früheren  Kaufkontrakte  fort- 
wirken. ) 

2)  Dies  Gesetz  wird  übrigens  von  einer  großen  Zahl  Autoren 
und  Urteile  der  französischen  Jurisprudenz  gar  nicht  als  ein 
wirklich  prohibitives  angesehen,  indem  man  annimmt,  daß  der 
Zeugenbeweis  bei  Zustimmung  der  Gegenpartei  zulässig  sei; 
so  u.  a.  von  Bourges  vom  16.  Dezember  1826,  von  Rennes  vom 
25.  Februar  1841,  von  Bordeaux  vom  16.  Januar  1846;  Duran- 
ton, T.  XIII,  Nr.  308;  Carre  und  Chauveau,  Lois  de  la  proc, 
qu.  976.  —  Dagegen  Merlin,  Repert.  v°  Preuve,  Sect.  2,  §  3. 
Art.  1,  No.  29.  Toullier.  T.  IX,  Nr.  36  fg.  Brodeau  sur  Louet 
lett.   D.   §  3  u.   a. 

Es  kann  nicht  genug  hervorgehoben  werden,  daß  die  schlecht- 
hinnige  Ausschließung  jeder  abweichenden  Privatwillkür,  auch 
bei  Einverständnis  der  Parteien,  das  alleinige  Kennzeichen  eines 
jeden  absoluten  (prohibitiven  oder  zwingenden)  Gesetzes  ist. 
Jedes  andere  Gesetz  bleibt  ein  bloß  regulatives,  vermittelndes. 

405 


Bedingungen  für  die  Handlung  der  Erwerbung  vor  und 
wendet  sich  daher  nicht  auf  die  aus  schon  vorgefallenen 
Handlungen  entstandenen  Obligationen  an.  Oder  faßt  man 
das  in  Rede  stehende  Recht  des  Individuums  bestimmter 
und  richtiger  als  ein  Recht  auf  Zeugenbeweis  auf, 
so  ist  zu  sagen,  daß  durch  dieses  Gesetz  nicht  (wie  dies 
z.  B.  bei  der  Bestimmung,  daß  der  Beweis  der  Vater- 
schaft untersagt  sein  solle,  der  Fall  ist)  aller  Zeugen- 
beweis in  diesem  Rechtsgebiete  überhaupt  vom 
Gesetz  alz  unzulässig  erklärt  und  prohibiert  wird ;  derselbe 
wird  vielmehr  vom  Gesetz  bei  Summen  unter  diesem 
Betrag  oder  bei  nicht-obligatorischen  Verhältnissen  und 
auch  bei  solchen,  wenn  sich  der  Gläubiger  unmöglich 
einen  schriftlichen  Beweis  verschaffen  konnte  (Art.  1348 
C.  c.)  oder  diesen  durch  casus  fortuitus  verloren  hat, 
für  zulässig  erklärt.  Es  existiert  also  noch  ein  Recht 
auf  Zeugenbeweis  bei  Forderungen,  und  nur  be- 
sondere Handlungen,  welche  dieses  Recht  bisher  er- 
warben, sind  jetzt  von  demselben  ausgeschlossen.  Eben- 
deshalb darf  also,  weil  sich  die  Prohibition  nur  gegen  die 
Besonderheit  der  erwerbenden  Handlung  und  nicht 
gegen  die  Existenz  des  Rechtes  selbst  und  seine  allgemeine 
Möglichkeit  erworben  zu  werden,  richtet,  das  Gesetz  nicht 
auf  die  früheren  Erwerbungen  dieses  Rechtes  eingreifen. 
Setzen  wir  aber  den  Fall,  der,  wenn  auch  fast  unmög- 
lich in  sich,  doch  zur  Klarlegung  und  Bestätigung  der 
Theorie  unterstellt  werden  mag,  ein  Gesetzbuch  verböte 
allen  und  jeden  Zeugenbeweis  in  Zivilsachen  über- 
haupt, etwa  herrnhuterische  Grundsätze,  welche  in  dem 
Eide  eine  Religionswidrigkeit  erblicken,  auf  die  Spitze 
treibend.  Offenbar  würde  hier  auch  in  bezug  auf  die 
früheren  Darlehen  usw.  das  Recht  des  Zeugenbeweises 
ganz     unzweifelhaft     hin  wegfallen     müssen.     Recht    auf 

406 


Zeugenbeweis  ist  jetzt  überhaupt  aboliert,  und  das  In- 
dividuum kann  dasselbe  nur  so  lange  ausüben  und  be- 
sitzen, als  es  eben  nach  dem  Gesetz  überhaupt  rechtliches 
Eigentum  des  Individuums  sein  kann.  Auch  würden  die- 
jenigen, welche  vor  diesem  Gesetz  Gläubiger  ohne  schrift- 
lichen Beweis  wurden,  gar  nicht  härter  gestellt  sein,  als 
alle  diejenigen,  welche  erst  nach  dem  Gesetze  Gläubiger 
werden,  sich  aber  in  der  Unmöglichkeit  befinden,  für 
ihre  Obligation  einen  schriftlichen  Beweis  zu  erlangen 
(z.  B.  also  bei  allen  Quasikontrakten,  Delikten,  Quasi- 
delikten, bei  notwendigen  Depositionen).  Ein  Gläubiger, 
welcher  vor  dem  den  Zeugenbeweis  ausschließenden  Ge- 
setz ein  Darlehen  machte,  kann,  weil  er  jetzt  noch  keine 
Veranlassung  hatte,  sich  einen  schriftlichen  Beweis 
zu  verschaffen,  höchstens  doch  so  behandelt  und  einem 
solchen  assimiliert  werden,  der  nicht  einmal  die  Mög- 
lichkeit zu  dieser  Beschaffung  hatte.  Indem  jetzt  nun 
aber  alle,  die,  obwohl  nach  der  Zeit  des  Gesetzes,  sich 
in  der  faktischen  Unmöglichkeit  befinden,  einen 
schriftlichen  Beweis  zu  bereiten,  gleichwohl  vom  Zeugen- 
beweise ausgeschlossen  sind,  fallen  die  Gläubiger  aus  der 
Zeit  vor  dem  Gesetze  nur  in  die  Kategorie  dieser 
letzteren,  und  der  Vorwurf  der  Rückwirkung,  der 
nachträglichen  Verletzung  der  Willensfreiheit  des  be- 
sonderen Individuums,  fällt  um  so  mehr  fort. 

Gibt  man  zu,  daß  ein  solches  allen  Zeugenbeweis  abo- 
lierende  Gesetz  auch  auf  die  früheren  Obligationen  ein- 
wirken müsse  —  und  es  wird  nicht  möglich  sein,  dies 
nicht  zuzugeben  — ,  so  hat  man  damit  alles,  was  wir  über 
die  Theorie  der  Prohibitivgesetze  entwickelt  haben,  an- 
erkannt. —  Freilich  ist  das  von  uns  unterstellte  Beispiel 
ein  in  sich  selbst  fast  unmögliches.  Dies  hindert  indes 
seine  Beweiskraft  nicht.    Überdies  sollte  diese  abstrakte 

407 


Unterstellung  nur  als  Brücke  zu  dem  nachfolgenden  ganz 
gleichartigen  konkreten  Beispiel  dienen.  Es  verhält 
sich  nämlich  offenbar  ebenso,  wenn  ein  Gesetz  z.  B.  die 
bisher  erlaubte  Zeugenfähigkeit  in  einem  be- 
stimmten Verwandtschaftsgrade  überhaupt  auf- 
hebt. Recht  auf  Zeugenbeweis  existiert  hier  weiter.  Aber 
was  aufgehoben  ist,  ist:  Recht  auf  die  Zeugenschaft 
eines  so  und  so  Verwandten.  Dies  bestimmte 
Recht  überhaupt  ist  hier  aufgehoben  und  kann  daher 
auch  in  bezug  auf  frühere  Darlehen  oder  Verträge  nicht 
ausgeübt  werden.  Es  ist  möglich,  daß  das  Individuum  bei 
der  seinen  Anspruch  begründenden  Handlung  gerade  nur 
solche  Verwandte  (oder  andere  jetzt  prohibierte  Personen) 
zu  Zeugen  hatte  oder  zu  Zeugen  nahm.  Es  kann  somit 
jetzt  die  ganze  Möglichkeit  seines  Beweises  verlieren  durch 
die  Zerstörung  der  Zeugenschaft  von  Personen,  auf  deren 
Zeugnis  es  früher  ein  Recht  hatte.  Gleichwohl  wird 
es  der  Anwendung  jenes  Gesetzes  keinen  Vorwurf  der 
Rückwirkung  machen  können.  Allerdings  ist  das  Recht  des 
Individuums  auf  das  Zeugnis  anderer  Personen  überhaupt 
nur  ein  legales,  kein  erworbenes  Recht.  Allein  dies 
ist  nicht  der  letzte  Grund  der  Entscheidung.  Dies  Recht 
kann  durch  mannigfache  Handlungen  zu  einem  erwor- 
benen geworden  sein,  z.  B.  vertragsmäßig  oder  da- 
durch, daß  die  Klage  schon  angestellt,  der  Zeuge  schon 
vorgeschlagen,  seine  Vernehmung  auch  schon  durch  richter- 
liches Dekret  verordnet  worden  ist.  Gleichwohl  wird, 
wenn  das  neue  Prohibitivgesetz  vor  dem  Audienztermin 
erscheint,  die  Abhörung  des  Zeugen  durchaus  unzulässig 
sein.  Der  systematische  Grund  ist  aber,  wie  schon  die 
Unterscheidung  der  Fälle  ergibt,  kein  anderer  als  der, 
daß  hier  das  Recht  auf  diesen  —  näher  qualifizierten  — 
Zeugenbeweis,  auf  Zeugenbeweis  durch  Verwandte,  über- 

408 


haupt  untergegangen  ist,  nicht  aber  bloß   in  Beziehung 
auf   gewisse  besondere   Willenshandlungen1). 


1)  Bei  konsequenter  Festhaltung  der  Savignyschen  Theorie 
würde  man  das  Gegenteil  annehmen  müssen,  was  offenbar  un- 
möglich —  und  dennoch  häufig  genug  angenommen  worden  ist. 
Ganz  so  wie  der  oben  behandelte  Fall  verhält  sich  nämlich 
jedes  Gesetz  über  Zeugenreprochierungsgründe.  Gibt 
ein  Gesetz  der  Partei  das  unbedingte  Recht,  einen  in  ge- 
wissen Fällen  befindlichen  Zeugen  zu  reprochieren,  so  unter- 
scheidet sich  ein  solches  Gesetz  gar  nicht  von  dem  obigen. 
Es  verhält  sich  prohibitiv  gegen  den  Rechtsanspruch  der 
Gegenpartei,  einen  solchen  Zeugen  abhören  zu  lassen.  Gibt  das 
Gesetz  die  Entscheidung  über  die  Zulassung  des  reprochierten 
Zeugen  in  die  diskretionäre  Einsicht  des  Richters,  so  kann  man 
den  prohibitiven  Charakter  eines  solchen  Gesetzes  mit  Fug 
bestreiten,  obgleich  durch  dasselbe  der  frühere  unbedingte 
Anspruch  der  Partei  auf  Abhörung  des  Zeugen  (oder  resp. 
Verlesung  seiner  Aussage)  untergegangen  und  nun  von  der  Be- 
urteilung des  Richters  abhängig  gemacht  ist.  Allein  es  darf 
überhaupt  nicht  vergessen  werden,  daß  der  prohibitive  Cha- 
rakter des  Gesetzes  nur  erforderlich  ist,  wenn  bereits  durch 
Dekret  die  Vernehmung  des  Zeugen  verordnet  und  sie  hierdurch 
zu  einem  erworbenen  Recht  geworden  ist.  Bis  zu  jenem 
Dekret  bildet  die  Bestimmung,  durch  welche  Kategorien  von 
Zeugen  Beweis  erbracht  werden  kann,  ein  von  individueller 
Willensaktion  ganz  unabhängiges,  rein  legales  Recht,  welches 
daher  durch  jede  Änderung  der  Gesetzgebung  sofort  modifiziert 
wird.  Es  ist  dies  sehr  häufig  übersehen  und  z.  B.  durch  zwei 
Urteile  des  rheinischen  Appellationsgerichtshofes  zu  Köln  vom 
15.  Juli  1822  und  vom  12.  April  1844  (Rheinisches  Archiv. 
VII,  1,  198,  und  XXXVII,  1,  81)  sehr  irrig  erkannt  worden, 
daß  die  Reproche  nach  dem  älteren  Gesetze  beurteilt  werden 
müsse,  wenn  die  Tatsache,  über  welche  der  Zeuge  vernommen 
werden  solle,  dem  neuen  Gesetze  vorhergegangen  ist.  Durch 
ein  etwas  späteres  Urteil  vom  28.  Mai  1844  hat  derselbe  Ge- 
richtshof dagegen  entschieden,  daß  es  nur  auf  das  neue  Ge- 
setz dabei  ankomme  (XXXVII,  1,  84)  und  zwar  deshalb,  weil 

409 


Wenden  wir  uns  jetzt  zu  einigen  Fällen,  in  welchen 
die  Praxis  der  Gesetzgebungen  und  die  Theorie  der 
neueren  Autoren  in  einem  entschiedenen  Gegensatz  mit- 
einander stehen,  ein  Gegensatz,  der  leicht  begreiflich  ist, 
da  die  Gesetzgebungen,  dem  Instinkt  des  unmittelbaren 
Rechtsgefühles  folgend,  oft  das  Richtige  hierbei  trafen, 
während,  da  alle  halbe  Theorie  von  der  Wahrheit  ab- 
und  erst  die  ganze  Theorie  wieder  zu  ihr  zurückführt, 
den  Autoren  hierdurch  die  Erkenntnis  der  Richtigkeit  und 
Notwendigkeit  jener  Gesetze  unmöglich  gemacht  war.  — 

Durch  die  im  Jahre  528  erlassene  L.  26  C.  de  usuris 
(6,  32)  hatte  Justinian  verordnet,  daß  der  bis  dahin  er- 
laubte höchste  Zinsfuß  von  zwölf  Prozent  auf  sechs  Pro- 
zent herabgesetzt  sein  solle.  Ein  Jahr  darauf  fand  er  sich 
veranlaßt,  durch  die  L.  27  (das.)  ausdrücklich  zu  er- 
klären, es  sei  die  Absicht  jenes  Gesetzes,  auch  die  schon 
vor  dem  Gesetz  geschlossenen  Zinsverträge  auf  das  neue 
gesetzliche  Zinsmaximum  zu  reduzieren,  mit  Ausnahme  je- 
doch der  schon  vor  dem  Erlaß  des  Gesetzes  erfallenen 
Zinsen. 

Es  ist  evident,  daß  nach  der  von  uns  entwickelten 
Theorie  Justinian  hierbei  in  jeder  Hinsicht  nur  die  regel- 
mäßigste und  mit  begrifflicher  Notwendigkeit  dem  Ge- 
setze zukommende  Wirkung  für  dasselbe  in  Anspruch 
nahm.   —  Die  Prohibition  ist  hier  die  totale.   Recht  auf 


es  sich  hierbei  nicht  von  der  Zulässigkeit  des  Zeugenbeweises 
als  Beweismittel,  sondern  von  der  Zulassung  eines  Zeugen 
handle,  worüber  die  bestehenden  prozessualischen  Vor- 
schriften maßgebend.  Die  Sophistik  dieser  Gründe  liegt  auf 
der  Hand,  denn  welche  Zeugen  ich  für  einen  Beweis  benutzen 
darf,  bezieht  sich  nicht  auf  die  ordinatoria,  sondern  decisoria 
litis.  Die  Entscheidung  selbst  aber  rechtfertigt  sich  durch  das 
früher  Gesagte. 

410 


höhere  als  sechsprozentige  Zinsen  soll  von  jetzt  ab  gar 
nicht  mehr  Eigentum  des  Individuums  sein 
können,  soll  —  als  Zinsen,  d.  h.  bei  Garantie  des 
dargeliehenen  Kapitales  und  seines  Ertrages  —  durch 
keinerlei  Willenshandlung  dazu  gemacht  werden  können. 
Da  dies  Recht  vom  Tage  des  Gesetzes  ab  ganz  aus  der 
Eigentumssphäre  des  Individuums  herausgefallen  ist,  gar 
nicht  mehr  besessen  werden  kann,  so  fällt  es  eo  ipso  auch 
bei  allen  denen  fort,  die  diesen  Anspruch  bisher  vertrags- 
mäßig besessen  und  erworben  hatten,  aber  ihn  wie  jedes 
andere  Recht  nur  auf  so  lange  besaßen  und  erworben 
hatten,  als  dasselbe  fähig  sein  würde,  einen  Gegenstand 
der  Herrschaft  des  individuellen  Willens,  ein  Eigentum 
des  Individuums  zu  bilden.  Von  einer  Rückwirkung  ist 
nicht  die  Rede,  da  sich  nach  unserer  Theorie  jeder  Zins- 
vertrag von  vornherein  notwendig  in  die  Stipulation  auf- 
löst, daß  z.  B.  zehn  Prozent  Zinsen  während  der  Dauer 
des  Vertrages  gezahlt  werden  sollen,  solange  das  Ge- 
setz dies  erlaubt,  und  eventuell  sonst  das 
jederzeitige   gesetzliche   Zinsmaximum. 

Zugleich  respektiert  Justinian  die  notwendigen  Grenzen 
des  Gesetzes,  indem  er  es  auf  die  vorher  erfallenen  Zinsen 
nicht  einwirken  läßt.  In  der  Tat  würde  dies  geheißen 
haben,  die  Prohibition  über  ihren  eigenen  Inhalt  hinaus- 
treiben und  in  Rückwirkung  verfallen,  da  dann  individuelle 
Willensaktionen  nicht  in  ihrer  Wirkung  bis  auf  die  Zeit 
des  Erscheinens  prohibitiver  Gesetze  eingeschränkt, 
sondern  der  ihnen  zustehenden  vertragsmäßigen  Wirkung 
aus  der  Zeit  des  rechtlichen  Erlaubtseins  derselben  be- 
raubt worden,  Handlungen  also  nicht  an  der  immanenten 
Grenze  ihrer  Gültigkeit  festgehalten,  sondern  inner- 
halb derselben  nachträglich  denaturiert  worden  wären. 
Savigny,  welcher  bei  seiner  Auffassung  seiner  Formel 

411 


vom  Erwerb  und  vom  Dasein  der  Rechte  dies  Gesetz  zu 
den  über  den  Erwerb  von  Rechten  handelnden  rechnen 
muß.  greift  deshalb  dies  Zinsgesetz  Justinians  wegen  seines 
Einwirkens  auf  die  bestehenden  Verträge  wiederholt  als 
ein  höchst  „eigentümliches  und  willkürliches"  an;  er  sieht 
nur  ein  Ausnahmsgesetz  darin  und  wirft  ihm  vom  Stand- 
punkt der  Rechtsgrundsätze  aus  rechtswidrige  Rückwirkung 
nachdrücklichst  vor1). 

Savigny  vertritt  dabei  nur  die  allgemeine  Ansicht  der 
neueren  Autoren,  die  nach  ihm  und  schon  vor  ihm  mit 
großer  Einhelligkeit  in  der  Verwerflichkeit  eines  solchen 
Gesetzes  zusammentreffen  2) . 


!)  Savigny,  VIII.  382-384,  397,  403,  437. 

2)  Und  zwar  gilt  dies  ebenso  von  den  französischen  wie  von 
den  gemeinrechtlichen  und  preußischen  Juristen.  Merlin,  Repert. 
v°  Effet  retroact.,  Sect.  III,  §  3,  Art.  3,  No.  11,  T.  5,  p.  575 : 
,,Ainsi  comme  nous  venons  de  le  voir,  la  loi  ne  peut  pas,  en 
reduisant  aujourdhui  l'interet  conventionnel  de  l'argent,  empecher 
qu'un  interet  plus  haut  qui  a  ete  precedemment  stipule  sous 
une  loi  qui  autorisait,  ne  continue  d'etre  exigible."  Von  der- 
selben Theorie  ging  das  Napoleonische  Zinsgesetz  vom  3.  Sep- 
tember 1807  aus,  welches  ausdrücklich  (Art.  5)  die  bereits 
geschlossenen  Verträge  ausnimmt  (vgl.  oben  S.  101),  und  ob- 
gleich das  Gesetz  letzteres  nur  von  den  Zinsen  einfacher  Dar- 
lehnskontrakte  verfügt,  faßte  der  Pariser  Kassationshof  diese 
Bestimmung  als  eine  aus  den  allgemeinen  Rechtsgrundsätzen 
selbst  folgende  auf,  indem  er  sie,  ein  Urteil  des  Appellhofes 
von  Caen  kassierend,  auch  auf  eine  in  Getreide  konstituierte 
Rente  anwandte,  welche  12 — 15  Prozent  des  Rentenkapitals 
darstellte  (Urteil  des  Kassationshofes  von  Paris  vom  3.  Mai 
1809;  vgl.  die  Urteile  desselben  Hofes  vom  5.  März  1834 
und  15.  November  1836;  Chabot,  Quest.  trans.  v°  Contrat. ; 
Zachariä,  T.   I,  §  30 ;  Troplong,  Pret,  Nr.  357). 

Von  römischen  Juristen  mag  es  hinreichen  anzuführen:  Van- 
gerow,  Pandekten,  6.  Aufl.  (1851),  T.  I,  §  26,  S.  68,  wel- 
cher das   Gesetz   Justinians   als  einen   „Machtspruch"   und  ein 

412 


Wir   glauben   dasselbe   durch   unsere   Theorie   auf  das 
vollständigste  gerechtfertigt  zu  haben,  und  zwar  nicht  als 

„exorbitantes  Gesetz"  bezeichnet;  Puchta,  Pandekten,  5.  Aufl. 
(Leipzig  1850),  §  111,  e,  welcher  ganz  dieselbe  Ansicht  aus- 
spricht. Von  landrechtlichen  Autoren:  Bornemann,  a.  a.  O-, 
S.  44:  „Auf  die  vertragsmäßigen  Zinsen  haben  neue  Gesetze, 
welche  das  Versprechen  von  Zinsen  über  eine  gewisse  Höhe 
hinaus  verbieten,  nach  allgemeinen  Grundsätzen  keinen 
Einfluß";  Koch,  Allgemeines  Landrecht,  Bd.  1,  S.  13, 
Anm.  25,  Nr.  5  c  (welcher  Autor  früher  —  Lehrbuch,  T.  I, 
§  36  und  37  —  anderer  Ansicht  war) ;  vgl.  Holzschuher, 
Theorie  und  Kasuistik,  2.  Aufl.  (Leipzig  1856),  S.  48,  Nr.  12. 
—  Gerade  diese  Einstimmigkeit  der  neueren  Autoren  mußte  es 
uns  zur  Pflicht  machen,  unserer  Beweisführung  eine  an  sich 
vielleicht  überflüssig  scheinende  Ausführlichkeit  angedeihen  zu 
lassen. 

Eine  Ausnahme  von  jenem  Einklang  machen  Boecking,  Ein- 
leitung in  die  Pandekten  des  römischen  Privatrechtes,  2.  Aufl. 
(1853),  I,  318,  und  Scheuerl,  Beiträge,  Nr.  VI,  S.  142.  Allein 
gerade  die  von  ihnen  geltend  gemachten  Gründe,  bei  denen  sich 
niemand  wird  beruhigen  wollen,  nötigen  um  so  mehr,  die  wahr- 
hafte Begründung  mit  aller  Sorgfalt  zu  führen.  Boecking  er- 
klärt nämlich,  in  diesem  Gesetze  deshalb  keine  Rückwirkung 
zu  sehen,  weil  dasselbe  nur  verfüge,  daß  „noch  nicht  ein- 
getretene Wirkungen  eines  früheren  Rechtsgeschäftes  oder 
einer  früheren  Handlung,  welche  bei  fortgeltendem  älteren  Rechte 
eingetreten  sein  würden,  nun  nicht  mehr  eintreten  sollten. 
Allein  mit  dieser  schon  1811  von  Weber  aufgestellten  Unter- 
scheidung von  schon  eingetretenen  und  noch  nicht  ein- 
getretenen Wirkungen  eines  früheren  Rechtsgeschäftes  ist  ja 
nicht  im  geringsten  durchzukommen,  und  mit  Recht  ist  sie  des- 
halb von  Savigny  unter  der  Bemerkung,  daß  sie  nur  vom  Ein- 
fluß der  lex  de  usuris  abgezogen  sei,  völlig  verworfen  worden. 
Die  ersten  besten  Beispiele  zeigen,  wie  wenig  mit  dieser  Unter- 
scheidung anzufangen  ist.  Wenn  ich  einen  Erbvertrag  geschlossen 
habe,  und  nun  ein  späteres  Gesetz  die  frühere  Form  dieser 
Verträge  für  nichtig  erklärt,  oder  der  bestimmten  Alters- 
oder Personenklasse,  zu  der  ich  gehöre,  Erbverträge  un- 

413 


ein  zulässiges,  sondern  als  ein  solches,  welches  mit  Not- 
wendigkeit die  begrifflichen  Forderungen  der  Rechtsidee 
verwirklicht. 

Gleichwohl  wollen  wir  uns  jetzt  der  Mühe  unterziehen, 
selbst  mit  Absehung  von  unserer  Theorie,  dies  Gesetz  zu 


tersagt,  und  ich  nach  diesem  Gesetz  sterbe,  so  ist  der  nun 
erfolgende  Übergang  meines  Eigentums  an  den  anderen  Kon- 
trahenten gleichfalls  eine  bei  dem  Erscheinen  des  Gesetzes 
„noch  nicht  eingetretene  Wirkung"  des  früheren  Rechtsgeschäftes 
und  kann  dennoch  nicht  ohne  stärkste  Rückwirkung  von  dem 
Gesetz  verhindert  werden.  Oder  wenn  ich  schenke  unter  einem 
Gesetz,  welches  Revokation  der  Schenkung  wegen  späterer  Ge- 
burt von  Kindern  oder  wegen  Undankbarkeit  des  Beschenkten 
gestattet,  ein  neues  Gesetz  diese  Revokationsgründe  aufhebt 
und  nun  erst  mir  Kinder  geboren  werden  oder  der  Beschenkte 
in  Undankbarkeit  verfällt,  so  ist  der  Widerruf  gleichfalls  eine 
erst  nach  dem  neuen  Gesetz  eintretende  Wirkung  eines 
früheren  Rechtsgeschäftes,  und  dennoch  wäre  es  flagrante  Rück- 
wirkung, die  Widerrufsklage  abzuschneiden  (s.  S.  299 — 303). 
Hundert  andere  Beispiele  könnten  gegeben  werden.  Nicht  also 
in  dieser  haltlosen  Unterscheidung,  daß  die  noch  nicht  ein- 
getretenen Wirkungen  früherer  Handlungen  durch  ein  späteres 
Gesetz  geändert  oder  unterdrückt  werden  können,  sondern  ledig- 
lich in  der  obigen  Theorie  hat  die  lex  de  usuris  ihre  einzige 
und  wahre  Rechtfertigung.  —  Scheuerl  will  sie  also  recht- 
fertigen. Er  räumt  zwar  ein:  „Hat  jemand  unter  dem  Einfluß 
einer  damals  geltenden  Rechtsregel  ein  gewisses  Recht  erwor- 
ben, so  sind  nun  allerdings  an  sich  auch  alle  Handlungen, 
welche  in  bloßen  Ausübungen  dieses  Rechtes  bestehen,  er- 
laubte Handlungen."  Aber  er  wendet  ein:  „Das  Dasein 
eines  Rechtes  macht  es  aber  nicht  unmöglich,  daß  eine 
neue  Rechtsregel  seine  Ausübung  untersage."  Was  für  ein 
„Dasein  von  Recht"  ist  denn  das  aber  noch,  was  gar  nicht 
mehr  ausgeübt  werden  kann?  Auch  würden  bei  dieser  Regel, 
wie  die  soeben  gegen  Boecking  angeführten  Beispiele  zeigen, 
nicht  weniger  Tür  und  Tor  der  krassesten  Rückwirkung  ge- 
öffnet sein. 

414 


rechtfertigen.  Gelingt  uns  dies  und  können  wir  die  da- 
gegen erhobenen  Einwürfe  der  Unrichtigkeit  und  des 
Widerspruches  mit  sich  selbst  überführen,  so  ist  durch  den 
Nachweis  der  Rechtmäßigkeit  dieses  Gesetzes  unsere  ge- 
samte Theorie  über  die  Einwirkung  von  Prohibitivgesetzen 
auf  das  unwidersprechlichste  bewiesen  und  gegen  jede  An- 
fechtung gesichert. 

Denn  wenn  die  gegenwärtige  Theorie,  wie  jedem  von 
selbst  klar  sein  wird,  auch  weit  entfernt  davon  ist,  ge- 
rade unter  dem  Einfluß  dieses  besonderen  Gesetzes  ent- 
standen zu  sein,  so  verhält  sich  dieses  Beispiel  doch  so 
zu  ihr,  daß  durch  den  juristischen  Beweis  von  der  inneren 
Rechtmäßigkeit  dieses  Gesetzes  um  so  mehr  und  a  for- 
tiori alles  das  erwiesen  ist,  was  wir  in  bezug  auf  die 
sofortige  Einwirkung  der  früher  in  diesem  Paragraphen 
analysierten  Gesetze  entwickelt  haben.  Dies  Beispiel  ver- 
hält sich  jedenfalls  so  zu  unserer  Theorie,  daß  dieselbe 
mit  ihm  steht  und  fällt.  Durch  den  juristischen  Be- 
weis der  Richtigkeit  des  erstem  wird  also  die  Theorie 
selbst  ihren  letzten  und  jeden  Widerspruch  ausschließen- 
den empirischen  Beweis  empfangen  haben. 

Zuerst  wäre  hier  zu  bemerken,  wie  das  Zinsgesetz  Ju- 
stinians  nicht  allein  steht,  die  Gesetzgebungen  vielmehr, 
deren  unmittelbares  Rechtsgefühl  nicht,  wie  bereits  be- 
merkt, durch  eine  halbe  Theorie  wie  bei  den  Autoren  irre- 
geführt wurde,  gerade  in  diesem  Falle  in  der  Regel  die- 
selben Grundsätze  anerkannt  haben.  So  zunächst  die  preu- 
ßischen transitorischen  Edikte  der  Jahre  1814  und  1816. 
welche  (s.  §  13  des  Patentes  vom  9.  September  1814  für 
die  Provinzen  jenseit  der  Elbe,  und  §  17  der  zwei  Pa- 
tente vom  9.  November  1816  für  das  Großherzogtum 
Posen  und  den  Kulm-  und  Michelauschen  Kreis;  §  13 
des  Patentes  vom  15.  November  1816  für  die  ehemaligen 

415 


sächsischen  Provinzen,  und  §  20  des  Patentes  vom  21.  Juni 
1825  für  das  Herzogtum  Westfalen)  sämtlich  verordnen, 
daß  vom  Einführungstage  ab 

,,in  Absicht  der  Höhe  der  erlaubten  Zinsen  die  Be- 
stimmungen   des    Allgemeinen    Landrechtes    und    der 
darauf    Bezug    habenden    späteren   Verordnungen    der- 
gestalt eintreten,  daß,  wenn  in  einem  früheren  Vertrage 
höhere  Zinsen  verabredet  worden,  als  die  preußischen 
Gesetze  gestatten,  von  dem  Tage  der  Wirksamkeit  der 
letzteren  der  Schuldner  nur  zur  Zahlung  der  erlaubten 
niedrigeren  Zinsen  verpflichtet  ist." 
Savigny,  indem  er  (a.a.O.,  S.  437)  diese  preußischen 
Gesetze,   die  er   „auffällig"   findet,   berührt,   wirft  ihnen 
vor,  nicht  bemerkt  zu  haben :  „daß  sie  dadurch  dem  nahe 
dabeistehenden  Grundsatz,  welcher  die  Folgen  der  Ver- 
träge dem  zur   Zeit   des  Abschlusses   geltenden   Gesetze 
unterwirft,  geradezu  widersprechen".   Wie  wenig  dies  der 
Fall  ist,  hätte  Savigny  an  einer  andern  Gesetzgebung,  der 
hannoverischen,  sehen  können,  welche  wiederum  dieselbe 
Zinsbestimmung  wie  jene  preußischen  Patente  treffen1), 
andererseits    auch   denselben   allgemeinen    Grundsatz   hin- 
sichts  der  Verträge  sanktionieren,  beide  Gedanken  aber 
gleich  zu  einer  Einheit  verbinden.    Es  wird  nämlich  in 
der  Einleitung  zu  der  angezogenen  Verordnung  für  Alt- 
hannover die  Regel  aufgestellt:  „Die  während  der  Unter - 


*)  Siehe  die  Verordnung  vom  23.  August  1814  für  Alt- 
hannover, §  79,  und  ebenso  die  Verordnung  vom  14.  April  1815 
für  das  Fürstentum  Hildesheim  und  vom  13.  September  1815 
für  Meppen  und  Emsbüren,  §§  87 — 89,  wo  die  zu  hohen 
Zinsen,  wie  sehr  richtig,  obwohl  übrigens  nach  unserer  Ent- 
wicklung selbstredend  ist,  selbst  für  den  Fall  untersagt  werden, 
„wenn  die  Verträge  durch  rechtskräftige  Erkenntnisse  aus  der 
Zwischenzeit  bestätigt  worden." 

416 


brechungszeit  (d.  i.  während  der  Herrschaft  des  fremden 
Gesetzes)  durch  erlaubte  freiwillige  Handlungen  und  Ver- 
träge erworbenen  Privatrechte  bleiben  gültig.  Ihre 
Folgen  und  Wirkungen,  insofern  sie  nach  Unsern 
Gesetzen  durch  Privatwillkür  bestimmt  werden  konn- 
ten, mithin  nicht  den  in  Unsern  Gesetzen  ent- 
haltenen Verboten  entgegenstehen,  sind  auch 
ferner  nach  dem  fremden  Rechte  zu  bestimmen,  und  ist 
bei  deren  Interpretation  bis  zum  Beweise  des  Gegenteiles 
rechtlich  anzunehmen,  daß  die  Parteien  die  Dispositionen 
der  fremden  Gesetze  stillschweigend  zugrunde  gelegt 
haben."  Es  ist  wahrhaft  verwunderlich,  wie  diese  Regel, 
von  der  in  die  Augen  fällt,  wie  sehr  sie  unsere  gesamte 
Theorie  bestätigt,  aus  Mangel  an  systematischer  Begrün- 
dung so  wenig  Einfluß  auf  die  juristischen  Ansichten  er- 
langen konnte.   — 

Das  zweite  Moment,  das  bei  der  Untersuchung  des 
Justinianischen  Gesetzes  hervorzuheben  ist,  ist,  daß  Ju- 
stinian  wenigstens  durchaus  nicht  „eigentümlich  und  will- 
kürlich" bei  demselben  verfahren  wollte.  Es  ist  in  dieser 
Hinsicht  erforderlich,  einen  Blick  in  das  in  Rede  stehende 
Gesetz  zu  werfen.  Justinian  sagt  in  der  L.  27 :  ,,De  usuris, 
quarum  modum  jam  statuimus,  pravam  quorundam  inter- 
pretationem  penitus  removentes,  jubemus,  etiam  eos  qui  ante 
eandem  sanctionem  ampliores  quam  statutae  sunt,  usuras 
stipulati  sunt,  ad  modum  eadem  sanctione  taxatum  ex 
tempore  lationis  ejus  suas  moderari  actiones,  scilicet  illius 
temporis  quod  ante  eandem  fluxit  legem  pro  tenore  stipu- 
lationis  usuras  exacturas." 

Nach  Justimans  und  seiner  Juristen  Ansicht  war  also 
die  in  der  L.  27  gegebene  Verordnung,  statt  irgendwelche 
Ausnahmemaßregel  darzustellen  und  in  besonderen  damals 
etwa  vorliegenden  positiven  Verhältnissen  und  Nützlich- 

-7    Lassalle,    Gea.  Schriften.    Band  IX.  4  1/ 


kcitsrücksichten  zu  wurzeln,  vielmehr  eine  so  regelmäßige 
und  mit  grundsätzlicher  Notwendigkeit  aus  den  Rechts  - 
grundsätzen  selbst  folgende  Anwendung  der  L.  26, 
daß  sie  nach  ihm  sogar  eine  ganz  überflüssige  und 
nur  durch  irrtümliche  Ansichten  notwendig  gewordene  war. 
Nach  Justinian  und  seinen  Juristen  hätte  die  L.  26,  ob- 
wohl sie  in  keiner  Hinsicht  besonders  andeutet,  was  in  be- 
zug  auf  die  bestehenden  Verträge  eintreten  solle,  schon 
von  selbst  so  angewendet  werden  müssen.  Jede  andere 
Anwendung  derselben  nennt  er  geradezu  eine  prava  inter- 
pretatio.  Zugleich  müssen  die  Ausdrücke  „qaorundum  inter- 
pretationem"  und  „penitus  removentes"  zu  zeigen  scheinen, 
daß  in  der  Tat  die  von  Justinian  so  hart  getadelte  Aus- 
legung nur  eine  vereinzelte,  nicht  die  allgemeine  war,  und 
bloß  zu  ihrer  gänzlichen  Verhütung  das  neue  transitorische 
Gesetz  erlassen  wurde.  —  Unbegreiflich  bleibt  es  dem- 
nach, wie  Savigny  und  Bergmann1)  davon  sprechen  kön- 
nen, daß  hier  etwas  Ausnahmsweises  und  nach  der  An- 
nahme des  römischen  Gesetzgebers  von  der  Regel  Ab- 
weichendes von  ihm  verordnet  worden  sei.  Vielmehr  würde 
sich  diese  Verordnung  nur  durch  eine  gänzliche  Täuschung 
Justinians  und  seiner  Juristen  erklären  lassen. 

Statt  daß  dies  der  Fall  sei,  läßt  sich  aber  vielmehr 
dartun,  daß  Savigny  durch  die  Verwerfung  jener  Wirkung 
des  Zinsgesetzes  Justinians  sogar  in  den  handgreiflichsten 
Widerspruch  mit  sich  selbst  tritt.  Um  denselben 
bis  zur  Evidenz  nachzuweisen,  braucht  bloß  danebengestellt 
zu  werden,  wie  Savigny  die  Einwirkung  der  bekannten  Vor- 
schrift des  Art.  340  Code  civil2)  auf  die  bereits  erzeugten 
unehelichen  Kinder  rechtfertigt.   Auch  hier  sind  durch  die 


x)  A.  a.  O.,  S.   192  fg.  u.  a.  and.  St. 

2)  „La  recherche  de  la  paternite  est  interdite." 


41 S 


Erzeugung  derselben  unter  einer  der  Geschwächten  und 
den  Kindern  bestimmte  Rechtsansprüche  zuerteilenden  Ge- 
setzgebung erworbene  individuelle  Rechtsverhältnisse  und 
Verpflichtungen  entstanden.  Gleichwohl  sagt  Savigny1): 
„Man  hat  dieses  Gesetz  mit  Unrecht  getadelt,  als  ob  es 
eine  ungehörige  Rückwirkung  enthielte.  Man  hat  es  ebenso 
mit  Unrecht  verteidigt,  als  ob  es  den  persönlichen  Zu- 
stand an  sich  zum  Gegenstand  hätte.  Die  wahre  Recht- 
fertigung liegt  darin,  daß  es  ein  Gesetz  von  zwingen- 
der Natur  ist"  —  nämlich  sittlichen  Beweggründen  ent- 
flossen, wie  Savigny  zuvor  auseinandergesetzt  hatte. 

Wir  haben  gesehen,  daß  es  für  ein  Gesetz  durchaus 
noch  nicht  hinreicht,  von  zwingender  Natur  zu  sein,  um 
auf  die  durch  individuelle  Handlungen  konstituierten 
Rechtsverhältnisse  einwirken  zu  können ;  daß  vielmehr  eine 
solche  Wirkung  keineswegs  eintreten  darf,  .wenn  das  zwin- 
gende Gesetz  —  wie  z.  B.  Verbot  des  Zeugenbeweises  bei 
Forderungen  über  einen  gewissen  Betrag  usw.  —  nur  be- 
stimmte Bedingungen  und  Arten  von  Handlungen,  durch 
welche  sich  das  Individuum  bisher  mit  einem  Rechtsinhalt 
zusammenschließen  konnte,  prohibiert,  nicht  aber  diesen 
qualitativ-bestimmten  Rechtsinhalt  selbst,  als  einen  jeder 
Willenshandlung  nunmehr  schlechthin  unzugänglichen,  aus 
der  rechtlichen  Eigentumssphäre  des  Individuums  hinaus- 
wirft. 

Sehen  wir  inzwischen  gegenwärtig  von  diesem  Unter- 
schied ab.  Wenn  Savigny  deshalb,  weil  jenes  über  den 
verbotenen  Beweis  der  Vaterschaft  handelnde  Gesetz  ein 
zwingendes  ist,  zugibt,  daß  es  auf  Rechtsverhältnisse, 
die  durch  individuelle  Handlungen  begründet  sind,  ein- 
wirken   darf,    warum    gibt    er    dies    von    den    Wucher- 


l)  A.  a.  O.,  VIII,  529. 

27*  4  ig 


gesetzen  nicht  zu?  Ist  ein  Wuchergesetz  weniger  als 
jenes  andere  sittlichen  und  ökonomischen  Motiven  ent- 
flossen ?  Ist  es  weniger  zwingender  Natur  ?  Die  Inkonse- 
quenz ist  also  eine  schreiende1).  — 


*)  Es  muß  übrigens  bei  diesem  Anlaß  wiederholt  bemerkt 
und  gegen  Savigny  festgehalten  werden,  daß  jedes  Gesetz 
ein  zwingendes  ist,  welches  das  Abweichen  der  Pri- 
vatwillkür ausschließt,  gleichviel  welchen  Motiven,  sitt- 
lichen oder  anderen,  es  entflossen  sei.  Wenn  man  dies  nicht 
festhält,  so  gibt  es  überhaupt  gar  keinen  festen  Begriff  von 
zwingenden  Gesetzen  mehr.  Nichts  ist  daher  irriger  als  die 
Unterscheidung,  die  Savigny  bei  seiner  Behandlung  der  ört- 
lichen Kollision  der  Gesetze  (VIII,  34  fg.)  zwischen  den 
absoluten  (die  Privatwillkür  ausschließenden)  und  den  zwin- 
genden Gesetzen  behauptet,  unter  welchen  letzteren  er  nur 
solche  absolute  Gesetze  verstehen  will,  welche  auf  sitt- 
lichen Gründen  oder  auf  „Gründen  des  öffentlichen 
Wohles  (publica  utilitas),  mögen  diese  nun  mehr  einen  poli- 
tischen, polizeilichen  oder  volkswirtschaftlichen  Charakter  an 
sich  tragen,"  beruhen  und  also  ,, außerhalb  des  reinen  Rechts- 
gebietes" ihre  Wurzel  haben.  Savigny  behauptet  aber  diesen 
Unterschied  bloß ;  weit  entfernt,  ihn  zu  beweisen,  versucht  er 
nicht  einmal  aufzuzeigen,  woher  er  stammen  und  worin  er 
liegen  soll.  Es  läßt  sich  gar  nicht  absehen,  und  wird  auch 
nicht  von  ihm  dargelegt,  warum  absolute,  Privatwillkür  aus- 
schließende Gesetze,  welche  nichts  geringeres  als  die  gesamte 
Rechtsanschauung  eines  Volkes  (das  reine  Rechtsgebiet)  zur 
Quelle  einer  mit  Notwendigkeit  jedes  Abweichen  der  Privat- 
freiheit ausschließenden  Kraft  haben.  In  der  Tat  aber  ist 
diese  ganze  Unterscheidung  an  sich  selbst  eine  unhaltbare.  Je- 
des absolute  Gesetz  ist  Gründen  des  öffentlichen  Wohles  ent- 
flossen; es  würde  sonst  schon  gar  keine  Veranlassung 
haben,  das  Abweichen  der  Privatfreiheit  auszuschließen, 
und  jedes  dieses  Abweichen  ausschließende  Gesetz  wird  daher 
auch  von  den  Römern  mit  vollem  Recht  zum  jus  publicum 
gezählt  (s.  oben  S.  76,  Anm.  1).  Als  absolute,  nicht  zwin- 
gende Gesetze   zählt   Savigny   auf :   die   Gesetze  über  die   Ein- 

420 


Endlich  ist  ersichtlich,  daß  nach  Savignys  eigener  For- 
mel vom  Dasein  der  Rechte,  wenn  dieselbe,  wie  in  der 
von  uns  entwickelten  Theorie  geschehen,  zu  ihrem  ei- 
genen  Selbstverständnis   gebracht  und  in  ihre 


schränkung  der  Handlungsfreiheit  wegen  des  Alters,  des  Ge- 
schlechtes usw. ;  "ferner  die  Gesetze  über  die  Formen  der  Über- 
tragung des  Eigentums  (ob  durch  bloßen  Vertrag  oder  durch 
Übergabe).  Die  Gesetze  über  die  Handlungsfähigkeit  der  Un- 
mündigen wurzeln  aber  in  der  staatlichen  Vorsorge,  daß  Un- 
reifheit der  Vernunft  nicht  gemißbraucht  und  daß  der  Ruin  der 
Personen  vor  entwickelter  Denkfähigkeit  verhindert  werde,  sind 
also  polizeilichen  Charakters  und  durchaus  mit  Gründen 
des  öffentlichen  Interesses  zusammenhängend.  Dasselbe  ist  der 
Fall  bei  Bestimmungen  über  die  Handlungsfähigkeit  des  weib- 
lichen Geschlechtes,  während  Gesetze  über  die  Handlungs- 
fähigkeit von  Ehefrauen  auf  der  eheherrlichen  Gewalt  und 
somit  ganz  offenbar  auf  sittlichen  Anschauungen  vom  Dasein 
der  Familie  und  ihrer  Einheit  beruhen,  wie  denn  überhaupt  alle 
gesetzlichen  Vorschriften  über  die  Personengewalt  in  schlecht- 
hin zwingenden  Anschauungen  des  öffentlichen  Rechtes  wurzeln. 
Die  Vorschriften,  daß  Eigentum  nur  durch  schriftlichen  Ver- 
trag oder  resp.  nur  durch  dazutretende  Übergabe  gültig  über- 
tragen werde,  haben  wie  alle  Formsolennitäten  zunächst  schon 
den  Grund:  die  Unzweideutigkeit  des  Willens  zu  mani- 
festieren und  zu  gewährleisten,  und  beruhen  schon  deshalb,  wie 
alle  Bestimmungen,  deren  Zweck  es  ist,  das  Dasein  des  freien 
Willens  gegen  ungewollte  Aufhebung  seiner  sicherzustellen,  auf 
der  Anschauung  von  der  persönlichen  Freiheit,  die  also 
im  höchsten  Maße  Sache  des  öffentlichen  Interesses  ist.  Hätte 
ein  absolutes  Gesetz  dieser  Art  selbst  keinen  anderen  Grund 
als  den  ganz  positiven,  daß  in  einem  Gebiete  eine  beliebige 
einheitliche  Regel  herrschte,  um  die  Möglichkeit  der  Ver- 
wirrung auszuschließen  oder  doch  Vereinfachung  zu  erzielen 
—  und  diesen  Grund  müßte  doch  zum  mindesten  ein  Gesetz 
haben,  welches  so  weit  geht,  jede  Abweichung  der  Privat- 
freiheit auszuschließen  — ,  so  sind  ja  derartige  äußerlich-posi- 
tive Gesetze  gerade  solche,  welche,  wie  die  Römer  dies  nann- 

421 


Wahrheit  erhoben  wird,  jenes  Gesetz  sich  rechtfertigt. 
Was  Savigny  innerlich  stört,  ist,  obwohl  er  dies  nicht  in 
dieser  Weise  ausspricht,  offenbar  dies,  daß  Zinsen  für 
Darlehen  noch  weiter  ausbedungen  werden  können,  das 
Gesetz  über  die  Zinsenhöhe  sich  ihm  daher  als  ein  Ge- 
setz über  die  Gültigkeit  an  sich  erlaubter  Handlungen 
und  somit  über  den  Erwerb  von  Rechten  darstellt.  Wenn 
aber  das  Recht,  Zinsen  auszubedingen,  weiter  existiert, 
so  ist  doch  das  Recht:  mehr  als  sechs  Prozent  zu 


ten,  propter  necessitatem  oder  utilitatem  und  contra  rationem 
juris  gegeben  sind,  und  deshalb,  weil  nur  um  des  öffentlichen 
Nutzens  willen  vorhanden  und  von  polizeilichem  Charakter,  am 
meisten  zwingender  Natur  sind  (vgl.  hierzu  Savigny  selbst, 
I,  61,  und  VIII,  35).  —  Das  einzige  Element,  das  Savigny 
noch  bei  seinen,  dem  reinen  Rechtsgebiet  entflossenen  und  des- 
halb nicht-zwingenden,  absoluten  Gesetzen  im  Auge  haben  kann, 
ist  somit  das  eigentlich  logisch- juristische  Element. 
Aber  gerade  hier  läßt  sich  am  wenigsten  absehen,  warum  eine 
Vorschrift,  die  einem  Volksgeist  mit  solcher  absoluter  Not- 
wendigkeit den  logischen  Denkgesetzen  selbst  zu  entfließen 
scheint,  daß  jede  Abweichung  ausgeschlossen  ist,  für  weniger 
zwingend  gelten  sollte,  als  die  Gesetze  sittlichen,  polizeilichen 
und  ökonomischen  Inhaltes.  Eine  solche  Forderung  würde  dar- 
auf hinauslaufen,  daß  es  ein  Volk  mit  den  Gesetzen  seiner 
gesamten  Denktätigkeit  überhaupt,  mit  seiner  Vernunft-Not- 
wendigkeit selbst,  weniger  streng  nehme  als  damit,  was  ihm 
in  einem  besonderen  Gebiete  erforderlich  erscheint,  und  würde 
um  so  unmöglicher  sein,  als  vielmehr  die  Gesetze  sittlichen, 
ökonomischen,  polizeilichen  Inhaltes  usw.  nur  eine  Anwen- 
dung jener  logischen  Denktätigkeit  des  Volksgeistes  auf  die 
besonderen  Felder  und  Gebiete  seines  Daseins  und  auf 
besonderen  Stoff  darstellen.  Die  Römer  haben  dies  sehr  wohl 
gefühlt  und  deshalb  stets  den  aus  diesem  logisch-juristischen 
Element  hervorgegangenen  absoluten  Gesetzen  eine  ebenso  zwin- 
gende und  vernichtende  Kraft  eingeräumt,  als  irgendwelchen 
anderen.  So  ist  es,  um  dies  an  einem  Beispiel  klar  zu  machen, 

422 


nehmen,  untergegangen.  Dies  bestimmte  Recht  —  es 
ist  natürlich  gleichgültig,  daß  es  in  diesem  Fall  eine  quan- 
titative Grenze  ist,  an  der  sich  die  qualitative  Be- 
stimmtheit des  Rechtes  ändert  und  Zins  in  Wucher 
übergeht  —  existiert  überhaupt  nicht  mehr.  Und  es  muß 
daher  vielmehr  gesagt  werden,  daß  dies  Gesetz,  bei  rich- 
tiger Auffassung  dieser  Formel,  das  Dasein  derRechte 
betrifft. 

Auf  gleicher  Linie  wie  das  Zinsgesetz  steht  auch  die 
Aufhebung  der  lex   commissoria   durch   Kaiser   Konstan- 


eme  rein  aus  dem  logisch-juristischen  Elemente  hervorgegangene 
absolute  Rechtsregel,  daß,  was  ohnehin  schon  mein  ist,  nicht 
noch  mehr  mein  werden  und  deshalb  niemand  stipuheren  kann, 
daß  ihm  eine  ihm  ohnehin  schon  gehörige  Sache  gegeben  werde 
(L.  82  de  v.  o.,  44,  1;  Inst,  de  actionibus,  VI,  §  14;  Inst, 
de  legatis,  XX,  §  10;  L.  159  de  r.  j.,  50,  17).  Dem  wird  nun 
zunächst  die  zwingende  Folge  gegeben,  daß,  wenn  die  Sache 
zur  Zeit  der  Stipulation  eine  fremde  und  die  Stipulation  also 
utilis  war,  dieselbe,  wenn  ich  inzwischen  das  Eigentum  an 
der  Sache  erlange,  hierdurch  faktisch  rückwirkend  vernichtet 
wird  (Inst,  de  inutil.  stipulat,  XIX,  §  2).  Es  war  nur  eine 
weitere  Anwendung  jener  Regel,  daß  der  Eigentümer  der  Sache 
den  Nießbrauch  nicht  besonders  erlangen  kann  (L.  5  Si  usufr. 
pet.,  VII,  6  u.  a.  a.  St.).  Dem  gab  man  die  zwingende  Folge, 
daß  das  frühere  Legat  des  Nießbrauches  an  einer  Sache  durch 
den  späteren  Erwerb  des  Eigentumes  an  derselben  durch  den 
Legatar  vernichtet  werde,  und  Julian  hält  dies  mit  Recht  so 
fest,  daß,  wenn  mir  der  Nießbrauch  an  einem  Grundstück  pure 
vermacht  ist,  das  nackte  Eigentum  an  demselben  aber  sub 
conditione  dem  Titius,  und  ich  während  der  hängigen  Bedingung 
das  Eigentum  erwerbe,  darauf  aber  die  Bedingung  eintritt,  Titius 
jetzt  nicht  nur  das  nackte  Eigentum,  sondern  Eigentum  und 
Nießbrauch  am  Grundstück  haben  will,  weil  mein  Nießbrauchs- 
recht durch  den  Erwerb  des  Eigentums  einmal  zugrunde  ge- 
gangen ist  und  Titius  also,  da  der  Nießbrauch  nicht  mehr  vom 
Eigentum  getrennt  ist.  dasselbe  als  volles  Eigentum  erwirbt. 

423 


tin.  Es  war  bis  dahin  erlaubt,  eine  Sache  dem  Gläubiger 
mit  der  Verabredung  zu  verpfänden,  daß  sie  ihm,  wenn 
er  nicht  bis  zu  einer  bestimmten  Zeit  befriedigt  sei,  zum 
Eigentum  verfallen  sein  solle.  Konstantin  verbot  diese 
„asperitas",  von  der  er  dabei  selbst  sagt,  daß  sie  mehr 
als  andere  zu  Beraubungen  Anlaß  gab,  und  zwar  so,  daß 
dies  Verbot  auch  die  bereits  getätigten  Pfandverträge 
dieser  Art  infirmieren  sollte1).  Es  kann  nicht  wunder- 
nehmen, wenn  Savigny  (VIII,  423)  und  überhaupt  alle, 
welche  in  bezug  auf  das  besprochene  Zinsgesetz  der  von 
uns  widerlegten  Meinung  sind,  hierin  gleichfalls  eine  Aus- 
nahme und  eine  Verletzung  der  Grundsätze  erblicken2). 

Wenn  es  aber  leicht  möglich  ist,  die  Kaiserkonstitu- 
tionen der  Eigentümlichkeit  und  Willkürlichkeit  beschul- 
digen zu  wollen3),  oder  besondere  faktische  Umstände  und 


x)  L.  3  C.  de  pactis  pignor.  (8,  35)  :  „Quoniam  ihter  alias 
captiones  praecipue  commissoriae  pignorum  legis  crescerit  aspe- 
ritas,  placet  infirmari  eam,  et  in  posterum  oranem  ejus  memo- 
riam  aboleri.  Si  quis  igitar  (dies  igitur  führt  das  Nachfolgende 
als  eine  selbstredende  Konsequenz  des  infimari  ein,  nicht  als 
eine  zusätzliche  Ausnahme)  tali  contractu  laborat,  hac 
sanctione  respiret,  quae  cum  praeteritis  praesentia  quoque  repellit 
et  futura  prohibet.  Creditores  enim,  re  amissa,  jubemus  recu- 
perare,  quod  dederunt." 

2)  In  welcher  Hinsicht  man  aber  mit  Recht  —  je  nachdem 
man  das  Gesetz  interpretiert  —  in  demselben  eine  Rückwirkung 
finden  könnte,  werden  wir  im  folgenden  Paragraphen  sehen. 

8)  Ein  flagrant  rückwirkendes  Gesetz  ist  z.  B.  die  L.  23 
C  de  SS.  eccl.  (1,  2),  durch  welche  Justinian  den  Kirchen 
und  frommen  Stiftungen  das  Privilegium  erteilt,  daß  erst  in 
hundert  Jahren  (statt  in  dreißig)  Verjährung  ihrer  Klagrechte 
eintreten  solle.  Denn  am  Ende  dieses  Gesetzes  sagt  Justinian : 
,,Haec  autem  omnia  observari  sancimus  in  iis  casibus  qui  vel 
postea  fuerint  nati,  vel  jam  in  Judicium  deducti  sunt."  Merk- 
würdigerweise ist  es  gerade  diese  Verleihung  der  hundertjähri- 

424 


Rücksichten  statt  Rechtsregeln  als  den  Grund  ihrer  Ver- 
anlassung anzusehen,  so  wird  diese  Auflassung  doch  bei 
den  Juristenentscheidungen  des  Pandektenrechtes  von 
selbst  nicht  möglich  sein. 

Wenn  es  daher  gelänge,  das  von  uns  entwickelte 
Prinzip  als  Grundsatz  des  Pandektenrechtes 
nachzuweisen,  so  würden  wir  demselben  die  letzte  und 
vollständigste  Sicherstellung  gegeben  haben, 
welche  überhaupt  denkbar  ist. 

Und  obgleich  die  Pandekten  auf  den  ersten  Blick  nir- 
gends eine  Entscheidung  über  das  enthalten,  was  bei  einer 
Veränderung  im  Gesetze  einzutreten  habe,  wie  min- 
destens bisher  von  allen  Autoren  stets  angenommen1)  und 
häufig  beklagt  wurde,  wird  es,  so  paradox  diese  Ver- 
sicherung zunächst  erscheinen  mag,  nichtsdestoweniger  ge- 
lingen, diesen  Nachweis  mit  vollster  Evidenz  zu  erbringen  ! 
Und  sicherlich  wird  derselbe  der  Mühe  seiner  Führung 
lohnen. 

Wir  müssen  zu  diesem  Zweck  zuvörderst  einen  Blick 
auf  das  sehr  analoge  Prinzip  werfen,  welches  die  Pan- 
dekten für  faktische  Veränderungen  bei  Vertragsverhält- 
nissen aufstellen.  Dasselbe  lautet  nun  bekanntlich  in  ganz 
allgemeiner  Fassung  und  in  sehr  zahlreichen  Stellen  dahin, 
daß  bei  Verträgen  immer  auf  den  Anfang  zu  sehen  sei 
(ad    initium   spectandum)    oder   auf   die    Zeit,    wo    wir 

gen  Verjährung  an  die  Kirchen,  welche  Procopius  als  einen 
speziellen  Fall  für  seine  Behauptung  anführt,  daß  sich  Ju- 
stinian  durch  Bestechung  habe  zu  dem  Erlaß  von  Gesetzen 
bewegen  lassen  (Anecdot.,  c.  28  und  c  13,  14  ib.).  War  das 
Gesetz  selbst  ein  erkauftes,  so  ging  dann  natürlich  auch  die 
Rückwirkung  um  so  leichter  mit  in  einem  hin. 

*)  Das  Gesetz  des  Theodosius  gilt  daher  als  die  älteste 
Entscheidung   des    römischen    Rechtes   hierüber,    siehe   Savigny. 

VIII,  392,  394. 

425 


kontrahieren  (tempus  quo  contrahimus) 1).    Oder  wie 
z.B.   der  Kaiser  Alexander  dasselbe  ausdrückt2)  : 

„Id  quidem,  quod  jure  gestum  est,  revocari  non  potest." 
Es  erhellt  von  selbst,  daß,  so  oft  vor  oder  nach  Sa- 
vigny  der  Grundsatz  desselben  ausgesprochen  wurde,  daß 
eine  Veränderung  in  der  Gesetzgebung  auf  die  be- 
stehenden Verträge  nicht  influieren  könne,  vielmehr  „das 
Recht  eines  Vertrages  stets  nach  dem  Gesetz,  welches 
zur  Zeit  des  geschlossenen  Vertrages  bestand",  zu  be- 
urteilen sei,  dies  immer,  bewußt  oder  unbewußt,  eine 
analoge  Anwendung  desselben  Gedankens  war,  welchen  die 
Pandekten  für  den  Fall  tatsächlicher  Veränderungen 
bei  Vertragsverhältnissen  feststellen. 

Allein  diesem  Prinzip  diametral  gegenüber  finden  wir 
in  den  Pandekten  auch  bereits  das  direkt  entgegengesetzte 
Prinzip,  welches  uns  Marcellus  in  folgender  Weise  be- 
richtet3) : 

,, —  —  et  maxime  secundum  illorum  opinionem  qui 
etiam  ac  quae  recte  constiterunt  resolvi  putant,  quum 
In  eum  casum  incidemnt,  a  quo  non  potuissent  consi- 
stere." 

Aus  den  Worten,  mit  welchen  Marcellus  diesen  Grund- 
satz anführt  (secundum  illorum  opinionem  qui  putant)  er- 
gibt sich  bereits,  daß  derselbe  —  in  dieser  abstrakten  Form 
—  auf  starken   Widerstand   gestoßen  haben   müsse,  und 


1)  Siehe  z.  B.  Ulpian  und  Labeo  in  der  L.  8  mandati 
(17,  1)  praef. :  ,, —  uniuscujusque  enim  contractus  initium  spec- 
tandum  et  causam."  Paulus  in  der  L.  78  de  v.  o.  (44,  1): 
.  .  .  ,quia  in  stipulationibus  id  tempus  spectatur,  quo  contra- 
himus." Julian  in  der  L.  58  pro  socio  (17,  2):  ,,.  .  .initium 
enim  in  his  contractibus  respiciendum"  usw. 

2)  L.  3  C.  de  confirm.   tutor.    (5,  29). 
8)  L.  98  de  v.  o.   (45,   1). 

426 


Paulus  scheint  ihn  geradezu  zu  leugnen  in  seinem  Aus- 
spruch1) : 

,,Non  est  novum,  ut,  quae  semel  utiliter  constituta  sunt, 
durent,  licet  ille  casus  exstiterit,  a  quo  initium  coepere 
non  potuerunt" 

Allein  derselbe  Paulus  klärt  uns  anderwärts  weit  rich- 
tiger darüber  auf,  welches  der  wahre  Sinn  und  Umfang 
dieses  Widerspruches  sei2): 

,,Etsi  placeat,  extingui  obligationem,  si  in  eum  casum 

inciderit,  a  quo  incipere  non  potest,  non  tarnen  hoc  in 

omnibus  verum  est" 

Und  in  der  Tat  verfährt  er  geeigneten  Ortes  ebensowohl 
nach  dieser  Regel3),  wie  Marcellus  in  der  zuerst  be- 
zogenen Stelle.    — 

Nicht  weniger  bringt  Modestinus  dieselbe  in  An- 
wendung4) : 

„Et  ideo  si  quis  fundum  habens  viam  stipuletur  et  par- 

tem  fundi  sui  postea  alienet,  corrumpit  stipulationem  in 

eum  casum  deducendo,   a  quo  stipulatio  incipere  non 

possit." 

Ganz  ebenso  bestimmt  wie  Modestinus  äußert  sich 
Marcian  darüber : 

„Item  si  servo  alieno  quid  legatum  fuerit,  et  postea  a 
testatore  redemtus  sit,  legatum  extinguitur ;  nam  quae 
in  eam  causam  pervenerunt,  a  qua  incipere  non  poterant, 
pro  non  scriptis  habentur*)." 

a)  L.  85,  §   1,  de  reg.  jur.   (50,   17). 

2)  L.  140,  §  2,  de  v.  o.  (45,  1). 

3)  Z.B.  L.  136,  §  1,  de  v.  o.  (45,  1):  „Si,  qui  viam 
ad  fundum  suum  dari  stipulatus  fuerit,  postea  fundum  par- 
temve  ejus  ante  constitutam  servitutem  alienaverit,  evanescit 
stipulatio. 

*)  L.    11   de  Servitut.   (8,   1). 

r>)  L.   3  de  his  quae  pro  non  scriptis   (34,  8). 

427 


Und  derselbe  nochmals  anderwärts  : 

,, —  quia  in  eum  casum  res  pervenit,  a  quo  incipere  non 

potest1)." 
und  zwar  tritt  hier  dies   Prinzip  nur  als  der  Grund  auf 
für  eine  in  der  unmittelbar  vorhergehenden  L.  15  daselbst 
gegebene  Entscheidung  Ulpians.   Dieser  verfährt  übrigens 
gleichfalls  ganz  ausdrücklich  nach  demselben2)  : 

,,Si  a  me  fuerit  arrogatus,  qui  mecum  erat  litem  con- 

testatus,  vel  cum  quo  ego,  solvi  Judicium  Marcellus  libro 

tertio  Digestorum  scribit,   quoniam  nee  ab  initio  inier 

nos  potuit  consistere." 

Es  erhellt  hieraus  also,  daß,  wie  ohnehin  von  selbst 
klar  gewesen  wäre,  der  Einspruch  sich  nur  gegen  die 
Allgemeinheit  der  Regel,  nicht  aber  gegen  das  Platz- 
greifen derselben  in  gewissen  konkreten  Fällen  richtet  und 
richten  läßt.  Wenn  sie  aber  nur  in  irgendwelchen 
Fällen  richtig  ist,  so  folgt  schon  hieraus,  daß  auch  die 
erste  ihr  entgegengesetzte  Regel,  wenn  sie  auch 
quantitativ  häufiger  zur  Anwendung  zu  kommen  hat,  doch 
ebensowenig  Anspruch  auf  absolute  Wahrheit  hat, 
als  die  ihr  gegenüberstehende  zweite ;  daß  beide  vielmehr 
ebenso  wahr  als  falsch  sind,  was  darauf  beruht,  daß  beide 
dem  wahrhaften  Begriffe  entflossen  sind  und  Momente 
desselben  darstellen,  keine  von  beiden  aber  ihn  in  seiner 
Totalität  in  sich  enthält3). 


1)  L.   16  ad  L.  Aquil.   (9,  2). 

2)  L.  11  de  judic.  (5,  1).  Vgl.  endlich  §  6,  Inst,  de  nox. 
act.  (4,  8) :  „Unde  si  alienus  servus  noxam  tibi  commiserit, 
et  is  postea  in  potestate  tua  esse  coeperit,  intereidit  actio  quia 
in  eum  casum,  dedueta  sit,  in  quo  consistere  non  potuit. 

3)  Es  ist  überhaupt  der  abstrakten  Form  der  Regel  ganz 
unmöglich,  den  Begriff  in  dem  wahrhaften  Reichtum  seiner 
Bestimmungen    und    der    Einheit    seiner    Momente    in    sich    zu 

428 


Auch  dieser  zweite  Grundsatz  —  dieser  also,  daß  der 
Vertrag  hinfällig  wird,  wenn  ein  solcher  Fall  eintritt,  in 
welchem  der  Vertrag,  falls  er  nicht  geschlossen  wäre,  auch 
gar  nicht  mehr  geschlossen  werden  dürfte  —  ist  in  den 
Pandekten  zunächst  nur  in  Hinsicht  auf  faktischeVer- 
änderungen  aufgestellt. 

Gleichwohl  müssen  wir  unsere  volle  Verwunderung  aus- 
sprechen, daß  noch  niemand  daran  gedacht  hat,  bei  der 
Bearbeitung  unserer  Materie  auch  auf  dies  letztere  Pan- 
dektenpnnzip  zurückzugehen  und  es  ebenso  in  analoger 
Weise  —  also  mit  Berücksichtigung  des  Unterschiedes 
der  etwa  zwischen  faktischen  und  rechtlichen  Ver- 
änderungen stattfindet  -  auf  die  Einwirkung  neuer  Ge- 
setze auf  Verträge  anzuwenden,  wie  sich  die  Lehre,  daß 
beim  Rechts  Wechsel  der  Vertrag  immer  nur  nach  dem  Ge- 
setz zur  Zeit  seiner  Schließung  zu  beurteilen  sei,  von 
selbst  als  die  analoge  Anwendung  jenes  ersten,  gleichfalls 
für  faktische  Änderungen  gegebenen  Pandektenprinzipes 
darstellt. 

Und  diese  Verwunderung  ist  um  so  legitimer,  als  nicht 
nur   die    Analogie,    welche   überhaupt    innerhalb   gewisser 


fassen.  Die  Regel  kann  —  als  abstrakte  Verstandeslätigkeit  - 
immer  nur  das  eine  der  begrifflichen  Momente  scharf  her- 
ausheben und  isolieren.  Hierauf  beruht  die  allgemeine  Erschei- 
nung, daß  die  Regeln,  die  in  den  Pandekten  aufgestellt  werden, 
so  häufig  höchst  bedenklicher  und  irreleitender  Natur,  die  da- 
nach gegebenen  konkreten  Entscheidungen  aber  richtig  sind. 
Es  ist  nur  das  Einverständnis  des  Verstandes,  daß  er  den 
Begriff,  unter  dessen  treibender  Tätigkeit  er  arbeitet,  nie  in 
seiner  adäquaten  Reinheit  herauszuringen  vermag,  welches  sich 
in  den  Worten  des  Paulus  ausspricht :  ,,Non  ex  regula  jus 
sumatur,  sed  ex  jure  quod  est.  regula  fiat"  (L.  1  de  r.  j.  50. 
17),  oder  in  dem  bekannten  ..Omnis  defimtio  in  jure  civili 
periculosa"    (L.    202  de  r.   j.). 

429 


Grenzen  zwischen  faktischen  und  rechtlichen  Verände- 
rungen stattfindet,  ganz  einleuchtend,  sondern  auch  ganz 
anerkannt  ist,  und  Savigny,  wie  bereits  Bergmann  und 
andere  vor  ihm,  gerade  auf  diese  Analogie  ihre 
ganze  Lehre  über  den  Einfluß  des  Gesetzwechsels  auf 
das  Erbrecht  gründen,  indem  sie  bei  Gesetzes  Verände- 
rungen zwischen  Testament  und  Tod,  Tod  ab  intestato 
und  Erbanfall  usw.,  fast  überall  dieselben  Regeln  zur 
Anwendung  bringen,  die  nach  römischer  Lehre  bei  Ände- 
rungen in  den  tatsächlichen  Verhältnissen  zwischen 
Testament  und  Tod  usw.  eintreten,  und  gerade  durch  diese 
Übertragung,  und  sich  direkt  auf  sie  gründend,  ihre  Re- 
sultate gewinnen.    (Vgl.  Savigny,  VIII,  450 fg.,  461  fg., 

484fg.,  488fg.) 

Und  sicherlich  hätte  man  jenes  zweite  von  Marcellus, 
Paulus,  Marcianus,  Modestinus  und  Ulpian  bekundete  Prin- 
zip ebensosehr  analog  auf  den  Fall  von  Veränderungen  in 
der  Gesetzgebung  angewendet,  wie  man  dies  bewußt  und 
ausdrücklich  mit  den  erbrechtlichen  Bestimmungen,  wie 
man  es  in  der  allgemein  gültigsten  Weise  und  häufig  selbst 
ganz  unbewußt  mit  dem  ihm  entgegenstehenden  Prinzip 
über  die  bei  faktischen  Veränderungen  allein  in  Betracht 
kommende  Zeit  der  Vertragschließung  getan,  so  würde 
man  gerade  hierdurch  letzteres  von  seiner  Einseitigkeit  ge- 
reinigt haben,  und  dadurch  zu  der  ganzen  und  vollen  be- 
grifflichen Wahrheit  und  —  wie  für  jeden,  dem  dies  noch 
nicht  von  selbst  einleuchtet,  vorläufig  als  bloße  Vermutung 
ausgesprochen  sein  mag  —  ganz  zu  der  Theorie  über 
die  Einwirkung  von  Prohibitivgesetzen  auf  Verträge  ge- 
kommen sein,  die  wir  im  vorstehenden  entwickelt 
haben! 

Allein  um  diese  analoge  Übertragung  vornehmen  zu 
können,    hätte    man    zuvor   innerhalb   des    Kreises   bloß 

430 


faktischer  Veränderungen  klar  die  allgemeinen  Be- 
dingungen feststellen  müssen,  unter  welchen  jedes- 
mal das  zweite  Prinzip  zur  Anwendung  zu  kommen  hat 
oder  nicht,  und  also  folgeweise  das  erste  platzgreifen 
muß.  Das  heißt,  man  hätte  beide  Grundsätze  in  ihrem 
sich  gegenseitig  ergänzenden  begrifflichen  Verhältnis 
zueinander  erkennen  müssen.  Daß  sich  das  zweite  Prin- 
zip, wegen  seiner  quantitativ  weniger  häufigen  Anwend- 
barkeit, zu  dem  ersten  wie  die  Ausnahme  zur  Regel  ver- 
halte, —  mit  einer  solchen  Erklärung  ist  natürlich  die 
Sache  weder  erkannt  noch  irgendwie  von  der  Stelle  ge- 
bracht. Denn  es  handelt  sich  dann  nach  wie  vor  darum : 
die  begriffliche  Bestimmung  zu  treffen,  wo  jedesmal  die 
sogenannte  eigentliche  Regel  und  wo  die  Ausnahme- 
regel zur  Anwendung  kommen  müsse.  Aber  gerade  eben 
an  diesem  ersten  Erfordernis  fehlte  es  bisher.  Umsonst 
versuchte  J.  Gothofredus1)  diese  Aufgabe  zu  lösen,  und 
im  Grunde  ganz  ebensowenig  ist  dies  dem  Italiener  Ave- 
ranius  gelungen,  welcher  ihr  einige  Kapitel  seiner  Inter- 
pretationes  Juris  gewidmet  hat2). 

Wir  beabsichtigen  inzwischen  unsererseits  nicht,  uns 
dieser  Aufgabe  hier  in  direkterer  Weise  zu  unterziehen, 
als  durch  die  Elemente  von  selbst  geschehen  ist,  die  im 
vorstehenden  für  dieselbe  bereits  geliefert  sind  und  im 
Verlauf  noch  geliefert  werden  sollen.  Wir  beabsichtigen 
dies  nicht,  weil  einmal  hierzu,  für  so  lösbar  wir  diese 
Aufgabe  halten  und  so  sehr  die  Lösung  derselben  in 
dem  bisherigen  und  ferneren  Inhalt  dieses  Paragraphen, 
sowie  in  dem  des  §  10  an  sich  bereits  vollbracht 


!)  Im  Tit.  de  r.  j.,  L.  85,  §   1. 

2)  Jos.    Averanius,    Interprett.    Juris,    Üb.    IV,    c    20 — 26, 
3.   Ausg.   (Leyden   1753),   II,  764-841. 

431 


sein  dürft1)-  Zl>  ihrer  Heraushebung  eine  beson- 
dere Zusammenstellung  erforderlich  wäre,  deren  wir,  wie 
sich  bald  zeigen  wird,  für  unseren  Zweck  zunächst  nicht 
mehr  benötigt  sind,  und  ferner,  weil  selbst  das  Resultat 
einer  solchen  Nachweisung,  als  nur  für  Veränderungen  in 
den  tatsächlichen  Verhältnissen  maßgebend,  noch  nicht 
ohne  weiteres  auf  die  Veränderungen  in  der  Gesetz- 
gebung zu  übertragen  wäre.  Denn  so  weit  wir  davon 
entfernt  sind,  jede  Analogie  zwischen  diesen  beiden  Arten 
von  Veränderungen  zu  leugnen,  so  wenig  findet  doch 
Identität  zwischen  beiden  statt,  oder  vielmehr  es  findet 
Identität  und  Unterschied  zugleich  statt,  und  beide 
würden  durch  eine  neue  Entwickelung  erst  wieder  sehr 
sorgfältig  auseinander  zu  halten  sein.  Wir  werden  in  dieser 
Hinsicht  später  sehen  (in  den  Anwendungen,  Nr.  VI),  daß 
Savigny  zu  vielen  irrigen  Resultaten  beim  Erbrecht  eben 
dadurch  gelangt,  daß  er  den  bestimmten  Unterschied 
der  begrifflichen  und  rechtlichen  Wirkungen,  welche 
den  tatsächlichen  und  gesetzlichen  Veränderungen  zu- 
kommen, sich  nicht  entwickelt,  und  beide,  wie  dies  bei 
der  unklaren  Kategorie  der  „Analogie"  stets  widerfährt, 
als  analog  behandelt  hat  in  Punkten,  in  welchen  sie  durch- 
aus begrifflich  auseinandergehen. 

1)  Und  freilich  muß  diese  Lösung  auch  durch  unsere  Ar- 
beit vollbracht  sein.  Denn  der  Gedanke,  warum  und  inwiefern 
der  Rechts  Wechsel  frühere  Rechtsverhältnisse  aufheben  kann, 
ist  mit  der  Frage,  warum  tatsächliche  Veränderung  dies 
nicht  vermag  und  wo  auch  sie  es  vermag,  innerlich  so 
konnexer  Natur,  daß  sich  der  erste  gar  nicht  aus  seiner 
spekulativen  Tiefe  entwickeln  läßt,  ohne  durch  das  hieraus 
über  die  innerste  Gedankennatur  des  Rechtes  sich 
ergießende  Licht  auch  die  zweite  Frage  und  ihre 
begrifflichen  Unterschiede  in  vollkommene  Helle  ge- 
stellt  zu  haben. 

432 


Diesen  begrifflichen  Unterschied  zu  entwickeln,  welcher 
den  Wirkungen  tatsächlicher  und  rechtlicher  Ver- 
änderungen zukommt  und  die  Rechtsverschiedenheit  dieser 
Wirkungen  bestimmt,  halten  wir  nun  allerdings  für  eine 
unabweisbare  Aufgabe  eines  jeden,  der  unsere  Materie 
gründlich  zu  lösen  beabsichtigt.  Und  so  wenig  einer  un- 
serer Vorgänger  auch  nur  den  Versuch  dazu  gemacht  hat, 
so  werden  wir  dennoch  in  §  10  genötigt  sein,  diesen  Unter- 
schied aus  seiner  begrifflichen  Tiefe  heraus  zu  entwickeln. 
—  Allein  gegenwärtig  ist  dies  noch  nicht  erforderlich. 

Denn  die  Pandekten  enthalten  —  und  ebendes- 
halb ist  es  für  unseren  jetzigen  Zweck  völlig  überflüssig, 
die  bezeichneten  Erörterungen  hier  vorzunehmen  — -  in  den 
Entscheidungen,  welche  sie  unter  der  Einwirkung  des 
zweiten  Prinzipes  von  der  nachträglichen  Hinfälligkeit 
der  Obligationen  geben,  mindestens  einige  Fälle, 
in  welchen  die  eingetretene  Veränderung  nur 
ganz  scheinbar  einen  Wechsel  in  den  tatsäch- 
lichen Verhältnissen,  in  Wahrheit  aber  einen 
Wechselinden  rechtlichen  Verhältnissen,  eine 
Veränderung  in  der  Gesetzgebung  darstellt! 

Wenn  eine  Sache  verkauft  wurde  und  nach  abgeschlos- 
senem Verkauf,  aber  noch  ehe  die  Tradition  an  den  Käufer 
erfolgte,  ohne  die  Schuld  des  Verkäufers  in  irgendeiner 
Weise  zugrunde  ging,  so  bleibt  nach  römischer  Lehre  der 
Verkauf  bestehen  und  der  Verkäufer1)  hat  das  Recht, 
den  verabredeten  Kaufpreis  vom  Käufer  zu  fordern.  Die 
Sache  ist  auf  Gefahr  des  Käufers  zugrunde  gegangen,  ohne 
daß  dadurch  der  Verkaufsvertrag  entkräftet  wird. 


1)  Denn  er  hat  den  Käufer  in  obligatione,  und  diese  obligatio 
ist   nicht    zugrunde   gegangen. 

28  Lawalle.  G«.  Schriften.  Band  IX.  433 


Die   Institutionen   enthalten  diese   Lehre  auf   das  aus- 
drücklichste1) : 

„Quum  autem  emtio  et  venditio  contracta  sit  (quod 
effici  diximus  simulatque  de  pretio  convenerit,  quum 
sine  scriptura  res  agitur)  periculum  rei  venditae  statim 
ad  emtorem  pertinet,  tametsi  adhuc  ea  res  emtori  tra- 
dita  non  sit.  Itaque  si  homo  mortuus  sit  vel  aliqua 
parte  corporis  laesus  fuerit,  aut  aedes  totae  vel  aliqua 
ex  parte  incendio  consumatae  fuennt,  aut  fundus  vi 
fluminis  totus  vel  aliqua  ex  parte  ablatus  sit,  sive 
etiam  inundatione  aquae  aut  arboribus  turbine  dejectis 
longe  minor  aut  deterior  esse  coeperit ;  emtoris  dam- 
num  est,  cui  necesse  est  licet  rem  non  fuerit  nactus,  pre- 
tium  solvere;  quidqiiid  enim  sine  dolo  et  culpa  vendi- 
toris  accidit,  in  eo  venditor  securus  est." 
Ebenso  bestimmt  wird  diese  Lehre  in  den  Entscheidungen 
der  Pandekten  vorgetragen,  z.  B.  von  Julianus 2)  : 

,,Mortuo  autem  nomine  perinde  habenda  est  venditio, 
ac   si  traditus   fuisset,   utpote   quum  venditor    liberetur 
et  emtori  homo  pereat ;  quare,  nisi  justa  conventio  inter- 
venerit,  actiones  ex  emto  et  vendito  manebunt" 
und  von  anderen3). 

In  allen  diesen   Fällen  des   Unterganges  bestand  der- 
selbe in   dem   Eintreten  einer  Veränderung   in  den  tat- 


*)  Inst.   §  3  de  emtione  et  venditione   (3,  23). 

2)  L.  5,  §  2  de  rescind.  vendit.   (18,  5). 

3)  Paulus  in  der  L.  21  de  heredit.  vel  act.  vend.  (18,  4). 
Celsus  in  der  L.  16  de  condictione  causa  data  c.  n.  s.  (12, 
4),  der  nicht  beim  Verkaufskontrakt,  sondern  nur  bei  der 
Obligation  ob  rem  datam  non  secutam  ein  anderes  annehmen 
will,  und  endlich  die  Verordnung  der  Kaiser  Diocletian  und 
Maximinian  L.  ult.  C.  de  pericul.  et  comm.  rei  vend.  (4,  48). 

434 


sächlichen  Verhältnissen  der  Sache.  Er  war  rein  fak- 
tischer Natur.  Diese  Veränderung  berührt  also  den 
gültigen  Fortbestand  des  Kontraktes  nicht. 

Wie  aber,  wenn  eine  verkaufte  Sache  vor  der  Tradition 
- —  und  zwar  ohne  Schuld  des  Verkäufers  —  extra  com- 
mercium erklärt  worden  ist?  Wenn  also  ein  Grund  - 
stück  publiziert  worden,  oder  eine  Sache  zur  res  sacra 
vel  religiosa  erklärt  worden,  oder  ein  fremder  Sklave,  den 
ich  verkauft  habe,  freigelassen  worden  ist  ? 

Konstatieren  wir  zunächst,  daß  diese  Art  von  Ver- 
änderung keine  bloß  faktische  mehr  ist,  sondern 
eine  solche  nur  scheinbar,  in  der  Tat  aber  eine  Verände- 
rung rechtlicher  Natur,  eine  Veränderung  in  der  die 
Sache  betreffenden  Gesetzgebung  darstellt. 

Veränderung  in  der  Gesetzgebung  besteht  bekanntlich, 
zum  Unterschied  von  der  faktischen  Veränderung,  darin, 
daß,  während  die  Sache  in  ihren  tatsächlichen  Ver- 
hältnissen dieselbe  geblieben,  nur  die  Rechtsregel, 
unter  welche  sie  zu  subsumieren  ist,  eine  an- 
dere  geworden  ist. 

In  der  Tat  ist  es  dies,  was  in  jenen  Fällen  vorliegt.  Das 
ihnen  anklebende  Moment  faktischer  Veränderung 
besteht  lediglich  darin,  daß  hier  für  eine  individuell  - 
bestimmte  Sache1)  eine  neue  Rechtsregel  erlassen, 
respektive  jene  Sache  unter  eine  andere  Rechtsregel  als 
ihre  bisherige  subsumiert  worden  ist.  Diese  Veränderung 
hat  somit  nur  die  Natur  einer  lex  specialis,    die  für  eine 


x)  Der  für  den  gegenwärtigen  Zweck  noch  gleichgültige  he 
griff  liehe    Unterschied    zwischen    dem   durch   faktische    Mo- 
mente   vermittelten    Rechts  Wechsel    und    dem     reinen 
Rechtswechsel  wird   gleichfalls  im  §   10  zu  seiner  Entwicklung 
gelangen. 

28*  435 


individuell-bestimmte  Sache  erlassen  worden  ist,  aber 
immerhin  also  die  Natur  einer  legalen  Veränderung. 
Für  die  gegenwärtige  Frage  ist  es  schlechthin  gleichgültig, 
ob  ein  bestimmter  Garten  oder  ein  gewisser  Stichus  unter 
ein  neues  Gesetz  fällt,  weil  für  das  ganze  Genus, 
unter  welches  auch  dieser  bestimmte  Garten  und  dieser 
bestimmte  Stichus  fällt,  ein  neues  Gesetz  verkündet  wor- 
den, oder  weil  nur  für  diesen  bestimmten  Garten 
und  diesen  bestimmten  Stichus  ein  solches  erlassen 
worden  ist.  —  Es  ist  für  die  uns  hier  beschäftigende 
Frage  ebenso  schlechthin  gleichgültig,  ob  das  neue  Gesetz 
eine  solche  Rechtsregel  ist,  die  bisher  noch  gar  nicht  be- 
stand, oder  die  bisher  zwar  schon  bestand,  aber  nicht  für 
diese  bestimmten  Objekte  bestand,  die  jetzt  unter 
sie  subsumiert  werden.  Die  römischen  Juristen  behandeln 
es  daher  in  ihren  bald  anzuführenden  Aussprüchen  mit 
Recht  als  ganz  auf  derselben  Linie  stehend,  ob  ein  Sklave 
von  seinem  Herrn  freigelassen  oder  ob  „lege  aliqua"  eine 
Sache  saknert  oder  ein  Grundstück  publiziert  oder  ein 
Sklave  freigelassen  worden  sei  usw.  Und  ebensowenig 
wird  jemand  bezweifeln  können,  daß  die  Entscheidungen, 
welche  sie  für  diese  Fälle  geben,  notwendig  dieselben 
bleiben  müßten,  wenn  alle  Gärten  dieser  Art  publiziert, 
alle  Sachen  dieser  Gattung  zu  res  sacrae  vel  religiosae 
gemacht,  alle  Sklaven  dieser  Beschaffenheit  oder  alle 
Sklaven  überhaupt  freigegeben  würden  und  diese  indivi- 
duellen Objekte  nun  um  des  Genus  willen,  dem  sie  an- 
gehören, unter  ihren  neuen  Rechtszustand  zu  subsumieren 
wären. 

Am  klarsten  und  einfachsten  tritt  aber  die  Wahrheit  des 
Gesagten  z.  B.  daran  hervor,  daß  eine  Sache  zu  einer  res 
sacra  bekanntlich  immer  nur  durch  ein  besonderes 
Gesetz    gemacht    werden    konnte:    Sed    sacrum   quidem 

436 


solum  existimatur  auctoritate  populi  Romani  fieri ;  con- 
secratur  enim  lege  de  ea  re  lata  aut  senatusconsulto  facto x). 

So  viel  ist  also  hierdurch  klar  bewiesen,  daß  die  Pan- 
dekten, wie  man  merkwürdigerweise  stets  unbeachtet  ge- 
lassen hat,  in  den  angegebenen  Fällen  gerade  solche  Fälle 
setzen  und  entscheiden,  in  denen  zwischen  der  Ab- 
schließung  des  Vertrages  und  seiner  Erfüllung 
ein  Wechsel  in  dem  die  Sache  regierenden  Ge- 
setze eingetreten  ist. 

Und  wie  entscheiden  sie  nun  die  in  Rede  stehenden 
Fälle? 

Sie  entscheiden  sie  auf  das  bestimmteste  dahin,  daß, 
wenn  die  Sache  zwischen  Verkauf  und  Tradition  zu  einer 
res  sacra  vel  religiosa  oder  publiziert  worden  ist,  im 
strikten  Gegensatz  zu  dem,  was  für  den  Fall  ihres  fak- 
tischen Unterganges  in  diesem  Zeitraum  gilt,  der  Käufer 
weder  die  Sache,  noch  der  Verkäufer  den  Kauf- 
preis fordern,  ersterer  vielmehr  diesen,  wenn  er  schon 
gezahlt  ist,  zurückverlangen  kann;  daß  also  hier 
durch  die  inzwischen  eingetretene  Erklärung  der  Sache  zu 
einer  res  extra  commercium  der  Vertrag  selbst  nach- 
träglich hinfällig  und  ungültig  wird. 

So  Paulus2)  : 

„Sacram  vel  religiosam  rem,  vel  usibus  publicis  in  per- 
petuum  relictam  —  —  —  inutiliter  stipulor,  quamvis 
sacra  profana  fieri,  et  usibus  publicis  relicta  in  pri- 
vatos  usus  reverti  et  ex  libero  servus  fieri  potest.  Nam 
et  quum  quis  rem  profanam  aut  Stichum  dari  promisit. 


1)  Gajus,  II,  §  5.  --  L.  6,  §  3;  L.  9  de  div.  rcr.  (1,  8); 
Inst.,  II,  1,  §  8;  Festus  v.  Sacer  mons,  ed.  O.  Müller,  p.  318, 
321,  und  Aelius  Gallus  daselbst. 

2)  L.  83,  §  5,  de  v.  o.  (45,  1).      , 

437 


liberatur,  si  sine  facto  ejus  res  sacra  esse  coeperlt  aut 
Stichus  ad  libertatetn  pervenerit." 
Und  so  vernichtet  ist  dann  die  Obligation,  daß  sie  nicht 
wieder  auflebt,  wenn  durch  ein  anderes  Gesetz  die 
Sache  wieder  profan,  oder  wenn  Stichus  wieder  zum 
Sklaven  geworden,  wie  Paulus  daselbst  ausdrücklich  weiter 
erklärt : 

,,Nec  revocantur  in  obligationem,  si  rursus  lege  aliqua 
et  res  sacra  profana  esse  coeperit,   et  Stichus  ex  libero 
servus   effectas  sit,  quoniam  una  atque  eadem  causa  et 
liberandi   et  obligandi   esset,   quot  aut  dari  non  possit 
aut  dari  possit." 
Es  zeigt  sich  also  hieran,  daß  nicht  bloß  wegen  der  fak- 
tischen Unmöglichkeit  die  Ausführung  der  Obligation 
fortfällt,  weil  diese  dann  nur  bis  zur  wiedereingetretenen 
Möglichkeit  sistiert  sein  müßte1),  sondern  daß  die  Exi- 
stenz der  Obligation  selbst  vernichtet  wird. 

Ebenso  bestimmt  lehrt  dies  Africanus  für  den  Fall,  daß 
ein  verkauftes  Grundstück  vor  der  Übergabe  publiziert 
wird,  und  fügt  noch  hinzu,  daß  auch  der  schon  ge- 
zahlte Kaufpreis  dann  zurückgezahlt  werden 
muß2):  :    i 


1)  Was,  wenn  die  Unmöglichkeit  aus  bloß  faktischen 
Gründen  eintritt,  in  der  Tat  der  Fall  ist,  wie  Paulus  dies  da- 
selbst von  dem  Schiff  lehrt,  welches,  nach  der  Obligation  von 
seinem  Eigentümer  auseinandergenommen,  dann  aber  aus  den- 
selben Balken  wieder  zusammengesetzt  worden  ist,  wodurch 
die  Verpflichtung  wieder  fortwirkt.  Am  deutlichsten  setzt  diesen 
Unterschied  Paulus  in  derL.  98,  §8,  de  solut.  (46,3)  auseinander: 
,,.  .  .  Nee  simili  argumento  usus  est,  ut  si  navem,  quam  tu 
promisisti,  dominus  dissolverit,  deinde  iisdem  tabulis  compegerit, 
teneri  te ;  hie  enim  eadem  navis,  quam  te  daturam  spopondisti, 
ut  videatur  inagis  obligatio  cessare,  quam  extineta  esse." 

3)  L.  33  locati  cond.   (19,  2). 

438 


,,.  .  .  nam  et  si  vendideris  mihi  fundum,  isque,  prius- 
quam  vacuus  traderetur,  publicatus  fuerit,  tenearis  ex 
emto.  Quod  hactenus  verum  sit,  ut  pretiutn  restltuas, 
non  ut  etiam  id  praestes,  si  quid  pluris  mea  intersit1), 
eum  vacuum  mihi  tradi", 
worauf  Africanus  denselben  Grundsatz  auch  auf  den  Miets- 
vertrag anwendet2). 


*)  Es  soll  also  nur  der  Kaufpreis  restituiert  und,  wenn  dieser 
noch  nicht  gezahlt  ist,  überhaupt  nichts  aus  dem  Vertrage  ge- 
leistet werden.  Der  Vertrag  ist  also  aufgelöst.  —  Wenn  ich 
dagegen  unwissend  Grundstücke  gekauft  habe,  die  schon  zur 
Zeit  des  Kaufes  publiziert  waren,  so  habe  ich  allerdings 
durch  die  actio  ex  emto  den  Anspruch,  daß  mir  das  Inter- 
esse geleistet  werde.  Vgl.  Modestinus  in  der  L.  62,  §  1, 
de  contrah.  empt.  (18,  1):  ,,Qui  nesciens  loca  sacra  vel  reli- 
giosa,  vel  publica  pro  privatis  comparavit,  licet  emtio  non 
teneat,  ex  emto  tarnen  adversus  venditorem  experietur,  ut  conse- 
quatur  quod  interfuit  ejus,  ne  deciperetur."  Ebenso  Inst.  §  5 
de  emption.  vendit.  (3,  23).  Hier  bleibt  also  die  Obligation 
als  solche  bestehen  und  löst  sich  nur  in  die  noch  mögliche 
Art  ihrer  Erfüllung  auf. 

3)  Diese  Stelle  des  Africanus  mußte  bisher  stets  mißver- 
standen werden  und  hat  deshalb  seit  jeher  und  bis  auf  den 
heutigen  Tag  das  Kreuz  der  römischen  Juristen  ausgemacht, 
die  sich  bei  der  Behandlung  des  Titels :  de  periculo  et  com- 
modo  rei  venditae  nutzlos  an  ihr  zermartert  haben !  Cujaz  wurde 
durch  sie  verführt,  statt  der  herrschenden  und  gar  keinem  Zweifel 
unterworfenen  Lehre,  daß  mit  dem  Kaufkontrakt  die  Gefahr 
auf  den  Käufer  übergehe,  das  Gegenteil  derselben  aufzustellen 
(Tract.  VIII  ad  Africanum  in  L.  23  D.  Locati.  Opp.  I.  1479. 
und  Observ.  XXIII,  c.  29),  ist  aber  später  von  diesem  großen 
Irrtum  zurückgekommen  (Comm.  ad  Paul,  ad  Edict.,  lib.  33, 
1.  8,  de  per.  et  commodo,  Opp.  V,  513),  ohne  die  Stelle  des 
Africanus  damit  versöhnen  zu  können.  Die  äußerst  verunglück- 
ten Erklärungen  von  etwa  zweihundert  anderen  großen  Rechts- 
gelehrten  kann    man   bei   Glück,    Pandekten,   XVII,    133—143, 

439 


Und  an  einer  anderen  Stelle  gibt  Paulus  nicht  nur  hin- 
sichts  des  freigewordenen  Sklaven  nochmals  dieselbe  Ent- 
scheidung, sondern  bezeugt  es  auch  ausdrücklich 
als  die  allgemein  anerkannte   Lehre,   daß,   wenn 


nachlesen.  „Der  bescheidenere  Teil  der  Rechtsgelehrten,"  sagt 
Glück,  „gesteht  zwar,  daß  Africanus  im  Falle  der  Publi- 
kation der  verkauften  Sache  von  der  oben  angegebenen  Regel 
des  Zivilrechtes  abgewichen  sei ;  warum  aber  ?  davon  lasse  sich 
kein  befriedigender  Grund  angeben."  Und  so  steht  die  Sache 
bis  heute.  So  sagt  z.  B.  Vangerow,  Pandekten  (Marburg  1852), 
III,  217:  „Bei  dem  Kaufkontrakte  wird  in  einer  Reihe 
von  Stellen  völlig  unzweideutig  und  bestimmt  der  Grundsatz 
ausgesprochen,  daß  mit  dem  Augenblick  der  Perfektion  die 
Gefahr  auf  den  Käufer  übergehe,  d.h.,  daß,  wenn  die  Ware 
kasuell  zugrunde  gehe,  der  Käufer  dennoch  den  versprochenen 
Kaufpreis  dafür  zu  entrichten  habe,"  worauf  er  dann,  als  „einige 
Bedenklichkeit"  dagegen  erregend,  die  Stelle  des  Africanus 
anführt.  Diese  angebliche  Bedenklichkeit  will  er  dann  damit 
wieder  beseitigen:  bei  dieser  Stelle  „müsse  wohl  voraus- 
gesetzt (!!)  werden,  daß  der  Grund  der  Konfiskation  schon 
vor  die  Zeit  des  Kontraktes  fällt  (!!!),  so  daß  die 
Sache  als  eine  vitiöse  erscheint , und  deshalb  kein  Anspruch 
auf  den  Kaufpreis  begründet  ist."  Diese  Erklärung  rührt  schon 
von  Voet  her ;  ehe  man  aber  auf  so  überaus  gewalttätige 
Weise  eine  Stelle  gegen  ihren  offenbaren  Sinn  und 
Buchstabenlaut  auslegt,  sowie  gegen  alle  Gesetze  kriti- 
scher Interpretation,  welche  nicht  erlauben,  daß  man  die  Schwie- 
rigkeit und  das  Interesse  einer  Stelle  durch  verflachende  Vor- 
aussetzungen los  zu  werden  sucht,  ist  es  besser,  sich,  wie 
Glück  sagt,  zu  dem  bescheideneren  Teile  zu  stellen  und  ein- 
zugestehen,  daß    die   Sache   vorab   nicht   zu   begreifen   sei. 

Verstanden  aber  konnte  bisher  die  Stelle  nicht  werden,  da 
man  jene  ganze  oben  entwickelte  Theorie  der  Pandekten  über- 
sehen hatte.  Mit  derselben  erweist  sich  nun  die  Entscheidung 
des  Africanus  als  notwendig  und  als  ganz  identisch  mit 
den  anderen  oben  angeführten  Parallelstellen,  andererseits  zu- 
gleich  als    der    Lehre   de   periculo   et    commodo   rei    venditae 

440 


derselbe  durch  ein  neues  Gesetz  wieder  zum  Sklaven  wird, 
die  Obligation  dadurch  nicht  wiederauflebt1): 

,,.  .  .  Respondi,  si  alienum  hominem  promisi,  et  is  a 
domino  manumissus  est,  liberor.  Nee  admissum  est 
quod  Celsus  alt,  si  idem  rursus  lege  aliqua  servus 
effeetas  sit,  peti  eum  posse,  in  perpetuum  enim  sublata 
obligatio  restitui  non  posse,  et  si  servus  effectus  sit, 
alius  videtur  esse. 

In  allen  diesen  Fällen  wird  also  die  Obligation  gänz- 
lich vernichtet2). 

Alle  diese  Fälle  beruhen,  wie  bereits  hervorgehoben 
ist,  auf  der  gemeinschaftlichen  Achse,  daß  die  Sache, 
welche  Gegenstand  der  Obligation  war,  nicht  faktisch  zu- 
grunde ging,  sondern  extra  commercium  erklärt  wor- 
den ist. 

Unter  den  res  extra  commercium  verstanden  aber 
die  Römer  bekanntlich  nichts  anderes  als  solche 
Sachen,  welche  der  Unterwerfung  unter  die  Herr- 


durchaus nicht  entgegenstehend,  weil  die  Sache  eben  nicht  fak- 
tisch untergegangen,  sondern  extra  commercium  erklärt  wor- 
den ist.  Das  Eigentum  an  derselben  war,  da  die  Übergabe 
noch  nicht  erfolgt  ist,  noch  nicht  übergegangen.  Nur  ein  Ver- 
trag bestand  in  bezug  auf  dieselbe.  Da  die  Sache  extra  com- 
mercium, d.i.  außerhalb  der  rechtlichen  Herrschaft 
des  Privatwillens  erklärt  worden  ist,  und  also  nicht 
mehr  Gegenstand  desselben  sein  kann,  ist  der  Vertrag 
zerstört  und  Käufer  wie  Verkäufer  haben  nun  in  bezug 
auf  die  Sache  nichts  mehr  voneinander  zu  fordern,  oder  müssen 
sich  resp.  das  schon  Geleistete  herausgeben. 
!)  L.  98,  §  8,  de  solunt.   (46,  3). 

2)  Ebenso  die  Schadenersatz-Obligation  aus  der  L.  Aquilia ; 
s.  Ulpians  Entscheidung  in  der  L.  15  ad  Leg.  Aqu.  (19,  2). 
oben    S.  427/428. 

441 


schaft  des  individuellen  Willens  entzog en  sind 
(und  deshalb  auch  nicht  Gegenstand  des  Verkehres  sein 
können).  Mit  anderen  Worten  :  Die  res  extra  commercium 
sind  bekanntlich  ganz  identisch  mit  den  res  quae  extra  nostrum 
Patrimonium  habentur,  indem  jene  Einteilung  denselben 
Gedanken,  die  Unfähigkeit  einer  Sache,  in  die  Eigentums- 
sphäre des  Privatwillens  zu  fallen,  in  bezug  auf  das  Wer- 
den, diese  in  bezug  auf  das  Sein  ausspricht1). 

Das  heißt  also:  „Wir  haben  in  diesen  Pandekten  - 
entscheidungen  nichts  anderes  vor  uns,  als  die  strikte 
Anerkennung  der  in  diesem  Paragraphen  von 
uns  auf  anderem  Wege  entwickelten  Theorie 
über  die  Prohibitivgesetze  ! 

Geht  die  Sache  faktisch  unter,  so  bleibt  der  Vertrag 
bestehen;  geht  aber  nicht  die  Sache,  sondern  das  Recht 
auf  dieselbe  überhaupt  zugrunde,  geht  dies  zu- 
grunde, daß  ein  Rechtsinhalt  Eigentum  sein,  d.h.  in 
die  Herrschaftssphäre  des  individuellen  Wil- 
lens hineinfallen  darf,  so  ist  der  Vertrag 
selbst,  durch  welchen  dies  Recht  erworben, 
veräußert,  übertragen  wird,  kaduk,  und  zwar 
ohne  weiteres,  ohne  Anspruch  auf  Erfüllung, 
Entschädigung  und  Interesseleistung  kaduk. 
Evanescit  obligatio,  resolvitur  contractus. 

Oder,  wie  wir  dies  sonst  ausgedrückt  haben,  ist  die 
Prohibition  die  totale,  daß  ein  bestimmtes  Rechts- 


*)  Siehe  z.  B.  Boecking,  Einleitung  in  die  Pandekten  des 
römischen  Privatrechtes,  I,  247:  „Den selben  Gegensatz,  nur 
wie  jene  (die  res  extra  Patrimonium)  aus  dem  Gesichtspunkt 
des  Habens,  sondern  aus  dem  des  Erwerbens  aufgefaßt, 
drückt  die  Einteilung  in  res  quae  in  commercio  sunt  aut  quarum 
commercium  non  est  aus." 

442 


objekt  oder  ein  genau  qualifiziertes  Recht  überhaupt  nicht 
mehr  von  der  Privatperson  besessen  werden 
kann,  so  sind  auch  die  schon  geschehenen  Er- 
werbungen und  Stipulationen  eo  ipso  hinfällig. 
Alle  Ansprüche  auf  dies  Recht  konnten  von  vornherein 
nur  erworben  werden  auf  die  Dauer  seines  Be- 
stehens1). 


x)  Hierbei  ergibt  sich  auch  noch  ein  sehr  heller,  beständiger 
Blick  in  die  im  Anfang  dieses  Paragraphen  entwickelte  Natur 
der  Prohibitivgesetze.  Warum  kann  ich  nach  römischem  Recht 
nicht  in  gültiger  Weise  die  konditionelle  Stipulation 
treffen :  daß  ich  den  (freien)  Stichus  liefern  werde,  wenn  er 
durch  ein  anderes  Gesetz  zu  einem  Sklaven  geworden  sein 
wird,  oder  dieses  Grundstück,  wenn  es  aus  einem  sacro  vel 
rehgioso  zu  einem  profanen  geworden  sein  wird  ?  Daß  ich 
es  nicht  kann,  sagt  Paulus  L.  83  de  v.  o.,  §  5  (45,  1)  ganz 
positiv,  und  hat  sehr  recht  dabei.  Aber  die  Gründe,  die  er 
dafür  angibt,  sind,  wie  alle  Gründe  in  den  von  uns  in 
den  letzten  Erörterungen  betrachteten  Stellen, 
sehr  unzureichender  und  unbeholfener  Natur.  Er  sagt,  dies 
ginge  deshalb  nicht,  quia  nee  praesentis  tetnporis  obligationem 
reeipere  potest  (warum  aber?  danach  wird  ja  eben  gefragt; 
diese  Antwort  ist  eine  petitio  principii)  et  ea  dumtaxat  quae 
natura  sui  possibilin  sunt,  dedueuntur  in  obligationem.  Aber 
möglich  bleibt  ja  ein  solcher  Gesetzwechsel  sehr  wohl,  wie 
schon  seine  Unterstellung  durch  die  römischen  Juristen  selbst 
zeigt;  möglich  bleibt  er  ganz  ebenso  gut,  als  wie  daß  der 
Herr  das  auseinander  genommene  Schiff  wieder  zusammen- 
setzt usw.  Der  Grund  ist,  wie  bei  den  letzten  Erörterungen 
überhaupt,  ein  spekulativer,  und  darum  fühlen  ihn  die 
römischen   Juristen,   ohne   ihn  zutage  fördern  zu   können. 

Er  ist  offenbar  folgender :  daß  ein  freier  Mensch,  ein  reli- 
giöser Ort  usw.  verkauft  werde,  ist  prohibiert;  d.h.  cLis 
gesamte  Rechtsbewußtsein  des  Volkes  verhält  sich  aus- 
schließend dagegen.  Nun  ist  das  Rechtsbewußtscin 
des    Volkes    die    alleinige    Rechtssubstanz.    der    einzige 

143 


Und  jetzt  erst,  wo  wir  die  von  uns  auf  rein  begriff- 
lichem Wege  entwickelte  und  durch  so  viele  andere  Be- 
weise belegte  Theorie  auch  als  die  innerlich  den  Pan- 
dekten zugrunde  liegende  nachgewiesen  und  somit 
durch  die  Entscheidungen  jener  römischen  Virtuosen  der 
formellen  Rechtslogik  bewährt  haben,  deren  Virtuosität 
seitdem  nicht  wieder  ihresgleichen  gefunden,  halten  wir 
diese  Theorie  fortan  gegen  jeden  Versuch  wissenschaft- 


Boden,  in  dem  alles  Recht  überhaupt  existiert  und  Wirk- 
lichkeit hat  (siehe  oben  S.  306  fg.)-  Wenn  ich  nun  die 
faktische  Absicht  habe,  diesen  Menschen  oder  diesen  Ort  später, 
wenn  das  prohibitive  Gesetz  aufgehoben  sein  wird,  zu  ver- 
kaufen, und  wenn  dies  seinerzeit  auch  ganz  zulässig  sein  wird, 
wie  will  ich  denn  diese  faktische  Absicht  gegenwärtig  auf 
den  Rechtsboden  übertragen,  so  daß  sie  rechtlich  wird 
und  mich  für  das  spätere  Eintreten  des  durch  die  Bedingung 
bestimmten   Falles   bindet  ? 

Ich  kann  diesen  faktischen  Willen  gar  nicht  auf  den  Rechts- 
boden übertragen,  ihm  nicht  rechtliche  Wirklichkeit  darin  geben, 
weil  sich  dieser  Rechtsboden  selbst,  das  Rechtsbewußtsein  des 
ganzen  Volkes,  vorläufig  repulsiv  dagegen  verhält,  und  na- 
türlich ebenso  —  und  noch  mehr  —  zeitweilig  repulsiv  und 
ausschließend  gegen  die  Anschauung,  daß  der  gegenwärtige 
zwingende  Inhalt  seines  Bewußtseins  nicht  mehr  der  seinige 
sein  wird. 

Meine  Stipulation,  auch  wenn  ich  sie  treffe,  bleibt  also 
eine  bloß  faktisch  naturale  Absicht,  die  gar  nicht  dazu 
gelangt,  in  die  Rechtssphäre  übergehen  und  somit  recht- 
liches Dasein  gewinnen  zu  können.  Weil  wegen  dieses  nega- 
tiven Verhaltens  der  Rechtssphäre  zu  jener  Absicht  dieselbe 
in  keiner  Weise  irgend  in  sie  einzudringen  vermag,  sagt  Ulpian 
sehr  richtig :  res  sacra  non  recipit  aestimationem  (L.  9,  §  5, 
D.  de  div.  rer.,  1,  8).  Übrigens  werden  wir  später  Gelegenheit 
haben,  den  Fall  des  Paulus  weiter  zu  betrachten  und  zu  sehen, 
welcher   Unterschiede   er   fähig   ist. 

444 


licher  Anfechtung  für  vollständig  gesichert,  und  es  bleibt 
uns  zunächst  nur  noch  übrig,  in  dem  folgenden  Paragraphen 
weitere  Konsequenzen  derselben  zu  ziehen. 


§  8.  Absolute  Gesetze.  Exceptio  rei  in  Judicium 

deductae    und   rei    judicatae.     Unterschied   der 

obligatorischen   und    dinglichen   Rechte. 

Aus  dem  S.  384  hervorgehobenen  Unterschied  zwischen 
obligatorischen  und  dinglichen  Rechten  ergibt  sich  nun 
eine  Konsequenz  über  den  verschiedenen  Einfluß  von 
Prohibitivgesetzen  auf  die  exceptio  rei  in  Judicium  de- 
ductae und  die  exceptio  rei  judicatae  bei  obligatori- 
schen Forderungen. 

Die  obligatorische  Forderung  empfängt,  wie  daselbst 
bemerkt,  ihre  bestimmte  juristische  Natur  sowohl  aus  der 
Handlung,  auf  die  sie  Anspruch  gibt,  als  aus  ihrem 
Erwerbsgrund.  Ein  Gesetz  also,  welches  verfügt,  daß 
aus  einem  bestimmten  Erwerbungsgrund  keine  Obligation 
mehr  solle  entspringen  dürfen,  fällt  daher  in  die  erste  der 
beiden  auf  S.  381  fg.  unterschiedenen  Arten  von  Prohibitiv- 
gesetzen. Es  zerstört  also  die  zur  Zeit  bereits  vorhandenen 
aus  diesem  Erwerbungsgrund  fließenden  obligatorischen 
Forderungen.  Es  zerstört  sie  also  notwendig  auch  dann, 
wenn  dieselben  bereits  vor  Erlaß  des  Gesetzes  eingeklagt 
waren ;  denn  es  reicht  nicht  hin,  daß  das  Recht  im  Kläger 
am  Tage  der  Klage  vorhanden  war,  es  muß  auch  noch 
zur  Zeit  des  Urteils  in  ihm  gegenwärtig  sein,  um  ihm 
zugesprochen  zu  werden1).  So  wird  z.  B.,  wenn  auf  Ent- 
schädigung wegen  Schwängerung  geklagt  ist,  diese  Forde- 


*)  Vgl.  hierüber  Averanius,  Interprett.  Juris,  lib.  IV,  c.  23, 
p.  781   sqq.,  ed.    Lugdun.    1753. 

445 


rung  nicht  zuerkannt  werden  können,  wenn  während  des 
Prozesses  ein  Gesetz  erscheint,  welches  Entschädigungs- 
klagen aus  diesem  Grunde  verbietet.  Anders  dagegen  ver- 
hält es  sich  mit  der  res  iudicata.  Wenn  das  Prohibitiv- 
gesetz  nicht  die  Handlung,  auf  welche  die  Obligation  An- 
spruch gibt,  also  das  Rechtsobjekt  selbst,  auf  welches 
erkannt  worden  ist,  der  Unterwerfung  unter  individuelle 
Willensherrschaft  entzieht  und  zu  einem  solchen  macht, 
das  nicht  mehr  besessen  werden  kann;  wenn  das  neue 
Prohibitivgesetz  vielmehr  nur  verbietet,  daß  der  Anspruch 
auf  eine  an  sich  zulässige  obligatorische  Leistung  aus 
einem  bestimmten  Erwerbungsgrund  hervorgehe,  so 
kann  dasselbe  nur  die  hängige  Klage  zerstören,  auf  das 
rechtskräftige  Urteil  aber  in  keiner  Weise  einwirken.  Es 
wird  also  in  dem  angegebenen  Fall  die  schwängerungs- 
halber  einmal  rechtskräftig  zuerkannte  Entschädigungs- 
summe schlechterdings  gezahlt  werden  müssen,  wenn  auch 
vor  der  Exekution  ein  jeden  Rechtsanspruch  wegen 
Schwängerung  verbietendes  Gesetz  erscheint. 

Der  Grund  dieses  Unterschiedes  zwischen  der  exceptio 
rei  in  Judicium  deductae  und  rei  judicatae  ist  klar.  Die 
hängige  Klage  erfordert,  daß  der  Rechtsgrund,  aus 
welchem  mir  ein  obligatorischer  Anspruch  zuerkannt  wer- 
den soll,  noch  wirksam  sein  könne.  Bei  der  res  iudicata 
dagegen  kommt  es  gar  nicht  mehr  auf  den  ursprüng- 
lichen Erwerbungsgrund  an,  weil  das  Urteil 
eine  Novation  enthält  (s.  oben  S.  259  und  Anm.  1 
das.).  An  die  Stelle  des  früheren  Erwerbungsgrundes  ist 
jetzt  ein  neuer  und  selbständiger  getreten,  das  Urteil 
selbst.  Das  Prohibitivgesetz,  welches  verbietet,  daß  aus 
einem  bestimmten  Erwerbungsgrunde  Ansprüche  von  an 
sich  noch  ferner  zulässiger  Natur  entspringen,  kann  also 
den  Inhaber  des  Judikat  nicht  mehr  treffen  ;  denn  dieser 

446 


fordert  nicht  mehr  aus  dem  ursprünglichen  Erwerbungs- 
grunde, dessen  Bestimmtheit  vielmehr  in  und  durch  den 
neuen  Titel  zugrunde  gegangen  ist.  Er  fordert  mit 
der  actio  judicati.  Mit  anderen  Worten :  an  die  Stelle  des 
qualitativ -bestimmten  Erwerbungsgrundes,  welcher 
jetzt  prohibiert  ist,  ist  ein  Judikat  —  und  ebenso  ein  Ver- 
gleich — ,  ein  durch  Willenshandlung  über- 
haupt1) konstituiertes  Recht  getreten.  Und  da  auch  das 
Objekt,  auf  welches  erkannt  worden  ist  — -  Zahlung  einer 
Geldentschädigung  überhaupt  — ,  in  dem  unterstellten  Fall 
nicht  prohibiert  ist,  so  würde  die  Anwendung  des  pro- 
hibitiven  Gesetzes  auf  die  wegen  Schwängerung  ergangenen 
Urteile  oder  Vergleiche  eine  wahre  Rückwirkung  und  Ver- 
letzung des  durch  zulässige  individuelle  Willensaktion  Er- 
worbenen darstellen. 

Prohibitive  Gesetze  über  obligatorische  Forderungen 
werden  meistens  diese  Natur  haben,  sich  nur  gegen  den 
Erwerbungsgrund  der  Obligation  zu  richten,  und  wer- 
den deshalb  die  res  judicata  respektieren  müssen. 

Gleichwohl  sind  auch  die  Fälle  nicht  selten,  in  welchen 
Gesetze  das  Objekt  von  Obligationen  prohibieren,  d.h. 
die  bestimmte  Handlung,  zu  deren  Forderung  die 
Obligation  berechtigt,  für  eine  solche  erklären,  auf  die  ein 
Anspruch  überhaupt  nicht  mehr  besessen  wer- 


*)  Daher  das   Prinzip,   daß   das   Urteil   wie  ein   Kontrakt 
wirkt;    siehe    Ulpian    und    Marcellus   in    der    L.    3,    §    11,   de 
peculio  (15,   1):   .....  nam  sicut    in    stipulatione    contrahitur 
ita  judicio  contrahi  proinde  non   originem  judicii  speetandam,  sed 
ipsam  judicati  velut  obligationem" ;  Worte,  welche  die  obige  Theo 
rie  auf  das  ausdrücklichste  bestätigen. 

Daher  auch  die  Folge,  daß  die  actio  judicati  stets  in  per- 
sonam  geht,  wenn  auch  die  ursprüngliche  Klage  eine  ding- 
liche  war. 

447 


den  kann.  In  diesem  Falle  wird  also,  wie  unsere  gesamte 
bisherige  Ent Wickelung  gezeigt  hat,  auch  die  res  iudicata 
durch  das   Prohibitivgesetz   notwendig   mit  aboliert. 

Wenn  also  z.  B.  unter  einer  Gesetzgebung  auf  Erfüllung 
von  Heiratsversprechen  geklagt  werden  kann  und  ein  rechts- 
kräftiges Urteil  hierauf  ergangen  ist,  durch  ein  neues  Ge- 
setz aber  Zwangsanspruch  auf  Heirat  als  der  persönlichen 
Freiheit  zuwider  abgeschafft  wird,  so  wird  hierdurch  auch 
die  res  iudicata  wirkungslos.  Denn  Zwangsanspruch  auf 
Heirat  ist  jetzt  etwas,  das  nicht  mehr  besessen  wer- 
den, vom  Individuum  gar  nicht  mehr  zu  seinem  Eigentum 
gemacht  werden  kann,  und  es  greifen  daher  die  Entwicke- 
lungen  des  vorigen  Paragraphen  platz. 

Ebenso  wenn  ein  rechtskräftiges  Urteil  auf  Alimente  an 
ein  uneheliches  Kind  ergangen  ist  und  ein  neues  Gesetz 
diese  Verpflichtung  bei  unehelichen  Kindern  aufhebt.  Von 
jetzt  ab  wird  das  Alimentenurteil  wirkungslos ;  denn  das- 
selbe ist  nicht  so  abstrakt  aufzufassen,  als  habe  es  auf 
Geldzahlungen  im  allgemeinen  erkannt  —  in  Geld  lösen 
sich  freilich  fast  alle  Ansprüche  auf  — ,  sondern  in  seiner 
bestimmten  juristischen  Natur:  es  ist  auf  Leistung 
von  Alimenten  erkannt  worden1),  auf  verwandt- 
schaftliche Unterstützung.  Das  Recht  des  unehe- 
lichen Kindes  auf  verwandtschaftliche  Unterstützung  des 
Vaters  ist  aber  aufgehoben,  es  kann  somit  weder  erworben 


1)  Daß  die  bestimmte  juristische  Natur  des  Anspruches 
hier  qualifizierend  in  dem  Objekt,  auf  das  erkannt 
worden  ist,  fortlebt  und  er  deshalb  also  nicht  zur  Forderung 
überhaupt  zusammengesunken  ist,  ist  ja  unbestreitbar.  Darum 
können  z.  B.  Alimente  für  insaisissables  und  für  nicht  kom- 
pensierbar erklärt  werden  (Cod.  civ.,  Art.  1293 ;  Cod.  de 
proc,  Art.  581).  Darum  erbt  der  Erbe  des  Alimentandus 
die  Forderung  nicht  usw. 

448 


noch  weiter  besessen  werden.  Was  hier  prohibiert  ist,  ist 
nicht  bloß  der  Erwerbungsgrund  des  Anspruches,  son- 
dern der  bestimmte  inhaltliche  Anspruch  selbst,  das  Ob- 
jekt, auf  welches  durch  das  Urteil  erkannt  worden  ist. 
Bei  dinglichen  Rechten  kann  der  in  diesem  Para- 
graphen entwickelte  Unterschied  zwischen  der  exceptio  rei 
in  Judicium  deductae  und  der  exceptio  rei  judicatae  nicht 
eintreten.  Und  zwar  deshalb  nicht,  weil  bei  dinglichen 
Rechten  der  Erwerbungsgrund  nicht,  wie  bei  der  Obliga- 
tion, zur  juristischen  Natur  derselben  gehört,  sondern  zur 
Gleichgültigkeit  der  besonderen  faktischen  Handlung  zu- 
sammensinkt, durch  welche  das  dingliche  Recht  erworben 
worden  ist.  Es  ist  schlechthin  einflußlos  auf  die  recht- 
liche Natur  des  Eigentumes,  der  Servitut  usw.,  ob  ich  das 
Eigentumsrecht  durch  Erbschaft,  Usukapion,  Kauf  usw. 
erworben  habe  (s.  oben  S.  384).  Bei  den  dinglichen  Rech- 
ten fällt  daher  jedes. bloß  gegen  den  Erwerbungs- 
grund prohibitive  Gesetz  —  z.  B.  daß  Eigentum  nicht 
mehr  durch  Usukapion  erlangt  werden  können  solle  — 
mit  Notwendigkeit  in  die  zweite  der  beiden  S.  381  fg. 
dargestellten  Klassen  von  Prohibitivgesetzen,  und  wirkt 
daher  auch  auf  die  hängige  Klage  nicht  ein,  da  es  nicht 
einmal  auf  das  bloße  entstandene  Recht  vor  der  Klage- 
anhängung  einwirkt ;  während  andererseits  Prohibitiv- 
gesetze,  welche  nicht  den  Erwerbungsgrund  des  dinglichen 
Rechtes,  sondern  dieses  selbst  aufheben,  oder  die  eine 
durch  den  Erwerbungsgrund  zwar  vermittelte, 
aber  an  dem  dinglichen  Recht  selbst  wieder  hervor- 
tretendenähereBestimmtheitdesselben  aufheben 
(s.  oben  S.  384  und  386),  stets  zu  denen  gehören,  die 
einen  Rechtsinhalt  außerhalb  des  Eigentumes  erklären  und 
daher  auch  auf  die  durch  res  judicata  festgestellten  Eigen- 
tumsverhältnisse eingreifen. 

29   Lassalle.  Ges.  Schriften.  Band  IX.  44Q 


§  9.  Absolute  Gesetze.    Auflösung  der  Formel 

von   den    vollbrachten    Tatsachen.    Der    Besitz 

und    sein    Wesen.    Juris    quasi-possessio.     Der 

Personenzustand. 

Es  muß  hervorgehoben  werden,  daß  wir  bis  jetzt  noch 
kein  Prinzip  entwickelt  haben,  welches  die  durch  Zahlung 
und  faktische  Ausführung  überhaupt  einmal  zu  Ende  ge- 
brachten Rechtsverhältnisse  gegen  die  Einwirkung  von 
Prohibitivgesetzen  der  ersten  Art  (S.  381  fg.)  schützt. 
Setzen  wir  z.  B.,  um  uns  dem  im  vorigen  Paragraphen 
unterstellten  Falle  anzuschließen,  es  sei  ein  Urteil  auf 
Alimentation  eines  unehelichen  Kindes  ergangen  und  in- 
folge desselben  freiwillig  auf  mehrere  Jahre  im  voraus  ge- 
zahlt worden.  Das  Erscheinen  eines  diese  Alimentenpflicht 
aufhebenden  Gesetzes  würde,  wie  wir  sahen,  das  Urteil  von 
jetzt  ab  entkräften,  aber  zur  Wiederforderung  der  voraus- 
gezahlten Alimente  kann  es  nicht  berechtigen.  Dies  liegt 
auch  nicht  etwa  an  dem  Zurückbleiben  einer  naturalis 
obligatio ;  denn  die  Folge  würde  dieselbe  sein,  wenn  das 
neue  Gesetz  auch  das  Dasein  einer  naturalis  obligatio  in 
dem  betreffenden  Fall  nicht  anerkennen  würde. 

Man  begründet  dies  stets  damit,  daß  vollbrachte 
Tatsachen  von  neuen  Gesetzen  nicht  berührt  werden 
können,  oder,  wie  Savigny  dies  ausdrückt  —  welcher  des- 
halb sogar  jede  Rechtfertigung  dieses  Satzes  von  der 
Untersuchung  über  die  Rückwirkung  der  Gesetze  zurück- 
weist ■ — ■,  damit,  daß  das  Gesetz  nicht  Geschehenes  un- 
geschehen machen  könne. 

Was  man  mit  diesen  Sätzen  ausrichten  will,  ist  meistens 
ganz  richtig.  Allein  wir  haben  schon  S.  267  fg.  gezeigt,  daß 
der  Satz  von  den  vollbrachten  Tatsachen  theoretisch 
völlig  unhaltbar  sei,   und  haben  bereits  S.  118  fg.   darauf 

450 


aufmerksam  gemacht,  daß,  inwiefern  das  Gesetz  Ge- 
schehenes ungeschehen  machen  könne  —  was  an  sich  sehr 
häufig  im  juristischen  Sinne  geschieht  -  -  oder  nicht,  sich 
gerade  erst  als  Resultat  dieser  Untersuchung  ergeben 
könne  und  müsse. 

Wenn  also  unsere  Theorie  vollständig  sein  soll,  werden 
wir.  was  Prohibitivgesetzen  gegenüber  bisher  noch  nicht 
geschehen,  einen  anderen,  aus  unserer  Theorie  selbst  her- 
vorfließenden Grund  aufzeigen  müssen,  welcher  dasselbe 
Richtige  vollbringt,  was  man  mit  dem  Satze  von  der  Un- 
berührbarkeit  vollbrachter  Tatsachen  gewöhnlich  auszu- 
richten sucht. 

Dieser  Grund  ist  aber  kein  anderer,  als  das  auch  von 
dieser  Seite  hervortretende  Wesen  des  Besitzes  als  eines 
selbständigen,  auf  der  faktischen  Verbindung  der  Per- 
sönlichkeit mit  einer  Sache  beruhenden  Rechtes,  als  wel- 
ches der  Besitz  nach  der  in  dem  bekannten  Meisterwerke 
Savignys  hierfür  gegebenen  Grundlage  nunmehr  allgemein 
anerkannt  ist1). 

Der  Besitz  als  eigenes  Recht  gründet  sich  darauf,  daß 
schon  die  Ineinssetzung  der  Sache  mit  einer  Per- 
sönlichkeit ein  rechtliches  Band  für  sich  bildet, 
bei  welchem  die  causa  in  den  Hintergrund  tritt.  Es  ist 
hier  in  der  Kürze  an  den  Auspruch  Papinians  zu  erinnern : 
„...possessio  plurimum  facti  habet"2)  und  an  den  des 
Paulus:  ,,.  .  .  in  summa  possessionis  non  multum  interest, 
juste  quis  an  injuste  possideat3)." 

Aus  diesem  Wesen  des  Besitzes  ergibt  sich  für  unsere 

x)  Savigny,  Das  Recht  des  Besitzes  (6.  Aufl.,  1837)  ;  Puchta. 
Pandekten  (5.  Aufl.,  1850),  §  122;  derselbe.  Kursus  der 
Inst..   Bd.    2,   §   224. 

2)  L.    19   quibus  ex  caus.   major   (4,  6). 

3)  L.    3,    §    5,    de   acqu.    vel    amitt.    possessionc    (41,    2V 

29«  451 


Materie  die  notwendige  Folgerung,  daß,  solange  ein  Ob- 
jekt überhaupt  noch  besessen  werden  kann,  es 
gleichgültig  ist,  ob  der  Erwerbungs-  und  Entstehungs- 
grund dieses  noch  zulässigen  Besitzes  durch  ein  neues 
Gesetz  prohibiert  wird. 

Das  Prohibitivgesetz  findet  den  Besitz,  die  bereits  ge- 
schehene Vereinigung  der  Persönlichkeit  mit  der  Sache, 
als  ein  besonderes  Recht  vor  sich,  das  daher  einzig 
und  allein  dadurch  gebrochen  wird  und  gebrochen  werden 
kann,  wenn  sich  das  Prohibitivgesetz  statt  gegen  den  Ent- 
stehungsgrund des  Besitzes,  gegen  die  Fähigkeit 
eines  Objektes,  überhaupt  besessen  zu  werden, 
richtet  und  also  gerade  die  Möglichkeit  desselben,  sich  in 
jener  Vereinigung  mit  dem  Individuum  zu  befinden,  auf- 
hebt. 

Von  hier  aus  ergibt  sich  auch,  inwiefern  man  dem  oben 
bezogenen,  die  lex  commissoria  aufhebenden  Gesetz  des 
Konstantin,  je  nach  der  Interpretation  desselben,  in  der 
Tat  den  Vorwurf  der  Rückwirkung  machen  könnte  (s.  dies 
Gesetz  oben  S.  424,  Note  1).  Durch  den  Pfandvertrag 
der  lex  commissoria  wurde  eine  Sache  mit  der  Bestim- 
mung dem  Gläubiger  verpfändet,  daß,  wenn  derselbe  nicht 
binnen  einer  bestimmten  Zeit  befriedigt  sei,  ihm  dafür  die 
Sache  zum  Eigentum  anerf allen  sollte.  An  und  für  sich 
genommen,  war  dies  eventuelle  Recht  des  Gläubigers  auf 
die  Sache,  als  ein  irrevokables,  schon  vom  Moment  des 
Vertrages  ab  ein  erworbenes.  Aber,  wie  unsere  Theorie 
gezeigt  hat,  bloß  bis  zum  Eintreten  eines  prohibitiven  Ge- 
setzes. In  der  Anwendung  dieses  Gesetzes  auf  die  be- 
reits bestehenden  Verträge,  worin  die  Autoren  die 
Rückwirkung  erblicken  wollen,  ist  also,  insofern  der  für 
die  Zahlung  der  Schuld  stipulierte  Termin  noch  nicht 
eingetreten   war,   nicht    die   leiseste    Rückwirkung   zu 

452 


sehen.  Anders  wenn  man  annimmt,  das  Gesetz  habe  auch 
auf  solche  Fälle  Anwendung  finden  wollen,  in  denen  der 
festgesetzte  Zahltermin  bereits  verstrichen  und  die  Sache 
somit  dem  Gläubiger  schon  zum  Eigentum  an- 
e  r  f  a  1 1  e  n  war.  Denn  hier  war  nun  bereits  für  sich 
selbständig-feste  Ineinssetzung  einer  Sache  mit  einer 
Persönlichkeit  einmal  eingetreten,  die  Sache  war  in  den 
Besitz  derselben,  gleichviel  auf  welchen  Titel,  einmal 
übergegangen,  und  es  lag  also  ein  finitum  atque  absolutum 
vor,  das  so  lange  nicht  aufgehoben  werden  konnte,  solange 
die  Objekte  dieses  Besitzes  nicht  überhaupt  für  unfähig 
erklärt  wurden,  sich  im  Privatbesitz  zu  befinden1)  alicujus 
in  bonis,  in  patrimonio  esse). 

Ganz  so  wie  vom  Objektsbesitz  gilt  dies  auch  von  der 
juris  quasi  possessio,  wiederum  nur  mit  der  Einschränkung, 
daß  das  Prohibitivgesetz  nicht  eben  dies  aufhebt,  daß  das 
betreffende  Recht  sich  im  Eigentum  und  somit  auch  im 
Besitz  des  Individuums  befinden  kann. 

Hierbei  ist  zu  bemerken,  daß  auch  der  Personen- 
zu stand  besessen  werden  kann.    Die  Freiheit  kann  vom 


*)  Ob  das  Gesetz  in  diesem  unzulässigen  Sinne  auszulegen 
ist,  kann  zweifelhaft  erscheinen.  Dafür  scheinen  die  Worte 
des  Gesetzes  zu  sprechen:  .  .  .  hac  sanctione  respiret,  quae  cum 
praeteritis  praesentia  quoque  depellit  et  futura  prohibet.  Soll 
dies  genau  genommen  werden,  so  bezieht  sich  das  futura  auf 
die  künftigen,  das  praesentia  auf  die  gegenwärtigen  Verträge, 
und  für  das  praeteritis  würden  dann  nur  Fälle  übrig  bleiben, 
wo  der  Zahltermin  schon  verstrichen  und  der  Eigentumsanfall 
also  schon  geschehen  war.  Allein  es  ist  fraglich,  ob  das  nicht 
überhaupt  bloß  als  phraseologischer  Redeluxus  zu  nehmen  ist. 
Hierauf  weist  hin,  daß  es  heißt :  Si  quis  tali  contractu  laborat, 
nicht  laboraverit ;  und  ferner,  daß  es  am  Schluß  heißt :  credi- 
tores  re  amissa  usw.,  während  in  jenem  Falle  nicht  mehr  bloß 
von  Gläubigern,  sondern  auch  von  Eigentümern  zu  sprechen  war. 

453 


Sklaven  durch  Ersitzung  erworben  werden  (s.  oben 
S.  147);  ebenso  kann,  unter  bestimmten  Bedingungen,  die 
Kindschaft  ersessen  werden  (vgl.  L.  14  de  probat,  et 
praes.  [22,  3].  —  L.  9  und  22  C.  de  nuptiis  [5,  4].  - 
L.  14  und  15  C.  de  probat.  [4,  19],  und  die  Vorschriften 
des  Code  civil  über  die  possession  d'etat,  Art.  197  und 
320fg.). 

Hierauf  beruht  es,  daß  jeder  durch  Willensaktion  ein- 
mal konstituierte  persönliche  Zustand  auch  prohibitiven 
Gesetzen  gegenüber  standhält,  wenn  diese  nur  den  be- 
stimmten Erwerb,  nicht  aber  das  Sein  des  Zustandes 
prohibieren.  Ist  also  die  Ehescheidung  einmal  eingetreten, 
so  wirkt  ein  nunmehr  erscheinendes  Gesetz,  welches  die 
Ehe  für  unauflöslich  erklärt,  auf  die  schon  Geschiedenen 
nicht  ein,  obwohl  es  das  Dasein  der  Rechte  betrifft 
und  also  da,  wo,  wie  unter  dem  Code  civil,  die  Schei- 
dung nicht  vom  Richter  selbst,  sondern  vom  Zivilstandes- 
beamten ausgesprochen  wird,  das  rechtskräftige,  aber  noch 
nicht  vollstreckte  Scheidungsurteil  allerdings  außer 
Kraft  setzen  würde.  Aber  der  Zustand  der  Ehelosigkeit 
ist  durch  dies  Gesetz  nicht  aboliert,  sondern  nur  ein  be- 
stimmter Wiedererwerb  desselben  durch  Verheiratete.  Der 
einmal  erzeugte  Besitz  dieses  Zustandes  bleibt  also, 
da  selbiger  noch  besessen  werden  kann,  von  dem  Prohibitiv- 
gesetz  unberührt. 

Hierauf  beruht  es  auch,  daß  ein  neues  Gesetz  über  den 
Beweis,  welchen  der  Ehemann  zur  Verleugnung  eines  in 
der  Ehe  geborenen  Kindes  seiner  Gattin  führen  muß,  zwar 
sofort  auf  die  vorhandenen  Kinder  einwirkt,  wenn  der  Be- 
weis durch  das  neue  Gesetz  erschwert  wird,  nicht  aber, 
wenn  er  durch  dasselbe  erleichtert  wird.  Wird  der  zu 
führende  Beweis  erschwert,  so  wird  der  Ehemann  nur  in 
einer  vom  Gesetz   ihm  eingeräumten   Befugnis   getroffen, 

454 


von  der  er  bis  dahin  keinen  Gebrauch  gemacht  hatte. 
Überdies  hat  ein  solches  Gesetz  einen  streng  zwingenden 
Charakter :  Verleugnung  des  in  der  Ehe  geborenen  Kindes 
soll  —  außer  in  den  noch  übrig  gelassen  Beweisfällen 
nicht  sein. 

Wird  dagegen  der  zur  Verleugnung  des  Kindes  erforder- 
liche Beweis  erleichtert,  so  scheint  zwar  zunächst  dasselbe 
eintreten  zu  müssen.  Auch  würde  man  sich  vergeblich  mit 
Merlin  (Rep.  de  Jurisp.  v°  Effet  Retroact.,  Sect.  3,  §  2, 
Art.  17,  T.  5,  p.  550)  auf  die  Regel :  Jura  sanguinis  nullo 
jure  civili  dirimi  possunt1)  dagegen  berufen.  Dieses  Argu- 
ment enthält  eine  petitio  principii,  da  ja  im  unterstellten 
Fall  der  Ehemann  das  Dasein  der  jura  sanguinis  eben  in 
Abrede  stellt  und  sie  erst  als  Resultat  des  nicht  erbrachten 
Beweises  hervorgehen  würden.  Wenn  also  dieser  Beweis 
gegen  die  Schwierigkeit,  welche  der  Grundsatz :  Pater  est 
quem  nuptiae  demonstrant,  zur  Folge  hat,  erleichtert  wird, 
so  scheint  es,  daß  schon  nach  der  Regel :  Fictio  fecit 
veritati,  auch  diese  Erleichterung  sofort  platzgreifen  müsse, 
zumal  es  sich  einerseits  um  eine  bloße  Beweisfrage  han- 
delt, andererseits  diese  Bestimmungen  in  Gründen  des 
öffentlichen  Interesses  wurzeln,  und  daher  zum  jus  publi- 
cum gehören. 

Allein,  wie  sich  aus  dem  Vorhergehenden  ergibt,  wäre 
diese  Folgerung  dennoch  sehr  irrig,  und  zwar  aus  fol- 
gendem Grunde.  Das  Kind  hat  sich  durch  Willensaktion 
—  v/elche  vermöge  der  Personenrepräsentation  in  der 
Handlung  der  Eltern  gegeben  ist  (s.  oben  §  2,  A.)  - 
den  Zustand  der  Kindschaft  als  seinen  Besitz  erzeugt,  und 
da  sich  das  neue  Gesetz  höchstens  nur  gegen  die  bestimmte 
Erwerbung,  nicht  gegen  das  Dasein  dieses  Zustandes  an 


r)  L.  8  de  reg.   juris  (50.   17). 

455 


sich  prohibitiv  verhalten  kann,  so  kann  es  auf  die  Fälle 
des  bereits  erlangten  Besitzes  dieses  Zustandes  nicht  ein- 
wirken, das  Kind  somit  denselben  nicht  anders  verlieren, 
als  unter  den  schon  bei  seiner  Erwerbung  vorbehalten  ge- 
wesenen Beweisbedingungen. 

Von  hier  aus  ergibt  sich  auch  erst  das  theoretische  Ver- 
ständnis vieler  römischen  Gesetze  der  Kaiserzeit,  die  sonst 
als  unregelmäßig  erscheinen  müßten,  jetzt  aber  wechsel- 
wirkend wieder  dazu  dienen,  das  Gesagte  zu  bestätigen.  So 
verordnet  z.  B.  Kaiser  Justinus  in  der  L.  7  C.  de  natural, 
liberis  et  matrib.  (5,  27),  indem  er  die  vorhergehende 
Lex  6  des  Kaisers  Anastasius  über  das  Erbrecht  der 
natürlichen  Kinder  aufhebt,  daß  in  bezug  auf  diejenigen 
Kinder,  welche  nach  oder  vor  jenem  Gesetz  des  Anastas 
einmal  durch  Arrogation  oder  Adoption  in  die  paterna 
sacra  aufgenommen  seien,  die  Adoption  oder  Arrogation 
mit  ihren  Wirkungen  bestehen  bleiben  solle  (firma  per- 
maneat).  „Sint  itaque  —  sagt  Justinus  — ■  post  eandem 
arrogationem  seu  adoptionem  sui  et  in  potestate  patrum, 
successionesque  tarn  ex  testamento  quam  ab  intestato  ca- 
piant,  prout  in  arrogatis  seu  adoptatis  constitutum  est." 
Von  jetzt  ab  aber  sollten  nur  die  in  legitimer  Ehe  erzeugten 
Kinder  erben  können,  und  der  Vorwand  der  Arrogation 
oder  Adoption  der  natürlichen  Kinder  nicht  mehr  zu- 
statten kommen. 

Da  dies  Gesetz  das  Erbrecht  betrifft,  so  könnte  man 
es  unregelmäßig  und  wider  die  Prinzipien  laufend  finden 
wollen,  daß  es  sich  nicht  auf  alle  bis  dahin  noch  nicht 
deferierten  Erbschaften  anwendet.  In  der  Tat  aber  würde 
dies  eine  große  Verkennung  der  Sache  in  sich  schließen. 
Das  Gesetz  handelt  nicht  über  das  Erbrecht  der  le- 
gitimen Kinder,  welches  stets  abgeändert  werden  kann, 
und   ebensowenig    über   das    der   natürlichen    Kinder   als 

456 


solcher.  Es  betrifft  vielmehr  die  Frage,  ob  unter  gewissen 
Umständen  die  natürlichen  Kinder  die  Qualität  von 
legitimen  erhalten  können.  Das  ihnen  nach  der  Ver- 
ordnung des  Anastas  zuerkannte  Erbrecht  war  nur  die  aus 
dieser  Qualität  der  sui  und  legitimi  hervorfließende  Folge 
derselben.  Insofern  nun  bereits  der  Anastasiani sehen  Ver- 
ordnung entsprechend  natürliche  Kinder  arrogiert  und  so 
zu  sui  gemacht  worden  waren,  hatten  sie  durch  diese  ein- 
mal eingetretene  Verbindung  ihrer  mit  der  Qualität  der 
Legimität  den  Besitz  an  dieser  Qualität  erlangt,  der 
ihnen  also  nicht  wieder  entzogen  werden  konnte.  —  Oder 
aber  man  könnte  sagen,  das  Gesetz  betrifft  eine  Frage  des 
Personenzustandes  —  ob  natürliches,  ob  legitimes 
Kind  —  und  muß  deshalb  sofort  auf  alle  Personen  zur 
Anwendung  kommen.  Aber  insofern  der  Personenzustand 
durch  das  Familienrecht  vermittelt  ist,  ist  er  infolge 
der  Personenidentität  nicht  eine  Befugnis,  sondern  ein 
durch  individuelle  Willensaktion  konstituiertes 
Rechtsverhältnis  (vgl.  §2,  A.). 

§  10.  Absolute  Gesetze.  Konvaleszenz  durch 
Fortfall  derselben.  Unterschied  von  mate- 
rieller wie  formeller  Prohibition.  Der  be- 
griffliche Unterschied  von  faktischer  und 
rechtlicher  Veränderung.  Unterschied  in  den 
Wirkungen.  Die  Ratihabition  und  die  Auf- 
lösung ihrer  sogenannten  Ausnahmen  in  den 
Unterschied   des   Begriffes. 

Wir  haben  in  den  vorhergehenden  Paragraphen  gesehen, 
inwiefern  durch  das  Eintreten  prohibitiver  Gesetze  die 
Wirksamkeit  ursprünglich  gültiger  individueller  Willens- 
aktionen auf  ihre  ihnen  von  vornherein  immanente  und  aus 

457 


dem  substantiellen  Wesen  des  Rechtes  folgende  ideelle 
Grenze  eingeschränkt  wird. 

Wir  haben  jetzt,  als  eine  Folge  derselben  Prinzipien 
und  gewissermaßen  als  die  begriffliche  Gegenprobe 
zu  der  Richtigkeit  derselben,  zu  zeigen,  ob  und  inwiefern 
auch  umgekehrt  durch  den  Fortfall  bestehender  Pro- 
hibitivgesetze  die  durch  dieselben  prohibierten  und  so- 
mit ursprünglich  nichtigen  Willenshandlungen  nachträglich 
konvaleszieren  können. 

Wir  haben  gesehen  (S.  443,  Note  1),  daß  der  gegen 
ein  Prohibitivgesetz  angehende  individuelle  Wille  unter 
keinen  Umständen  —  auch  nicht  als  bloß  konditioneller 
Wille  —  ein  rechtliches  Dasein  erlangen  kann,  sondern 
schlechterdings  als  bloß  faktischer  natürlicher  Wille  vor- 
handen ist.  Wenn  aber  dieser  natürliche  Wille  vom  In- 
dividuum so  lange  festgehalten  wird,  bis  das  Prohibitiv- 
gesetz verschwindet,  so  muß  nun,  da  das  einzige  ihm 
bisher  entgegenstehende  Hindernis  fortgefallen  ist, 
dieser  bis  dahin  bloß  faktische  Wille  von  jetzt  ab  auch 
rechtliches  Dasein  gewinnen,  d.h.  die  Handlung  kon- 
valesziert  nachträglich,  und  man  sieht,  wie  dies,  statt 
eine  Rückwirkung  und  also  eine  Verletzung  der  indivi- 
duellen Willensfreiheit  zu  sein,  vielmehr  gerade  auf  dem 
Begriff  der  individuellen  Willensfreiheit  be- 
ruht, welcher,  insofern  ihm  nicht  verbietende  Gesetze  ent- 
gegenstehen, die  unbedingte  Geltung  seines  Da- 
seins fordert. 

Es  folgt  übrigens  aus  der  angegebenen  Begriffsbestim- 
mung von  selbst,  daß  diese  nachträgliche  Konvaleszenz  nur 
bei  dem  Vorhandensein  von  folgenden  zwei  Bedingungen 
eintreten  kann : 

1.  wenn  das  bisherige  Prohibitivgesetz  den  Inhalt 
einer   Handlung,   nicht   ihre   Form,   betraf;    mit  anderen 

458 


Worten,  wenn  es  bisher  dem  Individuum  durch  die  Pro- 
hibition schlechthin  unmöglich  war,  einem  Willens- 
inhalt rechtliches  Dasein  zu  geben;  nicht  wenn  sich  die 
Prohibition  nur  auf  gewisse  Formen  der  Handlung  bezog 
und  andere  Formen,  um  denselben  Willensinhalt  zu  er- 
reichen, übrig  ließ ; 

2.  muß,  wie  bereits  bemerkt,  der  Wille  ein  fortgesetzter 
und  bis  in  den  neuen  Zustand  hineindauernder 
sein.  Er  darf  also  nicht  in  einer  bloß  einmaligen  Hand- 
lung vorübergehend  zutage  getreten  sein. 

Die  Gründe  dieser  beiden  Bedingungen  wurzeln  im 
Begriff  der  Sache  selbst  und  stellen  nur  seine  Entwicke- 
lung  dar. 

Wenn  nicht  der  Inhalt  der  Handlung  ein  verbotener 
war,  wenn  sich  die  Prohibition  oder  zwingende  gesetzliche 
Vorschrift  nur  auf  die  Form  bezog,  und  es  also  dem  In- 
dividuum schon  zur  Zeit  des  prohibitiven  Gesetzes 
freigestanden  hätte,  durch  eine  andere  Form  dem  Inhalt 
der  Handlung  rechtliche  Wirklichkeit  zu  geben,  so  kann, 
da  das  Individuum  dies  freiwillig  unterließ,  gar  nicht  ein 
echter  bindender  Wille  bei  ihm  präsumiert  werden.  Es 
muß  vielmehr  angenommen  werden,  das  Individuum  habe 
nur  seinen  naturalen,  nicht  seinen  zivilen  Willen 
engagieren  wollen.  Da  es  eine  vollständige  Rückwirkung 
darstellen  würde,  wenn  dem  Individuum  nachträglich  eine 
Verpflichtung  des  bloß  natürlichen  Willens  in  eine 
solche  des  zivilen,  zwingenden  Willens  umgewan- 
delt wird  (s.  S.  230fg.),  so  bleibt  das  Individuum,  welches 
auch  unter  der  Herrschaft  des  prohibitiven  Formgesetzes 
seinen  Willen  ziviliter  hätte  binden  können  und  dies  nicht 
gewollt  hat,  ebendeshalb  auch  nach  Fortfall  desselben  zi- 
viliter ungebunden.  Und  man  sieht,  wie  in  streng  geschlos- 
sener systematischer  Bestätigung  unserer  Theorie  dieselben 

459 


formellen  Prohibitivgesetze  durch  ihre  Aufhebung  keine 
Konvaleszenz  hervorbringen  können,  die  wir  auch  in 
§  7  als  jene  zweite  Klasse  von  Prohibitivgesetzen  kennen 
gelernt  haben  (S.  383 fg.),  die  durch  ihr  Eintreten  keine 
abrogierende  Einwirkung  hervorbringen  können. 

Einige  Beispiele  mögen  zuvörderst  das  bisher  Gesagte 
teils  klarer  machen,  teils  seine  empirische  Anerkennung 
nachweisen.  Und  zwar  wollen  wir  hierbei  zunächst  von 
den  jedenfalls  —  wir  werden  bald  sehen,  warum  —  weit 
schwächeren  konvaleszierenden  Wirkungen  ausgehen, 
welche  der  faktische  Fortfall  von  prohibitiven  Um- 
ständen auf  frühere  Handlungen  nach  römischem  Rechte 
nach  sich  zog. 

Wenn  der  eine  Ehegatte  noch  unmündig  war,  oder  wenn 
ein  Senator  eine  Freigelassene,  oder  ein  Provinzialbeamter 
eine  Provinzialin  zur  Frau  nahm,  so  war  eine  solche  Ehe 
nichtig.  Aber  wenn  der  Ehegatte  die  Pubertät  erreichte, 
der  Senator  seine  Würde  verlor,  der  Provinzialbeamte  sein 
Amt  niederlegte,  so  konvaleszierte1)  in  allen  diesen  Fällen 
von  jetzt  ab  die  richtige  Ehe2).  Es  muß  aber  ausdrück- 
lich bemerkt  werdenden,  wie  die  römischen  Juristen  be- 
sonders hervorheben,  es  müsse  zu  diesem  Zweck  der 
Wille  —  im  gegebenen  Falle  also  der  eheliche  Zustand  — 
bis  nach  dem  Eintritt  des  neuen  Ereignisses  fort- 
gedauert haben.  So  Pomponius  in  der  L.  4  ausdrück- 
lich :  Minorem  annis  duodecim  nuptam  tunc  legitimam 
uxorem  fore,  quum  apud  virum  explesset  duodecim  annos. 
Ebenso  Paulus  in  der  L.  65 :  ...  tarnen  post  depositum 
officium,  st  in  eadem  voluntate  perseverat,  justas  nuptias 


!)  L.   4;   L.   27;   L.   65,  §   1,  de  ritu  nupt.   (23,   2). 

2)  Wie  wiederum  umgekehrt  die  von  Haus  aus  gültig  ge- 
schlossene Ehe  bekanntlich  vernichtet  wurde,  wenn  der  eine 
Ehegatte  später   Zivität   oder   Freiheit   verlor. 

460 


effici  etc.  Und  ebenso  ist  die  Bedingung  des  Pomponius 
offenbar  auch  der  Stelle  des  Ulpianus  (L.  27)  hinzu- 
zudenken. 

Hier  treffen  also  beide  obige  Bedingungen  der  Kon- 
valeszenz zusammen :  der  Wille  ist  festgehalten  worden 
bis  in  den  neuen  von  dem  prohibitiven  Hindernis  befreiten 
Zustand  hinein,  und  das  Prohibitivgesetz  war  auch  kein 
bloß  formelles,  nur  eine  bestimmte  Form  für  die 
Handlung  verbietendes  oder  vorschreibendes,  sondern  ein 
diese  selbst  materiell  untersagendes1).  Ob  aber  das  pro- 
hibitive  Hindernis  dadurch  fortfiel,  daß  der  Senator  aus 
dem  Senat  gestoßen  wurde  oder  daß  ein  neues  Gesetz  den 
Senatoren  die  Ehen  mit  Freigelassenen  gestattet,  ist  offen- 
bar zunächst  gleichgültig.  Die  letztere  Änderung  muß 
aber  vielmehr  nur  noch  stärkere  Wirkungen  haben. 

Es  ist  von  höchstem  Interesse,  sich  den  begrifflichen 
Grund  und  den  dadurch  bestimmten  Umfang  dieser 
stärkern  Wirkung  klarzumachen.  Hier  werden  wir  denn 
also  den  schon  in  §  7  versprochenen  Begriffsunter- 
schied zwischen  faktischer  und  rechtlicher  Ver- 
änderung entwickeln  müssen. 

Wenn  die  Ehe  dadurch  gültig  geworden  ist,  daß  der 

1)  Auch  Justinian  verfuhr  in  dem  von  uns  entwickelten  Sinne. 
Als  er  z.  B.  durch  Novelle  117  (Kap.  6  usw.)  die  Verordnung 
Konstantins  über  Eheverbote  zwischen  gewissen  Würdenträgern 
und  gewissen  Klassen  von  Frauenzimmern  aufhob,  verordnet 
er  im  Epilog :  Quae  igitur  praesente  hac  et  in  perpetuum 
valitura  lege  serenitas  nostra  definit,  in  Omnibus  praedictis 
casibus  obtinere  volumus,  nisi  forte  aut  sententia  judiciali,  aut 
amica  conventione  decisa  sint,  quae  suum  robur  habere  sanci- 
mus.  Es  sollten  also  die  zur  Zeit  ihrer  Schließung  nichtigen 
Ehen  durch  den  Fortfall  des  Konstantinischcn  Prohibitivgesetzes 
konvaleszieren,  wenn  sie  nur  nach  der  Novelle  Justinians  gültig 
waren. 

461 


Senator  aus  dem  Senat  gestoßen  wurde,  so  hat  sich  in 
der  Anschauung  des  bestehenden  Rechtsbewußtseins 
nichts  geändert.  Die  Prohibition  wurde  dadurch  beseitigt, 
daß  von  jetzt  ab  ein  Individuum  statt  in  die  eine  bestimmte 
Klasse  der  bestehenden  Ehegesetze  in  eine  andere  be- 
stimmte Klasse  der  bestehenden  Ehegesetze  zu  subsumieren 
ist.  Während  also  das  allgemeine  Rechtsbewußt- 
sein mit  sich  durchaus  identisch  blieb,  trat  nur  eine 
faktische  Änderung  seitens  des  Individuums  ein,  infolge 
deren  das  Hindernis  von  jetzt  ab  nicht  mehr  für  es  vor- 
handen ist.  Dies  hat  daher  zur  notwendigen  Folge,  daß 
die  Handlung,  wenn  zu  ihrer  gültigen  Vollbringung  keine 
besondere  Form  erforderlich  ist,  sondern  der  form- 
lose Wille  genügt  (wie  dies  bei  der  nach  römischem 
Recht  sola  affectione  gültig  geschlossenen  tlhe  der  Fall 
ist),  erst  von  jetzt  ab  gültig  wird,  konvalesziert. 
Mit  andern  Worten :  Die  vorher,  in  der  Zeit  der  bestehen- 
den Prohibition  bereits  erzeugten  Kinder  bleiben  illegi- 
tim, und  dies  wird  in  sämtlichen  oben  angeführten 
Pandektenstellen  teils  vorausgesetzt,  teils  ausdrücklich  ent- 
schieden. 

Wenn  aber,  wie  z.  B.  in  dem  bald  anzuführenden 
preußischen  Gesetze,  die  Änderung  nicht  darin  besteht, 
daß  ein  Individuum  jetzt  unter  ein  anderes  der  bereits 
bestehenden  Gesetze  zu  subsumieren  ist,  sondern  das  pro- 
hibierende Gesetz  selbst  aufgehoben  wurde,  so  ist  hier 
eine  Änderung  im  allgemeinen  Rechtsbewußtsein 
selbst   eingetreten. 

Jede  Handlung  aber,  die  nach  der  vorhandenen 
Rechtsidee  nicht  zu  verbieten  ist,  muß  vom  Standpunkt 
dieser  letzteren  aus  als  eine  der  Domäne  der  indi- 
viduellen Willensfreiheit  durch  sich  selbst  zustehende  be- 
trachtet werden.    Indem  nun  durch  den  Inhalt  des  gegen- 

462 


vvärtigen  Rechtsbewußtseins  die  Prohibition  aufgehoben 
ist,  erscheint  dieselbe  jetzt  als  ein  Eingriff  in  das  Gebiet 
der  an  sich  seienden  Berechtigung  der  individuellen 
Willensfreiheit  oder  als  eine  Verkennung  derselben. 
Sie  erscheint  notwendig  so,  denn  sie  war  eine  Nicht- 
anerkennung dessen,  was  das  jetzige  Bewußtsein  als  schon 
an  sich  vorhanden  anerkennt  und  dadurch  jetzt  zu 
einem  an  und  für  sich  seienden  macht1). 

Das  neue,  gegenwärtige  Rechtsbewußtsein  schaut  also 
die  früher  prohibierte  Handlung  als  eine  schon  von  Haus 
aus  an  sich  gültige  und  berechtigte  an,  aber  auch  nur 
als  eine  an  sich  berechtigte.  Hierin  liegt  ein  Gedoppeltes. 
Das  Recht  ist  nicht  ein  Reich  des  Ansichseins,  son- 
dern des  Fürsichseins  oder  der  Wirklichkeit.  In  ihm 
kann  also  nur  gelten,  was  bereits  durch  das  allgemeine 
Bewußtsein  als  geltend  anerkannt  worden  ist.  Wirk- 
lich geworden  ist  aber  jene  schon  ab  initio  an  sich  vor- 


x)  Was  nicht  verboten .  ist,  ist  erlaubt,  ist  ein  Satz,  der 
naturrechtliche  Gültigkeit  haben  soll.  —  Die  Aufhebung 
einer  inhaltlichen  Prohibition  kann  niemals  die  Bedeu- 
tung eines  rein  positiven  Gesetzes  haben.  Die  Aufhebung 
der  Prohibition  durch  das  sie  aufhebende  Rechtsbewußtsein 
hat  also  die  Bedeutung,  nur  die  Verwirklichung,  d.h.  die 
Anerkennung  eines  schon  an  sich  Vorhandenen  zu  sein. 
In  diesem  An  sich  liegt  die  Notwendigkeit,  warum  das  neue 
Rechtsbewußtsein  die  früher  prohibitive  Handlung  (es  ist  hier 
überall  nur  von  Prohibitivgesetzen  die  Rede,  welche  den  I  n  - 
halt,  nicht  die  bloße  Form  einer  Handlung  betreffen)  als 
eine  schon  ursprünglich  an  sich  gültige  anerkennt.  Denn 
alles  im  Geiste  als  an  sich  seiend  Anerkannte  wird  als  ein 
der  Substanz  nach  von  Ewigkeit  her  so  Vorhandenes 
aufgefaßt.  Die  Geschichte,  und  auch  das  geschichtliche  Recht. 
ist  nur  Verwirklichung  des  in  der  menschlichen  Natur  an 
sich  oder  der   Anlage  nach   von   jeher  Vorhandenen. 

403 


handene  Berechtigung  der  Handlung  erst  durch  das  die- 
selbe anerkennende  neue  Gesetz,  welches  die  frühere 
Prohibition  aufhob1).  Die  Sache  steht  jetzt,  in  ihrer  voll- 
ständigen Bestimmtheit  genommen,  also :  Diese  Ehe  ist 
eine  von  Anfang  an  an  sich  gültige,  deren  ursprünglich 
nur  an  sich  seiende  und  darum  nicht  rechtlich-wirkliche 
Gültigkeit  jetzt  auch  anerkannt  und  wirklich  ge- 
worden ist.  Von  dieser  Wirklichwerdung  ab 
müssen  somit  nun  alle  Folgen  einer  von  Anfang 
an  an  sich  gültigen  Ehe  an  ihr  hervortreten. 
Alle  Wirkungen  einer  schon  ursprünglich  gültigen  Ehe 
müssen  von  jetzt  ab,  wo  die  Anerkennung  der  Gültig- 
keit dieser  Ehe  durch  das  allgemeine  Rechtsbewußtsein 
eingetreten  ist  und  ihr  hierdurch  auch  rechtliche  Wirk- 
lichkeit gegeben  hat,  an  ihr  wirklich  sein  und  anerkannt 
werden.  D.h.  also:  von  jetzt  ab  müssen  die  während 
der  Prohibition  erzeugten  Kinder  als  legitime  an- 
gesehen werden  und  in  bezug  auf  alle  von  jetzt  ab 
noch  eintretenden  rechtlichen  Wirkungen  dieses  Verhält- 
nisses mit  dieser  Qualität  bekleidet  sein.  —  Und  in  der 
Tat  wurde  durch  das  bald  anzuführende  preußische  Gesetz 
vom  27.  Februar  1816  verordnet,  daß  alle  die  während 
der  Prohibition  in  den  betreffenden  Ehen  erzielten  Kinder 
„als  rechtmäßig  eheliche  Kinder  angesehen 
werden"  sollen. 

Aber  wir  sagten  bereits,  daß  durch  diese  Auffassung 


*)  Die  obige  Erörterung  (vgl.  die  vorige  Note)  stellt  den 
wahrhaften  Punkt  dar,  von  welchem  aus  allein  das  Verhältnis 
des  Naturrechtes  zum  historischen  oder  wirklichen  Rechte  zu 
begreifen  ist.  Letzteres  bildet  nur  die  prozessierende  Ver- 
wirklichung des  ersteren  als  seines  An  sich,  ein  Ansich  des 
logischen  Begriffes,  das  aber  erst  durch  das  Sicherfassen  des 
historischen  Geistes  als  Recht  wirklich  wird. 

464 


der  betreffenden  Ehen  in  ihrer  Bestimmtheit,  als  schon 
ursprünglich  an  sich  gültige,  aber  nur  an  sich  gültige 
Ehen,   ein  Gedoppeltes  gegeben  sei. 

Das  neue  Rechtsbewußtsein  kann  nicht  verkennen,  daß, 
wenn  es  auch  diese  Ehe  als  ab  initio  an  sich  gültig  an- 
erkennt, diese  Gültigkeit  doch  damals,  während  des  ihr 
entgegenstehenden  prohibitiven  allgemeinen  Rechtsbewußt- 
seins, eben  nur  an  sich  vorhanden  war,  aber  keine 
rechtliche  Wirklichkeit  hatte.  Vielmehr  kann  die 
Ehe  infolge  der  rechtlichen  Natur  des  Prohibitivgesetzes 
(s.  S.  443,  Note  1)  während  der  Dauer  desselben 
keinerlei  (auch  nicht  einmal  ein  bedingtes)  rechtliches 
Dasein  gehabt  haben,  ein  Boden,  von  welchem  sie  viel- 
mehr, wie  in  der  angeführten  Note  gezeigt  ist,  schlechthin 
durch  die  Natur  der  Rechtssubstanz  ausgeschlossen  war. 
Für  jene  Zeit  der  Prohibition  kann  sie  daher  auch  durch 
das  neue  Rechtsbewußtsein  keine  rechtliche  Wirk- 
keit  bekommen.  Dies  wäre  eine  begrifflich  unmögliche, 
widerrechtliche  Rückwirkung.  In  bezug  auf  die  Zeit  der 
Prohibition  ist  auch  für  diese  Ehe  nichts  dadurch  ge- 
wonnen, daß  sie  jetzt  durch  das  gegenwärtige  Rechts - 
bewußtsein  als  schon  damals  an  sich  gültig  angeschaut 
wird.  Denn  indem  diesem  „Ansich"  damals  das  all- 
gemeine Bewußtsein  entgegenstand,  das  Recht  aber 
nur  als  das  Reich  des  Wirklichen,  vom  allgemeinen 
Bewußtsein  Anerkannten,  festgehalten  werden  muß,  so 
gelangt  man  immer  nur  zu  dem  Resultat,  daß  auch  vom 
Standpunkt  des  gegenwärtigen  Rechtsbewußtseins  aus 
die  Ehe  während  der  früheren  Zeit  um  der  ausschließen- 
den Natur  des  damaligen  prohibitiven  Bewußtseins  willen 
kein  rechtliches  Dasein  gehabt  hat.  Die  erzeugten  Kinder 
sind  und  bleiben  also,  in  bezug  auf  die  Zeit  der  Dauer 
des  Prohibitivgesetzes  und  die  innerhalb  dieser  Zeit  ein- 

30   Lassalle.  Ges.  Schriften.  Band  IX  465 


getretenen  rechtlichen  Folgen  und  Wirkungen,  schlech- 
terdings illegitim.  Das  neue  Rechtsbewußtsein  kann 
sie  auch  gar  nicht  mit  Beziehung  auf  jenen  Zeitraum  an- 
erkennen (etwa  durch  gesetzgeberischen  Akt),  denn  es 
ist  eine  logische  Unmöglichkeit,  nachträglich  zu  be- 
wirken, daß  etwas,  trotz  aller  jetzigen  Anerkennung  seiner 
früher  an  sich  seienden  Gültigkeit,  in  einer  Zeit  schon 
rechtliche  Wirklichkeit  gehabt  habe,  in  welcher  es 
von  dieser  vielmehr  durch  die  Natur  der  Rechtssubstanz, 
den  Inhalt  des  allgemeinen  Bewußtseins,  direkt  aus- 
geschlossen war.  —  Es  wird  also  z.  B.  in  bezug  auf  die 
während  der  Herrschaft  des  aufgehobenen  Prohibitiv- 
gesetzes  bereits  eingetretenen  großelterlichen  oder  anderen 
Erbschaften,  insofern  seitens  der  betreffenden  Kinder  ehe- 
liche Geburt  zur  Erwerbung  der  Erbschaft  erforderlich 
war,  nichts  an  der  Erbunfähigkeit  derselben  geändert,  auch 
nicht,  wenn  der  Fortfall  des  Prohibitivgesetzes  und  somit 
der  Charakter  der  Legitimität  ab  nunc,  noch  während  Pro- 
zesse über  jene  Erbschaften  schweben,  eintritt,  oder  wenn 
er  sogar  vor  jeder  Antretung  der  Erbschaften  eintritt,  da, 
wo  diese  ipso  jure  durch  die  Delation  erworben  werden. 
Dieselben  können  vielmehr  nur  den  zur  Zeit  des  Erb- 
schaftsanfalls Erbberechtigten  anerf allen  bleiben. 

In  der  vorstehenden  Erörterung  erst  sind  wir  dazu  ge- 
langt, allmählich  nun  auch  den  wahrhaft  spekulativen  Be- 
griff in  seiner  innersten  Tiefe  entwickelt  zu  haben,  auf 
welchem  sowohl  die  im  §  7  nachgewiesene  abrogierende 
Wirkung  des  Eintretens  von  Prohibitivgesetzen  auf  frühere 
Verträge,  als  die  im  gegenwärtigen  Paragraphen  entwickelte 
Konvaleszenz  bei  dem  Fortfall  von  Prohibitivgesetzen  be- 
ruhen. Beide  Wirkungen  sind  zunächst  rein  entgegen- 
gesetzte und  beide  beruhen  gleichwohl  auf  dem  gemein- 
schaftlichen und  echt  spekulativen  Begriff  des  Geistes, 

466 


daß  ein  an  sich  Vorhandenes  jetzt  auch  in  die  Wirk- 
lichkeit tritt. 

Dort,  bei  dem  Eintreten  neuer  Prohibitivgesetze,  tritt 
eine  an  sich  seiende  Grenze,  hier,  bei  dem  Fortfall 
derselben,  eine  an  sich  seiende  Berechtigung  in 
die  Wirklichkeit  über.  Weil  der  Geist  dies  sein 
Setzen  nicht  als  willkürliches  oder  zufälliges, 
sondern  nur  als  Heraussetzen  eines  schon  an  sich  in 
ihm  vorhandenen  substantiellen  Wesens  auf- 
faßt, dies  Wesen  somit  als  sein  eigenes  Ansich  auch 
in  alle  seine  geistigen  Handlungen  an  sich  schon  über- 
gegangen war  und  in  ihnen  enthalten  ist,  tritt  bei  der  Wirk- 
lich werdung  dieses  Ansich,  auch  in  seinen  früheren 
Handlungen  diese  Wirklichwerdung  von  jetzt  ab 
ein,  d.h.  die  Wirkung  des  neuen  Gesetzes  ab  nunc  tritt 
an  ihnen  hervor1).  —  Weil  sie  aber  erst  von  jetzt  ab 


*)  Hier  zeigt  sich  also  der  wahre  Gedanke  der  subtilis  divisio 
(der  Veränderung)  juris  et  facti,  wie  sich  Justinian  (L.  25  C. 
de  donationibus  inter  etc.  5,  16)  einmal  ausdrückt.  Bei  der 
faktischen  Veränderung  tritt  eine  Geltung  ein,  die  früher 
nicht  schon  an  sich  vorhanden  war,  vielmehr  nur  durch 
zufälligen  Wechsel  in  den  Verhältnissen  eines  Individuums 
hervorgebracht  wird,  eine  bloß  gesetzte,  nicht  (aus  dem  Wesen 
des  Geistes)  herausgesetzte  Veränderung.  Einerseits  hat 
dies,  da  jetzt  immerhin  das  Individuum  unter  die  Herrschaft 
eines  anderen  Gesetzes  tritt,  mit  der  Rechtsveränderung  das 
Gemeinsame,  daß  auch  die  frühere  Handlung,  aber  nur  dann 
von  jetzt  ab  konvalesziert,  wenn  für  das  gültige  Dasein 
derselben  vom  Gesetze  nichts  anderes  als  ein  bloß  form- 
loser Wille  gefordert  wird  (wie  also  bei  der  römischen  Ehe, 
oder,  wie  wir  bald  an  einem  anderen  Beispiel  zeigen  werden, 
bei  dem  römischen  Fideikommiß,  wenn  der  Wille  zu  diesen 
Handlungen  noch  jetzt  vorhanden  ist,  so  daß  man  also  hier  dies 
so  darstellen  kann,  als  entstünde  jetzt  erst  eine  neue  Ehe, 
ein  neues  Fideikommiß);  andererseits  hat  diese  faktische  Wer- 

30«  407 


hervortritt  und  das  Recht  als  solches  nicht  das  Reich  des 
Ansich,  sondern  des  im  allgemeinen  Bewußtsein  Wirk- 
lichen, Geltenden  ist,  so  müssen  die  während  des  bloßen 
Ansichseins  der  neuen  Bestimmungen  bereits  voll- 
endeten Wirkungen  dieser  Handlungen  auch  durch  das 
damals  Wirkliche,  also  das  frühere  Recht,  bestimmt 
bleiben. 

Von  hier  aus  ist  erst  in  ihrem  letzten  Grunde  die  ganze 
Notwendigkeit  ersichtlich,  vermöge  welcher  die  vor  dem 
Zinsmaximumgesetz  erfallenen  Zinsen  noch  weiter  einklag- 
bar1), das  von  dem  Sklaven  vor  Aufhebung  der  Sklaverei 
Erworbene  Eigentum  des  Herrn,  wie  andererseits  die  vor 
der  Aufhebung  des  prohibitiven  Ehegesetzes  erzeugten 
Kinder  in  bezug  auf  die  bis  dahin  anerfallenen  Erbschaften 
illegitim  bleiben. 

Um  nun  ferner  zuvörderst  noch  einige  Beispiele  von 
Konvaleszenz  durch  faktische  Änderung  im  römischen 
Recht  zu  bringen,  so  ist  daran  zu  erinnern,  daß,  wenn  ein 
in  väterlicher  Gewalt  befindlicher  Sohn,  ein  Deportierter 
oder  ein  Sklave,  welche  alle  drei  zu  jeder  letztwilligen 
Verfügung  unfähig,  ein  Fideikommiß  (im  römischen  Sinne) 
bestellt,  dann  aber  emanzipiert,  in  die  Zivität  restituiert 


änderung  von  der  Rechtsveränderung  das  Unterscheidende,  daß 
bei  ihr  die  Wirkungen  der  früher  bereits  entstandenen  Tat- 
sachen nicht  nur  für  die  Vergangenheit  bestehen  bleiben, 
sondern  auch  von  jetzt  ab  weiter  fortdauern,  also  z.  B.  die 
bis  jetzt  erzeugten  Kinder  illegitim  bleiben,  oder  ein  Te- 
stament, das  während  einer  faktisch  (durch  wiedererlangte 
Vernunft,  Aufhebung  der  Deportation,  Freilassung)  beseitigten 
Unfähigkeit  errichtet  würde,  auch  nach  der  erlangten  Fähig- 
keit ungültig  bleibt.  (Vgl.  Anwendungen,  wo  der  Unterschied 
zwischen  der  rechtlichen  und  faktischen  Veränderung  weiter 
untersucht  werden  wird.) 
x)  Vgl.  oben  S.  410  fg. 

468 


oder  freigelassen  wird,  das  Fideikommiß  konvalesziert1)  ; 
und  natürlich  würde  ein  die  Unfähigkeit  aufhebendes 
Gesetz  mindestens  ebenso  große  Wirkung  haben, 
wie  die  Beseitigung  derselben  durch  Herstellung  der  Zivi- 
tät  oder  Freilassung.  Selbstredend  wird  hier  von  Ulpian 
die  Bedingung  wiederholt,  der  auf  das  Fideikommiß  ge- 
richtete Wille  müsse  bis  in  den  neuen  von  der  Prohibition 
freien  Zustand  fortgedauert  haben:  videlicet  si  duraverlt 
voluntas  post  manumissionem  . . .  si  modo  in  eadem  volun- 
tate  duravlt. 

Teilweise  bestätigend,  teilweise  aber  auch  abweichend, 
scheint  sich  zu  dem  Vorigen  das  preußische  Gesetz  vom 
27.  Februar  1816  zu  verhalten.  Durch  dasselbe  wurde 
verordnet,  daß  die  in  Rheinland  wie  in  Westfalen  während 
der  Fremdherrschaft  durch  priesterliche  Trauung  voll- 
zogenen Ehen  gültig  sein  und  die  daraus  erzeugten  Kinder 
als  eheliche  angesehen  werden  sollen,  wenn  auch  die  von 
dem  französischen  Gesetzbuch  unter  Strafe  der  Nichtig- 
keit für  Eheschließung  vorgeschriebenen  zivilrechtlichen 
Formen  nicht  beobachtet  worden  seien. 

Wenn  also  hier,  zumal  in  bezug  auf  Westfalen,  wo  be- 
kanntlich das  preußische  Landrecht  wieder  eingeführt  wor- 
den war,  eine  Konvaleszenz  im  obigen  Sinne  vorliegt,  so 
scheint  insoweit  eine  Abweichung  von  dem  von  uns  Ge- 
sagten stattzufinden,  als  es  den  betreffenden  Parteien  doch 
auch  unter  der  Herrschaft  des  Code  civil  freigestanden 
hatte,  mit  Beobachtung  der  daselbst  vorgeschriebenen 
Formen  eine  gültige  Ehe  zu  schließen,  also  diese  zwingen- 
den und  respektive  prohibitiven  Bestimmungen  nur  das 
Formelle  von  Handlungen  betrafen.  Allein  die  Auf- 
fassung des  preußischen  Gesetzgebers,  die  ihn  zu  dem  in 


x)  L.   1,  §  1  und  5,  de  lcgat  et  fideicomm.  (32). 

469 


Rede  stehenden  Gesetz  veranlaßte,  war  offenbar  die,  daß 
religiöse  Gewissensskrupel  die  Parteien  an  einer  Ehe- 
schließung vor  dem  Zivilstandesbeamten  hätten  verhindern 
und  ihnen  so  die  gesetzliche  Eheschließung  überhaupt, 
wenn  auch  aus  Gewissensgründen,  unmöglich  machen 
können. 

War  dies  die  dem  Gesetze  zugrunde  liegende  Auf- 
fassung, so  gehört,  gleichviel  ob  man  diese  Auffassung  in 
sich  selbst  billigt  oder  verwerflich  findet,  das  Gesetz  zur 
Klasse  derer,  welche  eine  materielle,  den  Individuen 
nicht  vermeidliche  Prohibition  aufzuheben  beabsich- 
tigen. 

Leuchtet  dies  ein,  so  wird  jetzt  klar  sein,  wie  dies  Ge- 
setz unserer  vorhergehenden  Erörterung  entspricht  und  die 
über  die  Konvaleszenz  aus  faktischer  Veränderung  in  den 
obigen  Fällen  des  römischen  Rechtes  hinausgehende  stär- 
kere Wirkung  der  Rechtsveränderung  aufzeigt,  welche  wir 
als  dieser  begrifflich  zukommend  nachgewiesen  haben. 
Denn  während  nach  römischem  Recht  die  Ehe  durch  die 
bloße  auf  wahre  Ehe  gerichtete  Absicht  geschlossen  wurde, 
und  man  daher  die  faktische  Konvaleszenz  so  darzustellen 
suchen  kann,  daß  erst  jetzt  durch  Festhaltung  des  form- 
losen Willens  die  Ehe  geschlossen  wird,  verhält  sich  die 
Sache  jedenfalls  anders  in  dem  betrachteten  Falle  des  preu- 
ßischen Rechtes.  Da  nach  diesem  Ehe  nur  unter  be- 
stimmten Formen  geschlossen  werden  kann,  die  geschlos- 
senen Ehen  aber  ohne  weiteres  für  gültig  erklärt  wurden, 
so  ist  hier  nicht  jetzt  eine  neue  Ehe  entstanden,  was  in 
formloser  Weise  nicht  geschehen  konnte,  sondern  es  kon- 
valeszierte  jetzt  die  frühere,  und  zwar  ihrerzeit  un- 
gültige Eheschließung.  Da  dieselbe  jetzt  durch  den 
Rechtswechsel  als  schon  zur  Zeit  ihrer  Schließung  an 
sich  gültig  angeschaut  wurde,  so  sollte  diese  an  sich  vor- 

470 


handene  Gültigkeit  jetzt  auch  an  ihr  als  wirklich 
hervortreten.  In  dem  preußischen  Gesetz  tritt  also  bei 
genauer  Betrachtung,  auch  schon  in  bezug  auf  die  Gültig- 
keit jener  Ehen,  dieselbe  stärkere,  dem  Rechts - 
Wechsel  entsprechende  Wirkung  ein,  die  wir  ihm  in 
bezug  auf  die  Legitimität  der  Kinder  nachgewiesen 
haben1). 

Endlich  ist  noch  ein  letzter  Unterschied  zwischen  der 
durch  faktische  und  durch  Rechtsveränderung  herbei- 
geführten Konvaleszenz  hervorzuheben,  der  ebenso  theo- 
retisch wie  praktisch  von  nicht  geringer  Wichtigkeit  ist. 

Wir  sagten  oben,  daß  zur  Konvaleszenz  der  individuelle 
Wille  ein  fortgesetzter,  bis  in  den  neuen  Zustand  hinein  - 
dauernder  gewesen  sein  müsse,  nicht  also  bloß  in  einer 
einmaligen  Handlung  vorübergehend  zutage  getreten  sein 
dürfe.  Dies  gilt  jedoch  in  diesem  Umfange  nur  bei  der 
durch  faktische  Beseitigung  der  (materiellen)  Prohibition 
eintretenden  Konvaleszenz,  und  wir  werden  nunmehr  sehen, 
welche  begriffliche  Modifikation  auch  dieser  Punkt  bei 
der   durch    Rechtsveränderung   herbeigeführten   empfängt. 

Wir  haben  oben  (S.  460,  469)  gesehen,  wie  nach  den 
römischen  Juristen  der  auf  die  Ehe  oder  das  Fideikommiß 
gerichtete  Wille  bis  nach  dem  Eintritt  des  neuen  die 
Prohibition  beseitigenden  Ereignisses  fortgedauert  haben 
muß.  Es  ist  dies  scharf  zu  verstehen,  so  daß  es  nicht  hin- 
reicht, wenn  der  Wille  bloß  bis  zum  Moment  dieses 


*)  Der  §  1  dieses  Gesetzes  lautet:  „Alle  in  den  gedachten 
Provinzen  abgeschlossene  und  durch  pnesterliche  Einsegnung 
vollzogene  Ehen  sollen  als  gültig  und  die  darin  erzielten  Kinder 
als  rechtmäßig  eheliche  Kinder  angesehen  werden,  wenngleich 
die  in  dem  französischen  Gesetzbuche  bei  Strafe  der  Nichtig- 
keit vorgeschriebenen  Förmlichkeiten  dabei  nicht  berücksichtigt 
sind." 

1,1 


Ereignisses  gedauert  hat,  er  muß  auch  noch  nach  dem- 
selben vorhanden  gewesen  sein.  Schon  die  Worte  der 
römischen  Juristen  lassen  keinen  Zweifel  hierüber.  Drückt 
sich  Pomponius  ungenauer  darüber  aus :  quum  apud  vlrum 
explesset  etc.,  so  spricht  Paulus  ganz  bestimmt,  die  Se- 
natorenehre sei  gültig  post  depositum  officium,  wenn  der 
Mann  in  eadem  voluntate  perseverat  (also  von  jetzt  ab), 
und  ebenso  ausdrücklich  sagt  Ulpian,  das  Fideikommiß 
sei  gültig,  si  duraverit  voluntas  post  manumissionem. 

Auch  ist  der  Grund  hiervon  sehr  einleuchtend.  Da  bei 
der  durch  nur  faktische  Veränderung  beseitigten  Prohi- 
bition die  während  der  Dauer  derselben  vollbrachte  Hand- 
lung auch  nicht  als  an  sich  gültig  von  dem  Rechtsbewußt- 
sein angeschaut  wird,  so  ist  i  m  Augenblick  der  Prohi- 
bitionsbeseitigung noch  nichts  an  sich  Seiendes  vorhanden, 
was  in  diesem  ideellen  Zeitmoment  in  Wirklichkeit 
übergehen  könnte.  Die  Gültigkeit  der  Handlung  kann  so- 
mit überhaupt  erst  dadurch  entstehen,  daß  auch  noch  jetzt 
nach  der  Beseitigung  der  Prohibition  der  auf  die  Ehe 
usw.  gerichtete  Wille  da  ist. 

Infolgedessen  haben  andere  Gesetze  nach  dem  faktischen 
Fortfall  der  Prohibition  noch  eine  gewisse  quanti- 
tative Ausdehnung  des  Willens  vorgeschrieben,  um 
das  wahrhafte  Dasein  desselben  zu  konstatieren 
und  so  die  Konvaleszenz  hervorzubringen.  So  ist  nach  dem 
Art.  185  des  Code  civil  von  Gatten,  die  vor  dem  erforder- 
lichen Alter  in  Ehe  traten,  die  Ehe  erst  dann  nicht 
mehr  anzugreifen,  wenn  sie  nicht  nur  das  kompetente  Alter 
erreicht  haben,  sondern  auch  bereits  sechs  Monate  nach 
Erreichung  desselben  verflossen  sind1).    Und  es  ist  dies 


*)  Art.  185  C.  c. :  „Neanmoins  le  manage  contracte  par  des 
epoux  qui  n'avaient  point  encore  1'äge  requis  ou  dont  Tun  des 


472 


um  so  unangreiflicher,  als  nach  französischem  Recht  die 
Ehe  nur  durch  bestimmte  zivile  Formen,  nicht  sola  affec- 
tione  geschlossen  wird. 

Aber  man  fühlt  sofort,  daß  dies  bei  einem  Gesetze  wie 
dem  vorbesprochenen  preußischen  von  1816  nicht  also 
sein  konnte  und,  wie  der  Text  desselben  zeigt,  auch  nicht 
sein  sollte.  Hier  sollten  die  Ehen  gültig  sein,  wenn  auch 
bei  dem  Erscheinen  des  neuen  Gesetzes  seitens  des  einen 
oder  anderen  Ehegatten  ein  Wille  hierzu  nicht  mehr  vor- 
handen gewesen  wäre.  Um  die  grundsätzliche  Richtigkeit 
hiervon  zu  prüfen,  ist  es  inzwischen  besser,  statt  jenes 
Gesetzes  von  1816,  welches  in  unmittelbarer  Gestalt  nur 
das  Formelle  der  Eheschließung  betrifft  und  erst  auf 
einem  Umwege  zu  einem  solchen  wird,  welches  seiner 
inneren  Auffassung  nach  eine  inhaltliche  Prohibition  be- 
seitigen wollte,  ein  Gesetz  zu  unterstellen,  welches  ein  rein 
materielles   Eheverbot  aufhebt. 

Setzen  wir  also  den  Fall,  daß  unter  vollkommen  ge- 
setzlich gültigen  Formen  eine  wegen  Verwandtschaft  in 
unerlaubtem  Grade,  oder  wegen  Religionsverschiedenheit 
oder  Standesungleichheit  (Allgemeines  Landrecht,  T.  II, 
T.  1,  §933 — 940)  verbotene  Ehe  geschlossen  worden 
ist,  und  nun  die  betreffende  Eheprohibition  durch  ein  neues 
Gesetz  aufgehoben  wird.  Offenbar  müssen  dadurch  alle 
noch  nicht  für  nichtig  erklärten  Ehen  dieser  Art  kon- 
valeszieren,  wenn  auch  schon  bei  oder  vor  Erlaß  des 
neuen  Gesetzes  der  faktische  Wille  der  Gatten  hierzu 
nicht  mehr  fortdauerte,  vielmehr  selbst  ein  entgegen- 
gesetzter Wille  des  einen  oder  anderen  der  beiden  Ehe- 


deux  n'avait  point  atteint  cet  äge,  ne  peut  plus  etre  attaque, 
1°  lorsqu'il  s'est  ecoule  six  mois  depuis  que  cet  cpoux  ou  les 
epoux  ont  atteint  1  äge  competent  .  .  ." 

473 


gatten,  ja  selbst  beider  vorhanden  wäre,  z.  B.  freiwillige 
faktische  Trennung  eingetreten  wäre. 

Der  spekulative  Grund  hiervon  liegt  in  dem  Vorigen. 
Es  ist  eine  Ehe  freiwillig  in  gültigen  Formen  geschlossen 
worden.  Diese  Ehe  war  nach  dem  neuen  Rechtsbewußt- 
sein, welches  dieselbe  als  erlaubt  und  innerhalb  der  indi- 
viduellen Willensfreiheit  liegend  anschaut,  von  vornherein 
an  sich  gültig.  Dieses  Ansich,  weiches  während  der 
Zeit  des  entgegenstehenden  Rechtes  unwillkürlich  und 
wirkungslos  war,  ist  mit  dem  Moment  des  neuen  Gesetzes 
zur  Anerkennung  und  Wirklichkeit  gekommen,  und  die 
noch  vorhandene  Ehe  dadurch  in  dem  Augenblicke  des 
Eintretens  desselben  zur  an  und  für  sich  seienden 
Gültigkeit  gelangt. 

Dasselbe  Resultat  beweist  sich  aber  auch  in  folgender, 
mehr  juristischer  Form.  Welchen  Grund  will  das  Indi- 
viduum für  die  Nichtigkeit  seiner  Ehe  anrufen  ?  Seinen 
individuellen  Willen  ?  Sein  Wille  ist  vielmehr  der  ge- 
wesen, die  Ehe  zu  schließen,  und  es  hat  dies  unter  allen 
für  einen  echten  Willen  hierzu  erforderlichen  Formen  ge- 
tan. Das  hindernde  Gesetz  ?  Aber  dieses  ist  nicht  mehr 
vorhanden  und  hat  einem  entgegengesetzten  Rechtsbewußt- 
sein Platz  gemacht.  Oder  soll  das  frühere  Verbotsgesetz 
wegen  seiner  Gleichzeitigkeit  mit  der  Eheschließung  jetzt 
als  erworbenes  individuelles  Recht  gelten  ?  Aber  dadurch, 
daß  gegen  das  Verbot  eines  Gesetzes  gehandelt  wird, 
wird  dies  Gesetz  doch  gewiß  nicht  von  dem  ihm  entgegen- 
handelnden Individuum  sich  angeeignet  und  zu  seinem  er- 
worbenen Titel  gemacht ! 

Vollkommen  kongruent  mit  den  früher  entwickelten 
Unterschieden  ist  es  also  hier  bei  der  durch  Gesetzes - 
änderung  aufgehobenen  Prohibition,  im  Gegensatz  zu  der 
durch   faktische   Veränderung   beseitigten,    nicht   erst   der 

474 


nach  der  Beseitigung  des  Hindernisses  noch  fortdauernde 
Wille,  welcher  von  jetzt  ab  Wirkungen  hervorbringt,  son- 
dern die  frühere  Handlung  als  solche  konvalesziert 
jetzt  dadurch,  daß  sie  seitens  des  Individuums  eine  von 
ihm  hervorgebrachte  und  von  ihm  noch  nicht  auf- 
gehobene äußere  Wirklichkeit  ist,  die  jetzt  durch  die 
Umwandlung  des  allgemeinen  Bewußtseins  —  welches 
allein  sie  bisher  von  der  rechtlichen  Existenz  ausschloß  — 
in  ein  mit  ihr  identisches,  die  rechtliche  Sanktion 
erlangt1).   Folglich  erlangt  sie  dieselbe  in  dem  ideellen 


1)  Dies  kann  zunächst  dem  S.  443,  Note  1,  von  der  Un- 
gültigkeit der  gegen  die  Prohibition  laufenden  konditioneilen 
Verpflichtung  (s.  Paulus  daselbst)  Gesagten  zu  widersprechen 
scheinen.  Aber  der  Widerspruch  wird  zunächst  schon  dadurch 
ausgeschlossen,  daß  ja  an  dem,  was  dort  über  die  bloß  fak- 
tische, nicht  rechtliche  Existenz  der  konditionellen  Verpflich- 
tung während  der  Fortdauer  der  Prohibition  entwickelt  wurde, 
durch  das  Obige  nichts  geändert  wird.  Wäre  jene  konditionelle 
Stipulation,  was  Paulus  mit  Recht  verneint,  gültig,  so  würde 
sie,  einmal  getroffen,  nicht  einmal  während  der  Zeit  der 
Prohibition  vom  Individuum  einseitig  wieder  aufgehoben  wer- 
den können,  was  sie  nach  dem  Obigen  kann.  Und  nur  auf 
die  Verneinung  dieser  konditioneilen  Gültigkeit  während  der 
Existenz  der  Prohibitivbestimmung  bezieht  sich  die  Argumen- 
tation jener  Note. 

Übrigens  waltet  noch  ein  weiterer,  den  Widerspruch  aus- 
schließender Unterschied  ob.  Jene  konditioneile  Verpflichtung, 
die  Paulus  erwähnt,  geht  dahin,  einen  Menschen  zu  liefern, 
wenn  er  Sklave,  oder  einen  Ort,  wenn  er  ex  sacro  religiosove 
zu  einem  profanen  geworden  sein  wird.  Diese  Verpflichtung 
würde  nun  aber  nicht  nur  während  der  Prohibition,  also  wäh- 
rend der  Freiheit  des  Menschen,  der  Heiligkeit  des  Ortes, 
ungültig  sein,  sondern  sie  würde  auch  durch  das  Eintreffen  der 
Bedingung  nicht  konvaleszieren.  Der  sich  aus  unserer 
ganzen  Entwicklung  ergebende  und  sie  von  neuem  bestätigende 
Grund  hierfür  ist  folgender :   Ist  ein  Freier  zum  Sklaven  oder 

475 


Zeitmoment  selbst,  in  welchem  diese  Entwickelung 
der  Rechtssubstanz  in  dem  Gesetzwechsel  wirklich  ge- 
worden, und  es  ist  von  nun  ab  der  Wille  zur  Aufrecht- 
erhaltung der  Handlung  gar  nicht  in  mehrerem  Grade  er- 
forderlich, als  wenn  dieselbe  von  Anfang  an  unter  einem 
sie  erlaubenden  Gesetz  geschehen  wäre. 

Von  selbst  dagegen  ist  evident,  daß,  wenn  bereits  wäh- 
rend der  Zeit  des  Prohibitivgesetzes  der  individuelle  Wille 
die  Handlung  in  der  je  nach  der  Natur  derselben 
hinreichenden  Weise  wieder  aufgehoben  hatte,  wenn  also 
die  Ehe  für  nichtig  erklärt  worden  war,  oder  der  Schen- 
kende die  materiell  verbotene  Schenkung  widerrufen  hatte, 


ein  bestimmter  locus  sacer  zum  profanen  geworden,  so  ist 
das  eine  durch  faktische  Ereignisse  vermittelte  Veränderung  des 
Rechtes  dieses  bestimmten  Menschen  und  dieses  bestimmten 
Ortes ;  aber  es  ist  keine  Veränderung  in  dem  allgemeinen 
Rechtsbewußtsein  selbst  vorgegangen.  Dieses  ist  viel- 
mehr schlechthin  mit  sich  identisch  geblieben.  Es  wird  von 
demselben  nach  wie  vor  als  ungültig  angeschaut,  über  einen 
Ort  dieser  bestimmten  Art,  einen  locus  sacer,  zu  sti- 
pulieren  (während  es  in  dem  im  Text  in  Rede  stehenden  Falle 
jetzt  nicht  mehr  als  ungültig  angeschaut  wird,  eine  Ehe 
dieser  bestimmten  Art  —  dieses  Verwandtschaftsgrades 
—  zu  schließen),  und  es  wird  ebenso  noch  als  zulässig  an- 
geschaut, daß  ein  fundus  von  der  Gattung  des  stipulierten  ein 
locus  sacer  sein  könne.  Daß  er  es  nicht  mehr  ist,  ist  eine  in 
Faktischem  wurzelnde  zufällige  Veränderung.  Man  sieht, 
daß  der  Unterschied  wieder  aus  dem  Punkte  entspringt,  daß 
(s.  oben  S.  461  fg.,  467,  Note  1)  die  durch  Faktisches  herbei- 
geführte Veränderung  sich  dem  Geiste  als  eine  zufällig  ein- 
tretende, nicht  als  eine  Entwicklung  darstellt,  also  nicht 
auf  ein  ihr  vorausgehendes  An  sich  des  Geistes  zurückweist, 
während  die  geistige  Veränderung  der  allgemeinen  Anschau- 
ung als  eine  im  Geiste  vorgehende,  notwendig  für  den  Geist 
auch  die  Bedeutung  einer  notwendigen,  statt  zufälligen,  die 

476 


der  Fortfall  des  Prohibitivgesetzes  keine  konvaleszierende 
Wirkung  mehr  hervorzubringen  vermag.  Denn  das  neue 
Rechtsbewußtsein  findet  jetzt  auch  in  dem  ideellen  Zeit- 
moment seines  Eintretens  gar  keine  Handlung  und  keinen 
in  ihr  vorhandenen  Willen  mehr  vor,  der  zu  konvales- 
zieren  vermöchte.  Und  trotz  seiner  gegenwärtigen 
Auffassung  der  früheren  Handlung  als  einer  an  sich  gül- 
tigen, kann  es  dem  Individuum  das  Recht  nicht  bestreiten, 
sie  während  des  entgegenstehenden  Gesetzes  durch  eine 
zweite  Handlung  oder  respektive  Willenserklärung  in 
rechtmäßiger  —  weil  der  damaligen  Wirklichkeit  des 
Rechtes  gemäßer  —  Weise  auch  seinerseits  als  das  ge- 
Bedeutung der  Herausstellung  eines  schon  vorher  an  sich  in 
ihm  Vorhandenen  hat. 

Um  den  Unterschied  ganz  deutlich  zu  zeigen,  mag  also  noch 
hinzugefügt  werden,  daß  die  von  Paulus  unterstellte  ungültige 
Stipulation  —  ob  mit,  ob  ohne  Kondition  —  in  zwei  Fällen 
allerdings  nachträglich  konvaleszieren  würde ;  nämlich  a)  wenn 
die  Rechtsregel,  daß  die  res  sacrae  zu  den  res  extra  commer- 
cium gehören,  aufgehoben  würde,  oder  wenn  b)  die  Sache  da- 
durch profan  würde,  daß  etwa  durch  eine  Änderung  in  der 
religiösen  Anschauung  die  ganze  Art,  der  sie  angehört  (z.B. 
ein  Sumpf,  eine  bestimmte  Tierart  usw.),  zu  einer  solchen 
wird,  die  schlechterdings  nicht  Sacra  oder  sancta  sein  kann. 
—  Hier  zeigt  sich  also  jetzt  auch  der  tiefere  Grund,  warum 
die  in  §7,  S.  435  fg.,  betrachtete  Veränderung,  daß  eine  Sache 
oder  ein  Ort  zur  res  Sacra  etc.  gemacht  und  also  extra  commer- 
cium erklärt  wird,  dennoch  eine  durch  faktische  Umstände 
eingetretene  R e c h t s Veränderung,  keine  reine  Rechtsver- 
änderung ist.  Allein  dies  war  dort  noch  gleichgültig  und 
konnte  daher  dort  vernachlässigt  werden.  Denn  der  reinen 
Rechtsveränderung  kommen,  wie  jetzt  aus  dem  Obigen 
klar  ist,  nur  noch  andere  und  stärkere,  immer  aber  minde- 
stens dieselbe  Einwirkung  zu,  wie  dem  durch  fak- 
tische Umstände  vermittelten  Eintreten  von  Prohibitiv- 
gesetzen. 

477 


setzt  zu  haben,  was  sie  damals  der  Wirklichkeit  nach 
war,  als  eine  ungültige  und  von  Anfang  an  nichtige.  Diese 
zweite  in  Übereinstimmung  mit  dem  damaligen  all- 
gemeinen Bewußtsein  vorgenommene  Handlung  oder 
Willenserklärung  bleibt  daher  dem  Individuum  ein 
erworbenes  Recht. 

Es  können  daher  die  wegen  unerlaubten  Verwandt- 
schaftsgrades oder  Religionsverschiedenheit  bereits  für 
nichtig  erklärten  Ehen  durch  die  Aufhebung  dieser  Ge- 
setze nicht  mehr  berührt  werden  (ebensowenig  wie  das 
preußische  Gesetz  von  1816  auf  solche  Fälle  mehr  ein- 
wirken konnte),  und  auch  nicht  einmal  die  zwischen  der 
Schließung  der  Ehe  und  ihrer  Nichtigkeitserklärung  er- 
zeugtön Kinder  können  durch  ein  späteres  Gesetz  legi- 
timiert werden,  da  die  Nichtigkeit  der  Ehe  nicht  erst  von 
der  Nichtigkeitserklärung  datiert,  sondern  durch  diese  als 
eine  ab  initio  vorhandene  erworben  ist. 

Es  ist  soeben  der  Schenkungen  Erwähnung  getan  wor- 
den. Aus  den  entwickelten  Prinzipien  folgt,  daß  eine  die 
materielle  Dispositionsbefugnis  überschreitende  und  darum 
insoweit  nichtige  Schenkung  konvalesziert,  wenn  noch  wäh- 
rend Lebzeiten  des  Schenkenden  und  ehe  er  die  Schenkung 
widerrufen,  das  seine  Dispositionsbefugnis  beschränkende 
Prohibitivgesetz  aufgehoben  wird. 

Eine  ähnliche  Entscheidung  ist  vom  Tribunal  zu 
Loudun  durch  Urteil  vom  10.  April  1822  erlassen  worden. 
Der  einzige  Sohn  eines  unter  dem  Code  civil,  und  wie  es 
scheint,  ab  intestato  gestorbenen  Vaters,  welcher  unter  dem 
die  Dispositionsbefugnis  zugunsten  der  Deszendenten  auf 
ein  Zehnteil  beschränkenden  Gesetz  vom  17.  Nivöse  II 
eine  diese  Grenze  überschreitende  Schenkung  gemacht 
hatte,  focht  dieselbe  an,  während  der  Beklagte  behaup- 
tete, daß  dieselbe  bestehen  bleiben  müsse,  soweit  sie  nicht 

478 


gegen  die  vom  Code  civil  eingeräumte  Dispositionsbefug- 
nis verstoße. 

Das  Tribunal  entschied  gegen  den  Kläger  mit  folgenden 
Gründen : 

„Attendu  que  les  donations  entre  vifs,  etant  irrevo- 
cables  ne  peuvent  etre  regies  que  par  les  lois  sous  l'em- 
pire  desquelles  elles  sont  faites ; 

„Qu'il  en  resulte  qu'elles  ne  peuvent  jamais  etre  re- 
duites  pour  une  legitime  plus  forte  que  celle  fixee  par 
la  loi  de  la  donation ; 

„Mais  que  la  legitime  ne  peut  etre  demandee  qu'apres 
l'ouverture  de  la  succession ;  que  le  legitimaire  n'en  peut 
etre  saisi  que  par  la  mort,  d'apres  ce  principe,  que  le 
mort  saisit  le  vif,  et  qu'il  ne  peut  avant  former  aucune 
espece  d'action  ä  cet  egard ; 

„Que  les  successions  ne  sont  regies  que  par  les  lois 
qui  existent  ä  leur  ouverture ;  que  c'est  alors  seulement 
que  Ion  peut  examiner  s'il  y  a  lieu  ou  s'il  n'y  a  pas 
lieu  ä  la  legitime : 

„Que  le  legitimaire  ne  peut  agir  pour  faire  reduire 
les  donations  qu'en  vertu  de  la  loi  qui  regit  la  succes- 
sion, puisque  c'est  cette  loi  qui  etablit  son  droit  et 
qu'ainsi  il  ne  peut  demander  plus  que  cette  loi  ne  lui 
accorde." 

Merlin,  welcher  dieses  Urteil  mitteilt1),  tritt  dem- 
selben aus  den  in  demselben  angegebenen  Gründen  gleich- 
falls bei.  Aber  es  wird  sich  nicht  verkennen  lassen,  daß 
diese  Gründe  durchaus  unzureichender  Natur  sind.  Die 
Schenkung  war  eine  ungültige  gewesen.  Der  Vater  hatte 
sie  auch  seit  dem  Eintreten  des  Code  civil  nicht  bestätigt. 
Auch  versucht  das  Urteil  selbst  nicht  einmal,  aus  seinem 

x)  Rep.  de  Jurispr.  vü  Effet  r6tr..  Sect.  III.  §  3,  Art.  5. 
V,  585. 

479 


Stillschweigen  beim  Tode  eine  letztwillige  Bestäti- 
gung derselben  herzuleiten,  was  auch  bei  dem  System  des 
französischen  Gesetzes  über  Schenkungen  und  Testamente 
untunlich  wäre.  War  somit  die  Schenkung  niemals  gültig 
geworden,  lag  der  Anspruch  auf  die  ungültig  verschenkten 
Objekte  bis  zum  Tode  in  dem  Vermögen  des  Verstor- 
benen1), so  erfordert  das  Prinzip:  le  mort  saisit  le  vif 
vielmehr,  daß  auch  dieser  Anspruch  nun  auf  den  gesetz- 
lichen Erben  übergeht2). 


*)  Es  würde  ganz  irrig  sein,  diese  Schenkung  nicht  als  ein 
nichtiges,  sondern  nur  als  anfechtbares  Rechtsgeschäft  be- 
trachten zu  wollen,  welches  nur  in  dem  selbständigen 
Rechte  bestimmter  Personen  (in  der  Erbberechtigung 
der  Deszendenten)  das  Hindernis  seiner  Gültigkeit  habe,  so  daß 
es  nur  wegen  des  Aufhörens  dieses  Rechtes  der  dritten 
Person  seine  Anfechtbarkeit  durch  dieselbe  verliert  und  da- 
durch in  volle  Wirksamkeit  tritt,  wie  dies  der  innere  Gedanken- 
gang des  obigen  Urteiles  ist.  Es  wäre  dies  sehr  irrig,  sagen 
wir;  denn  wäre  das  in  dem  Rechte  der  dritten  Person  liegende 
Hindernis  in  faktischer  Weise  beseitigt  worden,  dadurch 
nämlich,  daß  statt  des  Eintretens  des  Code  civil  das  Nivosegesetz 
bestehen  geblieben,  der  einzige  Deszendent  des  Vaters  aber  vor 
demselben  gestorben  wäre,  so  war  nun  zwar  gleichfalls 
durch  den  Tod  das  in  dem  Rechte  einer  bestimmten  Person 
liegende  Hindernis  fortgefallen,  und  dennoch  wäre,  wie  niemand 
bestreiten  wird,  der  Vater  berechtigt  geblieben,  die  ungültige 
Schenkung  jederzeit  aufzuheben.  —  Die  Konvaleszenz  geht  also 
nicht  dadurch  vor,  daß  das  Einspruchsrecht  des  Dritten  fort- 
fällt, sondern  dadurch,  daß  ein  Gesetz  eingetreten  ist,  welches, 
die  materielle  Prohibition  beseitigend,  die  Willenshandlung  der 
Schenkung  als  eine  in  der  Befugnis  des  Individuums  stehende 
und  somit  gültige  anerkennt. 

2)  Weshalb  denn  auch  der  Pariser  Kassationshof  durch 
Urteil  vom  7.  Ventöse  XIII  und  vom  1.  Februar  1820  in  dem 
dem  Tribunal  von  Loudun  entgegengesetzten  Sinne  entschieden 
hat. 

480 


Die  wahre  Rechtfertigung  der  Entscheidung  ergibt  sich 
vielmehr  aus  dem  Obigen.  Die  Schenkung  konvaleszierte 
durch  das  Eintreten  des  Code  civil,  woraus  dann  aber  die 
Folgerung  hervorgeht,  daß  sie  nun  auch  von  dem  Schen- 
kenden selbst  nicht  mehr  revoziert  werden  konnte. 

Zur  Sicherstellung  der  in  diesem  Paragraphen  ent- 
wickelten Theorie  gegen  einige  mögliche  Einwürfe  bedarf 
es  noch  eines  Blickes  auf  die  Ratihabition  und  die  Ver- 
gleichung  der  durch  sie  eintretenden  Wirkungen  mit  den 
oben  entwickelten  begrifflichen   Folgen. 

Die  Ratihabition  ist,  da  sie  in  dem  Eintreten  einer 
früher  nicht  vorhandenen  Einwilligung  eines  Individuums 
besteht,  eine  faktische  Veränderung.  Da  nun  aber  die 
Ratihabition  gleichwohl  im  allgemeinen  auf  den  Anfang 
der  ratihabierten  Handlung  zurückwirkt  und  sie  nicht  vorn 
Zeitpunkt  der  Ratihabition,  sondern  vom  Zeitpunkt  ihrer 
Vollbringung  ab  gültig  macht,  so  könnte  man  dies  als 
einen  bestimmten  Widerspruch  gegen  die  oben  abgeleiteten 
Gedankengesetze  geltend  machen,  und  diese  dadurch  der 
Unrichtigkeit  oder  der  Un Vollständigkeit  und  Unfähigkeit 
systematischer  Durchführbarkeit  überführen  wollen. 

Bei  genauerer  Betrachtung  verschwindet  jedoch  nicht 
nur  dieser  Schein,  sondern  ergibt  sich  sogar  eine  erheb- 
liche und  systematische  Bestätigung  für  das  durchgreifende 
Walten  der  von  uns  exponierten  Begriffsunterschiede  auf 
diesem  Gebiete. 

Zunächst  muß  hervorgehoben  werden,  daß  die  Rati- 
habition nur  dadurch  die  Handlung  —  z.  B.  den  ohne 
Mandat  geschlossenen  Vertrag  usw.  —  von  Anfang  an 
gültig  macht,  weil  sie  eine  freiwillige  Akzeptation 
der  ursprünglichen  Handlung  und  aller  ihrer  bis  jetzt  ein- 
getretenen Wirkungen  durch  den  Berechtigten  darstellt. 
Zum  Unterschied  der  als  Folge  einer  rechtlichen  oder 

Jl   L^iciic.  o.=    Schriften    M^J  IX.  -Ibl 


faktischen  Veränderung  ipso  jure  eintretenden  eigentlichen 
Konvaleszenz,  hat  die  Ratihabition  also  die  Natur  eines 
jetzigen  Vertrages,  vermöge  deren  der  Privatwille  aus- 
drücklich über  vergangene  Handlungen  stipuliert  und 
sie  samt  ihren  Wirkungen  zu  den  seinigen  macht,  soweit 
nämlich  die  frühere  Ungültigkeit  derselben 
lediglich   seinem   Privatrechte   entfloß1). 

Denn  es  muß  zweitens,  an  diese  letztere  Einschränkung 
anknüpfend,  bemerkt  werden,  daß  die  Ratihabition  nicht 
in  allen  Fällen  retrodatierende  Wirkung  hat. 

Wenn  eine  Ehe  ohne  die  väterliche  Einwilligung  ge- 
schlossen worden,  und  letztere  später  erteilt  wird,  so  wird 
die  Ehe  gültig,  aber  nicht  vom  Tag  ihrer  Schließung, 
sondern  erst  vom  Tage  des  väterlichen  Konsenses 
an,  so  daß  der  Mann  niemals  die  Frau  wegen  eines  vor 
diesem  Konsens  begangenen  Ehebruches  verklagen  kann, 
da  das  Verhältnis  bis  dahin  als  Konkubinat  aufgefaßt 
bleibt2). 

Ebenso  konvalesziert  durch  die  nachträgliche  väterliche 
Einwilligung  zur  Ehe  die  dotis  promissio,  aber  nur  vom 
Tage  des  Konsenses  ab,  und  bei  der  gegen  die  kaiser- 
lichen Mandate  geschlossenen  Ehe  bleibt  die  dos,  wenn 
auch  später  die  Einwilligung  erteilt  wird,  dem  Fiskus  er- 
worben3). 

Und  Paulus  entscheidet  ausdrücklich,  daß  die  vor  dem 


x)  Und  soweit  also,  wie  wir  bald  sehen  werden,  gar  kein 
Prohibitivgesetz  entgegenstand,  nämlich  keine  gesetzliche 
Bestimmung,  auf  welche  nicht  auch  durch  die  Privatwillkür  des 
Berechtigten  im  voraus  hätte  verzichtet  werden  können  (vgl. 
oben  S.304,  Note  1,  und  S.  420,  Note  1). 

2)  Ulpian  in  L.  13,  §  6  ad  legem  Juliam  de  adult.  (48,  5) 
und  L.   13  de  his  qui  not.  infam.   (3,  2). 

3)  L.  8  C.  de  nuptiis  (5,  4) ;  vgl.  L.  68  de  jure  dot.  (23,  3). 

482 


väterlichen  Konsens  erzeugten  Kinder  illegi- 
tim bleiben1). 

In  anderer  Hinsicht  verschieden,  aber  in  bezug  auf  das 
bald  hervorzuhebende  Prinzip  grundsätzlich  auf  derselben 
Linie  steht  auch  folgender  Fall.  Schenkungen  zwischen 
Mann  und  Frau  während  der  Ehe  sind  nach  römischein 
Recht  bekanntlich  ungültig.  Durch  das  auf  die  Rede  des 
Antoninus  erlassene  Senatskonsult  wurde  jedoch  fest- 
gestellt, daß,  wenn  der  Donator  stirbt,  ohne  die  Schen- 
kung widerrufen  zu  haben,  dieselbe  hierdurch  als  still- 
schweigend konfirmiert  und  gültig  geworden  betrachtet 
werden  soll. 

Es  wäre  irrtümlich  zu  glauben,  daß  die  ursprünglich 
wegen  mangelnder  Fähigkeit  nichtige  Schenkung  jetzt  qua 
Testament  gültig  wird.  Schon  der  eine  Grund  würde  hier- 
gegen ausreichen,  daß  das  aus  mangelnder  Fähigkeit  so- 
wohl des  Testierenden  als  auch  des  Honorierten  ungültige 
Testament  selbst  nach  römischer  Lehre  nicht  durch  das 
Vorhandensein  der  Fähigkeit  zur  Todeszeit  ohne  ausdrück- 
liche Wiederholung  gültig  wird2). 

Die  Schenkung  konvalesziert  somit  jetzt  als  solche  durch 
die  unterstellte  Bestätigung.  Aber  gleichwohl  konvalesziert 
sie  nicht  vom  Tage  der  Schenkung,  sondern  erst  von  der 
Zeit  des  Todes  ab ;  sie  wird  daher  als  eine  Schenkung  von 
Todes  wegen  behandelt  und  die  Falcidische  Quart  von 
ihr  abgezogen3). 


-)  L.   11  de  stat.  hom.   (1,  5). 

8)  S.   §  4  Inst,  de  her.   quäl.    (2.    19);   L.  6.   §  2 ;  L.  49. 
§   1;  L.  59,  §  4;  de  her.  inst.   (28,  5). 

8)  S.   L.  32  de  donat.   inter  vir.  et  ux.   (24,  1);   L.   12  C 
ad   leg.    Falc.    (6,   50)   und   L.    25   C.   de  donat.    inter  vir.  et 
ux.   (5,   16).   —   Erst  Justinian  bringt  durch  das   letztbezogene 
Gesetz  Verwirrung  in  diese  Lehre,  indem  er  diese  stillschwei- 

3i*  483 


Betrachtet  man  nun  alle  die  angeführten  Fälle  genauer, 
so  stellen  sie  sich  nicht  als  bloße  Ausnahmen  von  der 
Regel  der  retrodatierenden  Wirkung  der  Ratihabition  dar, 
sondern  es  tritt  in  diesen  scheinbaren  Ausnahmen  und 
dieser  scheinbaren  Regel  nur  die  Gliederung  eines  in  sich 
einigen  Prinzipes  zutage. 

Ist  nämlich,  wie  beim  Mangel  des  väterlichen  Ehe- 
konsenses, die  Nichtigkeit  der  Handlung  nicht  bloß  Aus- 
fluß des  Privatrechtes  des  zur  Genehmigung  Berech- 
tigten, sondern  durch  Gründe  des  öffentlichen  Rechtes 
vermittelt,  liegt  also  eine  wahre  Prohibition  vor,  d.h. 
ein  absolutes  Gesetz,  über  welches  die  Privatwillkür 
nicht  transigieren  kann,  so  kann  die  nachträgliche  Rati- 
habition keine  auf  den  Anfang  der  Handlung  sich  zurück - 
erstreckende  Konvaleszenz  hervorbringen. 

Das  spätere  Faktum  der  väterlichen  Einwilligung  kann 
nicht  bewirken,  daß  die  beim  Mangel  dieser  Einwilligung 
durch  die  Anschauung  des  öffentlichen  Bewußtseins  pro- 
hibierte Ehe  bis  zum  Eintreten  dieser  Einwilligung  nicht 
nichtig  gewesen  sei  und  nichtig  gewesen  bleibe. 

Dagegen  tritt  bei  der  Ratihabition  eines  ohne  meinen 
Willen  geschlossenen  Vertrages  oder  der  Verpfändung 
einer  mir  gehörigen  Sache  usw.  retrodatierende  Wirkung 
deshalb  ein,  weil  die  Ungültigkeit  dieser  Handlungen  gar 
nicht  auf  einem  absoluten  und  somit  gar  nicht  auf 
einem  Prohibitivgesetze  beruht,  sondern  lediglich 
in  der  Berechtigung  eines  Privat  willens1). 


genden  Bestätigungen  (und  auch  die  ausdrücklichen)  ,,sicut  et 
alias  ratihabitiones  negotiorum"  teils  auf  den  Tag  der  Schen- 
kung zurückwirken,  teils  wieder,  in  besonderen  Fällen,  nicht 
zurückwirken  läßt. 

-1)  Es  ist  hier  von   Interesse,  einen  Blick  auf  die   Ehevor- 
schriften des  Allgemeinen  Landrechtes  zu  werfen,  welchen  im 

484 


Dies  zeigt  sich,  entsprechend  dem  von  uns  überall  fest- 
gehaltenen Begriff  des  Prohibitivgesetzes  (s.  oben  S=  304 


allgemeinen  die  im  bisherigen  entwickelten  Gedankenbestim- 
mungen,  daß  einerseits  bei  der  faktischen  Beseitigung  von 
Prohibitivgesetzen  die  Gültigkeit  erst  ab  nunc  eintreten 
kann,  und  andererseits  Hindernisse,  welche  lediglich  in  der 
Berechtigung  eines  bloßen  Privatwiliens  liegen,  nicht  als  Pro- 
hibitionen des  öffentlichen  Bewußtseins  aufzufassen  sind  und 
ihre  Beseitigung  daher  die  Handlung  zu  einer  ab  initio  gültigen 
macht,  in  einer,  obwohl  nicht  konsequent  festgehaltenen,  aber 
doch  unleugbaren  Weise  zugrunde  liegen.  Das  Allgemeine  Land- 
recht unterscheidet  (T.  II,  Tit.  1,  §  933  fg.)  zwischen  nich- 
tigen und  ungültigen  Ehen.  §  933:  „Ehen,  welche  wegen 
obwaltender  Verbotsgesetze  niemals  bestehen  können, 
heißen  nichtig."  §  934:  ,,Ehen,  welchen  zwar  von  Anfang 
an  gesetzliche  Hindernisse  im  Wege  stehen,  die  aber 
doch  in  der  Folge  durch  Hebung  dieser  Hindernisse  verbind- 
liche Kraft  erlangen,  werden  ungültig  genannt."  Der  erste 
Paragraph  spricht  also  ausdrücklich  von  den  Prohibitivgesetzen 
als  solchen.  Welches  zum  Unterschiede  von  diesen  der  B  e  - 
griff  der  im  zweiten  Paragraphen  erwähnten  „gesetzlichen  Hin- 
dernisse" sein  soll,  sagt  uns  das  Allgemeine  Landrecht  nicht, 
sondern  begnügt  sich  damit,  die  hier  gemeinten  Ehen  an  den 
von  ihm  vorgeschriebenen  Folgen  erkennen  zu  lassen  (statt 
umgekehrt  die  Folgen  aus  dem  Begriff  abzuleiten).  Sieht  man 
inzwischen  auf  die  §§  968 — 972,  in  welchen  das  Landrecht  die 
ungültigen  Ehen  aufzählt,  so  findet  man,  daß  meistens  solche 
Hindernisse  gemeint,  welche,  wenigstens  nach  der  Auffassung 
des  Allgemeinen  Landrechtes,  bloß  privatrechtlicher  Natur  sind 
(mangelnder  individueller  Wille  usw.).  Der  hauptsächliche  Un- 
terschied zwischen  den  nichtigen  und  den  ungültigen  Ehen 
besteht  nun,  unserer  Entwicklung  sehr  entsprechend,  in  fol- 
gendem :  Auch  von  den  wegen  wahrer  Prohibition  nichtigen 
Ehen  wird  zugegeben,  daß  sie  durch  faktische  Beseitigung  des 
prohibierenden  Umstandes  zur  Gültigkeit  gelangen  können. 
Aber  es  wird  bestimmt,  daß  diese  Gültigkeit  erst  von  jetzt 
an  ihren  Anfang  nimmt,  und  deswegen  sogar  verordnet  (was 

4&5 


und  420,  Note  1),  klar  daran,  daß  der  Berechtigte  auf 
die  Ungültigkeit  solcher  Handlungen,  zu  denen  seine  Ein- 
willigung nicht  vorliegen  wird,  auch  im  voraus  wirk- 
sam verzichten  kann.  Denn  dies  geschieht  in  einer 
Generalvollmacht,    durch    welche    ich    einen    procurator 

dem  Gesetzgeber  jedenfalls  zustand,  s.  §  6  über  das  Recht 
desselben,  dem  Individuum  das  onus  einer  nochmaligen  Willens- 
bestätigung aufzulegen),  daß  die  Ehe  jetzt  nochmals  voll- 
zogen werden  muß.  §  946:  „Soll  ...  die  nichtige  Ehe  nach 
gehobenem  Hindernis  zur  Gültigkeit  gelangen,  so  muß 
sie  auf  die  in  den  Gesetzen  vorgeschriebene  Art  nochmals  feier- 
lich vollzogen  werden."  §  947:  „Mit  dem  Zeitpunkt  dieser 
nochmaligen  Vollziehung  nimmt  die  Gültigkeit  einer  sol- 
chen Ehe  erst  ihren  Anfang."  (Die  Vorschrift  der  noch- 
maligen Vollziehung  zeigt  zugleich,  daß  das  Landrecht  bei  der 
faktischen  Beseitigung  der  Prohibition,  die  es  natürlich 
überall  unterstellt,  mit  Recht  der  Ansicht  ist,  daß  der  auf  die 
Gültigkeit  der  Handlung  gerichtete  Wille  noch  nach  der  Be- 
seitigung des  Prohibitivumstandes  vorhanden  sein  muß,  damit 
Konvaleszenz  eintreten  könne.)  Von  den  ungültigen  Ehen 
wird  dagegen  verordnet,  §  975:  „Wird  aber  das  Ehehindernis 
in  der  Folge  gehoben,  so  muß  angenommen  werden,  daß  die 
Ehe  von  Anfang  an  gültig  gewesen  sei."  —  Zwar  rech- 
net das  Allgemeine  Landrecht  die  Ehen,  denen  der  väterliche 
Konsens  mangelt,  zu  den  bloß  ungültigen  Ehen  (§  972),  die 
also  durch  die  nachträgliche  Erteilung  des  Konsenses  von  An- 
fang an  gültig  werden.  Allein  es  widerspricht  deshalb  durch- 
aus nicht  dem  oben  an  der  römischen  Behandlung  dieses 
Falles  entwickelten  Grundsatz,  daß,  wo  der  Mangel  an  Kon- 
sens eine  wahre  Prohibition  begründet,  die  nachträgliche  Rati- 
habitation  der  Handlung  erst  von  jetzt  ab  und  nicht  für  die 
Zeit,  wo  sie  contra  jus  gewesen,  zur  rechtlichen  Existenz  ver- 
helfen kann.  Denn  in  den  Fällen,  wo  landesherrliche  Einwil- 
ligung (beim  Militär)  oder  Dispensation  (bei  Standesungleich- 
heit) erforderlich  —  in  Fällen  also,  wo  auch  nach  der  Auf- 
fassung des  Allgemeinen  Landrechtes  eine  aus  dem  öffentlichen 
Interesse  fließende   wahrhafte   Prohibition   vorliegt   — ,   ist  die 

486 


omnium  rerum  aut  ad  omne  negotium  ernenne1)  und  künf- 
tige Handlungen  als  für  mich  gültig  erkläre,  denen  nicht 
einmal  mein  Wissen,  und  somit  auch  nicht  mein  Wollen 
einwohnen  wird.  Darum  ist  auch  nicht  einmal  das  SC. 
Macedonianum,  in  Hinsicht  auf  den  Vater,  ein  Pro- 
hibitivgesetz,  da  dieser  nicht  gehindert  wäre,  dem  in  seiner 
Gewalt  befindlichen  Sohne  eine  derartige  Generalproku- 
ration  zu  erteilen,  während  z.  B.  die  Unfähigkeit  des 
filius,  zu  testieren,  eine  prohibitive  ist;  denn  hierzu  kann 
ihn  der  Vater  auch  nicht  ermächtigen.  Und  weil  es  kein 
Prohibitivgesetz  rücksichtlich  der  väterlichen  Verbindlich- 
keit ist,  so  wirkt  mit  Recht  die  väterliche  Ratihabition 
eines  vom  Sohne  gemachten  Darlehens  auf  dasselbe  ganz 
so  konvaleszierend  ein2),  als  wenn  der  Privatwille  von 
Anfang  an  (also  das  Mandat)  dazu  vorgelegen  hätte3). 

Ehe  nichtig,  und  bleibt  dies  auch,  wenn  nachträglich  die 
landesherrliche  Einwilligung  oder  Dispensation  eintritt,  bis  zur 
nochmaligen  Eheschließung  (§§  938,  940,  946).  Das  Land- 
recht erkennt  also  hierdurch  unseren  obigen  Grundsatz  an.  Wird 
die  väterliche  Einwilligung  abweichend  behandelt,  so  ist  dies 
also  nur  ein  Beitrag  mehr  zu  der  geänderten  Auffassung  der 
patria  potestas  des  Landrechtes  im  Vergleich  zur  römischen. 
!)  Ulpian,  L.  1.  pr.  1  mandat.  (3,  3);  Paulus.  R.  S.  I. 
3.  §  2. 

2)  Ulpian,  L.  7,  §  15  de  SC.  Maced.  (14,  6);  L.  ult. 
C.   ad  SC.  Maced.   (4,  28). 

3)  Der  einzige  scheinbare  Fall,  den  man  aus  dem  römischen 
Rechte  gegen  die  obige  Entwicklung  geltend  machen  könnte, 
wäre  folgender:  Die  Veräußerung  eines  Dotalgrundstückes  durch 
den  Ehemann  ist  eine  ganz  nichtige  Handlung.  Wenn  ihm 
aber  späterhin  die  ganze  Dos  zufällt,  so  konvalesziert  dadurch 
die  Veräußerung  von  selbst.  (Papinian,  L.  42  de  usurp.,  41. 
3.)  Da  nun  aber  die  Unveräußerlichkeit  der  Dos  eine  wahr- 
hafte Prohibition  darstellt,  an  welcher  der  Privatwille  nichts 
ändern  kann;   da  ferner  diese   Prohibition  im   gedachten   Falle 

487 


Seines  Rechtes  aber  zur  Einwilligung  in  die  bestimmte 
vom  Sohne  zu  schließende  Ehe  kann  sich  der  Vater  nicht 
im  voraus  wirksam  begeben.  Er  kann  nicht  in  gültiger 
Weise  dem  Sohne  die  allgemeine  Ermächtigung  erteilen, 
jede  ihm  beliebige  Ehe  zu  schließen  und  ihn  so  von  der 
Erforderlichkeit  seines   Spezialkonsenses  entbinden. 


durch  faktische  Änderung  beseitigt  ist,  und  dennoch,  ohne 
neue  Tradition,  die  Veräußerung  konvalesziert,  so  scheint  diese 
Konvaleszenz  auf  den  Anfang  der  Handlung  zurückzulaufen, 
in  welchem  Falle  sie  ein  Widerspruch  gegen  das  obige  Gesetz 
wäre.  Da  inzwischen  begriffliche  Gesetze,  zum  Unterschiede 
von  Regeln,  keine  wahrhafte  Ausnahme  kennen,  so  ist  es  Pflicht, 
diesen  Schein  zu  beseitigen.  Auch  wenn  ein  Nichteigentümer 
eine  Sache  verkauft  und  hinterher  das  Eigentum  erwirbt,  so 
konvalesziert  dadurch  die  Veräußerung.  Papinian  sagt  uns  das 
an  derselben  Stelle :  Idem  juris  est  quam  is  qui  rem  f urtivam 
vendidit,  postea  domino  heres  exstitit.  Und  ausführlicher  ver- 
breiten sich  Ulpian  und  Julian  darüber,  L.  4,  §  32,  de  doli 
mali  et  met.  exe.  (44,  4).  Wenn  der  zum  Eigentümer  gewordene 
Nichteigentümer  gegen  den  Käufer  klagt,  so  würde  er  —  heißt 
es  daselbst  ■ —  mit  der  exceptio  doli  mali  zurückgewiesen  wer- 
den. Wenn  der  zum  Eigentümer  gewordene  Nichteigentümer 
aber  im  Besitz  ist  und  der  Käufer  klagt,  so  kann  er  die 
Exzeption  des  Gegners  mit  der  doli  replicatio  abschlagen ; 
,,ac  per  hoc  intelligeretur,"  sagen  Ulpian  und  Julian,  ,,eum 
fundum  rursus  vendidisse  quem  in  bonis  non  haberet"  (näm- 
lich als  er  ihn  zum  erstenmal  verkaufte).  Es  wird  also  die 
Sache  so  gedacht,  als  wäre  im  Moment  der  Eigentumserwerbung 
seitens  des  Verkäufers  ein  zweiter  ideeller  Verkauf  vor  sich 
gegangen,  d.h.  der  Verkauf  konvalesziert  erst  von  die- 
sem Augenblick  an,  nicht  in  bezug  auf  die  frühere  Zeit 
(also  nicht  in  bezug  auf  die  früheren  Früchte  usw.).  Und 
offenbar  ganz  dasselbe  muß  auch  für  die  Veräußerung  von 
Dotalgrundstücken  gelten,  wie  zum  Überfluß  noch  die  Pa- 
pinianische  Behandlung  beider  Fälle  als  identischer  zeigt.  — 
Es   findet   also   auch   hier   gar   keine   Ausnahme   statt. 


Das  Erfordernis  dieser  Genehmigung  beruht  also  im 
Unterschied  von  den  früheren  Fällen  auf  einer  abso- 
luten, der  Privatwillkür  nicht  anheimgestellten  Vorschrift. 
Mit  anderen  Worten:  das  Verbot,  Ehe  ohne  väterliche 
Einwilligung  zu  schließen,  ist  eine  durch  die  Anschauung 
des  allgemeinen  Bewußtseins  als  solchen  gesetzte  Pro- 
hibition, und  darum  kann,  solange  dies  allgemeine  Bewußt- 
sein in  seiner  Rechtsanschauung  mit  sich  identisch  bleibt, 
das  Faktum  der  nachträglichen  väterlichen  Einwilligung 
nichts  daran  ändern,  daß  in  bezug  auf  die  Zeit  bis  dahin 
die  stattgehabte  Ehe  als  eine  durch  das  Volksbewußtsein 
ausgeschlossene  nach  wie  vor  ohne  rechtliche  Existenz 
bleibt. 

Ebenso  stellt  die  Unfähigkeit  der  Eheleute,  sich  zu 
beschenken,  eine  absolute,  dem  Privatwillen  in  keiner  Weise 
überlassene  Prohibition  dar,  und  darum  kann  auch  die 
Bestätigung  derselben  von  Todes  wegen,  d.  h.  in  dem 
Augenblicke,  wo  durch  faktische  Veränderung  der  Ehe- 
gatte diese  Fähigkeit  erlangt  hat,  nicht  ändern,  daß  die 
Schenkung  bis  dahin  als  eine  contra  jus  gewesene  ungültig 
bleibt  und  erst  von  dem  Moment  der  Bestätigung  ab 
Existenz  gewinnt. 

Dies  ist  auch  der  Grund,  weshalb  die  Autorisation  des 
Tutor  zu  einem  Vertrage,  welche  nicht  als  eine  privat- 
rechtliche  Befugnis,  sondern  als  ein  im  öffentlichen  Inter- 
esse liegender  Schutz  der  Willensfreiheit  von  Unmündigen 
gedacht  ist,  statim  in  ipso  negotio  erfolgen  muß  und  der 
Tutor  weder  den  Vertrag  statt  dessen  nachträglich  ge- 
nehmigen, noch  im  voraus  dazu  Autorisation  erteilen 
kann1). 


*)  Gajus  in  L.   9,  §  5,  de  autor.  et  consensu  etc.   (26,  8)  : 
Tutor  statim  in  ipso  negotio  praesens  debet  auctor  fieri.   post 


480 


Was  wir  durch  diese  Auseinandersetzung  über  die  Rati- 
habition  gezeigt  zu  haben  glauben,  ist,  um  das  Resultat 
kurz  zusammenzufassen,  folgendes : 

1.  daß  die  Ratihabition,  obgleich  sie  eine  durch  fak- 
tische Veränderung  eintretende  Gültigkeit  darstellt  und 
obgleich  diese  Gültigkeit  auf  den  Anfang  der  Handlung 
zurückläuft,  dennoch  den  von  uns  entwickelten  begriff- 
lichen Gesetzen  über  die  geringere  und  notwendig  nur  ab 
nunc  laufende  Wirkung  der  faktischen  Beseitigung  von 
Prohibitionen  nicht  widerspricht,  da  die  Ratihabition  jenen 
retrodatierenden  Effekt  nur  ausübt,  weil  und  insofern 
sie  nicht  in  der  Beseitigung  einer  durch  das  öffentliche 
Bewußtsein  gesetzten  Prohibition,  sondern  eines  rein 
privatrechtlichen,  lediglich  in  der  Sphäre  eines  indivi- 
duellen Willens  gelegenen  Hindernisses  besteht,  ein  Privat- 
wille, der,  wo  es  auf  sein  alleiniges  Schalten  ankommt, 
auch  wenn  er  nachträglich  eintritt,  natürlich  als  das  Frühere 
akzeptierend  und  zu  dem  Seinigen  machend,  ganz  ebenso 
angesehen  werden  muß,  als  wäre  er  ab  initio  vorhanden 
gewesen ;  daß  also  diese  Ratihabition  einerseits  mit  un- 
serem Gegenstande  —  den  Prohibitivgesetzen  —  über- 
haupt nichts  zu  tun  hat,  andererseits  gerade  durch  den  in 
sich  innerlich  übereinstimmenden  Gegensatz,  in  welchem 
ihr  Wesen  und  ihre  Wirkung  zu  der  Prohibition  des 
öffentlichen  Bewußtseins  steht,  das  von  uns  hierüber  Ge- 
sagte gerade  unterstützt  und  vervollständigt. 

2.  daß,  wo  die  Ratihabition  wirklich  eine  faktische  Be- 
seitigung von  Prohibitivgesetzen  darstellt,  sie  in  der 
Tat  keine  auf  den  Anfang  der  Handlung  zurücklaufende 
Wirkung  ausübt,  sondern  die  konfirmierte  Handlung  ganz 


tempus  vero  aut  per  epistolam  interposita  ejus  auctoritas  nihil 
agit,  und  Inst.  §  2  de  auctor  tutor 


100 


so  erst  von  jetzt  ab  gültig  wird,  als  wäre  sie  jetzt 
erst  eingetreten,  und  alle  bereits  entstandenen  Wirkungen 
derselben  auch  von  jetzt  ab  ungültig  bleiben  (die  Kinder 
illegitim,  die  Dos  kaduk),  wie  wir  dies  oben  entwickelt 
haben,  und  dies  die  notwendige  Gedankenfolge  davon  ist, 
daß  das  bei  der  bloß  faktischen  Beseitigung  der  Prohibition 
in  sich  identisch  gebliebene  Rechtsbewußtsein  des  Volkes 
die  Handlung  bis  zum  Eintritt  der  faktischen  Änderung 
noch  nach  wie  vor  als  eine  an  und  für  sich  ungültige 
und  substantiell  nichtige  anschaut. 

Werden  dagegen  materielle  Prohibitivgesetze  aufge- 
hoben und  somit  durch  eine  Änderung  des  allgemeinen  Be- 
wußtseins beseitigt,  «o  ist  in  bezug  auf  die  während  des 
Verbotes  in  gültigen  Formen  vorgenommenen  und  noch 
nicht  wieder  aufgehobenen  individuellen  Willenshandlungen 
dieser  Art  etwas  eingetreten,  was  man,  wenn  es  auf  eine 
Analogie  ankäme,  als  eine  Ratihabition  des  öffent- 
lichen Geistes  bezeichnen  könnte. 

Diese  Ratihabition  oder  Konfirmation  erzeugt  nun, 
wie  wir  dies  oben  ausführlich  und  in  allen  ihren  Mo- 
menten zum  Unterschiede  von  der  durch  faktische  Ände- 
derung  hervorgebrachten  Konvaleszenz  auseinander  gesetzt 
haben,  die  Folge,  daß  von  jetzt  ab  die  frühere  Hand- 
lung als  solche  konvalesziert.  d.h.  daß  die  Handlung 
nunmehr  als  von  Anfang  an  an  sich  gültig  angeschaut 
wird,  dieses  Ans  ich  jetzt  zur  rechtlichen  Anerkennung 
kommt,  und  daher  von  dieser  Anerkennung  ab  auch 
die  früher  entstandenen  Folgen  und  Wirkungen  der 
Handlung  zu  rechtlich  gültigen  werden  und  nur  be- 
reits erworbenen  Rechten  gegenüber  d.  h.  solchen 
gegenüber,  welche  während  der  Zeit  der  Prohibition 
bereits  erworben  worden  waren,  und  deren  Erwerb  durch 

491 


die   damalige    Ungültigkeit    jener    Handlungen    vermittelt 
worden  war  —  ungültig  bleiben1).    (Vgl.  §  9.) 

Da  jetzt  die  Handlung  als  solche  konvalesziert,  so  liegt 
hierin,  wie  schon  oben  hervorgehoben  wurde2),  der  Grund, 
daß  zum  Unterschied  von  der  Beseitigung  der  Prohibition 
durch  faktische  Änderung,  auch  einmalige  Willens- 
handlungen, die  nicht,  wie  die  Ehe,  einen  dauernden  Zu- 
stand begründen,  durch  rechtliche  Aufhebung  der  mate- 
riellen Prohibitionsbestimmung  konvaleszieren,  wenn  nur 
nicht  bereits  vor  dem  Rechtswechsel  die  Ungültigkeit 
der  Handlung  wieder  ihrerseits  durch  Willenshandlung. 
Urteil  oder  Vergleich  usw.  zu  einem  erworbenen  Rechte 
geworden  ist.  Auch  fehlt  es,  außer  dem  hierüber  bereits 
Angeführten,  nicht  an  Beispielen  hierfür  im  römischen 
Recht.  So  verordnet  der  Kaiser  Anastasius3),  daß  alle 
über  die  servilis  vel  adscriptitia  conditio  noch  zu  schlie- 
ßenden oder  bereits  geschlossenen4)  Transaktionen, 
auch  in  den  noch  hängigen  Prozessen5),  fürder  nicht 
aus  dem  Grunde  als  ungültig  angesehen  werden  sollen,  weil 
sie  über  die  servilis  vel  adscriptitia  conditio  errichtet  sind. 
Ebenso  verordnet  Justinian0),  daß,  wenn  auf  die  der 
sazerdotalen  Prärogative  zustehende  Klagverjährung  ver- 
zichtet worden  ist,  dieser  Verzicht  gültig  und  bindend  sein, 
und  dies  auf  alle  solche  Fälle  seine  Anwendung  erhalten 
solle  ,,qui  necdum  per  judicialem  sententiam  vel  ami- 
cabilem  conventionem  sopiti  sunt". 

*)  Wie  also  z.  B.  in  dem  oben  gesetzten  Falle  der  während 
der  Prohibition,  und  somit  während  der  Illegitimität  der  Kinder, 
anerfallenen    Erbschaft. 

2)  Siehe  oben  S.  458  fg.,  S.  471  fg. 

3)  L.   ult.   C   de  transactionibus   (2,  4). 

4)  .  .  .  transactiones  celebrandas  vel  jam  celebratas  etc. 

5)  ...  in  omnis  litigiis  jam  motis  et  pendentibus. 

6)  L.    51    C.   de  episcopis  etc.    (1,   3). 

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