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GESAMMELTE
REDEN UND
SCHRIFTEN
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FERDINAND LASSALLE
GESAMMELTE REDEN
UND SCHRIFTEN
HERAUSGEGEBEN
UND EINGELEITET
VON
EDUARD BERNSTEIN
VOLLSTÄNDIGE AUSGABE
IN ZWÖLF BÄNDEN
VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN
1920
FERDINAND LASSALLE
GESAMMELTE REDEN
UND SCHRIFTEN
HERAUSGEGEBEN
UND EINGELEITET
VCN
EDUARD BERNSTEIN
NEUNTER BAND :
DAS SYSTEM DER ERWORBENEN RECHTE
U
VERLEGT BEI PAUL CASSIRER, BERLIN
1920
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
DRUCK VON OSCAR BRANDSTETTER, LEIPZIG
VORBEMERKUNG DES HERAUSGEBERS.
Über den wissenschaftlichen Zweck und die leitenden
Grundgedanken seines Werkes „Das System der erwor-
benen Rechte" hat sich Lassalle in der Vorrede und der
Einleitung zu diesem Werk so klar und eingehend aus-
gesprochen, daß es mir unangebracht erscheint, an dieser
Stelle, wo der Leser beide Stücke wie das Werk selbst
vor sich hat, noch hierüber Erklärendes geben zu wollen.
Dagegen werden einige Bemerkungen über die allgemeine
Bedeutung der Arbeit und ihren speziell politischen
Zweck eher am Platze sein. Zwar hat, was das letztere
betrifft, Lassalle in der Vorrede und an verschiedenen
Stellen des Werkes deutlich genug zu erkennen gegeben,
daß es in hohem Grade auf die Praxis der Politik und
des Rechtes einwirken sollte. Gleich die ersten Sätze der
Vorrede verkünden diesen Zweck in nicht mißzuverstehen-
der Sprache. Aber Lassalle beschränkt sich dort und wei-
terhin doch vornehmlich auf Niederlegung von Sätzen mehr
allgemeiner Natur, während er sich in Briefen und jeden-
falls auch mündlich sehr viel bestimmter über die ihm für
die Kämpfe der Zeit vorschwebenden speziellen Anwen-
dungen der rechtstheoretischen Grundsätze ausgesprochen
hat, die er in dieser Schrift entwickelt.
Von seinen schriftlichen Äußerungen in diesem Sinne
ist wohl die unumwundenste sein undatierter, aber gemäß
seinem Inhalt vom Herbst 1860 herrührender Brief an
den damals mit ihm befreundeten, demokratisch gesinnten
Berliner Verlagsbuchhändler Franz Duncker, worin er
diesem das Werk zum Verlag anbot. Lassalle setzt dort
Duncker auseinander, daß und warum keiner der ihm be-
kannten lebenden Autoren dies Buch habe schreiben können,
erklärt von letzterem, daß es eine völlige Revolution auf
dem Gebiete der gesamten Rechtswissenschaft hervor-
bringen werde, und fährt dann fort :
„Das Buch wird, sowie es herrschende Lehre wird
und daß es diese wird, daran ist gar nicht zu zwei-
feln ; es ist nur fraglich, um wieviel früher oder um
wieviel später - ein unentbehrliches Buch für alle
praktischen Juristen, Richter, Advokaten, Referendare
etc. und zwar für die Landrechtler wie Gemeinrechtler
wie die Juristen des Code Napoleon. Dies ist Eins.
„Das Zweite ist, daß es ebenso wie wissenschaft-
lichen, ebenso absolut revolutionären Inhalts
ist. Die revolutionäre Idee ist eben darin zur Wissen-
schaft verarbeitet und als die wissenschaftliche Idee
nachgewiesen. Am besten wird Ihnen die absolut-poli-
tische Bedeutung des Buches einleuchten, wenn ich
Ihnen kurz den Satz gebe, in den ich gegen das Ende
meiner Einleitung mein Thema zusammenfaßte: ,Der
inhaltliche Gedanke unseres Themas ist in seiner höch-
sten und allgemeinsten Auffassung kein anderer als der
Gedanke, der aus der Rechtsidee selbst hervorfließt
und der ihr entsprechenden Hinüberführung eines alten
Rechtszustandes in einen neuen.' Wie hieraus schon er-
hellt, mußte ich also auf alle politischen Fragen und
das politische Material mit großer Genauigkeit eingehen.
Sie wissen, welche Wut der Streit über die „erworbenen
Rechte" z. B. beim Jagdgesetz, Zehntenumwandlungen,
Grundsteuer etc. erregt hat. Alles dies findet sich hier
geschlichtet, aus dem innersten Zentralpunkt heraus.
Dabei bin ich mit der größten Unparteilichkeit der
Welt, wie sie der Wissenschaft gebührt, zu Werke ge-
gangen, habe z. B. nicht Anstand genommen, das Fal-
sche im Jagdgesetz der 48 er Nationalversammlung und
das relativ-theoretisch Berechtigte des Geheules des
Herrengesindels aufzuzeigen. Freilich konnte ich auch
solche pflichtmäßige wissenschaftliche Unparteilichkeit
ohne große Überwindung üben, da ich mit derselben
Hand 66 mal mehr nahm, als gab.
„Die Folge von diesem ist, daß, zumal bei den
Zeitläuften, kein Kammermensch oder Politikus das
Buch wird entbehren können, wenn dasselbe erst zu
einiger Bekanntheit gekommen sein wird.
„Die Folge ist, sage ich, daß das Buch zwar durch-
aus keine so „reine" Anerkennung wie der Heraklit
finden wird, daß es dagegen eine Welt in Liebe und
Haß teilen, Gegenstand unzähliger Angriffe und Ver-
fluchungen und ebenso großer Akklamation sein und
aus diesem Grunde auch ganz anders gekauft werden
wird.
„Der dritte Umstand ist, daß das Buch ebenso wie
politisch-, auch sozial-revolutionär nach seinem
Gesamtresultat ist. Im zweiten Teil, der das Wesen
des römischen und des germanischen Erbrechtes ent-
hält — letzteres konnte gar nicht verstanden werden, so-
lange das erstere es nicht wurde — und vorherrschend
theoretisch ist, findet sich als Resultat die Auflösung
alles testamentarischen Rechtes ; aber nicht mit sub-
jektivem Kritizismus und negativer Polemik bin ich
zu Werke gegangen, sondern positiv darstellend, aus
der archäologischen Rumpelkammer des alten Roms und
der gesamten universalgeschichtlichen Bewegung die
Waffen schmiedend für die modernsten Zwecke.
„Ich habe überhaupt, was bisher fehlte, gänzlich
fehlte, und sich in seinem Mangel so schwer fühlbar
machte, die feste Burg eines wissenschaftlichen
Rechtssystems für Revolution und Sozia-
lismus, in seinem besten und erhabensten Sinne, zu
erbauen gesucht, aus welcher Burg wir dann unsere
weiteren Ausfälle auf die einzelnen Dörfer machen kön-
nen, und ich glaube, dieser Bau ist mir prächtig ge-
lungen und aus reinem Stahl gegossen.'
Niemals aber, schließt Lassalle, sei ihm die Einheit
der Wissenschaften „mit größerer Andacht zum Bewußt-
sein gekommen, als bei der Abfassung dieses Werkes."
Wie sehr Lassalle glaubte, in ihm der reinen Wissen-
schaft, der Philosophie, einen Triumph bereitet zu haben,
geht aus seinem Briefe an den Geheimrat Johannes Schulze
hervor, der ein begeisterter Schüler Hegels war. „Es
handelt sich darum," schreibt er ihm, „die Fahne unseres
unsterblichen Meisters Hegel Schlag auf Schlag, es han-
delt sich darum, sie überall zum Siege zu führen." Und
weiterhin : „Gelingt es den Juristen nicht, diese beiden
Bände zu widerlegen — und ich glaube, daß ihnen das
unmöglich gelingen wird — , so bleibt ihnen wissenschaft-
lich nichts übrig, als sich auf Gnade und Ungnade an
die Philosophie zu ergeben und einzugestehen, daß sie
bisher auch nicht das geringste von ihrem eigenen Stoffe
verstanden."
Mehr auf den praktisch-politischen Zweck des Werkes
bezieht sich eine Stelle aus einem Briefe Lassalles an
Karl Marx vom Juli 1861. Marx hatte, als ihm von Las-
salle das Buch zugegangen war, zuerst dessen zweiten
Band gelesen, der vom germanischen und deutschen Erb-
recht handelt, und dies Lassalle gegenüber damit begründet,
daß dieser rechtshistorische Gegenstand ihm näher liege,
als der spezifisch rechtstheoretische Fragen behandelnde
erste Band. Darauf antwortet Lassalle, ob das richtig
sei, werde sich erst finden, nachdem Marx den ersten
Band gelesen haben werde. Abgesehen davon, daß alle
Paragraphen des ersten Bandes unerläßlich seien zur Er-
fassung des Systematischen des Werkes, — „liegen .
schreibt er :
„die §§ 7 und 10 keinem Menschen näher als Dir
gerade. Sie sind die beiden Hauptpfeiler des ersten Ban-
des, zu deren systematischem Nachweis, in Verbindung
mit § 1, ich mich eigentlich ursprünglich entschlossen hatte,
das ganze Werk zu schreiben, wie ich dann wieder mich
entschloß, den ganzen zweiten Band zu schreiben zum
systematischen Nachweis des §2a im ersten Bande.
Von den genannten Paragraphen nun behandelt § 7 den
begrifflichen und daran anschließend den tatsäch-
lichen Einfluß der zwingenden Gesetze auf erwor-
bene Rechte, die Frage der Entschädigung für auf-
gehobene Rechte und die Frage nach der Natur und Ein-
teilung der absoluten Gesetze. Er enthält die überaus geist-
reiche Zurückweisung der Versuche des konservativen
Rechtsphilosophen J. Stahl, erworbene Rechte für staats-
rechtlich unantastbar zu erklären, eine Zurückweisung der
Entschädigungstheorie des berühmten Juristen Savigny
durch den Nachweis der inneren Widersprüche dieser
Theorie, anschließend daran die Entwicklung der Grund-
gedanken einer von diesen Widersprüchen freien, dem Recht
der Revolution wie dem positiven Recht entsprechenden
eigenen Theorie der Entschädigung, sowie die lange Note
über den geschichtlichen Gang der Begrenzung der Sphäre
des Privateigentums, der Lassalle im Vorwort zu seiner
Schrift Herr Bastiat-Schulze von Delitzsch ein Stück mit
der Bemerkung entnimmt, es sei in gedrängter Zusammen-
fassung das Programm eines national-ökonomischen Wer-
kes, das er in svstematischer Form unter dem Titel ,, Grund-
linicn einer systematischen Nationalökonomie" damals zu
schreiben beabsichtigte. Die Note ist vom Schreiber dieses
in den Auszügen aus dem System der erworbenen Rechte
(Bd. III der „Vorwärts"- Ausgabe S. 791 ff.) als ein be-
sonderer Abschnitt unter dem Titel „Lassalles geschichts-
philosophisches Programm" gesondert abgedruckt worden.
Ob ihr dieser mir gerechtfertigt erscheinende Titel zu-
kommt, mag der Leser nun selbst entscheiden. Welchen
Wert Lassalle auf den § 7 legte, geht ferner aus dessen
Bemerkung in seinem Briefe vom 25. Dezember 1862
an Karl Rodbertus hervor, wo er von dem gleichzeitig
an diesen übersandten Exemplar des System etc. sagt :
„Ich schicke Ihnen dasselbe hauptsächlich wegen des
§ 7 des ersten Bandes. Sie, wenn Sie diesen Para-
graphen lesen, werden wissen, was damit erreicht und
gegeben ist !"
Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen bisher
prohibierte Willenshandlungen durch die Aufhebung der
sie prohibierenden Gesetze nachträglich Geltungs-
kraft erlangen können, die der § 1 0 des ersten
Bandes behandelt, ist, allein betrachtet, nicht von gleicher
Bedeutung wie der Inhalt des § 7. Aber da ihre Erörte-
rung, wie Lassalle schreibt, die begriffliche Gegen-
probe bildet für die Richtigkeit des im § 7 usw. Aus-
geführten, gehört sie sachlich noch zu diesem.
Der im § 2 a aufgestellte und eingehend erläuterte Satz,
„daß alle Erbschaft einen nicht durch den bloßen Willen
eines Dritten oder ein Naturereignis (Tod) eintretenden,
sondern einen auf der eigenen individuellen Willensaktion
des Erben beruhenden Erwerb" darstelle, leitet unmittelbar
zum zweiten Teil des Werkes über, der dem Nachweis ge-
widmet ist, daß dies der dem römischen Erbrecht zu-
grunde liegende und dem römischen Volksgeist, wie er
10
im Kultus der Laren und Manen zum Ausdruck komme,
naturgemäß wurzelnde Rechtsgedanke sei, auf den allein
sich das Rechtsinstitut des Testaments folgerichtig habe
ausbilden können. Es haben das die N^ionen, die das
Testamentsrecht später aus dem römischen Recht ent-
nahmen, meint Lassalle, vollständig übersehen, so daß
es bei ihnen eine „kompakte theoretische Unmöglichkeit'
darstelle.
Lassalle hat auf diesen Nachweis so großen Wert ge-
legt und ihm so umfassendes Studium gewidmet, daß man
es versteht, wenn er mit ihm eine bedeutungsvollere wissen-
schaftliche Leistung vollbracht zu haben glaubte, als mit
dem ersten Band. Und als geistige Leistung wird man
sie auch höher einschätzen dürfen. Der große juristische
Scharfsinn und die bestrickende Geschlossenheit im ge-
danklichen Aufbau der Theorie, von denen der erste Band
zeugt, begegnen uns auch im zweiten Band, der jenen je-
doch in bezug auf Quellenforschung und Feinheit der Ana-
lysen noch überragt. Ich kann auch heute nur wiederholen,
was ich 1893 von ihm schrieb: ,,In seiner Art ein gran-
dioses Werk." Indes, wie damals muß ich auch heute hinzu-
fügen : „Aber als Ganzes zugleich ein grandioser Irrtum.'
Als ein solcher ist er auch von Rechtshistorikern von
Fach hingestellt worden. So nannte ihn der sehr namhafte
Jurist und Verfasser des Werkes : „Der Zweck im Recht",
Rudolf von Jhering, als er kurz nach Erscheinen des
Buches dieses in der Preußischen Gerichtszeitung besprach,
„eine Verirrung der Spekulation" und beantwortete den
Versuch des Herausgebers jener Zeitschrift, gegen die spot-
tenden Bemerkungen in Jherings Kritik Lassalles wissen-
schaftliches Ansehen zu retten, mit den begütigenden Wor-
ten: „Auf den Klippen lassen sich nur die Gemsen und
Steinböcke, nicht die Schafe antreffen."
11
Aber die Kritik Jherings und anderer Rechtsgelehrten
geht auf Auslegungen des juristischen Stoffes durch Las-
salle, über die ich mir als Laie kein Urteil erlauben kann.
Daß Lassalle^sich leicht dazu verleiten ließ, einer Be-
weisführung zuliebe den Tatsachen Gewalt anzutun, und
in dieser Kunst Meister war, weiß jeder, der seine Schrif-
ten kennt. Indes nicht mit den Auslegungen der auf das
Erbrecht im einzelnen bezüglichen Institutionen des Römi-
schen Rechtes habe ich es zu tun. Was mir vor allem
verfehlt erscheint, ist der Ausgangspunkt der Lassalleschen
Untersuchung. Lassalle will nachweisen, daß das römi-
sche Erbrecht und seine Entwicklung zum Unterschied vom
germanischen Erbrecht in einem ganz besonderen Volks-
geist wurzeln, der zuletzt auf die von den Pelasgern über-
nommene Mythologie zurückgeht. So berechtigt es nun
ist, Rückwirkungen von Besonderheiten des Volksgeistes
im Recht des in Frage kommenden Volkes nachzuforschen
und, wo sich solche feststellen lassen, sie aufzudecken, so
schließt sich Lassalle den Weg zu überzeugenden Schlüs-
sen dadurch ab, daß er es bei dem aus der Mythologie ab-
geleiteten Volksgeist und Begriffen für die ganze, über
tausend Jahre währende Zeit der Entwicklung des Römi-
schen Rechtes bewenden läßt, die für die Entwicklung
des Rechtes so wichtige Frage der Rückwirkung der Ge-
sellschaftszustände des Volkes und ihrer Entwick-
lung auf sie dagegen gar nicht berücksichtigt. Zu welch
falschen, die Dinge geradezu auf den Kopf stellenden
Behauptungen er dadurch gelangt, ist vom Schreiber dieses
in der Schrift „Ferdinand Lassalle, eine Würdigung des
Lehrers und Kämpfers", Seite 114 ff., aufgezeigt, und
ich darf hier wohl auf das dort darüber Ausgeführte ver-
weisen. Wie wenig das römische Erbrecht von Grund aus
ein spezifisches Erzeugnis des besonderen römischen Volks-
12
geistes war, geht u. a. aus der Tatsache hervor, daß die
Intestat-Erbfolge, wie sie um das Jahr 450 vor unserer
Zeitrechnung die römischen Zwölftafelgesetze aufstellen,
in fast allen wesentlichen Punkten mit der 140 Jahre
früher in Athen von Solon festgesetzten und der auf tau-
send Jahre früher zurückgehenden mosaischen Gesetzgebung
übereinstimmt, und daß ferner die Germanen, als sie mit
den Römern in nähere Beziehung traten, in Verbindung
mit dem Aufstieg aus der Mittelstufe zur Oberstufe der
Barbarei gerade die Entwicklung vom Mutterrecht zum
Vaterrecht durchmachten, die zu einer jenem römischen
Intestaterbrecht durchaus ähnlichen Erbfolge führen mußte
und zum Teil sogar schon geführt hatte. So erben zur
Zeit des Tacitus bei den Germanen die Kinder vom Vater
und, wo keine Kinder vorhanden sind, die Brüder und
Onkel des Vaters (die „Agnaten" des römischen Rechtes),
zugleich aber auch die Brüder und Onkel der Mutter, was
erkennen läßt, daß die Epoche des Mutterrechtes, in der
diese beiden letzteren bei Kinderlosigkeit Erben sind, noch
nicht lange überwunden sein konnte.
Es muß nun zu Lassalles Entschuldigung gesagt wer-
den, daß der Zusammenhang der Entwicklung der Fa-
milie und des Familienrechtes mit der Entwicklung der
Wirtschaft und der auf ihr sich aufbauenden Kultur zu
seiner Zeit noch so wenig erforscht war, daß große Irr-
tümer in der Erklärung von Besonderheiten und Entwick-
lungen des Erbrechtes in der Geschichte verschiedener Völ-
ker unvermeidlich waren. Aber nicht daß er in Einzel-
heiten fehlgriff, macht die von Lassalle im zweiten Bande
entwickelte Theorie zu einem so großen Irrtum, sondern
daß er von Hause aus einen falschen Weg einschlug und
niemals, was doch dem Sozialisten so nahelag, bei der
Erörterung von Neuerungen im römischen Erbrecht dem
13
sozialen Bedürfnis nachforschte, das sie hervorgerufen
haben konnte, sondern seinen ganzen Scharfsinn darauf
verwandte, für die vorgefaßte Idee, daß das römische
Testament durchgehends in erster Linie der Willensfort-
setzung diene, Beweise zu finden.
In bezug auf das letztere sei indes bemerkt, daß, da
in Rom das Vaterrecht schon zur Zeit der Zwölftafel-
gesetzgebung völlig entwickelt, der Vater so sehr unbe-
schränkter Herrscher über Frau und Kinder war, daß
der ursprünglich nur den Besitz an Sklaven anzeigende
Ausdruck „familia auf das ganze, der Gewalt des Vaters
als Hausherrn unterstehende Personal des Hauses über-
ging, das römische Erbrecht in der Tat eine Willensüber-
tragung einschließt. Es wird beim Erbgang ein Herr-
schaftsrecht übertragen. Es mag daher, wenn auch beim
Wort heres = der Erbe, die erste Silbe lang, beim Wort
herus = der Herr sie aber kurz ist, trotzdem Lassalles
Vermutung, daß beiden Wörtern ein gemeinsamer Ur-
sprung zugrunde liege, nicht unbegründet sein, und der
Spott der Kritik darüber, daß er den Unterschied in der Be-
tonung der Silben ignorierte, mag für die Sache selbst nichts
besagen. Außerdem bleibt die Tatsache bestehen, daß die
Römer das Testament, wenn auch nicht erfunden, so doch
bis zur äußersten Konsequenz entwickelt haben, daß sie
ihm, wie freilich auch anderen Akten der Vermögensüber-
tragung, eine mit Kultusvorstellungen verbundene religiöse
Weihe gaben, und daß ferner ihr Testament mehr war als
eine bloße Vermögensübertragung, sondern mit dieser auch
die Übertragung von Kultus- usw. Verpflichtungen ver-
knüpfte. Aber nichts liegt vor, was als beweiskräftig dafür
gelten kann, daß das römische Erbrecht Willensübertra-
gung war, bei der die Feststellung der gewissermaßen
hypostasierten Willensunsterblichkeit die Hauptsache war
14
und die Vermögensübertragung als untergeordnet neben-
herlief, und alle Folgerungen, die Lassalle aus seiner dies
unterstellenden Theorie selbst ableitet oder andeutet, ver-
lieren ihre wissenschaftliche Begründung.
Für die praktischen Folgerungen, auf die es Lassalle
ankam, hatte das nun eigentlich herzlich wenig auf sich.
Denn ob das Testament, das heißt das Recht der freien
letztwilligen Verfügung, in der Gegenwart auf einem Miß-
verständnis des römischen Testamentes beruht oder nicht,
ist für die Frage, ob es durch Gesetz einzuschränken oder
ganz aufzuheben ist, oder ob testamentarisch überkommene
Rechtsansprüche als erworbene Rechte besonderer Art
zu respektieren sind, von keinem Belang. Die neuzeitliche
Gesetzgebung hat nirgends das testamentarische Erbrecht
oder das Erbrecht im allgemeinen als ein ganz außerhalb
der Sphäre des allgemeinen Gesetzes stehendes Rechts -
institut, sozusagen als Naturrecht behandelt, an dem nicht
getastet werden dürfe. Sie hat es immer nur als ein aus
bestimmten sozialen und ethischen Gründen möglichst von
Einflüssen der Laune des Tages frei zu haltendes Recht
behandelt. Daß aber auch solches Recht keine in alle
Ewigkeit geltenden erworbenen Rechte schafft und wie
die Fortentwicklung des Geistes gegen dahingehende Be-
strebungen zu schützen ist, zeigt eben der erste Band des
Werkes, und insbesondere dessen § 7, der vollkommen
für alle praktischen Zwecke ausreicht, für die Lassalle
den zweiten Band zu schreiben genötigt sein konnte.
Was Lassalle praktisch mit dem Werke wollte, hat
von denen, die es nicht persönlich von ihm erfahren hatten,
wohl niemand so klar ausgesprochen, wie Friedrich Albert
Lange, der unterm 23. September 1863 in der „Süddeut-
schen Zeitung" schrieb:
„Lassalles .Theorie der erworbenen Rechte — bei-
15
läufig gesagt nach meiner Ansicht eines der bedeutend-
sten Bücher der rechtsphiiosophischen Literatur -- ent-
hält alle Momente, aus denen eine Praxis der ent-
zogenen Rechte hervorgehen kann, für den Ver-
ständigen klar dargelegt."
In seiner vielgelesenen Schrift: „Die Arbeiterfrage",
nimmt Lange im Kapitel über Eigentum, Erbrecht und
Bodenrechte auf Lassalles ,, System" Bezug und erklärt,
daß dessen Ausführungen über die Gültigkeit erworbener
Rechte für die späteren Zeiten „gewiß als die relativ rich-
tigsten" werden anerkannt werden müssen. Und an seinen
Freund, den Philosophen Fr. Überweg, macht Lange un-
term 6. Februar 1865 Mitteilung von der „sehr inter-
essanten Entdeckung", daß „die Grundgedanken von Las-
salles System der erworbenen Rechte und manches andere,
was jetzt bei Gelegenheit der Arbeiterfrage auftaucht,
schon von Fichte 1793 in dem anonymen Schriftchen
über die französische Revolution sehr scharf ausgesprochen
wurden."
In der Tat beschäftigt sich Fichte in der Schrift, auf
die Lange anspielt und die den Titel hat „Beiträge zur
Berichtigung der Urteile des Publikums über die fran-
zösische Revolution" unter anderem mit der Frage der
erworbenen Rechte und entwickelt sehr umständlich, daß
nur dort von solchen die Rede sein könne, wo ein auf dem
individuellen Willen der Beteiligten beruhender Vertrag
vorliege, daß jedes andere Recht dagegen jederzeit ohne
Entschädigung aufgehoben, — „zurückgefordert" — wer-
den könne. Nur der eigene Wille verbindet, legt Fichte
dar, „ein fremder Wille verbindet nie" (Gesamtausgabe
von Fichtes Werken, Band 6, S. 113 und 164). Die
Übereinstimmung des Grundgedankens der Formel, in die
Lassalle den Begriff des erworbenen Rechtes, bzw. von
IG
Rückwirkung und Nichtrückwirkung kleidet, — vgl. diesen
Band, S. 119/121, — mit Fichtes Sätzen springt in die
Augen. Und wenn Fichte weiter (a. a. O. S. 170 ff.)
die Rechte der „unveränderten Geistigkeit" für „Urrechte
der Menschheit" erklärt, die „unveräußerlich" seien, so
sehen wir Lassalle genau in diesem Sinne ebenfalls gleich
im Abschnitt über den Begriff und seine Bewährung S. 124
Freiheit des Denkens und Wollens für „unantastbare
Grundbestimmungen" erklären, auf denen „alles Recht
überhaupt" beruhe, so daß es „keinem Gesetzgeber zu-
steht, die menschliche Willensfreiheit und Zurechnungs-
fähigkeit aufzuheben und den Geist als Sache zu setzen."
Fast wörtlich mit Fichtes oben zitiertem Satz stimmt Las-
salles Bemerkung auf Seite 128 überein, daß die Formel,
wonach erworbene Rechte von neuen Gesetzen unberührt
bleiben müssen, nur dann richtig sei, „wenn man unter
erworbenen Rechten schlechthin nur solche versteht,
die durch individuelle Willensaktionen erworben worden
sind."
Trotz dieser und anderer Parallelstellen mit Fichte-
schen Sätzen und obwohl man bei Lassalles bekannter
Vorliebe für Fichte fast sicher sein kann, daß ihm dessen
Schrift über die französische Revolution nicht entgangen
war, muß es doch dahingestellt bleiben, ob er wirklich
durch sie zu seinem Werke angeregt worden ist. Wenig-
stens erwähnt er ihrer mit keinem Wort, sondern spricht
immer nur von Hegel, den es auszubauen gelte. Außerdem
hat es ihm an Anregungen, sich mit der Frage der erwor-
benen Rechte eingehender zu beschäftigen, auch sonst nicht
gefehlt. Ganz sicher hat ihm zum Beispiel der Hatzfeldt-
Handel mit seinen vielen Rechtsstreitigkeiten, bei denen
das Rheinische Recht in Betracht kam, manche Veran-
lassung geboten, sich mit der Geschichte des Code Napo-
2 Lassall«, Ges. Schriften. Band IX. 1/
leon und der auf ihn bezüglichen Literatur der Franzosen
zu beschäftigen, wo das Kapitel des Ausschlusses der
Rückwirkung von Gesetzen eine große Rolle spielt. Es
muß auch anerkannt werden, daß Fichte im wesentlichen
bei rein rechtsphilosophischen Betrachtungen stehen bleibt
und nur selten ein geschichtliches Beispiel heranzieht, Las-
salle aber gerade die Verfolgung der Idee in der Geschichte
des positiven Rechtes zum Hauptgegenstand dieses
Teiles seiner Arbeit gemacht, für ihn ein ungeheuer reiches
stoffliches Material mit großem Scharfsinn zerglie-
dert hat. Immerhin bleibt die Übereinstimmung mit Fichte
in der Formulierung des Leitgedankens des Systems be-
merkenswert.
Die von Lassalle in dem Briefe an Franz Duncker
ausgedrückte Überzeugung, daß sein Werk eines Tages
den praktischen Juristen unentbehrlich sein werde, ist bis-
her nicht in Erfüllung gegangen. Es dürfte da wohl heute
noch zutreffen, was ich 1893 in der auch im vorstehenden
von mir benutzten Vorbemerkung zu den Auszügen aus
dem „System" hinsichtlich der Aufnahme dieses Werkes
schrieb :
„Trotz der großen Anerkennung, die es von Seiten ein-
zelner hervorragender Rechtsphilosophen gefunden, scheint
es sich, wie Plener in seinem sehr unparteiischen und die
Vorzüge des Werkes durchaus würdigenden Aufsatz über
Ferdinand Lassalle in der Allgemeinen Deutschen Bio-
graphie schreibt, „keinen dauernden Platz in der juristi-
schen Literatur erobert" zu haben. Von den Gründen,
die Plener dafür angibt, gereichen übrigens die wesent-
lichsten Lassalle durchaus nicht zur Unehre. Er verweist
auf die allgemeine Abneigung der Juristen gegen weit-
schichtige Konstruktionen, der gegenüber Lassaile mit
seinem logischen Absolutismus nicht aufkommen konnte.
18
Mit anderen Worten, die — im weiteren Sinne des Wortes
— konservative Denkweise der Juristen sträubte sich gegen
den philosophischen Radikalismus, den Lassalles Werk
atmet.
Der Ansicht Pleners steht die Bemerkung Lothar
Buchers im Vorwort zu der 1880 erschienenen zweiten
Auflage des „Systems" gegenüber, es werde, ,die Kolli-
sion der Gesetze' — dies der Untertitel des ersten Ban-
des des „Systems" — „keinem Praktiker mit wissenschaft-
lichem Sinn mehr fremd und entbehrlich sein.' Das ist in-
des so vorsichtig, man könnte sagen zweideutig ausgedrückt,
daß sich irgend ein Schluß auf den Rang, den das Werk
in der Rechtsliteratur heute einnimmt, nicht daraus ziehen
läßt. Dasselbe gilt von dem Satze Buchers, der sich an
den vorstehenden anschließt, und wo von der durch seine
Berufstätigkeit vereitelten Absicht Buchers gesprochen
wird, Belege davon beizubringen, wie das Werk, in der
Rechtsprechung und Literatur gewirkt haben mag ! So-
weit der Schreiber dieses vom Stand der Dinge unter-
richtet ist, glaubt er dieses orakelhafte „mag" dahin über-
setzen zu dürfen, daß das „System" bzw. der die Theorie
der erworbenen Rechte behandelnde erste Teil desselben
zwar verschiedentlich inoffiziell benutzt worden ist, aber
in keinem Gerichtshof offiziell anerkannt, in keinem auto-
ratives Gewicht hat. —
„Größere Anerkennung als bei den Juristen," heißt
es meinerseits weiter, „hat das .System' dagegen bei
Ökonomen gefunden, insbesondere bei den Kathedersozia-
listen. Wir haben oben bereits auf die Anerkennung und
Benutzung des .Systems' durch Friedrich Albert Lange
hingewiesen, der freilich bedeutend weiter links stand als
die Masse der Kathedersozialisten, immerhin aber ihnen
zugezählt zu werden pflegt. Ziemlich gleichzeitig mit Lange
19
hatte Schäffle dem Buch eine größere wissenschaftliche
Bedeutung zugesprochen, und Adolph Wagner hat, ohne
die Quelle zu verschweigen, in seiner ,, Grundlegung der
Volkswirtschaft" die Quintessenz der Lassalleschen De-
duktionen zur Basis einer „nationalökonomischen Theorie
der Enteignung" genommen. (Vgl. dazu Wagners Vorwort
zu den Briefen Lassalles an Rodbertus.)
Ob freilich Lassalle an Wagners Theorie große Freude
gehabt hätte, erscheint zweifelhaft, da Wagner in der Frage
der Entschädigung für entzogene Rechte dem theoretischen
Radikalismus Lassalles den Rücken kehrt und Kompro-
missen das Wort redet.
Lassalles System ist eine Versöhnung des positiven
Rechtes mit der Revolution nur in der Gestalt, daß es
dem ersteren die Notwendigkeit dartut, fortan im Geiste
der Revolution zu funktionieren. Daher der Mißerfolg
bei der Masse der praktischen Juristen. Daher aber auch
die wohlwollende Aufnahme bei radikalen Politikern und
Soziologen. Und daher, sei hinzugefügt, würde gerade in
der unmittelbaren Gegenwart das System der erworbenen
Rechte diejenige besondere Aktualität beanspruchen, die
Lassalle bei dessen Abfassung vorschwebte.
Deutschland befindet sich jetzt in der Revolution, und
seine Gesetzgeber stehen immer wieder vor Fragen, bei
denen sie sich darüber klar zu werden haben, ob sie be-
stimmte abzuschaffende Rechte noch als erworbene Rechte
zu behandeln oder als durch die Kundgebung des allge-
meinen Geistes schon prohibiert, also ohne Entschädigung
ablösbar zu betrachten haben. Es müßte dann gemäß den
Darlegungen Lassalles gegebenenfalls dem 9. November
1918 eine ähnliche Bedeutung zukommen, wie in der großen
französischen Revolution dem 14. Juli 1789.
Erfordernis ist dabei Übereinstimmung der Vertreter
20
der Revolution, beziehungsweise Vorhandensein einer
autoritativen Deklaration über den geschichtlichen Sinn
der Erhebung vom 9. November 1918. Über ihn gehen
nun freilich die Meinungen sehr auseinander, herrscht selbst
in der Sozialdemokratie nicht Einigkeit. Indes werden
solche Fragen auch nicht danach entschieden, was einzelne
Parteien in der Erhebung gewollt oder von ihr erwartet
hatten, sondern nach dem, was die N a t i o n in ihrer Mehr-
heit von ihr akzeptierte. Und da können als unzwei-
felhaft durch den 9. November 1918 in Deutschland pro-
hibiert erklärt werden das monarchistische Regie-
rungssystem und die mit ihm verbundenen dynastischen
Eigentumsrechte.
Vielfach haben denn auch die auf Grund des neuen
Rechtes gewählten gesetzgebenden Körperschaften bei den
vermögensrechtlichen Auseinandersetzungen mit den ab-
gesetzten Dynastien aus dem natürlichen Rechtsgefühl her-
aus nach ähnlichen Grundsätzen, wie Lassalle sie ent-
wickelt, zwischen ablösbarem und verfallenem Besitz un-
terschieden. Es sind aber noch Fälle unerledigt, bei denen
man mit Frucht Lassalles scharfsinnige Ausführungen
über die Theorie der Entschädigung wird benutzen können.
Einen anderen Verlauf als die deutsche Revolution hat
bisher die Revolution in Rußland genommen. Daher er-
scheinen einige Bemerkungen über ihre Behandlung unserer
Frage angezeigt.
Ob man mit Bezug auf die vermögensrechtlichen Maß-
nahmen der Bolschewisten Rußlands von irgend einem
leitenden Rechtsgedanken im Sinne von Lassalles Theorie
sprechen kann, erscheint mir zweifelhaft. Allerdings haben
auch sie bei ihren Expropriationen unterschieden. Aber sie
haben die Linie nicht danach gezogen, daß Rechte für
verfallen erklärt wurden und Eigentum kurzweg konfis-
21
ziert ward, weil sie zu Hemmungen der allgemeinen Ent-
wicklung geworden waren und ihrem Geist widersprachen,
sondern sie konfiszierten ohne Rücksicht auf die Ent-
wicklungshöhe des Landes zugunsten einer ausgedachten
sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft. Außerdem
stehen sie dem Lande nicht als anerkannte Vertreter des
allgemeinen Willens, sondern als erobernde Partei gegen-
über, die mittelst organisierter Gewalt jede Opposotion
darniederhält. Gleichviel wie man dies um des Zweckes
halber rechtfertigen mag, so ist so viel unabweisbar, ihr
Recht ist nicht der Ausdruck des Sinnes der russischen
Revolution selbst und bat daher mit dem revolutionären
Rechtsgedanken Lassalles nicht mehr zu tun als seinerzeit
das Recht der Spanier, die sich das Reich der Inca unter-
warfen.
Auch wenn das System der erworbenen Rechte auf
Wissenschaft und Praxis nicht diejenige Wirkung aus-
geübt hat, die sich Lassalle von ihm versprach, so ist es
darum doch nicht vergebens geschrieben worden. Nur als
Ganzes ist der zweite Band grandioser Irrtum, im ein-
zelnen enthält er sehr wertvolle Untersuchungen, die sicher-
lich nicht ohne fruchtbringende Wirkung geblieben sind.
Der erste Band aber kann noch heute nicht als überlebt
bezeichnet werden. Für eine revolutionäre Zeit ausgear-
beitet, können die in ihm niedergelegten Rechtsgedanken
bei wichtigen Entscheidungen der Gegenwart und Zu-
kunft dem Gesetzgeber und dem rechtverteidigenden
wie dem rechtsprechenden Gesetzesanwender die Leitung
geben. Glaube man nicht, daß es gleichgültig sei, wie in
einer revolutionären Epoche das Recht gehandhabt wird
und daß es der Gipfel radikalen Vorgehens sei, nichts als
die Macht, die man erobert hat, sprechen zu lassen. Das
Brutale ist nur scheinbar das Radikale, denn die Ge-
22
schichte und jetzt wieder die Gegenwart haben uns Bei-
spiele genug geliefert, wo die Politik der über jedes Recht
sich hinwegsetzenden Gewalt nur zerstörerisch gewirkt, nur
Elend im Gefolge gehabt hat. Radikal im politischen Sinne
ist aber nur, was zugleich schöpferisch wirkt, und schöp-
ferisches Wirken ist in großem Umfange nur dort möglich,
kann sich nur dort ersprießlich geltend machen, wo Recht
obwaltet. Was ich vor 27 Jahren am Schlüsse meiner Vor-
bemerkung zu den Auszügen aus dem System der erwor-
benen Rechte ausführte, kann ich daher hier nur wieder-
holen :
„Wie revolutionär man sich immer die Übergangsepoche
von der bürgerlichen zur sozialistischen Gesellschaft denken
mag, sie wird nicht die eines unvermittelten Sprunges von
der einen in die andere Gesellschaftsform sein, und wie
weitreichende Eingriffe in das Gebiet bisheriger Eigen-
tumsprivilegien man dabei auch voraussetzen mag, es werden
nicht die sinnlos waltender brutaler Gewalt sein können,
sondern der Ausdruck einer bestimmten, wenn auch neuen
und sich mit elementarer Kraft geltend machenden Rechts-
idee sein. Es wäre Wahnsinn, von einer plötzlichen, ge-
waltsamen Aufhebung allen Eigentums, von Annullierung
aller Rechtsbeziehungen zu träumen. Die Erörterung des
Grundgedankens einer Enteignungstheorie, und um eine
solche im weiteren Sinne handelt es sich in der Tat im
„System der erworbenen Rechte", die durchaus revolu-
tionär ist und doch zugleich dem positiven Recht gerecht
wird, kann daher auch für Parteigänger des revolutionären
Sozialismus keine verlorene Mühe sein.
Berlin-Schöneberg, April 1920.
Ed. Bernstein.
23
DAS SYSTEM
DER ERWORBENEN RECHTE
EINE VERSÖHNUNG DES POSITIVEN
RECHTS UND DER RECHTSPHILOSOPHIE
VON
FERDINAND LASSALLE
IN ZWEI TEILEN
ERSTER TEIL
DER ERSTE ABDRUCK ERSCHIEN
IM VERLAG VON F. A. BROCKHAUS, LEIPZIG 1861
DIE THEORIE DER
ERWORBENEN RECHTE UND
DER COLLISION DER GESETZE
UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG
DES RÖMISCHEN, FRANZÖSISCHEN UND
PREUSSISCHEN RECHTS
DARGESTELLT VON
FERDINAND LASSALLE
DER ERSTE ABDRUCK ERSCHIEN
IM VERLAG VON F. A. BROCKHAUS, LEIPZIG 1861
TpefOvtat jap rivrt? oi äv9pu>irivot v6|i.i}i Öico
ivb? toü 9iiou- tpaxei Y«|> toooötovj 6xo<jok
tOtXet xal sSapxei itä»i xai iwpiYlvstai.
HerakliL
Et ego in hoc omni sermone nostro , quod ad
cumque legis genus me disputatio nostra deduxerit,
tractabo, quoad potero , ejus ipsius generis jus
civile nostrum ; sed ita, locus ut ipse notus sit,
ex quo ducatur quaequc pars juris, ut non diffi-
cile sit, qui modo ingenio possit moveri , quae-
cumque nova causa consultatione acciderit, ejus
tenere jus, cum sciat a quo sit capite repetendum.
Cicero, De legg., II, 18.
MEINEM VATER
ZU SEINEM SIEBZIGSTEN GEBURTSTAGE
IN LIEBE UND DANKBARKEIT
GEWIDMET
VORREDE.
Wenn das nachfolgende Werk seine Aufgabe wahrhaft
gelöst haben soll, so kann und darf es in seinem letzten
Resultate nichts Geringeres sein, als die rechtswissenschaft-
liche Herausringung des unserer ganzen Zeitperiode zu-
grunde liegenden politisch-sozialen Gedankens. Diese Be-
hauptung kann im ersten Augenblick paradox, der Zu-
sammenhang eines rechtswissenschaftlichen Werkes, wel-
ches rein und streng als solches auftritt, mit dem politi-
schen Zeitgedanken unklar erscheinen. Die tiefere Not-
wendigkeit desselben ergibt sich nichtsdestoweniger schon
aus einer kurzen Betrachtung.
Was ist es, das den innersten Grund unserer politischen
und sozialen Kämpfe bildet ? Der Begriff des er-
worbenen Rechtes ist wieder einmal streitig
geworden — und dieser Streit ist es, der das Herz
der heutigen Welt durchzittert und die tief inwendigste
Grundlage der politisch-sozialen Kämpfe des Jahrhun-
derts bildet !
Im Juristischen, Politischen, ökonomischen ist der Be-
griff des erworbenen Rechtes der treibende Springquell
aller weiteren Gestaltung, und wo sich das Juristische
als das Privatrechtliche völlig von dem Politischen ab-
zulösen scheint, da ist es noch viel politischer als das
Politische selbst, denn da ist es das soziale Element.
Aber die bloße Notwendigkeit, hierauf erst noch hin-
zuweisen, zeigt nur, in welcher geistlosen Verflachung und
Oberflächlichkeit der Begriff des Politischen von den
29
Wortführern der liberalen Bourgeoisie gefaßt wird, und
ist nur ein Ausfluß hiervon. Die Isoliertheit, in
welcher die liberale Bourgeoisie das Politische auffaßt,
ist es, welche ihren Standpunkt und Geisteshorizont cha-
rakterisiert und die Natur ihrer Leistungen bedingt. Diese
Isoliertheit ist es, welche zugleich ihren politischen Dia-
triben jenen erstaunlich langweiligen, kannegießernden An-
strich verleiht ; sie ist es, welche sie zwingt, da sie nie-
mals von der Universalität des Geistigen eine Ahnung
erlangt und sich des politischen Inhaltes nur in jener toten
Abgerissenheit zu bemächtigen sucht, in welcher das Gei-
stige sein Leben und sein Verständnis eingebüßt hat, sich
an bloße Worte hinzuverlieren und auf Worten, m i t
Worten und für Worte zu kämpfen !
Dieser Wortkultus kann natürlich nicht umhin, zu einem
gänzlichen Verlust jedes Gedankeninhaltes und in dessen
Folge zu den ergötzlichsten Verwirrungen zu führen. So
gilt in Deutschland bekanntlich S a v i g n y , der Chef der
historischen Schule, als ein Hauptrepräsentant der reaktio-
nären Partei, während seine Prinzipien über die erworbenen
Rechte noch wahrhaft revolutionär und umwäl-
zend zu nennen wären neben der lächerlich widerspruchs-
vollen Stellung, welche von den Vertretern des Liberalis-
mus in der Rechtswissenschaft hierbei eingenommen wird.
Als ein Beleg dieses ergötzlichen Gegensatzes, als ein
köstliches Beispiel dieser händeringenden Verwirrung und
der komischsten Verstrickung in Widersprüche, die sich
mit jedem Schritte selbst aufessen, kann der Artikel „Haus-
gesetze" von Jordan in Rotteck und Welckers „Staats-
Lexikon" (l.Aufl., Altona 1839), dienen.
Eine wahrhafte Theorie der erworbenen Rechte wird
daher immer, ob sie dies bezwecke oder nicht, nur den-
selben Gedanken, welcher die bewegende und treibende
30
Seele der gesamten Zeitperiode bildet — wir nehmen
dieses Wort im Sinne der größten, umfassendsten Ab-
schnitte und der entscheidendsten Wendepunkte des Gei-
stes — , zur Wissenschaft erheben. Sie wird diesen
Gedanken zur vollendeten Sichselbstdurchsichtigkeit brin-
gen, ihn so aus seiner unmittelbaren, als Instinkt wirkenden
Form befreien und sich seiner in seiner wahrhaften Gestalt
und vollendeten Totalität bewußt werden. Sie wird ihn
eben deshalb auch als das nachweisen müssen, was schon
bisher der tätige, organische Bildungstrieb in der empiri-
schen Rechtswirklichkeit war. Dies steht in keinem Wider-
spruche zu dem Vorigen. Das Anbrechen einer neuen Zeit
besteht immer nur in dem erlangten Bewußtsein über
das, was die bisher vorhandene Wirklichkeit an sich ge-
wesen ist.
Gelänge es, wissenschaftlich nachzuweisen, daß der g e -
s a m t e bisherige Rechtsstoff, und zwar der praktisch wie
historisch vorhandene, seit seiner Entstehung zur Römer-
zeit, daß also das System des Rechtes selbst
einer ganz anderen und höheren Durchsichtigkeit fähig ist
als diejenige, welche ihm bisher gelang, so würde dann
hierdurch zugleich auch das wahrhafte wissenschaftliche
Symptom gegeben sein, daß die Rechtswirklichkeit im
Begriff ist, einer absolut entgegengesetzten Gestalt zuzu-
eilen. Denn zu ihrem bewußten Ausgangspunkte
das nehmend, was bisher, und seit ihren ältesten Grund-
lagen, nur ein unbewußt wirkender Trieb in ihr war, muß
sie vermöge der Konsequenz des sich in freier Bewußtheit
verwirklichenden Gedankens sich notwendig und in allen
ihren Grundlagen zu einem ebenso absolut entgegengesetzten
äußeren Bau gestalten, als sie innerlich in engster Konti-
nuität mit ihrer Vergangenheit steht. Es würde somit das
wissenschaftliche Symptom gegeben sein, daß innerlich
31
eine totale Umwandlungsperiode, die Zeit einer We 1 1 -
wende für die Rechtswirklichkeit eingetreten ist.
Es ist nicht unsere Absicht — und wäre, selbst wenn
wir es beabsichtigten, nicht einmal möglich — eingehender,
als hier geschehen, dies klarzulegen. Das wahrhafte Ver-
ständnis des Gesagten kann sich erst ergeben, wenn nach
der Lektüre des ganzen Werkes ein Blick auf diese Vor-
rede zurückgeworfen wird, wie denn jede Vo r r e d e für
den Autor vielmehr eine Nachrede ist, und es eben
kein günstiges Zeichen für das Werk selbst ist, wenn diese
Nachrede über das Verhältnis des Werkes zur Wissen-
schaft dem Leser verständlich und durchsichtig ist, ohne
daß er das Werk kennt. Denn es wäre dann hierdurch
jedenfalls schon der Beweis gegeben, daß durch das Werk
in dem inneren Bau der Wissenschaft nichts von Bedeutung
geändert ist.
Wir wenden uns daher einem anderen Punkte zu, dem-
jenigen, das notwendige Mißverhältnis anzudeuten, in wel-
chem der Titel dieses Werkes zu seinem Inhalt steht.
Das Werk enthält, sei es nun des Gelungenen, sei es des
Mißlungenen, jedenfalls unendlich mehr, als sein Titel
ahnen läßt, und wir nennen dieses Mißverhältnis ein not-
wendiges.
Wer eine Theorie der erworbenen Rechte schreiben
will, wird nämlich notwendig sehr bald entdecken, daß
dies Unternehmen nur ausführbar ist, wenn zuvor die ein-
zelnen positiven Rechtsinstitute selbst in ihrem
wahrhaften Wesen erkannt sind. Allein dies war bisher
keineswegs der Fall, und wir waren daher genötigt, auch
noch die eigenen Grundlagen und Vo raussetzungen
unseres Werkes in demselben aufzuführen. So mußten wir
die Institute des dolus und Zwanges, Irrtum und Unwissen-
heit, ignorantia juris und facti, Irrtum in der Substanz und
32
in den Motiven, die ädilizischen Klagen und die Kondik-
tionen, den Quasikontrakt und die negotiorum gestio usw.,
und vor allem das Erbrecht, zu ihrer begrifflichen Er-
kenntnis und Darstellung bringen, wenn es möglich sein
sollte, eine wissenschaftliche Theorie der erworbenen
Rechte zu entwickeln.
Es ist ein nur zu erklärliches Wunder, wenn bisher
von allen diesen Rechtsinstituten und von so vielen an-
deren kein einziges erkannt war. —
Es sind jetzt über vierzig Jahre her, daß Hegel die
erste Ausgabe seiner „Rechtsphilosophie" erschei-
nen ließ. Dies Werk konnte nach den gesamten Grund-
bedingungen seines Erscheinens als der erste Versuch,
das Recht als einen vernünftigen, sich aus sich selbst ent-
wickelnden Organismus nachzuweisen, zur wirklichen
Rechtsphilosophie .gar kein anderes Verhältnis einnehmen,
als etwa die allgemeine logische Disposition eines
Werkes zudem We rkeselbst. Hegel legte den Plan
des Werkes, er gab seine allgemeinsten Grundgliederungen ;
und wie beschaffen dieser Plan immer sei, es bleibt dies
ein großes und hinreichendes Verdienst für den ersten
Autor, der ohnehin bei der Universalität seiner Aufgabe
sich keiner Spezialmaterie ausschließender hingeben konnte.
Die nächste Aufgabe der Hegeischen Philosophie wäre nun
gewesen, die Disposition zum Werke auszuführen,
d.h. zunächst eine Philosophie des Privatrech-
te s zu schreiben und die gesamten realen und positiven
Institute desselben zu entwickeln. Hierzu ist nicht einmal
ein Versuch gemacht worden ! Es fehlte nicht an Rechts-
philosophien, aber man begnügte sich, die Hegeische
Rechtsphilosophie mit Abänderung, Verschiebung und in
der Regel Verschlechterung irgendeines Dütelchens und
Pünktchens zu wiederholen. Statt in den Reichtum des
3 Lassalle. Gm. Schriften. Band IX. 33
positiven Rechtsmaterials einzudringen und ihn begreifend
zu gestalten, statt die positive Rechtswissenschaft
selbst vom philosophischen Gedanken aus zu entwickeln
und zu erzeugen, begnügten sich die Philosophen, im
Himmel ihrer allgemeinen Redensarten der groben Erde
des realen Rechtsstoffes so fern wie möglich zu bleiben.
Sie begnügten sich, statt an das Werk selbst zu gehen,
die Hegeische Disposition zum Werke immer wieder zu
repetieren, jene dünnsten, allgemeinen Grundlinien, wie
Eigentum, Vertrag usw., immer von neuem abzuhaspeln.
So kam es, daß nicht einmal die schwächsten und nahe-
liegendsten Fortschritte gemacht, nicht einmal der Quasi-
kontrakt, die negotiorum gestio, geschweige denn die ädilizi-
schen Klagen, die Wirksamkeit und Unwirksamkeit des
Irrtums usw. erklärt wurden, weil dies bei Hegel nicht
geschehen war, so notwendig und unvermeidlich dies auch
für die Erkenntnis des Willensbegriffes selbst, des-
sen Entwicklung und Darstellung die Rechtsphilosophie
nur ist, gewesen wäre. Wir haben hierbei nicht Rechts-
philosophien vor Augen, wie z. B. vor kurzem eine von
Adolf Trendelenburg erschien. Solche Werke sind jeden-
falls, wie sie auch ausfallen mögen, die ungeheuere Ge-
dankenanstrengung, das Recht als eine vernünftige Tota-
lität in unabhängiger und eigentümlicher Weise zu be-
greifen, und können deshalb, wie Hegel selbst, bei ganz
allgemeinen Grundzügen stehen bleiben. Wir sprechen aus-
schließlich von den Hegelianern. Sie gerade, für welche
die philosophische Methode und die Auffassung des
Rechtssystemes überhaupt, sie, für welche sogar die ganze
Architektonik und Gliederung der Rechtsphilosophie eine
bereits von Hegel gegebene und aus ihm beibehaltene war,
— für sie gerade hatte es nur dann einen Sinn, eine Rechts-
philosophie zu schreiben, wenn sie sich zum Eindringen
34
in den positiven Rechtsstoff und in die Realität der In-
stitute des Privatrechtes, wenn sie sich zur philosophi-
schen Erzeugung der positiven Rechtswis-
senschaft entschlossen hätten.
Nichts von alledem geschah oder wurde auch nur ver-
sucht. Es ging der Hegeischen Philosophie in bezug auf
das jus, wie es ihr fast in bezug auf alle Fächer der realen
Wissenschaften, mit Ausnahme der Theologie und etwa
der Ästhetik, erging. Wenn man früher in der Natur von
einem horror vacui sprach, so herrschte allen Ernstes bei
den Hegelianern ein horror pleni, ein Grauen vor dem
positiven Stoffe und seiner unnahbaren Fülle, während
doch gerade nur aus dem konkreten Detail des Empirischen
die Wa h r h e i t erkannt werden, und auch nur in ihm die
Schärfe ihres Beweises finden kann. Freilich ist die empi-
rische Wissenschaft ein weit schwerer zu erlangendes und
auch ein weit unnachgiebigeres und somit in beiden Be-
ziehungen weit unbequemeres Element als der geschmeidige
Äther allgemeiner Redensarten. So ist e$ denn dahin ge-
kommen, daß — was der gute Genius der deutschen Nation
verhüten möge — aus der Hegeischen Philosophie selbst,
dieser Quintessenz aller Wissenschaftlichkeit, sich eine
neue literarische Schöngeisterei zu erzeugen, daß sie sich
in eine neue belletristische Geistreichigkeitsbrühe zu ver-
wandeln droht, die man den unbegriffenen und ungewußten
Dingen aufgießt !
Hegel selbst und seine Philosophie tragen hieran keine
Schuld. Auf allen Seiten seiner Werke hat Hegel stets
unermüdlich hervorgehoben, daß die Philosophie identisch
mit der Totalität der Empirie sei, daß die Philo-
sophie nichts so sehr erfordere, als die Vertiefung in die
empirischen Wissenschaften. Mit hohem Recht rief in
geistreicher Wendung ein Freund Hegels an dessen Grabe
s* 35
den Hegelianern zu : Alexander der Große sei tot, und es
sei jetzt Pflicht seiner Generäle, sich in sein Reich zu
teilen. Allein um sich in dies Universalreich zu teilen,
das von Hegel nur im allgemeinen in Besitz ge-
nommen war, hätten die Provinzen desselben nun im
einzelnen von den Generälen realiter erobert werden
müssen. Diese reale Eroberung unterblieb ; notwendig
konnte daher auch der allgemeine Besitzstand ebensowenig
auf die Dauer behauptet werden, wie von jenen Nach-
folgern Alexanders, und dies erklärt den Verfall und die
Mißachtung, in welche die Philosophie gegenwärtig ge-
raten ist. Ein bemerkenswerter Versuch wurde gerade in
Beziehung auf das Recht in der Tat gemacht. Wir mei-
nen das „Erbrecht" von Gans. Dieser Versuch war, wie
wir im zweiten Teile unseres Werkes sehen werden, noch
ganz abstrakt und verunglückt. Aber es war doch minde-
stens ein ernsthafter und realer, höchst anerkennenswerter
Versuch. Man hätte ihn nicht oft wiederholen, nicht in
ähnlichem Sinne sich auf andere Teile des Rechtsgebietes
einlassen können, ohne sich allmählich an der Festigkeit
des realen Stoffes zwangsweise auf den rechten Weg hin-
zustoßen. Allein es hatte hierbei sein Bewenden.
Hieraus erklärt sich das Verhältnis, das zwischen der
Rechtsphilosophie und der positiven Rechts-
wissenschaft notwendig eintreten mußte. Die Hegel-
sche Philosophie hat den Anspruch einer Versöhnung zwi-
schen Naturrecht und positivem Recht, den sie erhob und
zu dem sie das allgemeine Grundprinzip in der Tat in sich
enthält, keineswegs zur Erfüllung gebracht. Rechtsphilo-
sophen und positive Juristen fahren daher fort, in derselben
abstrakten und kaum voneinander Notiz nehmenden Stel-
lung fortzuexistieren, wie jemals vor Hegels Zeit, ja in
noch höherem Grade als in der Hegel selbst angehörenden
36
Periode. Denn es läßt sich nicht verkennen, daß sich z. B.
in Savignys Werken überall ein Einfluß und ein Trieb
philosophischen Denkens wahrnehmen läßt, wie er durch-
aus nicht in dieser Weise bei den meisten Späteren exi-
stiert. In dieser abstrakten Trennung voneinander war die
Stellung der Rechtsphilosophen und der positiven Juristen
natürlich gleichmäßig unerquicklich und notwendig resul-
tatlos. Hatten die Rechtsphilosophen, im Himmel der
allgemeinen Phrase stecken bleibend, das reale Reich des
Rechtes grundsätzlich aufgegeben und sich von ihm zurück-
gezogen, hatten sie sich hierdurch selbst genötigt, auch in
jenen allgemeinsten Grundlinien des Rechtes, die sie in
den Kreis ihrer Betrachtung zogen, in die abstraktesten und
falschesten Auffassungen zu verfallen, so blieben die posi-
tiven Juristen nach wie vor im empirischen Material als
solchem befangen und allen den zahllosen Täuschungen
hingegeben, in welche sich der Verstand, wenn er auf
Erkenntnis des Geistigen ausgeht, bei jedem Schritt mit
Notwendigkeit verstricken muß.
Nichtsdestoweniger erfordert die Gerechtigkeit, einzu-
gestehen, daß in dieser Trennung die Rolle der positiven
Juristen immer bei weitem die nützlichere war, wie sie
auch die geringere Schuld trifft. Denn als Vertreter des
Gedankens, welcher selbst das übergreifende Moment ist,
hatten die Philosophen eben deshalb auch die Pflicht, in
ihren Gegensatz überzugreifen, selbst zu positiven Juristen
zu werden und das Stoffliche aus dem Gedanken zu er-
zeugen. Den Vertretern des Stoffes dagegen konnte es
schon weit weniger verdacht werden, wenn sie das Behar-
ren auf sich selbst, diese Eigenschaft alles Stoffes, auch
hier zur Darstellung brachten. Selbst in dieser abstrakten
Trennung führten sie wenigstens noch Bausteine herbei,
brachten Material zusammen und leisteten vorbereitende
37
Dienste für spätere Erkenntnis. Der Stoff hat ohne den
Gedanken immer noch einen relativen Wert, der Gedanke
ohne den Stoff nur die Bedeutung einer Chimäre.
Und selbst alles, was zur Vergeistigung und Erkenntnis
des Rechtsstoffes in den letzten zwanzig Jahren etwa noch
geschehen ist, ist — man muß dies unverhüllt gestehen —
immer von den empirischen Gelehrten, den positiven Ju-
risten und Rechtshistorikern, nie von den Philosophen aus-
gegangen.
Die Impotenz, zu welcher diese gezwungen waren, kann
nicht wundernehmen. Die Philosophie kann nichts sein
als das Bewußtsein, welches die empirischen Wissen-
schaften über sich selbst erlangen. Dazu war somit vor
allem erforderlich, daß die Philosophen zuvor selbst zu
empirischen Gelehrten in diesen Fächern der Wissenschaft
wurden, denen sie zum Bewußtsein über sieh selbst ver-
helfen sollten. Mit Recht haben die positiven Juristen
nichts mit größerem Mißtrauen und größerer Gering-
schätzung betrachtet, als die Versuche apriorischen Kon-
struierens von Seiten solcher, die auf dem Felde dieses
positiven Wissens keineswegs zu Hause waren, die statt
in alle Rinnen und Furchen dieses Feldes eingelebt zu
sein und aus ihnen heraus die Flammen des Lichtes schla-
gen zu lassen, das Feld als solches durch ein flüchtig von
oben herabgeworfenes bengalisches Feuerwerk beleuchten
wollten, eine Beleuchtung, die in ihren flüchtigen und un-
gewissen Umrissen nichts anderes zeigt, als wie groß und
dunkel das Gebiet ist, das erleuchtet werden sollte.
Mit dem Erörterten hängt ein anderer Punkt von kapi-
taler Wichtigkeit zusammen.
Wenn die Rechtsphilosophen, statt, wie wir sagten,
immer nur die schon von Hegel vollbrachte logische Dis-
position des Werkes bloß zu wiederholen, dazu über-
38
gegangen wären, die Disposition zum Werke auszuarbeiten,
so würde hier, wie stets, gerade diese reelle Ausarbeitung
gezeigt haben, was an jener Disposition selbst falsch und
zu verändern sei. Hätten die Philosophen sich nicht darauf
beschränkt, bei den dünnen allgemeinen Grundlinien der
Hegeischen Rechtsphilosophie, Eigentum, Familie, Ver-
trag usw., stehen zu bleiben, wären sie dazu übergegangen,
eine Philosophie des Privatrechtes in dem oben angedeu-
teten Sinne einer philosophischen Entwicklung der kon-
kreten einzelnen Rechtsinstitute desselben zu schreiben, so
würde sich an dem bestimmten Inhalt dieser einzelnen
positiven Rechtsinstitute sofort herausgestellt haben, daß
mit den abstrakt-allgemeinen Kategorien von Eigentum,
Erbrecht, Vertrag, Familie usw. überhaupt nichts getan
ist, daß der römische Eigentumsbegriff ein anderer ist
als der germanische Eigentumsbegriff, der römische Erb-
tumsbegriff ein anderer als der germanische Erbtums-
begriff, der römische Familienbegriff ein anderer als der
germanische Familienbegriff usw., d.h. daß die Rechts-
philosophie, als in das Reich des historischen Geistes
gehörend, es nicht mit logisch-ewigen Kategorien zu tun
hat, sondern daß die Rechtsinstitute nur die Realisationen
historischer Geistesbegriffe, nur der Ausdruck
des .geistigen Inhaltes der verschiedenen historischen Volks-
geister und Zeitperioden, und daher nur als solche zu be-
greifen sind.
Wir haben unsere Ansicht über das in Rede stehende
Verhältnis, so viel daselbst bereits möglich war, gleich
im Eingang unseres Werkes, S. 137 fg. des ersten Teiles,
beiläufig erörtert ; wir haben es an der Verschiedenheit
des germanischen und römischen Eigentumsbegriffes flüch-
tig in der Note 1 zu S. 390 (vgl. Anwendungen sub Nr.
HB., und Tl. 2, S. 757—802) dargelegt; wir haben es
39
in bezug auf den Familienbegriff im zweiten Teile sub
Nr. XL und Nr. XXI fg., und S. 503, Note 1 ; wir haben
es endlich eingehend und erschöpfend an dem Erbtums-
begriff durch, den ganzen zweiten Teil dieses Werkes
nachgewiesen.
Erst durch die gesamte reale Darstellung desselben wird
zur Klarheit gebracht sein, was wir hier andeuten. Dann
wird aber auch plastisch und gestaltend durch das Bei-
spiel dieser Disziplin nachgewiesen sein, wie auch jene
Hegeische Disposition selbst, wie der gesamte Bau und
die Architektonik der Hegeischen Rechtsphilosophie voll-
ständig aufgegeben werden muß, und nichts von der Hegel-
schen Philosophie bewahrt werden kann, als ihre Grund-
prinzipien und ihre Methode, um die wahrhafte Rechts-
philosophie zu erzeugen, die dann mit der Rechtswissen-
schaft selbst identisch sein und zusammenfallen wird, wäh-
rend in ihrer jetzigen Trennung keine von beiden, weder
die Rechtsphilosophie noch die positive Jurisprudenz, auf
den Namen einer Wissenschaft wahren Anspruch machen
kann.
Das Hegelsche System, in der Form, die ihm Hegel
selbst gegeben hat, steht in bezug auf die Geistesphilo-
soph i e überhaupt überall in absoluter Inkongruenz zu
den eigenen Prinzipien und der Methode der Hegeischen
Philosophie. Dies in seiner Allgemeinheit zum wahrhaften
Nachweis zu bringen, würde die Sache eines neuen
Systems der Philosophie des Geistes sein,
welches wir eines Tages, falls die Zeit theoretischer Muße
— man kann sie heute nicht mehr mit Tacitus eine rara
temporum felicitas nennen — für die Deutschen niemals
aufhören sollte, vielleicht zur Darstellung bringen werden.
Bei dem gegenwärtigen Verfall, in welchen die Philo-
sophie und ihr Ansehen gerade dadurch geraten ist, daß
40
so viel in allgemeiner Weise und ins Allgemeine hinein
gesprochen worden ist, ist es besser und angemessener,
reale Theile, welche diesem System entflossen sind, dieser
allgemeinen philosophischen Grundlage vorauf zuschicken.
Ihren Beweis müssen sie auch in dieser Selbständigkeit
an sich haben.
Wohl aber folgt aus dem Vongen von selbst, daß die
totale Reformation der Hegeischen Philosophie, die wir
verlangen, und in dem gegenwärtigen Werke einstweilen
in bezug auf die Rechtsphilosophie angebahnt haben, ebenso
gut, wie sie sich negativ zum Hegeischen System verhält
und als ein anderes, als Hegels Philosophie bezeichnet
werden kann, ebenso gut auch noch als eine Entwicklung
der Hegeischen Philosophie selbst qualifiziert werden
muß.
Es ist immer dieselbe von Hegel getragene Fahne, die
nur auf einem anderen Wege zum Siege geführt werden
soll. Es sind immer die Grundprinzipien und die Methode
der Hegeischen Philosophie, die nur gegen Hegel selbst
recht behalten, gegen die mangelhafte Ausführung, die
das zufällige Subjekt in ihm dieser Methode gegeben hat
und bei dem ersten Versuch, ein Universalsystem des Ge-
dankens zu entwickeln, noch geben mußte. Es ist somit
im Grunde Hegel, der gegen sich selbst recht behält.
Es wird dies im zweiten Teile dieses Werkes noch viel
deutlicher als im ersten zur lebendigen Darlegung kommen.
Hegel hat, wegen unzureichender Bekanntschaft mit dem
Stoffe, dem Recht vielleicht häufig größeres Unrecht ge-
tan, als irgendeiner anderen Disziplin. Wenn er die römi-
schen Juristen als die Tätigkeit des abstrakten Ve r s t a n -
des auffaßt, so werden wir auf das positivste im ganzen
Verlauf des zweiten Bandes zum Nachweis bringen, wie
dies nur von unseren Juristen, von den römischen
41
aber das strikte Gegenteil gilt. Wir werden sehen, wie
ihre Tätigkeit vielmehr schlechterdings nur die des spe-
kulativen Begriffes ist, nur eine sich selbst nicht
durchsichtige und bewußte, wie dies ganz ebenso bei der
Tätigkeit des religiösen und künstlerischen Geistes der
Fall ist. Wir werden sehen, wie diese Tätigkeit sich in
ihnen auch mit der ganzen Unmittelbarkeit und Inbrunst
des religiösen Geistes vollzieht, und hieraus wird sich erst
der prinzipielle und überaus wichtige, auch das Verständ-
nis der ganzen mittelalterlichen Rechtsgeschichte bedin-
gende Unterschied zwischen den römischen und nachrömi-
schen Juristen verstehen lassen.
Oder wenn Hegel in dem römischen jus civile unge-
rechte und abscheuliche Institutionen findet, wenn er den
römischen Rechtsgelehrten und den Prätoren eine Inkonse-
quenz imputieren und sie an ihnen rühmen zu können glaubt,
wenn er es für einen callide gemachten leeren Wortunter-
schied hält, das, was doch auch Erbschaft war, eine
bonorum possessio zu nennen1) usw., so wird sich frei-
lich zeigen, daß nichts von alledem wahr ist, und daß
der Unterschied, statt ein leerer Wortunterschied zu sein,
vielmehr gerade der volle Unterschied des spekulativen
Begriffes ist.
Allein hiermit wird dann immer nur erwiesen sein, daß
die Hegeische Philosophie noch weit mehr recht hatte, als
Hegel selbst wußte, und daß der spekulative Begriff noch
weitere Gebiete und noch viel intensiver beherrscht, als
Hegel selbst erkannt hatte.
Mögen andere, so viel sie wollen, hervorheben, daß
diese totale Reformation, die wir in bezug auf das Recht
nun ebenso sehr wie in bezug auf jede andere Disziplin
x) Hegels „Rechtsphilosophie", 2. Ausg., S. 32, 236 fg.
42
des historischen Geistes in der Hegeischen Phi-
losophie für nötig halten, eine Negation der Hegel-
schen Philosophie ist, was auch in der Tat nicht bestritten
werden kann, — wir unsererseits werden immer daran fest-
halten, daß diese Negation zugleich die eigene aus der
Hegeischen Philosophie hervorgegangene und allein konse-
quente Gestalt derselben ist.
Erst durch diese eigene Reform seiner selbst wird,
wovon der zweite Teil ein für sich vollendetes Beispiel
gewähren soll, das philosophische Denken die positiven
Wissenschaften reformieren und mit sich ausgleichen kön-
nen, die in ihrer Trennung von dem philosophischen Be-
greifen nur die Wahl haben, in welchen von mehreren
Irrtümern sie verfallen wollen. Philosophische und histo-
rische Betrachtung in diesem Sinne werden gänzlich mit-
einander zusammenfallen.
Von der Rechtsphilosophie in diesem eben entwickelten
Sinne, in welchem sie mit der positiven Rechtswissen-
schaft identisch ist, haben wir versucht, einige hauptsäch-
liche Teile zu schreiben. Sie ganz zu schreiben, wäre
weder Sache eines Mannes, noch einer Produktion. Wohl
aber haben wir überall, so weit es nur irgend die notwen-
digen Grenzen dieses Werkes zuließen, die Grundlagen
für die philosophische Erfassung auch jener Institute, die
in demselben keiner besonderen Behandlung unterworfen
werden konnten, zu legen gesucht. Der Fortbau anderer
auf dieser Bahn wird uns der freudigste Beweis für die
Wirksamkeit unserer Arbeit sein.
Zwar verkennen wir nicht, wie mißlich es ist, eine so
totale Reformation der Wissenschaft anstreben zu wollen
in einer gänzlich unautoritätischen Stellung. Wir haben
kein Katheder, von dem herab wir sprechen und das un-
seren Worten äußeren Nachdruck verleihen könnte. Der
43
Zunft der Wissenschaft — und sie bildet in Deutschland
eine solche, wie schon Bunsen, wie schon Niebuhr dies
wußte — gehören wir nicht an. Allein es muß bereits
dahin gekommen sein, daß der einzige Titel die Leis-
tung, und die einzige Autorität die Wahrheit ist.
Zudem liegt gerade in der realen Bestimmtheit des Posi-
tiven selbst, wenn es in dem wahrhaften konkreten Reich-
tum seines Details gefaßt wird, die Schneide des Be-
weises, der Zwang für die Überzeugung und somit das
sichere Unterpfand des Sieges. Wir haben das, wie wir
uns zum eigenen Tröste erinnern, vor drei Jahren, freilich
in einem scheinbar weit abliegenden Gebiete, im Gebiete
der Altertumswissenschaften, an uns selbst erfahren. Selbst
Stockphilologen, von denen wir dies niemals erwartet hät-
ten, erklärten sich zu unserer Überraschung mit den dort
gewonnenen Resultaten einverstanden, denen sie ihrer gan-
zen ' Richtung nach feindlich gegenüberstanden. Es war
der Zwang, der in der Bestimmtheit des Einzelnen und
Realen liegt, welcher dies bewirkte. Dieselbe Methode
wird, soweit ab das gegenwärtige Feld der Wissenschaft
dem damaligen zu liegen scheint, auch dasselbe Resultat
nach sich ziehen müssen. Ja, selbst das Fernliegen der
beiden Felder der Wissenschaft voneinander, der Alter-
tumswissenschaft und der Rechtsphilosophie, ist, wie sich
in unseren Untersuchungen selbst vielleicht sehr fühlbar
machen dürfte, nur Schein, und nie ist uns die Ein-
heit aller Wissenschaft mit größerer Andacht zum Be-
wußtsein gekommen, als während der Ausarbeitung dieses
Werkes.
Berlin, 27. März 1861.
Ferdinand Lassalle.
44
VORWORT ZUR ZWEITEN AUFLAGE.
Obwohl bei seinem Erscheinen von der Tagespresse
spröde aufgenommen, ist „Das System der erworbenen
Rechte" allmählich in so viele Hände gelangt, daß eine
neue Aullage erforderlich geworden ist. Daß das Werk
sich den Eingang in die Bibliothek des Gelehrten, des
Rechtslehrers wie des Altertumsforschers, erzwingen
würde, war mit Gewißheit vorauszusehen ; aber auch kei-
nem Praktiker mit wissenschaftlichem Sinne wird „die
Kollision der Gesetze" mehr fremd und entbehrlich sein.
Belege davon beizubringen, wie das Werk in der Recht-
sprechung und in der Literatur gewirkt haben mag, nach-
zuweisen, wie es in den Gesetzberatungen der letztver-
flossenen zehn Jahre hätte benutzt oder erprobt werden
können, das wäre der geeignetste Dank für die freundschaft-
liche Gesinnung gewesen, in welcher der Verfasser mir
das literarische Eigentum seiner Schriften vermacht hat ;
und in diesem bescheidenen Maße seine große Arbeit zu
ergänzen und ihren Inhalt den nur mit den Tagesereignissen
beschäftigten Lesern näher zu bringen, habe ich beab-
sichtigt und begonnen, jedoch neben meiner, nur selten
dieses Gebiet streifenden Berufstätigkeit nicht durchführen
können.
Andere Erwartungen Lassalles freilich, wissenschaft-
liche und politische, die einen in der Vorrede ausge-
sprochen, die anderen an vielen Stellen, namentlich im
ersten Bande, durchleuchtend, haben sich nicht erfüllt.
45
Es gibt und gab wohl schon, als er schrieb, keine Hege-
lianer mehr, welche nun die anderen Rechtsgebiete so,
wie er das Erbrecht, hätten bearbeiten können. Und so
richtig auch seine Ahnung war, an der Schwelle einer
neuen Zeit zu stehen, so hat doch die Geschichte Deutsch-
lands nicht die Entwicklung genommen, welche er bei der
Abfassung dieses Werkes vorherzusehen und vielleicht
durch dasselbe zu fördern glaubte. Ein ohne mein Zutun
veröffentlichter Brief, abgedruckt unter anderem in der
„Germania" vom 18. Juli 1878, den ich, damals Privat-
mann, ihm am 22. Januar 1862 geschrieben habe, läßt
erkennen, welches Ziel er damals noch im Auge hatte.
Hätte er den heutigen Tag erlebt, so würde unsere in-
nere Geschichte ihn vielleicht zu einer weiteren Ausfüh-
rung des Gedankens veranlaßt haben, daß es einem Volke
recht schwer werden kann, sich selbst, seine „Substanz",
zu erkennen. Wenn er auch nur den März 1871 gesehen
hätte, so würde er wahrscheinlich seine Behandlung der
französischen Revolution durch eine Betrachtung darüber
bereichert haben, daß sich mit Sicherheit nur aus einem
weiten Abstände das Geschehene unter die historischen
Geistesbegriffe einordnen und sagen läßt, ob einem Volke
in einer bestimmten Phase „das Richtige zum Bewußt-
sein gekommen ist," und daß nicht jede Zerstörung eines
symbolischen Gebäudes einen Bastillesturm bedeutet und
einen 4. August im Gefolge hat. Sicherlich würde er nicht
die Feder gegen das deutsche Schwert geführt und nicht
die Pariser Kommune für ,,die endlich entdeckte Form,
kraft deren man zur Emanzipation der Arbeit gelangen
wird," erklärt haben.
An einem seiner Gesellschaftsabende, gern besucht von
Männern wie Boeckh, Pfuel und Friedrich Förster, hielt
ich ihm aus dem Kopfe einen Satz Lessings entgegen. Ich
46
habe mich erst jetzt überzeugt, daß mein Zitat nicht ganz
wörtlich war ; aber so, wie ich es gab, schickt es sich
wohl zum Abschluß dieser Zeilen :
,,Es hat zu allen Zeiten Menschen gegeben, welche
richtige Blicke in die Zukunft taten, und nur diese
Zukunft nicht erwarten konnten. Wozu die Ge-
schichte sich Jahrhunderte Zeit nimmt, das soll in
dem Augenblicke ihres Daseins reifen."
Berlin, im August 1880.
L. Buch er.
47
INHALTSVERZEICHNIS DES ERSTEN
TEILES.
Seite
I. EINLEITUNG
II. DIE THEORIE
I. Der Begriff und seine Bewährung 117
§ 1. Die Formel und der Begriff 117
II. Der Begriff und sein Umfang 160
§ 2. Der Umfang der Willenshandlungen 160
A. Erb- und Familienrecht ; Personenrepräsen-
tation 161
B. Ungewollte Handlungen, dolus, Zwang, ech-
ter und unechter Irrtum, ignorantia juris et
facti. Die ädilizischen Klagen und die Kon-
diktionen 165
C. Der Quasikontrakt ; negotiorum gestio . . . 206
D. Usukapion 217
E. Unterlassungen. Klagverjährung; obligatio
naturalis und civilis. ■ — Erleichterndes Ge-
setz ; Beweisförmlichkeiten und Formen für
das Dasein eines zivilen Willens 219
III. Der Begriff und seine Konsequenzen 256
§ 3. Die nachträgliche Ergreifung. Rechtshängigkeit.
Novation. Urteil und Vergleich 256
§ 4. Das Optionsrecht 261
§ 5. Das Einspruchsrecht 262
§ 6. Neue Willensäußerungen. Fristen. Umänderung
von Pfandrechten ; von Testamenten. Rückkauf.
Emphyteuse. Rentenkontrakt. Widerruf von
Schenkungen. Unterschiede 267
§ 7. Absolute Gesetze. Begriffliche Einwirkung auf
erworbene Rechte. Aufhebung ohne und mit
48
Seite
Entschädigung. Auflösung des Entschädigungs-
scheines. Das begriffliche Prinzip des Unter-
schiedes. Beispiele. Französische und preußische
Gesetze. Die Grund Steuerfreiheit. Die beiden
Klassen von absoluten Gesetzen und ihr be-
grifflicher Unterschied. Wuchergesetz ; lex com-
missoria. Die Pandektentheorie 303
§ 8. Absolute Gesetze. Exceptio rei in Judicium de-
ductae und rei judicatae. Unterschied der obliga-
torischen und dinglichen Rechte 445
§ 9. Absolute Gesetze. Auflösung der Formel von
den vollbrachten Tatsachen. Der Besitz und
sein Wesen. Juris quasi-possessio. Der Personen-
zustand 450
§10. Absolute Gesetze. Konvaleszenz durch
Fortfall derselben. Unterschied von materiel-
ler wie formeller Prohibition. Der begriff-
liche Unterschied von faktischer und rechtlicher
Veränderung. Unterschied in den Wirkungen. Die
Ratihabition und die Auflösung ihrer sogenann-
ten Ausnahmen in den Unterschied des Begriffs 457
§11. Absolute Gesetze. Ziviler und naturaler Wille.
Konvaleszenz durch erleichternde Formge-
setze (Fortfall formeller Prohibitivgesetze)
bei willkürlich-revokabeln Akten ; Testa-
ment 493
§ 12. Absolute Pflicht der sofortigen Einwirkung neuer
Gesetze. Die Rechtsidee. Strafrecht. Res iudi-
cata in Strafsachen 508
§13. Schlußbetrachlung. örtliche Kollision der
Gesetze 524
III. ANWENDUNGEN
I Personenzustand und Handlungsfähigkeit 536
II. Jura in re 565
A. Pachtrecht 565
B. Familienfideikommisse des deutschen Rechtes . . . 573
4 Lae.alle. C« Schuften. BacJ IX. 49
Seite
III. Obligationen aus Delikten. Aquilische Culpa und
Culpa bei Verträgen. Die römische Obligationen-
einteilung 611
IV. Uneheliche Kinder 622
V. Interpretierende Gesetze; Gesetze über Simulation;
rechtliche Sanktion von Sittengesetzen ; Abrogation
von Gesetzen als notwendige Konsequenz anderer er-
lassener Gesetze ; Aufhebung von Gesetzen verbis aut
f actis. Die Konventgesetze vom 5. Brumaire und 17.
Nivöse II. Die preußische Verfassung und das könig-
liche Obertribunal 628
VI. Das Erbrecht in formell-juristischer Hinsicht .... 670
A. Rechtliche Natur des Testamentes 670
B. Form des Testamentes 677
C. Persönliche Fähigkeit des Testators
rücksichtlich seiner Rechtsverhältnisse . . . 680
a) Faktische Veränderung . 680
b) Rechtsveränderung 682
D. Persönliche Fähigkeit des Testators
in bezug auf seine physischen Eigen-
schaften 692
a) Faktische Veränderung 693
b) Rechtsveränderung 696
E. Inhalt des Testamentes 704
F. Persönliche Fähigkeit des Honorierten 705
G. Die Zeit des Erwerbes und die Intestaterbfolge 711
50
I.
EINLEITUNG
Seit je hat die Frage nach der Rückwirkung der Ge-
setze, oder richtiger : die Frage nach den zeitlichen Gren-
zen in der Anwendung der Gesetze für eine der schwierig-
sten und verwickeltsten, aber auch für eine der wichtigsten
des gesamten Rechtsgebietes gegolten. Gleich große Klip-
pen drohten von beiden Seiten. Von der einen Seite stand
alle Rechtssicherheit, Eigentum wie Freiheit der Bürger
in Gefahr, wenn es den Gesetzen gestattet sein sollte, auf
früher entstandene Rechtsgeschäfte und Rechtsverhältnisse
einzuwirken, und diese Gefahr trieb an, sich auf das stärkste
gegen sie zu verwahren. ,,La retroactivite", ruft Benjamin
Constant aus *). ,,est le plus grand attentat que la loi puisse
commettre ; eile est le dechirement du pacte social, eile est
l'annullation des conditions en vertu desquelles la societe
a le droit d'exiger l'obeissance de l'individu ; car eile lui
ravit les garanties quelle lui assurait en echange de cette
obeissance qui est un sacrifice. La retroactivite ote ä la
loi son caractere ; la loi qui retroagit ti'est pas une loi."
Und in dem Bestreben, sich von dieser Klippe zu ent-
fernen, geriet man in die Gefahr, an der entgegengesetzten
nicht weniger verderblichen zu scheitern und das gesamte
Lebensrecht eines Volkes, das Recht des allgemeinen Be-
wußtseins auf seine eigene Entwicklung und Entfaltung
dem aufzuopfern, was man für das erworbene Recht des
einzelnen ausgeben wollte. So kam es, daß selbst die
merkwürdige Ansicht möglich ward, als hätten neue Ge-
*) Monit. du 1 juin 1828, p. 755.
53
setze keinerlei Recht, auf bestehende Rechtsverhältnisse
irgendwie Einfluß auszuüben, wonach mindestens in sehr
umfangreichen Gebieten dem Gesetzgeber jede Einwirkung
auf die lebenden Generationen benommen und auf die künf-
tigen noch ungeborenen Geschlechter beschränkt ward. Ja,
in strenger Konsequenz hiervon wurde bei gewissen In-
stituten, z. B. den Lehen, ernsthaft gelehrt, daß alle unter
bestimmten Gesetzen verliehene Lehen für alle Zukunft
der Einwirkung jedes noch so späten Gesetzgebers ent-
zogen bleiben und lediglich die zur Zeit ihrer Verleihung
geltenden Gesetze für sie maßgebend sein müßten1), wenn
sich der Gesetzgeber nicht den Vorwurf der Rückwirkung
zuziehen wolle.
So wurde unter der feierlichen Formel eines an sich
richtigen, aber theoretisch nicht bewältigten und darum
jeder falschen Anwendung ausgesetzten Prinzipes der dem
Leben und seiner lebendigen Ernährung und Entwicklung
gehörige Boden des Volkes zu einer großen Gräberstadt
geweiht. Die lebendigen Geschlechter wurden wie der
unterirdische abgeschiedene Geist behandelt, welchem die
Erde und ihr Recht der Wirklichkeit nicht mehr angehört
und den abgeschiedenen Geistern dagegen der Raum und
die Sphäre des Daseins zugesprochen, welche die Existenz-
bedingung und Entwicklungsstätte des Volkes bilden.
Jener von Benjamin Constant so energisch ausgedrückte
Gedanke : „die Rückwirkung raubt dem Gesetz seinen Cha-
rakter ; ein Gesetz, welches rückwirkt, ist kein Gesetz
mehr," führte in seiner Konsequenz zu der Ansicht, die
Nichtrückwirkung als eine solche naturrechtliche Regel
aufzufassen, über welche Bestimmungen zu treffen nicht
-1) Götze, Provinzialrecht der Altmark (Magdeburg 1836)
I. 11 fg-
54
einmal in der Kompetenz des Gesetzgebers gelegen
sei. Struve1) formuliert dies dahin, daß die Regeln über
die Anwendung neuer Gesetze ausschließlich aus der vom
Richter jedesmal zu erkennenden Natur der Sache, niemals
aus positiven Gesetzen hergenommen werden dürfen, wes-
halb er alle transitorische Gesetzgebung als unstatthaft ver-
wirft. Savigny2) meint, daß Struve mit dieser Ansicht,
durch welche das Verhältnis des Richters zu dem Gesetz-
geber völlig verkannt werde, ganz allein stehe. Letzteres
ist indessen bei genauerer Betrachtung nicht der Fall.
Denn der Grundgedanke von Struves Ansicht ist offenbar
eben nur der bereits hervorgehobene, daß der Gesetzgeber
selbst nicht die Machtbefugnis habe, gegen den Grundsatz
der Nichtrückwirkung als einen naturrechtlich gültigen zu
verstoßen, und daß deshalb dieses Prinzip noch außerhalb
des Kreises der gesetzgeberischen Einwirkung zu stellen
sei. Diese Ansicht ist aber von vielen geltend gemacht
worden, besonders in der Form, daß der Grundsatz der
Nichtrückwirkung in die Ve rfassungen aufzunehmen
und durch diese Sanktion gegen jede Beeinträchtigung sei-
tens der gesetzgebenden Gewalt zu sichern sei. So behauptet
Felix Berriat-Saint-Prix in seiner Theorie du droit consti-
tutionnel francais3), daß die Konstitution von 1848 besser
*) Über das positive Rechtsgesetz rücksichtlich seiner Aus-
dehnung in der Zeit (Göttingen 1831), S. 6, 30-34, 153 fg.
2) System des h. R. R., VIII, 405.
8) Paris 1851, Nr. 736 u. 737. La puissance legislative
elle-meme ne peut depouiller un citoyen des droits qui com-
posent son patrimoine ; eile ne peut le grever d'une charge
qui diminuerait sa fortune .... Le principe de la non-retro-
activite domine toute la legislation. II etait mr'eux ä sa place
dans la loi constitutionnelle que dans le Code civil, loi secon-
daire, qui a pour objet special de regir le patrimoine des
particuliers.
53
getan hätte, dem Art. 2 des Code civil *) in sich Raum zu
geben, und in der Tat wurde, als das zweite Kapitel der
Konstitution von 1848, welches die von der Konstitution
garantierten Rechte der Bürger enthält, in der französischen
Nationalversammlung zur öffentlichen Diskussion kam, von
Herrn Dabeaux ein derartiges Amendement gestellt, von
anderen warm verteidigt2), und nur durch Nebeneinwände
von Herrn Odilon Barrot beseitigt3). Andere Konstitu-
tionen haben diesen Grundsatz wirklich sanktioniert. Die
der Konstitution vom 5. Fruktidor III (22. August 1795)
vorangeschickte Deklaration der Rechte bestimmt in Art.
14: „Aucune loi, ni criminelle, tti clvile, ne peut avoir
d'effet retroactif"4)-
1) ,,La loi ne dispose que pour l'avenir; eile na point
d'effet retroactif."
2) ,,Voulez-vous," rief Herr Demante in jener Sitzung aus,
als man darauf hinwies, daß dieses Prinzip schon im Code
civil seine Stelle gefunden habe, ,, reserver au legislateur
le pouvoir d'inserer dans une loi une disposition retrospec-
tive? Ne le voulez-vous pas ? II faut que vous disiez dans
la Constitution quaucune loi ne peut etre retroachve. Vous
ne trouvez pas cela dans le Code civil. Le Code civil vous
dit : la loi n'a pas d'effet retroactif. Mais le Code civil ne
s occupe pas des pouvoirs du legislateur" usw.
3) Herr Odilon Barrot wandte ein, daß das Prinzip nicht
absolut sei, weil günstige Gesetze rückwirken müßten. Diese
Antwort war keine ernsthafte, weil sie den streitigen Punkt gar
nicht traf. Denn es herrscht allgemeines Einverständnis darüber,
daß auf Gesetze von lediglich günstiger Natur der Grundsatz
von der Nichtrückwirkung überhaupt keine Anwendung findet.
Der Art. 2 des Cod. civ. hat die französischen Tribunale nie-
mals gehindert, solche Gesetze, auch wenn sie nichts Spezielles
hierüber vorschrieben, auf frühere Tatsachen anzuwenden.
4) Es liegt auf der Hand, daß eine solche konstitutionelle
Vorschrift in ihren Folgen auf die eine Seite der Struveschen
Ansicht hinauslaufen würde. Denn wenn nun der Gesetzgeber,
56
Schon die der Konstitution vom 24. Juni 1793 einver-
leibte Erklärung der Menschenrechte enthält in Art. 14
den für die wilde Energie jener Epoche charakteristischen
Ausruf: ,,1'effet retroactif donne ä la loi serait un crime,'1
allerdings nur in bezug auf das Straf recht1) ; aber Merlin
wenigstens behauptete später, in der Sitzung vom 5. Floreal
III (24. April 1795), also freilich erst zu einer Zeit, wo
die Wogen der Thermidorreaktion bereits hoch gingen,
daß nach der ursprünglichen Absicht des Konstitution -
komitees diese Bestimmung sich ebenso auch auf das Ge-
biet des Zivilrechtes habe beziehen sollen, und dies nur
durch die derselben von Herault de Sechelles gegebene und
von seinen Kollegen im Komitee gemißbilligte Redaktion
vereitelt worden sei2).
Auch die Verfassung der Vereinigten Staaten von Nord-
sei es mit Absicht, sei es, daß ihm dies entgangen wäre, ein
Gesetz erließe, welches nach wissenschaftlichen Grundsätzen
eine wirkliche Rückwirkung darstellt, so würde der Richter
durch die Verfassung verpflichtet sein, einem solchen Gesetze
die Anwendung zu versagen.
*) Der Zusammenhang ist : La loi qui punirait des delits
commis avant qu'elle existät, serait une tyrannie ; 1'effet retro-
actif etc.
2) „L'article de la declaration des droits," sagt Merlin,
..qu'on vous a cite fut presente par Herault au comite de
Constitution, redige comme il lest. On trouva cette redaction
mauvaise, on dit qu'elle semble ne s'appliquer qu'aux lois
penales et on l'ajourna. Malgre l'improbation de ses collegues
Herault vint ici faire adopter cette redaction." Es handelte
sich in dieser Sitzung darum, das Gesetz vom 17. Nivose II
über die Erbschaften, welches rückwirkend über die seit dem
14. Juli 1789 anerfallenen Erbschaften verfügt hatte, zurück-
zunehmen, und Merlin erzählt, wie er von Anfang an gegen
dieses Gesetz gewesen sei und sich im Komitee vergeblich auf
den Art. 14 der Declaration des droits berufen habe.
57
amerika enthält in Art. 1, Abschn. 9, die Bestimmung § 3 :
„Es soll keine bill of attainder und kein Gesetz mit
rückwirkender Kraft (ex postfacto law) erlassen
werden."
Ebenso verfügt die norwegische Verfassung ganz allge-
mein §97: „Keinem Gesetze darf rückwirkende Kraft
gegeben werden."
Von dem bereits angezogenen Art. 2 des Cod. civ. kann
nicht bezweifelt werden, und gilt auch in der französischen
Jurisprudenz unbestritten, daß er nur eine Anweisung für
den Richter, nicht für den Gesetzgeber enthalten soll.
Gleichwohl verdient bemerkt zu werden, daß in dem Ex-
pose des Motifs, welches der Regierungsredner Staatsrat
Portalis in der Sitzung vom 4. Ventose XI (23. Februar
1803) gab, die Bestimmung des Art. 2 nicht als aus
der Absicht, sondern ausdrücklich als aus der Grenze
der Machtbefugnis des Gesetzgebers hervorgehend
bezeichnet »wird. ,,La tete dun grand legislateur," sagt
Herr Portalis, „est une espece d'Olympe d'oü partent ces
idees vastes, ces conceptions heureuses qui president au
bonheur des hommes et ä la destinee de l'Empire. Mais
le pouvoir de la loi ne peilt s' eJendre^sur des choses qui
ne sont plus et qui par lä meme, sont hors de tout pouvoir."
Die angeführten französischen Konstitutionen legen da-
durch, daß sie den in Rede stehenden Grundsatz der Er-
klärung der Menschenrechte einverleiben, deutlich an den
Tag, daß sie denselben als einen naturrechtlichen und weder
dem positiven Rechte entflossenen noch durch dasselbe
antastbaren auffassen. Es würde vielleicht scheinen können,
als ob dies nur in der großen Gunst seinen Grund habe,
welche das „droit naturel" in jener Epoche genoß. Aber
auch die älteren Gesetzgebungen pflegen in dieser Weise
zu verfahren, daß sie bei der Konsakrierung jenes Grund -
58
satzes denselben nicht als eine Verfügung hinstellen,
sondern vielmehr als eine aus der Natur der Sache not-
wendig hervorgehende und von selbst gültige Regel aner-
kennen.
So der älteste auf uns gekommene gesetzgeberische Aus-
spruch dieser Regel, die Verordnung des Kaisers Theo-
dosius vom Jahre 440 1):
,,Leges et constitutiones futuris certum est dare for-
mam liegotils, non ad facta praeterita revocari, nisi no-
minatim et de praeterito tempore et adhuc pendentibus
negotiis cautum sit."
Savigny 2) macht bereits darauf aufmerksam, wie in dem
,, certum est" schon die Präexistenz obiger Regel aner-
kannt sei. Er hätte dafür besonders noch die Verordnung
des Kaisers Anastasius anführen können, welche damit
schließt: ,,quum conveniat leges futuris regulas imponere,
non praeteritis calumnias extitare'ci). Denn in dem calum-
nias excitare liegt sehr deutlich ausgesprochen, daß an-
dernfalls das Gesetz eine rechtswidrige Kränkung
den vergangenen Handlungen zufügen würde. Aus jenem
„certum est" folgert Savigny, daß es also nur zufällig sei,
wenn uns nicht Aussprüche dieser Regel aus älterer Zeit
aufbewahrt worden. Er zieht in dieser Hinsicht noch die
zweite Rede Ciceros in Verrem, I, c. 42 an4), wo diese
!) L. 7 C. de legibus (I, 14).
2) System, VIII, 394.
3) L. 65 C. de Decurionibus et filiis eorum (X, 31).
4) Verres hatte durch eine Fälschung — indem er „fecit,
fecerit" statt ,,fecerit" gesetzt hatte — der Lex Voconia rück-
wirkende Kraft gegeben. Cicero sagt gegen ihn : „Fecit, fe-
cerit ? Quis unquam edixit isto modo ? quis unquam ejus rei
fraudem aut periculum proposuit edicto, quae neque post edic-
tum, neque ante edictum provideri potuit ? Jure, legibus, auc-
toritate omnium qui consulebantur, testamentum P. Annius fe-
50
Regel als eine von jeher unzweifelhaft gültige1) hinge-
stellt sei. Die älteste noch erhaltene Schriftstelle aber,
die hierüber angeführt werden kann und in welcher wir
bereits die Definition des Theodosius : „leges futuris cer-
tum est dare formam negotiis" nicht nur in frappanter
Ähnlichkeit vorgebildet finden, sondern auch mit
scharfer Begriffsbestimmung begründet sehen, — eine
Stelle, die merkwürdigerweise stets und selbst in den bei-
den ebenso gelehrten wie vortrefflichen Werken von
Voigt2) und von Hildenbrandt3), die sich eigens mit dem
Einfluß der griechischen Philosophie auf das römische
Recht beschäftigen, übersehen worden ist, — ist in dem
„Theaetet" des Piaton zu treffen. Sokrates kommt da-
selbst, obwohl nur beiläufig, auf den Begriff des Staates
und des Nützlichen zu sprechen, und sagt hierauf zu Theo-
dorus4): „Aber was jeder Staat nützlich nennt, das sucht
cerat, non improbum, non inofficiosum, non inhumanum. Quod
si ita fecisset, tarnen post ilhus mortem nihil de testamento
illius novi juris constitui oporteret. Voconia lex te videlicet
delectabaf? Imitatus esses ispsum illum Q. Voconium, qui
lege sua hereditatem ademit nulh neque virgini, neque mulieri ;
sanxit in postemm, qui post eos censores census esset, nequis
heredem virginem neve mulierem faceret. In lege Voconia non
est : Fecit, Fecent ; neque in ulla practeritum tentpus repre-
henditur."
*) Cicero nimmt jedoch bereits eine wichtige von Savigny
unbeachtet gelassene Einschränkung derselben an, denn nach
reprehenüitur fährt er fort : „nisi ejus rei, quae sua sponte
scelerata ac nefaria est, ut etiam si lex non esset, magno opere
vitanda fuerit."
2) Die Lehre vom jus naturale etc. (Leipzig 1856).
3) Geschichte und System der Rechts- und Staatsphilosophie
(Leipzig 1860).
4 Theaetet., p. 178 A., p. 177, ed. Stallb. : 2Q. >A1Z o
av xovxo övojudfy], zovxov b\]nov aioxdCstai vo/no&erovjuevrj,
60
er auch bei seiner Gesetzgebung zu treffen, und alle Ge-
setze, soviel er nämlich irgend kann und weiß, erläßt er
als die für ihn nützlichsten. Oder sieht er auf irgend
etwas anderes, indem er Gesetze gibt?" — Theodorus :
„Keineswegs." — Sokrates : „Trifft er es nun auch immer,
oder verfehlt nicht jeder Staat gar auch vieles ?" — Theo-
dorus : „Ich glaube, daß sie auch verfehlen." — Sokrates :
„Ferner würde von hier aus besonders gewiß jeder das
nämliche zugeben, wenn man nach der ganzen Gattung
fragte, zu der auch das Nützliche gehört. Es be-
zieht sich nämlich allemal auf die künftige Zeit. Denn
wenn wir Gesetze geben, so geben wir sie als
solche, die nützlich sein sollen für die nach-
herige Zeit. Dies aber nennen wir doch richtir* die
Zukunft"1)-
xal nävxag rovg vojuovg, xad* öoov ol'exai re xal övvaxat, wg
dxpeXtjUOJxdxovg eavxij xi&exai. t) Tigög aXXo xe ßXenovoa vo/uo&e-
xeixai; 0EO. Ouda/ucog. 2Q. *H ovv xal xvyyavei äel, t) noXXd
xal dialuaoxävet exdoxty, QEO. Oljuai e'ycoye xal öiauaoxdveiv.
2Q. "Ext xotvvv IvdevÖe äv juäXXov nö.g xig öjuoXoyrjoete xavxä
cavxa, et neol navxog xig xov el'öovg eoojxqji], ev a> xal xö
dxpeXtf.iov xvy%dvet öv. eoxi de nov xal neol xbv jueXXovxa
XQÖvov. öxav yäg vo^iodexcoueäa, tag eoouevovg cbqjeXijuovg
xovg vöjuovg xtde^ieda elg xov enetxa %q6vov. xovxo de ulXXov
ug&cög äv Xeyoiuev.
1) Der Gedankengang Piatons hierüber wäre also etwa
dieser : Die Gesetze haben die Hervorbringung von
Nutzen zu ihrem Zweck. Das Nützlichste als etwas, das
erst erzeugt werden soll, liegt seinem Begriffe nach in der
zukünftigen Zeit. Folglich können sich ihrem Begriffe nach
die Gesetze immer nur auf das Gebiet der Zukunft, nicht auf
das der Vergangenheit erstrecken. Gesetze also, welche sich
auf die Vergangenheit zurückwenden, würden ihrem Begriffe
zuwiderhandeln, weil sie, ehe sie vorhanden waren, auch nie-
mandem haben nützen können.
61
Alle diese Aussprüche, der des Kaisers Theodosius
wie der Ciceros und Piatons, stimmen wiederum darin über-
ein, daß sie den Grundsatz von der nur auf die Zukunft
wirkenden Kraft der Gesetze als eine von selbst gültige
innere Notwendigkeit anerkennen, Piaton überdies noch
denselben kurz aus dem antiken Begriff der Gesetzgebung
entwickelt. Und wie die Alten und die französischen Kon-
in der Tat liegt hierin ein wesentliches, wenn auch nur ein-
seitiges Moment der Sache.
Wir werden später sehen (im § 1 der Theorie), daß und
warum der griechische Geist der erste ist und sein muß,
welcher den Gedanken der Nichtrückwirkung produziert.
Hier wollen wir nur noch darauf aufmerksam machen, daß
mit dem hier von Piaton explizierten Staatsbegriff, welcher der
antike Staatsbegriff überhaupt ist, d.h. bei der An-
schauung, daß die Gesetze erlassen sind um Nutzen her-
vorzubringen, der Gedanke der Nichtrückwirkung, wie die
platonische Argumentation selbst zeigt, in weit unmittel-
barerer Weise gegeben ist, als bei der modernen Anschau-
ung der Gesetze, welche dieselben als Urteilsnormen, als
Normen des allgemeinen Bewußtseins auffaßt. Denn
wenn die Gesetze objektive Selbstdarlegungen des allgemeinen
Geistes sind, Normen, die er aus sich und für sich
setzt, so ist jetzt noch nicht gegeben, warum diese Selbst-
definitionen des allgemeinen Bewußtseins, zumal sie, solange
der historische Geist sein Wesen in ihnen ausgedrückt fin-
det, fürihn den Wert von logischen Gedankenbestimmungen
haben müssen, nicht auf alles Sein, welches auch der Zeit-
punkt seiner Entstehung sei, den Inhalt ihres normativen Denkens
und Urteilens erstrecken sollten. Siehe hierüber § 1.
Was hier von seiner inneren Wurzel aus aufgezeigt worden
ist, fällt dem Resultate nach zusammen mit der häufig kur-
sierenden sehr äußerlichen Auffassung der Gesetze, daß sie
nur Anweisungen für den Richter zum Urteilen ent-
halten und mit der ebenso äußerlichen hieran geknüpften For-
derung, daß der Richter nur die Gesetze seines Landes
resp. seiner Zeit zu hören habe.
62
stitutionen hat auch der landrechtliche Gesetzgeber sich
dieser Anerkennung nicht entziehen können. Das Publi-
kationspatent zum Allgemeinen Landrecht vom 5. Februar
1794 erklärt in § VIII : „So wie überhaupt ein
neues Gesetz auf vergangene Fälle nicht ge-
zogen werden mag, so soll dieser Grundsatz auch
bei der Anwendung des gegenwärtigen Landrechtes be-
obachtet und dabei im allgemeinen nur auf die §§ 14 — 29
der Einleitung vorgeschriebenen Bestimmungen Rücksicht
genommen werden." Es wird also hier mit ausdrücklichen
Worten ausgesprochen, daß diese Regel auch ohne die
gesetzgeberische Sanktion durch ihre eigene Notwendigkeit
bestehen würde. Es wird eine Unmöglichkeit, die Sache
selbst durch positive Vorschrift anders anzuordnen, aner-
kannt.
Wie es sich nun mit dieser, wie sie ziemlich allgemein
aufgefaßt wird, naturrechtlichen Gültigkeit jener Regel in
der Tat verhält, wird sich später bei der Entwicklung der
Theorie von selbst ergeben.
Hier interessiert uns zunächst die Tatsache, daß so
einverstanden, wie wir sahen, alle Welt über das Prinzip
selbst ist, so schwankend und widersprechend die Mei-
nungen über seine Anwendung sind. Die Schwierigkeit
scheint somit zunächst nicht in dem Grundsatz selbst und
seinem Verständnis, sondern vielmehr in der Frage zu
liegen, in welchen Fällen und Rechtsgebieten derselbe
platzzugreifen und nicht platzzugreifen hat. Da aber die
Beantwortung dieser Frage wieder nur aus der inneren
Natur des Grundsatzes selbst wird abgeleitet werden kön-
nen, so sind wir hierbei wieder im Kreise zur Diskussion
des Gegensatzes und seiner Bedeutung zurückgeworfen1).
*) Darum ist auch durch die Sanktionierung dieses Grund-
satzes in Konstitutionen nur wenig gewonnen. Denn es ist nir-
63
Die Gesetzgeber freilich ließen sich, wo sie von dem-
selben abweichen zu können oder zu müssen glaubten, von
unmittelbarem Rechtsgefühle oder von bestimmten spe-
ziellen Zwecken von Billigkeits- oder politischen Rück-
sichten leiten. Eine weit schwierigere Stellung hatten die
Richter, wo ein Gesetz ohne besondere Verordnung rück-
wirkender Kraft erlassen war und nun dennoch die An-
wendung desselben auf frühere Rechtstatsachen oder deren
Folgen begehrt wurde. Denn hier mußte dann auf die innere
Natur des Grundsatzes und seine sich aus ihr bestimmende
Wirksamkeit eingegangen werden. Da es dem juristischen
Takte nicht entgehen konnte, daß jener Grundsatz trotz
seiner absoluten Berechtigung doch in seiner Anwendung
nicht von absoluter Ausdehnung auf alle Fälle sei, half
man sich damit, Ausnahmen von ihm zu statuieren
und die Lehre von demselben in eine Kasuistik aufzulösen.
— Wie mißlich und unwissenschaftlich dieser Notbehelf
war, liegt auf der Hand. Die in der Ausnahme vor-
handene Beschränkung des Grundsatzes ergab sich ent-
weder aus der eigenen inneren Natur desselben, oder sie
ergab sich nicht aus dieser. Im ersteren Falle lag gar
keine Ausnahme vor, denn die Grenze eines Gegen-
standes ist vielmehr seine bestimmteste Form. Die
aus ihm selbst hervorfließende Grenze eines Gedanken-
prinz ipes ist somit, als seine bestimmte Selbst-
formierung, seine eigenste Wirksamkeit und
Selbstbetätigung. Gerade an seiner Grenze wäre
der Grundsatz zu erkennen gewesen ! — Floß aber um-
gekehrt die Einschränkung des Grundsatzes nicht aus
ihm selbst hervor, sondern wurde sie ihm von außen, etwa
durch andere Regeln, gesetzt, so war sie ein unversöhnter
gends der Grundsatz selbst, sondern überall nur sein Inhalt
und seine Bedeutung im Streit.
64
Einbruch in sein rechtmäßiges Gebiet und eine Ver-
letzung seiner unantastbaren Gültigkeit1). Ebenso unwis-
senschaftlich aber wie dieser Notbehelf in theoretischer
Hinsicht, ebenso mißlich, unzuverlässig und täuschend zeigt
er sich in der Praxis. Daher jene schwankenden und sich
auf das schreiendste widersprechenden Entscheidungen der
Gerichte, deren in keinem Rechtsgebiete so zahlreiche und
sich so schneidend entgegenstehende vorliegen wie bei der
uns beschäftigenden Frage2).
*) Wir werden später sehen, daß dieses Prinzip in der Tat
keine Ausnahme hat noch haben kann, und daß, wo, um
in der bisher üblichen Ausdrucksweise zu reden, eine Rück-
wirkung der Gesetze gerechtfertigt ist, gar keine wirkliche,
sondern nur eine scheinbare Rückwirkung vorliegt.
2) Besonders die französische Jurisprudenz ist wegen der
lebhafter bewegten Geschichte der französischen Gesetzgebung
hierin von großem Interesse. Ihre Schwankungen und Wider-
sprüche sind so groß, daß Herr Blondeau, professeur suppleant
ä la Faculte de droit ä Paris, in einer Dissertation sur l'effet
retroactif des lois (inseriert in der Jurisprudence de la Cour
de Cassation, T. IX, Part. II, p. 278 sqq.) sich dadurch zu
dem Wunsche treiben läßt, es möge lieber der Gesetzgeber
durch spezielle Bestimmungen die transitorische Wirkung jedes
neuen Gesetzartikels regeln ,,que de voir subsister l'arbi-
traire auquel nous sommes livres aujourd'hui!" Die bare Un-
möglichkeit der Erfüllung eines solchen Wunsches erhellt auf
den ersten Blick. Eine gesetzgeberische Kasuistik dieser Art
wäre nicht nur völlig unausführbar, sondern auch ewig unzu-
reichend, da bei jedem Rechtsgebiet und bei jedem einzelnen
Gesetzartikel wieder die mannigfachsten Kollisionen durch das
Hineingreifen anderer Rechtsgebiete und konkreter Fälle ent-
stehen können. Die Entscheidung dieser Frage wird also immer
nur der Wissenschaft anheimfallen, wenn auch der Ge-
setzgeber die allgemeinen leitenden Gesichtspunkte derselben
mit seiner Autorität bekleiden könnte. — Was übrigens Herrn
Blondeau betrifft, so wirft ihm Merlin (Repert. de Jurisprud.
5 Laesalle. Geo. Schriften. Ban.l IX. 65
Der französische Arretist Sirey und in Deutschland
die Herausgeber der Heidelberger Jahrbücher (Januar
1811, §41) haben positiv erklärt, daß sie es für eine
Unmöglichkeit hielten, jemals bestimmte allgemeine Prin-
zipien für die Entscheidung dieser Frage zu formulieren.
Nach verschiedenen Vorgängern, von denen die haupt-
sächlichsten bei ihm selbst aufgeführt werden, brachte end-
lich der große Meister des römischen Rechtes, Savigny,
einen äußerst bedeutenden Fortschritt in unsere Lehre,
welche er im achten Bande seines Systemes des heutigen
Römischen Rechtes (S. 368 — 540) einer ausführlichen
Darlegung unterzog.
Savigny erhebt sich bereits mit großer Bestimmtheit,
wenn auch auf Grund einer anderen Deduktion als der
obigen, gegen das schlechte Auskunftsmittel, die rück-
wirkende Kraft neuer Gesetze als eine Ausnahme von
dem Grundsatz der Nichtrückwirkung eintreten zu lassen *).
v° Eff. retr., Sect. III, § II, Art. 9) zu viel „Metaphysik"
vor. Die Franzosen verfahren mit diesem Vorwurf in der son-
derbarsten Weise! Bei uns würde man Herrn Blondeau das
krasseste und vulgärste Gegenteil zur Last legen. Eine kurze
Angabe seiner Art zu Werke zu gehen wird dies hinlänglich
klarlegen. Herr Blondeau löst alle Rechte und Rechtsverhält-
nisse in bloße Erwartungen auf und läßt sich dann auf
die faktische Erwägung ein, ob für den Gesetzgeber hin-
reichend starke Gründe vorliegen können, diese Erwartungen zu
täuschen !
*) Savigny, a. a. O-, S. 374 : „Wo ein so bedenklicher ein-
schneidender Erfolg zu erwarten wäre, der sich dann durch
den Versuch einer strengen Durchführung von selbst als un-
möglich darstellen würde, pflegt man dadurch abzuhelfen, daß
man Ausnahmen des angeblich allgemeinen Grundsatzes be-
hauptet. Aber eben diese Abhilfe durch bloße Aus-
nahmen ist es, die hier völlig verworfen werden
muß, welches unten ausführlich dargetan werden wird." Und
66
Er selbst beseitigt diesen Ausnahmenbehelf dadurch, daß
er die Rechtsregeln in bezug auf unseren Gegenstand in
zwei Gattungen einteilt, in solche, welche sich auf den
Erwerb der Rechte (d.h. auf die Verbindung eines
Rechtsinstitutes mit einer einzelnen Person), und in solche,
welche sich auf das Dasein der Rechte (d.h. auf
das Sein oder Nichtsein, oder auf das So- oder Anderssein
eines Rechtsinstitutes) beziehen1). Nur bei der ersten
S. 518: „Ausnahmen von dem Grundsatz der Rückwirkung haben
eine zufällige Natur, sind an sich entbehrlich und würden bes-
ser gar nicht vorhanden sein. Dies alles paßt auf die
hier in Frage stehenden Gesetze gar nicht. Wenn wir diese
unbefangen betrachten, so müssen wir uns sogleich überzeugen,
daß in Beziehung auf sie jene Auskunft durchaus gezwungen
ist und den Gesetzen einen Sinn aufdrängt, der ihnen völlig
fremd ist." Er zeigt nun, daß z. B. ein Gesetz, welches die
Leibeigenschaft aufhebt, nach jener Ausnahmetheorie, in konse-
quent durchgeführter Fassung so lauten müsse : ,,Es wird hier-
durch verboten, künftig eine Leibeigenschaft zu errichten, auch
soll diese Vorschrift ausnahmsweise rückwirkende Kraft haben,
so daß sogar auch die jetzt bestehenden Verhältnisse der Leib-
eigenschaft aufgehoben sein sollen." Das sei nun aber ganz
sinnlos. Denn da seit langer Zeit niemand mehr daran gedacht
habe, eine Leibeigenschaft oder ein Zehentrecht neu zu be-
gründen, so sei dadurch eine ganz unnütze Vorschrift als Haupt-
gedanke an die Spitze des Gesetzes gestellt, und es wäre als
beiläufige Ausnahme das hinzugefügt, welches allein der Ge-
setzgeber dachte und wollte. — Diese Beweisführung ist ver-
ständig und scharf genug, aber der innerste Punkt der Sache
bleibt dabei unberührt. Savigny wäre diesem näher gekommen,
wenn er sich bei dieser Materie dessen erinnert hätte, was er
bei der allgemeinen Erörterung des wissenschaftlichen Rechtes
über das Verhältnis von Regel zu Ausnahme gelegentlich äußert,
I, 47 (c): „. . . ja das, was wir hier Ausnahme nennen, ist
eigentlich nur die Anerkennung einer unvollkommenen
Regelf assung."
]) Savigny, a. a. O., S. 375 fg.
s* 67
Gattung von Rechtsregeln solle der Grundsatz platz-
greifen :
Neuen Gesetzen ist keine rückwirkende Kraft beizu-
legen.
Neue Gesetze sollen erworbene Rechte unberührt lassen.
Für die zweite Gattung dagegen solle der entgegenge-
setzte Grundsatz gelten :
Neuen Gesetzen dieser Klasse ist rückwirkende Kraft
beizulegen.
Neue Gesetze dieser Klasse sollen erworbene Rechte
nicht unberührt lassen x).
Die Savignysche Theorie genoß lange, sowohl infolge
der großen Autorität ihres Urhebers, als wegen des nicht
zu verkennenden Richtigen, welches seiner Unterscheidung
zugrunde liegt, eine fast unbeschränkte Geltung, und es
scheint uns daher Pflicht, schon hier an der Schwelle
unserer Untersuchung im allgemeinen kurz darzulegen, was
wir unsererseits an der Savignyschen Arbeit auszusetzen
haben, und weshalb auch sie ihr Ziel, einen Abschluß
dieser Lehre zu bewirken, keineswegs erreicht hat.
Die ersten Einwürfe, die Savigny gemacht werden müs-
sen, sind rein theoretischer Natur. Savigny beseitigt durch
seine Einteilung der Rechtsregeln in zwei feste Klassen,
von denen auf die eine der Grundsatz der Nichtrückwir-
kung, auf die andere der Grundsatz der Rückwirkung An-
wendung finden soll, allerdings die Notwendigkeit, in den
Fällen der Rückwirkung zur Statuierung von Ausnahmen
seine Zuflucht zu nehmen. Allein damit nun diese zwei-
gliedrige Einteilung eine Theorie im wahren Sinne des
Wortes sei, wäre noch erforderlich gewesen, sowohl den
Grundsatz der Nichtrückwirkung wie den der Rückwirkung
1 ) Savigny, S. 373 und 517.
68
auf eine höchste Rechtsidee zurückzuführen. Dies
geschieht nicht. Man erfährt schon nicht, auf welcher
obersten Rechtsidee der Grundsatz der Nichtrück-
wirkung beruht; er ist in keine solche zurückgebogen1).
Ferner würde zum Dasein einer Theorie erforderlich
sein, daß beide Grundsätze, sowohl derjenige, der be-
stimmt, wo die Anwendung des neuen Gesetzes nicht statt-
zufinden, als der, welcher vorschreibt, wo sie statt-
zufinden hat, in eine gemeinsame Rechtsidee,
als ihre höchste gemeinsame Quelle aufgelöst
und somit wahrhaft in Einheit gesetzt werden. Nur
*) Die Betrachtungen, welche von Savigny, S. 390, zu seiner
Rechtfertigung aufgestellt werden, vermögen das oben Vermißte
durchaus nicht zu leisten. Es sind reine Zweckmäßigkeitsgründe,
werden auch ausdrücklich als solche mit der Versicherung, es
sei „höchst wichtig und wünschenswert," eingeführt. Sie sind
folgende: erstens, das Wünschenswerte des unerschütterlichen
Vertrauens in die Herrschaft der bestehenden Gesetze ; zwei-
tens, das Wünschenswerte der Erhaltung des jederzeit bestehen-
den Rechts- und Vermögensbestandes ; drittens, die Unmöglich-
keit, den Grundsatz der Rückwirkung konsequent durchzuführen.
Diese Gründe haben, wie dies Zweckmäßigkeitsgründen eigen
zu sein pflegt, keine aus ihnen selbst hervorfließende Grenze.
Wären sie also die wahren und letzten Gründe der Sache,
so würden sie jede, auch die von Savigny gewollte, sogenannte
Rückwirkung der das Dasein der Rechte betreffenden Gesetze
vollständig ausschließen, wodurch in der Tat das unerschütter-
liche Vertrauen in die Herrschaft des bestehenden Gesetzes
und die Erhaltung des bestehenden Rechts- und Vermögens-
zustandes noch sehr befestigt und vermehrt werden würde ! Wenn
Savigny diese Gründe dennoch nicht zu dieser Folgerung aus-
dehnt, so erscheint dies als ein willkürliches und von außen
kommendes Abbrechen ihrer Wirksamkeit an einem beliebig
bestimmten Punkte. In der Tat aber zeigt sich hierin nur die
Unfähigkeit solcher Verstandesgründe, das Wesen der Sache
zu erschöpfen.
69
wo diese Einheit vorliegt, nur da ist Theorie! Diese
Einheit muß selbst die Unterschiede als aus ihr fließende
erzeugen und in ihnen fortwirkend tätig sein. Es müssen
sich also auch d i e Fälle, in welchen das neue Gesetz
sofort zur Anwendung zu kommen hat, aus der Idee
der Nichtrück wirkung selbst ergeben.
Indem nun alles dies bei Savigny unerreicht geblieben
ist, liegt nicht eine Theorie, sondern nur eine zwei-
gliedrige Einteilung vor. Es hat dies aber zunächst
noch eine andere Folge. Durch diese Einteilung ist zwar
Savigny dessen überhoben, die Fälle der Rückwirkung
als einzelne Ausnahmen zu fassen. Indem nun aber von
ihm der Grundsatz der Nichtrückwirkung als der allgemein
gültige an die Spitze gestellt und vorausgeschickt wird,
der Grundsatz dagegen, daß bei der Klasse der das Da-
sein von Rechten betreffenden Gesetze Rückwirkung statt-
zufinden habe, mit dem ersteren in keine innere Ein-
heit gesetzt wird, so nimmt nun die letztere Klasse,
wo Rückwirkung stattfinden ,soll, selber nur die Gestalt
einer Ausnahme von dem Prinzip der Nicht-
rückwirkung an ! Die vielen einzelnen Ausnahmen sind
somit nur aneinandergereiht, und in eine allgemeine Aus-
nahme, in eine Klasse von Ausnahmen verwandelt.
Der Charakter der Ausnahme selbst ist geblieben.
Diese Einwendungen haben bisher eine rein theoretische
Gestalt und können daher zunächst äußerst gleichgültig
denen erscheinen, welche die höheren Anforderungen der
Theorie im Gebiete des Rechtes als „metaphysische Grü-
beleien" belächeln. Aber hier gerade wäre auch für solche
eine äußerst deutliche Gelegenheit, sich von dem Werte
und der Notwendigkeit einer wahren Theorie zu über-
zeugen. Denn nur in jener theoretischen Mangelhaftigkeit
liegen die inneren Wurzeln der anderen jetzt zu erwähnen-
70
den Einwendungen, deren entscheidende Wichtigkeit auch
von denen, welche nur auf die praktische Brauchbarkeit
einer Regel sehen, bereitwillig zugegeben wird. — Das
in der Unterscheidung jener beiden Klassen von Rechts-
regeln bestehende Savignysche Prinzip ist nämlich, wie
wir später näher sehen werden, sowohl nicht erschöp-
fend, alle Fälle umfassend, als in hohem Grade prak-
tisch irreführend. Aus beiden Gründen ist es daher
auch für das gewöhnlichste praktische Bedürfnis völlig
unhaltbar.
Es liegt unleugbar Richtiges in ihm, wie dies übrigens
auch bei allen den Formeln der Fall war, die vor Savigny
aufgestellt wurden und deren wir gelegentlich die wichti-
geren erwähnen werden ; aber es ist nicht das Richtige
selbst, und nur eine natürliche und notwendige Folge
hiervon ist, daß Savigny einerseits, um seinem Grundsatze
treu zu bleiben, äußerst häufig Entscheidungen von durch-
aus irriger Natur treffen muß, andererseits hin und wieder
unter dem Einfluß seines unmittelbaren Rechtsgefühles
Entscheidungen gibt, die richtig sind, aber seinem
Grundsatz innerlich widersprechen1), und um richtig
zu sein, ihm widersprechen müssen.
Ja es konnte dies um so eher stattfinden, als, wie wir
im Verlauf sehen werden2), ein und dieselben Gesetze,
je nachdem man sich auf den Standpunkt des Individuums
oder auf den der Rechtsmaterie selbst stellt, das einemal
Gesetze über den Erwerb, das anderemal Gesetze über
das Dasein von Rechten darstellen, diese Einteilung also
überhaupt auf bloß abstrakten Verstandeskate -
*) Wie ihm Bornemann bereits einen solchen Widerspruch
nachgewiesen hat in der bald anzuführenden Abhandlung, S. 34.
2) Vgl. Anwendungen sub I (Personenzustand) und II A.
71
g o r i e n beruht, die in letzter Instanz haltlos ineinander
übergehen und kein festes Prinzip des Unterschiedes gegen-
einander gewähren.
Endlich ist Savigny gezwungen, sich sogar ausdrück-
lich in den offensten Widerspruch mit sich zu ver-
wickeln. So rechnet er die Gesetze über Ehe und Ehe-
scheidung mit Recht zu den Gesetzen über das Dasein
der Rechte, wonach also nicht nur, wenn durch ein neues
Gesetz die Scheidung überhaupt erst eingeführt oder ab-
geschafft, sondern selbst wenn eine Änderung in den
Scheidungsgründen vorgenommen wird, diese Än-
derung nach Savigny auch auf frühere Tatsachen rück-
wirken muß ; so daß hiernach also eine in der Zeit vor
dem Gesetze vollbrachte Handlung eines Ehegatten, die
damals keinen Scheidungsgrund bildete, jetzt von dem an-
deren Gatten als Scheidungsgrund angerufen werden kann,
wenn sie nach dem neuen Gesetze unter die Scheidungs-
gründe gezählt wird. Nicht dies war die Ansicht des
preußischen Gesetzgebers gewesen ; denn als in den Jahren
1814 und 1816 das Allgemeine Landrecht in mehrere Pro-
vinzen teils neu eingeführt, teils wieder eingeführt wurde,
ward zwar mit Recht verfügt, daß die Scheidung der be-
stehenden Ehen von jetzt ab nach dem Allgemeinen Land-
recht beurteilt werden solle, aber ebenso richtig wurde die
ausdrückliche Bestimmung getroffen, daß eine vor der
Einführung und resp. Wiedereinführung des Allgemeinen
Landrechtes vorgefallene Tatsache nicht als Scheidungs-
grund angerufen werden könne, wenn sie unter dem früheren
Gesetze keinen solchen dargestellt habe. Savigny (a. a. O.
S. 526) sagt, indem er diese Einführungsgesetze als Be-
stätigung seiner Theorie anzieht: „Nur wurde die sehr
mäßige und nicht unbillige Ausnahme hinzu-
gefügt, daß ein Scheidungsgrund des Landrechtes nicht
72
geltend gemacht werden dürfe, wenn die zugrunde liegende
Tatsache vorgefallen sei während der Herrschaft des frem-
den Gesetzes und in diesem Gesetz nicht als Scheidungs-
grund gegolten habe." Savigny gesteht also, offenbar von
seinem juristischen Gefühle bestimmt, selbst ein, daß diese
angebliche1) Ausnahme eine „sehr mäßige und nicht un-
*) Es ist nämlich irrig von Savigny, wenn er jene Bestim-
mung so ansieht, als ob sie auch im Sinne des preußischen
Gesetzgebers eine „Ausnahme" gewesen sei. Im Systeme der
preußischen Gesetzgebung ist sie das durchaus nicht, weil sie
in ihr nur eine notwendige Folge ihres Hauptgrundsatzes
ist, Allgemeines Landrecht, Einleitung, § 14: „Neue Gesetze
können nicht auf schon vorhin vorgefallene Handlungen und
Begebenheiten angewendet werden," ein Grundsatz, der bei
jeder Einführung des Allgemeinen Landrechtes in neuerworbene
oder wiedereroberte Provinzen vom preußischen Gesetzgeber
immer wieder aufs neue verkündet wurde. So heißt es z. B.
in dem Publikationspatent vom 9. November 1816 für das Groß-
herzogtum Posen (Gesetzsammlung, S. 225) § 3 : „Auf die vor
dem 1. März 1817 während der Gesetzeskraft der fremden
Rechte vorgefallenen Handlungen und Begebenheiten soll das
Allgemeine Landrecht nicht angewendet werden" usw., und
ebenso in den anderen Publikationspatenten. Wenn es also z. B.
in dem Publikationspatent vom 9. November 1816 für den
Kulm- und Michelauschen Kreis und die Stadt Thorn (Gesetz-
sammlung, S. 217) in § 11 heißt: „Die Gründe, aus welchen
eine vor dem 1. Januar 1817 geschlossene Ehe von nun an für
nichtig und ungültrg zu erklären, oder auch zu scheiden, werden
dagegen nach den Vorschriften des Allgemeinen Landrechtes be-
urteilt, insofern sie nicht aus Tatsachen hergenommen wer-
den, welche sich früher ereigneten und die das damals geltende
Gesetz für keinen zureichenden Grund erachtet hat," so hat
diese Bestimmung nur in dem Satzzusammenhange, also im
grammatikalischen Sinne, die Stellung einer Aus-
nahme, ist aber keineswegs auch im materiellen Sinne als eine
Ausnahme von der rechtlichen Natur der Sache, sondern viel-
73
billige" sei. Folglich müßte er auch zugeben, daß diese
Ausnahme mit innerer Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit
aus der Rechtsidee folge, sonst könnte sie keine sehr mäßige
und „nicht unbillige" sein. Dann aber wäre schon
dies sehr widerspruchsvoll, daß Savigny im strikten Ge-
gensatz zu dem, was er selbst gegen die früheren Autoren
über die Unstatthaftigkeit der Ausnahmen uns eben ge-
sagt hat, hier doch wieder eine notwendige oder wenigstens
statthafte Folgerung der Rechtsidee in den Notbehelf der
Ausnahmen A) hineinflüchten muß. Und besonders bemer-
kenswert ist es hierbei, daß es diesmal der Grundsatz der
Nichtrückwirkung ist, der in jenen Schlupfwinkel
gerettet werden soll ! In der Tat ist aber Savigny durch
sein Prinzip in die Unmöglichkeit versetzt, die Recht-
mäßigkeit dieser Ausnahme zuzugeben, und so sagt er an
einer anderen Stelle wieder im direkten Widerspruch mit
mehr hier nur als eine Einschlägigkeit jener Hauptregel gedacht
worden. Es finden sich daher auch preußische Publikations-
patente, in denen jene Bestimmung auch grammatikalisch die
Form einer Ausnahme nicht hat. So heißt es z.B. in dem
Publikationspatent vom 9. September 1814 für die früheren
preußischen Provinzen jenseits der Elbe (Gesetzsammlung,
S. 89) in §9: „Die Gründe einer nach dem 1. Januar 1815
nachgesuchten Ehescheidung werden dagegen nach den Vor-
schriften des Allgemeinen Landrechtes beurteilt und können
nicht auf Tatsachen gegründet werden, welche sich früher er-
eigneten und die das damals geltende Gesetz nicht für einen
Ehescheidungsgrund erachtet hat."
1) Es ist dies nicht zu verwechseln mit solchen Fällen,
wo Savigny in positiven Gesetzen Ausnahmen von seiner Regel
nachweist. Denn Gesetzgeber können von der richtigen Theorie
abgewichen sein, und dann liegt eine wirkliche Ausnahme vor.
Der Widerspruch besteht vielmehr darin, daß Savigny hier selbst
die innere Legitimität dieser Ausnahme in den oben angeführ-
ten Worten einräumen muß.
74
seiner oben angeführten Anerkennung der inneren Legi-
timität jener Ausnahme S. 495 ausdrücklich : „Es wird
aber unten gezeigt werden, daß weder diese Zeit (der ge-
schlossenen Ehe) noch die Zeit der Tatsache,
die als Scheidungsgrund dienen soll, maß-
gebend sein darf, sondern allein die Zeit der Schei-
dungsklage."
Abgesehen von den Widersprüchen, liegt am Tage, daß
ein Prinzip, welches fordert, daß eine vollbrachte indi-
viduelle Handlung, die vom Gesetz nicht als Scheidungs-
grund qualifiziert wird, diese Wirkung durch ein späteres
Gesetz empfange, schon darum allein notwendig
falsch ist, weil hierin ein unbestreitbarer Fall voll-
ständigster Rückwirkung im unzulässigen Sinne des Wortes
vorliegen würde.
Endlich schließen wir diese vorläufige allgemeine Kritik
der Savignyschen Theorie mit folgender Bemerkung : Die
von Savigny gegebene Regel, daß die Gesetze, welche
das Dasein oder das So- oder Anderssein der Rechte be-
treffen, rückwirken müssen, besagt ihrem Inhalte nach
eigentlich gar nichts anderes als die sehr alte und
besonders den französischen Juristen seit jeher sehr ge-
läufige Formel, daß alle Bestimmungen, welche dem öf-
fentlichen Rechte entflossen sind, rückwirken-
der Natur seien. Die auf den ersten Blick versteckte Iden-
tität beider Formeln tritt sofort näher zutage, wenn man
erwägt, daß einerseits alle Rechtsregeln über das Sein
und Nichtsein eines Rechtsinstitutes oder über das So- oder
Anderssein der Rechte zu den absoluten Gesetzen ge-
hören, über welche nicht pazisziert werden kann, und
andererseits alle solche Gesetze, über welche nicht pazis-
ziert werden kann (die nicht ad voluntatem spectant),
a 1 s d e m jus publicum entflossen angesehen wer-
75
den1). Aufs deutlichste erkennbar wird endlich diese Iden-
tität, wenn man sieht, wie Savigny zur Unterscheidung
seiner beiden Klassen von Rechtsregeln, ob nämlich ein
Gesetz zum Erwerb oder zum Dasein der Rechte gehöre,
als Kennzeichen kein anderes aufstellt als eben
dies : ob ein Gesetz juris publici sei, in welchem Falle
es das Dasein der Rechte betreffe. So sagt nämlich Sa-
vigny selbst (a. a. O. S. 520) : „Ein besonders siche-
res und für die meisten Fälle ausreichendes Mittel der
Grenzscheidung (zwischen jenen beiden Klassen von
Rechtsregeln) wird darin liegen, daß wir untersuchen, ob
vielleicht ein neues Gesetz zu den soeben erwähnten Ge-
setzen von streng positiver, zwingender Na-
tur gehört, die außer dem reinen Rechtsgebiet ihre Wurzel
haben. In diesem Falle haben wir dasselbe unzweifelhaft
zu den Gesetzen über das Dasein der Rechte zu zählen,
auf welche der Grundsatz der Nichtrückwirkung keine
Anwendung findet."
Zu diesen Gesetzen von streng positiver, zwingender
Natur rechnet aber Savigny selbst alle solche, die ,,mit
sittlichen, politischen, volkswirtschaftlichen Gründen und
!) S. L. 38 de pactis (2, 14), L. 20 de religiosis (11, 7),
L. 45, § 1 de divers, reg. (50, 17), L. 27, § 4 de pactis
(2, 14), L. 7, § 14 de pactis (2, 14). (Ulpian: Labeo autem
distinguit, ut, si ex re familiari operis novi nuntiatio sit facta,
liceat pacisci, si de republica, non liceat, quae distinctio vera
est.) Paulus setzt daher ausdrücklich entgegen voluntas und
jus im eigentlichen strengeren Sinne L. 12, § 1 de pact. dotal.
(23, 4) : Ex pactis conventis .... alia ad voluntatem perti-
nent .... alia ad jus pertinent, veluti quando dos petatur, quem-
admodum reddatur, in quibus non semper voluntas contra-
hentium servatur. L. 27 de divers, regul. (50, 17). Vgl. Sa-
vigny, „System", I, § 16; Boecking, „Pandekten des römischen
Privatrechtes," I, 312, 2. Auf 1. (Bonn 1853).
76
Zwecken im Zusammenhange stehen" oder auf der positiven
Natur eines Rechtsorganismus beruhen, d. h. alle solche,
die zum jus publicum gehören und von Savigny deshalb
passend absolute Gesetze genannt werden (s. a. a. O.
VIII, 517 und I, 57 fg.).
Savigny hat also das, was jene Formel, daß alle dem
jus publicum entflossenen Gesetze rückwirkende Natur
haben, von der Seite des Inhaltes der Gesetze besagt,
nur nach der Seite der Form hin ausgedrückt und mit
formeller Schärfe hingestellt, und es kehrt deshalb jene
Seite des Inhaltes auch ausdrücklich als Kennzeichen
bei der formellen Einteilung der Gesetze in die beiden
Klassen wieder zurück.
Aber man darf nicht glauben, daß um dieser Identität
des Inhaltes willen die Savignysche Lehre nun keinerlei
Fortschritt gegenüber jener Formel darstelle. Vielmehr
muß das Verdienst, welches sich dieser große Denker auch
um diese Materie, und besonders um ihre Behandlung in
Deutschland erworben hat, äußerst hoch veranschlagt wer-
den. Es ist am Orte, dies hier näher zu begründen, um so
mehr, als die Behauptung eines Fortschrittes bei gleich-
gebliebenem Inhalte zunächst sehr paradox erscheinen
könnte, sich aber hierbei gerade die hohe, auf ihren Inhalt
selbst wieder rückwirkende Wichtigkeit der Form auch
in diesem Gebiete ergeben wird.
Ob eine Bestimmung des Privatrechtes aus Gründen des
öffentlichen Interesses gegeben sei und daher zum öffent-
lichen Recht gehöre (ad rempublicam spectat), ist eine
Frage nach dem Inhalt jener Bestimmung und muß
aus ihm beurteilt werden. Wenn also gesagt wird, daß
alle solche Gesetze augenblicklich eingreifen, welche dem
öffentlichen Rechte entflossen sind, so ist hierin bloß ein
inhaltliches Kennzeichen und Merkmal ge-
77
geben, nach welchem sich dann bei den verschiedenen Ge-
setzen die Frage ihrer Rückwirkung entscheiden lassen
wird. Dies Merkmal kann und wird nun bei den ver-
schiedenartigsten Gesetzen zutreffen. Denn in den alier-
verschiedenartigsten Rechtsgebieten, im Personen- wie im
Sachenrecht, im Obligationen- wie im Familienrecht usw.
kann eine Bestimmung aus Gründen des öffentlichen
Wohles erlassen werden. Eben deshalb ist also durch
inhaltliche Kennzeichen über den eigentümlichen In-
halt der Gesetze, welche von demselben getroffen werden,
noch nichts ausgesagt. Der bestimmte Umfang der Klasse
von Gesetzen, auf welche sich dies Kennzeichen anwenden
wird, liegt noch ganz im dunkeln ; ja, es ist noch gar keine
eigene "K 1 a s s e von Gesetzen mit einem ihr eigentümlichen
Inhalt und allgemeinem Charakter durch jene Formel auf-
gestellt, sondern nur eine gemeinsame Quelle ist
angegeben, aus welcher Gesetze der verschieden-
artigsten Klassen stammen sollen. Es ist ausgesagt
das Warum , aus welchem jene Gesetze verfügen werden.
Aber es ist nicht das geringste ausgesagt über ein ge-
meinschaftliches Was, das sie verfügen werden.
Es muß vielmehr zunächst scheinen, daß eine solche Ge-
meinschaftlichkeit des Was ? bei der Verschiedenartigkeit
der Rechtsgebiete, in welche jene Quelle hinüberströmen
kann, gar nicht existieren wird. Das i n h a 1 1 1 i c he Merk-
zeichen läßt also den eigentümlichen Inhalt der
Gesetze, die zu ihm gehören, ganz unbestimmt ; es stellt
sogar in Frage, ob es einen solchen geben wird.
Wird dagegen jenes nach dem Inhalt des Gesetzes schau-
ende Merkzeichen, wird die inhaltliche Formel zur Form
der Kategorie1) herausgerungen und nun gesagt, es
x) Aber, wie wir schon oben sagten, zur Verstandes-
kategorie. Der große praktische Unterschied der Ver-
78
sollen alle solche Gesetze sofort eingreifen, welche das
Dasein der Rechte und ihr So- und Anderssein be-
treffen, so ist nun zwar inhaltlich nichts geändert. Die
Gesetze, welche zu dieser Kategorie gehören, sind iden-
tisch mit denen, welche von jenem Kennzeichen betroffen
werden. Aber es ist nun sofort durchsichtig der
gemeinschaftliche undeigentümliche Inhalt,
den diese sogleich eingreifenden Gesetze haben. Durch die
Form der Kategorie, in welche jene inhaltliche For-
mel erhoben worden ist, sind sie erst jetzt zu einer Klasse
konstituiert, und es ist jetzt nicht nur sogleich zu über-
blicken, welche Gesetze zu dieser Klasse gehören, son-
dern es ist das gemeinschaftliche Was angegeben,
welches diese Bestimmungen betreffen und betreffen müs-
sen, um in die Klasse der augenblicklich eingreifenden
Gesetze gehören zu können. Und ferner : Vorher mußte
es scheinen, als ob es für die Frage der zulässigen Rück-
wirkung eines Gesetzes auf die Absicht und die Gründe
ankomme, aus denen es erlassen sei (ob nämlich aus
Gründen des öffentlichen Interesses). Jetzt ist zugleich
mit dem Obigen der große Fortschritt getan, daß sich
diese Zulässigkeit des augenblicklichen Eingreifens einer
Bestimmung nicht mehr aus den Gründen bestimmt,
aus denen ein Gesetz erlassen worden, sondern aus dem
Wa s , das es betrifft, also aus der objektiven Natur
des Rechtes selbst, das von ihm geregelt wird1).
Standes- und der begrifflichen Kategorie wird sich besonders
in § 7 deutlich zeigen.
1) Es ist dies aber durch Savignys Leistung nur an sich
oder im Prinzip erreicht. Denn er selbst, wo er die Rück-
wirkung der das Dasein der Rechte betreffenden Gesetze recht-
fertigen will, argumentiert wieder bloß aus der Absicht des
Gesetzgebers, s. VIII, 515 fg.
70
Indem also Savigny in scharfer kategorischer Auffassung
jene Formel zu einer bestimmten Klasse von Gesetzen
erhob, und hierdurch zu z wei sich entgegenstehenden Klas-
sen von Rechtsregeln gelangte, bei deren einer neue Ge-
setze nicht rückwirken dürfen, bei deren anderer aber neue
Gesetze rückwirken müssen, tat er den großen Fort-
schritt, einerseits zu zeigen, daß die Rückwirkung x) je
nach dem Rechtsgebiete ebenso gut Regel sein könne
wie die Nichtrückwirkung, andererseits die Frage der
Nichtrückwirkung und Rückwirkung im Prinzip statt
auf die Absicht der Gesetzgeber — die er als eine sehr oft
willkürliche bezeichnet — auf die innere Natur der
Rechte, auf die sich neue Gesetze beziehen, zurück-
zuführen. Hat er auch das Problem keineswegs gelöst,
so hat er doch dafür die Aufgabe meisterhaft gestellt.
Diese Aufgabe, die Bestimmung, welche Gesetze rück-
zuwirken haben und welche nicht, aus dem objektiven We-
sen der Rechte selbst hervorgehen zu lassen — ein Wesen,
welches durch die positiven Worte eines Gesetzes zwar
im gegebenen Falle unterdrückt, aber nicht aufgehoben
werden kann — , diese Aufgabe bleibt eine seit Savigny
für die Wissenschaft erworbene Forderung. Der natur-
rechtliche Charakter dessen, was aus dem Wesen der
Nichtrückwirkung oder Rückwirkung folgt, ist durch die
Savignysche Arbeit für immer außer Zweifel gestellt. Und
*) Savigny drückt sich geradezu so aus, daß diese Gesetze
rückwirken und rückwirken sollen. Es ist dies eine zu tadelnde
und schädliche Ausdrucksweise. Denn es wird später gezeigt
werden, daß alle rechtmäßigen Einwirkungen neuer Gesetze
überhaupt nur scheinbare, nie wirkliche Rückwirkungen
sind, und es vielmehr nach der wahren Theorie ein absolutes
Kennzeichen für die Entscheidung der Fälle bildet, daß eine
wirkliche Rückwirkung ohne Ausnahme niemals eintreten dürfe.
80
welches Verdienst dies war, wird man am besten beurteilen
können, wenn man einen Blick auf die Verwirrung seiner
Vorgänger in Deutschland wirft, z. B. auf den leeren
Positivismus eines Bergmann, welcher auf den unglück-
lichen Gedanken kommen konnte, die Natur der Sache
und die sich aus dem römischen Recht, dem französischen
Recht usw. darüber ergebende Lehre in einen grundsätz-
lichen Gegensatz zu bringen.
Wenn dies theoretische Verdienste sind, die Savigny
um diese Lehre überhaupt hat, so hat er sich für Deutsch-
land insbesondere noch ein praktisches erworben durch
manche aus seiner Einteilung fließende Entscheidungen
der einzelnen Fälle. Denn freilich lag die Doktrin über
diese Materie gerade in Deutschland weit mehr im argen
als bei den Franzosen, für welche durch ihre nationale
Anlage manche in diesem Gebiete für uns bestehende
Schwierigkeit nicht vorhanden war. Es ergibt sich das am
deutlichsten, wenn man sieht, wie noch bei Bergmann die
in Frankreich seit lange herrschenden Grundsätze von dem
augenblicklichen Eingreifen neuer Gesetze auf den Per-
sonenzustand, auf solche Vermögensrechte, welche ein blo-
ßes Akzessorium rein persönlicher Verhältnisse sind (z. B.
eiterlicher Nießbrauch), auf die persönlichen Rechte des
Vaters über die Kinder, auf das eigentliche Eherecht, auf
bloße Erwartungen und die revokabeln Dispositionen1)
*) Ging doch Bergmann so weit (S. 110 u. 92), als römische
Regel aufzustellen, daß Gesetze, welche die Fähigkeit zu testie-
ren oder aus Testamenten zu sukzedieren, oder welche das
Pflichtteil abändern, auf vorhandene Testamente nicht einwirken
dürfen, ja sogar (S. 89 u. 96) daß Gesetze, welche die Intestat-
erbfolge anders gestalten, falls sie dies infolge einer Ver-
änderung des Personenzustandes tun, auf die noch leben-
den Personen, weil deren „Personenstand bereits in der Vor-
zeit begonnen und reguliert war." nicht anwendbar seien!
-. Lamelle. Gm. SehrihKi Beod IX 81
von Todes wegen usw. als Eigentümlichkeiten des
französischen Rechtes betrachtet und dem, was nach ihm
im römischen und resp. selbst im preußischen Recht gilt,
geradezu entgegengesetzt werden1), während durch
und seit Savigny alle diese angeblich eigentümlich fran-
zösischen Grundsätze zur unbestrittenen Gültigkeit auch in
der deutschen Rechtswissenschaft durchgedrungen sind.
Selbstredend ist übrigens, um hierauf zurückzukommen,
jener Satz von der Rückwirkung der dem jus publicum
entfließenden Bestimmungen2) um nichts richtiger in seiner
1) Da es seit geraumer Zeit bei sehr vielen unserer Publi-
zisten Mode geworden ist, von der „romanischen" Natur der
Franzosen als von einer individualitätslosen Masse zu reden,
deren sie von uns unterscheidende Eigentümlichkeit darin be-
ruhe, sich wie ein schlechter Teig vom Staate kneten und
verändern zu lassen, so hätten sie also — vor Savigny — eine
kostbare Gelegenheit gehabt, dies auch an dem oben berühr-
ten Gegensatz der französischen Lehre über den Personen-
stand usw. darzutun und dagegen die große Knorrigkeit des
deutschen Privatindividuums zu bewundern, welches sogar seinen
Gesetzgebungsfortschritt von seinem einmal vorhandenen per-
sönlichen Zustand, seinen persönlichen Rechten und sogar seinen
Erwartungen abzuhalten weiß, resp. mindestens abzuhalten strebt.
Und sicher haben sie sich diese köstliche Gelegenheit nur in-
folge ihrer ebenso glücklichen als gründlichen Unwissenheit in
allen Gebieten reellen Wissens, auf die es hierbei ankommt, ent-
gehen lassen. Jetzt aber ist sie vorüber. Denn seit Savigny —
dem man doch kaum französische Tendenzen wird beilegen
wollen — sind wir in dieser Hinsicht gerade durch die Wis-
senschaft glücklicherweise zu demselben von jedem Gesetz-
gebungswechsel hin- und hergekneteten schlechten Teige degra-
diert worden !
2) Die älteste Stelle übrigens, welche zur Rechtfertigung
dieser Behauptung von der rückwirkenden Natur der aus dem
öffentlichen Rechte stammenden Gesetze in Anspruch genommen
werden könnte, obgleich wir uns nicht erinnern, daß bei irgend
82
alten Formel als in der ihm bei Savigny gegebenen Gestalt.
Es kann gegen ihn alles das gesagt werden, was gegen
Savigny gilt. So sind, um an das obige Beispiel anzu-
knüpfen, Ehescheidung und Ehescheidungsgründe juris pu-
blica Deshalb darf aber eine vollbrachte individuelle Hand-
lung dennoch nicht durch ein späteres Gesetz zu einem
Ehescheidungsgrunde werden. Ja, es ließe sich gegen jene
ältere Gestalt der Formel noch einiges mehr sagen als
gegen Savigny. So ist die Behauptung, daß alle Gesetze
juris publici rückwirkender Natur seien, schon deshalb
unwahr, weil das Strafrecht doch gewiß juris publici ist
und trotzdem niemandem einfallen wird, eine Rückwirkung
neuer strafrechtlicher Verbote in Anspruch zu nehmen.
einem Autor diese Herleitung versucht wird, ist eine bekannte
Stelle des Cicero (Oratoriae Partitiones, C. 37) über das Ver-
hältnis des jus civile zum jus gentium, welches in Rom ein
geschlossenes Rechtssystem von bestimmter Wirksamkeit war.
War aber durch die Bestimmungen des jus civile etwas prohi-
biert, so hatte dies nicht einmal nach jus gentium Gültigkeit
und Wirksamkeit. Eine gegen die Verbotsgesetze des jus civile
geschlossene Ehe wurde z. B. in Rom auch nicht einmal nach
jus gentium als wirksam angesehen (s. § 12, I, de nuptiis,
1, 10), wenn sie auch bei anderen Völke/n gültig gewesen
wäre (s. hierüber Savigny über die Quellen des Rechtes, I,
§ 22, S. 112), und Cicero spricht a. a. O. diese Regel offen
seinem Sohne aus : ,,Atque eliam hoc inpnmis, ut nostros mores
legesque tuemur, quodammodo naturali jure praescriptum est."
Man könnte nun ganz entsprechend der Analogie, welche auch
sonst zwischen der örtlichen und der zeitlichen Kolli-
sion der Gesetze in Anspruch genommen wird, hieraus herzu-
leiten versuchen, daß sich das Gesetz der Jetztzeit zum Gesetz
der Vorzeit verhalten müsse wie das jus civile zum jus gentium,
und deshalb ein dem öffentlichen Recht entflossenes neues Ge-
setz um seines das Abweichen der Privatwillkür ausschließen-
den prohibitiven Charakters willen das frühere Recht sofort
außer Wirksamkeit setzen müsse.
6' 83
Nun wird man freilich sagen, jener Grundsatz solle sich
auch nur auf das Privatrecht, nicht auf das Strafrecht be-
ziehen. Allein es ist klar, daß, da auch im Strafrecht
Rückwirkung unzulässig ist, der Grundsatz, der als die
wahrhafte und oberste Rechtsidee an die Spitze
der Lehre von der Rückwirkung gestellt werden soll, ein
solcher sein muß, der seine Betätigung im Privat- wie im
Straf recht gleichmäßig findet, so daß beide Gebiete sich
nur als die Durchführung seines gemeinsamen Grundge-
dankens erweisen. Wird also auch, wie bei Savigny, die
Durchführung durch das Straf recht nicht gemacht1), so
muß dennoch der im Privatrecht als die R e c h t s i d e e
der Rückwirkung hingestellte Gedanke fähig sein, auch
im Strafrecht als das die weiteren Bestimmungen aus sich
entwickelnde Prinzip zu fungieren. Es besteht außerdem
ein sonderbarer Widerspruch jener Formel darin, daß sie
innerhalb des Privatrechtes Rückwirkung verlangt auf
Grund dessen, daß etwas dem öffentlichen Rechte ent-
flossen sei und das öffentliche Recht rückwirkende Natur
habe, im öffentlichen Recht selbst aber — im
Strafrecht — (und ebenso auch in bezug auf andere Teile
des öffentlichen Rechtes, wie Staatsbürgerrecht, Indige-
natsrecht) dieser Grundsatz durchaus nicht zur Anwen-
dung kommen soll.
In neuester Zeit hat endlich ein hochverdienter land-
x) Und es erhellt ganz von selbst, warum Savigny freilich
die Gültigkeit seines Prinzipes auf das Privatrecht beschränken
und Strafrecht wie öffentliches Recht überhaupt ausdrücklich
davon ausschließen mußte, weil nämlich hierauf angewendet,
sein Grundsatz die maßloseste Rückwirkung erzeugen müßte.
Denn welche Handlungen erlaubte sein sollen und welche nicht,
gehört zum Dasein der Rechte, so daß neue Strafgesetze
nach jenem Grundsatz rückwirken müßten
rechtlicher Jurist, der Präsident des Königlichen Ober-
tribunals, Dr. Bornemann, unsere Materie einer erneuten
Erwägung unterzogen 1 ) .
Das Verdienst dieser Schrift besteht vorzüglich darin,
daß hier bereits (S. 8 fg.) der von Savigny aufgestellte
Grundsatz „als ein nicht haltbarer" eingestanden wird2).
1) „Erörterungen im Gebiete des preußischen Rechtes von
Dr. W. Bornemann (Berlin 1855), Heft 1, S. 1-64.
2) Die erste große Autorität, die sich, wenn auch nur in
einer allgemeinen Bemerkung, entschieden gegen Savigny er-
klärt hat, ist Boecking. Derselbe äußert sich nämlich („Pan-
dekten des römischen Privatrechtes usw.," Bonn 1853, I, 317.
Not. 6) : „Der ausführlichen Besprechung der ,, „zeitlichen
Grenzen der Herrschaft der Rechtsregeln über die Rechts-
verhältnisse.... in Savignys „„System"", Bd. VIII, und der
daselbst angeführten Schriftsteller können wir großenteils
weder bei-, noch hier im einzelnen entgegentreten." Kurz vor
ihm hatte von Scheuer 1 in einem kleinen Aufsatz in seinen
„Beiträgen zum römischen Recht" (Erlangen 1853), S. 137 bis
148, Not. 6, bekannt, daß er trotz seiner großen Bewunderung
der von Savigny um diese Lehre sich erworbenen Verdienste
sich dennoch „seine Resultate nicht durchweg einfach aneignen
könne, sondern sich dadurch zum Teil nur um so mehr zu
neuer Untersuchung angeregt fühle," worauf er, nicht ohne die
Einwirkung eines richtigen Rechtsgefühles, versucht, einen Un-
terschied zwischen „schon vorhin vorgefallenen Handlungen und
Begebenheiten" (Ausdruck des Allgemeinen Preußischen Land-
rechtes, Einleitung, § 14) und den „facta praeterita" auf zu
stellen, ein Versuch, der ihm aber keineswegs gelungen ist,
da bei seiner Definition der facta praeterita als „vollendetet
juristischer Tatsachen" oder als „tatsächlicher Verhältnisse,
welche kraft einer gewissen Rechtsregel einmal eine feste
rechtliche Gestalt bekommen haben," ja eben wieder nach
der Definition gefragt werden muß, welches denn im Unter-
schiede von bloßen „schon vorhin vorgefallenen
Handlungen und Begebenheiten' das Kriterium der
„vollendeten" Tatsachen, das Kriterium derjenigen tat
85
Es besteht ferner in mancher mit glücklichem Takt vom
Autor gegebenen richtigen Entscheidung, der aber freilich
dann wieder ebenso häufig irrtümliche gegenüberstehen.
Sieht man aber auf die Gründe, mit welchen Bornemann
Savigny entgegentritt, sowie auf die von ihm selbst an Stelle
der Savignyschen Regel aufgestellten Gesichtspunkte, so
läßt sich nicht verkennen, daß diese durchaus nicht stich-
haltiger Natur sind und keinenfalls einen Fortschritt gegen
die Savignysche Theorie bilden.
An Stelle der von Savigny gewollten Unterscheidung
zwischen den beiden Klassen von Rechtsregeln will näm-
lich Bornemann das weder sehr neue noch sehr tiefe Prin-
zip setzen, daß es vielmehr überall nur auf die Ab -
sieht des Gesetzgebers ankomme. Auch bei Gesetzen,
welche das Dasein von Rechtsinstituten beträfen, z. B.
bei Lehen, Fideikommissen, Erbziris- oder Erbpachtver-
hältnissen, sei denkbar, daß der Gesetzgeber nur die Ent-
stehung neuer Rechtsverhältnisse dieser Art habe verhin-
dern, die bereits entstandenen aber bis zu ihrem Absterben
oder ihrer Beseitigung durch Übereinkunft der Beteiligten
habe fortbestehen lassen wollen. „Folglich werde," sagt
Bornemann (S. 8), „auch die rückwirkende Kraft der
Gesetze, welche das Sein oder Nichtsein von Rechts-
sächlichen Verhältnisse sei, welche „kraft einer gewissen
Rechtsregel einmal eine feste rechtliche Gestalt be-
kommen" haben. In dieser Definition ist ja vielmehr ganz
offenbar die erst zu untersuchende Frage durch eine voll-
ständige petitio pnncipii als ein bereits Bekanntes und Ge-
gebenes vorausgesetzt ! Nach einer kurzen Erörterung dieses
nicht gelungenen Versuches beschränkt sich von Scheuerl darauf,
die Einwirkung neuer Gesetze auf Verjährungsfristen mit Sa-
vigny zu diskutieren, wobei er übrigens zu demselben praktischen
Resultat mit diesem gelangt.
86
Instituten betreffen, hiernach durch die ausdrücklich er-
klärte oder aus den Umständen erhellende Absicht des
Gesetzgebers bestimmt. Dann aber ist zwischen dieser Gat-
tung von Rechtsregeln und den Rechtsregeln, welche sich
auf den Erwerb von Rechten beziehen, in bezug auf
ihre Rückwirkung kein wesentlicher Unterschied ab-
zusehen."
Wir wollen hier nicht darüber streiten, ob es dem Ge-
setzgeber wirklich zusteht, wie dies aus Bornemanns An-
sicht folgt, auch die Gesetze über den Erwerb der Rechte
je nach seiner Absicht beliebig rückwirken zu lassen. Jeden-
falls aber folgt daraus, daß der Gesetzgeber die Macht
hat, vorkommendenfalls die Natur der Sache auch zu ver-
letzen, doch noch nicht, daß es überhaupt keine ob-
jektive Natur der Sache gebe! Bei der wissen-
schaftlichen Untersuchung dieser Lehre — und eine solche,
selbst das preußische Recht nur beiläufig, wenn auch
mit besonderer Ausführlichkeit, berücksichtigende Unter-
suchung erklärt doch Bornemann selbst S. 1 führen zu
wollen — zum Requisit der Rückwirkungsfähigkeit eines
Gesetzes statt der durch die Wissenschaft festzustellenden
Natur der Sache nur die beliebige Absicht des Gesetz-
gebers zu machen, heißt nichts anderes, als jeden wissen-
schaftlichen Standpunkt überhaupt aufgeben und an ihm
verzweifeln.
Mindestens scheint durch diese die gesetzgeberische Ab-
sicht an die Stelle der rechtlichen Natur der Sache setzende
Lösung eine schwierige Untersuchung erspart und für die
praktische Behandlung ein fester positiver Boden ge-
wonnen zu sein. Aber auch das ist nur ein leerer, sich so-
fort selbst auflösender Schein. Denn
1. würde schon ein Richter unter einer der zahlreichen
früher erwähnten oder diesen etwa hierin noch in Zukunft
S7
nachahmenden Konstitutionen, welche dem Gesetz-
geber die Rückwirkung verbieten, sich nicht mit der Frage
nach der Absicht des Gesetzgebers abfinden können,
sondern er würde untersuchen müssen, inwiefern nach der
rechtlichen Natur der Sache die sofortige Anwendung eines
neuen Gesetzes auf schon bestehende Verhältnisse eine un-
zulässige Rückwirkung in sich schließen würde. Er würde
in diesem Falle sogar eine ausdrückliche gesetzgeberische
Verordnung insoweit einschränken müssen;
2. liegt für die Wissenschaft die Diskussion ja nicht
nur so, wie sie ex lege lata, sondern auch so, wie sie de
lege ferenda zu führen ist. Der Gesetzgeber soll sich
nicht nur, wenn er seinem Begriffe entsprechen will, nach
der rechtlichen Natur der Sache richten. Er wird sich
auch, mindestens in den allermeisten Fällen, und wo nicht
ganz besondere ihn unmittelbar bestimmende und über alle
Rücksichten hinweggehende Gesichtspunkte vorliegen, nach
ihr richten wollen. Wenn sich nun also der Gesetzgeber
nach der Wissenschaft umsieht, um aus dieser zu erfahren,
was die rechtliche Natur der Sache erfordere, und an
dieser objektiven Norm seinen Willen zu gestalten, so
wird er, wenn er nun erfährt, daß vielmehr seine eigene
Absicht der Inbegriff aller Wissenschaft sei, zwar von
dieser seiner eigenen Majestät und Herrlichkeit sehr er-
baut, aber doch um so weniger belehrt sein ! Zumal heut-
zutage, wo die Gesetzgebung von ihren transzendenten
Höhen in die Bürgerkreise hinuntergestiegen ist, welche
noch einigermaßen auf die Resultate der Wissenschaft
Rücksicht zu nehmen pflegen, wird jede wissenschaftliche
Untersuchung dieser Materie ebenso sehr eine gesetzgebe-
rische als eine judiziäre Wirksamkeit haben und sich daher
nicht mit dem bloßen Hinweis auf die positive Vorschrift
begnügen können, in welchem Falle überhaupt die wissen -
88
schaftliche Untersuchung ganz abgeschnitten und alles mit
diesem Hinweis gesagt ist.
3. Endlich aber ist die Sache auch da, wo die Unter-
suchung wie vor unseren Tribunalen nur ex lege lata ge
führt wird, mit jener Frage nach der Absicht des Ge-
setzgebers in den allermeisten Fällen um keines Haares
Breite von der Stelle gebracht. Denn die unendliche Ma-
jorität der bestehenden Gesetze enthält weder eine aus
drückliche, noch aus ihrer wörtlichen Abfassung zu ent-
nehmende Vorschrift über ihre transitorische Anwendung,
und ebenso wird das mit der unendlichen Majorität der
künftigen Gesetze der Fall sein. Überall aber, wo die Ab-
sicht des Gesetzgebers nicht ausdrücklich von ihm aus
gesprochen ist und also interpretiert werden muß, wird an-
genommen werden müssen, daß der Gesetzgeber das ge-
wollt habe, was die rechtliche Natur der Sache erfordert ;
daß er ihr freien Lauf habe lassen wollen. Man wird
dann also, statt in der Absicht des Gesetzgebers einen Maß-
stab zu haben, welcher die wissenschaftliche Natur der
Sache zu ersetzen vermöchte, vielmehr um zu wissen, wel-
ches jene sei, auf diese rekurrieren und sie vorher fest-
stellen müssen. Mindestens in der unendlichen Majorität
der Fälle wird man also bei der Frage nach der gesetz-
geberischen Absicht im Zirkel auf die Frage nach der
rechtlichen Natur der Sache zurückgeworfen werden.
Ebensowenig stichhaltig ist, was Bornemann gegen Sa-
vigny in bezug auf die Rechtsregeln einwendet, welche
das So- oder Anderssein eines Rechtsinstitutes betreffen.
Hier will nämlich Bornemann (S. 9 fg.) unterscheiden
zwischen Rechtsverhältnissen, die ihrer Natur nach eine
unbegrenzte oder doch sehr lange Dauer, und solchen, die
nur eine vorübergehende Dauer haben.
Gesetze, welche Rechtsinstitute von unbegrenzter oder
89
doch sehr langer Dauer modifizieren, sollen im allgemeinen
rückvvirken dürfen ; Rechtsverhältnisse aber von bloß vor-
übergehender Dauer sollen erworbene Rechte sein und
von neuen Gesetzen nicht berührt werden können. Dabei
soll das sehr Merkwürdige stattfinden, daß zwar, wie be-
reits erwähnt, Gesetze, welche Rechtsverhältnisse von un-
begrenzter oder sehr langer Dauer betreffen, sofort ein-
wirken sollen, aber nur, wenn die Modifikationen, welche
das Gesetz in dem betreffenden Rechtsinstitute hervor-
bringt, nicht zu tief eingreifende sind. Wenn dagegen ,,das
neue Gesetz dergestalt tief eingreift, daß dadurch nicht
bloß einzelne Befugnisse" aufgehoben, beschränkt oder
umgestaltet werden, sondern „dadurch das ganze Rechts-
institut, welchem das fragliche Recht angehört, seinem
ganzen Wesen nach umgewandelt wird," — gerade dann
soll die „Anwendung des neuen Gesetzes auf die vorge-
fundenen Rechtsverhältnisse mindestens nicht unbedingt zu-
lässig" sein. Mit anderen Worten: Gesetze, welche ein-
zelne Rechtsbefugnisse aufheben oder modifizieren, sollen
sofort auf die vorhandenen Verhältnisse anwendbar sein ;
Gesetze aber, welche dies mit mehreren oder allen
aus einem Rechtsinstitut fließenden Befugnissen vornehmen,
sollen dies nicht sein *). Es läßt sich aber schlechterdings
nicht absehen, warum der Gesetzgeber durch seine Vor-
schrift oder der Richter durch seine Auslegung mich zwar
um zwei oder drei Rechtsbefugnisse sollte bringen können,
aber nicht um die vier oder fünf, welche diesem Rechts-
institute überhaupt entfließen, oder wenn sie einmal das
letztere nicht können, warum sie das erstere können sollen.
Es läßt sich das um so weniger begreifen, als doch gerade
-1) Es wäre dies also gerade das Gegenteil von der Theorie
Savignys, nach welcher vor allem Gesetze, welche das Sein
eines ganzen Rechtsinstitutes aufheben, rückwjrken müssen.
90
bei der gänzlichen Aufhebung oder Umwandlung eines
Rechtsinstitutes die E x k 1 u s i o n , welche der Gesetzgeber
einem bestehenden System von Rechtsbefugnissen entgegen-
stellt, die totale ist, welche den Richter weit mehr er-
mächtigen und verpflichten sollte, auf frühere Befugnisse
keine Rücksicht zu nehmen.
Es erhellt von selbst, daß diese Theorie eine durchaus
unhaltbare ist. Es sind lauter Unterschiede, die sofort in
der Hand zerfließen. So ist schon der Fundamentalunter-
schied zwischen Rechtsverhältnissen von endloser oder sehr
langer, und zwischen solchen von kurzer Dauer, ein durch-
aus nichtiger. Dieser Unterschied ist bereits Savigny nicht
entgangen, aber von ihm auch schon auf die richtige Weise
erledigt worden. „Die Natur mancher Rechte," sagt Sa-
vigny (S. 379), „ist auf eine endlose Dauer eingerichtet,
wie das Eigentum vermittels des Erbrechtes, die Sklaverei,
die sich durch die Geburt fortsetzt, so daß ein völliges
Aufhören dieser Rechte nur durch zufällige Umstände
eintreten kann ; im Gegensatz anderer Rechte, die schon
durch ihre Natur auf ein vorübergehendes Dasein ange-
wiesen sind, sowie fast alle Obligationen, der Nießbrauch,
die Familienverhältnisse. Bei beiden ist an sich die
Kollision s frage auf gleiche We ise zu ent-
scheiden." Zwischen den Rechten von endloser und
von vorübergehender Dauer gibt es übrigens wenigstens
einen festen Unterschied überhaupt, wenn auch einen
auf unsere Materie sehr einflußlosen. Zwischen den Rech-
ten von sehr langer und von kurzer Dauer läßt sich aber
nicht einmal eine Grenzlinie ziehen. Dieser rein quan-
titative Unterschied ist eben deshalb fließender Natur
und daher gar keiner prinzipiellen oder rechtlichen Ab-
scheidung fähig. Wenigstens sagt Bornemann nicht, was
eine sehr lange und was eine kurze Dauer eines Rechtes
91
sei, und wir zweifeln, daß irgend jemand statt seiner ein
solches Zeitmaß feststellen können wird.
Da Bornemann selbst fühlt, daß mit diesem Unter-
schiede nichts anzufangen, gibt er ihm bei den Rechten
von unbegrenzter oder doch sehr langer Dauer eine andere
Gestalt. Er sagt nämlich, daß solche Rechte, wie z. B.
Lehen. Reallasten usw. als auf solche Dauer gerichtete
Rechte, ,, mindestens der Regel nach" gar nicht als ein
,. erworbenes Recht aufgefaßt, sondern höchstens als Er
Wartung behandelt werden" dürfen. Dann aber folge
,.die rückwirkende Kraft neuer Gesetze auf die gesetz-
liche Beschaffenheit solcher Rechte, als Regel, schon aus
dem Grunde, daß nur erworbene Rechte durch neue
Gesetze nicht berührt werden" (daselbst S. 10). Ein
aktuelles Recht, wie z. B. das Zehntrecht oder die Lehns-
rechte und gutsherrlichen Rechte auf seiten des berech
tigten Inhabers für bloße Erwartungen zu erklären,
wird jedem Juristen als bare Unmöglichkeit, als ein Ver-
stoß gegen die einfachsten Grundrechte des Rechtes er-
scheinen müssen. Es sind diese Rechte ganz so aktuell,
wie nur irgend eines im gesamten Rechtsgebiete, und von
..Erwartungen" seitens der Besitzer also hier gar nicht
die Rede1).
x) Ein solches Recht ist nicht nur keine Erwartung, sondern
es ist gerade das logische Gegenteil derselben. Ein Erbe
hat noch kein aktuelles Recht; er erlangt es erst durch das
Eintreten eines Umstandes (des Todes des Erblassers). Darum
erwartet er. Der Berechtigte bei einem Zehnten einer Reallast
ist in der umgekehrten Lage. Er ist gegenwärtig mit dem
Rechte befaßt und soll es durch den eintretenden Umstand
(Gesetzgebungswechsel) nur verlieren. Er erwartet daher
durchaus nicht, sondern wenn unsere Sprache einen das Gegen-
teil hiervon bezeichnenden Ausdruck hätte, so wäre dieser
gerade der angemessene für seine Position !
92
Statt die sehr aktuellen Rechte „endloser Dauer" der
Berechtigten zu bloßen Erwartungen herabzusetzen, wäre
vielmehr umgekehrt von dieser Argumentation nur zu er-
warten, daß sie durch ihre Schwäche den Erwartungen
der Partei der Berechtigten, den Anspruch auf endlose
Dauer ihrer gegenwärtigen Rechte zu einem Rechte
zu erheben, möglichsten Vorschub tun wird !
Es kann bei Gründen dieser Art nicht wundernehmen,
wenn Bornemann bei den von ihm aufgestellten Grund-
sätzen sich selbst nicht recht heimisch fühlen kann, sie
daher jeden Augenblick durch ein hinzugesetztes „min-
destens im allgemeinen," „wenigstens der Regel nach,"
., jedenfalls in manchen Rechtsverhältnissen" und ähnliche
Ausdrucks weisen in ihrer Tragweite abzuschwächen sucht,
ihnen aber eben dadurch jeden präzisen und prinzipiellen
Charakter nimmt und uns wieder in das vorsavignysche
Ausnahmenchaos zurückwirft, in dessen durcheinander-
schwankendem Gemenge von Ausnahmen, die ihre Regel
beständig aufheben, jede kosmische Gedankenordnung un-
tergegangen ist.
Obwohl nun ein solches Straucheln so bedeutender Ju-
risten an unserer Materie zu doppelter Vorsicht mahnen
muß, und obwohl das Geständnis, das Savigny selbst (Bd.
VIII, Vorrede S.VI) ablegt, es sei eine Unmöglichkeit,
diese Aufgabe schon jetzt zu einem Abschluß zu führen,
der Autor müsse es sich vielmehr hierbei bereits „zur
Ehre rechnen, wenn sein Versuch in der ferneren Ent-
wicklung nur noch als einzelner, vorbereitender Schritt
im Angedenken bleiben sollte," ein Unternehmen um so
mißlicher macht, welches, wie dies der Philosophie nicht
anders möglich ist, mit dem Anspruch einer absoluten
Lösung auftreten muß, so liegt doch gerade hierin auch
eine um so größere Aufforderung, diesen Gegenstand einer
93
wiederholten Untersuchung zu unterwerfen und den spe-
kulativen Begriff durch die einfache Tätigkeit seiner
Dialektik das leisten zu lassen, woran die größten Juristen
scheiterten und was sie offen als eine Unmöglichkeit ein-
gestanden. Es fehlt aber auch nicht an anderen und prak-
tischen Gründen, welche dies als besonders zeitgemäß er-
scheinen lassen.
So ist schon oben darauf aufmerksam gemacht, wie,
nachdem die Gesetzgebung von ihrer transzendenten Höhe
in die Bürgerkreise hinunterzusteigen begonnen hat, ein
verstärkter Einfluß der Wissenschaft auf die Gesetzgebung
möglich ist. Noch konkretere Gründe liegen nahe. Der
Gesetzgebungswechsel in Deutschland war in den letzten
zwölf Jahren ein sehr lebhafter im Verhältnis zu früheren
Perioden. Und doch dürfte er nur ein äußerst unbedeu-
tender zu nennen sein, verglichen mit dem ganz anders
sturmvoll bewegten, der uns in naher Zukunft bevorsteht.
Es kommt hinzu, daß der Grundsatz der Nichtrückwirkung,
so sehr er auch zunächst als eine einfache stets gültige
Vorschrift des Privatrechtes erscheint, seine eigene Ge-
schichte hat, die immer mit dem politischen Charakter der
Periode in der innigsten Verbindung steht, so daß er
sogar einer eigenen und sehr lehrreichen Geschichtschrei-
bung fähig wäre. Wer nämlich in unsere Materie auch
nur ganz oberflächlich eingedrungen ist, wird begreifen,
daß und warum alle Zeiten von gesteigerter historischer
Entwicklung — solche also, die man gewöhnlich revo-
lutionäre Zeiten zu nennen pflegt — geneigt sein müssen,
dem Grundsatz der sofortigen Anwendung neuer Gesetze
eine möglichst weite Ausdehnung zu geben, während alle
Zeiten der Reaktion — und ebenso alle Parteien von reak-
tionärer Tendenz in Zeiten gesteigerter historischer Ent-
wicklung — den Grundsatz der Nichtrückwirkung zur un-
94
zulässigsten Ausspannung aufzutreiben streben ; freilich nur
insofern es für diese Parteien nicht gilt, eigene durch die
frühere Gesetzgebung verloren gegangene Rechte wieder-
zuerobern ! Denn sobald es sich hierum handelt, pflegen
dieselben am eifrigsten dabei zu sein, trotz aller Formeln
und Wendungen, in denen sie den Grundsatz der Nicht-
rückwirkung sonst heilig sprechen, denselben auf das ge-
waltsamste unter die Füße zu treten.
Frankreich liefert uns auch hierfür wieder die lehr-
reichsten Belege, und es kann erforderlich scheinen, das
hier abstrakt Gesagte mindestens durch einige auffällige
Beispiele zu klarster Anschaulichkeit zu bringen.
Durch das Gesetz vom 14. November 1792 hatte der
französische Nationalkonvent alle fideikommissarischen
Substitutionen von da ab untersagt und alle zur Zeit be-
stehende Fideikommisse in freies Eigentum in der Hand
ihrer Besitzer verwandelt. Er hatte ferner durch das Ge-
setz vom 7. März 1793 alle testamentarische Dispositionen
und auch die unwiderruflichen Erbverträge verboten. Durch
die Gesetze vom 5. Brumaire II und besonders vom 17.
Nivose desselben Jahres (6. Januar 1794) ging der Kon-
vent aber weiter und verfügte 1) unter anderem, daß alle
seit dem 14. Juli 1789 geschaffenen fideikommissarischen
Substitutionen und Erb vertrage2) nichtig sein und die ver-
möge solcher Stipulationen seitdem erworbenen Güter
ebenso wie alle seit demselben Tage eröffneten Erb-
r) S. Art. 13 des Brumaire-Gesetzes, Art. 2 des Gesetzes
vom 17. Nivose und vgl. die Antwort auf die 52. Frage in
dem vom Konvent auf den Bericht des Gesetzgebungskomitees
erlassenen Dekrete vom 22. Ven'ose II.
2) Sowie auch die vor dem 14. Juli 1789 geschaffenen Sub-
stitutionen, Erbfolgeverträge und Testamente, wenn die Ur-
heber am 14. Juli noch am Leben waren.
95
schaften trotz aller entgegenstehenden Gesetze, Schenkun-
gen, Testamente und Dispositionen aller Art und trotz
aller schon vollbrachten Teilungen von neuem nach dem
Grundsatze der Gleichheit unter den natürlichen Erben
des Verstorbenen geteilt werden sollten. Wir werden
später Anlaß haben, dieses Gesetz in bezug auf die all-
gemein bejahte Frage, inwiefern dasselbe eine Rückwirkung
in sich schließe, einer strengen wissenschaftlichen Analyse
zu unterwerfen.
Wie dem inzwischen auch sei, als die Wogen der Ther-
midor- Reaktion höher und höher stiegen, ging man von
der Ansicht aus, daß dasselbe rückwirkender Natur ge-
wesen sei, und man beeilte sich nun durch die Gesetze vorn
9. Fructidor III und vom 3. Vendemiaire IV (25. Sep-
tember 1795) die retroaktiven Dispositionen der Gesetze
vom 5. Brumaire und 17. Nivöse II1) — während man
ihre erbrechtlichen Grundsätze für die Zukunft aufrecht
erhielt — wieder aufzuheben. Aber man begnügte sich
nicht, diese Aufhebung von jetzt ab auszusprechen, so
daß nunmehr z.B. bloß alle seit dem 14. Juli 1789 und
vor dem sie bereits verbietenden Gesetze vom 7. März
1 793 geschlossenen Erbverträge, die sich von jetztab
noch durch den Tod des Erblassers eröffnen wür-
den, oder alle seit dem 14. Juli 1789 geschaffenen und
vor dem sie bereits in freies Eigentum verwandelnden Ge-
setze vom 14. November 1792 eröffneten, aber etwa
nochinLiquidation befindlichen Fideikommisse
aufrecht erhalten bleiben sollten, sondern man gab nun
der Aufhebung jener der Rückwirkung angeklagten Ge-
setze einen jedenfalls und unzweifelhaft rückwirkenden
1) Ebenso die Dekrete des Konvents vom 22. Ventöse II,
vom 9 Fructidor II usw.
96
Effekt. Man verordnete, daß die Personen, welche auf
Grund jener Gesetze vom 5. Brumaire und 17. Nivose II
in gesetzlicher Weise Erbschaften erworben hatten, zur
Herausgabe verpflichtet, daß alle ergangenen rechtskräf-
tigen Urteile vernichtet, alle auch gänzlich beendeten Tei-
lungen wirkungslos sein und die bereits zweimal geteilten
Erblassenschaften einer dritten Teilung unterzogen wer-
den sollten. Ja, während der Nationalkonvent in den Ge-
setzen vom 5. Brumaire1) und 17. Nivose II2), die bona
fides der bisherigen Besitzer respektierend, verordnet hatte,
daß dieselben nicht nur wegen der stattgehabten Nutzungen
keinerlei Ersatz zu leisten hätten, sondern sogar schlecht-
hin, daß die durch die neuen Gesetze berufenen natürlichen
Erben die Güter durchaus in dem Zustande nehmen
müßten, in welchen sie sich zur Zeit befänden, ging die
Thermidor- Reaktion weiter und sicherte den von ihr wie-
dereingesetzten Personen gegen die durch die aufgehobenen
Gesetze berufenen und durch dieselbe bona fides gedeckten
Besitzer eine Aktion wegen inzwischen erfolgter Hoch-
waldsfällungen zu (. . . ,,sauf l'action pour abbatis de
bois - futaie" ; Art. 3 des Gesetzes vom 3. Vendemi -
aire
IV3)).
1) Art. 16: Dans les partages et rapports qui seront faits
en execution des articles precedents, il ne sera fait aucune
restitution ni rapport des fruits et interets qui avant la Promul-
gation du present decret, auront ete percus en vertu des lois,
coutumes et disposihons auxquelles il a ete cidessus deroge.
) Art. 46, dem eben zitierten Art. 16 entsprechend, und dazu
noch außerdem Art. 47 : „Les heritiers naturels rappeles par
le present decret seront tenus de recevoir les biens en Vetat oh ils
se trouvent actuellement" usw.
3) Man muß aber nicht etwa glauben, daß, wie vielleicht
sehr plausibel erscheinen möchte und wie dies Merlin in der
Tat in einer bald zu erwähnenden Konventsitzung darzustellen
7 Lassalle. G«. Schriften. Band IX. 97
Ebenso hatte der Nationalkonvent durch Gesetz vom
4. — 6. Juni 1793 im Prinzip die Sukzessionsfähigkeit der
natürlichen Kinder in den elterlichen Nachlaß dekretiert
und zur Regelung dieser Verhältnisse das Gesetz vom
suchte, die retroaktiven Bestimmungen des Gesetzes vom 17.
Nivöse dem Konvent wider seine eigene Ansicht durch die am
9. Thermidor gestürzte Partei der Schreckensherrschaft auf-
gezwungen und in einfacher Folge hiervon nach dem Sturz
Robespierres wieder aufgehoben worden wären. Der Konvent
blieb vielmehr noch lange nach dem 9. Thermidor von der
Richtigkeit der hierüber im Nivösegesetz aufgestellten Grund-
sätze durchdrungen und nur sehr allmählich und mit der
fortschreitenden Hitze der rückschreitenden Bewegung gelangte
man zu der Ansicht, eine unzulässige Rückwirkung in ihnen
zu sehen. Weil dies mit unserer obigen Behauptung über den
den Individuen selbst oft unbewußten und unmerklichen Einfluß
der politischen Ansichten und ihrer Strömung auf die Auf-
fassung des Rückwirkungsgedankens zusammenhängt, und weil
selbst unsere ausführlichsten Geschichtswerke, französische wie
deutsche, noch immer den Einwirkungen der französischen Re-
volution auf die privatrechtliche Lage der Individuen jede
detailliertere Aufmerksamkeit zu schenken verabsäumen — wer-
den doch nicht einmal so überaus charakteristische Tatsachen
wie die durch den Retroaktiveffekt der oben bezogenen Gesetze
vom 17. Nivose II usw. und wieder 3. Vendemiaire IV usw.
hervorgerufenen zwei- und dreimaligen Teilungen der Erb-
schaften, die In- und Außerbesitzsetzungen der natürlichen Kin-
der usw. von ihnen auch nur erwähnt — , so halten wir darauf,
jenen Verlauf um seines bedeutenden geschichtlichen Interesses
willen hier zu konstatieren.
Während also Robespierre und seine Partei am 9. Thermi-
dor II (27. Juli 1794) gestürzt wurde, erließ noch einen Monat
später, am 9. Fructidor II (26. August 1794), der Konvent
auf den Bericht seines Gesetzgebungskomitees über verschie-
dene hinsichts des Nivosegesetzes eingegangene Petitionen und
zur Schlichtung der in denselben aufgeworfenen Fragen, ein
Dekret (ganz nach Art des Dekretes vom 22. Ventöse II), in
98
12. Brumaire II (2. November 1793) erlassen, nach wel-
chem (Art. 1) die existierenden unehelichen Kinder in
alle bereits seit dem 14. Juli 1789 eröffneten Erbschaften
ihrer Eltern sukzedieren sollten. Durch Gesetz vom 15.
welchem er überall auf das strengste an den Bestimmungen und
Grundsätzen des Nivösegesetzes festhält. Ja, am selben Tage
erließ der Konvent sogar ein Dekret (decret additionnel ä celui
du 17 — 21 nivöse sur les successions), in welchem er, das
Nivösegesetz noch ausdehnend, verfügt, daß auch die Hinter-
lassenschaften aller seit zehn Jahren vor dem 14. Juli
1789 Abwesenden nach den Grundsätzen jenes Gesetzes geteilt
werden sollten. Und wir bemerken einstweilen, daß es Berlier
war, welcher diesen Gesetzvorschlag dem Konvent präsentierte
(s. den Moniteur vom ll.Fructidor II). Selbst noch im Bru-
maire III (Oktober— November 1794) dachte der Konvent noch
nicht an die Rücknahme jener retroaktiven Bestimmung, wie
wir bald sehen werden. Ja, nicht genug; noch am 11. Nivöse
III — also am 31. Dezember 1794 — ging der Konvent, durch
Petitionen wie Anträge um Rücknahme jener Bestimmungen be-
stürmt, nicht nur zur Tagesordnung über, sondern dekretierte
sogar, daß dieser Übergang zur Tagesordnung in das Bulletin
de correspondance aufgenommen werden sollte, um hierdurch
auf das nachdrücklichste zu zeigen, daß er zur Aufrechterhal-
tung jenes Gesetzes fest entschlossen sei. — Wir entnehmen
letztere Tatsachen dem Eingeständnis, welches Merlin in einer
viel späteren Zeit, in seinem als Generalprokurator am Pariser
Kassationshofe in der Sitzung desselben vom 21. Vendemiaire
X (13. Oktober 1801) im Prozeß Dubarry contra Lonjon ge-
haltenen Plädoyer abgelegt hat, in einer Zeit also, in welcher
sich die Leidenschaften beruhigt hatten und er sich vielleicht
selbst nicht mehr erinnerte, wie sehr er durch dies Eingeständnis
die von ihm in der Konventssitzung vom 5. Floreal III auf-
gestellten Behauptungen selbst Lügen strafte. Merlin sagt in
jenem Plädoyer (abgedruckt in seinen Questions de droit I Paris
1828], III, 581) wörtlich: „Mais premierement, il n'existait en
brumaire an III, aucun indice que l'effet retroactif de la loi
du 17 nivöse an II düt etre rapporte ; et la Convention nationale
7- 99
Thermidor IV (5. August 1796) verfügte dagegen die
Thermidor-Reaktion, daß dieser auf den 14. Juli 1789
zurückwirkende Effekt aufgehoben sein und die in der
Zwischenzeit vom H.Juli 1789 bis zum 4. Juni 1793
von den natürlichen Kindern auf Grund jenes Gesetzes
ellc-meme y etait alors si peu dispossee que deux mois apres,
le 11 nivöse an III, non seulement eile a passe ä l'ordre du
jour sur la proposition qui lui etait faite de rapporter ces dis-
positions extraorchnaires, mais eile a encore ordonne que le
decret par lequel eile avait ecarte cette proposition, füt insere
au Bulletin de correspondance, afin sans doute de manifester avec
d'autant plus d'eclat, l'intention ou eile etait de maintenir la
loi dans son inte'grite'." Erst in der Sitzung vom 5. Floreal III
(24. April 1795) war es, daß die Suspension aller auf Grund
des Nivösegesetzes noch schwebenden Prozeduren vom Konvent
dekretiert wurde. Wenn Merlin also in dieser Sitzung (s. den
Moniteur vom 9. Floreal III) die Behauptung aufstellt, der
Art. 14 der Deklaration der Menschenrechte von 1793 habe (s.
oben S. 57, Anmerk. 2) nach der ursprünglichen Absicht auch
im Zivilrecht das Rückwirken neuer Gesetze ausschließen sollen,
so kann er hierin vollständig recht haben, denn die in Rede
stehenden Bestimmungen des Nivösegesetzes enthielten, wie wir
später sehen werden, nach Ansicht des Konventes gar
keine wirkliche Rückwirkung. Wenn aber Merlin ferner in dieser
Rede, die Petitionnaires, welche die Barre des Konventes be-
stürmten, unterstützend, das Nivösegesetz so darstellen will, als
sei es nur von Couthon, Herault-Sechelles und Fabre d'Eglantine
usw. dem Konvent aufgezwungen worden, wenn er behauptet,
keiner seiner Kollegen habe sich zur Redaktion dieses Gesetzes
hergeben wollen, nur mit List habe Berber dazu bestimmt
werden können, und zwanzigmal habe dieser die Piecen auf
das Bureau zurückgeworfen „en disant qu'il ne voulait pas
etre le redacteur d'une loi aussi infame," so ist er in dieser
ganzen Darstellung der Unwahrheit überführt durch sein eigenes
späteres, das Verhalten des Konvents zu jenem Gesetz noch
lange nach dem Thermidor so ganz anders schilderndes Ge-
ständnis; er ist endlich in bezug auf Berber der Unwahrheit
100
erworbenen Erbteile wieder von ihnen herausgegeben wer-
den sollten (nach den Formen des Gesetzes vom 3. Ven-
demiaire IV).
Die Napoleonische Gesetzgebung trägt den Charakter
ihrer ermatteten und relativ rückwärts gewendeten Periode
in ruhigerer Weise insofern an sich, daß sie dem Grund-
satz der Nichtrückwirkung die unzulässigste Ausdehnung
gibt 1). So verordnet der Code Napoleon z. B. (Art. 2281
überführt durch die schon vorher konstatierte Tatsache, daß
dieser noch einen Monat nach' dem Sturz der Schreckensherr-
schaft den die Prinzipien des Nivösegesetzes von neuem an-
wendenden und resp. ausdehnenden Gesetzesvorschlag vom 9.
Fructidor II machte, und schließlich auch noch dadurch, daß
Berlier in seinem früher dem Konvent erstatteten Bericht zum
Dekret vom 22. Ventose II ausdrücklich geleugnet hatte, daß
das Nivösegesetz eine Rückwirkung in sich schließe (s. den
Bericht Berliers im Moniteur vom 25. Ventose II).
*) Es wird dies schon durch die oben im Text nachfolgen-
den Beispiele und durch die dabei angeführten Erklärungen der
französischen Regierungsredner hinlänglich erwiesen. Übrigens
gilt das Gesagte noch weniger vom Code selbst, als von den
transitonschen Gesetzen und anderen Dekreten und Erlassen
der kaiserlichen Regierung. So ist z. B. der Art. 2 des Gesetzes
über die natürlichen Kinder vom 14. Floreal XI den franzö-
sisch-rechtlichen Ansichten nicht entsprechend. Noch weniger
ist dies mit dem Avis du conseil d'etat vom 20. September 1809
der Fall, welcher verordnet, daß bei Kontumazialverurteilungen
zum bürgerlichen Tode die durch Art. 28 C. c. hieran geknüp-
ten Folgen für die Art der Vermögensverwaltung nur für später
Verurteilte eintreten sollten. Ebenso steht das Zinsengesetz vom
3. September 1807 durch seine im Art. 5 verfügte Unanwend-
barkeit des Maximums auf die bestehenden Verträge in einem
auffälligen Gegensatz mit einem in der Folge anzuführenden
preußischen Gesetz hierüber und gewiß auch in einem unleug-
baren inneren Widerspruch mit dem die Freilassung der Schuld-
gefangenen verordnenden Dekret des Konventes vom 9. bis
101
C. c), daß die bereits begonnenen Verjährungen nicht
nach den neuen vom Gesetz bestellten Fristen, sondern nach
den älteren berechnet werden sollten, eine von der Wissen-
schaft einmütig verworfene Bestimmung1).
12 März 1793. Der Art. 1041 Code de proced., bestimmend,
daß die neuen Prozedurformen auf schon eingeleitete Prozesse
keine Anwendung finden sollen, steht, trotz des einschränken-
den Avis du conseil d'etat vom 6. Januar und 16. Februar 1807,
gleichfalls nicht mit der französischen Rechtswissenschaft in
Übereinstimmung. In schreiender Weise verstößt gegen die-
selbe der Art. 155 des Organisationsdekretes für die hanseati-
schen Departements vom 4. Juli 1811, welcher bestimmt, daß
die durch dies Dekret abgeschafften Substitutionen noch wirk-
sam bleiben sollten für die bereits lebenden nächsten Berufenen
usw. Wenn man letzteres etwa als eine Billigkeitsausnahme
auffassen sollte, so wird sich später zeigen, daß solche an-
gebliche Billigkeit, die überdies der französischen Doktrin ganz
entgegen ist, vielmehr eine hohe Unbilligkeit und Rechtswidrig-
keit darstellt. Übrigens hat die kaiserliche Gesetzgebung durch
diese und ähnliche Verordnungen im allgemeinen keinen dauern-
den und umändernden Einfluß auf die französische Doktrin
ausgeübt.
*) Vgl. Bornemann. a. a. O., S. 39. Savigny, a. a. O., S. 434.
Simon und Strampff, Zeitschrift, II, 28 fg. Bergmann, Das
Verbot der rückwirkenden Kraft (Hannover 1818), S. 34 und
247 fg. Die französischen Schriftsteller selbst leugnen die theo-
retische Unrichtigkeit dieses Grundsatzes, der schon mit der
alten französischen Jurisprudenz, die sich in bezug auf die
königlichen Ordonnanzen von 1510 und 1673 gebildet hatte,
in Widerspruch steht, durchaus nicht, und streben deshalb, diese
Bestimmung des Code civil lediglich auf die im Code civil
bestellten Verjährungsfristen zu beschränken, ihre Unanwend-
barkeit auf die erst vom Code de procedure festgesetzten be-
hauptend ; s. Merlin, Repert. v° Effet retroactif , Sect. 3, §§ 3
und 11, und Troplong, De la Prescription, S. 522. Ebenso hat
der Pariser Kassationshof durch Urteil vom 30. November 1813
102
So wurde ferner in dem transitorischen Gesetz vom
26. Germinal XI, durch welches das Scheidungsgesetz des
Code Napoleon eingeführt wurde, bestimmt, daß dieses
auf die bereits eingereichten Scheidungsklagen keinerlei
Wirkung ausüben, dieselben vielmehr nach den alten Grund-
sätzen und Formen abgeurteilt werden sollten. Und dies
wurde vom Regierungsredner Staatsrat Real in seinem
Expose des motifs vor dem legislativen Körper nicht aus
Billigkeitsgründen gerechtfertigt, sondern vielmehr aus-
drücklich als eine notwendige Folge des über die Nicht-
rückwirkung handelnden Art. 2 Code civil behauptet1).
Das Recht auf Scheidung wurde von Herrn Real aus-
die Unanwendbarkeit jener Vorschrift auf Verjährungen, die
durch ein Spezialgesetz bestellt sind, angenommen. Es muß
daher um so mehr wundernehmen, wenn in einer Entscheidung
des Königlichen Obertribunals (Praejud. 2210) unter Bezug-
nahme auf den Art. 2281 C. c die völlig falsche Ansicht aus-
gesprochen werden konnte, daß der mit der richtigen Theorie
ganz übereinstimmende § XVII des Einführungspatentes vom
5. Februar 1794 zum Allgemeinen Landrecht nur eine positive
transitorische Bestimmung enthielte, welche auf den Übergang
aus dem alten Rechtszustand in den des Allgemeinen Land-
rechtes zu beschränken sei und ebenso gut auch anders —
nämlich dem Art. 2281 C. c entsprechend — hätte geordnet
werden können !
3) Herr Real geht deshalb so weit, zu sagen, daß das ganze
transitorische Germinalgesetz eigentlich überflüssig sei. Es er-
gebe sich sein Inhalt aus dem Art. 2 Code civil eigentlich von
selbst : ,,Et peut-etre que cette solennelle profession de f oi,
peut-etre que cette regle de conduite placee en tete du code dont
la loi sur le divorce fait parlie, pouvait amener ä regarder
comme inutile la loi transitoire dont le projet vous est soumis ! !
Mais le Gouvernement a ete instruit que des doutes ( ! !) s'ele-
vaient" usw.
103
drücklich für ein „droit acquis" 1), für ein erworbenes
Recht ausgegeben 2) !
Von der pieußischen Gesetzgebung läßt sich nach-
weisen, daß in ihr ein großer — und zwar erfreulicher
1) „Dans sa disposition generale, le projet de loi que nous
vous presentons, appliquant le principe proclame par l'art. 2
du code prononce que le droit resultant de la loi ancienne est
acquis ä celui qui a use de ce droit anterieurement ä la publi-
cation de la loi nouvelle."
2) Um wieviel richtiger dagegen die mit den später zu ent-
wickelnden Grundsätzen der Wissenschaft genau übereinstim-
menden Publikationspatente des preußischen Gesetzgebers hier-
über in den Jahren 1814 — 1816, auf welche schon oben (S. 73,
Anm. 1) Bezug genommen ist! — Jenes Expose des motifs
des Staatsrates Real läßt übrigens sehr deutlich erkennen, aus
welcher historischen Ursache in jener Periode diese übertrie-
benen Auffassungen der Nichtrückwirkung stammen. Er er-
innert zuerst an die allgemeine Übereinstimmung der Juris-
konsulten aller Zeiten über diesen Grundsatz und wirft dann
einen mit Abscheu erfüllten Blick auf die Zeiten des Konvents,
in denen allein er mit Füßen getreten worden sei. „C'est sans
doute parce que dans ces temps de troubles dont nous sortons
ä peine, cette verite, aujourd'hui si religieusement respectee,
a ete plus audacieusetnent foule'e aux pieds que vous retrouvez
ä la tete du Code Napoleon, sous l'art. 2 du Titre preliminaire,
la declaration suivante que son evidence devait sans ce motif
dispenser de toute publication : La loi ne dispose que pour
l'avenir, eile n'a point d'effet retroactif." Die Sache ist, daß
man, die Grundsätze der Wissenschaft über diese Materie sehr
wenig beherrschend, dem Konvent jedenfalls sehr viel Fälle
von Rückwirkung vorwarf, in denen eine solche in Wahrheit
durchaus nicht zu finden ist. Um sich von ihm so sehr als
möglich zu entfernen und in dem oben erwähnten jeder Re-
aktionsperiode natürlichen Streben, die Gültigkeit der Nicht-
rückwirkung zu übertreiben, kam man so weit, daß, wie Herr
Real, in einer Scheidungsklage, der Regierungsredner Staatsrat
Bigot-Preameneu in seinem dem gesetzgebenden Körper ent-
104
— Umschwung der Ansichten hierüber zwischen den
Jahren 1803 und 1814 eingetreten ist, ein Fortschritt,
welcher in dieser Hinsicht auch die Grundsätze der Napo-
leonischen Gesetzgebung, die freilich durchaus nicht hierin
mit den Grundsätzen der französischen Jurisprudenz für
überall identisch gehalten werden dürfen1), in manchen
Stücken weit hinter sich zurückläßt. Um diesen zwischen
1803 und 1814 in der preußischen Legislation einge-
tretenen Fortschritt darzutun, reicht es hin, das preußische
Publikationspatent vom 24. März 1803 für das Fürsten-
tum Eichsfeld, Mühlhausen, Nordhausen usw. mit den
in den Jahren 1814 und 1816 erlassenen Publikations-
patenten in einigen Stücken zu vergleichen. So heißt es
in den §§ 5 und 6 des Publikationspatentes von 18032):
wie alle älteren Verträge ,,in Ansehung ihrer Form und
ihres Inhaltes" — „ebenso müssen alle Testamente
und alle letztwillige Verordnungen, welche vor dem 1 . Juni
1804 errichtet sind, durchgehends nach den Vor-
wickelten Expose des motifs über den Verjährungstitel (Locre,
Motifs, VII, 162, 171) in dem Beginn einer Verjährungs-
frist nach einem Gesetze das „erworbene Recht" suchte, sie
nach demselben Gesetze zu Ende zu führen. („II faut eviter
l'effet retroactif. — II suffit qu'un droit eventuel soit attache
ä la prescription commencee pour que ce droit doive dependre
de l'ancienne loi," Äußerungen, für die er von Merlin und
Troplong, a. a. O., auf das härteste zur Rede gesetzt wird.)
*) Wir verwahren uns übrigens gegen die aus Äußerungen
wie die obige etwa zu folgernde Meinung, als wären wir mit
den Ansichten der französischen Jurisprudenz grundsätzlich ein-
verstanden. Es gilt vielmehr von der französischen Ansicht
über die Nichtrückwirkung ebenso sehr wie von der Savignys,
daß sie sowohl zu weit als zu eng ist, wie sich dies im
positiven Teile herausstellen wird.
2) Vgl. § XII des Publikationspatentes vom 5. Februar 1794
bei der Einführung des Allgemeinen Landrechtes.
105
Schriften der älteren Gesetze beurteilt werden, wenngleich
das Ableben des Erblassers erst später erfolgt sein sollte."
Hiernach waren also die Testamente nicht nur in bezug
auf ihre Form, sondern, wie Bergmann (s. oben S. 81)
will, auch in bezug auf die Gültigkeit ihres Inhaltes
gegen die Anwendbarkeit der neuen landrechtlichen Be-
stimmungen über Testierfähigkeit, Fähigkeit der Hono-
rierten und Pflichtteil trotz der noch nicht erfolgten De-
lation der Erbschaft geschützt. Es waren bloße Erwar-
tungen wie erworbene Rechte behandelt. Dagegen heißt
es im § 6 des preußischen Publikationspatentes vom 9.
September 1814 (für die Altmark, Herzogtum Magdeburg
usw.) ausdrücklich, daß die bestehenden Testamente nur
„in Rücksicht ihrer Form" nach den älteren Ge-
setzen zu beurteilen seien, und in den Publikationspatenten
von 1816 wird noch zum Überfluß besonders hinzugesetzt,
daß der Inhalt der Testamente nur gültig sei, „insofern
nicht Prohibitivgesetze zur Zeit des Erbanfalles ihm ent-
gegenstehen. In letzterer Rücksicht ist insbesondere die
Lehre von der Erbfähigkeit der instituierten Erben und
vom Pflichtteil nach den zur Zeit des Erbanfalles gelten-
den Gesetzen zu beurteilen."
Ebenso wird in dem Publikationspatent von 1803 in
§8 verordnet1), daß auch die „Grundsätze wegen
Trennung der Ehe" — die doch zum persönlichen
Eherecht gehört — , nach den Gesetzen zur Zeit der
Eheschließung zu beurteilen seien. Im § 9 des Pa-
tentes von 1814 ■ — und ebenso in allen späteren Publi-
kationspatenten ■ — wird dagegen bestimmt, daß in bezug
auf die Scheidung die Bestimmungen des neuen Land-
rechtes platzgreifen sollen.
*) Entsprechend dem § XIV des Publikationspatentes vom
5. Februar 1794 zum Allgemeinen Landrecht.
106
In § 10 des Patentes von 1814 wird verfügt, daß vom
Tage der Gesetzeskraft des Landrechtes ab der nach den
Bestimmungen desselben dem Vater zustehende Nießbrauch
an dem Vermögen der Kinder eintreten, der der Mutter
aber nach Maßgabe dieser Bestimmungen fortfallen sollte.
In dem Patent von 1803 dagegen1) fehlt jede solche spe-
zielle Vorschrift, und durch die allgemeine Verfügung des
§4 daselbst war das Gegenteil darüber entschieden2).
Ebenso ward in § 11 des Patentes von 1814 bestimmt,
daß auch die früher geborenen unehelichen Kinder von
dem Tage der Geltung des Allgemeinen Landrechtes ab
mit den in diesem unehelichen Kindern beigelegten Rechten
befaßt sein sollten. In dem älteren Patent von 1803 fehlt
jede solche Ausnahme, und nach der in § 4 daselbst ge-
gebenen Regel war das Gegenteil festgestellt3).
*) Und ebenso im Publikationspatent vom 5. Februar 1794.
2) Denn im § 4 heißt es (entsprechend dem § VIII im
Publikationspatent vom 5. Februar 1794): ,,Auch soll ein jeder,
welcher zur Zeit der Publikation des Allgemeinen Landrechtes
in einem nach bisherigen Rechten gültigen und zu
Recht beständigen Besitze irgend einer Sache oder eines
Rechtes sich befindet, gegen jedermann geschützt und
niemand in dem Genüsse seiner wohlerworbenen Gerecht-
same unter irgend einem aus dem Allgemeinen
Landrecht entlehnten Vo r wände gestört oder be-
einträchtigt werden."
3) Denn es heißt daselbst (entsprechend dem § VIII des
Publikationspatentes vom 5. Februar 1794): „Auf die schon
früher vorgefallenen Handlungen und Begebenheiten
soll das Allgemeine Landrecht nicht angewendet, sondern dabei
nach den §§ 14 — 20 der Einleitung vorgeschriebenen Grund-
sätzen verfahren werden." In diesen findet sich aber hierüber
nur in § 14 die Wiederholung, daß neue Gesetze auf frühere
Handlungen und Begebenheiten nicht anzuwenden sind, und
in § 19 die Bestimmung: ..Insofern aus einer verbotenen Hand-
107
In bezug auf die erlaubte Höhe der Zinsen ist in § 14
des Patentes von 1814 verordnet, daß die Bestimmungen
des Allgemeinen Landrechtes hierüber vom Tage seiner
Gesetzeskraft ab dergestalt eintreten sollen, „daß, wenn
in einem früheren Vertrage höhere Zinsen verabredet wor-
den, als die preußischen Gesetze verstatten, von dem Tage
der Wirksamkeit des letzteren der Schuldner nur zur Zah-
lung der erlaubten niedrigen Zinsen verpflichtet ist." In
dem älteren Patent fehlt diese Bestimmung, und da viel-
mehr in demselben in § 5 (entsprechend dem § XI des
Publikationspatentes vom 5. Februar 1794) ohne jede Aus-
nahme bestimmt ist, alle Verträge müssen „in Ansehung
ihrer Form und ihres Inhaltes sowie auch der daraus
entstehenden rechtlichen Folgen nach den Gesetzen
zur Zeit des geschlossenen Kontraktes beurteilt werden,
wenngleich erst später daraus auf Erfüllung, Aufhebung
oder Leistung des Interesse geklagt würde," so
war hierdurch wieder das Gegenteil festgesetzt1).
Ebenso wird in § 15 des Patentes von 1814 in bezug
auf die Vorzugsrechte von Gläubigern ein Unterschied
gemacht und gesagt, daß, wenn es auf eine bloße Klas-
sifikation (also auf eine aus dem Gesetz selbst her-
rührende Bevorzugung) der Forderungen mehrerer Gläu-
biger ankommt, in Fällen des späteren Streites die preu-
ßischen Gesetze, ohne Rücksicht auf die zur Zeit der
Entstehung der Forderung geltend gewesenen Gesetze,
lung Privatrechte entspringen, muß auf die Gesetze, welche
zur Zeit der Handlung gültig waren, Rücksicht genommen
werden."
x) In der Tat verwerfen Savigny und fast alle seine Nach-
folger ein solches sofortiges Eingreifen der Zinsgesetze als
eine unerlaubte Rückwirkung, aber mit großem Unrecht, wie
sich uns an seinem Ort ergeben wird.
108
maßgebend sein sollten. Bei wirklichen Pfandrechten (und
ebenso bei gesetzlichen Hypotheken) müßten dagegen die
Gläubiger in ihren älteren Rechten geschützt werden.
In den älteren Patenten findet sich dagegen eine solche
Unterscheidung nicht, und mußten die Gläubiger nach den
allgemeinen Vorschriften derselben bei den Vorzugsrechten
ihrer Forderungen nach den Gesetzen zur Zeit ihrer Ent-
stehung geschützt *) werden.
Wir bemerken noch, daß alle angeführten Punkte des
Patentes von 1814 sich ganz ebenso in allen späteren Pu-
blikationspatenten von 1816 wiederfinden, dasselbe also
durchaus keine Singularität darstellt.
Was sich bei dieser Vergleichung offenbar ergibt, ist
zunächst zweierlei. Ein gänzlicher Stillstand der gesetz-
geberischen Ansichten über unsere Materie in den zehn
Jahren von 1794 — 1804, und dagegen ein sehr leb-
hafter Umschwung dieser Ansichten, und zwar ein min-
destens in den allermeisten Fällen höchst erfreulich zu
nennender Fortschritt derselben, in den anderen
zehn Jahren von 1804 — 1814, ein Fortschritt, wel-
cher sich bei uns also gerade genau in derselben Periode
vollbrachte, in welcher in Frankreich der oben angedeutete
relative Rückschritt der kaiserlichen Gesetzgebung statt-
fand.
Fragt man nun nach den Ursachen dieses in Preußen
zwischen 1804 und 1814 eingetretenen so bedeutenden
und mit dem früheren Stillstand so lebhaft konstrastieren-
*) Was in bezug hierauf wahrhaft anzunehmen ist. darüber
später. — Endlich enthält das Patent von 1814 in § 14 noch
die Bestimmung : „Die Volljährigkeit tritt in Absicht aller
derjenigen Personen, welche solche vor dem 1. Januar 1815
nach den bisherigen Gesetzen noch nicht erreicht haben, erst
mit dem vollendeten vierundzwanzigsten Jahre ein."
109
den Fortschrittes, so ist es unmöglich, etwas anderes als
Ursache hierfür anzunehmen, als die gerade in jener Pe-
riode zu uns erfolgte Verbreitung der Ideen der französi-
schen Revolution.
In der deutschen Rechtswissenschaft lag der Grund ge-
wiß nicht. Denn an Weber etwa zu denken, dessen Werk
in der Zwischenzeit erschien („Über die Rückanwendung
positiver Gesetze," Hannover 1811), ist teils aus mehr-
fachen Gründen nicht möglich, teils steht er selbst in dem,
was er Richtiges hat, hauptsächlich unter dem von ihm
keineswegs verhehlten Einfluß der französischen Ideen,
während noch das 1812 erschienene Werk von von Herre-
storf f („Über die zurückwirkende Kraft der Gesetze,"
Düsseldorf 1812) in der unzulässigsten Ausdehnung alle
jene früheren doktrinellen Grundsätze vertritt, welche ge-
rade durch die Patente von 1814 usw. verworfen wurden.
Es zeigt sich aber auch noch durch zwei andere Um-
stände evident, daß die deutsche Rechtsdoktrin an jenem
Fortschritt ganz unschuldig ist, und er nur der Einwirkung
der französischen Revolutionsideen auf die gesetzgeberi-
schen Ansichten in Deutschland beigemessen werden kann.
Denn schon der 1809 in Karlsruhe mit Zusätzen als
Landrecht für das Großherzogtum Baden publizierte Code
Napoleon huldigt in diesen Zusätzen bereits, wie wir dies
später gelegentlich sehen werden, im allgemeinen den
Grundsätzen der preußischen Patente von 1814 usw., wenn
er auch in vielen Punkten noch hinter ihnen zurückbleibt.
Und vor 1809 war in Deutschland keine Schrift seit
1748 über diesen Gegenstand erschienen, mit Ausnahme
einer unbedeutenden Dissertation von Lorenz, De obli-
gatione legis in praeteritum (Leipzig 1770). — - Wie der
literar-historische Nachweis, so läßt auch die A r t des
gemachten Fortschrittes gar keinen Zweifel über seinen
110
Ursprung. Betrachtet man nämlich den Unterschied in
den Patenten von 1804 und 1814, so besteht derselbe in
den Ansichten über den Personenzustand und die aus ihm
fließenden vermögensrechtlichen Akzessorien, über das per-
sönliche Eherecht, den Nichtschutz bloßer Erwartungen,
die prohibitive Einwirkung neuer Zinsfußgesetze auf be-
stehende Verträge usw., und sucht man nach einer ge-
meinschaftlichen Quelle dieser geänderten Be-
stimmungen, so ist dieselbe in ihrem allgemeinsten Aus-
druck in nichts anderem zu erblicken, als in einer stren-
geren Auffassung des Staatsbegriffes, eine
Quelle, aus welcher alle in diesem Jahrhundert gemachten
Fortschritte stammen und weiter stammen werden, so sehr
ihnen auch vermeintliche Freunde der Freiheit durch Auf-
lockerung des streng sittlichen Staatsbegriffes in indivi-
duelle Privatwillkür entgegenarbeiten.
Wenn die gesetzgeberischen Auffassungen solchen von
den Richtungen des politischen Geistes bestimmten Schwan-
kungen unterliegen, so wird man vielleicht glauben, wenig-
stens nach einmal gegebenem Gesetz in der Privatrechts-
pflege den Hafen gefunden zu haben, innerhalb dessen
die Strömungen des Tages auf unseren Gegenstand ohne
Einfluß sind. Allein dies ist ebensowenig der Fall und
kann auch nur in der Meinung derer der Fall sein, welche
■ — ■ und freilich gehören hierzu, soll man sagen glücklicher -
oder unglücklicherweise ? fast alle Justiziabeln — die
Privatrechtspflege für ein apartes Himmelreich halten, in
das der Sturm und die Leidenschaften des politischen
Lebens nicht einzudringen vermögen.
In der Tat aber könnte man wie in der Gesetzgebung
so auch in der Jurisprudenz eine nicht weniger deutlich
politisch bewegte Geschichte des Nichtrückwirkungsgrund-.
satzes nachweisen, die sich der gerade herrschenden Ten-
111
denz um so enger anschließt, als die Tribunale wie von
dem Geist der Gesetzgebung, so besonders auch von dem
Wirbel der politischen Strömung, die alles im Luftkreise
Befindliche gleichmäßig zu erfassen pflegt, mit fortge-
rissen werden 1).
1) Einige Monate nachdem das Obige niedergeschrieben
wurde, erklärte der Vizepräsident des Königlichen
Obertribunals, Herr von Götze, in der Sitzung des preu-
ßischen Herrenhauses vom 24. März 1860 dem Justizminister
gegenüber, welcher sich zur Unterstützung seiner Ansicht auf
ein vom Obertribunal erlassenes zivilrechtliches Urteil bezog,
Folgendes : „Dies Urteil ist so ergangen, ich muß aber darauf
aufmerksam machen, daß es aus dem Jahre 1851 herrührt.
Die Rechtserschütterungen, die in den Jahren 1848, 1849 und
1850 durch das Land gingen, waren allerdings geeignet, die
Jurisprudenz in Verlegenheit zu bringen, und sie
brauchte einige Zeit, um sich zu orientieren. Aus die-
ser Zeit ist das Urteil; aber ich berufe mich auf das, was
der Herr Referent angeführt und was der Herr Justizminister
ausführlich im vorigen Jahre dargelegt hat, daß demnächst
das Obertribunal in seinen Urteilen jene Ansicht
vollständig verlassen und die entgegengesetzte
konstant aufrecht erhalten hat." Der Staatsminister und
Chefpräsident des Obertribunals, Herr Uhden, erklärte,
unmittelbar hierauf das Wort ergreifend, daß in bezug auf jenes
Erkenntnis bereits sein Vorredner „das Erforderliche (!!)
gesagt habe." (Stenograph. Bericht, S. 280.) Es ist für uns
überflüssig und nicht hier der Ort, mit den Herren Götze und
Uhden darüber zu rechten, ob jenes Urteil vom Jahre 1851 ein
Produkt der revolutionären Strömung oder vielmehr das
Abgehen von der in diesem Urteil entwickelten Rechtsansicht
und die „konstante" Annahme der entgegengesetzten ein Pro-
dukt der reaktionären Strömung war, die allerdings erst
seit dem Jahre 1851 ihren fanatischsten Höhepunkt erreichte.
Ohnehin wird die Wahl zwischen diesen beiden Annahmen keinem
mit einigem Menschenverstände Begabten schwer fallen, zumal
wenn er berücksichtigt, daß jenes erste Urteil aus dem Jahre
112
Uni so zeitgemäßer möchte daher gerade im Hinblick
auf diese Schwankungen der ab- und zufließenden Wellen
und ihren wiederkehrenden Strudel der Versuch für die
Wissenschaft erscheinen, mit fester Hand die unzerbrech-
lichen Grenzlinien des Begriffes zu ziehen, welche, wenn
sie sich wahrhaft als solche erweisen, dazu dienen würden,
nach rechts wie links die Ausschreitungen zu beseitigen.
Gerade weil sich bisher die Wissenschaft über diese Gren-
zen nicht verständigen konnte, gerade weil der Begriff der
Nichtrückwirkung bald zu eng, bald besonders zu weit
gefaßt und es deshalb häufig unerläßlich wurde, Ab-
weichungen von demselben zuzulassen, so konnte nun, waren
einmal solche Abweichungen erst überhaupt zulässig, um
so weniger in dem Mehr oder Minder derselben eine sichere
Scheidewand gegen willkürliche Ausschweifungen gezogen
werden. Die hohe Wichtigkeit einer solchen Aufgabe aber
bedarf, um recht gewürdigt zu werden, nur einer kurzen
Andeutung. Der inhaltliche Gedanke unseres Themas ist,
in seiner höchsten und allgemeinsten Auffassung, kein an-
derer, als der Gedanke der — aus der Rechtsidee selbst
hervorfließenden und ihr entsprechenden — Hinüber-
führung eines alten Rechtszustandes in einen
neuen! Gelänge es also, eine anerkannte Lehre der Wis-
senschaft hierüber zu schaffen, so würde dieselbe mächtig
1851 herrührt, in welchem keinerlei revolutionäre Strömung
mehr den Puls des Volkes durchzitterte, angenommen selbst,
daß dieser in sympathischer Erregung bis in das Ober-
tribunal hineinschlagen könne. Für uns reicht hin, daß Vize-
präsident und Chefpräsident des Obertri'bunals hier je-
denfalls die, gleichviel nach welcher Seite hin, im königlichen
Obertribunal, dem obersten Gerichtshofe der Monarchie, herr-
schende Korruption des Rechtes durch politische
Einflüsse mit dürren Worten selbst konstatieren.
8 Lassallc. Gm. Schriften. Band IX. 113
dazu beitragen können, einerseits die Umgestaltungsarbeiten
der Gegenwart zu erleichtern, andererseits den empörten
schaumspritzenden Wogen das Überfluten auf den von
dem individuellen Willen durchfurchten Acker wahrhaft
erworbener Rechte zu wehren. Die Grenzlinien des Be-
griffes sind dem Gotte Terminus nicht minder heilig als
diejenigen der Äcker, und gelänge es, sie bloßzulegen, so
möge dann von ihnen das Gesetz des Numa gelten:
„Sei quis terminom exarasit, ipsos boveisque sacrei sunto l
114
n.
DIE THEORIE
Et si 1'on croyait que cet essai donne trop ä
1'esDrit du Systeme, ä une theorie abstraile ou
metaphysique, nous observerions que, selon dos
maitres, il n'existe pas de veritable science. qu'il
n'y a que rouiine et prejuges, tout au plus sens
droit, ou tact heureux, dans la töte des hommes
qui n'ont ni Systeme ni theorie. —
Recueil general drs lois et des arrets par Sirey,
Tom. DC, Pa.t. II, p. 277.
I. DER BEGRIFF UND SEINE BEWAHRUNG.
§ 1. Die Formel und der Begriff.
Wir wenden uns jetzt dazu, die Theorie der Rückwir-
kung der Gesetze, und mit ihr die Theorie der erworbenen
Rechte, in positiver Weise zu entwickeln, indem wir sie
in einige Grundsätze zusammendrängen, welche sämtlich
selbst wieder nur die notwendige Folge des an die Spitze
gestellten Begriffes sind, so daß dieser es also ist, welcher
durch die immanenten Folgerungen, zu denen er sich treibt,
das die gesamte Materie beherrschende begriffliche Gesetz
bildet.
Auf jeden dieser Grundsätze lassen wir seine theore-
tische Begründung folgen, welche also an und für sich seine
Richtigkeit feststellen muß. Außerdem werden wir dieser
theoretischen Begründung zugleich zur besseren Veran-
schaulichung des abstrakt Gesagten und seines Umfanges
Beispiele hinzufügen und an diese oder jene Anerkennung
in gesetzgeberischen Bestimmungen erinnern.
Diese Beispiele haben zunächst die angeführte Absicht
der Verdeutlichung. Sie haben ferner den Zweck, im Verein
mit dem bei der Anwendung der Lehre — im dritten
Abschnitt — aufgeführten Stoff den juristisch em-
pirischen Beweis für unsere Theorie darzustellen. Denn
die geschlossene Durchführung der Theorie durch alle Ge-
biete des Rechtes wie durch das Reich des empirischen
Rechtsstoffes wird nicht umhin können, eine neue Probe
für die Richtigkeit derselben und ihre letzte Sicherstellung
117
zu bilden. Zugleich machen wir hier darauf aufmerksam,
daß wir bei der Anwendung mehrere speziellere Folge-
sätze des theoretischen Teiles entwickeln werden. Diese
aber in die Reihe der theoretischen Grundsätze aufzu-
nehmen, schien überflüssig, weil sie einerseits nur genaue
Gedankenkonsequenzen derselben darstellen und anderer-
seits, nur auf spezielle Rechtsgebiete sich erstreckend, bei
den betreffenden Teilen der positiven Anwendung doch
hätten wieder dargestellt werden müssen, so daß sich hier-
aus nur lästige Wiederholungen und eine zu vermeidende
und unübersichtliche Verwicklung des theoretischen Teiles
ergeben hätten.
Indem wir nun zu diesem übergehen, bemerken wir,
daß wir nicht assertorisch verfahren.
Wir entwickeln nicht aus einer willkürlich aufgegriffenen
Regel. Eine solche, selbst wenn sie an sich richtigen In-
haltes wäre, müßte immer selbst wieder das Resultat von
Voraussetzungen sein und somit allem Folgenden
mindestens den Schein der Ungewißheit und Willkür-
lichkeit verleihen. Sie würde niemals den Erweis innerer
Notwendigkeit mit sich führen und somit immer zu wirk-
lichem Irrtum mindestens leiten können. Sie würde end-
lich niemals, selbst wenn richtig, alles Richtige umschlie-
ßen und aus sich abzuleiten vermögen.
Was vielmehr schlechterdings an die Spitze gestellt
werden muß, und was war in der Tat in dem ersten Gesetz,
wie seine Begründung zeigt, an die Spitze gestellt
haben, ist nichts anderes als der eigene Begriff der
Nichtrück wirkung selbst. Aus i h m muß sich be-
währen, was in dieser Materie gelten soll, und was aus
ihm hervorgeht, ist mit Notwendigkeit bekleidet. Wir
bemerken noch, daß es keineswegs, wie vielleicht scheinen
kann, gründlich oder auch nur richtig wäre, an die Spitze
118
die Regel hinzustellen, daß das Geschehene nicht
später ungeschehen gemacht werden solle. Savigny (VIII,
382) sagt, da dieses an sich unmöglich sei, so bedürfe es
keiner Rechtsregel, um es zu verhindern. Indes die Mög-
lichkeit würde sich im rechtlichen Sinne und bis zu einem
gewissen Grade nicht leugnen lassen. Der Grund ist viel-
mehr ein anderer. Das Ungeschehenmachen des Gesche-
henen gehört überhaupt nicht zu dem Begriff des Rück-
wirkens als solchem, sondern bildet den Begriff des Rück-
gängigmachens. Alle Tage werden geschehene Dinge
rückgängig gemacht, ohne daß eine Rückwirkung darin
läge, z. B. nach den Gesetzen zur Zeit der Stipulation
unerlaubte oder anfechtbare Verkäufe. Umgekehrt kann
eine Rückwirkung eintreten ohne jede Rückgängigmachung
eines Tatsächlichen, wie z. B. wenn ein aus früheren Ver-
hältnissen entspringendes Recht erst jetzt zur Ausübung
kommen soll und hieran durch neue Gesetze gehindert wird.
Die Rückgängigmachung ist also selbst nur unzulässig, in-
sofern sie eine Rückwirkung in sich schließt. Soweit
daher die Rückgängigmachung nicht mit der Rückwirkung
zusammenfällt, hat sie mit unserer Materie überhaupt nichts
zu tun. Und soweit sie mit dem Begriffe der Rückwir-
kung zusammenhängt, kann sich ihre Zulässigkeit oder Un-
zulässigkeit erst aus diesem Begriffe ergeben, zu dessen
Entwicklung wir jetzt übergehen :
a) Kein Gesetz darf rückwirken, welches ein In-
dividuum nur durch die Ve rmittlung seiner Wil-
lensaktionen trifft.
b) Jedes Gesetz darf rückwirken, welches das In-
dividuum ohne Dazwischenschiebung eines sol-
chen freiwilligen Aktes trifft ; welches das In-
dividuum also unmittelbar in seinen unwillkürlichen,
allgemein-menschlichen oder natürlichen oder von der
119
Gesellschaft ihm übertragenen Qualitäten trifft, oder es
nur dadurch trifft, daß es die Gesellschaft selbst in
ihren organischen Institutionen ändert.
Dieses Prinzip ist das allein richtige, denn es bewährt
sich aus dem Begriffe der Nichtrückwirkung
selbst. Welches ist dieser Begriff ? Gesetze stellen einen
geistigen Inhalt, neue Gesetze einen neu erlangten und
von der Gesellschaft sogar für obligatorisch erklärten Ver-
nunftinhalt dar. Wie ein neuentzündetes Licht seine Helle
auf alles, auch das vorher Dunkle verbreitet, so wirkt
jede neuerlangte Intelligenz des Individuums auf alle noch
so sehr vergangenen Objekte der Beurteilung zurück. Wenn
es also schon bei der Intelligenz des Individuums
der Fall ist und sein muß, daß es nach der präsenten
Natur seines Bewußtseins auch das der Zeit nach noch
so viel Frühere beurteilt, warum sollte dies im Recht,
warum sollte es gerade in bezug auf die allgemeine In-
telligenz der Gesellschaft, in bezug auf den von ihr
selbst sogar für obligatorisch erklärten Vernunft-
gehalt nicht der Fall sein; zumal ja in dem Begriffe des
Gesetzes die Forderung der sofortigen und unmittelbaren
Anwendung, der unbedingten, normbildenden Geltung
für alles Bewußtsein liegt ?
Die Rückwirkung könnte somit zunächst erscheinen als
die ebenso natürliche wie notwendige Folge der gegen-
wärtigen Natur des Denkens und Bewußtseins, vor
dessen geistigen Strahlen kein Gegenstand sich verschlie-
ßen oder das Recht beanspruchen kann, sich in seinem
früheren Lichte und seiner vorigen Gestalt gegen es zu
behaupten1).
*) Und dies ist so wahr, daß deshalb, wie wir sehr bald
zeigen werden, die bei weitem längste Periode der
Menschheits- und Rechtsgeschichte unter der voll-
120
Man hat sich niemals bei der Behandlung dieser Ma-
terie den Begriff der Rückwirkung zur Klarheit ge-
bracht, und davon waren dann die bei der positiven Be-
handlung entspringenden Irrtümer die unvermeidliche
Folge.
Der Begriff der Rückwirkung ist nämlich kein anderer
als der — eines Eingriffes in die Freiheit und
Zurechnungsfähigkeit des Menschen.
Nur darum ist Rückwirkung unstatthaft. — In der
Gesellschaft ist und soll der Mensch frei sein ; selbst
noch der Verbrecher wird in und bei der Strafe als ein
freies und freiwilliges Wesen betrachtet, denn
er wußte, welche Strafe auf sein Verbrechen gesetzt
war, und wenn er dasselbe dennoch beging, so hat er frei -
wählend sich diesen ihm bekannten Folgen un-
terworfen. Weiß er die Bedeutung und Folgen seiner Tat
nicht, so spricht ihn das Gesetz selbst als unzurechnungs-
fähig frei. Die Rückwirkung darf also nicht stattfinden,
weil sonst das Individuum dem Gesetzgeber und Richter
sagen kann : Hätte das Gesetz damals auf meine Tat diese
Folgen gesetzt, so hätte ich die Tat nicht begangen ; denn
ich war frei, sie zu lassen und zu tun. Verurteilt man
ihn trotz dieses Einwandes, so kann man ihm diese Ver-
urteilung nicht mehr als Folge seines freien Wählens,
seines freibewußten Willens hinstellen, sondern es
ist ihm eine hinterlistige und positive Gewalt angetan
worden. Durchaus ebenso verhält es sich im Privatrecht.
Denn dieses ist überhaupt nichts anderes, als die Reali-
sation der Willensfreiheit des Individuums.
ständigen und als ganz natürlich betrachteten Herrschaft des
Rückwirkungsprinzipes stand. Der Nichtrückwir-
kungsgedanke ist erst ein spätes Produkt des histori-
schen Geistes.
121
Wird also durch ein späteres Gesetz rückwirkend die frei-
willige Handlung eines Individuums getroffen, so ist ihm
sein Wille entstellt und in einen anderen umgewandelt
worden, weshalb ein französischer Rechtslehrer (Toullier)
mit einem glücklich gewählten Ausdruck die Retroaktivität
eine ,,den Individuen vom Gesetzgeber gestellte Falle"
(un piege tendu aux individus par le legislateur) nennen
kann. So weit auch die Macht des Gesetzgebers reichen
mag. so weit reicht sie niemals, zu bewirken, daß ein
Individuum etwas anderes wollte, a 1 s e s gewollt h a t.
Ein solches rückwirkendes Gesetz bringt also ex post
hervor, daß das Individuum ein anderes gewollt und
ein anderes getan1) hat, d.h. es tut dem Individuum
Gewalt an und verstößt somit von Grund aus gegen den
Begriff des gesamten Rechtes, der nur darin besteht,
gerade die Realisation der Willensfreiheit zu sein. Ein
solches Gesetz ist daher kein Gesetz, denn es ist das
absolute Unrecht, die Aufhebung des Rechts-
begriffes überhaupt. Es ergibt sich hier auf das
deutlichste die so oft behauptete und dann wieder mit
Unrecht geleugnete naturrechtliche Gültigkeit des
Nichtrückwirkungsgrundsatzes und dessen, was aus ihm
folgt. Ein rückwirkendes Gesetz hebt das Wo 1 1 e n des
Individuums auf. Der Wille ist aber eine naturrechtliche
Fähigkeit, und das positive Recht vielmehr nur die ge-
sicherte Sphäre und das gegliederte Reich seiner freien
Ausführung. Ebenso aber wie der freie Wille wird
auch das Wissen und Denken des Individuums durch
*) Diese Entstellung ist es, welche durch das calumniare
treffend bezeichnet wird in dem Gesetz des Anastas, s. oben
S. 59 ; vgl. im Codex Theodosianus die L. 3 de constit. princ. :
Omnia constituta non praeteritis calumniam faciunt, sed fu-
turis regulam imponunt, und Jac. Gothofred. in h. 1.
122
ein solches Gesetz geleugnet und aufgehoben. Hegel
(Rechtsphilosophie, S. 33) sagt bereits sehr richtig : „Was
den Zusammenhang des Willens mit dem Denken
betrifft, so ist darüber folgendes zu bemerken. Der Geist
ist das Denken überhaupt, und der Mensch unterscheidet
sich vom Tiere durch das Denken. Aber man muß sich
nicht vorstellen, daß der Mensch einerseits denkend, an-
dererseits wollend sei, und daß er in der einen Tasche das
Denken, in der anderen das Wollen habe, denn dies wäre
eine leere Vorstellung. Der Unterschied zwischen Denken
und Willen ist nur der zwischen dem theoretischen und
praktischen Verhalten, aber es sind nicht etwa zwei Ver-
mögen, sondern der Wille ist eine besondere Weise
des Denkens : das Denken als sich übersetzend ins Da-
sein, als Trieb, sich Dasein zu geben. — Das Theoretische
ist wesentlich im Praktischen enthalten ; es geht gegen
die Vorstellung, daß beide getrennt sind, denn man kann
keinen Willen haben ohne Intelligenz. Im Gegenteil, der
Wille bestimmt sich, diese Bestimmung ist zunächst ein
Inneres ; was ich will, stelle ich mir vor. — Diese Unter-
schiede sind also untrennbar, sie sind eines und dasselbe,
und in jeder Tätigkeit, sowohl des Denkens als Wollens,
finden sich beide Momente."
Weil also das Gewollte notwendig ein Gedachtes vor-
aussetzt, das Wollen auf einem Denken beruht, so wird
durch ein rückwirkendes Gesetz auch das Denken und
Wissen des Individuums gewaltsam denaturiert und in
ein anderes umgewandelt. Die freieste Selbstbestimmung,
das nur in der eigensten Spontaneität des Individuums be-
ruhende Denken und Wo 1 1 e n , somit der Geist
selbst, wird durch die Rückwirkung als eine passive und
von außen bestimmbare willenlose Sache gesetzt,
und als solche behandelt. Dies ist aber, wie bereits be-
123
merkt, das absolute Unrecht, und darum kann Benjamin
Constant und die französische Declaration des droits (s.
oben S. 53 und 57) mit Recht ausrufen, die Rückwir-
kung des Gesetzes sei ein Ve rbrechen. Justinian hebt
daher mehrmals sehr richtig in den Äußerungen über die
Rückwirkung, mit denen er so viele seiner Gesetze be-
gleitet, das derselben entgegenstehende Moment des mit
dem Wollen identischen Wissens oder Denkens hervor.
So z. B. „Ulis (legibus) enim credentes et ita contrahentes
nullus culpabit, quare non futurum säverunt"1), oder es
könne nicht verlangt werden, ,,ut in monasterio illa faciant
quae prius ignoratq divina nostra constitutione innovata
sunt" 2).
Da nun die Freiheit des Denkens und Wollens unan-
tastbare Grundbestimmungen sind, auf denen alles Recht
überhaupt beruht, und durchaus da nicht mehr von Recht
die Rede sein kann, wo vielmehr die Rechtsidee
selbst und in ihrer Wurzel aufgehoben wird, so ergibt
sich hieraus mit Gewißheit, daß es durchaus nicht in
der rechtlichen Befugnis des Gesetzgebers stehen kann,
eine solche Rückwirkung eintreten zu lassen, und daß
seine Absicht, wie deutlich und in wie starken Worten
sie ausgesprochen sei, hierin nichts zu ändern vermag3).
Dies ist der Sinn, in welchem die früher bezogenen Kon-
stitutionen (s. oben S. 56 fg.) den Grundsatz der Nicht-
rückwirkung sicher stellen. Doch bedarf es keiner Kon-
1) Nov. 22, cap. 1 de nuptiis.
2) Nov. 76, cap. 5.
8) Auf das stärkste drückt dies Mirabeau in seinem Ausruf
in der Sitzung der Konstituante vom 21. November 1790 aus:
„Nulle puissance humaine ni surhumaine ne peut legitimer un
effet retroactif. J'ai demande la parole pour faire cette pro-
fession de foi."
124
stitution, um zu wissen, daß es keinem Gesetzgeber zusteht
— es muß an diesen Ausdruck erinnert werden, weil er
allein den bestimmten Begriff des Gegenstandes in sich
enthält — die menschliche Willensfreiheit und
Zurechnungsfähigkeit aufzuheben und den
Geist als Sache zu setzen1).
x) Mindestens würden wir den Richter bedauern, der dies
erst aus einer Staatskonstitution statt aus den Konstitutionen
des Rechtes lernen müßte und der daher Bedenken trüge, selbst
einem unzweifelhaft rückwirkenden Gesetze, z.B. einem
solchen, welches früher gültige Verträge wegen späterer Form-
vorschriften vernichten oder frühere Handlungen bestrafen will
usw., die Anwendung zu versagen. Jedenfalls müßte er in das
Urteil setzen ,,von Gewalts wegen" statt ,,von Rechts wegen".
Es gilt hier auf das stärkste, was Donellus, Comment. Juris civ.,
lib. I, c. XII (p. 45, ed. Hanoviae 1612), über die Verletzung
des jus naturale überhaupt sagt : ,,Ac quae hinc jura sint (näm-
lich naturalia) si quis mutare conetur jure civili, nihil aliud
afficiat, nisi ut jus quod statuit, sit adversus rectam rationem,
id est, injustum et iniquum, ut omne jus naturale est aequum
et bonum. Nihil autem jus quod sit iniquum." Bartolus, der
größte Rechtsgelehrte des 14. Jahrhunderts, den seine bewun-
dernden Zeitgenossen lucerna oder fax juris, dux jurisconsultorum
etc. nannten, spricht sich, bestimmter und näher auf unsere
Materie eingehend, darüber aus, Comment. ad lib. I. ff. ad L.
9 omnes populi, No. 24 (fol. 30, ed. Basil. 1589). Er stellt
die freilich nicht scharf genug begrenzte Behauptung auf, daß,
wenn eine gesetzliche Verfügung das jus naturale nicht bloß
modifiziere, sondern geradezu aufhebe (tollendo in totum),
es keine Gültigkeit habe, und geht dann zu Beispielen
über (No. 24, fol. 32). ,,Dicit statutum quod qui per 10 annos
debitum suum non petierit, cadat a jure suo. Certe statutum
non valet, quia nee lex Imperialis quae hoc diceret valeret.
Sed si statutum diceret, quod contractus seu instrumentum fic-
titium praesumat, tunc valeret." Und im Verlauf kommt er
ausdrücklich auf die Frage, ob unter demselben Gesichtspunkt
ein Statut auch auf das Vergangene bezogen werden könne.
125
Es folgt jedoch aus der angegebenen Begriffsbestimmung
von selbst, daß das Individuum diesen Einwand stets nur
d a erheben kann, wo es eine freiwillige Handlung,
eine individuelle Willensaktion ist, welche durch
Hier unterscheidet er zunächst, ob das Statut die Beziehung
ad praetenta ausdrücklich verordne, oder das Gegenteil ver-
ordne, oder ganz hierüber schweige. Und nun, gerade den ersten
Fall der ausdrücklich vom Gesetz verhängten Rückwirkung un-
tersuchend, sagt er: „Circa primum videtur quod talis adjectio,
sc. quod habeat locum in praeteritis, valeat. — Econtra, quod
non valeat . . . Distingue: Aut quaeris de praeteritis decisis seu
finitis, et ad praedicta statutum novum bene potest porrigi con-
firmando . . . sed infirmando vel aliter disponendo ad praedicta
non porrigitur, etiamsi expresse caveretur. Aut sunt negotia
praetenta pendentia ... et ad ea non porrigunt etiamsi expresse
caveatur." Man sieht, die alten großen Doktoren des römi-
schen Rechtes im Mittelalter, wie große Servilität man ihnen
auch in der Regel vorzuwerfen pflegt und vorwerfen kann, sind
sich hierüber in thesi nicht zweifelhaft gewesen, und es stellt
einen unerfreulichen Rückschritt des Rechtssinnes gegen das
Mittelalter dar, wenn unsere modernen Autoren fast allgemein
— von Savigny sogar im Widerspruch mit dem prinzipiellen
Gehalt seiner eigenen Theorie — alles in dieser Materie von
der beliebigen Absicht des Gesetzgebers abhängen lassen.
Die Franzosen sind darin von einer größeren Unabhängigkeit
der Rechtsgesinnung geblieben. Die Ansicht Mirabeaus ist so-
eben, diejenige von Berriard St. -Prix, Benjamin Constant u. a.
oben S. 53 fg. angeführt worden. Merlin sagt (Repert. de
Jurisp., v°; Eff. retroact., Sect. III, § II, art. 1) darüber bei
Gelegenheit der Erörterung über die einmal erworbene Indi-
genatseigenschaf t : ,,Le legislateur ne pourrait pas la detruire
expressement quand il serait possible, qu'il fut assez insense
pour le vouloir", obgleich er sich an anderen Stellen im ent-
gegengesetzten Sinne ausdrückt.
Unserer Ansicht hierüber zu sein und auch mit der im Text
gegebenen Begründung derselben übereinzustimmen scheint
Böcking in den Worten (Pandekten des röm. Privatrechtes, I,
317) : ,,Sehr übel bezeichnen die Neueren diesen Grundsatz
126
ein späteres Gesetz vernichtet oder entstellt werden soll
(s. hierbei § 2).
Rechte dagegen, mit welchen das Gesetz als solches,
ohne Vermittlung des individuellen Willens, das Indi-
viduum befaßt, sind nichts als allgemeine Qualitäten und
Befugnisse, die nur auf Grund des sie verleihenden Ge-
setzes da sind und also mit ihm fließen und ver-
schwinden.
Das Gesetz ist 4er Ausdruck des Rechtsbewußtseins
des ganzen Volkes. Alles gesetzliche Recht als solches
— alles Sein des Individuums — ist somit nur eine
durch den in stetem Wandel begriffenen allgemeinen Geist
gesetzte Bestimmtheit, so daß jede neue aus ihm fließende
Bestimmtheit das Individuum unverzüglich mit demselben
Rechte ergreift, mit welchem es von der früheren befaßt
wurde. Fest kann für das Individuum nur sein, was es
sich aus diesem Strome durch sein eigenes Tun und
Wo 1 1 e n in rechtmäßiger Weise einmal abgeleitet, was es
verseinigt hat! Jedes Gesetz also, welches nicht frü-
here individuelle Willensaktionen trifft, und insoweit es
diese nicht trifft, muß seiner Natur nach augenblicklich
eingreifen. Es ergibt sich aber schon hier, daß dabei von
einer Rückwirkung gar nicht die Rede sein kann.
Denn eine solche würde bloß vorliegen, wo auf Frü-
heres vor der Zeit des Gesetzes ein Einfluß ausgeübt
werden soll. Wenn aber alle früheren Willens-
a k ti onen unberührt bleiben, so stellt das sofortige Platz-
greifen des Gesetzes auf die Rechte des Individuums von
(der Nichtrückwirkung) als eine bloße Regel und stellen als
Ausnahmen hin, was nur Anwendungen derselben sind. So soll
das Gesetz rückwirkende Kraft haben, ,, „wenn es sich selbst
solche beilege" " ; ein solches Gesetz wäre absolutes Un-
recht."
127
selbst nur ein augenblickliches Einwirken —
welches in der Natur und Bestimmung des Gesetzes liegt
— kein Rück wirken dar.
Vergleicht man das Gesagte mit der bekannten Formel,
daß erworbene Rechte von neuen Gesetzen unbe-
rührt bleiben müssen, so ergibt sich, daß diese Formel
nur dann richtig ist, wenn man unter erworbenen Rech-
ten schlechthin nur solche versteht, die durch indivi-
duelle Willensaktionen erworben worden sind.
Oder es ergibt sich hier, mit dem Vorigen gänzlich zu-
sammenfallend, als der Begriff der erworbenen
Rechte, daß nur solche Rechte erworben sind, welche
durch eine individuelle Willenshandlung des
Individuums mit ihm vermittelt und von ihm verseinigt
worden sind. Dieser Begriff enthält an sich die ganze
Theorie der erworbenen Rechte in sich ; aber nur an sich ;
denn seinen versteckten Umfang — versteckt durch
den täuschenden Schein des Sinnlichen — kann er erst
im § 2, und seine ebenso durch den sinnlichen Schein
versteckten begrifflichen Grenzen erst in den
§§ 6 und 7 fg. entfalten und somit erst durch beides sich
zur Theorie und zum System der erworbenen Rechte
vollenden.
Einstweilen bestätigt übrigens schon der Sprachge-
brauch, daß die Formel: „Erworbene Rechte müssen
von neuen Gesetzen unberührt bleiben," für die Richtig-
keit des von uns entwickelten Begriffes der Nichtrück-
wirkung zeugt. Denn mindestens dem Sprachgebrauche
nach wäre es nicht zweifelhaft, daß bei Rechten, welche
dem Individuum durch die bloße Deklaration des Gesetzes
aufgedrückt sind, nicht von einem Erworbensein die
Rede sein kann, welches stets eine individuelle Tätigkeit
voraussetzt.
128
Wir haben gesagt, daß der Gedanke der Nichtrück-
vvirkung auf nichts anderem beruht als lediglich auf dem
Begriff der subjektiven Freiheit des Geistes.
Soll dies wahr sein, so muß sich sofort eine viele Jahr-
tausende umfassende empirische Gegenprobe dafür erbrin-
gen lassen.
Wer nämlich nur einigermaßen vertraut ist mit der
Philosophie, weiß aus ihr, daß Asien das Land ist, wo
das Subjekt noch nicht vorhanden, d. h. das Prinzip
der subjektiven Freiheit des Geistes noch nicht aufgegangen
und zum Bewußtsein gekommen ist.
Beruht nun wirklich, wie wir behaupten, die Nicht-
rückwirkung lediglich in dem Begriff des Subjektes und
seiner Freiheit, so müßte hiernach, da derselbe in
Asien noch nicht da ist, statt der uns als naturrechtlich
erscheinenden Nichtrückwirkung, dort absolute Rück-
wirkung als die ebenso naturwüchsige wie unanstößige
Regel des Rechtes erscheinen und die gesamte Geschichte
Asiens beherrschen.
So würde die apriorische Konsequenzenmacherei des
spekulativen Gedankens lauten !
Sehen wir nun, wie sich dies empirisch verhält.
In dem Ta Tsing Leu Lee, dem gegenwärtig in China
bestehenden allgemeinen Gesetzbuche, welches von der
ganz neuen Mantschudynastie im 17. Jahrhundert publi-
ziert wurde 1), heißt es in der über die allgemeinen Straf-
gesetze handelnden ersten Abteilung des ersten Buches in
der Sect. XLIII (p. 43, ed. Staunton), welche die Über-
schrift führt : Execution of New Laws, also : ,,A11 laws,
characterized as, and intended to become fundamental,
x) Ta Tsing Leu Lee, being the fundamental Laws and a
selection from the supplementary Statutes of the Penal Code of
China, translated by Sir G. Th. Staunton (London 1810).
9 Usialle, Gc. Schriften. B*ad IX 129
shall in gencral take effect and be in füll force from the
day on which they are published, and every transactlon
shall be adjudged according to the most recent laws,
althouqh such transaction should have occurred previous
to thelr Promulgation'1
Es wird hier also ganz allgemein und ausdrücklich für
alle jetzigen und alle zukünftig zu erlassenden Gesetze,
und zwar in einem Strafgesetzbuch1), als Prin-
z i p aufgestellt, daß immer nur die allerneue-
sten Gesetze anzuwenden seien, gleichviel — wie
ausdrücklich hinzugefügt wird — ob die Handlung vor
ihrer Verkündigung vorgefallen sei oder nicht.
Interessant ist hierbei, wie gerade in dieser ausdrück-
lichen Beantwortung hervortritt, wie der Reflexion des
chinesischen Geistes der Unterschied und die Frage, die
sich hierbei aufwerfen läßt, wohl zum Bewußtsein ge-
kommen ist. Es stimmt dies überein mit dem, was wir
sonst über die Reflexionsbildung des chinesischen Geistes,
durch welche er sich in ganz Asien auszeichnet, wissen.
Aber wenn die Frage seinem gebildeten Ve r s t a n d e
zum Bewußtsein gekommen ist, so ist doch ihre Beant-
wortung seinem Geiste nicht zweifelhaft! Die Intelli-
genz der chinesischen Kaiser, der Gedanke in Asien
überhaupt, ist eine solche, wie wir im Eingang sagten,
sich neu ergießende Offenbarung, in deren Strahlen
sich nun alles Existierende, und daher auch alle früheren
Verhältnisse, als in dem ihm wahrhaft zukommen-
den Lichte aufzeigt und enthüllt.
x) Man weiß, daß überhaupt in China kein Unterschied zwi-
schen dem Strafrecht und Zivilrecht festgehalten wird. Alle
zivilrechtlichen Vorschriften sind ebenso gut wie Raub, Dieb-
stahl usw. mit Strafen (so und so viel Bambusschlägen usw.)
belegt.
130
Und soweit von rein tatsächlichen Ve r h ä 1 1 -
n i s s e n die Rede ist — mit vollem Recht ! Mit vollem
Recht wird von dem chinesischen Gesetzbuch die Um-
änderung des Seienden als eine notwendige Folge
des Grundsatzes, daß die Gesetze vom Tage ihrer Ver-
kündigung ab Kraft haben und also das Seiende
und seine Beurteilung normieren sollen, ge-
dacht und ausgesprochen. Mit Unrecht pflegen unsere Ju-
risten zu übersehen, wie dieser Grundsatz, der bei uns
gewöhnlich (s. z. B. den Code civil) den ersten Artikel
der Gesetzbücher bildet, in der Tat diese Folge haben
muß, wie dieses Prinzip also, für sich allein ge-
nommen, alles ohne Ausnahme in dem Lichte
der neuen Manifestation des allgemeinen Bewußt-
seins aufzeigen würde1).
*) So entwickelt z. B. der neueste gemeinrechtliche Autor,
der über diese Frage geschrieben, von Scheuerl (s. oben S. 85),
das Prinzip der Nichtrückwirkung folgendermaßen: „Der Grund,
auf welchem die Notwendigkeit und Vernünftigkeit des Rechts-
grundsatzes beruht, daß neue Rechtsregeln keine rückwirkende
Kraft haben, ist nach meiner Ansicht folgender: Jede Rechts-
regel wirkt auf alle die tatsächlichen Verhältnisse, auf'
welche sie ihrem Inhalte nach sich bezieht, durch ihr bloßes
Dasein bestimmend ein, ohne daß es dazu der richter-
lichen Anwendung der Regel auf das Faktum bedarf. Es ist
nicht die Aufgabe des Richters, die faktischen Verhältnisse nach
der Rechtsregel zu gestalten, sondern nur zu erkennen und
auszusprechen, wie sie kraft der Rechtsregel sich ge-
staltet haben." Und deswegen sei es gleichgültig, ob, wenn
einmal ,,ein gewisses faktisches Verhältnis unter dem Einflüsse
einer Rechtsregel eine bestimmte rechtliche Gestalt gewonnen,"
der Richter noch unter derselben Rechtsregel oder unter einer
neuen anderen darüber urteilte. Scheuerl übersieht, daß frei-
lich niemand behaupten wird, es sei die Aufgabe des Rich-
ters, faktische Verhältnisse nach der Rechtsregel zu ge-
9" 131
Wenn in unseren Gesetzbüchern dann als zweiter Ar-
tikel derjenige der Nichtrückwirkung zu folgen pflegt, so
ist dies ein den ersten einschränkender Ausfluß des im
europäischen Geiste tätigen Begriffes des Subjektes
stalten, daß aber ganz so, wie er sagt, daß die Rechtsregeln
,,auf alle die tatsächlichen Verhältnisse, auf welche
sie sich nach ihrem Inhalt beziehen, durch ihr bloßes Dasein
bestimmend einwirken," auch jedes neue Gesetz wieder be-
stimmend und umgestaltend einwirkt, daß zu dieser Umge-
staltung des objektiven Daseins das neue Gesetz eben erlassen
wird und dies eben die Bedeutung des Grundsatzes ist, das
Gesetz tritt in Kraft vom Tage seiner Verkündung ab.
Ist z. B. eine Ehe unter einem sie für unauflöslich erklärenden
Gesetz geschlossen, so ist dies ein „faktisches Verhält-
nis," welches , .unter dem Einfluß einer Rechtsregel eine be-
stimmte rechtliche Gestalt gewonnen" hat. Nichtsdesto-
weniger wird dieses so gestaltete faktische Verhältnis umge-
staltet durch das neue Gesetz, welches Ehen für auflöslich
erklärt und hierdurch dies als ihre wahre an und für sich
seiende Natur allen gleichviel wann geschlossenen und bis jetzt
unauflöslichen Ehen vindiziert.
Und ganz besonders wird dies im Reiche des germanischen
Geistes der Fall sein müssen, wo sich die Gesetze auch selbst
auffassen, nicht als Zweckmäßigkeitsmaßregeln, um Nütz-
lichkeit hervorzubringen, wie in jener Definition Piatos (S. 60 fg.),
sondern als die Selbstrealisation des allgemeinen Bewußtseins,
d. h. als die objektive Manifestation der wahren und substan-
tiellen Natur der geistigen Beziehungen. Das Gesetz soll für
den germanischen Geist nicht mehr ein beliebiges Setzen
von Rechten, sondern das Heraussetzen und Anerkennen
des an sich Wahren und Rechten, die enthüllte Natur
der Sache sein. Die germanischen Gesetze fassen sich nicht
mehr (wie dies sogar in der Form deutlich genug hervortritt)
als Befehle wie die römischen, sondern wesentlich als De-
finitionen auf.
Man sieht, daß man bei einer so grundsätzlich falschen Er-
fassung des Begriffes der Nichtrückwirkung, wie bisher üb-
132
als des alleinigen Prinzipes seines eigenen Wollens und
Handelns und seiner als reines Sichselbstsetzen
von allem objektiven Sein unabhängigen Natur. In-
dem dieser Begriff der freien Subjektivität und
mit ihm der prinzipielle Unterschied zwischen Sein und
Handeln im asiatischen Geiste noch fehlt, kann es hier
noch nicht zu dieser Einschränkung kommen, und der erste
Grundsatz bleibt daher in seiner unbeschränkten, die Rück-
wirkung zum Prinzip erhebenden Wirksamkeit.
Nicht anders als in China verhält es sich in Indien.
Zwar haben wir das so wichtige Werk von Colebrooke :
A Digest of Hindu law etc. (London 1801) 1), nicht er-
langen können, in welchem allein ganz positive Beweise
hierfür — die bei der Natur asiatischer Gesetzgebungen
überhaupt nur sehr schwer und selten zu eruieren sind —
sich hätten finden können. Aber schon die Gesetze des
Menü lassen darüber keinen Zweifel. Wenn sie z. B. be-
stimmen, daß der Zeuge in einem Schuldprozeß, wenn
er auch die Wahrheit gesagt hat, falls ihm im Laufe von
sieben Tagen nach seiner Deposition eine Krankheit, eine
Feuersbrunst oder der Tod eines Verwandten zustößt, die
eingeklagte Schuld und außerdem noch eine Geldstrafe
bezahlen soll2), so haben wir hier eine wahrhafte Rück-
wirkung durch eine Tatsache, und es ist dann kein
Grund abzusehen, warum nicht ebenso gut und noch besser
die Tatsache eines neuen Gesetzes sollte rück wirken kön-
lich, notwendig in den Konsequenzen teils in Widersprüche mit
sich selbst, teils in die positivsten Irrtümer sich verlieren mußte.
Hier wie überall gilt es : in generalibus latet error !
1) Dasselbe ist auffälligerweise auch in der Königlichen
Bibliothek zu Berlin nicht vorhanden.
2) Menü, VIII, 108; p. 266, ed. Deslongchamps (Paris
1833).
133
nen. Oder wenn sie sagen, daß, wenn ein Zeuge in einem
Zivilprozeß falsches Zeugnis abgelegt hat, ein Vierteil
der durch das Urteil begangenen Ungerechtigkeit zurück-
fällt auf den falschen Zeugen, ein Vierteil auf die Zivil -
partei, der das Zeugnis zugute gekommen, ein Vierteil auf
alle Richter und ein Vierteil auf den König1), — so
spricht sich in alle diesem eine solche Abwesenheit einer
jeden persönlichen Imputationstheorie aus,
daß an der unbefangensten Gültigkeit, welche die Rück-
wirkung für den indischen Geist haben muß, gar nicht ge-
zweifelt werden kann. Wie sollte dies aber auch, anders
sein ? Der indische Geist unterscheidet ebensowenig wie
der asiatische Geist überhaupt Denken und Sein in
seinem Begriffe, und es ist daher nur eine in der inner-
sten Tiefe dieses Geistes begründete rechtliche Forderung,
daß er ebensowenig zwischen Handlung und Zustand unter-
scheidet. Oder mit anderen Worten und um an eine unseren
Juristen geläufige Kategorie zu erinnern: wollte man aus
dem tiefsten Innern des orientalischen Geistes heraus, aber
unter Anwendung der bei unseren Juristen gebräuchlichen
Bezeichnungen, eine Einteilung der Gesetze geben, so wür-
den, so paradox dies klingen mag, die Gesetze über die
Handlungen zu den Gesetzen über den Personen-
zustand gehören2)!
i) Menü, VIII, 18; p. 251.
2) Wer sich dies recht klar machen will, braucht z. B. nur
nachzulesen, was über die religiöse Imputation — und
im Orient fallen überdies die religiöse und rechtliche Sphäre
noch zusammen — bei Koppen, Die Religion des Buddha,
I, 283 — 301 (Berlin 1857), angegeben ist, und es in seinen
einfachsten Konsequenzen zu überdenken.
Innerhalb der religiösen Sphäre hat dieser Gedanke
übrigens noch in Europa seine Geschichte gehabt ; denn es
liegt auf der Hand, daß das Dogma des heil. Augustinus vom
134
Ebenso positiv wie in China findet sich aber die Rück-
wirkung wieder bei demjenigen orientalischen Volke, wel-
ches sogar bereits den Übergang zum abendländischen Geist
bildet, bei den Juden. Bekanntlich waren bis zu Moses
die Töchter von der Erbfolge — welche reine Intestat-
erbfolge war — auch beim Nichtvorhandensein von Söhnen
ausgeschlossen1). Es sukzedierten dann die Brüder des
Verstorbenen usf. Nun stirbt Zelaphedad ohne Söhne,
und infolge dessen war das Eigentum an seiner Hinter-
lassenschaft an seine Brüder übergegangen. Da aber treten
die Töchter Zelaphedads auf und verlangen damit beteilt
zu werden 2) : „Warum soll denn unseres Vaters Name
unter seinem Geschlecht untergehen, ob er auch keinen
Sohn hat ? Gebt uns auch ein Gut unter unseres Vaters
Brüdern." Nichts ist naiver und lehrreicher für unseren
Zweck, als die Weise, in welcher die mosaischen Urkunden
fortfahren: „Mose brachte ihre Sache vor den Herrn.
Und der Herr sprach zu ihm : Die Töchter Zelaphedads
haben recht geredet. Du sollst ihnen ein Erbgut unter
ihres Vaters Brüdern geben und sollst ihres Vaters Erbe
ihnen zuwenden. Und sage den Kindern Israel : Wenn
jemand stirbt und hat nicht Söhne, so sollt ihr sein Erbe
seiner Tochter zuwenden" usw., worauf denn das neue
Intestaterbfolgegesetz weiter entwickelt wird.
Der jüdische Gesetzgeber, Gott, beginnt also den Erlaß
eines neuen Intestatgesetzes damit, daß er dasselbe auf
Zustand der Gnade und sein Kampf gegen die Lehre des
Pelagius auf nichts anderem als auf der Fortwirkung jenes
altasiatischen Gedankens von der Identität der Handlung und
des Personenzustandes beruht.
x) Siehe 1. B. Mos., Kap. 14, 15. und Michaelis, Mosai-
sches Recht, II, 59.
2) 4. B. Mos., Kap. 4 fg.
135
einen bereits eingetretenen Fall anwendet und diese An-
wendung als etwas ganz Selbstredendes und Ordnungs-
mäßiges ansieht. Zwar war das Erbe des Zelaphedad
kraft des bestehenden Intestatrechtes bereits zum recht-
mäßig erworbenen Eigentum der Agnaten geworden, zwar
würde man das heute als grellste Verletzung des Eigen-
tums und als Eingriff in erworbene Rechte bezeichnen ;
allein das existiert nicht für den jüdischen Gesetzgeber.
Die Töchter Zelaphedads haben „recht geredet",
d. h. diese Intestatfolge entspricht dem gegenwärtigen
Bewußtsein und wird daher auch auf den schon eingetre-
tenen Fall angewendet, ohne daß hier auch nur der ge-
ringste Zweifel über die Recht- und Regelmäßigkeit dieses
als ganz selbstredend betrachteten Verfahrens ins Bewußt-
sein tritt.
Gott macht sich hier also, ohne auch nur eine Ahnung
davon zu haben, einer flagranten Rückwirkung in Zivil-
sachen schuldig !
Dafür war es aber auch noch ein orientalischer
Gott, der noch keine Pandekten gehört und ebensowenig
an griechischer Kunst und Bildung sich geschult hatte ;
mit anderen Worten : der Gott eines Volkes, welchem die
Subjektivität des Geistes weder wie in Rom in der
Rechtssubjektivität, noch wie in Hellas in der schönen
Individualität zum Bewußtsein gekommen war, und für
den daher auch die in der einmal ipso jure eingetretenen
Erwerbung der Erbschaft liegende Handlung (s. §2
A.) von einem Verhältnis des objektiven Seins keinen
Unterschied machen konnte.
Das griechische Volk ist dasjenige, in welchem der
Begriff der Subjektivität des Geistes, d. h. der Freiheits-
begnff, daß der Geist subjektives Selbstbestimmen und
Selbsthervorbringung sei, zum erstenmal in der Weltge-
ld
schichte und in seiner ersten Form auftritt. Und darum
sehen wir in streng geschlossener Bestätigung unserer Ent-
wicklung hier zum erstenmal, und hier bereits als
eine begriffliche Notwendigkeit den Gedanken der Nicht -
rückwirkung heimisch, wie ihn uns Plato oben (S. 60)
ausgesprochen und wie wir ihn ebenso im hellenischen
Rechte tätig finden1).
Zugleich haben wir aber auch in dieser Entwicklung
an diesem einen großartigen Beispiel ein anderes allge-
meines Verhältnis hervortreten sehen, welches von zu hoher
begrifflicher Wichtigkeit und von zu gewaltigen Konse-
quenzen ist, als daß wir nicht hier seiner Hervorhebung
wenn auch nur einige wenige Worte widmen sollten.
Wir meinen das wahrhafte Verhältnis des Natur-
rechtes zum positiven oder historischen Recht,
welches bisher allgemein und ebenso sehr auch in der
Hegeischen Schule noch irrig und durchaus unerschöpfend
aufgefaßt wurde.
1) cf. Demosth. advers. Eubulid., IV, 1330, ed. Dindorf :
„rdig ygovoig roivvv oihct) cpaivexat yeyovojg ojote, ei y.al xaxä
ft&TEQa aotös r\v, elvai nolvnqv ttqooi'jxelv avtov ykyovE yäg
7i q 6 EvxXelöov." Nach dem unter dem Archonten Euklides
von Aristophon eingebrachten Gesetz mußte man nämlich, um
Bürger zu sein, von mütterlicher wie väterlicher Seite von
bürgerlicher Abkunft sein. Nach seinem Wortlaut umfaßte das
Gesetz zuerst auch solche, die vor der Amtsführung des Eukli-
des geboren waren, wurde aber eben deshalb bald darauf
dahin verbessert, daß es nur auf die nach seiner Magistratur
Geborenen sich erstrecken sollte (siehe die Noten bei Din-
dorf, in 1. 1., VII, 1339, ed. Oxonii). Hierauf beziehen sich
jene Worte: „denn er wurde vor dem Euklides ge-
boren," und wir sehen also, wie die Nichtrückwirkung im
attischen Recht auch im öffentlichen Recht sorgfältig gewahrt
wird.
137
Wir haben oben selbst hervorgehoben und nachgewiesen,
daß die Nichtrückwirkung naturrechtlich sei. Wenn
aber bisher vom Naturrecht die Rede war, so wurde
dies stets als ein seit ewig und allgemein gül-
tiges, als ein vernunftgültiges gefaßt, welches
zum positiven oder historischen Recht im Ver-
hältnis eines allgemeinen Gedankenkernes zu seiner Aus-
führung, oder, wie Hegel selbst sich ausdrückt, wie im
Verhältnis der Institutionen zu den Pandekten stehend ge-
dacht wurde. Hieraus ergibt sich, daß das Naturrecht zwar
i m positiven oder historischen Recht als in ihm waltend
gewußt wurde, daß aber die Versöhnung noch einseitig
und unerschöpfend war, indem das Naturrecht seiner-
seits nicht als historisches Recht, nicht als von
historischer Natur aufgefaßt wurde. — Da das
Naturrecht nicht als historischer Natur gedacht wurde,
sondern als jener seit ewig und allgemein gültiger Ge-
dankenkern, ergab sich daraus zweitens, daß die Kategorien
der Rechtsphilosophie als ewige und absolute Ka-
tegorien, d.h. als Kategorien des logischen Be-
griffes gedacht und die Rechtsphilosophie von Hegel selbst
in dieser Form geschrieben wurde. Es ergab sich drittens
daraus, daß das historische Recht, wo es dem
Naturrecht nicht entsprach oder widersprach, nicht
aus dem inneren We sen des Geistes und seiner
begrifflichen Tiefe, sondern aus zufälligen und besonderen
Umständen und Zweckmäßigkeitsgründen oder resp. aus
Willkür und Unvernunft oder Gewalt herzufließen schien
und als rein Positives stehen blieb. Und endlich ergab sich
hieraus besonders ferner, daß wo das historische Recht in
verschiedener Weise das Naturrecht zu verwirklichen
schien, diese Verschiedenheiten als gleichgültige
oder doch nebeneinander bestehende Besonderheiten d e s -
138
selben Gedankens liegen blieben, wobei der sie zu
einem qualitativ Anderen machende, durch sie hin-
durchgehende Unterschied des historischen Geistes
ganz übersehen wurde.
Bei dieser Stellung von Rechtsphilosophie und histo-
rischem Recht zueinander konnte es dann freilich nur dazu
kommen, daß beide die Arme verlangend nacheinander
ausstreckten, oder höchstens zu einer eingebildeten, nicht
wirklichen Umarmung. Eine ganz andere Stellung des Na-
turrechtes zum historischen Recht hat sich uns aus dem
obigen Beispiel ergeben.
Wir haben gesehen, daß die Nichtrückwirkung natur-
rechtlich ist. Aber wir haben ebenso gesehen, daß in
der gesamten vorgriechischen Geschichte Rückwirkung
besteht, und nicht positiv oder bloß historisch,
durch die besondere Verordnung eines Kaisers usw., son-
dern mit immanenter Notwendigkeit aus dem Begriff
des asiatischen Geistes herfließend, also ihrer-
seits naturrechtlich. Wie ist das nun zu verstehen ?
Gibt es zwei Naturrechte ? Die Auflösung ist ebenso
einfach und liegt bereits in dem Vorigen. Das Natur-
recht ist selbst historisches Recht, ist eine Ka-
tegorie von historischer Natur und Entwick-
lung, und m u ß es sein, denn der Geist selbst ist nur
ein Werden in der Historie1). Es erhellt hieraus,
*) Es folgt also aus dem Obigen von selbst, daß die Rechts-
philosophie gar nicht in der Form geschrieben werden kann,
in der sie Hegel und seine Nachfolger geschrieben haben, in
der Form logischer Kategorien des Begriffes. In dieser
Form kann nur die Logik und die Naturphilosophie entwickelt
werden. Jede historische Wissenschaft aber, und darum auch
das Recht, hat es nicht mit logischen unveränder-
lichen Begriffen, sondern mit Kategorien des histori-
139
daß, was bisher als bloß positives und historisches Recht
liegen gelassen wurde, vielmehr als notwendiger Ausfluß
des Begriffes des Geistes auf der bestimmten
Stufe seiner inneren Entwicklung, oder als Ausfluß des
sehen Geistes und darum überall mit historischen Be-
griffen zu tun. Sie ward also gar nicht behandeln können:
das Eigentum, den Vertrag, das Unrecht, die Familie, das
Erbrecht, die bürgerliche Gesellschaft, die Korporation, den
Staat usw., was alles abstrakte und unwillkürliche Allgemein-
heiten sind, sondern sie wird aus dem historischen Be-
griff des griechischen, des römischen, des germanischen Geistes
usw. den Begriff des griechischen, des römischen, des ger-
manischen Eigentums, des griechischen, des römischen, des ger-
manischen Staates usw. entwickeln müssen, wobei sich zeigen
würde, daß manche von diesen scheinbar logischen Kategorien
nicht nur, was bei allen der Fall, stets einen ganz anderen
geistigen Inhalt haben, sondern sogar in ihrer formellen
Existenz überhaupt nur Produkt eines bestimmten histori-
schen Geistesbegriffes sind und mit diesem kommen und ver-
schwinden, z. B. die bürgerliche Gesellschaft, die Korporation
usw. Und auch nicht bei einer solchen Allgemeinheit, wie der
germanische Geist überhaupt, dürfte stehen geblieben, sondern
hier müßte wieder auf die Unterschiede des historischen Be-
griffes in den verschiedenen Geistesperioden desselben einge-
gangen und hieraus die verschiedene Gestaltung und die Um-
änderungen der Institute seines Privat- und öffentlichen Rechtes
abgeleitet werden. Es müßte also die Rechtsphilosophie ähn-
lich, wenn auch noch genauer eingehend, entwickelt werden,
wie Hegel selbst die Religionsphilosophie geschrieben hat. Man
wäre in der Religionsphilosophie ebensowenig vorwärts ge-
kommen, wenn Hegel nur über den Gott, das Dogma, das
Jenseits geschrieben hätte. Hier entwickelte er vielmehr be-
stimmt den jüdischen, ägyptischen, römischen,
christlichen Gott usw., d.h. das Gottesbewußtsein der
Völker in der Bestimmtheit ihres historischen Gei-
stes. Wenn aber die Religionsphilosophie nur ist die Entwick-
lung des Gottesbewußtseins, so ist die Rechtsphilosophie nur
140
historischen Geistes begriffen werden muß, woraus
sich dann auch die angeblichen bloßen Verschiedenheiten
der Ausführung, welche das historische Recht d e m s e 1 -
b e n naturrechtlichen Gedanken, derselben Rechtskategorie,
die Entwicklung des Rech tsbewußtseins der Völker. Man
kann somit sagen, wie dies übrigens bereits in tieferer Weise
aus dem Obigen folgt, daß die Rechtsphilosophie bei Hegel
eine seinen eigenen Prinzipien und seinem eigenen System wider-
sprechende Gestalt erhalten hat — und natürlich von seinen
Nachfolgern mumienartig darin bewahrt worden ist! Der Un-
terschied zwischen der Rechts- und Religionsphilosophie bei
Hegel mag daher rühren, daß die Kategorien des Rechtes,
Eigentum, Vertrag usw. eine vom historischen Volks- und Zeit-
geiste unabhängige Identität durch alle Zeiten hindurch zu be-
wahren scheinen. Aber das ist eben nur ein Schein, der nur
entsteht, solange man im Abstrakt-Allgemeinen stehen bleibt,
und verschwindet, wenn man auf die jederzeitige Bestimmt-
heit dieser Rechtsinstitute eingeht. — Daß nun trotz des hier
Gesagten auch das Identische in dem allgemeinen for-
mellen Wesen der Rechtskategorien (Eigentum, Vertrag
usw.), was aber als ein bloßes An sich aufzufassen ist, nicht
übersehen zu werden braucht, kann gleichfalls schon aus dem
Vergleich mit der Hegeischen Religionsphilosophie hervorgehen,
in welcher ja gleichfalls das allgemeine Wesen der Religionen
als ein allen Religionen zugrunde liegendes Ansich gewahrt
worden ist. Das begriffliche Verhältnis dieser Form der Rechts-
kategorien zu den Begriffen des historischen Geistes,
die erst das wirkliche Recht, und den Inhalt jener for-
mellen Kategorien daher immer als einen begrifflich-ver-
schiedenen, erzeugen, könnte streng und systematisch nur in
einem neuen ,, System der Philosophie des Geistes" nachge-
wiesen werden.
An sich bildet einen Versuch, in obiger Hinsicht über
Hegel hinauszugehen, Gans' „Erbrecht in weltgeschicht-
licher Entwicklung," denn hier ist nun wirklich mit dem
chinesischen, indischen usw. Erbrecht angefangen und auch ver-
sucht worden, dies mit jedem Volksgeiste in einen Zusammen-
141
zu geben scheint, vielmehr als das Dasein schlechthin
verschiedener und entgegengesetzter Be-
griffe des historischen Geistes ergeben, s o erst
die Hülle ihrer gleichgültigen positiven Verschiedenheit
abstreifen und ihren wahrhaften Begriffsinhalt hervortreten
lassen.
Erst bei dieser Auffassung bleiben Naturrecht und
positives oder historisches Recht nicht in schattenhafter
Entfernung voneinander, behalten nichts Apartes gegen-
einander, sondern durchdringen sich wahrhaft.
Kehren wir von dieser Andeutung, die ohnehin hier
nicht klarer gelegt werden kann1), zu dem von uns ent-
hang zu bringen. Aber es ist nur an sich über Hegel hinaus-
gegangen, oder der Versuch ist verfehlt; denn der heutige
Begriff des „Erbrechtes" ist wieder als eine solche lo-
gische allgemeine Kategorie aufgefaßt und von vorn-
herein mitgebracht, und in diesem identischen Begriff
nur die Verschiedenheit seiner stofflichen Rechtsaus-
führung in einem gewissen Zusammenhange mit dem beson-
deren Volke nachzuweisen versucht worden. Aber davon, daß
der Erbbegriff selbst im Prozeß des historischen Geistes
ein anderer wird und ein anderer - werden muß, daß dem,
was wir unter „Erbrecht" zusammenfassen, stets ganz andere
historische Geistesbegriffe zugrunde liegen — davon
hat auch Gans keine Ahnung, und verfehlt daher auch wieder
notwendig gänzlich den Geist des historischen Rechtes (des
römischen Erbrechtes), wie wir dies alles im zweiten Bande
in der gesamten Darstellung des Erbrechtes nachweisen und
dort erst zum wirklichen Verständnis werden bringen können.
*) Wohl aber werden wir im gesamten Verlaufe dieses Wer-
kes, wo dies ohne zu große Weitläufigkeit geschehen kann, im
konkreten Stoffe selbst dies nachzuweisen suchen, wie das an-
geblich rein Positive und Historische nur notwendiger Ausfluß
des jederzeitigen historischen Geistesbegriffes ist. Das
großartigste Beispiel hiervon, das wir treffen werden, wird die
gesamte Darstellung des Erbrechtes im zweiten Bande sein.
142
wickelten Prinzip über die Rückwirkung zurück. Wir haben
eine philosophische Begründung gegeben, und es ist jetzt
zunächst ein Blick auf den großen Umfang der Rechts-
fragen zu werfen, welche durch dieses oberste Prinzip
bereits ihre Entscheidung empfangen. Ein Gesetz, wel-
ches die Personenkapazität ändert oder sie einer Klasse
von Personen entzieht, ändert also augenblicklich die Fähig-
keit aller Personen und entzieht sie sofort allen denen,
welche sie bisher bereits hatten, nach dem neuen Gesetz
aber nicht besitzen. Aber die auf Grund dieser Fähigkeit
bereits vorgenommenen individuellen Handlungen bleiben
gültig bestehen und können durch das neue Gesetz nicht
mehr vernichtet werden.
Wenn also ein Gesetz das zur Volljährigkeit erforder-
liche Alter, wo es bisher auf 21 Jahre bestimmt ist, auf
25 Jahre fixiert, so ist dadurch mit Recht allen auch vier-
undzwanzigj ährigen und also nach dem bisherigen Gesetze
schon majorennen Personen die hieran geknüpfte bereits
vorhandene Handlungsfähigkeit wieder entzogen. Ein sol-
ches Individuum wird sich in nichts, weder über Gesetz-
geber noch Richter beschweren können, da weder Alter
noch Majorität ein Akt seines Willens ist. Das
Alter selbst ist eine natürliche Eigenschaft und nichts
durch den Willen Hervorgebrachtes. Und ebenso ist die
Bestimmung desjenigen Alters, das zur Majorennität
erforderlich sein soll, bloße Festsetzung des Gesetzgebers
und eine vom Individuum ganz unabhängige Sache. Ein
solches Gesetz darf also scheinbar zurückwirken und
den Individuen die bereits erlangte Volljährigkeit wieder
entziehen. Es ist aber genau gesprochen — und freilich
ist dies in dieser Materie sehr nötig — gar keine „er-
langte" (denn es fehlt an jeder Willensaktion, welche
die für den Begriff des Erlangens unumgängliche Voraus-
143
Setzung bildet) Majorennität, sondern nur eine vorhan-
dene bestimmte Handlungsfähigkeit da, die also mit dem
neuen Gesetz schlechterdings vorhanden zu sein aufhört.
Mit völligem Unrecht also nehmen Savigny wie Borne-
mann an 1), daß ein solches Gesetz ohne unzulässige Rück-
wirkung nicht auf die bereits Großjährigen angewendet
werden, noch über sie verfügen dürfe (siehe hierüber aus-
führlicher bei der Anwendung, Abschnitt III, sub I).
Die bereits von diesen Individuen auf Grund ihrer bis-
herigen Majorennität getätigten Rechtsgeschäfte aber blei-
ben durchaus zu Recht bestehen, weil sonst freie Willens-
aktionen nachträglich vernichtet und entstellt werden
würden.
Und man sehe, wie genau es darauf ankommt, stets den
angegebenen Begriff scharf im Auge zu behalten, statt
ihn in eine dann notwendig irreleitende Formel (über den
Personenzustand, Rechtsfähigkeit usw.) verknorpeln zu
lassen. Ist nämlich die Majorennität das Produkt einer
Majorennitätserklärung, die z. B. auf Antrag des
Vaters oder des Minderjährigen von dem Vormundschaft -
liehen Gericht erlassen wird (vgl. Allgemeines Landrecht,
T. II, Tit. 28, 216 und T. II, Tit. 18, §714 fg.), so
kann dies offenbar durch kein späteres Gesetz, welches
die Majorennitätserklärungen abschafft oder andere Be-
dingungen derselben vorschreibt, mehr aufgehoben werden.
Der Grund ist, daß sie hier durch individuelle Hand-
lungen vermittelt und erworben ist, die nicht mehr ver-
nichtet werden können2).
x) Der § 720 des Allgemeinen Landrechtes, T, II, Tit. 18,
geht offenbar von der oben entwickelten Ansicht aus.
2) Wenn man hier die eigene Handlung des Minderjährigen
vermissen wollte, so ist § 2 zu vergleichen. Vater wie vor-
144
Werfen wir hierbei gleich einen Blick auf die Eman-
zipation. Diese betrifft in ihren Folgen die Rechts-
fähigkeit der Kinder, und somit den Zustand der Per-
son an sich. Sie selbst aber ist ein Institut, welches im
wahren Familienrecht wurzelt. Savigny (VIII, 504, 500)
will daher, daß wie die Entstehung der väterlichen
Gewalt, so auch ihre Auflösung, namentlich durch Eman-
zipation, stets unter dem Gesetz der Zeit stehe, unter
welches die auflösende Tatsache fällt.
Aber es handelt sich vielmehr darum, wodurch die
Emanzipation hervorgerufen wird, und je hiernach wird
die Entscheidung eine entgegengesetzte sein müssen.
Nach dem Code Napoleon (Art. 372) tritt die Auf-
hebung der väterlichen Gewalt ipso jure mit der Voll-
jährigkeit ein. Wird also das zu derselben erforderliche
Alter dort erhöht, so fallen dadurch die betreffenden bisher
Volljährigen auch wieder unter die väterliche Gewalt zu-
rück. Diejenige Emanzipation aber und die durch sie be-
dingte Rechtsfähigkeit, welche zwar gleichfalls ipso
jure eintritt, aber als Folge einer freiwilligen Hand-
lung des Emanzipierten, wie dies nach dem Code Na-
poleon z. B. bei der Heirat der Fall ist (Art. 476, le
mineur est emancipe de plein droit par le mariage), —
diese wird durch ein späteres Gesetz über Emanzipation
nicht mehr berührt, weil sie durch individuelle Willens-
aktion vermittelt und somit erworben ist. Man kann
dies Resultat auch noch bestätigen durch die sehr alte,
z. B. bereits von Bartolus gegebene Regel, daß ein Gesetz,
welches als contractus vel quasi contractus wirke, d. h.
sich in die Formel auflöse do ut facias, vel facio ut facias,
mimdschaftliches Gericht handeln überhaupt für den Minder-
jährigen.
10 L»s»alle. G«. Schriften, Band IX 145
nicht durch ein späteres Gesetz in praejudicium quasi con-
trahentis aufgehoben werden könne1). In ein solches kon-
trahierendes Gesetz löst sich aber eben ein jedes
auf, welches die Erlangung eines Rechtes oder Zustandes
von der Bedingung individueller Handlungen abhängen
läßt.
y) Bartolus, Comm. in Dig.. lib. I, Nr. 28 (fol. 34, ed.
Bas. 1589): Quarto quaeritur, utrum liceat facere statutum
super his, quae ab aliis statutis ejusdem civitatis sunt disposita ?
— — Distingue : Aut statutum stat in simplici dispositione
statuti, aut transit in contractum vel quasi. Primo casu per
sequens potest statutum simplex revocari . . . seeundo casu non
potest revocari in praejudicium quasi contrahentis. Et intellige
rationem contractus vel quasi, qui ex decreto vel statuto resul-
tat. Et circa praedieta subjicio unam quaestionem, ad intelli-
gentiam ipsorum. Statuto cavetur, quod qui venit ad habitandum
in tali castro, habeat immunitatem perpetuo. Quidam venerunt ;
nunc civitas vult revocare statutum, et vult ne illi gaudeant
immunitate. Certe in praejudicium eorum qui jam venerunt,
non potest revocari. Secus in his qui nondum venerunt. Nam
dictum statutum transivit in contractum, vel quasi contractum,
do ut facias, vel facio ut facias, id est concedo tibi immuni-
tatem ut venias. Si aliqui venerunt, ex utraque parte, perfectus
est contractus, et ideo non est locus poenitentiae sed antequam
veniunt.
Was an dieser von Bartolus gegebenen Regel richtig ist,
ist die Tätigkeit des oben entwickelten Begriffes in ihr. Seine
Regel selbst aber ist zu weit und zu eng. Zu weit — und
darum ist gerade das von ihm gewählte Beispiel ganz falsch
— , wie sich in § 7 zeigen wird, wo sich die aus der konkreten
Entwicklung des Begriffes für diese Regel folgenden Ein-
schränkungen ergeben werden. (Daselbst wird sich auch zeigen,
welcher durch die genauere Begriffsbestimmung gesetzten Ein-
schränkung das unterliegt, was wir oben nur beispielsweise über
die Emanzipation durch Heirat gesagt haben.) Zu eng, wie
sich dies in §§ 2, 6 u. a. herausstellen wird.
146
Mit Unrecht würde man aber in dem erwähnten Bei-
spiele der Emanzipation durch Heirat den Grund viel-
leicht etwa darin suchen wollen, daß, weil der Minder-
jährige ohne väterliche Erlaubnis eine Ehe nicht eingehen
kann, dieselbe eine Entlassung aus der Gewalt seitens des
Vaters selbst in sich einschließt. Dies trifft hier nur zu-
fällig zusammen ; denn dies Zusammentreffen wäre nicht
der Fall und die Folgen für die Rechtsfähigkeit dennoch
dieselben, wenn die individuelle Handlung, durch welche
sie vermittelt wird, gar nicht der Einwilligung des Vaters
bedarf, wie z.B. wenn ein Gesetz nach Art Justinians
in der Nov. 81 1) die Emanzipation und die durch sie
hervorgebrachte Rechtsfähigkeit ipso jure als Folgen ge-
wisser Würden und Staatsämter eintreten ließe. Eine väter-
liche Einwilligung findet hierbei nicht statt. Aber die Er-
langung der Würde oder des Amtes ist ein durch indi-
viduelle Verdienste -und Aktionen des Eman-
zipierten Vermitteltes. Auf diese Entstehung der Rechts-
fähigkeit wirken also spätere Gesetze nicht ein, während
sie dies wohl tun, wo die Emanzipation bloß durch Alter
eingetreten ist. Man kann also nicht, wie die französischen
Autoren stets tun, im allgemeinen sagen, daß die Rechts-
und Handlungsfähigkeit den Personen stets bloß vom Ge-
setz verliehen sei. Sie kann auch erworben sein. Auf die
Operation der obigen Begriffsunterschiede kommt es an.
Man kann ebensowenig, wie Savigny diesen Gedanken aus-
drückt, sagen, daß der Zustand der Personan sich
stets der sofortigen Anwendung des neuen Gesetzes unter-
1) Cap. 1. Quapropter gravissima Kac lege utentes sanci-
mus ut ordinarii consules, si in potestate sint, simul cum verbo,
quod ipsis hoc munus tribuit, suae potestatis fiant; praeterea
ut consularibus codicillis ab Imperatore honoratis et sub manu
parentum constitutis codicilli in causa sint, ut sui juris fiant etc.
10 • 147
liegen müsse. Es kommt wiederum auf die Operation der
obigen Begriffsmomente, auf die Frage an, ob dieser Zu-
stand durch das Gesetz verliehen oder ein durch die indi-
viduelle Willensaktion Konstituiertes und Vermitteltes sei.
Will man noch einen entscheidenden Beweis hierfür, so
liegt er in folgendem : Nichts betrifft gewiß den Zustand
der Person an sich in höherem Grade als die Frage, ob
man Sklave oder Freier sei. Nun verordnen die Kaiser
Diokletian und Maximinian1), daß der Sklave, der sich
zwanzig Jahre lang im redlichen und titulierten Besitz der
Freiheit befunden (qui bona fide in possessione libertatis
etc.), gegen die Vindikation des Herrn geschützt und ein
freier römischer Bürger sein solle (ut et liberi et cives
Romani fiant). Kein Mensch wird annehmen, daß durch
Abschaffung dieses Gesetzes auch diejenigen hätten be-
rührt und wieder zu Sklaven gemacht werden können,
welche einmal durch den Ablauf der zwanzig Jahre unter
dem Gesetze zu Freien geworden waren. Und warum
ist hier der Zustand der Person an sich der Einwirkung
des neuen Gesetzes entzogen ? Weil jene Sklaven durch
Ersitzung, durch Usukapion, also (s. § 2 D.
über die Usukapion) durch fortgesetzte indivi-
duelle Willensaktion den Zustand eines Freien sich
erzeugt und zu dem ihrigen gemacht hatten, und derselbe
deshalb ein erworbener war. Auf dieses Begriffs-
moment allein also kommt es an, und nur darum ist die
Formel über den Personenzustand meistens richtig, weil
derselbe in den meisten Fällen ein bloß vom Gesetze
verliehener ist.
Betrachten wir ferner ein Gesetz über Ehe und Ehe-
scheidung nach obigem Prinzip.
*) L. 2, C. de longi temp. praescr. quae pro über. (7, 22).
148
Soweit dieses Gesetz die Gatten schon dadurch trifft,
daß es die organische Institution der Ehe selbst ändert,
soweit es also die Gatten in denjenigen allgemeinen Qua-
litäten, Rechten und Pflichten trifft, welche das Gesetz
den Gatten überhaupt verleiht, so weit wirkt
es augenblicklich auf alle schon bestehenden Ehen ein.
Soweit aber das Gesetz die Gatten nicht ausschließlich
und unmittelbar durch eine Veränderung jener Eigenschaf-
ten und Rechte treffen würde, welche das Gesetz selbst an
die Qualität des Gatten knüpft, sofern es also sie
nur dann treffen würde, wenn hierzu noch eine in der
Vergangenheit liegende freiwillige Handlung eines
Gatten hinzutritt, so weit darf dies Gesetz keinesfalls ein-
wirken. Denn insoweit würde seine Einwirkung eine
Rück w i r k u n g sein.
Wenn also ein neues Gesetz die Scheidung überhaupt
aufhebt, oder die Scheidung, falls sie bis dahin verboten
war, einführt ; wenn ein neues Gesetz die persönlichen
Rechte und Pflichten der Gatten zueinander (Gehorsam.
Schutz usw.) ändert, so wirken diese Bestimmungen sofort
auT alle bestehenden Ehen ein. Denn die Gatten werden
durch dieses Gesetz nur insofern betroffen, als das Institut
der Ehe selbst, als die allgemeinen und stets vom Gesetz
verliehenen Qualitäten der Ehemänner und Ehefrauen da-
durch verändert werden. Ob die Ehe überhaupt auflösbar
oder unauflösbar ist, ist eine rein durch das Gesetz der
Ehe verliehene Qualität, nicht eine Tat und ein
Produkt des einzelnen Gatten. Die Gatten werden durch
dieses Gesetz unmittelbar in ihrer allgemeinen gesetzlichen
Qualität als Gatten getroffen, ohne Vermittlung
einer besonderen freiwilligen Handlung ihrerseits.
Ebenso wenn ein Gesetz neue Ehescheidungs gründe
einführt oder bestehende abschafft, gilt das Gesetz auch
149
in dieser Hinsicht vom Augenblick seines Erscheinens
ab für alle bestehenden Ehen. Was ein Ehescheidungs-
grund überhaupt sein soll oder nicht, ist gleichfalls nicht
durch die Willensaktion des Individuums hervorgebracht,
sondern eine das Institut der Ehe selbst betreffende ge-
setzgeberische Bestimmung. Die Gatten können daher auch
in dieser Hinsicht dem Gesetze durchaus keinen Vorwurf
der Rückwirkung machen ; denn da es sich nicht auf die
eigenen Handlungen eines Gatten vor seinem Er-
scheinen erstreckt, so wird keine solche eigene Handlung
ex post verändert, und wenn von nun an Handlungen als
Ehescheidungsgründe gelten, die es bis dahin nicht waren,
so steht es dafür in der Freiheit des Individuums, von
nun an diese vom Gesetz bezeichneten Handlungen zu
unterlassen. Die menschliche Freiheit, das erste Recht
des Individuums, die Natur seiner Handlung vorher wissen
zu können, ist also gerettet.
Wenn man aber den vom neuen Gesetz statuierten Elie-
scheidungsgründen mit Savigny (s. oben S. 75) sogar die
Folge geben wollte, daß sie auch auf die frühere Zeit
anwendbar seien, dann würde allerdings die schreiendste
Rückwirkung vorliegen. Denn dann würde ja eben eine
freiwillige, vollbrachte Handlung des Individu-
ums nachträglich einen anderen Charakter und andere Fol-
gen erhalten, als dasselbe bei der Vollbringung wissen
konnte, und es würde den Gesetzgeber oder Richter der
Vorwurf treffen, die menschliche Zurechnungsfähigkeit
forciert zu haben 1) !
1) Und nichtsdestoweniger hat der rheinische Appellations-
gerichtshof zu Köln in einem Urteil vom 22. Juli 1850 und
der Berliner Revisions- und Kassationschef durch Bestätigung
desselben durch Urteil vom 20. Juni 1851 sich nicht gescheut,
sich dieses schwersten Vorwurfes schuldig zu machen!
150
Betrachten wir die Wirkung unseres Prinzipes auf
Ve r t r ä g e , so ergibt sich zunächst in bezug auf die
Form derselben, daß diese, da ja Verträge und ihre Er-
richtung stets freiwillige Handlungen sind, immer nur nach
den Gesetzen zur Zeit der Stipulation beurteilt werden
kann. Aus demselben Grunde aber ergibt sich auch für
den Inhalt der Verträge, daß sich derselbe in bezug
auf Gültigkeit, Art und Grad seiner Wirksamkeit, An-
fechtungsgründe usw. immer nur nach dem Gesetz zur Zeit
des Kontraktes richten wird, soweit dies nicht Einschrän-
kungen unterliegt, die aber aus unserem Prinzip selbst her-
vorfließen müssen, statt ihm derogieren zu dürfen, worüber
später.
Wie im Privatrecht, so ist das obige Prinzip nicht min-
der im öffentlichen Rechte wirksam. Vom Strafrecht haben
wir dies bereits gleich im Anfang gesehen. Es ist dies
aber nicht weniger bei den anderen Teilen des öffentlichen
Rechtes der Fall.
Wenn ein Gesetz die zur Erlangung der Naturalisation
erforderlichen Bedingungen erschwert, so wirkt dasselbe
keineswegs auf diejenigen Fremden ein, welche die Natu-
ralisation nach Maßgabe der früheren Bedingungen bereits
erlangt haben.
Wenn es aber z. B. einem Staate einfiele, alle zur Zeit
auf seinem Territorium weilenden Fremden ohne Rück-
sicht auf deren Willen mit dem Indigenat zu bekleiden,
und dieses Gesetz würde später wieder aufgehoben, so
würde die Aufhebung sich auch auf diejenigen Fremden
erstrecken, welchen das Indigenat durch das erstere Gesetz
zuteil geworden war [natürlich mit Ausnahme solcher,
welche diese Qualität vor dem widerrufenden Gesetze
durch ausdrückliche Willenserklärung oder konkludente
Handlungen — spätere Domizilierung, Errichtung eines
151
Gewerbebetriebes usw. — bereits akzeptiert und so
durch eine spätere individuelle Willensaktion zu
ihrem individuellen Eigentum gemacht hatten ; denn es
ist gleichgültig, ob das Recht erst entsteht durch die
individuelle Willensaktion, oder ob es ursprünglich aus
dem Gesetze fließt, das Individuum aber es durch spä-
tere Handlungen ergreift und verseinigt ; siehe hierüber
§ 3]. Nicht in dieser Rücknahme also würde eine
Rückwirkung liegen, nur dem ersten Gesetze würde
man eine solche beimessen können, weil es auf Grund des
zeitigen Aufenthaltes diesem freiwilligen Faktum rück-
wirkend eine ungewollte Folge gab (und außer-
dem den Betreffenden dadurch das Staatsbürgerrecht in
ihrer Heimat entzog) 1).
1) Die Supposition eines solchen Gesetzes, welches ohne
jede Rücksicht auf den Willen der Individuen alle Fremden
ohne weiteres mit dem Indigenat bekleidet, kann vielleicht auf
den ersten Blick so kindisch scheinen, daß sie selbst das Recht
der Theorie, zum Beweise ihrer Thesen auch die unwahrschein-
lichsten Fälle zu unterstellen, überschreitet. Dies ist aber nicht
nur nicht so, sondern solche Gesetze und daraus entspringende
Fälle von der größten praktischen Wichtigkeit sind sogar da-
gewesen. Zuerst muß hier erinnert werden an die Konstitution
des Marcus Antoninus, von der uns die L. 17 D. de statu
hominum (I, 5) erzählt, durch welche alle Bewohner des römi-
schen Erdkreises ohne weiteres zu römischen Bürgern gemacht
worden sind. (In orbe Romano qui sunt, ex Constitutione Im-
peratoris Antonini cives Romani effecti sunt.) Kein Mensch
wird bezweifeln, daß, wenn es Marcus Antoninus gefallen hätte,
später diese Verordnung wieder aufzuheben und die früheren
Unterschiede wiederherzustellen, durch diese Aufhebung auch
die lebenden Geschlechter mit Recht getroffen worden wären.
Man wird dies um so weniger bestreiten können, als dies Edikt
bei den Verhältnissen der alten Welt eigentlich ein Edikt über
die Rechtsfähigkeit darstellt. Immerhin war diese Rechts-
152
Ebenso nimmt ein neues die Wahlfähigkeit beschrän-
kendes Wahlgesetz diese Fähigkeit unzweifelhaft auch allen
solchen Bürgern, die sie bisher besaßen, aber die bereits
vollzogenen Wahlen, zu denen sie auf Grund des früheren
fähigkeit bloß die Folge der einmal erlangten Qualität des
römischen Bürgers, und wäre diese durch eine individuelle Lei-
stung und Willensaktion erlangt worden, so wäre sie — und
also auch die jederzeit aus ihr fließende Rechtsfähigkeit —
unwiderruflich gewesen. Keinesfalls liegt der wahre Grund
der Widerruflichkeit der Verordnung des Marcus Antoninus
darin, daß sie als akzessorische Folge der römischen Bürger-
eigenschaft über die Rechtsfähigkeit statuierte. Es wird sich
bei uns gar nicht anders mit einer solchen Verordnung ver-
halten, obgleich bei den faktischen Verhältnissen der modernen
Welt die Erteilung des Indigenates durchaus nicht ein bloßes
Statut über die Rechtsfähigkeit darstellt. Es kann sogar das
Indigenat und die Rechtsfähigkeit bei uns getrennt sein (vgl.
Code civ., Art. 7). Ganz bestimmt war dies der Fall nach
den französischen Gesetzen vom 30. April 1790 und 9. De-
zember desselben Jahres (Art. 24). Ersteres verordnet que
tous ceux qui nes hors du royaume, de parens etrangers, sont
etablis en France, sont re'putes Frangais, et admis, en pretant
le serment civique, ä l'exercice des droits de citoyens actifs,
apres cinq ans de domicile continu dans le royaume, s'ils ont
en outre, ou acquis des immeubles, ou epouse une Francaise etc.
Merlin hat auf das unzweifelhafteste nachgewiesen, daß dies
Gesetz von der Bedingung des Bürgereides nur die Ausübung
der bürgerlichen Rechte abhängig macht, die Qualität eines
Franzosen aber unabhängig hiervon und ipso jure allen denen
überträgt, welche fünf Jahre hindurch ihr Domizil in Frank-
reich gehabt und außerdem ein Grundstück gekauft oder eine
Französin geheiratet haben.
War dies Gesetz aber nur auf die Zukunft anwendbar oder
war es auch anwendbar auf solche, welche schon vor dem
Erlaß desselben fünf Jahre ununterbrochen ihr Domizil
in Frankreich gehabt und dazu eine Französin geheiratet hatten ?
Waren nun also auch diese, die diese Folge nicht hatten vor-
153
Gesetzes mitgewirkt haben, werden hierdurch nicht ver-
nichtet ; die individuellen Handlungen bleiben bestehen.
Zugleich ist ersichtlich, daß dieses Prinzip den An-
forderungen entspricht, welche wir oben (S. 68 fg.) für
aussehen können, unabhängig von ihrem Willen zu Franzosen
gemacht ?
Merlin, in einem bald anzuführenden Plädoyer, das er als
Generalprokurator vor dem Pariser Kassationshofe hielt, be-
hauptete dies letztere, und dies war eine der Hauptachsen, um
welche sich der seiner Zeit so berühmte Prozeß des damaligen
M-ajors Mac-Mahon gegen seine geschiedene Gattin, die Frau
von Latour, drehte. Es handelte sich in diesem Prozesse, wel-
cher drei verschiedenen Appcllhöfen überwiesen wurde und zwei
kassierende Urteile des Pariser Kassationshofes veranlaßte, und
in welchem Merlin dem Vorfahr des Siegers von Magenta
doppelte Felonie und Überläuferei gegen England wie Frank-
reich und Betrug in seinen Ehepakten nachwies, darum, zu
wissen, ob Mac-Mahon, der bei dem Erlaß des Gesetzes vom
20. April 1790 bereits fünf Jahre in Frankreich gewohnt und
eine Französin geheiratet hatte, durch dasselbe ohne seinen
Willen zum Franzosen geworden war, und ob folglich, da er
zwei Jahre darauf Frankreich verließ, die damaligen Gesetze
über Emigranten auf ihn anzuwenden waren. Es lag somit hier
ganz der Fall vor, den wir oben im Text supponiert haben.
Der Appellhof von Orleans entschied hierüber in einem schön
motivierten Urteil (vom ll.Thermidor XIII): „Attendu —
qu'un acte de naturahsation est un ventable contrat entre le.
gouvernement qui adopte et l'etranger adopte, que ce contrat
comme tous les autres contrats, exige un consentement mutuel
et rfciproque; que ce consentement doit etre formel ou resulter
d'actes expres et positifs, d'oü il suit que toute disposition
generale qui ddclarerait naturalisee teile ou teile classe des
individus, ne pourrait s'appliquer reellement qiCä ceux des individus
qui en auraient reclame ou aeeepte la faveur ou lapphcation."
Die Richtigkeit dieser Motive springt in die Augen. Trotz-
dem erhob sich Merlin, der schon ein kassierendes Urteil in
diesem Prozeß herbeigeführt hatte, mit Macht dagegen vor
154
eine wahrhafte Theorie aufgestellt haben. Wir ver-
langten hierzu, daß beide Grundsätze, sowohl derjenige,
welcher bestimmt, wo sofortiges Platzgreifen der Gesetze
stattfinden als nicht stattfinden darf, in eine gemein-
dem in vereinigten Kammern sitzenden Kassationshof. Nach
ihm hätte Mac-Mahon gleich nach Erscheinen des Gesetzes
sagen müssen : „Da man will, daß ich auf Grund meines Domi-
ziles Franzose sei, so verlasse ich das Territorium eines Gouver-
nements, dessen Adoption mir nicht gefällt." Merlin vergißt,
daß, war einmal Mac-Mahon durch das Gesetz vom 30. April
1790 zum Franzosen geworden, er durch das sofortige Ver-
lassen Frankreichs vielmehr nur sofort damaligen Emigranten-
gesetzen verfallen, seine Lage also gar nicht geändert worden
wäre und daß der fortgesetzte Aufenthalt in einem Lande —
von anderen faktischen Umständen des Falles abgesehen —
keine notwendige Akzeptation des Indigenates in sich schließt.
Umsonst beruft sich Merlin, geradezu die Behauptung auf-
stellend, daß die Einwilligung des Individuums in die Natu-
ralisation gleichgültig wäre, auf das Gesetz vom 5. Ventose V,
welches alle Einwohner des eroberten und mit Frankreich ver-
einigten belgischen Gebietes ohne Rücksicht auf ihren Willen
zu französischen Bürgern erklärt hatte. Er vergißt, daß die
Staatsangehörigkeit, welche ein Staat über die Kinder seiner
eigenen Bürger oder über die Bürger eroberter und zum Staats-
territorium geschlagener Länder ausspricht, ein Zwangsge-
setz ist und sein muß, von dem sich der einzelne nur unter
den bestimmten Formen der Auswanderungsgesetze befreien kann,
daß aber die Stellung, welche ein Staat zu den Angehörigen
fremder Nationen einnimmt, eine ganz andere ist.
Durch die Überlegenheit seines Wissens und seines Scharf-
sinnes gewann Merlin die Schlacht gegen Mac-Mahon, trotz
des Widerstrebens der Appellhöfe von Paris und von Orleans.
Aber er gewann sie nicht auf Grund des in Rede stehenden
Kassationsmittels, sondern aus anderen in der Sache zur Sprache
kommenden Gründen. In seinen beiden kassierenden Urteilen
vom 30. Pluviöse XIII und vom 22. März 1806 vermeidet viel-
mehr der Kassationshof sich über die Frage, ob Mac-Mahon
155
same Rechtsidec aufgelöst werden. Nur dann sei
Einheit — und mit ihr Theorie — vorhanden, wenn
diese eine Idee die Unterschiede selbst als aus ihr flie-
ßende erzeuge, so daß sich also auch aus der Idee der
als Franzose zu betrachten sei, obgleich sie das erste Kas-
sationsmittel bildete, auszusprechen, und indem er das zweite-
mal — en chambres reunies sprechend — statt dessen auf das
vierte Kassationsmittel einging und ausdrücklich erwog, daß
Mac-Mahon sich demselben nicht entziehen könne „sous le
pretexte qu'il est etranger", weil dasselbe zur Geltung komme
„contre tous les individus soit francais -soit etrangers", hat er
deutlich genug seine von Merlin hierin abweichende Ansicht an
den Tag gelegt (s. die beiden Plädoyers Merlins in dieser Sache,
abgedruckt in seinem Repert. de jurispr. v° Divorce Sect. IV,
§ 10, T. IV, p. 664- — 709). Von dem ersten Kassationsurteil
steht, obwohl es sich darüber nicht ausspricht, sogar unzweifel-
haft fest, daß der Kassationshof Mac-Mahon trotz des Ge-
setzes vom 30. April 1790 als einen Fremden betrachtet habe;
denn der Präsident der Sektion des Kassationshofes, welche
jenes Urteil erließ, Malleville, bekundete später, daß der Hof
Mac-Mahon „quoique oranger" doch seiner Gattin gegenüber
für einen „absent rentre" gehalten habe (s. Malleville, Ana-
lyse raisonnee de la discussion du Code civile au conseil d etat,
art. 234).
Wäre man aber selbst mit Merlin der Meinung gewesen,
daß ursprünglich durch das Gesetz vom 30. April 1790 Mac-
Mahon zwangsweise zum Franzosen gemacht worden war,
so hatte doch bereits die Konstitution vom 3. September 1791,
Tit. II, Art. 3, durch eine kleine Änderung in dem Wortlaut
jenes Gesetzes demselben, wie Merlin selbst (das., S. 696)
zugibt, derogiert und die Naturalisation an den freien Willen
des Individuums gebunden. Durch eine Umstellung des Satzes
von der Leistung des Bürgereides bewirkte sie nämlich, daß
nur derjenige für einen Franzosen angesehen werden solle, der
außer den übrigen Bedingungen den Bürgereid geleistet habe,
worin also eine ausdrückliche individuelle Willenserklärung hegt.
Und folglich hätte man — obwohl Mac-Mahon dieses Mittel,
156
Nichtrück Wirkung selbst die Fälle ergeben, in
denen ein neues Gesetz sofort zur Anwendung zu kom-
men hat. In der Tat ist dies durch das obige Prinzip er-
reicht, weil dasselbe, statt eine Formel zu bilden, nur die
Rechtsidee der Nichtrück wirkung darstellt.
wie es scheint, geltend zu machen verabsäumte — immer an-
nehmen müssen, daß hierdurch jener Zwang des Gesetzes
von 1790 fortzuwirken aufgehört habe. Es reicht nicht
hin zu sagen, wie Merlin tut, der, offenbar von selbst auf diesen
Gedanken stoßend, ihn flüchtig in einem Satze berührt, daß
die neue Konstitution „de meme qu'elle ne prive pas les etran-
gers de la naturalisation qu'ils avaient obtenue avant 1789
par les lettres patentes du roi, de meme aussi eile ne les
depouille pas de celle, qu' avaient purement et simplement attri-
buee les lois des 30 avril et 9 decembre 1790". Alle diese
Ausdrücke passen gar nicht einmal, da sie, priver wie de-
pouiller usw., ein Entziehen der Eigenschaft gegen den Wil-
len des Individuums voraussetzen. Es handelte sich vielmehr
darum, ob, wenn ein Staat ohne Rücksicht auf vorhergängigen
Willen oder nachfolgende Akzeptation ein Individuum zwangs-
weise naturalisiert, dieser Zwang nicht in demselben Augen-
blicke für alle nicht akzeptiert habenden Individuen fortzu-
wirken aufhört, sobald der Staat seinerseits von dem
Zwangsgesetz zurücktritt. Und so gestellt kann die Be-
antwortung der Frage nicht zweifelhaft sein. Die Fortdauer
des Zwangsverhältnisses kann nicht aus dem Rechte des Indi-
viduums gefolgert werden, wenn dieses weder vorher gewollt,
noch nachher akzeptiert hat, sondern eben gezwungen ist. Sie
kann nicht länger aus dem Rechte des Staates folgen, wenn
dieser seinerseits das Zwangsgesetz aufgehoben hat und somit
von der Zwangsanschauung zurücktritt. Woher sollte also seine
Fortdauer kommen können ? Die Wirkung der vom Staat ver-
fügten Zwangsansicht, vermöge welcher Mac-Mahon als Fran-
zose anzusehen war (sera repute Francais), dauert offenbar
nur, solange der Staat diese Zwangsansicht festhält, und hört
somit in dem Moment auf, in welchem er sie aufgibt. Dies Ge-
setz hat nicht, wie oben Bartolus sagt, als Kontrakt, sondern
157
Es liegen hier nicht mehr zwei äußerliche Regeln vor,
von denen die eine bestimmt, wo Nichtrückwirkung, und
die andere, wo Rückwirkung stattfinden soll. Sondern die
Regel der Nichtrückwirkung ist hier erstens in den B e -
griff der Nichtrückwirkung selbst zurückgeführt, so daß
sie zugleich angibt, auf welcher obersten Rechts-
i d e e der Grundsatz von der Nichtrückwirkung überhaupt
beruhte und warum er Wahrheit habe (vgl. oben
S. 120 fg.). Ferner sind eben dadurch die beiden Re-
geln, wo der Grundsatz von dem sofortigen Eingreifen
der Gesetze zur Anwendung zu kommen habe, in eine
begriffliche Einheit aufgehoben; beide Grund-
sätze selbst sind, statt sich entgegengesetzte zu bleiben,
von denen der eine auf diesem, der andere auf jenem
Rechtsgebiete gelten soll, in innere Einheit gesetzt,
in eine gemeinsame Rechtsidee aufgelöst, und drit-
tens ist damit das ebenso begriffliche als praktische Re-
als Gesetz gewirkt, und die Wirkung verschwindet daher
mit dem Gesetze selbst. Und selbst jeder Kontrakt erlischt,
wenn beide Parteien desistieren. — Die entgegengesetzte Ansicht
— die Ansicht Merlins — führt zu der großen Ungereimtheit,
daß der Staat zwar durch das Zwangsgesetz von 1790 auf alle
nicht erst zukünftig, sondern bereits gegenwärtig in den
von ihm vorhergesehenen Lagen befindlichen Fremden sofort
habe einwirken und somit — weil ohne Rücksicht auf ihren
Willen — habe rückwirken können, daß aber dem späteren
Gesetze — ■ der Konstitution von 1791 — , welches die Natu-
ralisation der natürlichen Willensfreiheit des Individuums zu-
rückgibt, eine geringere Kraft einwohne und es nicht wie
das erstere auf die gegenwärtigen Zwangsverhältnisse, son-
dern erst auf die Zukunft einwirken könne!
Höchstens hätte man also annehmen können, daß Mac-Mahon
in der Zwischenzeit vom Gesetze von 1790 bis zur Konstitution
von 1791, aber nicht mehr bei seiner Flucht (1792) Franzose
gewesen sei.
158
sultat erreicht, daß es eine zuverlässige wirkliche Rück-
wirkung, eine einzelne oder eine Klassenausnahme
von dem Prinzip der Nichtrückwirkung, über-
haupt nicht gibt, daß vielmehr auch das sofortige
Platzgreifen neuer Gesetze in allen Fällen, wo es zulässig
ist, gerade durch den Begriff der Nichtrückwirkung
selbst gesetzt und vermittelt sein muß, und
eine solche aus diesem Begriffe selbst hervorgehende so-
fortige Anwendung nur eine augenblickliche Einwir-
kung — wie solche im Wesen des Gesetzes liegt — ,
keine Rückwirkung mehr darstellt*).
*) Note des Herausgebers: Die in der Note auf Seite 150
von Lassalle als Rechtsbruch gekennzeichneten Entscheide be-
ziehen sich höchstwahrscheinlich auf die um jene Zeit gegen
die Gräfin Sophie Hatzfeldt rechtskräftig erklärte Ehescheidung.
159
II. DER BEGRIFF UND SEIN UMFANG.
§ 2. Der Umfang der Willenshandlungen.
Wenn aber nur die individuellen Willenaktionen von
keinem späteren Gesetze getroffen werden sollen, oder,
was hiermit identisch, nur solche Rechte erworbene
Rechte sind, welche durch freie Willensaktionen vermit-
telt sind, so muß es zunächst scheinen, daß aus bloßen
Begebenheiten und Ereignissen (z. B. also die eigene Ge-
burt, der Tod anderer), oder aus den Handlungen dritter
Personen — die ja in bezug auf das Individuum bloße
Ereignisse sind — , daß also aus solchen Fakten, die man
im Unterschied von den eigenen Willensaktionen juristische
Tatsachen nennen kann, dem Individuum keine erwor-
benen Rechte entstehen können. Wollte man nun aus
obigem Begriffe eine solche Regel ableiten, so würde die-
selbe zwar im allgemeinen auch noch richtig sein; sie
würde aber, wie jede Regel, zahlreiche Ausnahmen er-
leiden, während jener Begriff selbst keine erleidet, es
vielmehr, wie sich gleich zeigen wird, gerade seine eigene
Tätigkeit ist, welche diese Ausnahmen an der Regel her-
vorbringt.
Es gibt nämlich Rechte, welche scheinbar an Ereignisse
und Handlungen dritter Personen geknüpft sind, aber, ob-
wohl sie äußerlich und ihrer sinnlichen Gestalt nach als
Folgen solcher facta aliena erscheinen, doch ihrer i n -
n e r e n Natur nach vom Rechte aufgefaßt wer-
den als eigene Willensaktionen des Indivi-
duums.
160
Ist dies der Fall, so ist es natürlich nur eine Forderung
des Begriffes und eine glänzende Bestätigung seiner Kon-
sequenz, daß solche Rechte und nur solche Rechte, die
nach ihrer äußerlichen Erscheinung zwar als Folgen frem-
der Tatsachen sich darstellen, vom Gesetze aber als auf
der eigenen Willensaktion des Individuums be-
ruhend gedacht werden, erworbene Rechte bilden und also
von einem späteren Gesetze nicht berührt werden können.
Dies tritt nun in der Tat ein, und es sind jetzt diese
scheinbaren Anomalien durchzugehen und in ihre wanre
Natur als strenge Konsequenzen des Begriffes aufzu-
lösen, i
A. Erb- und Familienrecht ; Personenrepräsentation.
Dahin gehören alle solche Rechte, welche dem Indivi-
duum durch die eigene Geburt oder den Tod anderer ent-
stehen und welche vermittelt sind durch das Familien-
recht. Die so vermittelten Rechte sind dem Individuum
erworben vermöge der nach der Anschauung des Rech-
tes innerhalb der Familie herrschenden Iden-
tität der Personenund ihres Willens. Vermöge
dieser Identität wird vom Rechte diegültigeWillens-
handlung der einen Familienperson zugleich
als Willenshandlung der anderen angesehen.
Wenn geerbt wird, so erscheint dies zunächst als die Folge
eines bloßen Ereignisses, des Todes des Erblassers. In
der Tat aber beruht der Erwerb auf einem entweder aus-
drücklichen letzten Willen desselben — testamentarische
Erbschaft — oder auf einem vom Gesetz präsumierten —
Intestaterbfolge. Es geschieht also dieser Erwerb durch
eine Willenshandlung des Erblassers1), die infolge
v) An dieser abstrakten, von allen konkreten Unterschieden
absehenden und darum auch unrichtigen Behauptung muß es
11 Lassalle. Ges. Schriften, Band IX. 161
der angegebenen das Wesen des Familienrechtes bestim-
menden Identität als die eigene Willensaktion des Erben
erscheint1).
Das Erbrecht darf also nicht als ein aus einem Ereignis
oder einer fremden Handlung entspringendes Recht aufge-
faßt werden, sondern wenn dies seine äußerliche Erschei-
nung ist, so beruht seine spekulative Natur ur-
sprünglich auf der durch die Identität der Familie vermit-
telten Willensaktion des Erben.
Der positive Beweis hierfür kann nur durch das
genaueste Eingehen auf das Wesen des Erbrechtes, also
erst im zweiten Bande sich ergeben, welcher dasselbe
ebenso nach seinem philosophischen Gedankeninhalt als
nach der Verschiedenheit seines historischen Gei-
hier noch genügen. Das Wahrhafte darüber kann sich erst im
zweiten Bande ergeben.
*) Wenn etwa ein Gesetz alle Testamentserbschaft aus-
schließt und nur Intestaterbfolge anerkennt, so würde man frei-
lich nicht sagen können, daß dieselbe einen präsumierten Willen
des Erblassers darstelle. Allein hier entsteht das Recht der
Erben überhaupt nicht erst durch den Tod, es ist vielmehr
durch die Geburt oder bei dem Erwerb des Eigentums
entstanden. Das Eigentum ist hier von vornherein als ein an
sich gemeinschaftliches Familieneigentum erwor-
ben, und dieser Wille, es als solches zu setzen, erscheint als
der gemeinschaftliche Wille aller Familienindividuen. Es ist
nicht anders mit dem unter diesem Gesetze bei der Geburt
schon vorhandenen Eigentum der Ehern. Die Geburt stellt für
das Individuum selbst ein Erzeugtsein, ein bloßes Ereignis
dar; aber dieses Erzeugtsein löst sich sofort auf in eine Er-
zeugung, also in eine Handlung seitens der Eltern, durch
welche Handlung das vorhandene Eigentum als das an sich
gemeinschaftliche der nun entstandenen Familie gesetzt und diese
Willensaktion um jener unmittelbaren Identität willen als der
gemeinschaftliche Wille aller Familienglieder erscheint.
162
st es betrachten soll. Dort wird dieser Beweis auf die
strengste und wissenschaftlichste Weise erbracht werden.
Bis dahin muß das soeben Gesagte als eine bloße Asser-
tion und Abbreviatur aufgenommen werden, deren Beweis
nicht bloß, sondern auch deren tieferes Verständnis
und deren innere Unterschiede erst im zweiten
Bande sich entfalten können. — Darauf muß also einst-
weilen hinverwiesen werden.
Aber auffällig oder willkürlich erscheinen kann diese
Umwandlung des Erbrechtes in ein durch die Willens-
a k t i o n des Erben hervorgebrachtes Recht schon nach
dem hier Gesagten nicht. Sie wäre überdies nur eine not-
wendige und spekulative Folge dessen, was schon ander-
weitig über die Personenidentität als das Wesen der Fa-
milie ausmachend anerkannt wurde, und findet ihren sinn-
fälligen Erweis in der Lehre von der Repräsentation,
nach welcher ja auch z. B. das vom Kinde oder römischen
Sklaven Erworbene um dieser vom Gesetz angeschauten
Identität der Personen willen als der rechtliche Erwerb des
Vaters oder Herrn gilt.
Das Erbrecht ist aber nur die wichtigste Anwendung
dieser durch das Familienrecht bewirkten Vermittlung, und
das Gesagte gilt ebenso für alle Rechte, die durch das
Familienrecht vermittelt sind. So z. B. die Erwerbung
des Indigenats durch Geburt. Die Erwerbung des Indi-
genats durch Naturalisation oder Niederlassung erscheint
auch äußerlich als eine Erwerbung durch individuelle Wil-
lensaktionen, und von ihr begreift sich also leicht, daß sie
von einem späteren Gesetz nicht aufgehoben werden kann.
Das durch Geburt erlangte Indigenat scheint aber ebenso
wie z. B. die Volljährigkeit aus einem bloßen Ereignis,
und somit lediglich aus dem Gesetz, nicht aus einer
individuellen Handlung zu fließen, wonach es also auch
ii- 163
für ein späteres Gesetz revokabel sein müßte. Dem ist
aber keineswegs so. Es ist bereits bemerkt, daß die Ge-
burt zwar für das Kind selbst nur ein Erzeugt sein, ein
Ereignis, für die Eltern aber eine Erzeugung und also
eine freie Handlung darstellt. Was hierbei somit ein
Sein seitens des Kindes ist, ist ein Wollen und Tun
seitens der Eltern, und vermöge der in dem Familienrecht
vorhandenen unmittelbaren Willensidentität der
Personen sind daher die für das Kind an das Sein
geknüpften gesetzlichen Rechte zugleich als durch seine
individuelle Willensaktion vermittelte vorhanden.
Es erhellt von selbst, wie ebenso die Entlassung aus der
väterlichen Gewalt durch den Vater, die anscheinend gleich-
falls nur ein aus der Handlung eines Dritten fließendes
Recht darstellt, wegen dieser unmittelbaren Willensiden-
tität als die identische Willensaktion des Kindes angesehen
werden muß, und daher weder durch einen späteren Willen
des Vaters, noch durch ein späteres Gesetz, noch durch
ein solches mit Zustimmung des Vaters widerrufen wer-
den kann.
An die auf derselben ideellen Grundlage beruhende
Lehre von der Personenrepräsentation ist bereits erinnert
worden.
Was daher von dem Kinde oder dem Sklaven dem
Paterfamilias einmal erworben worden ist, kann ihm, ob-
wohl es zunächst als ein aus der Handlung eines Dritten
und somit aus dem Gesetz ihm zufließender Erwerb
erscheinen könnte, dennoch durch kein Gesetz, welches
Sklaverei, väterliche Gewalt usw. ganz abschafft oder
aber jene Repräsentation aufhebt, rückwirkend entzogen
werden, weil es vermöge derselben als durch seine eigenen
individuellen Handlungen erworben gilt.
164
B. Ungewollte Handlungen, dolus, Zwang, echter und
unechter Irrtum, ignorantia juris et facti. Die ädilizischen
Klagen und Kondiktionen1),
a) Rechte, welche zwar nicht aus Handlungen drit-
ter Personen, aber auch nicht aus den eigenen Hand-
lungen, sondern vielmehr gegen dieselben vom Gesetze
*) Die hier sub B vorliegende Ausführung über Handlungen
aus mangelndem Willen, Zwang, Betrug und Irrtum im Beweg-
grunde kann zunächst als ganz überflüssig erscheinen, da ja
Gesetze hierüber das Individuum immer nur durch Vermittlung
einer individuellen Handlung berühren können, die Rückwirkung
derselben also schon durch das im § 1 formulierte Prinzip aus-
geschlossen ist. Allein da in allen den genannten Fällen Wille
und Handlung sich spalten und der Wille des Indivi-
duums seiner äußeren Handlung entgegensteht, anderer-
seits aber nach der hier entwickelten Theorie Rechte dem Indi-
viduum nur durch seine Willensaktion erworben werden
können, so würde man es gerade bei einer solchen tieferen
Betrachtung für einen inneren Widerspruch in der Theorie halten
können, daß dem Individuum hier Rechte durch seine gerade
nicht gewollte, nur äußerliche Handlung erworben wer-
den sollen. Denn dann wäre nicht der Wille das erwerbende
Moment, und daher eigentlich nicht abzusehen, woraus das
Erworbensein bei der gegenwärtigen Theorie eigentlich fließen
sollte. Würde man also auch zugeben, daß auf durch Zwang,
Betrug und Irrtum hervorgerufene Handlungen durch spätere
Gesetze nicht eingewirkt werden kann — obgleich auch hierüber
verschiedene Meinungen bei den Autoren herrschen — , und
würde man auch weiter zugeben müssen, daß dies auch durch
die Formel unseres Prinzipes allerdings äußerlich bestimmt
werde, so würde man doch dies Zusammentreffen für ein nur
äußerliches und gerade im Widerspruch zu der inneren Be-
deutung der Theorie vorhandenes betrachten können. — Sollte
es also ernst genommen werden mit den Anforderungen, die
man für eine Theorie stellen muß, so müßte auch dieser Schein
beseitigt und gezeigt werden, wie es in der Tat nicht die äußere
Handlung des Individuums, sondern vielmehr die innere Wil-
165
gegeben werden und daher lediglich aus diesem zu ent-
springen scheinen, können sich bei näherer Betrachtung
als auf dem Dasein der individuellen Wil-
lensfreiheit beruhend und als durch sie ver-
mittelt erweisen, und können dann in strenger Kon-
sequenz des obigen Begriffes durch spätere Gesetze
nicht abgeändert werden.
Dies tritt ein bei der Nichtigkeit, welche Gesetze über
Willenshandlungen wegen mangelndenWillens ( Irr-
tum in der Person, error in corpore, error in substantia)
aussprechen. Es ist im Falle eines solchen Vertrages ein
anderes gewollt, ein anderes getan worden. Seine
äußere Handlung würde freilich dem Individuum kein
Recht auf die Nichtigkeit des Vertrages, sondern nur auf
lensaktion desselben ist, welche ihm dies Recht und zwar
gerade gegen seine äußere Handlung erwirbt. Freilich war
hierzu erforderlich, die gegenwärtig über Zwang, Betrug und
Irrtum herrschenden irrigen Ansichten zu beseitigen, was wie-
derum nur durch eine, wenn auch möglichst knappe organische
Entwicklung dieser Lehre aus dem Willensbegriff heraus er-
reicht werden konnte. — Ferner war aber diese Entwicklung
aus dem Inneren der Theorie auch deshalb ganz erforderlich,
um zu erklären, daß und warum auch auf die irrtümlichen oder
unfreien Unterlassungen (s. C.) spätere Gesetze nicht zu-
rückwirken könnten. Denn hier würde, wenn wir uns hätten
mit dem bloß äußeren Zutreffen der Formel begnügen wollen,
nicht einmal dieses Zutreffen derselben vorliegen, da bei Un-
terlassungen nicht einmal die äußere individuelle Handlung da
sein würde, durch welche die Einwirkung neuer Gesetze aus-
geschlossen wäre. Endlich aber war die Entwicklung auch noch
deshalb notwendig, um zu zeigen, warum ohne jede innere In-
konsequenz für die durch dolus hervorgerufenen Handlungen
trotz der deliktartigen Natur des dolus ein anderes gelten müsse,
als das Gesetz, was sich uns später bei den Obligationen aus
Delikten ergeben wird.
166
seine Aufrechterhaltung geben können. Aber die derselben
entgegenstehende innere Willensaktion gibt ihm ein
solches gegen die Handlung als eine ungewollte. Wenn
man daher ein späteres, das Vorhandensein eines solchen
error in substantia etc. einschränkendes Gesetz auf einen
früheren Vertrag anwenden wollte, so würde hierdurch die
Rückwirkung eintreten, daß ein vom Individuum Nicht-
gewolltes ihm nachträglich durch das spätere Gesetz
in ein Gewolltes verkehrt und befestigt würde.
b) Analoger Natur sind die Rechte, welche scheinbar
aus den Handlungen dritter Personen, und somit aus
dem Gesetz, dem Individuum entspringen, ihm in der
Tat aber gleichfalls durch die Wirkung seiner eigenen
Willensfreiheit vermittelt sind.
Hierher gehört zunächst die vom Gesetz gegebene
Klage, Einrede oder Restitution wegen Zwanges1).
*) Savigny hat im dritten Bande seines Systemes (und Bei-
lage VIII daselbst) mit großem Scharfsinn der Lehre vom
Zwang, Betrug und Irrtum eine Gestalt gegeben, welche durch
ihn zur herrschenden Ansicht geworden ist. Indem er richtig
nachwies, daß der faktische Irrtum im Beweggrund nicht überall,
sondern nur in bestimmten Fällen helfe, kam er zu dem irrigen
Resultate, nur m der unabsichtlichen Willenserklärung einen
mangelnden Willen zu erblicken, aber selbst in jenen Fällen, wo
der Irrtum hilft, dies nicht als einen Ausfluß mangelnden
Willens, sondern als eine äußere Billigkeit anzusehen,
und ferner ebenso Zwang und Betrug nicht als das Dasein
des freien Willens aufhebend, sondern die dagegen ge-
gebenen Rechtsmittel als einen bloß positiven Rechts-
schutz gegen Unsittlichkeit aufzufassen. Auch ist diese
seine Lehre in allen ihren Teilen allgemein angenommen wor-
den, z. B. von Puchta, Vangerow, auch Böcking usw. Gleich-
wohl müssen wir uns gegen dieselbe mit Ausnahme des vorhin
als richtig bezeichneten Punktes — dessen innere Bewandtnis
sich später herausstellen wird — mit voller Bestimmtheit er-
167
Wird ein Individuum zu einem Akte gezwungen, so
scheint derselbe zunächst dennoch als eine Äußerung seines
Willens gelten zu können. Denn das Individuum konnte
sich dem Zwange widersetzen oder das Angedrohte er-
dulden. Der Zwang kann hiernach somit als ein bloßes
Motiv des Willens, nicht als seine Ausschließung, er-
scheinen (coactus volui)1).
heben und sie als eine solche bezeichnen, welche lediglich der
Verkennung des Willensbegriffes entflossen ist. In bezug auf
Zwang und Betrug würde sich die Ansicht Savignys schon durch
die kurze Bemerkung widerlegen lassen, daß Unsittlichkeit
im Gebiete des Willens gar nichts anderes heißt als: Auf-
hebung seiner Freiheit und eine andere Art von Unsitt-
lichkeit gegen den Willen gar nicht existiert. Die wahre Wider-
legung jedoch kann nur durch die organische und konstruktive
Darstellung gegeben werden, welche, von nichts als dem Wil-
lensbegriff beginnend, alle jene Rechtsinstitute mit ihren Aus-
nahmen und Einzelheiten als notwendige Folgen des Willens-
begriffes zu entwickeln und sie so in denselben aufzulösen
vermag. Nicht also in den Bemerkungen, in welchen wir hin
und wieder, obwohl so selten als möglich, auf Savigny aus-
drücklich kritisch Bezug nehmen werden, sondern vielmehr in
der nachfolgenden objektiven Darstellung erblicken wir seine
wahrhafte Widerlegung.
*) L. 21, § 5 quod metus (4, 2): Si metu coactus adii
hereditatem, puto me heredem effici, quia quamvis si liberum
esset, noluissem, tarnen coactus volui; sed per Praetorem resti-
tuendus sum, ut abstinendi mihi potestas tnbuitur. Es wird also
immerhin selbst bei dieser Auffassung Restitution gegen die
Handlung erteilt. — Gewiß aber kann nicht mit Savigny (III,
103) hierher bezogen werden die L. 22 de ritu nupt. (23, 2) :
Si patre cogente ducit uxorem, quam non duceret, si sui arbitrii
esset, contraxit tarnen matrimonium, quod inter invitos non con-
trahitur, maluisse hoc videtur. Der Grund muß aus dem Obigen
in Verbindung mit dem sub A Gesagten klar sein. Denn wenn
der Vater auch hierzu kein Recht hat (L. 21, ib.), so läßt es
doch die in der Familie herrschende Identität, verbunden mit
168
Bei der richtigen Erfassung des Begriffes des freien
Willens verhält es sich aber damit folgendermaßen.
Der Begriff des Willens ist:individuelleSelbst-
bestimmung. Diese Selbstbestimmung hat aber auf-
gehört, wenn ein zweites Individuum, in rechts-
widriger1) Weise in dieselbe eingreifend, das erste aus
einem sich selbst bestimmenden Selbst in ein durch frem-
den Willen bestimmtwerdendes verwandelt. —
Ist dagegen die Furcht nicht durch eine fremde Drohung
hervorgerufen, sondern aus dem eigenen Denken des han-
delnden Individuums hervorgegangen, so ist jetzt ersicht-
lich, warum sie keine die Willensfreiheit aufhebende und
somit auch keine den Vertrag entkräftende Wirkung haben
kann. Denn als durch die eigene Denkoperation
des Individuums gesetzt, erscheint sie als seine
eigene willkürliche Selbstbestimmung und
wird darum zum gleichgültigen Motiv derselben2). So-
dem auch hierbei dem Vater zustehenden Autorisationsrecht,
zu keinem solchen Gegensatz kommen, daß ein Bestimmtsein
eines fremden Selbst durch ein fremdes Selbst und also
ein Zwang vorläge.
*) Also nicht dadurch, daß ich mich an die eigene Ver-
nunft des Individuums, also doch nur an seine Selbstbestim-
mung wende, durch Belehrung, Überzeugung usw., und ebenso-
wenig durch eine unerhebliche oder unwahrscheinliche Drohung,
weil eine solche schon durch die bloße Vernunft des Indi-
viduums — und diese wird beim Zwange ja unberührt gelassen
— der die Selbstbestimmung aufhebenden Einwirkung entkleidet
wird.
2) Wenn also Savigny (III, 108), um zu beweisen, daß
der Zwang die Willensfreiheit nicht aufhebt, sagt: „Wenn die
Freiheit durch Furcht ausgeschlossen würde, so müßte es ganz
gleichgültig sein, ob diese Furcht durch das bloße Denken
des Fürchtenden allein, oder durch fremde Drohung entstanden
wäre, da in beiden Fällen der Seelenzustand des Fürchtenden
169
weit also ein Gesetz Rechtsmittel gegen die durch er-
littenen Zwang hervorgerufenen Akte an die Hand gibt1),
so weit beruhen dieselben allerdings auf der Auffassung
des Gesetzes vom Dasein der individuellen Willensfreiheit.
derselbe ist," so zeigt sich dieser Trugschluß als auf einer
gänzlichen Verkennung des formellen Willensbegriffes,
der nur der der individuellen Selbstbestimmung ist, beruhend.
*) Die formelle Verschiedenheit der sehr mannigfaltigen da-
gegen gegebenen Rechtsmittel zu untersuchen, hegt natürlich
außer dem Kreis der hier möglichen Betrachtung. Nur so viel
mag hier im allgemeinen sowohl für Zwang als Betrug
bemerkt werden, daß die Verschiedenheit dieser Rechtsmittel
niemals ihren Grundcharakter aufhebt, Ausflüsse der gesetz-
lichen Anschauung mangelnder Willensfreiheit, i. e. man-
gelnder Selbstbestimmung, im erzwungenen oder durch
Betrug entstandenen Vertrag zu sein. Wenn der durch wesent-
lichen Irrtum (mangelnden Willen) entstandene Vertrag ipso
jure nichtig ist, der durch Zwang und Betrug hervorgerufene
aber nicht, hier vielmehr zur Umstoßung desselben eine be-
sondere Klage auf Reszission angestellt werden muß, so kann
das auf den ersten Blick dafür zu sprechen und daher zu kommen
scheinen, daß das römische Recht keine mangelnde Willens-
freiheit in dem durch Zwang oder Betrug hervorgerufenen Ver-
trag erblickt, hier vielmehr durch eine besondere positive Hand-
lung jene freiwillige Vertragshandlung erst beseitigt werden
muß. Dieser täuschende Schein muß aber bei näherer Betrach-
tung verschwinden. Denn da ich dem durch Betrug oder Zwang
entstandenen Vertrag, wo dies für meinen praktischen Zweck
hinreicht, auch mit der bloßen exceptio doli etc. begegnen kann,
so ist hierin bewiesen, daß ich ihn, auch ohne ihn durch Um-
stoßung äußerlich zu beseitigen, als einen für mich nicht
vorhandenen behandeln kann. Der wirkliche Grund, wes-
halb bei mangelndem Konsens der Vertrag schlechthin nichtig
ist, bei Zwang und Betrug aber nicht, und hier seine Umstoßung
erst durch die Reszissionsklage erfolgt, ist vielmehr ein gerade
dem Begriffe von der Willensfreiheit entflossener und zwar
folgender: bei mangelndem Konsens liegt ein gegenseitiges
170
Es liegt somit bei einer nach den gesetzlichen Requi-
siten zur Zeit der Handlung erzwungenen Willensäußerung
kein sich selbstbestimmender und somit ein unfreier, kein
wahrhafter Wille vor. Wenn dies der theoretische Aus-
druck der Sache ist, so kann sie praktisch so ausgedrückt
werden : Der Gezwungene hat nicht die Handlung begehen,
sondern sich nur durch den Schein derselben der an-
gedrohten Gefahr entziehen wollen, auf die ihn restituieren-
den Gesetze rechnend (. . . timore coactus fallens adierit
Mißverstehen und daher von beiden Seiten kein Wille vor.
Dieser Vertrag muß daher plane nichtig sein. Bei dem durch
Zwang oder Betrug entstandenen Vertrag dagegen liegt seitens
des Betrügers usw. eine überall durch seine eigene Selbst-
bestimmung gesetzte Handlung vor. Für ihn muß dieselbe
daher als Dasein seiner Willensfreiheit schlechthin verbindlich
bleiben, wenn der Betrogene durch geänderte Umstände hieran
Interesse hat. Und nur diesem kann es, da nur seine Selbst-
bestimmung aufgehoben worden ist, zustehen, den so entstan-
denen Vertrag als nicht vorhanden anzusehen (exceptio) oder
auch äußerlich durch Reszissionsklage umzustoßen. Wird also
der Begriff der Willensfreiheit bestimmt, als der der indi-
viduellen Selbstbestimmung, gefaßt, so erfordert er ge-
rade diese verschiedene Behandlung des Falles. — Wohl aber
liegt darin, daß der Betrogene oder Gezwungene nicht zu einer
Klage auf Schadloshaltung gegen die unsittliche
Handlung des anderen genötigt ist (actio doli etc.), diese
vielmehr nur subsidiarisch hat, und vor allem mit der ge-
wöhnlichen Kontraktsklage auf Umstoßung des
ganzen Geschäftes klagen kann (L. 11, § 5, de act. eml.
vent. ; L. 5, 8, 10 C. de resc. vend. ; L. 10 C- de distr.
pign. ; L. 23 loc cond. etc.), ein sehr starker Beweis dafür,
daß hier nicht von einer durch positive Gesetze eingeführten
Abwehr eines aus der positiven unsittlichen Handlung eines
Dritten entspringenden Schadens, sondern von einer durch ihre
eigene Willenlosigkeit vermittelten Unwirksamkeit der eige-
nen Handlung des Individuums die Rede ist.
171
hereditatem) x). Die Anwendung späterer die Requisite
des Zwanges erschwerender Gesetze würde daher wie bei
B. a. ein vom Individuum Ungewolltes und durch seine
freie Selbstbestimmung Widerrufliches in ein Gewolltes
befestigt werden.
c) Analog verhält es sich mit den wegen dolus ge-
gebenen Rechtsmitteln, sei es, daß diese in Klagen,
Einrede oder Restitution bestehen.
Der Betrug besteht darin, daß in dem handelnden Indi-
viduum von einem anderen absichtlich ein Irrtum in bezug
auf eine seinen Willen bestimmende Tatsache hervorge-
bracht wird. Zunächst kann wiederum die so erregte falsche
Vorstellung als ein bloßes Motiv des Willens und als
somit das Dasein eines freien Willens selbst nicht an-
tastend erscheinen.
Und dies würde im allgemeinen wirklich der Fall sein,
wenn die falsche Vorstellung nicht durch die andere Person
erregt worden ist, wenn also Irrtum, nicht Betrug, vor-
Hegt2).
Wo aber durch ein anderes Subjekt ein falsches Be-
wußtsein in dem Individuum herbeigeführt wurde, da ist
es von jenem an der Wurzel seines Willens, dem Wis-
sen, gefaßt (s. oben S. 121 fg.) und aus einem Sich-
selbstbestimmenden in ein von dem anderen Sub-
jekte unfrei Bestimmtseiendes herabgesetzt, und
diesem gegenüber also von einer Willensfreiheit des
Handelnden nicht mehr die Rede3).
x) L. 6, § 7, de adquir. vel omitt. her. (29, 2).
2) Parallel wie oben beim Verhältnis der bloßen Furcht
zum Zwang.
3) Wohl aber leitet sich ein Unterschied zwischen Betrug
und Zwang sofort aus der obigen Begriffsbestimmung ab. Beim
Betrüge ist die eigene Selbstbestimmung dadurch aufgehoben
172
Alle wegen dolus gegebenen Rechtsmittel, auch die Re-
stitutionen, können daher aus demselben Grunde wie bei
a und b lediglich nach den zur Zeit der durch den dolus
hervorgerufenen Handlung geltenden Gesetzen beurteilt
worden, daß nicht der Wille unmittelbar, sondern das denselben
bestimmende Wissen — und erst hierdurch der Wille
selbst — durch die falsche Vorspiegelung von dem fremden
Subjekt zu einem durch seine Willkür bestimmten herabgesetzt
worden ist. Indem sich die Einwirkung hier also nicht un-
mittelbar auf den Willen wandte, kann es erscheinen in der
Freiheit des Individuums gestanden zu haben, durch einen bloßen
Akt seines Willens (sorgfältigere Untersuchung) den das Wis-
sen täuschenden falschen Schein zu beseitigen. Daß dies nicht
geschah, kann als die eigene Willkür des die Täuschung
seines Bewußtseins zulassenden Individuums erscheinen. Wird
daher die Anschauung der Willensfreiheit in konsequentester
Sprödigkeit schlechthin nur in das Dasein eigener Will-
kür gesetzt und dies so weit festgehalten, daß auch das Nicht-
wissen, sofern es nur auf eigener Willkür beruht, als ein
gültiges Dasein persönlicher Willkür und Selbst-
bestimmung erscheint — , so wird in bezug auf den durch
Betrug hervorgerufenen Vertrag ein Doppeltes eintreten müssen.
Er wird gültig und ungültig zugleich sein. Den am Betrüge
schuldlosen Kontrahenten gegenüber wird der Vertrag als gültig
erscheinen, weil ihnen gegenüber die individuelle Selbstbestim-
mung des Handelnden nicht aufgehoben war, in bezug auf
sie vielmehr der Vertrag durch des Handelnden eigene und
durch sie nicht hervorgerufene Willkür, sein Wissen irreleiten
zu lassen, gesetzt erscheint. In bezug auf den Betrüger aber
muß er ungültig sein, weil ihm gegenüber die Handlung nach
ihrer im Text entwickelten objektiven Natur zu betrachten ist
als eine durch die Bestimmung des fremden Selbst gesetzte
Bestimmtheit, nicht Selbstbestimmung des Individuums. D. h.
also: der Betrug wirkt nur in personam, nicht in rem. Man
kann dies in einer später klarer werdenden Analogie mit einer
nachfolgenden Erörterung auch so ausdrücken : Der bei dem
Betrug obwaltende Irrtum wird dem Betrüger gegenüber zu einem
173
werden. Wir sagen : zur Zeit der hervorgerufenen
Handlung, nicht : zur Zeit des verübten dolus. Denn
beim dolus ist sehr gut denkbar, daß er selbst und die
Handlung, die er zur Folge hat, zeitlich auseinander-
unverschuldeten, dem dritten schuldlosen Kontrahenten gegen-
über aber zu dem verhältnismäßig verschuldeten sich haben irre-
führen zu lassen. — Allein diese negative Selbstbestimmung
gewährt doch nur den Schein einer wirklichen Selbstbestim-
mung, oder richtiger, wie sich schon aus genauer Betrachtung des
Gesagten überall ergibt, diese Selbstbestimmung ist keine reale,
sondern nur eine relative. Nur im Vergleich seines Verhält-
nisses zum Betrüger selbst mit seinem Verhältnis zum
schuldlosen Kontrahenten ist sie bei dem Betrogenen, diesem
schuldlosen Kontrahenten gegenüber, vorhanden. Denn bloß für
sich betrachtet, erscheint die Handlung nur als nicht selbst-
bestimmt und also nicht gewollt; nur in der relativen verglei-
chenden Inbezugsetzung ihrer auf die Person des Betrügers im
Verhältnis mit ihrer Beziehung auf die Person des schuldlosen
Kontrahenten und seiner gar nicht vorhandenen Einwirkung, also
nur durch diese Relativität und Unterscheidung, wird
die Handlung letzterem gegenüber zu einer relativ selbstbe-
stimmten. Fällt aber der Schwerpunkt dieser persönlichen Rela-
tivität, indem der Betrüger rechtlich nicht mehr in Betracht
gezogen werden kann, überhaupt fort, d. h. wird der Betrüger
zahlungsunfähig, so muß der für sich seiende objektive
Charakter der Handlung wieder zum Vorschein kommen, und
das in diesem Falle von dem Eingreifen der materiellen Rechts-
idee (aequitas) in den Rechtsformalismus (jus) gegebene Rechts-
mittel der Restitution muß dann, auch dem schuldlosen Kon-
trahenten gegenüber wirkend, auch beim dolus eine actio in rem
erzeugen (L. 3, § 1, de eo per quem factum etc., 2, 10).
Beim Zwang ist, wie auf der Hand liegt, für alle diese
Unterscheidungen gar kein Raum vorhanden. Denn die Dro-
hung, d. h. die angedrohte Gefahr, konnte das Individuum
nicht wie die Täuschung durch einen Willensakt abwehren.
Wo dies der Fall wäre, würde nur unerhebliche Drohung oder
Drohung einer ungegründeten Gefahr, also gar kein gesetz-
174
fallen, so daß in der Zwischenzeit ein Gesetzwechsel
stattgefunden haben kann. Daß es aber dann nur auf die
Gesetze zur Zeit der Handlung ankommen kann1), ergibt
licher Zwang vorliegen. Der Zwang also wirkt deshalb stets
in rem (L. 14, § 3, quod metus causa, 4, 2; L. 4, § 33.
de doli mali et met. exe. 44, 4 ; L. 3, 5 Cod. de his quae
vi metusve causa, 2, 20), nicht um seiner größeren Gefähr-
lichkeit willen, wie Savigny (S. 117) meint, die wegen der
größeren Häufigkeit und Leichtigkeit des Betruges sehr proble-
matisch erscheinen kann und womit sich auch die gerade der
actio doli zugeschriebene Entehrung schlecht verträgt, sondern
um des angegebenen dialektischen Unterschiedes willen, der
nur beim Betrug und nicht beim Zwang platzgreift.
*) Hieran wird niemand zweifeln wollen, und dennoch würde
dies schwerlich möglich sein können nach Savignys Theorie
vom dolus, nach welcher die gegen dolus und Zwang gegebenen
Rechtsmittel nicht dem Dasein der Willensfreiheit entfließen,
sondern nur ein positiver äußerer Rechtsschutz gegen Unsitt-
lichkeit sind. Wäre dies der Fall, so könnten die späteren Ge-
setze zur Zeit der durch dolus bewirkten Handlung, namentlich
wenn sie mehr oder wirksamere Mittel zur Aufhebung der
Handlung an die Hand geben, als die Gesetze zur Zeit des
verübten dolus, auch dem Verüber des dolus selbst gegenüber
nicht in Anwendung kommen, weil sie dann nach Art der Selbst-
bestimmungen aufzufassen wären und also nicht rückwirken
könnten, der Verüber des dolus auch behaupten könnte, daß
seiner, wenn auch dolosen Handlung die Wirksamkeit ver-
bleiben müßte, deren sie nach den Gesetzen zur Zeit derselben
fähig war.
Und umgekehrt könnten dann infolge der bisherigen Ansicht,
nach welcher die Obligationen aus Delikten stets nach den zur
Zeit des Deliktes geltenden Gesetzen zu beurteilen sind, die in
der Zwischenzeit zwischen dem dolus und der infolge desselben
eingetretenen Handlung erlassenen, den Schutz gegen dolus ver-
mindernden Gesetze gleichfalls nicht zur Anwendung kommen
wegen der deliktartigen Natur des dolus. — Können gleichwohl
nur die Gesetze zur Zeit der durch den dolus erwirkten Hand-
175
sich daraus, daß erst bei der Handlung durch die von der-
selben verschieden gedachte wahrhafte Willensaktion
des Betrogenen ihm die Rechtsmittel gegen sein äußeres
unfreies Tun erworben sind1).
Iung, nicht die Gesetze zur Zeit des dolus platzgreifen, so ist
das eine sehr deutliche praktische Bestätigung, daß die Un-
gültigkeit nicht Wirkung eines äußeren positiven Rechtsschutzes
gegen Unsittlichkeit, sondern durch die bei der Handlung nicht
vorhandene Willensfreiheit gesetzt ist.
x) Erst bei der obigen Analyse ist nun in einer wahrhaft
konsequenten und befriedigenden Weise ersichtlich, warum auch
die Restitutionen wegen Zwang und Betrug — und nicht sie
allein, sondern überhaupt alle Restitutionen — wahrhaft er-
worbene Rechte bilden; denn alle Restitutionen, sowohl auch
noch die wegen Irrtums, Minderjährigkeit und Abwesenheit, als
auch die antiquierten wegen capitis diminutio und wegen alienatio
judicii mutandi causa facta lösen sich, wie von der Restitution
wegen Irrtums aus der nachfolgenden Betrachtung desselben
sich ergibt, von den anderen aber hier zu zeigen nicht der Ort
ist — übrigens auch nunmehr von selbst auf der Hand liegt
— , in die Grundidee der individuellen Willensfrei-
heit auf, die weder durch die eigene, noch durch die fremde
ungewollte Handlung angetastet werden könne. Wird dies nicht
so aufgefaßt, so ist in der Tat kein wirklich durchgreifender
Grund vorhanden gegen die oft geäußerte Ansicht, daß die
Restitution bloße Gnadensache sei und es ein auf sie zu-
stehendes Recht nicht gebe; vgl. Burchardi, Lehre von der
Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, S. 7, 20, 40, 41 (Göt-
tingen 1831), und Meyer, Principes sur les questions transitoires,
S. 183 (Amsterdam 1813). Es ist daher nur konsequent,
wenn Meyer, weil das Recht auf Restitution nicht dem Kon-
trakt selbst inhärent sei, und ebenso Weber (Rückan-
wendung positiver Gesetze, 1811, S. 54) ein die Restitutionen
abschaffendes Gesetz auch auf die älteren Kontrakte einwirken
läßt. Wenn Savigny (VIII, 443 fg.) die Statthaftigkeit hiervon
leugnet und die Restitution für ein „wahres, erworbenes Recht"
erklärt, das von dem Recht auf eine Klage oder Einrede ,,nur
176
d) Seine wirkliche Aufklärung empfängt
dies Gebiet aber erst, wenn nach der Gültigkeit
des einfachen Irrtums, sowie danach gefragt wird,
wenig in der Form verschieden sei," so ist dies zwar richtig,
steht aber innerlich in einem nicht lösbaren Widerspruch
mit seiner Auffassung von Zwang, Betrug und Irrtum als bloß
äußerer, in der Willensfreiheit nicht wurzelnder, positiver Rechts-
wohltaten, ohne daß seine Ausführung von der Restitution als
eines objektiven Gnadenaktes (VII, 117) hierin etwas ändert.
Denn wie Savigny hier selbst sagt, soll auch bei Verbrechern
die „rechte Begnadigung" eine solche objektive sein, die nur
dann eintritt, „wo von einem höheren Standpunkt aus die strenge
Anwendung des Gesetzes als Unrecht erscheinen würde, mit
Rücksicht auf die besonderen Umstände des einzelnen Falles."
Und doch würde es wohl niemand einfallen, wenn heute die
Gnadenbefugnis abgeschafft würde, zu behaupten, daß in bezug
auf die schon begangenen (noch nicht begnadigten) Verbrechen
den Täteni ein Recht auf die Fortdauer jener Befugnis zu-
stände. Savignys richtiges juristisches Gefühl steht also hier
mit seiner Theorie im offenen Widerspruch und zeigt nur, daß
in derselben die wahre innerliche Wurzel der Restitutionen
wegen Zwang, Betrug und Irrtum usw. verkannt wird. — ■ Wenn
Meyer (a. a. O., S. 185) die sofortige Einwirkung eines die
Restitutionen überhaupt abschaffenden Gesetzes auch damit be-
gründet, daß dann ja gar keine Prozedurform für dieselben ge-
setzlich gegeben sei, so würde Savigny aus seiner Theorie über
che Rückwirkung heraus dies um so weniger widerlegen können,
als vielmehr nach derselben in diesem Falle ja die Aufhebung
eines ganzen Rechtsinstitutes vorläge und somit allerdings
nach ihm die aufhebenden Gesetze rückwirken müßten. Er
befindet sich also auch hierbei, durch sein richtigeres Gefühl,
wie im Widerspruch mit seiner Theorie vom Zwang, Betrug
und den Restitutionen, so auch im Widerspruch mit seiner Theorie
von der Rückwirkung.
Wenn Weber endlich sogar a. a. O. ein die Restitution ein-
führendes oder erweiterndes Gesetz auf frühere Verträge an-
wenden will, so erledigt sich dies schon durch die einfache Be-
12 Lassalle, Ges. Schriften. Band IX. 177
wie nach dem Vorigen dennoch Willensfreiheit bei dem-
selben vorhanden sein könne.
Wenn die Hervorbringung einer falschen Vo r s t e 1 -
1 u n g über die den Willen bestimmende Tatsache im Han-
delnden die Willensfreiheit ausschließt, warum schließt die
unabhängig von einem Dritten in ihm vorhandene falsche
Vorstellung seine Willensfreiheit nicht aus ? Es muß hier
zuvörderst an den oben (S. 169) gegebenen Begriff er-
innert werden : Willensfreiheit ist individuelle Selbst-
bestimmung. Jede falsche Vo r s t e 1 1 u n g also,
wenn sie die eigene Tätigkeit des Subjektes ist, er-
scheint somit als ein Akt seiner Freiheit, und zwar gerade
als die Gewähr seiner unbeschränkten willkürlichen Frei-
heit, nicht als die Aufhebung derselben.
Denn wir befinden uns hier ja in dem Gebiete der
formellen Freiheit oder der Privatwillkür, wo
auch der willkürliche Wille seine volle Gültigkeit hat.
Das Subjekt ist hier nicht gezwungen, das Wahre
zu wissen und zu wollen. Es hat auch das formell- will-
kürliche Recht sich um die Wahrheit n i c h t zu bekümmern,
die Objektivität nicht zu untersuchen und sein Bewußt-
sein mit ihr nicht in Übereinstimmung zu setzen. Diese
Sorglosigkeit ist also eine ihm zustehende Selbstbe-
stimmung des Individuums, und deshalb ist die falsche
Vorstellung, die es selbst sich bildet, weil eigene Tätig-
keit seines Geistes, auch als seine individuelle Selbstbe-
stimmung und somit als Dasein seines freien Willens auf-
zufassen. Hiermit ist also nachgewiesen, wie, wenn ein
anderes Subjekt rechtswidrig bestimmend in den Willen
des Individuums eingreift (Betrug und Zwang), von dem
trachtung, daß dann seitens des anderen Kontrahenten der Fall
vorläge, daß spätere Gesetze auf seine frühere individuelle
Handlung verändernd einwirken.
178
Dasein eines freien Willens des letzteren nicht mehr die
Rede sein kann, während die selbst produzierte falsche
Vorstellung vielmehr ein Dasein individueller Selbstbe-
stimmung ist und daher als solche den freien Willen noch
nicht aufhebt.
Vergleichen wir die bei einer Willenshandlung konkur-
rierende falsche Vorstellung mit dem oben (B. a.) be-
trachteten Falle des mangelnden Willens, so ist zunächst
der Unterschied folgender : dort ist der obwaltende Irr-
tum derart, daß der Inhalt des Wo 1 1 e n s selbst und der
Inhalt des Tuns auseinanderfallen und andere gegen-
einander sind, wonach also eine ungewollte äußere
Handlung vorliegt, die um des nicht vorhandenen Willens
halber kein gültiges Dasein hat, wie z. B. wenn ich eine
andere Person heiraten wollte und eine andere geheiratet
habe, oder wenn ich Wein kaufen wollte und Essig ge-
kauft habe 1).
Anders wenn ich einer Person etwas schenkte, urn sie
für irrigerweise vorausgesetzte Dienste, die sie mir in der
Tat nicht erwies, zu belohnen 2), oder wenn ich eine Sache
um ihres irrigerweise von mir angenommenen Wertes willen
kaufte und sie diesen Wert nicht hat ; denn hier wollte
ich eine bestimmte Person beschenken und eine bestimmte
Sache kaufen, und habe diese bestimmte Person be-
schenkt und diese bestimmte Sache gekauft. Wollen und
Tun waren hier also identisch, und nur der Beweggrund,
der zum Wollen antrieb, war ein irriger.
Hieraus hat man also die Regel entwickelt, nur auf
den Inhalt des Willens und ob er mit dem Tun identisch
sei, nicht auf den Beweggrund des Willens käme
es an.
1) L. 9. de contr. emt. (18, 1).
2) L. 65, § 2, de cond. indeb. (12, 6).
12* 179
Dies ist zwar, wie wir soeben sahen, von einer ge-
wissen Richtigkeit. Allein es darf hierbei nicht stehen
geblieben werden. Es muß vielmehr sofort weiter ge-
gangen und gesagt werden: die Beweggründe können zu
dem Inhalt des Willens in einem solchen Verhältnisse
stehen, daß sie ihn decken und mit ihm identisch
sind — in welchem Falle dann bei einem Irrtum in den
Beweggründen zu einer Handlung ein mangelnder Wille
zur Handlung selbst vorliegt — ; sie können aber auch
als ihn nicht deckend und mit ihm nicht identisch er-
scheinen. Mit anderen Worten: die Beweggründe — und
ihre die Entschließung entscheidende Einwirkung — ste-
hen in einem rein quantitativen Verhältnis
zum Willen selbst.
Hieraus entspringt erstens, daß, was ein Irrtum in den
Beweggründen ist, auch als ein Irrtum in dem Inhalt des
Willens — in der vollzogenen Handlung — sich dar-
stellen kann, sowie umgekehrt auch was als ein Irrtum
im Inhalt des Willens ausgedrückt werden kann, wieder
nur als ein bloßer Irrtum in den Beweggründen erscheint,
oder daß der unechte Irrtum (wie Savigny den error
in persona, in corpore und in substantia zusammenfaßt)
und der echte Irrtum, soweit ihn nämlich das Gesetz als
wirksam anerkennt, eine durchaus ineinan-
der übergehende Natur haben.
Dies zeigt sich z. B., um zuvörderst den echten Irrtum
zu betrachten, bei den vorausgesetzten Eigenschaften,
um derentwillen ich einen Gegenstand kaufe. Außer in sehr
wenigen Fällen ist im Römischen Recht der Irrtum in
den Eigenschaften wirkungslos, weil er als bloßer Irrtum
im Beweggrund gedacht wird. Kaufe ich aber eine Sklavin
statt eines Sklaven, so soll (auch ohne Verschulden des
Verkäufers) der Irrtum wirksam, und zwar ein echter,
180
wesentlicher Iwtum sein1). Der Grund soll, wie Savigny
mit Recht angibt, darin liegen, daß, weil Sklavinnen nur
zur häuslichen Arbeit, Sklaven aber zur Feldarbeit und
Fabriken benutzt werden konnten, hier nicht ein bloßer
Irrtum im Beweggrund, sondern durch die ganz verschie-
dene Benutzungsart ein Irrtum in der gekauften Sache
selbst vorliegen soll2). Es läßt sich in der Tat sagen,
daß ich hier eine ganz andere Nutzbarkeit gekauft
habe, als ich kaufen wollte. Allein einerseits stellt die
Benutzungsart doch wiederum nur einen Beweggrund des
Kaufens dar, und andererseits, wenn ich umgeschlagenen
Wein statt guten kaufe, so liegt kein wirksamer Irrtum
vor3), und doch ist der Unterschied in der Benutzungsart
und somit in der Sache hier, da umgeschlagener Wein
höchstens zum Kochen verbrauchbar oder gar nicht ver-
brauchbar sein wird, noch weit größer als bei Sklaven und
Sklavinnen.
Wenn Sejus mir ein Darlehen gibt, von dem ich glaube,
daß es von Gajus kommt, so entsteht keine Darlehens-
obligation (hoc enim nisi inter consentientes fieri non po-
test)4). Hierin wird vielmehr mit Recht ein Irrtum in
der Person, d. h. ein unechter Irrtum, ein mangelnder Wille
erblickt (siehe Savigny, III, 270). In der Tat wollte
ich mit dieser Person gar nicht kontrahieren. Das Geld
aber kann Sejus doch nur mit einer für den Irrtum im
Beweggrund gegebenen Klage, mit einer condictio ob
causam datorum wiederfordern (der Iuventiana condictio).
In der Tat hat Sejus nur einen Irrtum im Beweggrund be-
gangen und nur um dessentwillen kann er überhaupt zu-
!) L. 11, § 1, de contr. emt. (18, 1).
2) Savigny, a. a. O., III, 282.
3) L. 9. § 2, de contr. emt. (18, 1).
4) L. 32, de reb. cred. (12, 1).
181
rückfordern ; denn er kann das Geld, dessen er sich frei-
willig entäußert hat, nur zurückfordern, weil bei dieser
Entäußerung sein Beweggrund nicht der war, mir zu
schenken, sondern der, mir zu leihen.
• Die Fälle, in welchen Anfechtungsklagen wegen eines
irrigen Beweggrundes gegen ein Rechtsgeschäft gegeben
sind ■ — die ädilizischen Klagen und die Kondiktionen
— , sollen als rein positive Ausnahmen erscheinen1).
Die ädilizischen Edikte verfügen, daß der Käufer von
Sklaven und Vieh bei gewissen, nicht in die Augen fallen-
den Fehlern (vitium und morbus) auch gegen den ven-
ditor ignorans den Kauf aufheben könne, und dies wurde
später auf alle Arten von Sachen, bewegliche wie unbe-
wegliche, ausgedehnt. So kann also z. B. ein Sklave, dessen
Gewohnheit es ist, seinem Herrn zu entfliehen oder auch
nur umherzulaufen (fugitivus errove), oder ein krankes
Tier von dem Käufer zurückgegeben werden. Aber es liegt
auf der Hand, daß dieser Irrtum in den Beweggründen
des Kaufes vielmehr ein Irrtum in den Eigenschaften
des gekauften Gegenstandes, und zwar wiederum ein Irr-
tum in der gekauften Nutzbarkeit ist, so daß er also,
sollte er einmal aufhebende Wirkung haben, ebenso gut
wie der Irrtum beim Ankauf einer Sklavin statt eines
Sklaven als ein wesentlicher Irrtum (error in sub-
stantia) hätte behandelt werden können. Nicht also die
Grundidee der ädilizischen Edikte selbst, sondern nur
die zwei Arten von Sachen, auf welche sie ursprünglich
ihre Verfügung einschränken, und die besondere Form,
in der sie Abhilfe gewähren, bilden das Positive
daran2).
!) Savigny, a. a. O., III. 359.
2) Dies zeigt sich ja auch ganz deutlich an dem bereits an-
geführten Umstände, daß die Bestimmungen der ädilizischen
182
Wenn ich eine Summe zahle, weil ich sie schuldig zu
sein glaubte, wenn ich eine dos vorausgezahlt habe und die
Ehe dann nicht zustande kommt1), wenn ich wegen ab-
handen gekommener Sachen dem Berechtigten eine Ent-
Edikte durch diie römische Jurisprudenz später auf die zivil-
rechllichen Kontraktsklagen und auf alle Arten von Gegen-
ständen übertragen wurden. Und wenn Savigny (S. 359) in
der Unzulässigkeit der Kontraktsklage für die Fälle der ädi-
lizischen Klagen einen Beweis der bloßen Positivität derselben
sieht, so muß vielmehr erwidert werden, daß diese Unzulässig-
keit nicht einmal überall statthatte. Denn in der L. 13, § 1,
de actionibus emti et vend. (19, 1), heißt es ausdrücklich:
Item qui furem vendidit, aut fugitivum, si quidem sciens prae-
stare debet, quanti emtoris interfuit non decipi, si quidem igno-
rans fecit, id tantum ex emti actione praestiturum, quanto mi-
noris essem emturus, si id ita esse sciissem. Diese Stelle ge-
währt also ihrerseits einen starken Beweis für die von uns
entwickelte Ansicht; vgl. L. 11, § 6 und 7, de act. emt.
Und einen ebenso starken bietet die L. 19, locat. cond. (19, 2)
dar, wo Ulpian sagt (§ 1): ,,Si quis dolia vitiosa ignanis
locaverit, deinde vinum effluxerit, tenebitur in id, quod interest,
nee ignorantia ejus erit excusata; et ita Cassius scripsit. Aliter
atque si saltum paseuum locasti, in quo herba mala nascebatur,
hie enim si pecora vel demortua sunt vel etiam deteriora facta,
quod interest, praestabitur, si seiisti; si ignorasti, pensionem non
petes; et ita Senüo Labeoni, Sabino placuit." Am deutlichsten
wird hier Savigny von dem zweiten Falle widerlegt, für wel-
chen gerade sich Ulpian auf die Ansicht der alten Juristen
beruft. Bei der Unwissenheit des Vermieters soll hier, im
Gegensatz zu dem ersten Beispiel, kein Ersatz des eingetretenen
Schadens von ihm zu leisten sein. Der Fall wird also nicht ein-
mal als culpa behandelt. Allein den Mietzins soll er doch
nicht fordern können, und zwar soll ihm dieser durch bloße
exceptio in der gewöhnlichen Kontraktsklage wegen
Irrtums über die Brauchbarkeit des vermieteten Gegenstandes
trotz des Kontraktes verweigert werden.
l) L- 6, 7, 9, de condictione causa data c. non sec. (12, 4).
183
Schädigung zahle und die Sache dann wieder in seinen
Besitz gelangt1), so habe ich die condictio indebiti, die
condictio ob causam datorum, die condictio sine causa.
In der Tat ist in allen diesen Fällen das Verhältnis des
Motivs zu der Handlung ein solches, daß die Hand-
lung nur die einfache Ausführung des Motives ist
und durch den Irrtum in demselben die Art der Handlung
sich ändert. Ich wollte zahlen, ich wollte eine dos kon-
stituieren, ich wollte entschädigen — und ich habe ge-
schenkt. Nicht dies ist der Fall bei dem schon oben
angeführten Beispiel, wenn ich wegen vorausgesetzter
Dienste jemanden lohnen wollte und diese Dienste auf
einem Irrtum von mir beruhten. Denn belohnen heißt
rechtlich gleichfalls schenken, nur schenken aus einem
bestimmten Grunde, und indem ich geschenkt habe, ist die
rechtliche Art der Handlung dieselbe geblieben2).
Es geht also auch bei den Kondiktionen der Beweggrund
dazu über, die gesamte Natur der Handlung zu
erschöpfen und durch seinen Irrtum die geschehene
Handlung zu einer ungewollten zu machen3).
*) L. 2, de condict. sine causa (12, 7).
2) Irrtümlich würde man versuchen, eine Unterschiedenheit
der Art in dieser Handlung etwa durch folgende Fassung her-
zustellen . Ich habe belohnen wollen — und habe verschleudert.
Denn wie belohnen rechtlich nur heißt : schenken mit Grund,
so heißt verschleudern nur schenken ohne Grund. Durch diese
Ausdrucksweise wären also nur die Worte, nicht die Sache,
geändert.
3) Es ist hier der Ort, nachzuweisen, warum der Irrtum
beim Kaufen oder Mieten über den Wert (Preis) einer Sache
niemals den Kauf ungültig machen kann. Es wird sich dabei
zeigen, daß der Irrtum über den Wert auch nicht einmal
einen Irrtum im Beweggrund darstellt. Hiermit wird aber
folglich dargetan sein, daß man sich der Gleichgültigkeit, mit
184
Die Frage also, ob die Beweggründe den Inhalt des
Willens erschöpfen und, seine Entschließung bestimmend,
welcher alle Gesetzgebungen höchst vernünftigerweise den Irr-
tum über den Wert der Sache behandeln, durchaus nicht, wie
Savigny überall tut (vgl. z. B. III, 345, 355), als eines gegen
die Bedeutung des Irrtums im Beweggrund sprechenden Argu-
mentes bedienen kann.
Der Grund, weshalb die Gesetzgebungen den Irrtum im
Wert (Preis) als einflußlos ansehen und ansehen müssen —
obwohl der Wert zunächst doch auch eine Eigenschaft der
Sache und besonders nach heutigen Begriffen eine sehr wesent-
liche zu sein scheint — , beruht auf einem ökonomischen
Gegensatz und Gedankengesetz, und wahrscheinlich deshalb
haben ihn die Juristen nie zu begreifen vermocht, obwohl das
dunkle Gefühl der Völker ihm stets seine gehörige Wirksam-
keit eingeräumt hat. Wer kaufen will, hat den Tauschwert
(Geld) in seiner Hand, und dessen will er sich gerade ent-
äußern, um dafür einen bestimmten Nutzwert zu be-
kommen (eine reale Sache, Holz, Fleisch, Werkzeug usw.).
Wenn also der Käufer nur die bestimmte Art von Nutzwert
(Brauchbarkeit) bekommt, die er wollte, so ist der Gedanke
der Handlung erschöpft, der notwendige Beweggrund des Käu-
fers vollständig ausgeführt. Wie sich dieser reale Nutzwert
verhalten würde, wenn man ihn nicht benutzt, sondern wieder
einmal auf sein Gegenteil, den Tauschwert, beziehen
wollte (verkaufen), das ist eine ganz außerhalb dieser Ope-
ration liegende und ihr ganz fremde Frage, die selbst durch
die eigene Natur der Handlung ausgeschlossen erscheint;
denn der Käufer zeigte in dieser, er wolle eben nicht Tausch-
wert haben — diesen gab er vielmehr auf — , sondern Nutz-
wert, dessen Dasein durch sein Verhältnis zum Tauschwert
nicht im geringsten berührt wird. — Dieser Grundsatz kann hart
und drückend erscheinen, und darum vielleicht zu weichen an-
fangen in einer Zeit, wo durch die Gestaltung der ökonomischen
Zustände, durch die Entwicklung von Handels- und Kredit-
leben fast alle Dinge entweder wirklich immer und immer
wieder aufs neue durch ihre Geldform hindurchkreisen, oder
wo wenigstens die Fähigkeit derselben, sich mit dieser zu
185
sein Dasein selbst in sich enthalten, oder die
Frage nach dem Verhältnis der Beweggründe zum Wollen
vergleichen, zu ihrem hauptsächlichsten Dasein geworden
ist, zu einer Zeit also, wo die Wichtigkeit der realen Kör-
perlichkeit der Dinge und ihrer Benutzbarkeit fast zu einem
Schatten zu verblassen und dagegen der Schatten, die Figur,
welche ein Ding bei der Beziehung auf ein außerhalb seiner
liegendes Medium wirft — der Tauschwert — zu seinem
Körper zu werden anfängt; aber er bleibt darum nicht weniger
streng logisch und juristisch.
Daß dies nun der wirkliche Grund ist, beweist sich ferner
auch darin, daß, wenn ich einen Gegenstand kaufe, dessen Be-
stimmung es nicht ist, als Nutzwert, sondern gerade immer
als Tauschwert zu fungieren, allerdings unter Umständen
wegen mangelnden Tauschwertes ein für wesentlich erklärter
Irrtum vorliegt. So bei den edeln Metallen, wenn ich Blei
kaufe für Silber oder Bronze für Gold (L. 9, § 2; L. 10;
L. 14; L. 41, § 1, de contr. emt. 18, 1). Die edeln Metalle
haben eben die Bestimmung, daß sie nicht als reale Nutz-
werte, sondern stets nur als Träger von Tauschwert
in Betracht kommen. Dies ist aber nicht nur der Fall, wenn
ich Silber und Gold in Barren kaufe, welche Handlung keinen
anderen Zweck haben kann, als diese Metalle wieder gegen
andere Gegenstände umzusetzen oder für späteren Umsatz auf-
zuspeichern — wobei also stets ihr Tauschwert es ist, der
die Absicht und den Beweggrund meiner Handlung ausmacht
— , sondern ebenso wenn ich goldene und silberne Gerät-
schaften kaufe. Denn diese sind zur Pracht bestimmt,
und Pracht ist wieder nur : Schaustellung von müßig
liegendem Tauschwert, so daß ohne diesen auch der
Gebrauch zur Pracht nicht möglich ist. — Diese Bestim-
mung über die edeln Metalle stellt also gleichfalls nicht eine
Ausnahme, sondern eine konsequente Fortführung des Gedan-
kens dar.
Bin ich aber beim Ankauf einer Sache in ihrem Nutz-
wert durch einen heimlichen Fehler verkürzt, so ist der Kauf
allerdings ungültig, und dies besorgen eben die ädilizischen
Klagen, z. B. wenn das gekaufte Grundstück an schädlichen
186
ist. wie wir sahen, eine quantitative. Und weil sie
eine quantitative ist, so liegt hier, innerhalb dieser quan-
Ausdünstungen leidet (Ulpian, L. 49, de aed. ed. 21, 1),
oder eine vermietete Weide nur schlechte Kräuter hervorbringt
(Ulpian, L. 19 locat. cond. 19, 2, und L. 4 Cod. de aed.
ed.), oder wenn ein Ochse stößig ist (Paulus, L. 43 de
aed. ed.), oder wenn vermietete Fässer schadhaft sind, so
daß sie den Wein durchlassen (L. 19 loc. cond.), oder mit
einem Worte, wie Ulpian am richtigsten und allgemeinsten
den Gedanken der Sache heraushebt : „proinde si quid tale
fuerit vitii seu morbi quod usum ministen umque hominis im-
pediat, id dabit redhibitioni locum" (L. 1, § 8, de aed. ed.);
so daß hiernach Savigny sehr unrecht hat zu sagen (III, 359),
es seien die Klagegründe bei den ädilizischen Klagen „sehr
eigentümlich und willkürlich bestimmt." Sie entfließen viel-
mehr, wie die zuletzt angeführten kategorischen Worte Ul-
pians zeigen, durchaus dem zum Tauschwert im Gegensatz
stehenden Gedanken des Nutzwertes der Sache und er-
schöpfen denselben. Diesen Worten Ulpians ist auf das
richtigste und schärfste der Art. 1641 Code civil nachgebildet:
,,Le vendeur est tenu de la garantie ä raison des defauts
Caches de la chose vendue qui la rendent impropre ä l'usage
auquel on la destine, ou qui diminuent tellement cet usage
que l'acheteur ne l'aurait pas acquise ou n'en aurait donne
qu'un moindre prix s'il les avait connus." Es zeigt sich jetzt
also als ein großer und folgenreicher Irrtum Savignys, wenn
derselbe (III, 355) als Prinzip aufstellt, der durch Irrtum
veranlaßte Vertrag bleibe gleicherweise gültig, ,,der Irrtum möge
nun den Wert oder die Brauchbarkeit des Gegen-
standes betreffen" usw., und hierauf dann die ädilizischen
Klagen als eine bloße positive Ausnahme von dieser Regel
betrachtet. Denn es ist jetzt evident, erstens, daß man über-
haupt die Gleichgültigkeit des Irrtums im Preise gar nicht
einmal als Argument für die Gleichgültigkeit des Irrtums im
Beweggrund gebrauchen kann, weil der Irrtum im Wert nach-
gewiesenermaßen durchaus keinen Irrtum auch nur im Be-
weggrund darstellt ; zweitens, daß man überhaupt nicht so vom
Irrtum im Wert und in der Brauchbarkeit des Gegenstandes
187
titativen Grenze, der Punkt vor, wo das Positive der
verschiedenen Gesetzgebungen eingreifen und bestimmen
als von parallelen Dingen sprechen und sie identifizieren kann,
da sie vielmehr Dinge von schlechthin entgegengesetzter Natur
sind ; drittens, daß nicht das Prinzip gilt, wie Savigny will,
der Irrtum in der Brauchbarkeit sei gleichgültig und die ädi-
lizischen Klagen seien eine Ausnahme hiervon, sondern umge-
kehrt das Prinzip gilt: der Irrtum in der Brauchbar-
keit des Gegenstandes entkräftet den Vertrag und einer-
seits die hierherschlagenden Fälle des wesentlichen Irrtumes,
andererseits die Einführung und doktrinelle Ausbildung der
ädihzischen Klagen im römischen Recht das Dasein und
die Entwicklung dieses Prinzipes sind.
Damit diese Demonstration vollständig sei, müßte noch er-
wiesen werden, daß die Reszissionsklage bei verkauften Grund-
stücken wegen Verletzung im Preis ultra dimidium durchaus
nicht eine Ungültigkeit wegen Irrtums im Preise darstellt,
in welchem Falle sie unsere obige Ausführung widerlegen würde.
Dies Gesetz beruht aber vielmehr auf einem sittlich-ökono-
mischen Gedanken. Daß es nicht an einen Irrtum im Preise
denkt, geht klar daraus hervor, daß dann der Käufer wie Ver-
käufer des Grundstückes dies Recht haben müßten. Ja dies
müßte hier gerade nur für den Käufer gelten, da der Ver-
käufer seine Sache kennen muß. Gleichwohl hat gerade nur
der Verkäufer dies Recht; dasselbe beruht also gar nicht
auf einem unterstellten Irrtum im Wert, sondern darauf, daß
der Käufer die Not eines Verkäufers nicht unsittlich mißbrau-
chen soll. Es gehört nach seiner Grundanschauung zu den
Wuchergesetzen. In Not aber kann nur der Verkäufer sein,
weil dieser, wie groß auch sein Reichtum an Nutzwerten
sei, sich in Verlegenheit wegen mangelnder Zahl mittel, die
nur im allgemeinen Tauschwert (Geld) bestehen, be-
finden kann. Bei dem Käufer aber, da dieser gerade mit dem
allgemeinen Tauschwert bewaffnet erscheint und diesen viel-
mehr gegen eine bestimmte Nutzbarkeit, deren Erwerb immer
nur Sache der völlig freien Wahl ist, hingeben will, ist durch
seine Lage selbst die Möglichkeit der Not ausgeschlossen.
(Es muß auch noch bemerkt werden, daß, wenn seitens des
188
wird, wo und wo nicht das Quantitative der bloßen
Käufers der Tauschwert weder als Objekt noch Beweggrund
der Handlung erscheint, weil er sich des Tauschwertes gerade
entäußern will, um dafür Nutzwert zu erlangen, dies nicht
seitens des Verkäufers gilt. Dieser will vielmehr Nutzwert
in Tauschwert verwandeln. Als sein Beweggrund und Objekt
seines Willens erscheint also allerdings gerade dies, Tausch-
wert an sich zu bringen, und ist er hierin — im Preise —
wesentlich verkürzt, so erscheint die Rücksicht hierauf seiner-
seits keineswegs durch die logische Natur seiner Handlung
ausgeschlossen, da er nicht wie der Käufer in dem verletzt
ist, dessen er sich entäußern, sondern in dem, was er erwerben
wollte.) Wie oft daher auch Glossatoren und juristische Schrift-
steller, die ökonomische Natur der Sache mißkennend, das be-
rühmte Gesetz des Diocletian und Maximinian (L. 2 Cod. de
resc. vend. 4, 44) auch auf den Käufer auszudehnen versuchten,
so sind doch Gesetzgebungen durch ihren praktischen Takt
stets davor bewahrt worden, und es ist uns nur eine einzige
erinnerlich, welche jenes Mißverständnis des römischen Ge-
setzes so weit trieb, es auch auf den Käufer ausdehnen zu
wollen, das piemontesische Recht vor der französischen
Revolution nämlich, welches, nach mehrfachen Entscheidungen
des Turiner Senates, durch eine Verordnung von 1770 ausdrück-
lich auch dem Käufer dies Recht beilegte.
Ganz anders aber verhält sich dies im Allgemeinen Land-
recht. Denn indem hier (T. I, Tit. 11, § 58 — 69) gerade nur
dem Käufer das Anfechtungsrecht wegen laesio enormis ein-
geräumt wird, erscheint dieselbe hier konsequent aufgefaßt als
ausnahmsweise Ungültigkeit wegen Irrtums im Beweg-
gründe (wie dies in § 59 daselbst auch ausdrücklich aus-
gesprochen; es wird dieser Zug also noch der bald folgenden
vergleichenden Unterscheidung hinzuzufügen sein). Und wie un-
logisch und unjuristisch auch an und für sich eine solche Auf-
fassung erscheinen mag, so ist sie doch sehr begreiflich .in
einer Zeit, wo durch die Änderung der Kulturzustände der
Tauschwert einer Sache zu dem alle anderen Eigenschaften
absorbierenden Wesen derselben geworden ist, und, indem in
der kreisenden Zirkulation beständig alle Dinge immer aufs
189
Beweggründe in das Qualitative des Willens-
aktes überzugehen anfängt x).
neue durch die Form des Geldes hindurchgejagt werden,
auch ihr hauptsächlichster Nutzwert in ihrer Ve r -
tauschbar keit und also in ihrem Tauschwert oder Geld-
preis zu bestehen angefangen hat. Nur aus dieser veränderten
ökonomischen Lage der Dinge sind diese Bestimmungen des
Allgemeinen Landrechtes zu erklären.
x) Das innerste Verständnis dieses Satzes kann sich nur aus
der Lehre der spekulativen Logik über das Verhältnis der
Quantität zur Qualität ergeben. — So viel aber wird von
selbst klar sein, daß stets, wo in einem Rechtsgebiete quan-
titative Bestimmungen erforderlich werden, die Fixierung der-
selben positiv ist, ohne deshalb das Rechtsgebiet selbst zu
einem positiven zu machen. So haben alle Strafbestimmungen
im Strafgrad eine quantitative Natur, ohne daß es deshalb je-
mand einfallen wird, das Strafrecht für nur positives Recht zu
erklären. Auch wenn man, was allerdings richtig wäre, die
quantitative Bestimmung als eine Modifikation der Grundan-
schauung nachwiese, wäre hierdurch nichts geändert. Die Ehe
gilt nirgends als ein bloß positives Recht. Deswegen hat sie
doch im Recht der verschiedenen Völker die größten, eine Ent-
wicklung ihrer Grundanschauung darstellenden Modifikationen
empfangen. — Werden denn nun die verschiedenen quanti-
tativen Bestimmungen in unserem Gebiete mit einer bestimmten
geistigen Grundanschauung in Verbindung zu setzen sein, so
daß sie sich als die von dieser Grundanschauung gesetzten
Modifikationen erweisen? Allerdings, und diese wird folgende
sein: Je weiter, härter und ausgebreiteter eine Gesetzgebung
das Recht der Person auf Willkür auffaßt, desto ge-
ringere Kraft wird sie dem Irrtum im Beweggrund, desto
größere Gültigkeit also der irrigen Handlung einräumen.
(Die innere Wahrheit dieses scheinbar sehr paradox klingen-
den Satzes ergibt sich aus dem oben S. 169 fg. und Anm. 3
zu S: 172) entwickelten Begriff, und wird sich bei der Unter-
scheidung des faktischen und Rechtsirrtums bald noch deut-
licher herausstellen.) Dieser Satz — der sich schon an der
Geschichte des römischen Rechtes selbst nachweisen ließe —
190
Soweit aber die positiven Gesetzgebungen über dieses
quantitative Verhältnis Festsetzungen treffen und Grenz -
bestätigt sich nun auch im allgemeinen durch das Verhältnis
der neueren Gesetzgebungen zum römischen Recht. Denn hier-
aus entspringt es, daß die neueren Gesetzgebungen, wenn sie
auch nicht überall ganz konsequent zu Werke gehen, den Irrtum
weit milder behandeln, d. h. dem irrigen Beweggrund eine viel
weniger bedingte und eine größere Wirksamkeit zur Aufhebung
der Handlung einräumen als das römische Recht. Savigny (III,
469) bezieht sich zwar auf das Allgemeine Landrecht in dem
Sinne, daß es in T. I, Tit. 4, § 148 fg., seiner Ansicht ent-
sprechend jeden Irrtum im Beweggrunde — außer bei dem bloß
lukrativen Akt oder bei dem Hinzutreten von dolus — für
gleichgültig erklärt habe. Allein er läßt hierbei unberücksich-
tigt, daß das Allgemeine Landrecht (daselbst § 145) eine
Definition des Ausdruckes: Beweggrund, aufstellt, die also
lautet: „Wird bei einer Erklärung eine gewisse Begebenheit
oder Tatsache als eine solche, die schon geschehen ist,
oder noch geschehen soll, bloß vorausgesetzt, so ist sie
nur als ein Bewegungsgrund anzusehen" [diese falsa causa
hatte aber auch im römischen Recht keine Wirkung (§31 Inst.
de legib., 2, 20, L. 17. § 2, L. 72, § 6, de condit, 35, 1.
L. 1, § 8, de dote prael., 34, 4)], und soweit etwa durch
diese ganz allgemeine Ausschließung der tatsächlichen Bewe-
gungsgründe der Digestentitel de condictione causa data causa
non secuta aus dem Allgemeinen Landrecht ausgeschlossen er-
scheinen könnte, ist er doch wieder durch die weitere Fassung
der condictio indebiti (T. I, Tit. 16, § 166 fg.) in dasselbe
hineingebracht. Dagegen ist durch jene Definition die Möglich-
keit ausgeschlossen, die Eigenschaften eines Gegenstandes
als solchen die Gültigkeit des Rechtsgeschäftes nicht ausschlie-
ßenden Beweggrund anzusehen, während im römischen Recht,
wie Savigny selbst lehrt (III, 304), dies mit Ausnahme sehr
weniger beschränkter Fälle allerdings stattfand. Das Allge-
meine Landrecht erklärt vielmehr ausdrücklich (T. I, Tit. 4,
§ 81) : „Irrtum in solchen Eigenschaften der Person oder Sache,
welche dabei gewöhnlich vorausgesetzt werden, ent-
kräftet ebenfalls die Willenserklärung." Da es also bei einer
191
bestimmungen darüber angeben, wo das Quantitative des
Beweggrundes in das Qualitative des Willensaktes über-
solchen Untersuchung doch nicht auf die Worte, sondern auf
die Sache ankommt, und da bei Käufen und anderen Rechts-
geschäften der Beweggrund gerade in der Regel in der voraus-
gesetzten Eigenschaft des Gegenstandes besteht (ohne daß doch
durch das Nichtvorhandensein derselben der Gegenstand zu
einem Gegenstande anderer Gattung und Art wird, in wel-
chem Falle allein im römischen Recht ein error in corpore und
in substantia vorliegt; vgl. Savigny, S. 283), so muß vielmehr
gesagt werden, daß das Allgemeine Landrecht das Einwirken
irriger Beweggründe auf die Aufhebung der Handlung bedeutend
gegen das römische Recht erweitert habe. Ja sogar der Irrtum
in allen, auch den gewöhnlich nicht vorausgesetzten Eigen-
schaften einer Person oder Sache vereitelt die Willenserklärung,
wenn die Voraussetzung eine ausdrückliche war (Allgemeines
Landrecht, daselbst § 77) und also die den Willen bestimmende
Einwirkung des Motivs nur ganz feststeht. Ferner soll bei bloß
lukrativen Erklärungen die Willenserklärung nie kräftig sein,
, .sobald erhellet, daß der ausdrücklich angeführte irrige Be-
weggrund die einzige Ursache der Willenserklärung gewesen
sei" (daselbst § 150).
Das französische Recht ist gleichfalls und in noch höherem
Grade milder als das römische. Es erklärt für eine Ursache
der Ungültigkeit jeden Irrtum sur la substance und überläßt
die nähere Explikation dieses Begriffes gänzlich der Juris-
prudenz. Diese aber hat ihrerseits denselben dahin erweitert,
daß auch jeder Irrtum im Beweggrund dahinein fällt, wenn
ersichtlich ist, daß er das den Willen determinierende Motiv
gewesen ist; vgl. Duvergier, De la Vente, No. 144: ,,En
outre la nullite peut resulter de l'absence des qualites . . .
mais pour cela il faut que les circonstances ou les expressions
meines de l'acte demontrent que les parties ont considere ces
qualites comme motif determinant de la vente ; en d'autres
termes qu'elles n'auraient pas contractu, si elles avaient su
que ces qualites n'existaient pas." Pardessus, Cours de droit
coram., No. 148: ,,En un mot l'erreur sur les qualites ou
untres accessoires est repute substantielle et rend la conven-
192
gehe1), soweit sie mit andern Worten Mittel zur Ent-
kräftung einer Handlung wegen echten Irrtums (durch
tion nulle dans l'interet de celui qui la prenait en ccnsideration
lorsqu'il contractait." Und außerdem erklärt die französische
Jurisprudenz einstimmig, daß der Rechtsirrtum ebenso sehr
die Obligationen anulliere als der faktische; vgl. Duranton,
T. 10, Nr. 127; Merlin, Rep., v° Testament, Sect. 2, § 5 ;
Toullier, T. 6, Nr. 58; Delvincourt, II, 460; Vazeille, Suc-
cessions, Art. 887, No. 2.
x) In manchen Fällen setzen die neueren Gesetzgebungen
an die Stelle der positiven Bestimmung den oben entwickelten
Begriff selbst ; so z. B. das Allgemeine Landrecht in dem
bereits angeführten § 150 (T. I, Tit. 4), wo es die lukrative
Willenserklärung für ungültig in dem Falle erklärt, „sobald
erhellet, daß der ausdrücklich angeführte irrige Bewegungs-
grund die einzige Ursache der Willensäußerung selbst gewesen
sei." — In der Regel wird von den neueren Gesetzgebungen
diese Bestimmung als einschränkende Grenze für die
durch den Irrtum in der Person hervorgerufene Ungültigkeit
angeführt. So das Allgemeine Landrecht in § 76 daselbst;
„Ein Gleiches gilt von einem Irrtum in der Person desjenigen,
für welchen aus der Willenserklärung ein Recht entstehen soll,
sobald aus den Umständen erhellt, daß ohne diesen Irrtum
die Erklärung solchergestalt nicht erfolgt wäre." Und
der Code Napoleon, Art. 1110: „L'erreur n'est point une
cause de nullite'. lorsqu'elle ne tombe que sur la personne
avec laquelle on a l'intention de contracter ä moins que la
consideration de cette personne ne soit la cause principale de
la Convention." Anders verhielt es sich hierin im römischen
Recht ; da der Irrtum in der Person zu dem sub B. a. behan-
delten gehört, in welchem der Wille ein anderer als die ge-
schehene äußere Willenshandlung selbst ist, war hier, worin
man Savigny, S. 279 fg., beipflichten muß, jeder obligatorische
Vertrag bei Verwechslung des einen Kontrahenten für den
anderen nichtig, wenn derselbe auch gar keine Verletzung seines
Interesses durch die Personenverwechslung erlitt. — Hier ging
also das römische Recht in der dem Irrtum gegebenen auf-
hebenden Wirkung weiter als die modernen Gesetzgebungen.
13 Lmuallc. Ga. Sclriften. Band IX. 193
irrigen Beweggrund vermittelten Willensmangel), Betrug
und Zwang angeben, soweit wird man also sagen müssen,
daß — mögen diese Mittel nun in der Nichtigkeit ipso
jure, in der Klage oder Exzeption oder in der Restitu-
tion bestehen — dieselben in dem betreffenden Rechts-
system nicht auf äußerer Billigkeit, sondern auf der An-
schauung nicht vorhandenen Willensdaseins in der zu ent-
kräftenden Handlung beruhen1).
und dies scheint gegen das in der vorigen Anmerkung hierüber
Gesagte zu sprechen. Bei richtiger Auffassung aber bestätigt
es vielmehr nur die dort gegebene Grundanschauung. Es ist
nämlich ersichtlich, daß dieser Unterschied der modernen Rechte
gegen das römische daher kommt, daß das römische Recht
den Willen mehr sieht in dem spröden Rechte der Person auf
ihre formelle Willkür, die modernen Gesetzgebungen aber
ihn mehr erblicken in dem vernünftigen Inhalt seiner
Motive. — Es ist ferner wieder hierbei ersichtlich, wie un-
echter und echter Irrtum ineinander übergehen. Denn während
im römischen Recht Irrtum in der Person einfach als mangeln-
der Wille galt, wird derselbe im Allgemeinen Landrecht und
französischen Recht durch die angeführte Einschränkung zum
echten Irrtum und zu einem durch Irrtum in den Motiven ver-
mittelten Willensmangel.
1) Eine deutliche Bestätigung der obigen Entwicklung gibt
der Code Napoleon, indem er Irrtum, Zwang und Betrug unter
dem Abschnitt vom „Consentement" behandelt (Sect. I, chap. II,
tit. III) und dabei (Art. 1109) ausdrücklich erklärt: „// n'y
a point de consentement valable si le consentement n'a ete
donne que par erreur, ou s'il a ete extorque' par violence ou
surpris par dol." Es wird also auch in juristischer Hin-
sicht bei dem spekulativen Freiheitsbegriff schon sein Be-
wenden haben müssen, und nur weil Savigny sich den letzteren
nicht klar macht und nicht von ihm ausgeht, vielmehr aus-
drücklich meint (III, 102), daß derselbe hier nichts zu tun
habe, kam er notwendig zu jener irrtümlichen Auffassung dieser
Lehre. Und, wie beides stets Hand in Hand geht, kam er
194
Und kaum ist die positive Bestimmung in diesem quan-
titativen Gebiete getroffen und festgesetzt worden, wo der
irrige Beweggrund zum Willen wird, als der bisher stets
festgehaltene und entwickelte Begriff des Willens wieder
hervorbricht und den Unterschied seiner begrifflichen Na-
tur in die Art des Irrtums im Beweggrund hinein fort-
setzt. — Wir meinen den Unterschied des faktischen
und des Rechtsirrtums, oder besser, da auch mancher
Rechtsirrtum entschuldigt wird und mancher faktische nicht,
des unverschuldeten und verschuldeten Irr-
tums.
Um dies genau zu verstehen, ist es nötig, noch einmal
auf den Unterschied des einfach mangelnden Willens und
des erst durch Vermittelung des irrigen Beweggrundes
mangelnden Willens, also auf den Unterschied des un-
echten und echten Irrtums zurückzugehen und den Begriff
desselben noch schärfer als bisher festzustellen.
Willensfreiheit, sagten wir, ist (im Privatrecht) indivi-
duelle Selbstbestimmung. Beim unechten Irrtum ist die-
selbe überhaupt nicht vorhanden. Denn die geschehene
Handlung ist unterschieden von der gewollten Hand-
lung. Beide decken einander nicht. Es ist somit die äußer-
lich geschehene Handlung gar nicht durch die eigene
Selbstbestimmung des Individuums gesetzt. Da also keine
durch diese Abscheidung des philosophischen Willensbegriffes
vom Rechtsgebiete dazu, sich in so direkten Widerspruch mit
den juristischen Quellen versetzen und eine so große
Anzahl von Pandektenstellen der Unrichtigkeit beschuldigen
zu müssen, wie er III, 342, tut. Dieselben erweisen sich nach
der obigen Entwicklung jetzt von selbst als völlig richtig und
als in völliger Übereinstimmung mit dem, was von Savigny
als ihnen entgegenstehend angeführt wird, (nämlich die Gleich-
gültigkeit des unwesentlichen Irrtums und seine dennoch statt-
findende Einwirkung, sobald er durch dolus hervorgerufen ist).
13« 195
solche und somit keinerlei Wille vorhanden ist, so ist es
ganz gleichgültig, durch welches Warum das Nichtdasein
des Willens zur Handlung vermittelt ist. Es erhellt hier-
aus die Notwendigkeit, weshalb beim unechten Irr-
tum nirgends Raum zur Unterscheidung zwischen fakti-
schem und Rechtsirrtum vorliegen kann.
Anders beim Irrtum im Beweggrund. Hier stimmen die
vollbrachte Handlung und die Handlung, die das Indivi-
duum vollbringen wollte, überein. Es ist also Selbst-
bestimmung da. Die konkurrierende falsche Vorstellung
hat daher nur entkräftende Wirkung, wenn sie durch ein
anderes Individuum in das handelnde hineingesetzt und
dessen Selbstbestimmung somit aufgehoben worden ist
(dolus), ist dagegen gültig, wenn sie vielmehr als die
eigene Tätigkeit des Individuums erscheint (error con-
comitans). — Der Wille hat aber überhaupt seine Ver-
mittelung im Wissen (s. oben S. 122 fg.). Der Irrtum
im Beweggrund kann daher den gesamten Inhalt des Wil-
lens absorbieren, und obwohl die äußere Handlung,
die man vornahm, übereinstimmt mit der äußern Hand-
lung, die man vornehmen wollte, doch diese selbst zu einem
Nichtausdrucke und Gegenteil des wahrhaften Willens,
also zu einer ungewollten und der individuellen
Selbstbestimmung nicht entflossenen machen,
welche somit als reine Äußerlichkeit gegen das nur an
seine Selbstbestimmung gebundene Individuum nicht be-
stehen kann. Aber indem hier das Nichtgewollte der
geschehenen Handlung nicht besteht in der einfachen Ab-
wesenheit der Selbstbestimmung zu derselben, sondern diese
Abwesenheit selbst erst vermittelt wird durch die falsche
Vorstellung im Beweggrund, kann man — wenn man den
Begriff der individuellen Selbstbestimmung auf das
äußerste festhält — zu der Folgerung gelangen, daß diese
106
Ungültigkeit nur dann eintreten kann, wenn wenigstens
jene falsche Vorstellung im Motiv nicht durch die
eigene Tätigkeit der Selbstbestimmung des
Individuums (obwohl hier kein anderes Individuum mehr
einwirkt) gesetzt erscheint. Denn ist auch dies noch der
Fall, so ist nun die Handlung allerdings in allen ihren
Teilen der eigenen Selbstbestimmung des Sub-
jekts entflossen: 1. in bezug auf die äußerlich gesche-
hene Handlung, 2. in bezug auf die äußere Handlung,
die man vollbringen wollte, und 3. in bezug auf den
Irrtum im Beweggrund.
Als so in allen ihren drei Momenten durch die indivi-
duelle Selbstbestimmung gesetzt, wäre, bei konsequentester
Festhaltung dieses Begriffes, die irrtümliche Handlung
allerdings ein gültiges Dasein der Willensfreiheit.
Die falsche Vorstellung erscheint nur dann nicht als
durch die eigene Selbstbestimmung des Individuums ge-
setzt, wenn sie — obwohl hier kein fremdes Subjekt mehr
eingreift — einen faktischen Irrtum darstellt.
Das Wissen des Individuums hat einen doppelten
Gegenstand, nach welchem es sich unterscheiden kann :
sich selbst und das ihm Andere. Das Wissen
des Individuums ist daher ein Wissen von sich und ein
Wissen von dem ihm Andern, von der Außenwelt.
Die Außenwelt ist eine dem Individuum fremde und selb-
ständig gegenüberstehende Gegenständlichkeit. Ihr
Inhalt ist das Zufällige und seine Verwickelung, das bloß
Positive. Wenn daher das Individuum diese für sich selb-
ständige Gegenständlichkeit seinem Wissen nicht zu unter-
werfen vermag, wenn es im Tatsächlichen irrt, so
kann dies nicht als eine Selbstbestimmung des In-
dividuums erscheinen. Denn es kann nicht gesagt werden :
das Individuum kann und soll schlechthin auch das ihm
197
Andere, das Reich des Tatsächlichen durchdringen (quum
jus fimtum et posset esse et debeat, facti interpretatio
plerumque etiam prudentissimos fallat, sagt Neratius) 1).
Der Irrtum im Tatsächlichen erscheint also gleichsam als
ein Zwang der Außenwelt! Dies zeigt sich wieder
recht deutlich an der Grenze, wo der faktische — und
deshalb unschädliche — Irrtum anfängt, in den schädlichen
überzugehen. Dies ist dann der Fall, wenn das Tatsäch-
liche so offen, einfach und durchsichtig vorliegt, daß das
Individuum, wenn es nur im geringsten — wie sein Be-
griff erfordert — geistige Tätigkeit ist, es wahrnehmen
und wissen konnte2). Darum sagen Cäcilius und Ulpian,
auf diejenige Krankheit wenden sich die ädilizischen Edikte
nicht an, qui omnibus potuit apparere ut puta caecus homo
veniebat aut qui cicatricem evidentem et periculosam habe-
bat . . . ejus nomine non teneri Caecilius ait, und Ulpian
fügt billigend hinzu : ,,ad eos enim morbos vitiaque per-
tinere Edictum Aedilium probandum est, quae quis ignora-
vit vel ignorare potuit."3). Er konnte den Fehler oder
die Krankheit wissen, heißt : er konnte wissen, wenn er
wollte. Sein Nichtwissen wird also hier zum Dasein
seiner eigenenSelbstbestimmung, wird somit dem
Individuum imputabel und daher gültig und schädlich. Des-
halb sprechen also so viele Stellen aus, daß der faktische
1) L. 2 de juris et facti ignor. (22, 6).
2) Darum sagt Ulpian, es sei „nee supina ignorantia ferenda
nee scmpulosa inquisitio exigenda," L. 6 de jur. et ,fact. ign.,
und Paulus, indem er lehrt, der faktische Irrtum, der -auf
summa negligentia beruhe, sei allerdings schädlich, ruft aus :
,,Quid enim si omnes in civitate sciant quod ille solus ignorat?"
wenn er es also so gut wie alle anderen wissen konnte.
L. 9. § 2, eod. tit.
3) L. 14, § 10, de aedilic. edict. (21, 1).
198
Irrtum schade, wenn er durch crassa negligentia hervor-
gebracht sei1).
Entgegengesetzt dem Wissen des Individuums von der
Gegenständlichkeit und ihrem zufälligen und fremden In-
halt, erscheint das Wissen des Individuums von
sich. Das Wissen des Individuums von sich nicht so-
wohl in dem Sinne der äußeren tatsächlichen Zufälligkeit,
mit welcher das empirische Ich noch ohne sein Wissen
verwickelt sein kann, weil sie ihm eben eine äußere,
fremde ist, sondern in dem Sinne : Wissen des Individuums
von seiner Innerlichkeit2). Hier ist der Gegenstand
x) Z. B. noch die L. 55 de aedil. ed. (21, 1); L. 11, § 11,
de interr. (11, 1); L. 3 pr. ad. SC. Mac. (14, 6) etc.
2) Erst aus der obigen Entwicklung und Einteilung, in wel-
cher die Schädlichkeit des Rechtsirrtums überhaupt nur als
die Fortsetzung und Konsequenz des Wissens von
sich erscheint, ergibt sich nunmehr von selbst das wirkliche
Verständnis des römischen Ausdruckes : jus säum, und des
Grundes, warum die Unwissenheit über dasselbe in den römi-
schen Rechtsquellen immer als eine grundsätzlich schädliche
behandelt wird, obgleich, wie Savigny diese scheinbare Ano-
malie, ohne sie aber erklären zu können, mit Recht hervor-
hebt (III, 327, c), die Unwissenheit über das jus suum ,, ge-
rade gewöhnlich auf faktischen Irrtümern beruhen wird."
Denn die Unwissenheit über den eigenen persönlichen Rechts-
zustand, welche unter der Unwissenheit über das jus suum
verstanden wird, stellt eine Unwissenheit des Individuums über
seine eigene konstante Beschaffenheit dar. So heißt
es L. 2, § 7, de j. fisci (49, 14) :,,... ita demum non nocere
cuiquam se detulisse, si ea persona sit, quae ignorare propter
rusticitatem vel propter sexum femininum jus suum possit."
Und Pomponius bringt, unsere obige Entwicklung deutlich be-
stätigend, die Unwissenheit de jure suo, trotz ihrer meist fak-
tischen Beschaffenheit, in einen prinzipiellen Gegen-
satz zur faktischen Unwissenheit, die er als eine Ignoranz
de alterius causa et facto hinstellt (Plurimum interest, utrum
199
des Wissens nichts Fremdes und Zufälliges mehr. Er ist
sein eigenes Wesen, das jedes Individuum kennen kann und
soll. Das Recht ist aber nur die herausgesetzte eigene
Innerlichkeit und Verstandesnatur des Indi-
viduums, das Gesetz nur das objektiv gewordene Rechts-
bewußtsein der Volksindividuen.
quis de alterius causa et facto non sciret, an de jure suo
ignoret; L. 3 pr. de juris et facti ign. 22, 6). Die Ausnahme,
welche Paulus bespricht (daselbst L. 1, § 2), wenn jemand,
als Kind ausgesetzt, seine Eltern nicht kenne und nun glaube,
daß er ein Sklave sei, ist gar keine wirkliche Ausnahme. Denn
die Frage ex quibus natus sit, die ursprünglich überhaupt an
sich eine Frage nach einem factum alienum ist, ist hier durch
die Aussetzung dem Kinde auch als solches forterhal-
ten worden (und zwar wiederum durch das factum alienum
der Aussetzung).
Hieraus entspringt nun weiter die große Schwierigkeit, welche
die römischen Rechtsquellen in der Regel an den Tag legen,
über die eigenen Handlungen überhaupt, obgleich diese
doch nur ganz vereinzelter, zufälliger und verschwindender Natur
sein können, einen unschädlichen Irrtum zuzulassen, und das
Bestreben, das sie zeigen, ihn, wo er unschädlich sein soll,
ausdrücklich auf ein factum alienum zu reduzieren. So
Neratius, L. 5, § 1, pro suo (41, 10). Sed iid quod quis
quum suum esse existimaret, possederit, usucapiet, etiamsi falsa
fuerit ejus existimatio, quod tarnen ita interpretandum est, ut
probabilis error possidentis usucapioni non obstet, veluti si
ob id aliquid possideam, quod servum meura aut ejus, cujus
in locum hercditario jure successi, emisse id falso existimem,
quia in alieni facti ignorantia tolerabilis error est. Und Gajus,
L. 42 de r. j. (50, 17): Qui in alterius locum succedunt,
justam habent causam ignorantiae, an id quod peteretur debe-
retur. Fidejussores quoque non minus, quam heredes justam
ignorantiam possunt allegare. Und er beschränkt sogar diese
Unschädlichkeit beim Erben noch auf den Fall, si cum eo
agetur, non etiam si agat ; nam plane qui agit certus esse
debet, quum sit in potestate ejus quando velit experiri etc.
200
Im Wissen vom Rechte ist daher das Individuum
nicht auf einen zufälligen, sondern auf einen not-
wendigen Gegenstand, nicht auf ein ihm Fremdes,
sondern nur auf sein eigenes Wesen bezogen. Wer
also über das Recht irrt, irrt nicht über etwas Gegenständ-
liches, sondern über das eigene Wesen des Geistes,
worüber der Geist, weil es ihm nichts Fremdes ist.
nicht zu irren braucht. Sehr gut nennt daher Paulus den
Rechtsirrtum einen Irrtum in existimatione mentis und setzt
ihm den tatsächlichen Irrtum als einen Irrtum in re ent-
gegen1). Darum gilt die Anschauung, das Recht kann
das Individuum stets wissen, wenn es will 2), und wenn es
dasselbe nicht weiß, so erscheint dies Nichtwissen als
durch seine willkürliche Selbstbestimmung
gesetzt, und wird somit, soweit dies in der Sphäre des
von der Willkür beherrschten P ri va t re chts 3) ge-
schieht, zur gültigen selbstbestimmenden Willkür und
also zum schädlichen Irrtum.
*) L. 9, § 4 h. t. (22, 6) : „Qui ignoravit dominum esse
rei venditorem, plus in re est quam in existimatione mentis,
et ideo tametsi existimet, se non a domino emere, tarnen si a
domino ei tradatur, dominus efficitur."
2) Es ergibt sich aus der obigen Entwicklung, daß dies
also um so eher da gelten wird, wo das Recht ein wirklich
aus dem eigenen Volksleben hervorgegangenes Recht ist, und
weniger dort, wo es ein fremdes und anderswoher übernom-
menes ist.
3) Wir wiederholen diese schon früher hervorgehobene Hin-
weisung auf den Begriff des Privatrechtes absichtlich, weil,
wie sich zeigt, eben nur durch sein Walten die Gültig-
keit und Schädlichkeit des Rechtsirrtums vermittelt wird, und
in der Tat, durchaus übereinstimmend mit unserer Entwicklung,
da wo diese Willkür, welche der allgemeine Grundbegriff des
Privatrechtes ist, ihre Geltung verliert, d. h., da wo innerhalb
desselben aus dem öffentlichen Recht entflossene Gesetze
201
Aber eben um des entwickelten Begriffes willen müßte,
wenn seine Anwendung konsequent sein soll, der Rechts-
platzgreifen, jede Gültigkeit und mit ihr jede Schäd-
lichkeit der Rechtsunwissenheit sofort aufhört. Dies zeigt
sich daran, daß bei der Zahlung von Spielschulden und Wucher-
zinsen, deren Gültigkeit das Gesetz prohibiert, auch der Rechts-
irrtum schlechthin jede Schädlichkeit verliert. Mit Unrecht
würde man glauben, dies käme nur daher, weil diese Zahlungen,
selbst wenn sie mit vollem Bewußtsein von der rechtlichen Un-
verbindlichkeit dieser Schulden gemacht werden, zurückgefor-
dert werden können. Denn in der Tat machte man früher
einen Unterschied zwischen wissentlicher und unwissentlicher
Zahlung von wucherlichen Zinsen. Waren sie wissentlich,
gezahlt, so war (s. Paulus R. S. II, 14, § 2 und 4, und
Ulpian, L. 26 pr. de cond. indeb. 12, 6) die Zahlung nicht
eine ungültige und zurückfordernde, aber sie wurde
als auf das Kapital geschehen betrachtet (repeti quidem non
posse, sed sorti imputandum sagt Ulpian). Wurden also die
Zinsen vor dem Kapital bezahlt, so kam das praktisch frei-
lich auf dasselbe hinaus, indem sich nun das Kapital um so
viel verminderte. Wurden aber Zinsen und Kapital zugleich
zurückerstattet (wissentlich), so machte dies nun auch einen
praktischen Unterschied. Denn nach der früheren strengeren
Auffassung konnten jetzt die wucherlichen Zinsen nicht zu-
rückgefordert werden (vgl. Vangerow, Pandekten, Bd. I, § 76,
6. Aufl.). Selbst Ulpian, der sich einer milderen Ansicht zu-
neigt, drückt deutlich die Ungewißheit und die bloß billige
Natur derselben aus (Quid si simul solvent ? Poterit dici,
et tunc repetitionem locum habere), und erst Philippus hob
diese veteris juris varietas auf (L. 18, C. de usur.). — Waren
dagegen die Zinsen aus Unkenntnis der Wuchergesetze und
also aus einem Rechtsirrtum bezahlt (per errorem solutae),
so war die Zahlung eine ungültige, und sie konnten stets,
ob vor ob mit dem Kapital gezahlt, kondiktiert werden (vgl.
Paulus und Vangerow, a. a. O.). Es zeigt sich hierdurch,
daß es sich nicht so verhält, wie Savigny, III, S. 450 meint,
als hindere bei Wucher schulden der Rechtsirrtum die Kon-
diktion nur deshalb nicht, weil sogar das Bewußtsein des
202
irrtum da keine gültige und schädliche Wirkung haben.
wo das Recht, seine obige allgemeine, für alle Individuen
gewisse und mit dem Volksgeist identische Natur ver-
lierend, selbst wieder in Zufälligkeit ausläuft, d. h.
also bei kontroversen Rechtssätzen, wo ja die Entscheidung
über den Inhalt des Rechts aus der allgemeinen geistigen
Natur des Individuums in die Besonderheit der persönlichen
Ansicht hinunterfällt, und ebenso bei dem bloß partiku-
laren Lokalrecht, weil dieses ja nicht mit dem ganzen
Volksgeist selbst identisch ist und somit nicht als das
allgemeine Wesen des Individuums ausdrückend angesehen
werden kann. Und in der Tat ist anerkannt, daß in diesen
beiden Fällen der Rechtsirrtum keine schädliche Wirkung
haben soll 1).
Zahlenden von der Unverbindlichkeit der Schuld sie nicht hin-
dere, sondern daß vielmehr auch, wo dies Bewußtsein hin-
dert, die Rechtsunwissenheit zugute kommt. Und wie
ist dies möglich ? Dies erhellt aus der obigen Begriffsentwicklung
mit Evidenz und Notwendigkeit. Der Rechtsirrtum erscheint
nur als schädlich, weil er als gültig erscheint. Und er
erscheint nur als gültig, weil das Nichtwissen des Rechtes
als die eigene formell berechtigte Selbstbestimmung der in-
dividuellen Willkür und somit als ihre Äußerung er-
scheint. Dies kann somit nur gelten im eigentlichen Privat-
recht als dem Dasein dieser Willkür. Wo dagegen Bestim-
mungen aus dem öffentlichen Rechte eingreifen, d. h. wo die
willkürliche Selbstbestimmung des Individuums überhaupt ihre
Geltung zu verlieren anfängt, da muß auch seine Bestimmung
zum Nichtwissen des Rechtes als eine nicht mehr in seiner
Willkür stehende, also als eine ungültige erscheinen und
der Rechtsirrtum also unschädlich sein. Das Recht, nicht
zu wissen, gilt hier gar nicht, und erzeugt darum keine Gültig-
keit ! — Man sieht, welche festgeschlossene Gestalt bei der
obigen Begriffsentwicklung diese Lehre in allen ihren Teilen,
selbst in ihren Einzelheiten und Subtihtäten annimmt.
x) Vgl. Savigny, 111,337. Puchta, Gewohnheitsrecht, II, 21 7 fg.
203
Betrachtet aber das Gesetz bestimmte Klassen von In-
dividuen als auf einer solchen Stufe der geistigen Potenz
stehend, daß von ihnen nicht schlechthin gesagt werden
kann, sie konnten das Recht wissen, wenn sie wollten,
so erscheint bei ihnen das Nichtwissen auch nicht als eine
willkürliche Selbstbestimmung und der Rechtsirrtum ist
deshalb für Minderjährige, Frauen und rusticitas in ver-
schiedenen Abstufungen unschädlich.
Die Lehre von dem faktischen und dem Rechtsirrtum,
oder von der entschuldbaren und der nicht entschuldbaren
Unwissenheit hat sich uns also in eine Lehre von dem
Wissen des Individuums von sich und von anderem,
in eine Lehre von dem selbstverschuldeten,
d. h. selbstgesetzten und dem nicht selbstgesetzten
Irrtum aufgehoben und sich ebenso wie die Lehre vom
Zwang und Betrug, unechtem und echtem Irrtum, überall
mit der größesten Konsequenz und bis in alle ihre Aus-
nahmen hinein, als auf der Auffassung der individu-
ellen Selbstbestimmung, als dem wirklichen Be-
griffe der Willensfreiheit beruhend, erwiesen. Zugleich
ergibt sich aus dem Obigen, daß, wenn der den Inhalt
des Willens erschöpfende irrige Beweggrund, falls der
Irrtum ein verschuldeter ist, die Handlung nicht entkräftet,
sondern diese gültig bleibt, dies auf der strengen Anschau-
ung von dem willkürlichen Rechte der Person
beruht, wenn sie nur durchweg selbst als das Bestimmende
erscheint, auch das nicht zu wissen, was sie w i s s e n s o 1 1
und muß (das Recht), wonach dann die so entstandene
Handlung als ein gültiges Dasein persönlicker
Willkür angesprochen wird. Tritt an die Stelle dieser
spröden formellen Anschauung die andere, daß das Nicht-
wissen, wenn auch verschuldet, als dem Begriffe des
Geistes zuwider, nicht als eine gültige Bestimmung des-
204
selben anzusehen und nicht als sein Dasein, sondern nur
als sein Nichtdasein zu betrachten sei, so kann auch
beim irrigen Beweggrund nicht mehr zwischen verschul-
detem und nichtverschuldetem Irrtum unterschieden wer-
den, und die durch einen den ganzen Willen absor-
bierenden Irrtum im Beweggrund hervorgerufene Hand-
lung wird auch durch die Verschuldung des Irrtums zu
keinem gültigen Dasein des Willens, wie dies
in der Tat in neueren Gesetzgebungen der Fall ist1).
x) Sowie bereits gezeigt (s. die Anmerkung auf S. 192).
im französischen Recht, wo mit Ausnahme zweier Fälle, die,
um ihrer besonderen Natur willen, überhaupt kaum Ausnahmen
hiervon zu nennen sind ([Art. 1305 und 2053] des Code civil),
ganz allgemein jeder Unterschied zwischen faktischem und
Rechtsirrtum aufgegeben ist.
Eine mehr schwankende Stellung nimmt das Allgemeine Land-
recht ein, doch ist auch von ihm nicht zu verkennen, daß es
sich darin bedeutend vom römischen Recht unterscheidet und
sichtlich unter dem Einfluß der oben angegebenen abweichen-
den Anschauung des modernen Geistes steht. In § 12 der
Einleitung verfügt es, daß sich niemand mit der Unwissenheit
eines gehörig publizierten Gesetzes entschuldigen könne. Allein
dieses in dieser Allgemeinheit ganz richtige und gar keinem
Zweifel unterliegende Prinzip hat eben um dieser Allgemeinheit
willen auch gar nichts mit der oben erwähnten Anschauung zu
tun, über welche vielmehr erst die landrechtliche Lehre von
den Willenserklärungen usw. Aufschluß geben kann. Hier nun
läßt es zunächst bei der condictio indebiti (T. I, Tit. 16, § 166,
178, 118) im Prinzip auch den Rechtsirrtum zu, v/enn es auch
dem Irrenden den Beweis desselben auferlegt. Bei dem Irrtum
in den gewöhnlich vorausgesetzten Eigenschaften der
Person oder Sache, welcher die Willenserklärung entkräften
soll (s. oben S. 192), macht es diese Wirkung des Irrtums
davon abhängig, daß er nicht durch eigenes Versehen entstanden
sei, und neigt sich insoweit also der Anschauung des römi-
schen Rechtes zu (T. I, Tit. 4, § 82). Allein bei dem Irrtum
205
C. Der Quasikontrakt ; negotiorum gestio.
Das Gesetz kann einen normalen Willen der Per-
son voraussetzen. Rechte also, welche scheinbar
lediglich aus den Handlungen dritter Personen und so-
mit aus dem Gesetze entspringen, müssen, obwohl ohne
jede Handlung des Individuums, dennoch dann in rechtlicher
Hinsicht als seiner eigenen individuellen Wil-
lensaktion entflossen angesehen werden, wenn das
betreffende Rechtsinstitut den Charakter hat, auf einem
solchen vom Gesetz vorausgesetzten norma-
len Willen des Individuums zu beruhen und aus
ihm zu entspringen.
Die aus einem solchen Institut dem Individuum hervor-
gehenden Rechte sind dann der gesetzlichen Anschauung
nach durch die eigene vorausgesetzte Willens-
aktion des Individuums vermittelt, somit erworben,
und können daher, wenn sie so einmal entstanden sind,
durch spätere Gesetze nicht verändert werden.
in ausdrücklich vorausgesetzten Eigenschaften der
Person oder Sache soll stets die Willenserklärung ungültig
sein, auch wenn der Erklärende den Irrtum hätte vermeiden
können. § 77, 78 (und nur eine kulpose Verpflichtung zur
Schadloshaltung bei eingetretenem Schaden wird ganz richtig
eingeführt, weil in der Tat nur culpa, nicht Wille, vorliegt).
Indem nun (s. oben S. 192) in diesen Irrtum in ausdrück-
lich vorausgesetzten Eigenschaften nicht nur der römische
error in corpore und essentialis, sondern auch jeder bloße Irr-
tum im Beweggrunde hineinfällt, der auf solchen vielleicht
selbst ganz unwichtigen Eigenschaften beruht, läßt das All-
gemeine Landrecht hier also auch bei diesem den Rechtsirrtum
und verschuldeten Irrtum als einen unschädlichen, d. i. ungül-
tigen, zu. Es scheint also die Unschädlichkeit desselben über-
haupt nur mehr an die Bedingung zu binden, daß die Einwirkung
eines irrigen Motives ganz feststehe (ausdrücklich vor-
ausgesetzt sei).
206
Dies ist der Fall bei den Quasikontrakten, zunächst bei
der negotiorum gestio.
Daß diese ganz auf einem solchen, um seiner Norma-
lität halber vom Gesetz vorausgesetzten vernünftigen
Willen des Individuums beruht, muß von selbst
klar sein, und soll bloß, weil sich diese Auffassung bei
unseren Rechtslehrern nicht findet1), kurz nachgewiesen
werden.
Es steht dem nicht entgegen, daß die alten römischen
Juristen immer nur von der magna utilitas dieses Instituts
reden und es auch ausdrücklich als um seiner Nützlich-
keit willen eingeführt bezeichnen2). Dieses Nützlich-
keitsargument drückt vielmehr nur in Form äußerer
Tatsächlichkeit aus, was nach uns die Rechtsidee
des Instituts bildet. Das Gesetz kann hier eben nur des-
halb den Willen des Individuums voraussetzen, und setzt
ihn voraus, weil es eben normal ist, daß jedes Individuum
selbst das ihm Nützliche will.
Dieser vorausgesetzte Wille erweist sich aber
durch folgendes als der wahrhafte Gedanke des Instituts :
1. schon historisch, indem die römischen Juristen so vor-
1) Aber ebensowenig auch bei den Rechtsphilosophen. Wenn
z.B. Stahl (Philosophie des Rechtes, I, 410 fg., 3. Aufl.)
die Quasikontrakte und speziell die negotiorum gestio einfach
daraus erklärt, daß , .nämlich jenes Bedürfnis, durch Über-
einkunft sich Rückgabe oder Ersatz sichern zu können," eine
solche Forderung auch ohne Übereinkunft erwirke, — so ist
zu bemerken, daß, um das Gajanische utihtatis causa receptum
est abzuschreiben, man keine Rechtsphilosophie zu schreiben
braucht.
2) Z. B. Gajus. L. 5 pr. de obl. et act. (44, 7) - - „sed
utilitatis caiisa receptum est, invicem eos obligari," cf. Inst.,
III, 27.
207
zugsweise den Fall der Abwesenheit des dominus1)
als den Fall der negotiorum gestio hervorheben, oder ähn-
liche Lagen, in welchen also der dominus einen aus-
drücklichen Willen zu haben gehindert ist2), und
diesen Fall der Abwesenheit auch geradezu als den histo-
rischen Ursprung des Instituts bezeichnen3); 2. dadurch,
daß der vom Gesetz vorausgesetzte Wille dem vom Indivi-
duum ausgesprochenen, die Fiktion der Wirklich-
keit weicht und daher bei einem ausdrücklich er-
klärten Nicht wollen seitens des dominus 4) dem
x) Z.B. Ulpian, L. 1 de neg. gest. (III, 5): „Hoc edic-
tum necessarium est, quoniam magna utihtas absentium ver-
satur, ne indefensi" etc., Gajus, L. 2 ib. ,,Si quis absentis
negotia gesserit etc., Inst., III, 27, § 1 : Igitur quum quis
absentis negotia gesserit" etc.
a) S. das prätorische Edikt selbst (L. 3 ib.): Si quis negotia
alterius, sive quis negotia, quae cujusque cum is moritur, fu-
erint, gesserit etc. Der Sterbende wird in der Regel gehindert
sein, einen ausdrücklichen Willen über die negotia zu haben,
und nach dem Tode kann vor der aditio der Erbe in dieser
Lage sein. — Das Edikt hebt übrigens den Fall, quum is
moritur, nur ausdrücklich hervor, um die Ungewißheit des
Rechtssubjektes, dessen Geschäfte ich geführt habe, unschäd-
lich zu machen ; s. Ulpian, daselbst, § 6.
8) Gajus sagt das ausdrücklich L. 5 pr. de obl. et act.
(44, 7) : — ideo autem id ita reeeptam est, quia plerumque
homines eo animo peregre proficiseuntur quasi statim redituri,
nee ob id ulli curam negotiorum suorum mandant, deinde novis
causis intervenientibus ex necessitate diutius absunt, quorum
negotia deperire iniquum erat, und Inst., III, 27, § 1.
4) Dies ist bekanntlich die übereinstimmende Lehre von
Julian, Pomponius, Paulus und Ulpian L. 8, § 3 h. t. ; L. 40,
mandati (17, 1). (Si pro te praesente et vetante fidejusserim,
nee mandati actio nee negotiorum gestorum est; sed quidam
utilem putant dari oportere, quibus non consentio, seeundum
203
gestor auch für die nützlich verwendeten Aus-
lagen, trotz aller Nützlichkeit, die Aktion der nego-
tiorum gestio nicht zusteht1) — die Nützlichkeit erweist
sich also schon hiernach nicht als die eigentliche letzte
Rechtsidee des Instituts — ; 3. auch dadurch, daß in der
Regel die Aktion der negotiorum gestio nur dann gegen den
dominus zusteht, wenn es sich darum handelt, ihn vor
drohenden Schaden zu bewahren, in Notfällen usw.2),
nicht bei lukrativen Operationen, denn in der Tat muß bei
jedem vernünftigerweise die Absicht vorausgesetzt werden,
nicht in Schaden zu kommen und das zu bewahren, was er
hat, während die Absicht lukrativer Unternehmungen, ob-
gleich nicht weniger nützlich, keineswegs als der normale
Wille jedes Individuums vorausgesetzt werden kann3);
quod et Pomponio videtur), und Justinian hat diese Lehre durch
eine besondere Entscheidung (L. ult. C. 2, 20) festgestellt.
1) So unterscheidet sich also die negotiorum gestio, wo
man den Willen des Verpflichteten ausführt, wenn auch den
präsumierten, sehr deutlich z.B. von der actio funeraria,
wo man die Pflicht desselben ausführt, und wo es deshalb
auch auf sein ausdrückliches Ve rbot nicht ankommt.
L. 14, § 6 — 16, de relig. et sumt. funer. (11, 7).
2) Vgl. Vangerow, Pandekten, III, 484, 6. Aufl.
8) Soweit aber der dominus die entstandene Bereicherung
bewahren will, bleibt er allerdings ersatzpflichtig, denn er ak-
zeptiert in dem lucrum zugleich den für dasselbe notwendig
gewesenen Aufwand. Aber es ist hier nicht mehr die nego-
tiorum gestio, sondern die versio in rem, welche den Anspruch
gegen den dominus gewährt, L. 11, 43 de neg. gest. (3, 5)
und L. 5 pr. de in rem vers. (15, 3). Der große juristische
Unterschied zwischen beiden zeigt sich darin, daß bei der
negotiorum gestio den Zufall (casus) der dominus tragen muß,
bei der versio in rem aber der gestor. Dies ist aber nur die
äußerliche Darstellung des Gedankenunterschiedes, daß bei der
negotiorum gestio von vornherein aus dem Willen des
14 L«.alle. Ge.. Schriften. Band IX. 209
4. zeigt sich in ganz entscheidender Weise, wie nicht der
erwiesene Nutzen, sondern der eigene vorausgesetzte Wille
des dominus den Träger dieses Instituts bildet, dadurch,
daß, wenn auch der erwartete Nutzen gar nicht einge-
treten, sondern durch Unglücksfälle verhindert worden ist,
der dominus durch die Aktion der negotiorum gestio (con-
traria) für den Aufwand des gestor verhaftet bleibt1);
5. erklärt sich endlich auch nur von hier aus die Möglich-
keit einer Kontroverse, welche alte und neue römische Ju-
risten auf das lebhafteste geteilt hat, die nämlich schon
zwischen Scävola und Ulpian schwebende Streitfrage,
welchen Einfluß eine spätere Ratihabition des do-
minus auf die negotiorum gestio hat, ob sie diese Aktion,
wie Scävola will, bestehen läßt, oder, nach der Ansicht
der Gegner, in die actio mandati umwandelt2).
Fast man nämlich rein äußerlich die negotiorum gestio
dominus gehandelt worden ist, weshalb ihn selber der casus
treffen muß, während bei der versio in rem der Wille desselben
erst hinterher durch die Bewahrung des erlangten lucrum
eintritt, weshalb, da hier erst der wirklich erreichte Vorteil
von ihm akzeptiert wird, der casus auf die Seite des gestor
fällt. — Ebenso kann der gestor in Schaden geraten, wenn der
dominus den Vorteil nicht bewahren will. Hier wird also nicht
wie bei der zur Abwehr von Schaden eingetretenen negotiorum
gestio der stillschweigende Wille des Individuums in verbind-
licher Weise vorausgesetzt. Vgl. Allgemeines Landrecht, T. I,
Tit. 13, § 242: ,, Entschlägt sich der, dessen Geschäfte ohne
seinen Antrag besorgt wurden, des Vorteiles, so muß der Be-
sorger die Sache auf seine Kosten wieder in den vorigen Stand
setzen und den Eigentümer entschädigen."
J) L. 10, § 1; L. 12, § 2; L. 22; L. 31 pr.; L. 32 pr.;
L. 37, § 1 h. t. ; L. 17 pr. de in r. v. (15, 3) ; L. 22 Cod. h. t.
2) S. die. Literatur der Kontroverse bei Glück, V, 333 fg. ;
Thibaut, Versuche, II, Nr. 10, Vangerow, Pandekten, III, 486,
6. Aufl.
210
als eine Geschäftsführung ohne Willen des dominus
auf, so ist, da diese Aktion in der Tat nur gegeben ist,
wenn kein Auftrag des dominus vorliegt, und zumal bei
der Rückwirkung auf den Anfang der Handlung,
welche das römische Recht der Ratihabition überall zu-
schreibt, kaum zu begreifen, wie nach einer solchen die
negotiorum gestio dennoch als fortbestehend angesprochen
werden kann.
Bei der hier gegebenen Auffassung der negotiorum ge-
stio, als auf dem vom Gesetz vorausgesetzten W i 1 -
1 e n des Individuums beruhend, liegt erst die innere
dialektische Entstehung und Berechtigung dieser
Kontroverse vor. Denn ist ohnehin der Wille des dominus
bei der negotiorum gestio vorausgesetzt, warum soll gerade
durch die Bestätigung der Voraussetzung diese Ak-
tion verschwinden ? Dies ist das innere Gedankenmoment
bei Scävola1). Andererseits:
Wenn die negotiorum gestio auf dem Vorausgesetz-
t e n Willen beruht, so hat der ausdrücklich erklärte
Wille andere und resp. stärkere Folgen. Durch die Be-
stätigung der Voraussetzung tritt also der ausdrück-
liche Wille mit seinen anders qualifizierten Folgen, d. h.
die actio mandati ein. — In der Tat ist aber in dieser
Gedankendialektik zugleich schon die wahrhafte Auflösung
notwendig gegeben, wie sie Welcker auf anderem Wege,
durch Analyse der betreffenden Gesetzesstellen, heraus-
gestellt hat2): Für den dominus treten, da an die Stelle
1) Er hebt darum hervor, daß die Billigung die nego-
tiorum actio überhaupt nicht ausschlösse: „Ceterum si ubi pro-
bavi, non est negotiorum actio, quid fiet, si a debitore meo
exegerit, et probaverim, quemodmodum recipiam?" (L. 9 h. t.)
2) C Th. Welcker, Diss. jurid. inaug. Interpret, exhibens
leg. 9 de neg. gest. etc. (Gießen 1813), und Vangerow, a. a. O
14- 211
seines bloß vorausgesetzten und deshalb, wie sich
sofort zeigen wird, bedingten Willens der ausdrücklich
erklärte getreten ist, die stärkeren Folgen desselben ein;
er bleibt daher auch, wenn die Geschäftsführung eine
schlechte war, durch die actio mandati verpflichtet, wäh-
rend der von der negotiorum actio supponiertc Wille eben
um dieser Voraussetzung halber nur unter der
Bedingung nützlichster Geschäftsführung
vorausgesetzt werden kann. Seitens des gestor da-
gegen hat sich durch die eingetretene Ratihabition seine
rechtliche Voraussetzung nur bestätigt1), sich also
nichts an der Natur seiner Handlung geändert. Er bleibt
also trotz der Ratihabition nur an die Pflichten, die ihm
der vorausgesetzte Wille auferlegte, gebunden, d. h. er
ist nur mit der negotiorum actio anzugreifen.
Es ist nach dem zuletzt Gesagten fast überflüssig, noch
zu bemerken, daß die negotiorum gestio bei dieser Auf-
fassung darum durchaus nicht an und für sich in ein man-
datum tacitum übergeht. Auch bei diesem wird, insofern
die verschiedenen Gesetzgebungen ein solches mandatum
tacitum überhaupt zulassen, allerdings ein stillschweigender
Wille vorausgesetzt. Aber er wird hier bloß faktisch
vorausgesetzt, d. h. er wird vom Gesetz als ein wirklich
daseiender vorausgesetzt, während er bei der nego-
tiorum gestio vom Gesetz ausdrücklich ais ein voraus-
a) Wohl aber ist hier nun auch die Möglichkeit der
anderen Anschauung erklärt, die negotiorum gestio wegen der
vom gestor vorausgesetzten Billigung des dominus als ein auf
seiten des gestor vorausgesetztes Mandat zu betrachten und
demselben daher von vornherein ausdrücklich die Pflichten des
Mandates aufzuerlegen, wie dies der Code Napoleon tut,
Art. 1372 „II (le gerant) se soumet ä toutes les obligations
qui resulteraient d'un mandat exprö que lui aurait donne le
proprietaire."
212
gesetzter vorausgesetzt, und als solcher be-
handelt wird. Mit andern Worten: Soweit Gesetz-
gebungen die Annahme eines mandatum tacitum zulassen,
ist die Anschauung diese, daß die Person diese bestimmte
Handlung, wenn auch stillschweigend, wirklich gewollt,
resp. einer anderen Person die Befugnis zu dieser b e -
stimmten Handlung, wenn auch stillschweigend, über-
tragen hat. Beim mandatum tacitum bleibt daher der domi-
nus, ganz ebenso wie beim ausdrücklichen Mandat, an die
Handlung als seine bestimmte unbedingte Willensäußerung
gebunden, wenn dieselbe auch keine Nützlichkeit gehabt
hat. oder die Mandatsführung, die nur dolus und grobes
Versehen zu prästieren hat, auch nicht die zweckmäßigste
gewesen ist. Bei der negotiorum gestio dagegen wird der
Wille des dominus auch ausdrücklich vom Gesetz als
ein um seiner Normalität willen vorausgesetzter
behandelt; d. h. seine Unterstellung wird eben durch die
Bedingung vermittelt, daß es schlechthin normal
und vernünftig sei, so zu wollen. Es bleibt also die
Annahme des Willens an die Bedingung gebunden, daß
die Geschäftsführung zu einem notwendigen Zwecke
unternommen und in der bestmöglichen Weise1)
betrieben worden sei, wodurch nicht nur auch das leichteste
Versehen als diese Bedingung verletzend dem gestor zur
Last fällt, sondern sogar das nützliche Unternehmen,
wenn es einen wirklichen Nutzen herbeigeführt hat, weil
hier die Bedingung der Willensunterstellung erfüllt ist, für
Rechnung des dominus, und wenn es einen S c h a -
den herbeigeführt hat, für eigene Rechnung betrieben
l) Vgl. L. 20 C. de neg. gest. (2, 18). und besonders Inst..
III, 27, § 1 : ,,nec sufficit talem diligentiam adhibere qaalem
suis rebus adhibere soleret, si modo alius diligentior commodius
adtninistraturus esset negotia."
213
gilt1)» die Handlung also wegen der bedingten Na-
tur2) des vorausgesetzten Willens ein Doppelgcsicht hat,
welches niemals bei dem immerhin einen unbedingten
Willen darstellenden mandatum tacitum platzgreif cn kann 3).
Zugleich ist nun aber durch diese Entwickelung schon
gegeben, w o und warum die negotiorum gestio durch
ihre dialektische Gedankennatur von selbst in dies man-
datum tacitum übergehen muß. Ein vorausgesetzter
Wille des dominus kann nur da sein, wo der dominus ent-
weder sogar von der Ursache der Geschäftsführung, dem
drohenden Schaden usw., nichts wissen kann, oder doch
nichts weiß, also z. B. wenn er absens ist, oder wenn er
zwar anwesend ist, und somit von der Ursache der
Geschäftsführung wissen kann oder wirklich weiß und
nur in Unterschätzung oder Vernachlässigung derselben
nicht handelt, aber von der Geschäftsführung selbst
nichts weiß und also in bezug auf sie ignorans ist.
Deshalb wird so häufig in den römischen Gesetzen die
Forderung erwähnt, daß der dominus ein absens et igno-
rans, oder doch mindestens das letztere sei4)- War er
x) L. 11 de neg. gest. (3, 5).
2) Hierin gehört auch die aus derselben Bedingung entsprin-
gende Pflicht des gestor, das Unternehmen zu Ende zu führen,
die beim Mandat nicht platzgreift.
3) ]^s erscheint also nicht konsequent vom französischen
Gesetzbuch, die gestio im Art. 1372 (s. S. 212, Anm. 1)
dem mandat expres zu assimilieren, weshalb auch wieder der
Code Napoleon selbst hierbei nicht stehen bleiben kann, sondern
in den folgenden Artikeln (1373 und 1374) die Pflichten des
gestor wieder über die des Mandatars hinaus erschweren muß.
*) Z. B. Gajus, L. 2 (h. t.) : Si quis absentis negotia ges-
serit, licet ignoranüs etc. Pomponius, L. 11 (h. t.): Si negotia
absentis et ignoranüs geras. Papinianus, L. 48 (h. t.): Igno-
rante quoque sorore etc.
214
aber nicht ignorans in bezug auf die Geschäftsführung,
wußte er von ihr, ohne sie zu hindern, so kann hier nicht
mehr die Rede davon sein, seinen Willen zu der be-
stimmten Handlung bloß als einen wegen des allgemeinen
normalen Willens des Individuums, keinen Schaden zu lei-
den, nur vorausgesetzten zu supplieren. Hier ist
vielmehr einer jener Fälle, wo die Regel qui tacet con-
sentit wirkliche Geltung hat. Wer wissend und ohne
Einrede seine Geschäfte von einem Dritten führen läßt,
zeigt sich hierdurch einverstanden. Hier braucht also nicht
mehr die Voraussetzung seines Willens durch die Bedin-
gung der Notwendigkeit und Nützlichkeit des Geschäfts
und die höchste Sorgfalt der Geschäftsführung gerecht-
fertigt zu werden, wie dies dann notwendig ist, wenn sein
Wille als einer ihm unbekannten Handlung um der allge-
meinen vernünftigen Natur des Willens halber einwohnend
betrachtet werden soll, sondern indem hier sein Wille zu
der bestimmten ihm bekannten Handlung des gestor
in seinem Stillschweigen vorliegt, fallen hier jene Ver-
mittelungsbedingungen weg und die negotiorum gestio geht
hier von selbst in das Mandatum tacitum über. Mit Recht
sagt daher Ulpian1): ..Semper qui non prohibet pro se
intervenire, mandare creditur".
Es ist ersichtlich, daß es von der größten Wichtigkeit
war, die negotiorum gestio in diese ihre innere Natur eines
vom Gesetze vorausgesetzten und darum bedingten Willens
des dominus aufzulösen. Denn wäre dies nicht der Fall,
so würde zwar ein im Laufe einer negotiorum gestio
eintretendes neues Gesetz, welches die Pflichten des gestor
erschwert, dennoch nicht zur Anwendung kommen
können, weil seitens des gestor auch ganz äußerlich frei-
M L. 60 de reg. jur. (50, 17).
215
willige Handlungen vorliegen, die nicht rückwirkend ver-
ändert werden können. Wohl aber würde es von einem
im Laufe der gestio eintretenden neuen Gesetze, welches
die Pflichten des gestor erleichtert, seine Lage so-
mit nur verbessert, scheinen können, daß es demselben
sofort zugute kommen muß. Und in der Tat würde dies
(vergl. § 12) der Fall sein, wenn die Rechte des dominus
nur aus dem Gesetze, und nicht vielmehr, wie nach-
gewiesen, aus seinem eigenen, vom Gesetz vorausge-
setzten und deshalb bedingten Willen flössen,
wodurch die negotiorum gestio den Charakter eines zwi-
schen gestor und dominus geschlossenen konditio-
neilen Kontrakts erhält, woraus er st die Bezeich-
nung der „Quasikontrakte" ihr wahres Licht und
innere Berechtigung empfängt1), und wonach das Er-
worbensein der beiderseitigen Rechte sich, da sie durch
wirklichen und angenommenen individuellen Willen ver-
mittelt sind, mit Notwendigkeit ergibt.
Dieselbe Natur wie die negotiorum gestio hat auch die
condictio indebiti auf seiten des Empfängers. Das
Gesetz kann bei ihm den normalen Willen unterstellen,
für den eventuellen Fall, daß eine Schuld nicht vorhanden
sei, zurückzuzahlen. Die Unterstellung eines entgegen-
gesetzten eventuellen Willens würde einen dolus in
sich schließen2), der nicht präsumiert werden kann. Es
x) Die Institutionen bewältigen diese innere Berechtigung
also durchaus nicht, wenn sie in der äußerlichsten Weise de-
finieren ,,sed tarnen, quia non ex maleficio substantiam capiunt,
quasi ex contractu nasci videntur" (Inst., III, 27). S. über
den Quasikontrakt später beim Erbrecht (Bd. 2).
2) Denn das beim Empfänger vorhandene Bewußtsein
der Nichtschuld schließt sogar nach römischem Recht einen
Diebstahl in sich ein. L. 18 de cond. furtiva (13, 1) : „ . . . fur-
tum fit, cum quis indebitos numos sciens acceperit.
216
erscheint daher ganz konsequent und der vorstehenden
Natur der Sache entflossen, wenn der Code Napoleon.
Art. 1376, ausdrücklich erklärt: „Celui qui recoit par
erreur ou sciemment ce qui ne lui est pas du, s'oblige ä le
restituer ä celui de qui il l'a indüment recu."
D. Usukapion.
Rechte, welche scheinbar aus bloßen Ereignissen
entspringen, können sich, auch ohne durch das Familien-
recht vermittelt zu sein (s. sub A), in solche auflösen,
die, nach der Anschauung des Gesetzes, vielmehr der
eigenen Willensaktion des Individuums entflossen sind.
Dies ist der Fall bei der Usukapion (Ersitzung)
und den ihr analogen Verjährungsarten (longi temporis
praescriptio und nonusus bei Servituten).
Die Usukapion kann zunächst erscheinen als ein Recht,
das bloß durch den Ablauf eines Zeitraums ent-
steht ; oder als ein bloß positives zur Vermeidung
von Unsicherheit und Streitigkeiten vom Gesetz einge-
führtes Zweckmäßigkeitsinstitut. Dann würde das aus
ihr entspringende Recht als ein bloß vom Gesetz ge-
gebenes, auch nach bereits vollendeter Usukapion
durch ein dieses Institut aufhebendes oder ihre Folgen
modifizierendes neues Gesetz getroffen werden müssen.
Diese Folgerung tritt aber nicht ein, weil jene Voraus-
setzung, auf der sie beruht, eine irrige wäre.
Der durch die Usukapion vermittelte Erwerb entspringt
vielmehr aus dem Bewußtsein und der Tätigkeit
des Individuums. Ich vermeinige eine Sache dadurch, daß
ich sie mit meinem Wissen (bona fides) und Willen als
die m e i n i g e setze und einen bestimmten Zeitraum hin-
durch als solche behandele. Das Wissen ihrer
als der meinigen ist daher erforderlich, weil sonst der
217
Wille, sie als die m e i n i g e zu s e t z e n l), ausgeschlossen
oder wegen seines dolus unwirksam wäre. Es ist also der
animus domini, der bestimmte Wille des Individuums, eine
Sache als die seinige zu setzen und zu behandeln, welcher
sie ihm als die seinige erzeugt. Die Usukapion
hat also eine analoge Natur wie die Okkupation einer
herrenlosen Sache durch den individuellen Willen, nur,
daß bei der Usukapion der Erwerb nicht durch die bloße
Ergreifung geschehen kann, sondern das Individuum sie
eine bestimmte Zeit hindurch als die seinige gewollt und
behandelt haben muß, ohne daß in dieser Zeit der Eigen-
tümer seinen Willen an ihr gesetzt hat. Nur die quanti-
tative Bestimmung dieser Zeitdauer, welche der Wille
und die Tätigkeit des Individuums braucht, um wirksam
zu werden und die einem Dritten gehörende Sache für
sich zu erwerben, ist wahrhaft positiver Natur an der
Usukapion.
Ist daher die vom Gesetz gegebene Frist einmal abge-
laufen, so ist die Usukapion als ein durch die individuelle
Willensaktion vermittelter Erwerb ein wahrhaft erworbenes
Recht, welches daher durch kein späteres die Usukapion
modifizierendes Gesetz berührt werden darf.
Zugleich folgt gerade aus dem Gesagten von selbst, daß
die quantitativen Fristen, innerhalb deren die Usu-
kapion wirksam wird, als rein positive und nur vom
Gesetz gegebene Bestimmungen, eben deshalb während
ihres Laufes jedem Gesetzwechsel unterworfen bleiben
*) Es reicht deshalb nicht die Abwesenheit der mala fides
hin, sondern es ist das positive Wissen der Sache als der
meinigen notwendig, damit die Usukapion beginne, s. z. B. L. 1
C. de acqu. et ret. poss. (7, 32), per liberam personam igno-
ranli quoque possessionem adquiri, et postquam säentia inter-
venerit, usucapionis conditionem inclwari posse etc.
218
und durch ein Eintreten desselben sofort verlängert und
resp. verkürzt werden müssen. Hier wird keine indivi-
duelle Handlung ex post verändert, da die wirksame indi-
viduelle Handlung bei der Usukapion nur die eine ist,
welche erst mit ihrer Ausdehnung über den bestimmten
Zeitraum vollbracht ist und die einzelnen Tathandlungen
des Individuums bis dahin bloß eine faktisch vorbereitende,
keine juristisch oder begrifflich wirksame Natur haben.
E. Unterlassungen. Klagverjährung ; obligatio naturalis und
civilis. ■ — ■ Erleichterndes Gesetz ; Beweisförmlichkeiten
und Formen für das Dasein eines zivilen Willens.
Rechte, welche aus bloßen Unterlassungen ent-
stehen, sind durch individuelle Handlungen vermittelt und
haben somit die Natur erworbener Rechte, wenn diese
Unterlassungen ein verstecktes Handeln darstellen.
Dies ist der Fall, wenn Gesetze die Erhaltung von
Rechten an ihre Wahrnehmung innerhalb eines bestimmten
Zeitraums knüpfen (vgl. § 6). Das Nichthandeln inner-
halb desselben wird hier zum Handeln ; zur freiwilli-
gen Entäußerung des vorhanden gewesenen Rechts.
Dies tritt ein bei der Klagverjährung1).
Es ist dieser Gedanke, welcher Paulus zu dem Aus-
spruche bestimmt : ,,Qui non facit quod facere debet, vide-
tur facere adversus ea quia non facit" 2).
Wenn hiernach seitens des Gläubigers bei der Klag-
verjährung stillschweigend ein freiwilliges individuelles
x) Wegen dieser ihrer eine freiwillige Handlung darstellen-
den Natur muß es daher heißen : ,,agcre non volenti non carrit
praeseiptio."
2) L. 121 De R. J. (50, 17), cf. L. 28 pr. de V. S. (50,
16) : Eum quoque alienare dicitur qui non utendo amisit Ser-
vitutes.
219
Handeln vorliegt, so wird nicht weniger auf Seiten des
Verpflichteten ein solches nachweisbar sein. Denn wenn
man auch hierauf die Regeln von der Schenkung und dem
Verzicht anwenden will, nach welchen im allgemeinen
stets Akzeptation erforderlich ist, um den Verzicht bindend
zu machen1), so würde doch schon die allgemeine An-
nahme schwerlich eine erhebliche Schwierigkeit verursachen
können, daß, wo der Verzicht ein stillschweigen-
der ist, auch der Natur der Sache nach die Akzepta-
tion desselben nur eine still schweigende zu sein
braucht, ja, häufig nur sein kann und daher hinreichend
in dem Faktum der Nichtzahlung vorliegt. Hiermit würde
auch übereinstimmen, daß in den sehr wenigen Fällen, wo
Schenkungen durch bloße Unterlassungen zulässig sind2),
eine besondere Akzeptation nicht gefordert wird und häu-
fig selbst nicht denkbar erscheint.
In der Tat aber ist es zu einer gründlicheren Beseitigung
dieser Schwierigkeit erforderlich, den Umfang der Ent-
äußerung genauer zu bestimmen, welche in der Hand-
lung des Berechtigten vorliegt, wobei sich zugleich Licht
über eine andere vielbestrittene Frage ergeben wird. —
In dem Eintretenlassen der Klagverjährung liegt seitens
des Berechtigten nicht die notwendige Absicht, den
Schuldner zu bereichern, es liegt nicht die positive
Absicht notwendig darin, nicht bezahlt zu werden,
sondern nur dies liegt dann: es auf den freien Willen
des andern ankommen lassen zu wollen, ob er
werde zahlen wollen oder nicht. Hieraus folgt
also: es wird nur auf das Zwangsmittel zur Beitrei-
*) Vgl. von Meyerfeld, Die Lehre von den Schenkungen
(Marburg 1835), I, 208, und Fritz im Jur. Archiv, VIII.
Nr. 15.
2) Vgl. Savigny, System, Beil. IX zu Bd. 4.
220
bung der Forderung verzichtet, nicht auf diese selbst1),
oder, was hierdurch wieder notwendig gegeben ist, es wird
nur auf den zivilen Charakter der Obligation verzichtet,
die obligatio naturalis bleibt bestehen2).
Wer eine Schuld, die nur eine obligatio naturalis dar-
stellt, freiwillig bezahlt oder expromittiert, schenkt da-
durch nicht, weil er den andern dadurch nicht wirklich be-
reichert, sondern, obgleich er nicht durch Zwang zur
Zahlung angehalten werden konnte, ihm doch nur leistet,
was ihm ohnehin wirklich zustand3). „Der Umfang des
Vermögens ist dadurch nicht erweitert"4).
*) Ein Gegensatz, den man gewöhnlich, obgleich nicht ganz
angemessen, so ausdrückt: daß die actio, nicht das Recht,
zerstört wird.
2) Aus der obigen Entwicklung scheint uns ein entschei-
dendes Licht auf die sehr kontroverse Frage zu fallen, ob
die Klagverjährung eine obligatio naturalis übrig läßt oder
nicht (s. die Literatur bei Savigny, System, V, 373, Note),
eine Frage, die ohnehin von den meisten und angesehensten
Autoren im bejahenden Sinne entschieden wird. Näher hier
darauf einzugehen, ist nicht am Ort. Nur so viel ist zu be-
merken, daß das hier von der Klagverjährung Gesagte natür-
lich nur von den persönlichen Klagen gelten kann. Bei
den Klagen in rem liegt der Schwerpunkt in der von der
Klagverjährung ganz verschiedenen Usukapion, d. h. in der in-
dividuellen Tätigkeit, bei welcher sich (s. oben sub D.) der
individuelle Wille durch seine Tätigkeit die Sache als die
seinige erzeugt (erwirbt), ganz unabhängig von dem Eigen-
tümer, und daher actio und obligatio zugleich ausschließt. Die
auch bei der Usukapion seitens des früheren Eigentümers unter-
laufende Nichthandlung und Klagverjährung tritt hier ganz in
den Hintergrund und gibt nur die bloße Möglichkeit für den
Usukapienten ab, sich das Eigentum zu erzeugen.
3) L. 19, § 4 de don. (39, 5); L. 64 de cond. indeb.
(12, 6) naturale agnovit debitum."
4) Worte Savignys, IV, 53.
221
Dies wird daher, wenn durch die Klagverjährung die
obligatio naturalis nicht aufgehoben wird, jeder auch für
die Zahlung der verjährten Schuld gelten lassen müssen.
Bewirkt die Zahlung der bloßen obligatio naturalis keine
Bereicherung des Gläubigers, weil diese ohnehin im recht-
lichen Sinne zu seinem Vermögen gehört, so kann auch
die in einer Unterlassung stehende Handlung, durch welche
eine zivile Obligation zu einer bloß naturalen wird, keine
rechtliche Bereicherung des Schuldners bilden. Dieser
Rückschluß ist bereits von Savigny versucht worden1).
Derselbe gerät jedoch dabei wieder ins Schwanken. „Für
ganz entscheidend," sagt er2), „dürfte indessen dieser
Grund nicht gelten. Die naturalis obligatio hat ihren Halt,
abgesehen von zufälligen Zwangsmitteln, in der rechtlichen
Gesinnung des Schuldners, und darum hauptsächlich gilt
hier die freiwillige Zahlung oder Expromission nicht als
Schenkung, sondern als gewöhnliche Schuldenzahlung.
Wenn aber der Gläubiger die Klag Verjährung wissentlich
ablaufen läßt, welches nur eine Form des Erlasses
ist, so ist durch dessen Willen in dem Schuldner jener
Beweggrund (der freiwilligen Pflichterfüllung) aufge-
hoben."
Es muß aber bereits klar sein, auf welcher nicht hin-
reichend scharfen Unterscheidung dieser Einwurf, den
Savigny sich macht, beruht, und wie er mit der obigen
Begriffsbestimmung von selbst verschwindet. Es ist näm-
lich nicht wahr, daß die Klagverjährung eine „Form
des Erlasses" ist. Denn die Schuld selbst wird bei
x) System, IV, 583: ,,Da nun durch die Klagverjährung
lediglich eine civilis obligatio in eine naturalis verwandelt wird,
so scheint auch diese umgekehrte Veränderung nicht als Schen-
kung betrachtet werden zu dürfen."
-) Das. Note a.
222
ihr ni cht erlassen 1), sondern nur, indem auf die Zwangs-
mittel verzichtet wird, die Bezahlung derselben in den
rechtlichen Willen des Schuldners gestellt2).
Indem nun aber der rechtliche Wille auf die freiwillige
Pflichterfüllung gerichtet sein soll, fällt, weil eben nur an
diesen Willen appelliert, die Schuld selbst aber nicht
erlassen worden ist, der Beweggrund der freiwilligen
Pflichterfüllung durchaus nicht fort und die naturalis obli-
gatio bleibt bestehen. Oder, was der richtigere und den
-1) Dies beweist sich aufs strengste durch die juristische
Wirkung, welche der naturalis obligatio noch immer als ex-
ceptio zukommt, z. B. zum Behuf der Kompensation oder bei
dem Pfandrecht usw. Eine solche fortdauernde juristische Wirk-
samkeit der naturalis obligatio wäre ja aber schlechterdings un-
möglich, wenn durch die Reduzierung der civilis obligatio
auf die naturalis obligatio die Schuld selbst erlassen würde
[gleichviel ob diese Reduktion durch Klagverjährung oder durch
eine andere ebenso wirkende Ursache vor sich geht, wie z. B.
die Prozeßverjährung, von der ja ganz positiv feststeht,
daß sie — L. 8, § 1 ratam rem (46, 8) — ein „naturale de-
bitum," das kompensiert werden kann usw., zurückläßt]. Ja,
wer einmal, wie Savigny, der Ansicht ist, daß die Klagver-
jährung eine naturalis obligatio bestehen läßt, der müßte dann
ja, weil doch durch sie eben gar nichts anderes bewirkt
wird als die Reduktion der civilis auf die naturalis obligatio,
wenn diese dennoch einen Schulderlaß in sich schließen soll,
ebenso gut bei allen anderen freiwilligen Handlungen, durch
welche ich Anlaß zu einer diese Reduktion bewirkenden exceptio
(z.B. zur exceptio SC. Macedoniani) gebe, einen solchen Er-
1 a ß der Schuld annehmen.
2) Dies ist also der durchgreifende Gedankenunterschied zwi-
schen dem Eintretenlassen der Verjährung und zwischen der
Akzeptilation oder dem Paktum, welche eben den Erlaß
der Schuld selbst darstellen und deshalb durch ihre Ver-
tragsform auch" die besondere Akzeptation des Schuldners er-
fordern.
223
wahrhaften Grund enthaltende Ausdruck der Sache ist, es
ist wegen des Verzichts auf den Zwang noch nicht die
positive Absicht, den Schuldner zu bereichern, vor-
handen. Der Gläubiger hat sich nur der Zwangsmittel
entäußert, nicht der Forderung selbst. Diese frei-
willige, aber auf die bloßen Zwangsmittel beschränkte
Entäußerung des Gläubigers liegt sogar auch dann vor,
wenn derselbe aus bloßer Nachlässigkeit die Klagverjäh-
rung eintreten ließ. Denn wer sich um die Formen und
Bedingungen, welche ihm das jus civile zur gesicherten Er-
langung seiner Rechte vorschreibt, nicht bekümmert, ver-
zichtet allerdings freiwillig auf diese ihm durch das
positive Recht dargebotene Sicherheit und kann somit
um jedes zivile Mittel zur Durchführung seiner Ansprüche
kommen ; allein eine positive Absicht zu schenken ist auch
bei ihm nicht vorhanden1).
Wenn aber feststeht, daß die Klagverjährung seitens
des Gläubigers, obwohl eine freiwillige Handlung desselben
und eine Entäußerung der Zwangsmittel darstellend, den-
noch keine notwendige Absicht zu bereichern in sich
schließt, so ist damit auch erklärt, warum bei diesem
Verzicht keine besondere Akzeptation hinzuzutreten
braucht, um denselben bindend zu machen.
x) Die Klagverjährung ist, wie ihr Begriff und ihre Ge-
schichte gleichmäßig zeigen, zunächst ein rein positives
Rechtsinstitut. Zu einer Willensaktion des Individuums
wird sie erst dadurch, daß unter dem Dasein dieses Gesetzes
das Individuum die von demselben gegebenen Fristen, welche
ihm zur Wahrung seiner Rechte gestellte Bedingungen aus-
machen, freiwillig verstreichen läßt. Das ursprünglich rein legale
Recht wird also, wie bei der Klage (s. § 3 und 6), durch
Ergreifung desselben durch das Individuum zu einem indi-
viduellen, nur daß hier die Handlung in der Form des Nicht-
handelns auftritt.
224
In der Tat liegt aber diese Annahme, stillschweigend
wie der Verzicht des Gläubigers, ebenso auf Seite des
Schuldners vor.
Wenn der Gläubiger durch seine Unterlassung erklärt,
daß die Zahlung der Schuld auf den Willen des Schuld-
ners ankommen solle, so ist die Unterlassung des letztern
— das Nichtzahlen innerhalb der Verjährungsfrist —
gleichfalls ein verborgenes Handeln, durch welches er
dies annimmt, daß es von nun an auf seinen Willen
ankommen solle1). Dies ist auch dann der Fall, wenn
der Schuldner aus bloßer Sorglosigkeit oder Unkenntnis
der Schuld nicht gezahlt hat. Diese Sorglosigkeit und
Unkenntnis selbst drückt gewiß aus, daß er damit zu-
frieden ist, wenn zivile Zwangsmittel gegen ihn untergehen
und die Erfüllung seiner rechtlichen Pflichten in seine
natürliche und moralische Verbindlichkeit übergeht2). Wer
dies nicht will, wer den Gläubiger gegen sich selbst oder
z. B. seine eigenen Erben sichern will, der muß sich
um seine Schulden bekümmern und vor dem Ablauf der
Verjährung zahlen. Es liegt also ein zwar stillschweigen-
*) Es fällt von hier aus ein Blick mehr auf die Bedeutung
der Regel des Ulpian, L. 1 de except. (44, 1): ,,Agere enim
is videtur qui exceptione utitur, nam reus in exceptione actor
est." Wenn der handelt, der sich einer Exception bedient, so
handelt gewiß auch der, der sich durch willkürliches
Nichthandeln diese Exzeption schafft.
2) Die bestimmte Hervorhebung dieses Punktes ist durchaus
nicht überflüssig, denn es verhält sich allerdings so, daß keinem
eine Vermögensvergrößerung wider seinen Willen aufgezwungen
werden und hierin sogar eine injuria liegen kann ; s. Böcking,
Pandekten des römischen Privatrechtes, I, 366. Note 12. Aus
dem Obigen folgt nun aber auch, daß der Schuldner trotz
der bereits eingetretenen Klagverjährung vom Gläubiger nicht
gehindert werden kann, die verjährte Schuld zurückzuzahlen.
15 L««ll«. Ges. Schritten. Bana IX. 225
des, aber deshalb nicht weniger vollständiges beiderseitiges
Übereinkommen vor, durch welches ein ursprüng-
liches Geschäft des Zivilrechts aus der Sphäre des Zivil-
rechts heraus- und in den freien naturalen Willen hinein-
versetzt wird, gerade so, wie es den Parteien ja von vorn-
herein freigestanden hätte, ihre Handlungen so einzurich-
ten, daß sie gleich ursprünglich den Kreis des Zivilrechts
vermieden und nur ein Verhältnis zu dem bloß natürlichen
Willen begründeten.
Wenn unter einem Gesetze, welches bei einem Dar-
lehnsvertrage die zivile Gültigkeit der Zinsverabredung von
dem Dasein eines schriftlichen Vertrags abhängig macht 1),
der Gläubiger unter bloß mündlicher Verabredung auf
Zinsen borgt, so ist hierbei gewiß von keiner Absicht
zu bereichern seitens des Gläubigers die Rede. Diese
ist durch seine eigene Handlung — die mündliche
Verabredung Zinsen zu zahlen — vielmehr aus-
drücklich ausgeschlossen, und die Errichtung
eines schriftlichen Vertrags nur wegen eines Vertrauens
auf die Gesinnung des Schuldners oder aus Nachlässig-
keit unterlassen worden. Aber diese Verpflichtung wurde
durch die Unterlassung des schriftlichen Vertrags von
beiden Seiten von vornherein außerhalb der Zivilrechts-
sphäre in den bloß naturalen Willen aes Schuldners gesetzt
und bleibt daher nur an diesen gebunden.
x) So z.B. Allgemeines Landrecht, T. I, Tit. 11. § 729:
„Soll aber ein Darlehensvertrag auf eine andere bestimmte
Zeit gegen Interessen oder auf andere Bedingungen ge-
schlossen werden, so ist, wenn dem Gläubiger eine Klage auf
Erfüllung dieeser Verabredungen zustehen soll, ohne
Unterschied der geliehenen Summe ein schriftlicher Vertrag
erforderlich."
226
Da somit ganz ebenso die Klagverjährung das beider-
seitige Übereinkommen in sich schließt, die Erfül-
lung einer früher zivilen Verpflichtung jetzt in den natu-
ralen Willen des Schuldners zu setzen, so wird natürlich
dieses Übereinkommen, wenn es einmal, durch Ablauf der
Frist, eingetreten ist, durch spätere, die Klagverjäh-
rung aufhebende Gesetze nicht mehr geändert, während
ebenso natürlich solche während der Verjährungsfrist
— also ehe ein Übereinkommen vorliegt — eintretende,
die Verjährung aufhebende oder modifizierende Gesetze
sofort einwirken müssen.
Vielleicht würde man gegen diese Darstellung ein-
wenden wollen, sie laufe, da sie die Klagverjährung als
ein Übereinkommen auffaßt, welches die Schuld zwar nicht
erläßt, aber ihre Entrichtung nur an den naturalen Willen
des Schuldners bindet, auf eine Stipulation hinaus, durch
welche der Schuldner unter der Bedingung, si velit, etwas
verspricht, eine bekanntlich das Dasein einer Obligation
ganz vernichtende Stipulation1). Diese Vergleichung ist
zwar von scheinbarer, in der Tat aber von gänzlich täu-
schender Natur. Wenn ich stipuliere und dabei meine
Verpflichtung an die bloße Bedingung meines Willens
binde, so begehe ich den sich selbst aufhebenden Wider-
spruch, daß ich gleichzeitig mich zivilrechtlich
verpflichte, und diese zivilrechtliche Verpflichtung
zugleich auch wieder aufhebe, indem ich sie an meinen
natürlichen Willen binde. Durch diese Gleichzeitigkeit
stellt die Erklärung einen sich absolut zerstörenden inneren
Widerspruch dar. Indem ich zugleich stipuliere und die
-) L. 17; L. 46. § 3; L. 108, § 1, de vcrb. oblig. (45, 1);
L. 7 pr. de contr. emt. (18, 1); vgl. Allgemeines Landrecht,
T. I, Tit. 4, § 108, und Code Napoleon, Art. 1174.
iß* 227
Stipulation wieder aufhebe, habe ich notwendig nichts
getan1).
Ganz anders stellt sich das Verhältnis in dem von uns
betrachteten Fall. Hier ist — bei der Klagverjährung — ,
indem der zivilrechtliche Zwang nicht, wie bei der rein
potestativen Stipulation, durch die Übereinkunft selbst
erst gesetzt wird, sondern ihr vielmehr vorausgeht2),
x) Durch ein interessantes Urteil entschied der Pariser Kas-
sationshof am 31. Dezember 1843 (Sirey, 35, 1, 525), daß
ein Kaufkontrakt, welcher die Bestimmung enthielt, daß der
Kaufpreis zahlbar sein solle „ä la volonte de l'acquereur"
und bis dahin jährlich exigible Zinsen tragen solle, keine un-
gültig machende potestative Bedingung in sich schlösse, weil
er eine Rentenkonstitution darstelle. — Wir halten die Ent-
scheidung für richtig, aber schwerlich das so ausgedrückte Mo-
tiv. Einen Rentenkonstitutionsakt hatten die Parteien nicht be-
absichtigt, und schon deshalb konnte der Akt nicht wohl für
einen solchen ausgegeben werden. Aber durch die jährlich exi-
gibeln Zinsen war allerdings hervorgebracht, daß der Akt nicht
den oben entwickelten Widerspruch enthielt, einen zivilen Willen
zu setzen und ihn wieder gänzlich aufzuheben und der natu-
ralen Freiheit unterzuordnen. In bezug auf die Hauptstipulation,
die Kaufpreiszahlung, war dies der Fall. Aber es blieb die
zivile Verpflichtung, dann Zinsen zu zahlen. Es war somit
etwas getan, ein ziviler Zwang übriggeblieben und somit die
Selbstzerstörung, welche, wie oben gezeigt, das Wesen der
conditio si velit bildet, nicht vollbracht.
") Mit diesem Vorausgehen des Zwangsverhältnis-
ses hängt es auch zusammen, daß bei der Erbeinsetzung des
Suus, welcher unfreiwilliger Erbe ist, die Hinzufügung der
Bedingung si velit nicht ungültig ist, sondern seine Verpflich-
tung vielmehr wirksam aufhebt und den Erwerb der Erbschaft
für ihn zu einem freiwilligen macht (L. 86 de her. inst., 28,
5; L. 12 de cond. inst., 28, 7). Man kann nicht sagen, es
komme dies daher, weil dem Suus durch das Testament auch
erst das — durch die Willensbedingungen nur modifizierte —
Recht übertragen werde. Der Suus empfängt das Recht nicht
228
und durch sie nur aufgehoben wird, allerdings
etwas getan worden, und zwar etwas sich selbst durchaus
nicht Widersprechendes und sehr Wirksames1).
Gesetze über Klag Verjährung — dies war das Resultat
unserer Entwicklung — können deshalb auf bereits ver-
jährte Forderungen nicht rückwirken, weil, wenn einmal
durch die beiderseitige individuelle Willensaktion in gül-
tiger Weise eine Verpflichtung von dem bloß naturalen
Willen abhängig und dem Zivilzwange entsagt worden ist,
diese Beschränkung der Verpflichtung auf den naturalen
Willen und diese Entsagung auf den Zivilzwang durch
spätere Gesetze nicht verändert wrerden können, ohne
frühere individuelle Handlungen zu alterieren und ihre
Wirksamkeit zu entstellen.
durch das Testament. Er hat es vor demselben und trotz
desselben, wenn er in ihm präteriert ist. Damit er es nicht habe,
muß er formell exherediert, das Recht ihm also durch das
Testament erst genommen sein. Auch wird, da der Suus ja
eben zur Erbschaft gezwungen ist, durch das si velit nicht
sein Recht, sondern nur seine Verpflichtung aufgehoben,
und es ist dies also allerdings eine Bestimmung, durch welche
die Verpflichtung eines Verpflichteten an seinen natu-
ralen Willen gebunden wird. Die Zulässigkeit kommt daher, daß
die zivilrechtliche Verpflichtung dem Testament bereits
vorhergeht und durch dasselbe nur aufgehoben, nicht ge-
setzt und aufgehoben zu gleicher Zeit wird. — Nicht hierher
zu ziehen ist der ganz anders zusammenhängende Fall der
conditio si velit beim Legat.
*) Und ebenso liegt in dem obigen Beispiel, wo kein schrift-
licher Vertrag über die Zinsverabredung gemacht wurde, nicht
der logische Widerspruch vor, zugleich eine zivile Pflicht ein-
zugehen und sie an den naturalen Willen zu binden, d. h. auf-
zuheben, sondern es ist nur eine Verpflichtung des bloß natu-
ralen Willens hervorgebracht und die Zivilsphäre in bezug hier-
auf ganz vermieden worden ; ein ganz logisches und darum voll-
ständig wirksames Tun.
22Q
Damit haben wir aber zugleich das Gesetz für eine
sehr wichtige Frage entwickelt, die nur in diesem Zu-
sammenhange in ihrer wahren Natur zu begreifen ist, und
deren Verkennung die falschesten Entscheidungen zur
Folge gehabt hat. Diese Frage wäre, bei strengster Fest-
haltung der logischen Disposition des Werkes, erst an
anderer Stelle zu entwickeln. Da aber ihre Beantwortung
ihrer inneren Natur nach ganz aus der letzten Entwicke-
lung resultiert, so ist es ein wesentlicher Vorteil der
Kürze und Deutlichkeit, dieselbe gleich hier anzureihen.
Es wird daher im Interesse der logischen Disposition ge-
nügen zu bemerken, daß hier eigentlich der § 2, d. h. der
Nachweis des versteckten Umfangs des Begriffes, sein
Ende erreicht hat und der nachfolgende Exkurs nur des-
halb hier seine Stelle findet, weil die betreffende Frage
doch nur im Zusammenhange mit der gegenwärtigen Ent-
wickelung zu begreifen ist und durch ihre Einreihung hier-
selbst daher sonst unerläßliche weitläufige Wiederholungen
vermieden werden. — Wir stellen die Frage gleich so, wie
sie ihrer begrifflichen Natur nach wirklich gestellt wer-
den muß, obgleich sie in den Fällen, in welchen sie inner-
lich zur Anwendung kam, eben nicht so gestellt worden ist
und hieraus dann die irrigen Entscheidungen fließen mußten.
Wie wird es sich nämlich verhalten, wenn der bloß
naturale Wille durch eine Änderung in der Gesetz-
gebung in die Lage kommt, nunmehr auch den Anforde-
rungen zu entsprechen, die an das Dasein eines zivilen
Willens gestellt werden ? Wird die zur Zeit der Hand-
lung in den bloß naturalen Willen gesetzte Verpflichtung
durch das neue Gesetz, wenn nach diesem dieselbe Hand-
lung jetzt auch zur Begründung eines zivilen Willens
hinreichen würde, hierdurch nachträglich zu einer zivilen
Verpflichtung ?
230
Die Frage braucht aber nur so gestellt und durch diese
Art der Fragestellung in ihre wahrhafte begriffliche Na-
tur aufgelöst zu werden, um nach dem oben Entwickelten
ihre unbedingte Verneinung gewiß zu machen. Denn es
würde sonst eine unzweifelhafte Rückwirkung vorliegen.
Es würde durch diese vom Individuum ungewollte Ver-
wandlung seines naturalen Willens in einen zivilen ihm
Gewalt angetan, die Freiheit, die es sich vorbehielt, auf-
gehoben und seiner Handlung eine größere Wirksamkeit
aufgezwungen, als sie nach der Absicht der sich mit der
Verpflichtung des naturalen Willens begnügenden, dem
Zivilzwange entsagenden Individuen hatte und haben sollte.
Dies kommt zunächst zur Anwendung bei der schon
oben (S. 226, Anm. 1) beispielsweise angezogenen Vor-
schrift des Allgemeinen Landrechtes, nach welcher die
Zinsverabredung beim Darlehn nur dann eine Klage ,,auf
Erfüllung dieser Verabredung" erzeugen soll, wenn
ein schriftlicher Vertrag darüber geschlossen worden.
Wenn nun ein neues Gesetz diese Notwendigkeit des
schriftlichen Zinsversprechens aufhöbe, würde eine imter
dem Allgemeinen Landrecht getroffene mündliche Zins-
verabredung dadurch wirksam werden ? Man entscheidet
diese Frage verneinend, und diese Entscheidung ist richtig.
Aber es ist nicht bloß von theoretischem, sondern, wie sich
bald zeigen wird, von handgreiflich praktischem Interesse,
darzutun, wie die Gründe, auf welche man diese Ent-
scheidung stützt, nicht erschöpfend sind und deshalb in
ihren Konsequenzen auf große materielle Irrtümer ge-
führt haben und führen mußten.
Man gründet diese Entscheidung darauf, daß die Form
eines Rechtsgeschäftes stets nach den Gesetzen zur Zeit
seiner Vollbringung zu beurteilen sei, und verwechselt
dabei, sie unterschiedslos als identisch betrachtend, d i e -
231
jenige Form des Rechtsgeschäftes, welche nach dem
Gesetze zum Dasein eines zivilen Willens über-
haupt erforderlich ist, und diejenige Form, welche
vom Gesetze bloß für die Beweis fähigkeit einer
Handlung gefordert wird.
Wenn man diese Unterscheidung nicht macht, so ist die
Formel, daß es in bezug auf die Form des Rechts-
geschäftes auf das Gesetz zur Zeit der Handlung an-
kommt, zwar unbedingt richtig, wenn das spätere Gesetz
die Formen des Rechtsgeschäftes erschwert. Denn hier
würde durch die Anwendung des späteren Gesetzes die
früher gewollte Handlung des Individuums vernichtet wer-
den. Aber die Formel wird sofort schwierig und zweifel-
haft, wenn das neue Gesetz die Form des Rechtsgeschäftes
nicht erschwert, sondern erleichtert, und seine An-
wendung somit nur die Aufrechterhaltung des in-
dividuellen Willens hervorbringt. Hier wird die
Formel nicht mehr unbedingt gelten1), und auch wo sie
gilt, scheint sie ihren inneren Grund, ihre begriffliche
Wahrheit zu verlieren. In der Tat, worauf gründet sich
jene Formel, daß der Kontrakt nach den Gesetzen zur
Zeit seiner Schließung zu beurteilen sei ? Darauf, daß
die individuelle Willensaktion nicht rückwirkend dena-
turiert werden darf. In dem von uns unterstellten Falle
war aber die individuelle Handlung die, daß der
Schuldner, wie wir voraussetzen, eingestandener-
maßen Zinsen zu leisten verabredet hat. Wie also,
wenn nicht weiter unterschieden wird, könnte er sich bei
Anwendung des neuen Gesetzes über rückwirkende Ent-
stellung seiner individuellen Willensaktion beschweren ?
*) Z. B. nicht bei den Testamenten, vgl. Allgemeines Land-
recht und unten § 11.
232
Die hier entwickelte Schwierigkeit gewinnt nur eine
äußere Konsistenz mehr unter der Herrschaft des All-
gemeinen Landrechtes durch den § 17 der Einleitung des-
selben, welcher verordnet :
„Frühere Handlungen, welche wegen eines Mangels
der Förmlichkeit nach den älteren Gesetzen ungültig sein
würden, sind gültig, insofern nur die nach den neueren
Gesetzen erforderlichen Förmlichkeiten zur Zeit des dar-
über entstandenen Streits dabei angetroffen werden."
Allerdings wird dieser Paragraph von fast allen Schrift-
stellern (Savigny, VIII, 409fg. ; Bornemann, S. 17fg.)
hart getadelt, Aber seine relative Richtigkeit, die wohl
hier bereits durchschimmert, wird uns bald ganz deutlich
zutage treten. Und jedenfalls muß diese gesetzgeberische
Bestimmung das Gewicht der eben entwickelten begriff-
lichen Einwendungen gegen die ausreichende Richtigkeit
der Formel noch verstärken.
Faßt man die Formel tempus regit actum gar ausdrück-
lich, wie häufig geschieht, als eine Regel über die Be-
weisfähigkeit der Handlung auf, so bleibt sie rich-
tig, wenn das neue Gesetz früher zulässige Beweismittel
aufhebt. Denn die Beweiskraft, die der bestimmten Form
einer individuellen Handlung nach dem Gesetze beiwohnt,
ist ein von dem Individuum, das diese Handlung vornahm,
wie jeder andere Teil seiner Handlung freiwillig G e -
s e t z t e s und somit wie alles seiner Handlung Inne-
wohnende von ihm Erworbenes1). Das Individuum
1) Diese erworbene Natur der in einer Handlung nach dem
Gesetz zur Zeit ihrer Vollbringung liegenden Beweiskraft ver-
kennt Bergmann gänzlich, wenn er S. 84 meint, daß nach
der reinen Idee der Sache, die er in höchst gespenstischer
Weise überall zu den positiven Rechten in Gegensatz bringt,
auch das zur Zeit der Handlung zulässige Beweismittel durch
233
wählte diese Form der Handlung, weil sie nach dem Ge-
setze bereits genügte, den Beweis zu erbringen, und würde
das neue erschwerende Gesetz ausgeschlossen werden müßte.
Er gründet dies darauf, daß es beim Beweis auf die Über-
zeugung des Richters ankomme, welche durchaus Sache
der Gegenwart sei. ,,Es könnte demnach," sagt er, „bei
jenem Resultat nicht darauf gesehen werden, ob die zu be-
weisende Tatsache in der Vorzeit geschehen sei, zu einer Zeit,
wo man die Aussicht auf eine leichte Beweisführung hatte ;
es könnte nicht einmal darauf ankommen, ob sie bei einem
pendenten Prozesse schon in der Vorzeit durch ein Urteil be-
stimmt gewesen, wie der Beweis einzurichten sei, oder ob da-
mals die Beweisführung schon vorgenommen worden — denn
allen diesen Rechten und Erwartungen müßte die jetzige
Wahrheit derogieren." Dieses Räsonnement wurzelt offenbar
nur in dem gänzlichen Verkennen des Begriffes der Rückwirkung,
der nur in der Aufhebung individueller Handlungen und durch
sie erworbener Rechte besteht und also ebenso gut auch auf
das durch eine Handlung erworbene Recht ihrer Beweiskraft
platzgreift. Erscheint auch der Beweis dem Richter nach seinen
jetzigen Urteilsnormen nicht mehr als eine Wahrheit be-
gründend, so können doch die Parteien innerhalb der Privat-
rechtssphäre, weil und soweit sie hier über das Objekt
des Rechtsverhältnisses selbst willkürlich transigieren
können, mit derselben gültigen und für den Richter verbind-
lichen Willkür bestimmen, was für sie eine Wahrheit oder
derselben gleichstehende Wirksamkeit begründen solle. Die
Pflicht des Richters, die Wahrheit nach seinem Bewußtsein
zu untersuchen, tritt nur ein, insoweit eine solche Bestimmung
von den Parteien nicht getroffen oder insoweit es sich um
Dinge handelt, über welche die Privatwillkür nicht transi-
gieren kann, weil sie dem jus publicum entflossen (hierüber
s. § 7). Aber auch bei diesen kann nicht die Rede davon sein,
einer vollbrachten freiwilligen Handlung den Zeugenbeweis zu
versagen, weil ein späteres Gesetz nur im schriftlichen Beweis
die Wahrheit erblickt. Denn es würde diese Anwendung des
neuen Gesetzes nicht bloß die jetzige Beweiskraft der
Vorschrift desselben unterwerfen, sondern vielmehr hervor-
234
andernfalls eine andere Form gewählt haben. Hier also
kann man allerdings die Fiktion anwenden, daß die In-
dividuen beim Kontrakt auch über die Zulässigkeit der
zur Zeit gesetzlich zulässigen Beweismittel kontrahieren.
Aber ganz anders stellt sich die Frage, und ganz falsch
wird die Anwendung dieser Formel da, wo das neue Ge-
setz früher nicht zulässige Beweismittel zuläßt, z.B.
den Zeugenbeweis, wo er früher ausgeschlossen war. In
dem ersten Fall hat der Kontrahent durch die damals be-
weisfähige Form, die er für seine Handlung wählte, diese
Beweisfähigkeit als einen Teil der Handlung bildend zu
einem Erworbenen gemacht. In dem zweiten Fall hat er.
da er keine Handlung wählte, die nach dem damaligen
Gesetze beweisfähig war, keinen Beweis seiner Hand-
lung erworben, er hat nur kein erworbenes Recht auf
Beweis, und steht somit schon darum unter der so-
fortigen Einwirkung des Gesetzes. Denn wo-
her sollte er das Recht erworben haben, sich durch
keine andern Beweismittel beweisen zu lassen, als durch
die zur Zeit des Rechtsgeschäftes gesetzlich zulässigen, die
er aber noch dazu damals nicht ergriff und in individuelle
Handlungen verwandelte, die also um so mehr bleiben, was
sie waren : bloße gesetzliche Bestimmungen ?
bringen, daß die in mündlicher Form geschehene und nach
dem Gesetze zur Zeit ihrer Vollbringung in dieser Form gültige
und wirksame individuelle Handlung durch das neue Gesetz
zu einem, weil nicht in schriftlicher Form gehandelt
würde, ungültigen und unwirksamen Handeln herabgesetzt würde.
Es würde also die Anwendung des Gesetzes sich aus einer An-
wendung auf die jetzige Beweiskraft in eine Anwendung auf
die formelle Perfektion der damaligen Handlung ver-
kehren, d. h. in die schreiendste Rückwirkung, in die nach-
trägliche Vernichtung der formellen Gültigkeit indivi-
dueller Handlungen.
235
Zur Zeit der Handlung waren diese Beweismittel un-
zulässig. Aber nur durch die Kraft des Gesetzes.
Welche Beweismittel zulässig sein sollen — dies ist eine
bloße Bestimmung des Gesetzes, an und für sich ganz
unabhängig vom Willen des Individuums. Diese Bestim-
mung ist nun auch in keiner Weise vom Individuum ver-
seinigt worden, denn durch Nichthandeln — in der
gesetzlich beweisenden Form, ein weiteres liegt nicht vor
— erwirbt sich keiner Rechte, zu deren Erzeugung ja
eben die individuelle Handlung erforderlich ist. Noch
deutlicher wird dies vielleicht in folgender Wendung : Die
Zulässigkeit eines Beweismittels kann erworben
werden, wenn das Individuum dieselbe eben zu seiner
Willensaktion und Handlung macht. Sie überdauert daher
den Gesetz Wechsel. Die Unzulässigkeit eines Be-
weismittels dagegen ist eine rein prohibitive Be-
stimmung des Gesetzes, die somit von der individuellen
Willkür unabhängig, niemals von selbst und stillschweigend
als ein durch sie Gesetztes erscheinen kann. Um sie zu
einem solchen zu machen, bedürfte es einer ausdrück-
lichen Vertragsbestimmung darüber, daß dies Be-
weismittel durch den Willen der Parteien stets aus-
geschlossen bleiben soll, und eine solche Vertragsbestim-
mung liegt nicht vor, wo kein schriftlicher Vertrag vor-
liegt, oder würde sich eventuell wieder nur durch Zu-
lassung des Zeugenbewejses erweisen lassen können. Darin
aber, daß die Parteien das gesetzlich unzulässige Beweis-
mittel nicht ausdrücklich als zulässig bestimmt
haben, liegt um so weniger eine stillschweigende Aus-
schließung seiner Zulässigkeit durch ihre eigene Willkür
vor, als vielmehr eine solche Stipulation, solange das
prohibitive Gesetz bestand, ganz ohne Wirkung geblieben
wäre. Die übliche Fiktion, die gesetzlichen Verordnungen
236
als stillschweigend von den Parteien in den Kontrakt ge-
schriebene Willensbestimmungen zu betrachten, läßt sich
nur auf solche Gesetze anwenden, die vermittelnder, nicht
absoluter Natur sind, d. h. auf solche, die auch ein Ab-
weichen von ihrer Vorschrift der individuellen Willkür
gestatten. Hier wird durch das Nichtabweichen von der
gesetzlichen Regel der Rückschluß begründet, daß der
individuelle Wille, gerade weil er von der gesetzlichen
Regel abweichen konnte und dies nicht tat, auch
nicht abweichen wollte und somit ihren Inhalt als seinen
individuellen Willen und Bedingung stillschweigend in den
Kontrakt gesetzt hat. Allein jede logische Möglichkeit
dieses sich nur auf das Abweichen können gründenden
Schlusses fällt fort, wo das Gesetz ein absolutes und des-
halb den individuellen Willen ausschließendes war1).
Das Festhalten jener Formel für diesen Fall, in welchem
ihr Sinn verschwunden, wird zum sinnlosesten Formel-
kram! Ebenso liegt in dem Nichthandeln in der damals
*) Es ist nur dieselbe streng logische Unterscheidung, welche
2. B. das französische Gesetz vom 18. Pluviöse V veranlaßt
hat, einen Unterschied zu machen zwischen den Erbschafts-
entsagungen der Töchter, welche vor dem die Gleichheit im Erb-
recht herstellenden Gesetz vom 8. April 1791 unter Gewohn-
heitsrechten ausgegangen waren, welche die Töchter ohnehin
von der Erbschaft ausschlössen und unter solchen, welche das
nicht taten. Auf den Vorschlag von Tronchet entschied der
gesetzgebende Körper, daß die Töchter, welche früher unter
der Herrschaft der Coutümes d'exclusion entsagt hatten, schon
zu den vom Datum des Gesetzes vom 8. April 1791 ab er-
öffneten Erbschaften berufen sein sollten, da diese Renoncia-
tionen nur „corame surerogatoire" zu betrachten seien ; daß da-
gegen die Töchter, welche unter der Herrschaft von Coutümes
de non-exclusion entsagt hatten, erst von dem Konventsdekrete
vom 5. Brumairc II ab, welches diese Entsagungen ausdrück-
lich vernichtet hatte, berufen sein sollten.
237
beweisenden Form nur, wir wiederholen es, ein
Nichter werben von Beweis, nicht ein Erwerben
eines Rechtes auf Nichtbeweis! Dies wird noch
evidenter daran, daß die Frage, ob mein Mitkontrahent
mir einen Beweis wird erbringen können, eine Frage ist
nach dem objektiven Dasein einer Tatsache,
die somit, mindestens wenn nicht ein ausdrücklicher Ver-
zicht meines Mitkontrahenten vorliegt, ganz außerhalb
der rechtlichen Ein wir kung meines indivi-
duellen Willens liegt. Denn wenn auch die zu be-
weisende Tatsache in meiner eigenen Handlung besteht,
so ist dieselbe, ehe ich sie vornahm, Sache meines freien
Willens, einmal vorgenommen aber zu einer objek-
tiven und von mir unabhängigen äußeren Tatsache ge-
worden, bei deren Nachweisung der Gegner es also durch-
aus nicht mit einem an meinen Willen Geknüpftes, son-
dern lediglich mit der richterlichen Überzeugung und der
gesetzlichen Erlaubnis zu tun hat. Ein freiwilliger Ver-
zicht aber auf den Zeugenbeweis, wo das Gesetz
ihn ausschließt, ist gerade deshalb nicht bei ihm
vorhanden, während sein Verzicht auf die beweisfähige
Form des schriftlichen Vertrages nur ein Vertrauen und
nichts hierüber Hinausgehendes, keinesfalls aber doch einen
Verzicht auf Zeugen, sondern höchstens eben einen Ver-
zicht auf Schrift darstellen können würde.
Wie sollte der Beklagte also in der Anwendung des
neuen den Zeugenbeweis zulassenden Gesetzes eine Rück-
wirkung behaupten können ? Die einzige Form, die einer
solchen Behauptung zu geben wäre, wäre diese : Er habe
damals ebendeshalb nur mündliche Verabredung getroffen,
u m überhaupt jeden Beweis seiner Handlung ausschließen,
jede Spur ihrer Wirklichkeit verwischen zu können, und
durch die Zulassung des Beweises verändere man die Ab-
238
sieht bei seiner individuellen Handlung, d. h. er würde
seinen eigenen dolus einwenden und folglich nicht zu
hören sein.
Wenn nichtsdestoweniger oben die Entscheidung (S. 231 ),
daß auf die gegenwärtig unter dem Allgemeinen Land-
recht getroffene mündliche Zinsverabredung nicht ein die
Notwendigkeit des schriftlichen Vertrages aufhebendes
neues Gesetz angewendet werden kann, von uns als rich-
tig zugegeben worden ist, so beruht dies auf folgenden
Gründen. Die in Rede stehende Vorschrift des All-
gemeinen Landrechtes (T. I, Tit. 11, §729) bildet gar
keine Verordnung über die Beweisfähigkeit der Zins-
verabredung. Indem sie nämlich sagt, es sei „wenn dem
Gläubiger eine Klage auf Erfüllung dieser Ver-
abredung zustehen soll", ein schriftlicher Vertrag er-
forderlich, unterstellt sie das wirkliche Dasein der münd-
lichen Verabredung und verweigert dennoch die Klage.
Der Beklagte würde also hier die Wahrheit der vom
Kläger behaupteten Zinsverabredung eingestehen kön-
nen, und es wird gleichwohl die Abweisung der Klage
folgen müssen. Dies heißt aber nichts anderes, als daß
diese Vorschrift des Allgemeinen Landrechtes die schrift-
liche Errichtung hier nicht als Beweismittel des Ver-
trages auffaßt, sondern als Bedingung für das Dasein eines
zivilen verbindlichen Willens überhaupt. So-
bald diese Bedingung nicht eingetreten, ist nach dem All-
gemeinen Landrecht in bezug auf die Zinsleistung die Ver-
pflichtung nur in den naturalen Willen gestellt ; der zivile
Wille ist gar nicht verpflichtet worden und darum kein
richterlicher Schutz vorhanden.
Ist aber von den Parteien etwas in den bloß naturalen
Willen gestellt worden, so bleibt dies trotz alles Gesetz-
wechsels notwendig bestehen, und der bloß naturale Wille
239
kann durch ein späteres Gesetz nicht in einen zwingenden
zivilen verwandelt werden, ohne die Wirksamkeit indivi-
dueller Willenshandlung gewaltsam zu verändern.
Nun aber erst beginnt das praktische Interesse dieser
Erörterung.
Wenn nämlich ein Gesetz, wie der Art. 1341 Code
Nap.1), den Zeugenbeweis bei jedem Werte über eine
bestimmte Höhe ausschließt, und nun z. B. ein Darlehn
ohne schriftlichen Beweis geschlossen worden ist, wird,
wenn ein neues Gesetz die Unzulässigkeit des Zeugen-
beweises aufhebt, der Zeugenbeweis für jenes Darlehn
zulässig sein ? Französische und deutsche Autoren haben
mit einer seltenen Einstimmigkeit die Formel festgestellt,
daß, weil die Beweisfrage kein ordinatorium, sondern ein
decisorium litis bildet, und somit „plus au droit qu'ä la
forme' ' gehöre, die Frage nach der Zulässigkeit oder
Unzulässigkeit eines Zeugenbeweises lediglich nach
dem Gesetz zur Zeit der Handlung zu beurteilen sei. So
z. B. Merlin2) : „Ainsi sagit-il dune preuve par temoins ?
La forme dans laquelle il doit etre procede, dans les
matieres qui en sont susceptibles, ne depend que de la
loi du temps oü la preuve se fait. Mais la questlon de
üadmissibilite ou de V inadmissibillte de cette preuve ne
peut etre jugee que par la loi du temps oü laction a
pris naissance." Die zahlreichsten Entscheidungen des
Pariser Kassationshofes haben diese Formel bestätigt3).
-1) II doit etre passe acte devant notaire ou sous signature
privee de toutes choses excedant la somme ou valeur de cent
cinquante francs meme pour depots volontaires, et il n'est regu
aucune preuve par temoins contre et outre le contenu aux
actes etc.
2) Rep. de Jurispr. v° Effet retroactif, Sect. I, § 8, T. 5,
S. 599.
3) S. Urteil des Pariser Kassationshofes vom 18. November
240
Zwar sind diese Entscheidungen, da der Code civil das
strengere Gesetz bildete, in Fällen ergangen, wo das
neue Gesetz den früher zulässigen Zeugenbeweis aus-
schloß und somit in ihrem Fall ganz richtig. Allein es
unterliegt keinem Zweifel, daß auch im umgekehrten Fall,
wenn in solchen Gebieten, wo bisher der Code civil gilt,
ein den Zeugenbeweis zulassendes Gesetz eingeführt wer-
den würde, die tötende Macht der Formel fortreißen und
dieselbe Entscheidung herbeiführen würde. Ja, dies steht
sogar ganz fest. Denn nicht nur bringt es die kategorische
Form des angeführten Grundsatzes notwendig so mit sich,
sondern die Schriftsteller fassen auch ausdrücklich diesen
Fall, daß das neue Gesetz früher unzulässige Beweis-
mittel zuläßt, ins Auge und behaupten gleichwohl die
Anwendbarkeit jener Formel auch hierauf. So z. B. Mer-
lin1): ,,S'il en est ainsi d'une loi ancienne qui admsttait
comme probant un acte ä qui la loi nouvelle en refuse
le caractere, si cet acte conserve sous la loi nouvelle la
force probante que lui attribuait la loi ancienne, iL taut
necessairement dire, par la raison Inverse, que la loi nou-
velle ne peut pas rendre probante un acte qui, d'apres
la loi sous laquelle il a ete passe, ne pouvait pas faire
preuve." Denselben falschen Rückschluß findet man aus-
drücklich bei Bergrram2) : ,,Wenn ferner für den Be-
weis gewisser Tatsachen besondere Beweismittel neu vor-
geschrieben werden, welche sich zu verschaffen man bis
dahin kein Interesse hatte, so können dergleichen Prozeß -
1806, vom 22. März 1810, vom 9. April 1811, vom 8. Mai
1811, vom 17. November 1829, vom 16. August 1831, vom
23. Mai 1832. Vgl. Toullier, T. IX, Nr. 61. Duranton. T. I,
Nr. 66.
1) a. a. O., V. 569.
2) a. a. O., S. 170.
16 La.salU. G«. Schriften. Band IX 241
gesetze als solche durchaus nicht auf ältere Tatsachen an-
gewendet werden. Und das darf eigentlich nicht etwa
nur in der Beziehung gelten, wenn durch neue Rechts-
formen die Beweisführung erschwert ist, sondern muß auch
dann eintreten, wenn sich in den neuen Gesetzen eine E r -
leichterung findet, von der sich nicht nachweisen läßt,
daß sie in den einzelnen Prozessen beiden Parteien gleich-
mäßig zugute kommen würde. Die Parteien können sich
in solchen Fällen mit Recht darauf berufen, daß, wenn
sie die Zulässigkeit eines solchen Beweismittels voraus-
gesehen, sie sich in Ansehung des direkten oder indirekten
Gegenbeweises besser vorgesehen haben würden1)."
Derselben Ansicht sind Savigny (VIII, 409 fg.) und
Bornemann (S. 17 fg.), welche deshalb auch den oben
bezogenen § 17 der Einleitung zum Allgemeinen Land-
recht geradezu als theoretisch falsch verwerfen, ohne seine
relative Richtigkeit anzuerkennen2).
Diesem Einklang der Autoren gegenüber ist es erforder-
lich, auf das unzweifelhafteste darzutun, wie in dem bei-
spielsweise von uns gestellten Fall des unter der Herr-
schaft des Art. 1341 Code Nap. ohne schriftlichen Be-
weis gegebenen Darlehns ein späteres, den Zeugenbeweis
zulassendes Gesetz schlechthin zur Anwendung kommen
müßte.
Beeilen wir uns, den prinzipiellen Unterschied zu kon-
statieren, der diesen Fall von dem vorher erörterten der
mangelnden schriftlichen Zinsverabredung trennt. Wir
haben dort gezeigt, wie der Beklagte die mündliche Zins-
verabredung eingestehen könnte, ohne verurteilt wer-
den zu dürfen, wie also das Gesetz hierdurch den schrift-
*) Derselben Ansicht ist Struve, a. a. O., S. 27.
2) Ebenso Struve, a. a. O., S. 90.
242
liehen Vertrag nicht als bloßes Beweismittel, sondern als
notwendiges Requisit für das Dasein eines zivilen
bindenden Willens überhaupt hinstellt. Ganz anders
in den Fällen des Art. 1341 Code Nap. ; denn hier kann
der Kläger, worüber kein Streit herrscht, durch gericht-
liches Eingeständnis des Beklagten oder Eidesdelation an
denselben beweisen, und der Beklagte muß dann verurteilt
werden. Nur das bestimmte Mittel des Zeugenbeweises
ist ausgeschlossen. Hiermit ist aber bewiesen, daß das
Gesetz in diesem Falle die schriftliche Form nicht als
Bedingung für die Existenz eines zivilen bindenden Wil-
lens — sonst würde weder Eidesdelation noch Geständ-
nis des Beklagten helfen können, er würde ja immer nur
einen naturalen, nicht zwingenden Willen eingestehen, und
die Eidesdelation wäre deshalb sogar unzulässig — , son-
dern als bloßes Beweismittel fordert. Wenn dies
aber bewiesen ist, so ist durch das vorher Gesagte auch
erwiesen, daß nun die umgekehrte Folge eintreten und
jetzt der Zeugenbeweis des neuen Gesetzes zulässig sein
muß. Da der Beklagte hier seinen zivilen Willen ver-
pflichtet hat, wie wird er in der Anwendung jenes Gesetzes
eine Rückwirkung behaupten können? Leugnet er
den ganzen mündlichen Darlehnskontrakt, so kann er nicht
einwenden, daß ihm eine individuelle Handlung durch
ein späteres Gesetz denaturiert werde. Denn er behauptet
dann eben, gar nicht gehandelt, also auch nichts
ausgeschlossen zu haben. Hier also, wo es sich um das
geleugnete Dasein eines Kontraktes überhaupt handelt,
wird die Formel von dem Gesetz zur Zeit des Kontraktes
schlechthin sinnlos und unanwendbar. Ihre Anwendung
würde nur zeigen, wie der Formelkram sogar den richtigen
Gedanken tötet, aus welchem die Formel hervorging.
Leugnet der Beklagte nicht den Darlehnsvertrag selbst.
w 243
sondern nur einen Teil desselben, z. B. die Höhe der
Summe oder eine Bedingung, so gibt er zwar eine indivi-
duelle Handlung zu, allein er kann, wie wir schon oben
sahen, keine Denaturierung derselben behaupten.
Durch den bloßen Erweis des Daseins und Inhalts
einer Handlung wird dieselbe nicht geändert, son-
dern im Gegenteil ihre Integrität gegen einen nachträglichen
Änderungsversuch des Handelnden aufrecht gehalten. Ein
an und für sich in der Handlung eingeschlossenes Recht
des Handelnden, dieselbe für nicht geschehen auszugeben,
kann nicht gedacht werden ; es wäre dies der logische
Widerspruch selbst, da die einmal geschehene Handlung
eben hierdurch aufhört, dem Willen des Handelnden an-
zugehören und zum objektiven Umstand wird. Auf Berg-
manns Einwand, daß, wenn der Zeugenbeweis damals ge-
setzlich zulässig gewesen wäre, das Individuum sich in An-
sehung des Beweises oder Gegenbeweises besser vor-
gesehen haben wrürde, ist zu entgegnen, daß die Aus-
schließung des Zeugenbeweises durch das Gesetz nicht ein
Ausschließen desselben durch individuelle Willkür dar-
stellt und diese Ausschließung daher nicht zu einer still-
schweigenden Verabredung macht, die Ausschließung des
Gesetzes aber mit dem Dasein aufhört ; daß ferner, wenn
das Individuum als ein solches erscheinen wollte, das bei
seiner Handlung die schwankende und unsichere Natur
des Zeugenbeweises habe vermeiden wollen, es zu die-
sem Zwecke gerade hätte in schriftlicher Form
handeln und so die sichere Form des Beweises setzen
müssen, daß es aber eine wahre logische Monstruosität ist.
schließen zu wollen : weil ich nicht in schriftlicher
Form, sondern nur mündlich gehandelt, habe ich hier-
durch den mündlichen Beweis exkludieren wollen.
Eine Denaturierung der individuellen Handlung würde
244
also nur dann vorliegen, wenn das Individuum behaup-
tete, es sei von vornherein bei seiner Handlung seine
besondere Absicht gewesen, sie hinterher ableugnen zu
können, und zu diesem Zwecke habe es damals den schrift-
lichen Beweis unterlassen. Durch diese Auslassung allein
würde die Anwendung des neuen Gesetzes zu einer fakti-
schen (aber nicht rechtlichen) Rückwirkung. Dieser
Einwand kann aber nicht erhoben werden, weil er den
eigenen dolus exzipieren würde, und selbst abgesehen hier-
von, wegen des Eingeständnisses der Handlung,
auf dem er beruht und beruhen muß, um faktisch erhoben
werden zu können, durch dieses Eingeständnis allein den
Rechtsstreit zu Ende bringt1).
Durch die vorstehende Diskussion muß sich nun bereits
ergeben haben, welcher wahre und von den Tadlern des-
selben stets verkannte Gedanke dem § 17 der Einleitung
zum Allgemeinen Landrecht zugrunde liegt, welcher ver-
fügt, daß frühere Handlungen, welche wegen eines Man-
gels der Förmlichkeit nach den älteren Gesetzen ungültig
*) Die im vorstehenden entwickelte Theorie ist anerkannt
in zwei hannoverischen Verordnungen vom 14. April 1815 für
das Fürstentum Hildesheim, § 137, und vom 13. September
1815 für die Kreise Meppen und Emsbüren (s. Hagemann,
Sammlung der hannoverischen Landesverordnungen, Jahrgang
1815, S. 187 und 703). Die angezogenen Paragraphen dieser
transitorischen Gesetze lauten: „Die Beschaffenheit der Ur-
kunden und die davon abhängende Beweiskraft derselben
werden nach den Gesetzen bestimmt, während deren Gültigkeit
der Beweis geführt werden soll. Es sollen jedoch die vor
Wiedereinführung der gemeinen Rechte errichteten Urkunden
diejenige Beweiskraft behalten, welche sie nach den
zur Zeit ihrer Errichtung gültig gewesenen Gesetzen gehabt
haben, wenngleich sie nach den zur Zeit der Beweisführung
gültigen Gesetzen eine geringere oder gar keine Be-
weiskraft haben würden."
245
sein würden, gültig sein sollen, insofern nur die nach den
neueren Gesetzen erforderlichen Förmlichkeiten dabei an-
getroffen werden. Zuvörderst wirft man diesem Para-
graphen vor, daß er in Widerspruch stehen solle1) mit
den §§ 43, 44 des Tit. 4, Teil I des Allgemeinen Land-
rechts, welche verfügen :
„Eine Handlung, die wegen Verabsäumung der gesetz-
lichen Form von Anfang an nichtig war, kann in der Folge
niemals gültig werden."
„Wird die Handlung in der gesetzmäßigen Form
wiederholt, so gilt sie nur von dem Zeitpunkte dieser
Wiederholung."
Andere haben diesen angeblichen Widerspruch in sehr
unbefriedigender Weise versöhnen wollen2). Es ist zum
Verwundern, daß man nicht gesehen hat, wie gar kein
Widerspruch vorliegt und gar keine Versöhnung erforder-
lich ist. Im § 17 der Einleitung hat nämlich der Gesetz-
geber nur den Fall vor Augen, daß eine Änderung in
der Gesetzgebung eintritt, also eine Rechtsände-
rung. In den angeblich widersprechenden Paragraphen
dagegen denkt der Gesetzgeber nur daran, daß nicht eine
Änderung im Recht, sondern in der faktischen Hand-
lung eintritt, wie z. B. durch Ratihabition. Dies
müßte von selbst evident sein, ist übrigens auch dadurch
völlig erwiesen, daß der § 17 in der Einleitung steht,
welche „von den Gesetzen" handelt, jene §§43 und
44 aber in dem Titel 3, welcher „von den Hand-
lungen" handelt3). Da beides an und für sich ganz ver-
*) Siehe Bornemann, a. a. O., S. 17.
2) Vgl. Koch, Lehrbuch, I, 131. Temme, Handbuch des
preußischen Rechtes, S. 19.
3) Auch ist durch den oben zitierten § 44 des Tit. 3, T. I.
246
schiedene Arten von Veränderung sind1), so ist hier auch
von keinem Widerspruch zu sprechen.
Es kann sich also nunmehr nur noch darum handeln, ob
der § 17 der Einleitung in sich selber theoretisch falsch
sei — Man hat bemerkt, daß diese Gesetzesstelle2) „auf
Förmlichkeiten bezogen werden könne, welche entweder
zur Beglaubigung dienen, wie die notarielle oder gericht-
liche Form im allgemeinen, oder welche positiv vorge-
schrieben werden, um auf richterlichen Schutz Anspruch
machen zu können, wie die Schrift, oder im französischen
Rechte die Vollziehung der Ehe durch den Zivilakt".
Das Verkennen liegt eben darin, daß man diese beiden
Kategorien, aus welchen Förmlichkeiten vom Gesetz
gefordert werden3), gleichfalls und gleichmäßig behandeln,
will, während in ihnen gerade der konstitutive Unterschied
ruht.
Wird die Förmlichkeit gefordert, „um auf richter-
lichen Schutz Anspruch machen zu können", wird
also bei ihrem Mangel der Handlung, selbst im Falle des
Eingeständnisses derselben durch den Handelnden,
der Rechtszwang versagt, so ist es eine solche, die das
welcher ausdrücklich den Fall der Ratihabition ins Auge faßt,
der nachgewiesene Gedanke unzweifelhaft belegt.
1) Siehe hierüber unten § 10.
2) Siehe Bornemann, a. a. O., S. 17; Koch, Lehrbuch.
1, 131, und Temme, Handb. d. preußischen Rechtes, S. 19.
8) Wir sprechen nicht von zwei Arten der Förmlich-
keiten; denn dieselbe Förmlichkeit, z.B. die Schrift oder
die notarielle Form, kann vom Gesetz bald als bloße Be-
glaubigung (Beweis), bald als Bedingung des richterlichen
Schutzes der Handlung selbst, d. h. als Bedingung des Daseins
eines zivilen Willens überhaupt, gefordert werden. Aus wel-
chem dieser beiden Gründe das Gesetz sie fordert, darauf
kommt es an !
247
Gesetz als Requisit für das Dasein eines zivilen
Willens überhaupt hingestellt hat, und bei deren Mangel
sich daher nur der naturale Wille ohne Unterwerfung
unter zwangsweise Aufrechterhaltung verpflichtet hat, so
daß also nur eine, sei es in gewissen Fällen wirksame obli-
gatio naturalis, sei es eine überhaupt rechtlich wirkungslose
moralische Verbindlichkeit entstanden ist.
Wird die Förmlichkeit dagegen nur zur Beglaubi-
gung der Handlung, also qua Beweismittel derselben ge-
fordert, genießt also die Handlung, wenn sie zwar ohne
jene Förmlichkeit vollbracht, aber gerichtlich einge-
standen ist, den Zwangsschutz, so ist hierdurch be-
wiesen, daß nach der gesetzlichen Anschauung zur Zeit
der Handlung von Anfang an ein ziviler und sich in zwin-
gender Weise verpflichtender Wille beim Handelnden
vorhanden war, so daß bei einer Aufrechterhaltung von
einer Denaturierung desselben keine Rede ist. Indem jetzt
die Förmlichkeit bloß die Bedeutung hat, den Beweis
einer geschehenen Handlung zu erbringen, und einerseits
niemand ein erworbenes Recht auf den Nichtbeweis seiner
Handlung, andererseits der Gegner ein peremtorisches
und erworbenes Reckt hat, daß alles, was aus neuen
Gesetzen folgt, auch für ihn da sei (s. § 12), insofern
es nicht erworbene Rechte alteriert, so tritt die Zulässigkeit
des neuen Beweismittels jetzt unbedingt ein.
Das durchgreifende und untrügliche Kennzeichen aber,
ob eine Förmlichkeit vom Gesetz bloß qua Beweismittel
oder qua Requisit des zivilen Willens selbst gefordert wird,
liegt eben plann, ob die mangelnde Förmlichkeit durch
Eingeständnis der Handlung oder eventuelle Eidesdelation
ersetzt werden kann, oder selbst in diesem Falle der
Handlung der Rechtsschutz versagt bleibt.
Der § 17 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht
248
verwirklicht somit einen durchaus richtigen theoretischen
Gedanken, insoweit er die aus Mangel an B e g 1 a u -
b i g u n g s förmlichkeiten ungültige Handlung gültig sein
läßt, wenn sie nur den zurzeit des Streits vom Gesetz ge-
forderten Förmlichkeiten entspricht. Und nur seine höchst
ungenaue Terminologie ist zu tadeln, nach welcher auch
solche Ungültigkeiten mit eingeschlossen zu sein scheinen
können, welche das Dasein eines zivilen Willens selbst
ausschließen. Daß aber wirklich etwas von dem darge-
legten Unterschied dem Allgemeinen Landrecht vorge-
schwebt hat, ergibt sich gerade aus der Vergleichung mit
dem früher bezogenen § 43, Tit. 3, Teil I, wo bestimmt
wird, daß diejenige Handlung in der Folge niemals gültig
werden kann, welche „wegen Verabsäumung der gesetz-
mäßigen Form von Anfang an n i c h t i g war". Denn unter
Nichtigkeit einer Handlung wegen Verabsäumung der
gesetzlichen Form wird man immer nur die Nichterfüllung
solcher Formen verstehen können, welche vom Gesetz als
Bedingung des Daseins eines zivilen wirksamen Willens
hingestellt worden sind1).
Jetzt erst, nachdem gezeigt worden ist, wie auch die
scheinbaren Begebenheiten, auf welche neue Gesetze
nicht rückwirken dürfen, die durch das Famihenrecht ver-
mittelten Rechtstatsachen, besonders die Erbschaften,
und ebenso auch dolus, Zwang, Irrtum, negotiorum gestio,
Usukapion, Klagverjährung, nicht gtiaSe gebenheiten,
sondern nur um dessentwillen, weil sie individuelle
Willensaktionen darstellen, erworbene Rechte bil-
den und die Anwendung späterer Gesetze ausschließen
müssen, — jetzt erst kann davon die Rede sein, den von
x) Siehe die weitere Fortsetzung der obigen Untersuchung
im § 11.
249
uns im § 1 entwickelten Begriff der individuellen Willens-
freiheit als des alleinigen und wahrhaften Trägers des
Nichtrückwirkungsgedankens nachgewiesen und durchge-
führt zu haben. Noch im § 1 mußte es dem Leser schei-
nen, als sei das dort Entwickelte wenn auch richtig, doch
schlechthin unzureichend, weil es in einem unlösbaren
Widerspruch stehe mit der ebenso sehr durch alle Gesetz-
gebungen wie durch alles juristische Rechtsgefühl aner-
kannten Tatsache, daß auch auf viele bloße Begeben-
heiten und aus ihnen dem Individuum erwachsenden
Rechte, wie Erbschaft usw., Rückwirkung nicht stattfinden
dürfe. Erst nach dieser Auflösung dieser scheinbaren Be-
gebenheiten in ihre innere Natur war es möglich, jenen
Begriff als das waltende Gesetz der Sache zu erkennen und
zur Durchführung zu bringen. Nichts mußte daher bis jetzt
diese Erkenntnis so sehr hindern als die mangelnde Auf-
lösung jener Begebenheiten. Es zeigt sich dies beispiels-
weise recht deutlich an dem § 14 der Einleitung zum
Allgemeinen Landrecht, welcher ausdrücklich verordnet :
„Neue Gesetze können auf schon vorhin vorgefallene
Handlungen und Begebenheiten nicht angewendet
werden."
Praktisch ist dies insoweit ganz richtig, als es gewisse
Begebenheiten gibt, welche nicht unter die Einwirkung
neuer Gesetze gestellt werden dürfen, was eben den täu-
schenden Schein erzeugte, als seien alle Begebenheiten
dieser Einwirkung entzogen1). Theoretisch ist es sogar in
1) Auch hält daher das Allgemeine Landrecht selbst durch-
aus nicht daran fest, daß alle Begebenheiten der Einwirkung
neuer Gesetze entzogen sein sollen. So ist der Anfang einer
laufenden Verjährung bereits eine Begebenheit; zur indi-
viduellen Handlung eines Verzichtes (s. § 2 E.)
wird sie aber erst mit dem Ablauf der Frist. Nun soll aber
250
bezug auf jene, von denen dies wirklich gelten muß, ganz
falsch. Denn es gilt auch von ihnen nur, weil diese Be-
gebenheiten eben ihrer innersten rechtlichen N a -
t u r nach nicht Begebenheiten, sondern eigeneWillens-
a k t i o n e n darstellen. Dieses theoretische Selbstmißver-
ständnis mußte aber wiederum auch praktisch zu ganz fal-
schen Folgen führen, indem nun alle Begebenheiten, und
auch bei den Handlungen nicht bloß das, was der eige-
nen Willensaktion, sondern auch das, was lediglich den
Handlungen Dritter entflossen und somit für das Indivi-
duum wirklich eine bloße Begebenheit war, im Wider-
spruch mit dem eigenen Gedanken unter demselben Ge-
setze der Nichtrückwirkung zu stehen schien.
Dies ist jedoch nicht etwa infolge jenes Paragraphen
des Allgemeinen Landrechts unter diesem Gesetzbuch mehr
als anderwärts der Fall, findet vielmehr in ganz demselben
Maße bei den römischen und französischen Juristen statt,
in deren Gesetzbüchern nicht, wie im § 14 des Allgemeinen
Landrechts, noch außer den Handlungen die Begeben-
heiten als der Einwirkung neuer Gesetze entzogen auf-
geführt waren. Der Grund hiervon ist der sehr natürliche,
daß der § 14 hierin nicht eine neue Lehre schuf, sondern
nach dem Allgemeinen Landrecht, wenn die Verjährung nur
zu laufen angefangen hat, d. h. wenn erst die bloße B e -
gebenheit eingetreten ist, das neue Gesetz zur Anwendung
kommen, auch z. B. in bezug auf die Frage, ob Verjährung
dieses Anspruches, obgleich sie bereits begonnen, überhaupt
zulässig sei (vgl. Publikationspatent vom 5. Februar 1794,
§ 17). — Ebenso stellt es auch eine Begebenheit dar,
wenn bei einer Handlung eine Form versäumt worden ist,
und dennoch soll nach § 17 des Allgemeinen Landrechtes
das neue, diese Form nicht mehr erfordernde Gesetz dann
zur Anwendung kommen und das Schädliche dieser Begeben-
heit beseitigen usw.
251
nur der allgemein juristischen, unter römischen
wie französischen Rechtslehrern bis zum heutigen Tage
ganz ebenso gäng und geben Auffassung, die besonders
durch die scheinbar reine Begebenheiten darstellenden In-
stitute der Erbschaft, der Quasikontrakte und der Ver-
lährung entstanden ist, Ausdruck gegeben hat.
Wir sagten soeben, daß auch die falschen praktischen
Folgen den Gesetzgebungen und Juristen nur im Wider-
spruch mit dem eigenen Gedanken zugestoßen seien. —
In der Tat, der Begriff, den wir als den alleinigen Träger
des Rückwirkungsverbotes nachgewiesen haben und weiter
nachweisen werden, ist nicht in dem Sinne neu, daß hier
zum erstenmal nach demselben verfahren würde. Wäre er
in diesem Sinne neu, so wäre er eben deshalb auch
ganz unbedingt falsch! Wir behaupten vielmehr,
und müssen dies behaupten, wenn wir eine wahre
Theorie aufstellen wollen, daß von Theodosius bis auf
Savigny kein Gesetzgeber und kein Jurist über dieses
Thema gedacht, verordnet und geschrieben hat, ohne daß
der hier entwickelte Begriff das in ihm operie-
rende und tätige Moment gewesen wäre. Wir glauben dies
schon bis hierher durch die Betrachtung der bisherigen
Masse von empirischem Gesetzesstoff und juristischen
Entscheidungen zu klarem Nachweis gebracht zu haben,
und werden im Verlauf diesen Nachweis immer mehr er-
weitern und schärfen. Neu ist der hier entwickelte Be-
griff nur in dem Sinne, daß er hier zum erstenmal zum
Erkennen seiner selbst gelangt ist und somit erst aus dieser
seiner für sich selbst erlangten Durchsichtigkeit die sich
durch den gesamten Rechtsorganismus hindurchführende
adäquate Ausführung seiner selbst, die systematische Theo-
rie oder Lehre, erzeugen kann. — Alle Formeln, welche
früher von Autoren über diesen Gegenstand aufgestellt
252
worden, sind diesem Begriff entflossen und haben hierin
den Grund ihrer relativen Richtigkeit, sowie sie zugleich
in ihrem Nichterschöpfen des Begriffes, aus dessen Wirk-
samkeit sie hervorgingen, auch wieder den Grund ihrer
großen praktischen Unrichtigkeit haben. Auch trat hierbei
wieder jenes allgemeine begriffliche Gesetz ein, daß, je
mehr die Verstandesvorstellung in ihrem ahnenden Ver-
hältnis sich dem spekulativen Begriff nähert, sie ihn um
desto mehr wieder von der anderen Seite verfehlt
und somit um so größere Unrichtigkeiten hervorbringt. So
berichtet Bergmann (a. a. O. S. 57) : „Einige sagen in
Beziehung auf die allgemeine Idee von dem Schutz er-
worbener Rechte : es sei nur bei Verträgenund Erb-
schaften von erworbenen Rechten die Rede, ohne
dafür besondere Gründe zu nennen", und er be-
zieht sich dafür auf Blanchard zu Maleville, zu Art. 384
des Code Nap. Hier war also ein Unterschied zwischen
konventionellen und legalen Rechten angenommen
worden und nur bei ersteren die Rückwirkung ausgeschlos-
sen. Allein erstens hieß das überhaupt nichts, ohne, wie
Bergmann mit recht tadelnd hervorhebt, besondere Gründe
dafür zu nennen, und diese wären wieder nur durch die im
§ 1 gegebene, diese Behauptung selbst ganz aufhebende
und umwandelnde Begriffsentwickelung zu erbringen ge-
wesen. Zweitens mußte die Gleichsetzung der Erb-
schaften mit den konventionellen Rechten, statt
mit den legalen, unbegreiflich erscheinen ; eine Gleichset-
zung, die zu ihrer Begreiflichkeit und ihrer Durchführung
nichts Geringeres bedarf als jene Ausführungen, welche
den Inhalt unseres zweiten Bandes bilden werden. Drit-
tens mußten dann die durch das Familienrecht vermittelten
Rechte, z. B. das Reichsbürgerrecht (s. oben S. 163), die
Repräsentation und ebenso die condictio indebiti, die nego-
233
tiorum gestio, die Verjährung usw., als nicht auf einen
Vertrag sich stützend, für nur legale Rechte und dem
Einwirken neuer Gesetze unterworfen gelten, und es hätten
sich also hieraus die praktisch verderblichsten Irrtümer
entwickeln müssen. Viertens ist überhaupt der Begriff
konventioneller Rechte ein schiefer. Denn da hier-
mit nur solche, die durch Verabredung entstanden, be-
zeichnet sind, so würden nicht einmal die durch bereits
angestellte Klage (s. § 3) ergriffenen, ursprünglich legalen
Rechte usw. vor der Rückwirkung geschützt sein.
Bergmann referiert daher weiter : „Andere sprechen nur
von Verträgen und stützen die Behauptung, daß wegen
einer in der Vorzeit liegenden Kontrahierung der ganze
Fortgang der daraus hervorgehenden Obligationen aus den
alten Rechtsnormen beurteilt werden müsse, darauf, daß
die Privatwillkür im voraus sich dem neuen
Gesetzeentzogenhabe," und nennt hierfür Pfeiffer,
S. 425 -1). Es ist wieder in diesen Worten das Hervor-
schimmern des Begriffes unverkennbar. Aber erstens wirft,
da hier sogar auch noch die Erbschaften weggelassen sind,
Weber (a. a. O., S. 41) mit Recht ein, daß hiernach auch
das gesetzliche Erbrecht, das jemand als suus heres schon
ipso jure erworben, nicht fortdauern dürfte, wenn ein neues
Gesetz die Erbfolge anders bestimmte. Zweitens gelten
hier wieder alle gegen Blanchard gemachten Einwürfe.
Drittens gilt endlich noch gegen Pfeiffer wie Blanchard
gemeinschaftlich, daß einerseits die Privatwillkür sich
durchaus nicht unbegrenzt im voraus späteren Gesetzen
entziehen kann, wie wir dies in § 7 bei den prohibitiven
Gesetzen sehen werden, und daß andererseits, wie sich
x) In der Zeitschrift ,, Germanien", von Crome und Jaup,
1810, Bd. 3, Heft 3, S. 411 fg., ein Aufsatz, dessen wir trotz
unserer Bemühung nicht haben habhaft werden können.
254
gleichfalls zeigen wird, auch abgesehen von Prohibitiv-
gesetzen und trotz aller über das ausschließliche Maß-
geben der Gesetze zur Zeit der Kontraktschließung zirku-
lierenden Formeln auch die Wirkung der Verträge durch
spätere Gesetze berührt werden kann, wenn die individuelle
Willensfreiheit dadurch nicht verletzt erscheint.
Es ist daher nur ganz begreiflich, wenn jene Unter-
scheidung von konventionellen und legalen Rech-
ten, trotzdem sie sich in intuitiver Weise dem Begriffe
sehr zu nähern scheint, dennoch, da sie denselben anderer-
seits wieder ganz verfehlt und in vollständige Divergenz
mit ihm gerät, von keiner Einwirkung auf die späteren
Rechtslehrer sein konnte, diese vielmehr, wie z. B. Savigny.
Bornemann usw., jene Unterscheidung nicht einmal
erwähnen, sich dagegen in anderer Weise der Natur
der Sache zu bemächtigen suchen und sie in Formeln
bringen, die einerseits sehr wie jene von dem wahrhaften
Begriff hervorgetrieben sind, als sie ihn andererseits, weil
er noch nicht zur spekulativen Selbstdurchsichtigkeit ge-
langt ist, ebenso sehr wieder verfehlen.
Aber diese Ahnung und innere Tätigkeit des hier
entwickelten Begriffes, welche durch die Lehre aller
Autoren, wie durch die praktischen Aussprüche aller Ge-
setzgeber hindurchgeht, ist selbst der beste Beweis für
seine Objektivität und Unwillkür, sowie für die Richtigkeit
auch jener notwendigen Folgerungen desselben, welche mit
den bisherigen Annahmen wegen der Verkümmerung und
festen Verfilzung. die jeder aus dem Begriff bloß hervor-
getriebenen und ihn nicht in seiner ganzen Reinheit ent-
haltenden Formel eigen ist, in entschiedenem Widerspruche
stehen müssen.
255
III. DER BEGRIFF
UND SEINE KONSEQUENZEN.
§ 3. Die nachträgliche Ergreifung. Rechts-
hängigkeit. Novation. Urteil und Vergleich.
Wir haben in § 2 nur den versteckten Umfang des
Begriffes dargelegt. Jetzt erst gehen wir dazu über, die
weiteren Folgen des Begriffes zu entwickeln.
Wenn Rückwirkung nur darin besteht und nur deshalb
ausgeschlossen ist, weil die individuelle Willensaktion des
einzelnen nicht nachträglich alteriert werden darf, so ist
es notwendig ganz gleichgültig, ob ein Recht ursprünglich
dem individuellen Willen entflossen, oder ob es zwar ur-
sprünglich ein lediglich durch das Gesetz gegebenes
war, dann aber von dem Individuum ergriffen und
verseinigt worden ist. Mit anderen Worten : auf be-
reits rechtshängige Sachen können neue, das frü-
here Recht aufhebende und modifizierende Gesetze nicht
einwirken.
Dieser Grundsatz unterliegt wieder gewissen, durch die
Natur des Begriffes selbst gesetzten Beschränkungen, die
erst in den §§ 7 fg. entwickelt werden können. Hier inter-
essiert zuvörderst nur der allgemeine Grundsatz selbst.
Die Richtigkeit desselben ist seit je herausgefühlt wor-
den, aber seine wahre Begründung, die erst in diesem
Zusammenhang hervortritt und hervortreten kann, war bis-
her unmöglich. So ist es nur eine ganz äußerliche und
haltlose Argumentation, wenn z. B. Bornemann (a.a.O.,
256
S. 6) denselben also begründet: „In Ermangelung einer
solchen (ausdrücklich-gesetzgeberischen) Bestimmung muß
die Rückwirkung als Ausnahme von der Regel an und
für sich auf die engsten Grenzen, mithin auf noch
nicht rechtshängig gewordene Sachen be-
schränkt werden."
Der wahre Grund ist vielmehr der angegebene. Durch
die Einklagung bemächtigt sich das Individuum seiner bloß
legalen Rechte und setzt sie als die seinigen. Die
Klageanstellung macht deshalb das bloß aus den Gesetzen
fließende Recht zu einem dem Individuum durch seinen
eigenen Willen vermittelten, oder zu einem erwor-
benen. Die Zinsen werden zugebilligt vom Tag der
Klage. Die Einklagung stellt also eine individuelle, Rechte
erwerbende Willenshandlung dar, auf welche nicht mehr
und nicht weniger durch spätere Gesetze eingewirkt wer-
den kann als auf einen anderen freiwilligen Akt, z. B.
einen Vertrag, durch welchen ein Individuum sich
Rechte erzeugt.
Es ergibt sich aus dem Gesagten, daß es — mit Aus-
nahme eines erst in § 8 zur Sprache kommenden begriff-
lichen Unterschiedes — für die Ausschließung der neuen
Gesetze gleich sein muß, ob schon ein Urteil in der
Klage eingetreten ist oder nicht, daß also nicht in der res
iudicata, sondern schon in der Klageanstellung selbst das
durchschlagende Moment liegt und der Schutz der res
iudicata gegen spätere Gesetze nur auf demselben Grund-
gedanken beruht.
Savigny vermag bei seiner Theorie ebensowenig wie
Bornemann den wahren Grund von beidem zu entdecken.
Savigny sagt darüber (VIII, 510) : „Merk würdiger-
weise fügt das römische Recht für den Fall der (die
Rückwirkung) erweiternden Ausnahmegesetze eine Ein-
17 Lastalle. Ges. Schriften, Band IX. 257
schränkung hinzu, die also als die Ausnahme einer Aus-
nahme zu betrachten ist. Die ausnahmsweise vorgeschrie-
bene Rückwirkung soll nämlich nicht eintreten, wenn das
Rechtsverhältnis, worauf sie bezogen werden könnte, be-
reits durch Urteil oder Vergleich entschieden worden ist
(judicatum vel transactum). Diese Einschränkung ist zwar
nirgends als bleibender allgemeiner Grundsatz ausge-
sprochen, sie wird aber in so vielen einzelnen Stellen des
römischen Rechtes übereinstimmend wiederholt, daß sie
unzweifelhaft als eine von den Römern allgemein aner-
kannte Regel betrachtet werden muß. Sie hat auch einen
inneren Grund darin, daß sowohl das Urteil als
der Vergleich das ursprüngliche Rechtsver-
hältnis umbildet, so daß nun an die Stelle des
Rechtsverhältnisses, worauf sich das neue Gesetz bezog,
eigentlich ein anderes getreten ist. — Unter dem Urteil
aber ist hier nicht bloß ein rechtskräftiges zu verstehen,
sondern bei noch schwebendem Rechtsstreit auch schon ein
Urteil erster Instanz, wenn etwa während der Appella-
tionsinstanz das neue Gesetz erscheint."
Hierbei ist zweierlei hervorzuheben. Erstens, daß Sa-
vigny hier der bloßen Rechtshängigkeit, wenn noch gar
kein Urteil erfolgt ist, schlechthin keinen Schutz gegen
die Anwendung neuer materieller Gesetze einräumen zu
wollen scheinen könnte, was in sich falsch wäre und auch
mit der übereinstimmenden juristischen Lehre und Praxis
in völligem Widerspruch stehen würde. Zweitens : wenn
Savigny als den inneren Grund der Sache zugibt, daß so-
wohl Urteil als Vergleich das ursprüngliche Rechts -
verhältnis umbilden, so ist zu fragen : worin denn
aber diese Umbildung bestehe? Und hierauf läßt sich
eben nur die im allgemeinen für Urteil, Vergleich und
Klageanstellung gleichmäßig gültige Antwort geben : sie
258
bestehe in der Umwandelung von an sich vorhandenen
Rechtsverhältnissen, die auch bloß dem Gesetz entflossen
sein können, in solche, die durch individuelle Wil-
lensaktion und Handlung erworben und be-
stimmt sind, so daß es hiernach auf ihre ursprüng-
liche Beschaffenheit gar nicht mehr ankommt.
Hieraus ergibt sich auch beiläufig, inwiefern man in
der Litiskontestation und wieder im Urteil wirklich eine
Novation zu behaupten vermag und inwieweit Justinian
mit recht sagt : ,,Si enim novatur judicati actione prior con-
tra ctus" usw. -1).
1) L. 3 C. de usur. rei jud. (7, 54). Bekanntlich hat sich
Savigny (System, VI, 24 fg., 307 fg.) mit großer Bestimmt-
heit gegen die Annahme einer Novation durch Litiskontestation
oder Urteil erklärt, nachdem er früher (V, 325) selbst eine
solche darin erblickt hatte, und in der oben angeführten Stelle
des achten Bandes doch wieder eine Umbildung darin erblickt,
die ihrem Gedanken nach auf eine Novation im obigen Sinne
hinausläuft.
Die Savignysche Annahme, daß die Kraft der res judicata
auf der Fiktion der absoluten Wahrheit beruhe, reicht nur
für Strafurteile hin und ist nur für diese richtig. Sollte
sie auch für die Zivilurteile gelten, so müßte dann auch bei
diesen, wie dies von den Straf urteilen später nachgewiesen
werden wird, bei einer Abschaffung der Gesetze, auf deren
Grundlage doch diese Fiktion beruht, entweder von selbst die
Folge eintreten, oder doch dem Gesetzgeber mindestens die
Befugnis zustehen, die Hinfälligkeit der auf den abgeschaff-
ten Gesetzen beruhenden rechtskräftigen Urteile zu verfügen
(vgl. § 12). Ganz auf der Hand liegend wäre dies jedenfalls
bei interpretierenden Gesetzen, die ja rückbezogen wer-
den sollen, und durch die also entgegenstehende rechtskräftige
Urteile, die jetzt ja zur erwiesenen Unwahrheit geworden
sind, außer Kraft gesetzt werden müßten, wenn sie auf der
Fiktion der absoluten Wahrheit beruhten.
Bei dem Zivilurteil kann dies aber nicht eintreten, weil seine
17- 259
Es ergibt sich ferner hieraus die begriffliche Ursache,
weshalb auch auf Vergleiche nicht durch spätere Ge-
setze eingewirkt werden darf und weshalb Justinian mit
Recht Vergleich und Urteil immer zusammen er-
wähnt und, sie wie Dinge identischer Natur behandelnd,
mit denselben stereotypen Formeln der von ihm verord-
neten sofortigen Anwendung neuer Gesetze zu entziehen
pflegt, z. B. L. 17 C. de fide instrum. (4, 21): ,,nisi
jam super his transactumsit veljudicatum,quae retractari
non possunt," oder L. ult., C. de legit. her. (6, 58) : ,,Si
qui autem casus jam evenerunt et per juditialem sententiam
vel amicalem transactlonem sopiti sunt nullam sentiant ex
hac lege retractationem etc."
Es kann durch den Vergleich das Individuum eine
Leistung oder Verpflichtung auf sich genommen haben, zu
der es nach den neuen Gesetzen keineswegs verpflichtet war,
und diese wären ihm zugute gekommen, wenn es gewartet
hätte. Es hatte auch nicht die Absicht, die Gegenpartei
durch die Einräumungen im Vergleich zu bereichern, son-
dern im Gegenteil die Rechte derselben auf das nach dem
damaligen Gesetz möglichst geringe Maß herabzusetzen.
Aber es ist von ihm selbst gehandelt, eine bloß durch
das Gesetz vorhandene und darum mit dem Gesetz vor-
übergehende Verpflichtung durch eigene Selbstbestimmung
konfirmiert und als das Recht des andern gesetzt worden,
und diese beiderseitigen individuellen Handlungen
können nun durch kein späteres Gesetz zerstört werden.
Es ist ersichtlich, wie sich durch die Ausführungen
dieses Paragraphen die Nichtalteration individueller Wil-
Kraft vielmehr auf der Fiktion eines Vergleiches, auf der
durch den individuellen Willen selbst gesetzten
Schlichtung beruht.
260
lensaktionen als der einzige und wahrhafte Träger des
Rückwirkungsgedankens von neuem bestätigt. Denn bloß
dieser und kein anderer Unterschied wird zwischen den
bloß gesetzlich einklagbaren und bereits eingeklagten Rech-
ten zu entdecken sein und ihrem gleichwohl so verschie-
denen Verhältnis zu der Einwirkung neuer Gesetze.
§ 4. Das Optionsrecht.
Wenn es schlechthin gleichgültig bleiben muß, ob das
Recht von vornherein durch die individuelle Willensaktion
konstituiert ist, oder ob es ursprünglich aus dem Gesetze
stammt und das Individuum es, nachträglich zu ihm heran-
tretend, durch seine Ergreifung zu einem durch seine indi-
viduelle Willensaktion gesetzten Recht und somit fest und
erworben macht, so erhellt hiermit zugleich, daß diese Er-
greifung durchaus nicht bloß in dem im vorigen Paragraph
betrachteten Fall der prozessualischen Klageanstel -
1 u n g , sondern daß sie eben in jeder Handlung vor-
liegt, durch welche das Individuum ein gesetzliches Recht
als das seinige setzt. Jedes vom Gesetz übertragene bloß
fakultative, jedes Optionsrecht wird also in
strenger Konsequenz des Entwickelten erst durch die wirk-
lich eingetretene Wahlhandlung des Individuums zu
einem erworbenen, und kann ihm bis zu der geschehenen
Wahl durch Gesetzgebungswechsel ohne jede Rückwirkung
entzogen werden.
Diese Folgerung des Begriffes ist besonders dem juri-
stischen Gefühl der Franzosen zum deutlichen Bewußtsein
gekommen, vgl. z. B. Merlin, Rep. de Junspr., v° Effet
retr., Sect. II, § 1, V, 537: „Mais tel (d. h. ein droit
acquis) n'est jamais un droit purement facultatif ä moins
qu'il n'ait ete exerce et que par Vexerclce qui en a ete fait,
la chose qui en est l'objet, ne soit devenue notre pröpriete.
261
,,En effet, il en est des facultes accordees par la loi,
comme des facultas accordees par les individus. Tant que
celles-ci ne prennent pas le caractere de droits, elles sont
toujours et essentiellement revocables : Or, le legislateur ne
contracte jamais lorsqu'il accorde une faculte ; il permet,
mais il ne s'oblige pas ; il conserve donc toujours le pouvoir
de retirer sa permission; et ceux ä qui il la retire avant
qu ils en aient fait usage, n'ont aucun pretexte pour s'en
plaindre."
Aber indem dieser im allgemeinen ganz richtige Gedanke
sich den Franzosen ohne die theoretische Begründung, als
deren Folgerung er sich uns ergeben hat, aufdrängt, treibt
er sich ihnen einerseits bis zur Einseitigkeit und Unwahr-
heit (siehe z. B. oben S. 147), andererseits bleibt er ihnen
deshalb, statt sich zu dem die gesamte Materie beherrschen-
den Begriff fortzuarbeiten, als eine bloße Formel neben
anderen Formeln stehen und führt sich deshalb nicht ein-
mal zu seinen nächstliegenden Konsequenzen fort (s. z. B.
§ 5), und drittens wird er endlich deshalb auch ausdrück-'
lieh wieder von ihnen aufgehoben, wie z. B. derselbe Mer-
lin, a.a.O., S. 551 fg., sagt, daß es auch solche Rechte
(droits acquis) gebe, mit denen „la loi elle-meme m'ait in-
vesti et me i alt confere purement et simplement et sans
y attacher la condition que je ne Vacquerrais que par
Vexercice que j'en ferais," ohne daß dies mit dem Vorigen
irgendwie auszusöhnen und in innere Übereinstimmung zu
setzen versucht wird.
§ 5. Das Einspruchsrecht.
Es ergibt sich daher nunmehr als eine notwendige Folge
des Begriffes, daß jedes Recht des Einspruches gegen
eine Handlung oder einen Vertrag, welchen das Gesetz
Dritten einräumt — natürlich falls dadurch nicht o h n e-
262
hin selbständig erworbene Rechte dieser Dritten, z. B.
der Gläubiger, beeinträchtigt werden — , durch ein dieses
Einspruchsrecht aufhebendes Gesetz auch in bezug auf die
schon früher geschlossenen Verträge beseitigt ist, ohne
daß deshalb von Rückwirkung irgend die Rede sein kann.
Die formelle Regel, daß Verträge in jeder Hinsicht
nur nach dem Gesetz zur Zeit ihrer Schließung zu be-
urteilen sind, wird also hier irrig und m u ß es werden,
weil sie hier mit dem wahren begrifflichen Grund-
gedanken, dem sie entflossen, in Widerspruch tritt.
Der Grund ist einfach. Die vertragschließenden Indi-
viduen können durch keine Fiktion so angesehen wer-
den, als wenn sie selbst hätten den Dritten still-
schweigend das Recht stipulieren wollen, gegen
ihre eigene Willenserklärung anzugehen. Ebensowenig
ist von den Dritten selbst gehandelt und durch
Willensaktion etwas erworben worden. Das Recht der
Dritten auf Einspruch ist daher nicht wie die anderen
Wirkungen des Kontraktes durch die individuelle Willens-
freiheit gesetzt, sondern stammt lediglich aus dem
Gesetz als solchem und geht somit mit diesem vorüber.
Merlin hat also Unrecht und widerspricht den eigenen
Konsequenzen des von ihm, wie wir in § 4 sahen, ein-
geräumten Grundsatzes, vertritt aber gleichwohl nur die
bei französischen wie deutschen Autoren ganz allgemein
herrschende Theorie, wenn er z. B., die Ehe betrachtend,
sagt : ein neues Gesetz könne nicht durch seine alleinige
Kraft eine Ehe gültig machen, welche im Augenblick der
Gesetzesverkündung nach dem Gesetz zur Zeit ihrer
Eingehung ungültig war1), wobei er nämlich ausdrücklich
!) A. a. O., Sect. III, § 2. Art. 5, V, 543: „Une loi
nouvelle ne peut pas valider immediatement, et par sa scule
puissance, un manage qui au moment de sa publication se
263
voraussetzt, daß die Klage auf Nichtigkeit der Ehe nicht
nur für die Ehegatten selbst, sondern auch für die Drit-
ten, nach dem früheren Gesetz hierzu Berechtigten, ein
erworbenes Recht bilde1).
Dies ist also in bezug auf die Dritten2) nicht der
Fall, und so kann denn allerdings insofern ein Kontrakt,
welcher nach dem Gesetz zur Zeit der Schließung durch
das Einspruchsrecht eines Dritten ungültig und wirkungs-
los gewesen wäre, durch ein späteres Gesetz validiert
werden. Betrachten wir den Fall der mangelnden väter-
lichen Einwilligung. Nach §§ 972, 973, Tit. 1, T. II des
trouve, d'apres la loi sous laquelle il a ete celebre, entache
de vices qui en emportent la nullite ; et si eile le f aisait, eile
retroagirait manifestement, eile ravirait un droit acquis ; rien
ne pourrait la justifier."
*) Denn er fährt nach den angeführten Worten fort: „Mais
eile peut sans retroagir subordonner la recevabilite de Vactiow
en nullite de mariage qui est acquise .soit aux deux epoux,
soit ä Tun deux, soit ä des tiers, avant sa publication, ä des
diligences dependantes de leur volonte, et declarer qu'ä defaut
ohne weiteres nehmen, und nimmt es ihnen in der Tat dadurch
des ces diligences, leur action ne sera plus recevable." Das
Gesetz kann diesen Dritten das Einspruchsrecht vielmehr
allein, daß es ein solches Recht nicht mehr anerkennt, auch für
die schon geschlossenen Ehen.
9) Natürlich hat das Obige keine Anwendung z. B. auf den
Fall des § 936, Tit. I, T. II des Allgemeinen Landrechtes,
oder Art. 147 des Code Napoleon, wo jemand bei noch be-
stehender erster Ehe eine zweite schließt. Freilich ist der
Gatte aus der ersten Ehe für diesen zweiten Ehekontrakt auch
ein Dritter ; aber sein Einspruchsrecht ist vermittelt durch seine
eigene individuelle Handlung — seine eigene unter diesem Ge-
setz geschlossene Ehe — ; es ist also nur die Folge seines
ohnehin selbständigen erworbenen Rechtes, und es liegt
somit einer jener Fälle vor, die wir bereits bei Eingang dieses
Paragraphen von demselben ausgeschlossen haben.
264
Allgemeinen Landrechtes können (vgl. §§ 994, 995 das.)
nur diejenigen, welche das Ehehindernis zu rügen berech-
tigt sind, also z. B. der Vater die wegen Mangels seiner
Einwilligung ungültige Ehe als nichtig aufheben lassen.
Hier hat also der Heiratende ebensowenig wie der Vater
ein erworbenes Recht auf die Aufhebung der Ehe.
Dem Vater steht dies Recht nur aus dem Gesetze zu1);
dem Heiratenden selbst steht dies Recht auf Nichtigkeit
der Ehe gar nicht als Recht zu; er kann es nicht gel-
tend machen. Nur als faktische Folge kann diese
Nichtigkeit für ihn eintreten und nicht eintreten, je nach
dem von ihm unabhängigen Willen eines Dritten,
des Vaters, der also für den Handelnden statt zu seiner
eigenen Willensaktion zu gehören, nur die Natur eines
äußeren Umstandes hat. Indem so der Handelnde
sich selbst in die Lage gebracht hat, die Validierung oder
1) Denn hier kann natürlich die Fiktion, daß um der im
Familienrecht herrschenden Identität willen (§ 2 A.) das Ein-
spruchsrecht der Eltern als durch ihre eigene Willensaktion
erworben angesehen werden müsse, nicht zur Anwendung kom-
men. Diese allgemeine Fiktion beruht ja gerade auf der ge-
setzlichen Unterstellung der Willensidentität dieser Per-
sonen. Dieselbe auf den Fall anwenden, wo der Sohn gegen
den Willen des Vaters heiratet, und also sagen, daß der Sohn
durch seinen Willen als einen mit dem des Vaters iden-
tischen letzterem das Recht auf Negation dieses seines
Willens erwirbt, würde eine contradictio in adjecto bilden ; denn
es würde heißen in die logische Monstruosität verfallen, den
Willen der beiden Personen zu gleicher Zeit als identisch
und als sich entgegengesetzt zu behandeln, und jene
Rechtsfiktion somit zum absoluten sich selbst zerstörenden
Widersinn treiben. Hier ist also einer jener Fälle, wo der römi-
sche Grundsatz zur Anwendung kommt : fictio cedit veritati, und
jenes Einspruchsrecht des Vaters ist daher nur ein Ausfluß
der ihm vom Gesetz verliehenen väterlichen Gewalt.
265
Invalidierung seiner Ehe von einem seinem Willen frem-
den Umstand abhängen zu lassen, der nicht einmal die
Natur einer Bedingung hat, da seine resolutorische Wir-
kung vom Handelnden selbst nicht geltend gemacht wer-
den kann, ist hier von einem Erworbensein überhaupt
nicht die Rede, und der Handelnde kann sich ebensowenig
über Denaturierung seiner Handlung, also über Rück-
wirkung beklagen, wenn das Gesetz, an Stelle des Vaters
tretend, den Konsens dadurch erteilt, daß es die Nichtig-
keitsklage dem Vater entzieht, als wenn der Vater von
selbst die Ungültigkeit nicht gerügt hätte, oder etwa noch
innerhalb der Frist gestorben und durch dieses Ereignis
die Ehe validiert worden wäre.
Etwas verschieden verhält es sich bei dem Art. 182
des Code Nap. insofern, als dieser bei dem Mangel der
väterlichen Einwilligung nicht nur dem Vater, sondern
auch demjenigen Gatten, der dieser Einwilligung benötigt
war. das Recht gibt, auf Nichtigkeit der Ehe zu klagen.
Durch ein die Notwendigkeit der väterlichen Einwilligung
aufhebendes Gesetz wird hier folgendes eintreten müssen.
Der Vater hat hier, wie gezeigt, durch das neue Gesetz
das Recht verloren, gegen den Willen des Sohnes
auf die Nichtigkeit seiner Ehe zu klagen, denn für ihn ist
dies Recht niemals ein erworbenes gewesen. Der Sohn
selbst aber könnte, da für ihn dies Recht als ein durch
seine eigene Handlung stillschweigend gesetztes erscheint,
auch nach wie vor dem neuen Gesetz, solange er nur in
der Frist ist, auf Nichtigkeit klagen, insofern hier nicht
andere Grundsätze in Betracht kämen, die erst im § 10
begrifflich entwickelt werden können.
Ebenso ist nun klar, daß, wenn der Art. 184 des Code
Nap. außer den Gatten selbst auch noch allen dabei inter-
essierten Dritten und dem öffentlichen Ministerium das
266
Recht gibt, wegen nicht hinreichenden Alters oder ver-
botener Verwandtschaftsgrade auf Nichtigkeit einer Ehe
zu klagen, diesen Dritten und ebenso dem öffentlichen
Ministerium durch gesetzliche Aufhebung dieser Ehe-
hindernisse das Klagerecht entzogen wäre.
Es ist gleichfalls eine Folge und Bestätigung des in
diesem Paragraphen entwickelten Prinzips, daß das statu-
tarische Wiederkaufsrecht — der retrait lignager — , wel-
ches in dem alten französischen Gewohnheitsrecht, wie im
Allgemeinen Landrecht, T. II, T. 4, § 227fg., denVer-
wandten des Verkäufers eines Grundstückes zustand
und sie berechtigte, sich dem Ankäufer subrogieren zu
lassen, in den Fällen, wo es noch nicht durch Handlungen
der Verwandten ausgeübt und hierdurch erworben wor-
den war, durch den dies Recht nicht mehr anerkennenden
Code Nap. als beseitigt gelten mußte, worüber bei den
französischen Autoren kein Streit obwaltet (vgl. Meyer,
Questions transit., S. 194fg., Merlin, a. a. O., S. 566fg.).
§6. Neue Willensäußerungen. Fristen. Um-
änderung von Pfandrechten ; von Testamenten.
Rückkauf. Emphyteuse. Rentenkontrakt.
Widerruf von Schenkungen. Unterschiede.
Wenn nun lediglich die Aufrechterhaltung der
individuellen Willensfreiheit den alleinigen
Träger des Nichtrückwirkungsgedankens bildet, so ergibt
sich hieraus eine Folgerung, welche, hart an die Aufhebung
dieses Begriffes anstreifend, ihn dennoch gerade am klar-
sten als das wahrhafte Gesetz der Sache darlegt.
Es werden dann nämlich spätere Gesetze auch er-
worbene Rechte, auch geschlossene Verträge und ihre
Wirkungen in bedingter Weise ändern und zerstören
können, wenn sie nur die Aufrechterhaltung dieser
267
Rechte von einer solchen Bedingung abhängig machen,
deren Erfüllung lediglich in dem freien Willen
des berechtigten Individuums gelegen ist.
Es ist nach dem entwickelten Begriff evident, daß sich
das Individuum dann nicht über eine Denaturierung seiner
Handlung, über eine Verletzung seiner Willensfreiheit be-
schweren kann, wenn die Aufrechterhaltung derselben doch
wieder nur seinem alleinigen Willen anheimgegeben ist.
Da die Bedingung, welche dem Individuum zur Aufrecht-
erhaltung zugemutet wird, nur darin besteht : seinen
Willen zu setzen, respektive noch einmal zu
setzen, so muß vielmehr die Zerstörung seines er-
worbenen Rechtes, die das Gesetz aus der Nichterfüllung
dieser Bedingung folgen läßt, als ein freiwilliges
Aufgeben seines Rechtes, nicht als eine gewaltsame
Änderung seines Willens, erscheinen.
Hieraus folgt also, daß ein neues Gesetz, ohne Rück-
wirkung zu begehen, vorschreiben kann, die Form von
schon früher geschehenen und damals gültigen Handlungen,
falls dies noch möglich ist und nur von dem Willen des
berechtigten Individuums abhängt, zu ändern, um die Hand-
lung als gültig zu erhalten ; daß ein Gesetz Fristen zur
Wahrnehmung von erworbenen Rechten einführen und re-
spektive vorhandene abkürzen kann, bei deren Nichtwahr-
nehmung die erworbenen Rechte verfallen sein sollen ; daß
es den Fortbestand eines kontraktlichen Rechtes von der
Vollbringung formeller Handlungen, z. B. der Inskription,
abhängig machen kann, die nur im Willen des Berech-
tigten liegen ; daß es sogar in den unmittelbaren Inhalt
eines Vertragsverhältnisses eingreifen kann, wenn nur immer
dies beobachtet wird, daß die Abänderung oder Ent-
ziehung des Rechtes durch den bloßen Willen des
Berechtigten verhindert werden kann.
268
Ist dies richtig, so zeigt sich hier, daß auch die Formel,
welche viele über die Rückwirkung aufstellen, daß näm-
lich vollbrachte Tatsachen (faits accomplis) von
neuen Gesetzen nicht berührt werden dürfen, abgesehen
davon, daß sie ganz unzureichend, auch nicht richtig
ist. Denn vollbrachte und bisher für sich allein vollkommen
gültige und wirksame Tatsachen werden hier ohne Rück-
wirkung zerstört und geändert, wenn die Bedingung der
neuen Willensaktion nicht erfüllt wird.
Es zeigt sich ebenso, daß auch der Kontrakt a 1 s
solcher durchaus nicht bloß durch das Gesetz zur Zeit
seiner Schließung regiert wird, wie die gewöhnlichen
Formeln besagen, sondern daß auch in ihm, wie in der
ganzen Sphäre des Rechtes, nichts anderes der verändern-
den Einwirkung späterer Gesetze entzogen wird und zu
entziehen ist, als der Begriff der individuellen
Willensfreiheit.
Daß vom Gesetz zur Aufrechterhaltung des früher
schon in genügender Form gesetzten Willens eine neue
Willensaktion gefordert wird — dies wird niemand für
Rückwirkung ausgeben können. Denn dies würde heißen
das positive Recht des Staates bestreiten wollen, Lei-
stungen des Individuums als Bedingung des
Zivilschutzes und seiner Forterhaltung zu for-
dern, ein Recht, welches ihm also ebensoviel die Befug-
nis gibt, im Interesse z. B. der Unzweifelhaftigkeit des
letzten Willens oder der Konformität der Pfandrechte,
oder der größeren Sicherheit und schnelleren Klarlegung
der Rechtsverhältnisse eine nochmalige Erklärung des
letzten Willens in geänderter Form, oder eine neue hypo-
thekarische Inskription in bestimmter Weise, oder eine
schnellere Darlegung des Willens, seine Rechte zu wahren.
d. h. eine Klageanstellung in kürzeren Fristen, zu be-
269
gehren. Und indem sich alle diese Forderungen in bloße
Willensäußerungen auflösen, das Individuum also
in bezug auf Erhaltung und Verlust seiner Rechte nur
von seinem eigenen Willen abhängig gemacht wird, kann,
wenn ohne hinreichenden Grund das Gesetz ihm die Last
auferlegt, zur Erhaltung seines Rechtes seinen Willen
nochmals an den Tag zu legen, dies unter Umständen
ein lästiges und schlechtes Gesetz sein, aber von einem
rückwirkenden, den individuellen Willen brechen-
den Charakter desselben kann keine Rede sein.
Wenn jetzt der theoretische Beweis für die entwickelte
Folgerung erbracht ist, so würde nun die Frage entstehen,
ob dieselbe nicht auch schon bisher in dem empirisch-
juristischen Stoff irgendwo anerkannt worden ist.
Merkwürdigerweise ist es nun gerade diese vom Begriff
hervorgetriebene Folgerung, welche seit jeher auf das viel-
fachste und unzweideutigste anerkannt worden ist, ohne daß
sie doch vermocht hätte, den Begriff der individuellen
Willensfreiheit, dem sie entsprungen und den sie als den
alleinigen Kern der Rückwirkungsfrage so scharf nach-
weist, zum Bewußtsein zu bringen. Davon war dann wie-
der die Folge, daß sie nicht zu den Konsequenzen fort-
geführt würde, die sie in sich trägt.
Ausdrücklich anerkannt wurde sie im § 16 der Ein-
leitung zum Allgemeinen Landrecht :
,,Soll nur die äußere Form einer Handlung ge-
ändert und diese Vorschrift bei allen noch a b -
zuändernmöglichen Handlungen beobachtet wer-
den, so muß das Gesetz hierzu eine hinlängliche Frist
bestimmt haben1)."
x) Mit Unrecht führt also Bornemann (a. a. O., S. 16)
diese Vorschrift unter folgender Vorausschickung an : „Der
Gesetzgeber kann zwar auch die rückwirkende Kraft eines
270
Unter dieser Bedingung also, daß die Abänderung dem
Individuum noch faktisch möglich ist und daß dazu
eine hinlängliche Frist gegeben wird, erblickt der preu-
ßische Gesetzgeber keine Rückwirkung dann, wenn selbst
die äußere Form der Handlung, die doch sonst ledig-
lich und allein unter dem Gesetze ihrer Zeit steht, zu
ändern vom Gesetz verlangt wird.
So wurden in den mehrfachen Fällen, in welchen die
preußische Hypothekenordnung an Stelle des bis dahin
geltenden gemeinrechtlichen Pfandrechtes gesetzt wurde,
die Pfandgläubiger aufgefordert, binnen einer bestimmten
Frist die Eintragung ihrer Forderungen in die neuen
Hypothekenbücher vornehmen zu lassen. Niemand hat
in dem Verlangen dieser neuen Inskription zur Erhaltung
eines bis dahin schon erworbenen und wirksamen Rechtes
eine Rückwirkung gesehen. Wohl aber wäre eine solche
in vollem Maße vorhanden gewesen, wenn den Pfand-
gläubigern nicht diese Eintragung innerhalb einer be-
stimmten Frist gestattet, oder wenn ihnen, insoweit ihnen
für die Konformierung ihrer Ansprüche keine Frist ge-
stellt wurde oder diese Beibringung der neuen Form
nicht mehr möglich war, ihre bisherigen Rechte nicht
erhalten geblieben wären1).
solchen (nämlich die Form von Rechtsgeschäften betreffenden)
Gesetzes anordnen." Es ist vielmehr, wie gezeigt, auch nicht
eine Spur von Rückwirkung darin !
*) Hieraus ergibt sich der große Irrtum, den Bornemann,
S. 22 fg., begeht, wo er in eine wahrhafte Rückwirkung ver-
fällt. In Übereinstimmung mit zwei Ministerialreskripten vom
13. Februar 1792 und 30. Mai 1801 (mit denen wieder das
Reskript vom 16. März 1787 als das richtige in Widerspruch
steht) hatte das Kammergericht in einem späteren Falle die
Umschreibung eines im Jahre 1744 eingetragenen und an den
letzten Inhaber zurückgezahlten Kapitals auf den Namen des
271
Es ist daher nur eine ausdrückliche Anerkennung un-
seres Prinzipes und des § 16 der Einleitung zum All-
Gutsbesitzers, der die Zahlung geleistet hatte, verweigert, weil
der letzte Inhaber sich nur durch eine außergerichtliche Privat-
zession vom 7. Dezember 1748 legitimieren und auch den
Übergang der Forderung an seine Vordermänner nur durch
solche Privatzessionen nachweisen konnte. Der Gutsbesitzer
klagte nun gegen den letzten Inhaber und dieser wurde in der
Tat rechtskräftig verurteilt, sich in einer bestimmten Frist als
Eigentümer des Kapitals in hypothekarischer Form zu
legitimieren ! Gedrängt durch Exekution und bei der Unmög-
lichkeit, die verlangte Legitimation nach Verlauf von mehr als
60 Jahren zu beschaffen, wandte sich der letzte Inhaber im
Jahre 1833 an den damaligen Justizminister mit der Bitte, die
Umschreibung des Postens ohne weiteres anzuordnen. Der Justiz-
minister kam diesem Antrage auch ganz sachgemäß in einer
richtig motivierten Ausführung nach (s. Bornemann, S. 21,
und Kamptz, Jahrb., Bd. 41, S. 525 fg.) und veranlaßte, um
den Widerspruch mit dem Reskript von 1801 zu erledigen,
einen allerhöchsten Erlaß vom 29. Mai 1833, in welchem
richtig bestimmt wurde, daß die Vorschriften der Hypotheken-
ordnung, § 60 fg., 199, 248 fg., auf früher errichtete Verträge
und einseitig ausgestellte Urkunden und deren äußere Form
keine Anwendung finden könnten. Ein ähnliches Reskript, in
bezug auf die wiedervereinigten Provinzen und das für sie
erlassene Patent vom 22. Mai 1815 nebst Instruktion vom
30. Mai 1815, erging unterm 14. August 1837, bestimmend,
daß auf Grund der unter der Herrschaft des gemeinen Rechtes
errichteten Privaturkunden, welche nach den damaligen Ge-
setzen in formeller und materieller Hinsicht zum Eigentums-
erwerb genügten und keine sichtbaren Mängel an sich trügen,
die Besitztitelberichtigung ohne weiteres erfolgen müsse.
Dem gegenüber ergreift nun Bornemann die Partei der älteren
Ministerialreskripte von 1792 und 1801 und erklärt die Aus-
führung des Justizministers in dem im Jahre 1833 erstatteten
Bericht für „nicht durchaus zutreffend". Seine Gründe sind
diese: Auch nach preußischen Gesetzen genügten bloße Privat-
urkunden als causa praecedens des Erwerbes von Sachen und
272
gemeinen Landrecht, wenn der preußische Gesetzgeber in
den transitorischen Patenten für diejenigen Provinzen,
Rechten. Nur nicht für hypothekarische Eintragung ohne wei-
teres. Hierzu bestimme vielmehr die Hypothekenordnung, daß
solche Privaturkunden dem Aussteller zuvörderst zur Aner-
kennung vorgelegt werden sollten. „Wenn nun," sagt Borne-
mann, „die älteren Reskripte vorschreiben, daß diese Bestim-
mung auch auf die unter der Herrschaft des gemeinen Rechtes
errichteten Urkunden anzuwenden sei, so wird dadurch der
Hypothekenordnung keine rückwirkende Kraft beigelegt. Denn
die formelle Gültigkeit dieser Urkunden bleibt unbe-
rührt. (!) Es soll ihnen nur in bezug auf eine Einrichtung,
welche dem gemeinen Rechte fremd ist und auf welche dasselbe
daher nicht einwirken kann, keine mehrere Kraft beige-
legt werden als den unter der Herrschaft des preußischen
Rechtes errichteten Urkunden derselben Art. Meines Erachtens
entsprechen die älteren Reskripte daher der strengen Anwen-
dung des allgemeinen Grundsatzes über die zeitlichen Grenzen
der Herrschaft der Gesetze."
Aber dieser Scharfsinn ist ein in hohem Grade sich selbst
verwirrender. Die einzige Frage, die in dem Falle überhaupt
zu untersuchen war, ist lediglich die, ob nach dem damaligen
gemeinen Recht die Privatzession vom 7. Dezember 1748 die
grundbücherliche Forderung mit voller Wirksamkeit übertrug
(und zur grundbücherlichen Umschreibung berechtigte). Dies
bestreitet Bornemann nicht, und somit ist die Frage entschie-
den. Denn daß auch die preußischen Gesetze Privaturkunden
zur hypothekarischen Eintragung zulassen, aber nur nachdem
der Aussteller zuvor rekognosziert hat, kann keinen Einfluß
üben und macht den Fall gar nicht anders stehen, als er stünde,
wenn das preußische Gesetz gar keine Privaturkunde, son-
dern nur notarielle zur Eintragung zuließe. Das preußische Ge-
setz kann für die unter seiner Herrschaft errichteten Urkunden
vorschreiben, daß, um bestimmte Arten von Wirksamkeit
zu haben, Urkunden bestimmte Formen beobachten müssen,
z. B. gerichtliche oder notarielle Form, oder die Form der
Rekognoszierung. Bei Nichtbeobachtung dieser Formen kann
es ihnen alle oder doch gewisse Wirksamkeiten versagen. Wer
18 LawallB. G«. Schriften, Band IX 273
welche bis dahin unter französischem Rechte gestanden
hatten und wo somit olographische und notarielle Testa-
mente gültig gewesen waren, in dem Bestreben, die Veri-
tät und Unanfechtbarkeit der letztwilligen Verordnungen
somit unter preußischem Gesetz eine Privaturkunde empfängt,
weiß und unterwirft sich dem mit Freiheit, daß er zur Ein-
tragung die Rekognoszierung des Ausstellers nachsuchen muß.
Wenn aber die frühere Privatzession einmal das volle Recht
auf die grundbücherliche Eintragung, an deren Stelle das
neue Hypothekenwesen getreten war, ohne Rekognoszierung er-
teilte, so konnte der Richter nicht das früher gültig erworbene
Recht wegen Nichterfülltseins der neuen Form für stillschwei-
gend vom Gesetz vernichtet erachten. Der Gesetzgeber hätte
verlangen können, daß schon bestehende Privaturkunden,
die dies bisher nicht nötig hatten, nachträglich vom Aussteller
zur Eintragung rekognosziert werden müßten; er hätte eine
Frist hierfür festsetzen können, bei deren Nichtbeachtung das
Recht entzogen sein solle. Aber da der Gesetzgeber die Nach-
holung der neuen Form nicht ausdrücklich verordnete, durfte
sie der Richter nicht von selbst supplieren. Und der Gesetz-
geber selbst hätte diese Forderung nur stellen dürfen
für solche Fälle, wo die Nachholung der neuen Form (Re-
kognoszierung) noch möglich und bloß von dem Willen des
Zessionars abhängig war, also wo der Aussteller noch lebte
und prozessualisch zur Rekognoszierung genötigt
werden konnte, nicht aber bei Urkunden von 1748 und früher.
Jede andere Entscheidung des Gesetzgebers, und um so mehr
des Richters, verletzt die oben entwickelte Natur der Sache
und den § 16 der Einleitung zum Allgemeinen Landrecht, wie
gleichfalls aus dem Obigen sich ergibt.
Ist es nicht bezeichnend, daß Bornemann, der, wie wir sahen,
in diesem § 16, der keine Spur von Rückwirkung enthält, eine
„rückwirkende Kraft" erblickt, gerade dadurch hier selbst
in flagrante Rückwirkung verfallen muß ? Wir wollen nicht
verschweigen, daß Bornemann darauf selbst erklärt, wie seine
Entscheidung zwar streng rechtlich sei, aber zu sehr bedenk-
lichen Ubelständen führen könne, weshalb er derartige Fälle
274
mehr zu sichern, eine neue gerichtliche Anfertigung der
Testamente nach den Vorschriften des Allgemeinen Land-
rechtes, auch in bezug auf die schon gültig bestehenden,
verlangte. Das Patent vom 9. September 1814 für die
Provinzen jenseits der Elbe1), verordnet hierüber in § 7 :
,,Es sollen aber die von den Erblassern eigenhändig
ge- und unterschriebenen, ohne Beobachtung einer wei-
teren Form bisher gültig gewesenen Testamente, in-
gleichen diejenigen, welche vor Notarien aufgenommen
worden, nur noch während eines Jahres, vom
1. Januar 1815 an gerechnet, als rechtsbeständig er-
achtet werden.
Nach Ablauf dieses Zeitraumes tritt in Ermange-
lung einer gültig aufgenommenen Disposition die ge-
setzliche Erbfolge ein, wofern nicht nachge-
wiesen werden kann, daß der Erblasser während des
ganzen Zeitraumes von Errichtung eines Testamentes
nach den Vorschriften des Allgemeinen Landrechtes
verhindert gewesen ist."
Alle Forderungen des Begriffes sind hier sorgfältig er-
füllt. Es ist eine hinreichende Frist gegeben, innerhalb
welcher der Testierende seinen Willen von neuem dar-
legen kann und soll, und bis zu deren Ende die frühere
Darlegung gültig bleibt, und selbst nach Ablauf dieser
Frist ist der Gegenbeweis zugelassen, daß der Te-
stierende sich in faktischer Unmöglichkeit be-
deni Ermessen des Hypothekenrichters anheimzustellen vor-
schlägt. Allein es gibt dabei nichts anheimzustellen, weil die
Entscheidung Bornemanns nicht unbillig, wie er meint, sondern
dies nur nebenbei und vor allem unjuristisch ist.
x) Und ebenso in dem Patent für Westpreußen vom 9. No-
vember 1816, § 9. und für das Großherzogtum Posen, vom
selben Tage, § 9.
i8- 275
funden habe ; das Individuum ist also schlechthin nur von
seinem eigenen Willen abhängig gemacht.
Es ist also höchlich auffällig, wenn Savigny (VIII,
478) diese Verordnung eine „ganz eigentümliche
Bestimmung" nennt, in welcher „nun augenscheinlich der
Ausdruck eines allgemeinen bleibenden Grund-
satzes nicht enthalten ist, sondern nur die Not-
hilfe für einen einzelnen Fall. Auch findet sich in den
übrigen transitorischen Gesetzen eine ähnliche Bestimmung
gar nicht".
Jedenfalls hätte Savigny sehen müssen, daß diese an-
geblich ganz eigentümliche Bestimmung den allgemeinen
bleibenden Grundsatz des § 16 der Einleitung zum All-
gemeinen Landrecht in sich enthält ; daß sie nur denselben
Grundsatz enthält, von dem auch das Verfahren bei der
Hypothekenordnung, das er selbst billigt (s. VIII, 539),
nur ein Ausfluß ist ; denselben Grundsatz, der, statt eigen-
tümlich zu sein, in den verschiedensten Gesetzgebungen
nachgewiesen werden kann.
So erklärt zwar Justinian in der Nov. 66, Kap. 1, § 4,
daß die zur Zeit bereits bestehenden Testamente in bezug
auf die Gültigkeit ihrer Form nicht nach seinen neuen
Vorschriften zu beurteilen und von neuem aufzunehmen
wären (nee aecusentur quod eo tempore, quo illi vixe-
runt, eas non mutaverint) ; aber er erklärt ausdrück-
lich, daß er nur deshalb dies nicht fordere, weil dies
in sehr vielen Fällen dem testierenden Individuum nicht
mehr faktisch möglich sein würde und nur aus
diesem Grunde eine solche Forderung unzulässig wäre;
denn unmittelbar nach den angeführten Worten, in wel-
chen er gesagt, daß die Neuerrichtung der Testamente
nicht verlangt werden könne, fährt er, dies begründend,
also fort : „neque enim omnia in nostra potestate sunt, nee
276
semper aliquis tempus testandi habet. Nam saepe mors
repente homines opprimit iisque facultatem testandi adimlt
(xfjg rov dia&eo&ai rovxovg iijovoiag äcpaigov/tevai). Quare
quod ab initio recte factum est" usw.
Justinian spricht also deutlich genug aus, daß, wäre
nicht jenes Bedenken von der faktischen Unmöglichkeit,
d. h. von der nicht immer vorhandenen Abhängigkeit der
Erfüllung von dem bloßen individuellenWillen1)
— ein Bedenken, welches in den preußischen Patenten
so sorgfältig gewahrt wird — die Erneuerung der Te-
stamente vom Gesetzgeber gar wohl verlangt werden
könnte.
Ebenso direkt wie in den preußischen Patenten ist der
Grundsatz in den Annalen der französischen Gesetz-
gebung nachzuweisen. Die französischen Gesetze vom
5. Brumaire und 17. Nivose II hatten die Testierfähig-
keit gänzlich verändert und insoweit freilich ohne jede Be-
ziehung auf das in Rede stehende Prinzip die Testamente
der noch Lebenden vernichtet. Allein sie hatten noch
eine quotite disponible übrig gelassen, über welche te-
stiert werden konnte (ein Zehntel des Vermögens, wenn
direkte Erben, und ein Sechstel, wenn nur Kollateralerben
vorhanden waren). Es entstand jetzt die Frage, ob nicht
wenigstens für diesen Betrag die bereits bestehenden und
in verbotener Weise ä titre umversel verfügenden Testa-
mente aufrecht zu erhalten seien, oder ob sie als gänzlich
J) Die faktische Möglichkeit in diesem Sinne, d.h.
die Abhängigkeit einer Handlung von dem bloßen indivi-
duellen Willen, wird daher mit Recht überall da zur recht-
lichen Kategorie, wo es auf den individuellen Willen an-
kommt; vgl. beispielsweise oben über die Verjährung (agere
non valenti non currit praescriptio, S. 130), die L. 18, C. de
testibus (4, 20), usw.
277
nichtig zu betrachten und die Errichtung neuer Testa-
mente zur Verfügung über den jetzt noch erlaubten Teil
erforderlich wäre. Insofern war dies nur eine Frage
nach der formellen äußeren Gültigkeit der be-
stehenden Testamente, oder konnte doch mindestens als
solche äußere Formfrage aufgefaßt werden und wurde,
wie wir sehen werden, schließlich nur so aufgefaßt. Der
Konvent entschied hierüber durch Art. 47 des Dekretes
vom 22.Ventöse II mit folgenden Worten:
,,Que la loi a aboli ces anciennes dispositions et que
si eile a simplement reduit ä une quotite Celles dont
l'auteur decede ne pouvait refaire un nouvel acte, ce
motif a cesse lorsque cet auteur a survecu ä la Pro-
mulgation de la loi du 5 brumaire ; qu'ainsi et s'il ne
l'a pas fait, l'ancienne disposition est nulle pour le
tout."
Der Konvent stimmte also mit dem preußischen Ge-
setzgeber ganz in den Prinzipien überein, sowohl im
Grundsatz, daß die neue Errichtung von Testamenten ge-
fordert werden könne, als auch darin, daß diese Forde-
rung nur dann zulässig sei, wenn der Testator das
Testament neu machen könne. Nur daß der Konvent
das ,,ne pouvait pas refaire" lediglich in dem Tode des
Testators erblicken wollte.
Nun wurden (s. oben S. 96fg.) die Gesetze vom 5. Bru-
maire, 17. Nivose und 22.Ventose II gerade wegen ihrer,
sei es wahren, sei es vermeintlichen Rückwirkung später
— in bezug auf diesen rückwirkenden Effekt — zurück-
genommen. Hierbei bestimmte nun das unter dem Direk-
torium erlassene Gesetz vom 18. Pluviose V (6. Februar
1797) in bezug auf die uns hier beschäftigende Frage in
Art. 4 :
278
,,Les actes de derniere volonte faits anterieurement ä
la publication des lois des 5 brumaire et 17 nivose an
II et qui n'ont pas ete refaits ou renouveles depuis,
dans les cas memes ou la loi en indiquait Vobligation,
restent neanmoins valables et sont seulement reductibles
jusqu'ä la concurrence de la quotite disponible, lors-
quHls sont Uouvrage, 1 ° de militaires decedes au Ser-
vice de la patrie, ou de personnes mortes au service
des armees ; 2 ° de personnes decedees en maison de
reclusion ou qui ont peri en vertu de jugements revo-
lutionnaires, ou qui ont demeure cachees par suite de
mises hors la loi ou de mandats d'arret ; 3° de per-
sonnes mortes en voyages de long cours."
Das heißt also, in solchen Fällen, wo die Erneuerung
des Testamentes trotz des Fortlebens des Testators nicht
mehr von seinem bloßen Willen abgehangen hatte,
ihm vielmehr offenbar unmöglich gewesen war, sollte das
alte Testament formell gültig bleiben (bis zum erlaubten
Betrage). Gänzlich ungültig sollten dagegen die Testa-
mente aller solcher Personen sein, die, ohne sich in diesen
Verhinderungsfällen zu befinden, die Publikation jener
Gesetze überlebt hatten, ohne die Testamente zu er-
neuern (par des personnes qui ont survecu ä la publica-
tion de la dite loi sans les renouveler). Also auch jetzt,
wo man sehr aufgelegt war (s. oben S. 105), den Begriff
der Rückwirkung sehr weit zu fassen und solche beson-
ders in den Verordnungen des Konventes leicht zu er-
blicken, vermochte man doch eine solche nicht darin zu
sehen, daß das Gesetz die formelle Erneuerung verlangt
hatte, und schloß dies in den Widerruf des retroaktiven
Effekts der Brumaire- und Nivose -Gesetze nicht ein.
Nur noch eine sehr wichtige Hinzufügung macht das an-
gezogene Gesetz. Trotz des Vorhergesagten sollten näm-
270
lieh bis zum Betrag der quotite disponible gültig bleiben
alle Testamente in allen solchen Fällen, wo sich die Erb-
schaften zwar nach den Gesetzen vom 5. Brumaire und
17. Nivose, aber vor dem Gesetz vom 22.Ventose II
,,qui a declare formellement la necessite de renouveler
les dispositions ä titre universel."
eröffnet hatten. — Diese beschränkende Hinzufügung und
ihre angeführte Motivierung ist aus zweierlei Gründen
sehr wichtig. Einmal zeigt sich darin, daß der gesetz-
gebende Körper die Ungültigkeit der Testamente nicht
auffaßte als eine Folge der Hinfälligkeit ihrer prohi-
bierten Bestimmungen, als eine materielle Nichtigkeit, die,
das prohibierte Testament überhaupt beseitigend, die reine
Intestaterbfolge eintreten lassen mußte. Diese der Sache
jede nähere Beziehung auf unseren jetzigen Gesichtspunkt
raubende Auffassung, welche seit je bei den Testamenten
eine große Rolle gespielt hat, welche aber überhaupt
schwerlich möglich sein dürfte, wo die Errichtung des
Testamentes dem prohibierenden Gesetze vorhergeht,
lag hier nicht vor, denn sonst würde diese Nichtigkeit
der Testamente auch bei den schon seit den Gesetzen
vom 5. Brumaire und 17. Nivose eröffneten Erbschaften
haben eintreten müssen, weil diese Gesetze es ja eben
waren, welche jene prohibitiven Bestimmungen enthielten.
Dennoch sollte diese Ungültigkeit erst vom Ventose-
Gesetz ab eintreten, und zwar ausdrücklich, weil dieses
— in dem oben angeführten Art. 47 — „formell die
Notwendigkeit erklärt hatte, jene Testa-
mente zu erneuern". Der legislative Körper faßte
also die Ungültigkeit der Testamente nur als die Folge
der Nichterfüllung der Vorschrift über die Nach-
holung der äußeren testamentarischen Form
auf, welche er in jenem Art. 47 des Ventose- Gesetzes
280
erblickte, in demselben Sinne, wie die bezogenen preußi-
schen Patente eine solche enthalten.
Zweitens erkannte durch diese Bestimmung der legis-
lative Körper das schon oben (Anm. 1 zu S. 270) gegen
Bornemann von uns entwickelte Prinzip an, daß, wo die
Notwendigkeit vorliegen soll, die Wirksamkeit einer
früheren Handlung durch Nachholung einer äußeren, von
neuen Gesetzen verfügten Form aufrechtzuhalten, diese
Forderung vom Gesetzgeber ausdrücklich aus-
gesprochen sein muß, und wenn eine solche Bestimmung
fehlt, durch keine Interpretation aus den Gesetzen gefol-
gert werden darf. Darum räumte der legislative Körper
nicht ein, daß schon in die Gesetze vom 5. Brumaire und
17. Nivose — so nahe ihnen diese Interpretation lag —
durch Folgerung die Forderung hineingetragen werden
dürfe, die bereits bestehenden Testamente zu erneuern,
sondern erst von der ausdrücklichen Aufforderung
des Ventose- Gesetzes an datiert er die Wirkung, die be-
stehenden nicht erneuerten Testamente ungültig zu machen.
— Der Grund hiervon ist der oben entwickelte. Die
Bestimmungen, die wir bisher in diesem Paragraphen be-
trachtet haben, lösen sich in die gesetzgeberische Forde-
rung an das Individuum auf, seinen Willen noch ein-
mal zu setzen, wenn er aufrecht bleiben solle. Da dieser
Wille bereits in an und für sich wirksamer Form voll-
bracht ist, so ist diese Forderung eine dem Individuum
auferlegte Last, rechtfertigt sich aber durch das Recht
des Staates, Leistungen für die Gewährung des Zivil-
schutzes zu fordern. Eben deshalb aber hat nur der Ge-
setzgeber das Recht, diese Last und Leistung zur Auf-
rechterhaltung des an und für sich schon Gültigen auf-
zuerlegen ; der Richter, dem dies positive Recht nicht zu-
steht, kann, wo sie nicht ausdrücklich auferlegt ist, sie
281
nicht durch Folgerungen schaffen und dem an und für
sich Gültigen seine Anerkennung versagen.
Ebenso ausdrücklich wie der § 16 der Einleitung zum
Allgemeinen Landrecht, und in noch allgemeinerer Weise
erkennt Merlin die von uns im Anfang dieses Paragraphen
entwickelte Folgerung des Begriffes an. Er sagt1): ob-
gleich kontraktliche Rechte, seien es aktuelle, even-
tuelle oder exspektative, außer dem Bereich eines spä-
teren Gesetzes stehen, so könne das spätere Gesetz doch
nichtsdestoweniger ,,en subordonner l'exercice ä telles for-
malites, ä telles diligences, ä telles conditions qu'il lui
plait, pourvu que ces formalites, ces diligences et ces
conditions ne dependent point d'evenements ou de faits
etrangers ä la volonte des partles auxquelles eile les im-
pose, ou, en d'autres termes, pourvu que ces parties ne
puissent imputer qu'ä leur propre incurle la perte qu'elles
eprouvent par l'omission ou l'inaccomplissement de ces
formalites, de ces diligences, de ces conditions.
„Ainsi, comme nous venons de le voir, la loi ne peut
pas en reduisant aujourdhui l'interet conventionnel de
l'argent, empecher qu'un interet plus haut qui a ete pre-
cedemment stipule sous une loi qui l'autorisait, ne con-
tinue d'etre exigible ; mais eile peut dire au creancier ä
qui eile conserve forcement le droit d'exiger des interets
sur le pied de leur stipulation primitive : «tu te feras
desormais payer ces interets dans tel delai ; et faute de
diligence de ta part pour te les faire payer dans ce delai,
ils seront prescrits.» Et voilä pourquoi nul ne doute que
l'art. 2277 du Code civil qui assujettit let interets a
la prescription de cinq ans, ne soit applicable aux interets
J) Rep. de Jurisprud. v° Effet retr., Sect. III, § 3, Art. 3,
No. 11. T. V, p.575.
282
qui, bien que stipules anterieurement au Code civil et
dans les pays oü, ä l'epoque de leur stipulation, ils
n'etaient prescriptibles que par trente ans, ne sont nean-
moins echus que posterieurement ä la mise en activite
de cet article.
,,Ainsi, la loi du 11 brumaire an VII, en etablissant
un nouveau Systeme hypothecaire, n'a pas pu abolir les
hypotheques qui avaient ete constituees, suivant 1 ancien
mode ; mais eile a tres-bien pu dire aux creanciers ä qui
appartenaient ces hypotheques et eile leur a dit en effet :
vous ferez inscrire ces hypotheques aux bureaux des con-
servateurs dans teile forme et tel delai ; sinon vous serez
dechus."
Schwerlich sind jemals Worte deutlicher durch die
Tätigkeit des Begriffes hervorgetrieben worden als die
eben angeführten, welche die von uns im Anfang dieses
Paragraphen entwickelte Folgerung so ausdrücklich aus-
sprechen. Und nur das könnte fast wundernehmen, wie
Merlin, trotz dieser so klaren und, wie wir schon oben
aufmerksam machten, den wahren und alleinigen Inhalt
des Rückwirkungsbegriffes in so durchsichtiger und ent-
scheidender Weise bloßlegenden Worte, dennoch nie dazu
gelangte, sich diesen Begriff selbst und somit erst die
wahre theoretische Begründung der hier von ihm selbst
gezogenen Folgerung zum Bewußtsein zu bringen. Es
könnte dies wundernehmen, wenn dies nicht eben die be-
sondere Eigentümlichkeit der Franzosen wäre, unter der
treibenden Herrschaft des echten Begriffes zu stehen,
ohne sich über ihn selbst klar zu werden.
Mehr wunder kann daher nehmen, daß Merlin nicht
einmal die juristische Verstandeskonsequenz seiner Worte
streng festhält, wie sich in folgendem zeigt.
In dem Bezirk des Parlamentes von Toulouse genoß
283
der durch Zwangsverkauf expropriierte Schuldner das
Recht, während zehn Jahren ä rabattre le decret, d. h.
gegen Erstattung von Preis und Kosten den Adjudikator
zu evinzieren. Insofern Schuldner solche Zwangsverkäufe
unter der Herrschaft dieses Gesetzes hatten eintreten
lassen, mußte dieses Eviktionsrecht mit Grund als ein
droit conventionnel, als eine stillschweigend beim Ver-
kauf stipulierte resolutorische Bedingung gelten. Nichts-
destoweniger wurde durch Gesetz vom 25. August 1792
dies Recht in bezug auf die schon geschehenen Zwangs-
verkäufe aufgehoben. Der Konvent aber fühlte sehr bald
die hierin liegende Rückwirkung und weit entfernt, eine
solche zu wollen, verfügte er durch ein anderes Gesetz
vom 12. Februar 1793 (Art. 2), daß die Abschaffung
jenes Rechtes nur die nach dem Gesetz vom 25. August
1792 geschehenen Adjudikationen treffen, in bezug auf
frühere Adjudikationen aber die alten Eigentümer das-
selbe, solange sie noch in der früheren (zehnjährigen)
Frist sich befänden, behalten sollten.
Unterm ,17. Germinal II erging jedoch ein neues Ge-
setz, welches diese Frist abkürzte und verordnete, daß
nach dem 1 . Vendemiaire III eine action en rabattement
nicht mehr zulässig sein solle.
In der Reaktionsperiode war man aber auch von diesem
fristabkürzenden Gesetz der Ansicht, daß es rückwirkend
sei. Infolgedessen wurde es durch Gesetz vom 25. Bru-
maire VI rapportiert, weil es in sich einschlösse „des dis-
positions de retroactivite egalement contraire ä la justice
et ä la declaration des droits".
Merlin, welcher jenes Gesetz vom 17. Germinal II
bespricht, ist gleichfalls der Meinung, daß es rückwirkend
gewesen sei. „Denn," sagt er (a. a. O., S. 567), ,,si la
loi peut abroger le delai d'un retrait purement legal, eile
284
n'a pas le merae pouvoir ä l'egard d'un retrait ä la fois
legal et tacitement conventionnel."
Allein, wenn man auch der Ansicht sein muß, daß das
Gesetz rückwirkend war, — aus diesem Grunde, daß
die Frist stillschweigend konventionell war, ein Grund,
der vielmehr zu einer ganz falschen Theorie führen müßte,
war es dies gewiß nicht ! Denn warum sollte das Gesetz
nicht eine stillschweigend stipulierte Frist, ja selbst eine
ausdrücklich ausbedungene, ohne Rückwirkung abkürzen
können ? .
Einstimmig ist man der Ansicht, und Merlin selbst hat
sie in den oben angeführten Worten (S. 282) ausgesprochen,
daß das Gesetz Verjährungsfristen auch in bezug auf
schon entstandene Forderungen ohne jede Rückwirkung
abkürzen kann. Und ist nicht ebenso in jedem Kontrakt,
durch den eine Forderung erworben wird, die stillschwei-
gende Bedingung zu erblicken, daß sie nur in der zur
Zeit des Kontraktes gesetzlich bestimmten Frist verjähren
soll, wie in dem Zwangs verkauf unter jenem Gesetz die
tazite Bedingung, in der Frist des Gesetzes das Eigen-
tumsrecht geltend zu machen, zu erblicken ist ?
Hierin also, weil die Frist eine stillschweigend
konventionelle war, liegt nicht der Grund. Nicht
einmal die ausdrückliche Bestellung der Verjährungsfrist in
einem Kontrakte würde gegen ein späteres kürzere Fristen
einführendes Gesetz schützen.
Der Unterschied liegt vielmehr in einem schon oben
hervorgehobenen Begriffsmoment.
Bei der Ver j ährung genügt der bloße Wille des
Individuums, sein Recht aufrechtzuerhalten. Wenn es sich
auch stillschweigend oder ausdrücklich eine längere Frist
ausbedungen hat, es kann jederzeit klagen, wenn ihm
das Gesetz dies aufgibt. Es wird hierdurch also von k e i -
2S5
nem anderen Umstand als von seinem Willen ab-
hängig gemacht. Zu der Bewerkstelligung des Rückkaufs
dagegen genügt nicht die einfache individuelle Willens-
erklärung, wie bei der Klage, sondern es muß hierzu auch
noch die Offerte des Kaufpreises treten, also eine von
seiner bloßen Willensmanifestation unabhängige objektive
Leistung. Zur Beschaffung dieser Mittel hat sich das
Individuum in der stillschweigend konventionellen Frist
einen bestimmten Zeitraum ausbedungen. Dieser darf ihm
also nicht verkürzt werden, weil einerseits die Rück-
nahme des Gutes ein bloßes vorbehaltenes Recht des alten
Eigentümers, keine Pflicht desselben bildet und anderer-
seits durch die gegen seinen Willen eintretende Verkür-
zung dieser Frist ihn um den Inhalt dieses Rechtes selbst
bringen kann, da zur Ausübung desselben der bloße Wille
nicht hinreicht.
Es ergibt sich aus dieser Analyse die allgemeine Folge :
Fristen, mögen sie stillschweigend oder ausdrücklich aus-
bedungen sein, können durch spätere Gesetze ohne Rück-
wirkung verkürzt werden, wenn zur Aufrechterhaltung
des dabei in Rede stehenden Rechtes der bloße individuelle
Wille hinreicht. Sie können nicht verkürzt werden,
wenn zu dieser Aufrechterhaltung das Individuum noch
irgendeine außerhalb des bloßen individuellen Willens
liegende Bedingung bedarf1).
In der bisherigen Untersuchung war immer nur von
Fällen die Rede, wo, wie bei dem Testament, der Hypo-
thekeninskription, der Verjährung, nur ein einseitiger Be-
rechtigter vorhanden war, welcher zur Aufrechterhaltung
*) Insoweit liegt also in dem die Frist der action en rabatte-
ment abkürzenden Gesetz- vom 17. Germinal II eine wirkliche
Rückwirkung vor.
286
seines bereits bestehenden Rechtes seinen Willen zu setzen,
resp. noch einmal zu setzen hatte.
Es folgt aber aus dem Inhalt des hier betrachteten Be-
griffsmoments und ist deshalb schon im Anfang dieses Pa-
ragraphen entwickelt worden, daß das wie in erworbene
Rechte überhaupt, so auch in bestehende zweiseitige
Verträge ohne Rückwirkung eingreifen und dieselben
ganz oder teilweise aufheben oder ändern
kann, wenn es nur eben das Ausschließen dieser
seiner ändernden Einwirkung und das weitere
Aufrechterhalten des bisherigen Rechtes von
nichts anderem abhängig macht, als von einer lediglich
in dem Willen des bisher mit dem betreffen-
den Recht ausgerüsteten Individuums gele-
genen Handlung.
Es handelt sich jetzt darum, dies überaus wichtige Prin-
zip, dessen theoretischer Beweis schon in dem Eingang
dieses Paragraphen gegeben ist, und dessen Verkennung so
viele falsche Entscheidungen und irreführende Formeln
über das Verhältnis der Verträge zu den Gesetzen veran-
laßt hat, gleichwohl wiederum als schon im empirisch-juri-
stischen Stoff anerkannt und tätig nachzuweisen.
Dies mag zunächst an der Justinianischen Novella 120
de alienatione et emphyteusi rerum ecclesiasticarum ge-
schehen, die auf das sichtlichste von ihm regiert wird.
Justinian verordnet im achten Kapitel dieser Novelle :
,.Si locator aliquis vel emphyteuta rei pertinentis vel ad
sanctissimam magnam ecclesiam vel ad aliam venerabilem
domum in quocunque loco reipublicae notrae sitam aut de-
teriorem reddat rem, quam accepit vel post haec accipiet,
aut per biennium emphyteuticum vel locationis canonem a
se promissum non solvat, potestatem venerabili domui, a
287
qua locatio vel emphyteusis celebrata est, concedimus, ut
ea quae ei pro tempore praeterito debentur, veteremque
statum rei locatae vel in emphyteusin datae exigat et emphy-
teusi vel locatione ejiciat, ut qui nee de meliorationibus
actionem quandam contra venerabiles domos movere
possit."
Es soll also der Mieter und selbst der Pächter auf
emphyteutischen Titel, wenn er binnen zwei Jahren den
stipuherten Kanon nicht entrichtet oder das Grundstück
deterioriert, vom Eigentümer aus der Emphyteuse heraus-
geworfen werden können, und dies soll auch für die bereits
geschlossenen Verträge gelten.
Der abändernde Eingriff in das bestehende Vertrags-
verhältnis ist unleugbar. Dem emphyteutischen Pächter
wird sein erworbenes Recht auf das Vertragsverhältnis ent-
zogen durch die gesetzliche Verfügung einer Bedingung,
welcher er sich bei Eingehung des Vertrages weder aus-
drücklich noch stillschweigend unterworfen habe. Aber
dieser Eingriff ist durchaus ohne Rückwirkung und voll-
kommen regelmäßig, weil die Aufrechterhaltung seines
bisherigen Rechtes nur abhängig gemacht ist von zwei
lediglich in seinem Willen stehenden Handlungen,
von der Nichtdeteriorierung des Grundstückes, und von der
nicht zwei Jahre hintereinander eintretenden Verletzung
seiner kontraktlichen Pflicht zur Erlegung des jährlichen
Kanons. Sehr irrig wäre es, in letzterer Hinsicht geltend
machen zu wollen, daß zu dieser Entrichtung der bloße
Wille nicht genüge, vielmehr außer demselben auch
Zahlmittel erforderlich seien, und daß es sich daher ebenso
verhalte, wie oben bei der Frist für das Rückkaufsrecht.
Dort trat Rückwirkung ein, weil keine Verbindlich-
keit zum Rückkauf, sondern lediglich ein Recht hierauf
vorlag und dieses Recht durch die Verkürzung der
288
Frist wegen nicht vorhandener Zahlmittel illusorisch ge-
macht werden konnte.
Im gegenwärtigen halle aber wird dem emphyteu-
tischen Pächter nicht durch das Gesetz auferlegt,
eine Zahlung zu machen, zu der er nur berechtigt, nicht
verpflichtet ist : es wird ihm ebensowenig auferlegt,
früher zu zahlen, als er sich verpflichtet hat. Es
wird vom Gesetz nur die Nichtverletzung einer
selbstübernommenen Verbindlichkeit von ihm
gefordert.
Dies aber, übernommene Verbindlichkeiten nicht zu ver-
letzen, muß nach der rechtlichen Anschauung stets als in
der alleinigen Willensfreiheit des Indivi-
duums stehend angenommen werden. Die einzige Aus-
nahme hiervon sind die Fälle der force majeure, die darum
eben auch helfen und helfen müssen.
Sehr beachtenswert ist der sorgfältig beobachtete Unter-
schied im Gebrauch der tempora und modi in der Justia-
nischen Novelle, der im griechischen Text noch schärfer
hervortritt. Justinian sagt, seine Verordnung solle platz-
greifen, wenn einer eine Sache in Emphyteuse ange-
nommen hat oder annehmen w i r d , — quam accepit
vel post acclpiet (ötieq T] tkaßev i) fierd xavxa Xäßoi). Hier-
für soll es also ganz gleich bleiben, ob die Handlung —
die Vertragschließung — schon geschehen ist oder erst
eintreten wird, wie wir in der Tat gesehen haben, daß in
beiden Fällen die Willensfreiheit des Pächters gleich-
mäßig erhalten bleibt. Dagegen heißt es : das Gesetz solle
platzgreifen, wenn der Pächter das Grundstück deterio-
rieren oder den Kanon während zwei Jahren nicht zahlen
wird. Hier steht der in der Verbindung mit den Bedin-
gungspartikeln stets Futuralbedeutung annehmende Kon-
junktiv : „Eidhig y yeigov noiijof) xb Trgäyfta, otcf.q k'ka-
19 Lawalle. Gm. Schriften. Band IX. 2SQ
ßev, ij zm dtextav fj,r] xaxaßdXtj xbv jiclq avxov 6 aoloytjdhxa
1/LiqjvxevxiHov i) faoßcoxixov xavova " (si — deteriorem reddat —
non solvat, oder, wie die Glosse noch bestimmter über-
setzt: aut per biennium non intulerit?). Diese sich gleich-
bleibende Abwechselung in den Zeitformen der unmittel-
bar aufeinander folgenden Verba zeigt, daß Justinian sehr
richtig gefühlt hat, worauf es ankomme. Von bereits
vorgefallenen Deteriorierungen oder Nichtzahlungen
soll und darf die Aufrechterhaltung des Vertragsverhält-
nisses nicht abhängig gemacht werden ; denn dann würde
sie von Handlungen abhängig gemacht, die, als vergan-
gene, nicht mehr in dem Willen des berechtigten
Individuums stehen.
Nun setze man aber den Fall umgekehrt. Angenommen,
daß unter einer Gesetzgebung, wo diese Justinianische No-
velle gilt, emphyteutische Verträge geschlossen sind und
nun ein Gesetz erscheint, nach welchem die zweijährige
Nichtzahlung des Kanons nicht mehr die Wirkung hat,
den Eigentümer zur Auflösung des Vertragsverhältnisses
zu berechtigen. Es ist ersichtlich, daß dieses auf-
hebende Gesetz auf die bestehenden Verträge nicht
einwirken kann. Denn aus den früher geschlossenen Ver-
trägen war durch die als stillschweigende Willensbedingung
wirkende Kraft jener Novelle den Eigentümern das Recht
erworben, im Falle zweijähriger Nichtentrichtung des Ka-
nons das Grundstück einzuziehen, und die Aufrecht-
haltung dieses bestehenden Rechtes würde durch Ein-
führung des neuen Gesetzes, da Zahlung oder Nichtzahlung
des Pächters nicht ein vom Eigentümer abhängiges
Willensfaktum ist, nicht, wie im vorigen Falle, von dem
Willen des Berechtigten abhängig gemacht. Hier
läge also vollständige Rückwirkung vor.
Wenn also Göschel, gerade diesen letzten von uns sup-
290
ponierten Fall betrachtend, sagt1), daß, wenn eine Kirche
vor dem Eintritt des Allgemeinen Landrechtes vertrags-
mäßig ein Grundstück in Erbzins auszutun sich verpflichtet
habe, zwar auf Erfüllung und Reszission des Vertrages
nach den älteren Gesetzen geklagt werden könne, daß da-
gegen die Emphyteuse selbst, wenn nichts Besonderes
vertragsmäßig festgesetzt ist, wegen des vom Landrecht
aufgehobenen Unterschiedes der persönlichen Eigenschaft
des' Erbzinsherrn (Teil I, Tit. 18, §§ 772, 773) nicht
mehr in zwei, sondern nun erst in drei Jahren ver-
loren gehe, so ist der große Irrtum dieser Entscheidung
jetzt positiv nachgewiesen2). Zugleich ist aber auch nach-
x) Simon und v. Strampff, Zeitschrift, II, 20 fg.
2) Man kann diese Göschelsche Entscheidung auch nicht
aus dem Grunde aufrecht halten wollen, weil (vgl. § 7) die
landrechtliche Aufhebung des Unterschiedes in der persönlichen
Qualität des Erbzinsherrn dem öffentlichen Recht entflossen
und somit ein zwingendes Gesetz sei. Gewiß ist sie dies
insoweit, daß unter dem Allgemeinen Landrecht nicht mehr
ein Erbzinsvertrag geschlossen werden kann, in welchem eine
Kirche sich ausdrücklich auf Grund dessen, daß sie
Kirche und nicht gewöhnlicher Erbzinsherr sei, mit Bezug-
nahme auf jene Novelle die zweijährige Frist stipuliert. Dies
würde contra leges gehen. Aber in bezug auf die älteren Ver-
träge wirkt der Vorzug der Kirchenqualität nur als ein gleich-
gültiges Motiv zu dem Willen der Parteien, den Verlust
der Emphyteuse an zweijährige Nichtzahlung zu binden. Dieser
Wille selbst ist aber durch das Landrecht nicht zwingend
ausgeschlossen; vielmehr kann jeder Erbzinsherr eine be-
liebig kürzere oder längere Zeit für den Verlust der Emphy-
teuse festsetzen, wie sowohl von selbst klar ist, als im § 774,
Tit. 18, T. I, noch ausdrücklich gesagt wird. Das Landrecht
derogiert also der Privatwillkür hierin durchaus nicht. — Würde
es dagegen durch ein prohibitives Gesetz ausschließen, daß
eine kürzere als eine dreijährige Frist bestimmt werde, so
291
gewiesen, welches der wahre Gedanke in der von ihm
— und schon vor ihm von Meyer in seinen Principes sur
les questions transitoires — aufgestellten Unterscheidung
ist zwischen den „unmittelbaren und den mittel-
baren Folgen eines Vertrages," von denen die ersteren
nur nach dem älteren, die letzteren nach dem neuen Gesetze
sich richten sollen. Daß dieser Gedanke in dieser Form,
wie er bei Göschel und Meyer herausgerungen ist, falsch
und prinziplos ist, ist ihnen von allen Seiten hinlänglich
eingeworfen und soeben noch durch die betrachtete Ent-
scheidung Göscheis gezeigt worden. Das Wahre aber,
welches sie zu dieser Unterscheidung getrieben hat und
nur wegen der nicht klaren begrifflichen Erfassung des
Gedankens, unter dessen Einwirkung sie standen, sich zu
einer die begriffliche Natur der Sache nicht erschöpfenden
und darum falschen Formel verkehrt hat, ist eben jenes
aus dem Begriff entwickelte und an der Justinianischen
Novelle belegte Gedankenprinzip.
Und es ist, wie nunmehr gleichfalls von selbst klar sein
wird, nur die sich geltend machende Kraft desselben
Prinzips, welche den badischen Gesetzgeber getrieben hat,
unter die Zusätze, mit welchen der Code Napoleon als
Landesgesetz für Baden verkündet worden ist, folgenden
Zusatz zum Art. 2 des Code Nap. aufzunehmen :
„Künftige Folgen einer vergangenen Be-
gebenheit, wozu ein früheres Gesetz das Recht
gegeben hatte, kann ein späteres ändern, ohne
rückwirkend zu sein, solange es nur noch
zwischen eintritt, ehe der Fall entsteht, der
die Folgen erzeugt."
würde dann aus diesem Grunde die Göschelsche Entschei-
dung allerdings zutreffen, wie sich in § 7 ergeben wird.
292
Man sieht, wie hier derselbe Gedanke zugrunde liegt,
den wir in der Novelle nachgewiesen haben. Der ältere
Kontrakt ist eine vergangene Begebenheit. Gleichwohl
kann das neuere Gesetz, ohne rückwirkend zu sein, abän-
dernd einwirken, weil der diese Folgen erzeugende Fall
der Nichtzahlung ein erst künftig , nach dem neuen Ge-
setze, eintretender ist. Weil aber der badische Gesetzgeber
den ihn bestimmenden Gedanken nicht klar beherrscht,
treibt sich derselbe nicht nur zu einem unklaren, sondern
auch positiv falschen Ausdruck. Denn es reicht
nicht hin, daß der die Folgen erzeugende Fall erst
nach dem neuen Gesetze entsteht, es hätte auch noch
gesagt sein müssen, daß sein Eintreten, um ändernde Wir-
kung haben zu dürfen, lediglich von dem Willen
dessen abhängen muß, dessen Recht entzogen oder
vermindert, oder dessen Verbindlichkeit vergrößert wer-
den soll.
Ohne diese Bestimmung müssen große Irrtümer, wie
die falsche Göschelsche Entscheidung und andere ähn-
liche1), die Folge dieses sich selbst mißverstehenden Ge-
dankenausdruckes sein.
1) So heißt es bei Brauer (Erläuterungen über den
Code Napoleon und die großherzoglich badische bürger-
liche Gesetzgebung, I, 28) : wenn unter einer Gesetzgebung,
welche Ernährung des Kindes, Kindbettkosten und Jung-
fernschaftsvergütung zur Folge einer Schwängerung er-
klärte, eine Schwängerung eingetreten und während der-
selben der Code Napoleon eingeführt worden wäre, so würde
diese Einführung zwar nicht die Entrichtung der Jungferntaxe,
wohl aber der Kindbettkosten und des Unterhaltes für den
Nichtanerkennungsfall beseitigen, weil diese nicht von der
Tatsache der Schwängerung, sondern von jener
der Geburt abhingen, die später wäre als die neue
Gesetzgebung ! ! Schon die erste Voraussetzung ist unrichtig.
293
Dasselbe Prinzip ist es, welches — und diesmal inso-
weit in richtigster Anwendung — die französische Juris-
prudenz zu ihrer Auslegung des Art. 1912 Cod. Nap.
bestimmt hat. Derselbe verordnet, daß der Schuldner einer
in perpetuum konstituierten Rente zur Wiedergabe des
Kapitals solle gezwungen werden können, wenn er seinen
Verpflichtungen während zweier Jahre nicht nachkommt,
oder wenn er dem Darleiher die im Vertrag versprochenen
Sicherheiten zu liefern unterläßt.
Wie die Justinianische Novelle ausdrücklich1) anordnet,
daß es gleichgültig sein solle, ob der emphyteutische Ver-
weil die betreffenden Bestimmungen des Code Napoleon durch-
aus prohibitiv sind und deshalb, wie wir im folgenden Para-
graph sehen werden, sofort eingreifen müssen. Sieht man aber
hiervon ab, so muß auch die Verpflichtung für die Kindbett-
kosten usw., weil doch die Niederkunft nach einmal gegebener
Schwängerung nicht mehr durch den Willen vermeidlich ist,
bestehen bleiben, und diese Brauersche, dem Text des Gesetzes
freiwillig ganz gemäße Folgerung muß durch ihre schlagende
Inkonsequenz fast Gelächter erregen, zeigt aber dadurch am
besten, wie wenig es hinreicht, daß die Tatsache nach dem
Gesetz eintritt, wenn sie nicht eine freiwillige ist.
x) Wir wollen hier Gelegenheit nehmen zu bemerken, wie
willkürlich und seltsam häufig viele Autoren mit der Benutzung
solcher Gesetze, die ausdrücklich sofortige Einwirkung auf be-
stehende Verhältnisse verordnen, umgehen. Das einemal führen
sie dies als eine Anerkennung seitens des Gesetzgebers an, daß
diese sofortige Einwirkung (vulgo Rückwirkung) in der recht-
lichen Natur der Sache liege. Und gegen diese Benutzung
wird sich auch im allgemeinen nichts einwenden lassen. Das
anderemal dagegen führen sie die ausdrückliche Verordnung
als eine Anerkennung des Gesetzgebers an, daß ohne diese
spezielle Verordnung das Gesetz rechtlich nicht sofort
einwirken dürfe, diese Kraft ihm vielmehr ausnahms-
weise durch eine die Kraft der Rechtsregeln unterdrückende
Vorschrift erteilt werden müsse. Diese Schlußfolgerung ist
294
trag in der Vergangenheit geschlossen sei, so hat, obwohl
sich der Art. 1912 Code Nap. hierüber nicht äußert, die
französische Jurisprudenz sehr richtig aus der rechtlichen
Natur der Sache die Folgerung gezogen, daß es gleich
bleibe, ob der Rentenkontrakt unter der älteren Gesetz-
besonders Bergmanns Steckenpferd, und seine ganze Theorie
beruht auf derselben. Man sieht aber sofort, daß es gar nichts
Lahmeres gibt als diesen Schluß. Der Gesetzgeber kann sehr
wohl, gerade wenn er fest überzeugt ist, daß ein Gesetz seiner
rechtlichen Natur nach sofort eingreifen müsse, dies ausdrück-
lich anordnen, um mögliche Zweifel der Richter zu vermeiden
oder widersprechenden und irrigen Auslegungen im voraus in
den Weg zu treten. Man wird überhaupt im allgemeinen nie-
mals annehmen können, daß, wenn der Gesetzgeber, um uns
der Kürze halber hier dieses schiefen Ausdruckes zu bedienen,
Rückwirkung verordnet, er gegen seine eigene Ansicht
von dem, was die rechtliche Natur der Sache erfor-
dere, handle! Nur daß der Gesetzgeber, der ja keine Theorie
schreibt, sehr gut der Ansicht sein kann, daß zwar auf Ver-
träge im allgemeinen nicht rückgewirkt werden dürfe, daß aber
diese besondere Art von Vertrag oder diese besondere Wirkung
eines solchen der rechtlichen Natur der Sache nach Rückwir-
kung erfordere. Er würde sich dann sogar noch sehr gut
des Wortes „ausnahmsweise", welches seinen Sinn empfängt
im Gegensatz zu dem allgemeinen Rechtsgebiete (z. B. Ver-
träge), auf dem er sich gerade bewegt und zu dem, was für
dieses allgemeine Gebiet zulässig ist, bedienen und doch über-
zeugt sein, daß die einzelne konkrete Bestimmung, die er gerade
trifft, der Natur der Sache nach rückwirken müsse oder
dürfe. Die Auslegung, daß der Gesetzgeber nach seiner
eigenen Ansicht gegen das Recht handle, wird daher
nur in den allerseltensten Fällen und nur auf Grund ganz be-
sonderer Beweise zulässig sein. Das Verhältnis der Justiniani-
schen Novelle, welche die Vorschrift der sogenannten Rück-
wirkung ausdrücklich enthält, zu dem Art. 1912 C. c, welcher
sie nicht enthält und dennoch so ausgelegt wird, geben einen
Beleg von dem Unkritischen dieser Bergmannschen Methode.
295
gebung, welche diese Verpflichtung dem Schuldner nicht
auferlegte, getätigt sei, wenn nur dies zweijährige Unter-
bleiben der Rentenzahlungen unter der Herrschaft des
Code Napoleon erfolgt sei1).
So entschied man auch noch mit demselben Rechte, daß
der Art. 1977 des Code Napoleon, welcher verfügt, daß
derjenige, zu dessen Gunsten eine vermittelst eines Kauf-
preises erworbene Leibrente bestellt sei, die Resiliation des
Vertrages fordern kann, wenn der Schuldner die im Ver-
trage festgesetzten Sicherheiten nicht liefert, auch auf
Leibrentenverträge anwendbar sei, die vor dem Code Na-
poleon konstituiert worden2).
Aber die tötende Macht der Formel, diese ewige sich
1) Dagegen sprechen Proudhon, des Personnes, I, 64 (ed.
Valette) ; Chabot, Quest. trans. v° Rentes constituees, § 1er ;
Duranton, T. 17, Nr. 615; Valette sur Proudhon 1. 1. Demo-
lombe, Cours de cod. civ., T. 1, Nr. 55. Aber die richtige
Ansicht vertritt die weit größere und gewichtigere Zahl der
Autoren; so Merlin, Rep. v° Rente constituee, § 12, Nr. 3,
und v° Effet retroactif, Sect. III, § 3, Art. 3, V, 576 sqq. ;
Delvincourt, III, 413; Toullier, T. 6, Nr. 250; Troplong,
du Pret, Nr. 485 ; Duvergier, Nr. 355 fg. ; Richelot, Princip.
de droit civ., T. I, Nr. 31. Und einstimmig hat sich die
Jurisprudenz der Gerichtshöfe hierfür ausgesprochen. So die
Urteile der Appellhöfe von Poitiers vom 27. Dezember 1809,
von Bordeaux vom 25. April 1811, von Turin vom 3. Mai 1811 ;
und der Pariser Kassationshof in seinen Urteilen vom 6. Juli
1812, vom 4. November 1812, vom 10. November 1818, vom
25. November 1839. Ebenso war in der belgischen Jurisprudenz
ein heißer Kampf hierüber, der endlich durch den obersten
Gerichtshof von Brüssel im richtigen Sinne entschieden wurde ;
s. Urteil vom 5. Mai 1820 und die Pasicrisie beige zum Urteil
vom 16. Mai 1823.
2) Urteil des A. H. v. Riom vom 4. August 1818. (Sirey,
19, 2, 37.)
296
bei jedem Schritt an seine Füße heftende Gefahr des
Juristen riß hin ! x)
Weil man jene Punkte mit Recht so entschieden hatte,
so entschied man nun auch, durch die äußere Gleichheit
verführt, daß der Art. 1978 des Code Napoleon, welcher
verfügt, daß das bloße Ausbleiben der Rentenzahlungen
den Leibrentengläubiger nicht berechtige, die Rückzah-
lung des Kapitals zu verlangen, auch auf solche Leibrenten-
*) Unglücklicher- oder glücklicherweise ist es ganz un-
möglich, die Wahrheit in eine Formel zu bringen ! Ein klarer
Beleg hierzu mag sein, daß die von uns selbst im § 1 auf-
gestellte Formel — wenn man sie nur wörtlich als solche und
nicht nach ihrem begrifflichen Sinn auffaßt. — an den in dem
gegenwärtigen Paragraph betrachteten Fällen bereits falsch
geworden ist. Denn die hier betrachteten Gesetze sind sämt-
lich solche, welche das Individuum allerdings durch Vermitt-
lung einer früheren Willensaktion desselben treffen — und
es dennoch mit Recht und ohne Rückwirkung treffen ! Die
Formel ist also schon hier falsch geworden — und dennoch
wird man uns jedenfalls das zugeben, daß alles bisher Gesagte
mit eiserner Konsequenz aus dem von uns im § 1 auf-
gestellten Begriff entwickelt ist. Aber die Formel als solche
kann und muß hier falsch werden, weil außer der früheren
Willensaktion, durch deren Vermittlung das neue Gesetz das
Individuum trifft, hier auch noch eine neue zweite und erst
nach dem Gesetz eintretende individuelle Willenshandlung da
ist, ohne deren Vermittlung das Gesetz das Individuum nicht
treffen würde und durch deren Begehung das Individuum sich
den Folgen des neuen Gesetzes mit Freiheit unterwirft.
Ebenso wird die Formel am folgenden Paragraph zuschan-
den, obgleich er wieder nur die strengste Konsequenz des in
ihr waltenden Begriffes ist. Soll eine wahrhafte Formel
für die Rückwirkung gegeben werden, so kann es nur die des
Begriffes selbst sein: die individuelle Willensfreiheit dürfe
nicht verletzt werden. Aber was hierin enthalten ist und nicht,
zeigt nur der Reichtum der gesamten Ausführung.
297
vertrage anwendbar sei, welche unter einem Gesetz ge-
schlossen, das den Gläubiger in diesem Falle zur Resolu-
tion des Kontrakts berechtigt hatte1). So entriß man ein
kontraktlich erworbenes, stillschweigend ausbedungenes
Recht, wrelches das Motiv und die vorausgesetzte Bedin-
gung des Leibrentenvertrages gewesen war oder gewesen
sein konnte, ohne daß seine Aufrechterhaltung von der
Willensfreiheit des Betroffenen abhängig gewesen wäre2).
1) Diese flagrante Rückwirkung beging der Kassationshof
von Paris in seinen Urteilen vom 18. Dezember 1822 und vom
17. Juli 1824, und der A. H. von Bordeaux durch Urteil vom
19. August 1829. Dagegen entschieden — ■ und diesmal also
mit Recht — Chabot, Quest. trans. v° Rentes viag., § 1er,
II, 284, und der A. H. von Bordeaux in seinen Urteilen vom
10. Februar 1807 und vom 15. Dezember 1812.
') Dieses falsche Resultat kann nicht wundernehmen, wenn
man z.B. liest, wie Troplong an der oben (S. 296, Note 1)
angeführten Stelle seine richtige Ansicht über den Art. 1912
begründet. Er sagt : ,,De quoi s'^git-il ? d'une cause de reso-
lution naissant de faits d'execution postcrieurs au contrat (daß
die faits spätere sind, reicht durchaus noch nicht hin) et qua-
hfies par la loi nouvelle. Or l'execution des contracts se
regle par la loi vivante ä l'epoque oü l'execution est reclamee."
Diese letztere Behauptung ist in dieser Allgemeinheit ebenso-
wenig richtig, und mit solchen abstrakten Begründungen muß
man freilich dann notwendigerweise zu den falschesten Resul-
taten kommen, wenn sie auch bei Gelegenheit von Gesetz-
artikeln gegeben werden, auf die sie wirklich passen, aber nur
passen wegen anderer und gerade übersehener konkreterer
Bestimmungen, die dabei in Betracht kommen.
Mehr wundernehmen müßte dagegen jenes falsche Resultat,
wenn man sieht, daß schon Merlin in bezug auf diesen Punkt
die Formel ganz richtig und konkret hingestellt hat, sie
aus den angeführten Entscheidungen über den Art. 1912 und
seinen oben (S. 282) angeführten Worten mit sicherem logi-
schen Takt ableitend. Er fragt sich (Rep. v° Effet retr., V,
582), ob ein Gesetz, welches neue Resolutionsgründe
298
Es muß jetzt aus dem Vorigen von selbst ersichtlich
sein, wie es sich in bezug auf gewisse vom Gesetz zur
Anfechtung der Gültigkeit gewisser Obligationen gewährte
Gründe verhält. Gewiß entscheidet Weber1) mit Un-
recht, daß bei dem Widerruf einer Schenkung wegen Un-
dankbarkeit oder wegen nachgeborener Kinder nicht das
Gesetz zur Zeit der Schenkung, sondern das Gesetz zur
Zeit der Widerrufsklage maßgebend sei, weil die Schen-
kung an und für sich gültig sei und erst durch eine be-
sondere Klage entkräftet werde. Gewiß entscheidet
Meyer-) ebenso mit Unrecht, daß es in diesen Fällen
nicht auf das Gesetz zur Zeit der Schenkung, sondern auf
das Gesetz zur Zeit des späteren Ereignisses, resp. der
einführt, auf die früheren Verträge einwirken könne? und er
antwortet: „Non", si ces causes derivent de faits anterieurs
ä la loi nouvelle, ou si lorsqu'ils sont poste'rieurs, ils ne
dependent pas de la volonte de la partie contre laquelle on
voudrait provoquer la resolution. Oui, si elles derivent de
faits ä la fois posterieurs ä la nouvelle loi et dipendans
aniquement de la volonte de cette partie." Man müßte wahr-
haft erstaunt sein, wie hier die ganz richtige Ansicht entwickelt
sein konnte, ohne dennoch in 30 Jahren auf deutsche und selbst
auf französische Autoren und Gerichtshöfe den geringsten Ein-
fluß zu üben und sie von jenen falschen Resultaten abzuhalten,
wenn der Grund hiervon nicht eben darin läge, daß diese richtige
Unterscheidung, welche Merlin über die ,,effets des contrats
aufstellt," dennoch bei ihm, nur durch einen logischen Instinkt
hervorgetrieben, in keinem systematischen Zusammenhang mit
seiner sonstigen Ansicht von der Rückwirkung steht, die viel-
mehr mit den bisher üblichen Theorien übereinstimmt, so daß,
indem er die Rückwirkung nicht in ihrem Begriff, als Verletzung
der individuellen Willensfreiheit, aufzufassen weiß, jene Un-
terscheidung in dieser Isolierung ihre wahrhafte Begründung
und Beweiskraft gänzlich verliert.
') A. a. O., S. 107.
-) A. a. O., S. 175, 177, 188 fg.
299
Widerrufsklage ankomme, weil die Parteien bei der
Schenkung an diese Ereignisse, die nur „akzidentelle
Folgen" seien, nicht hätten denken können.
Gewiß hat Savigny1) diese Behauptungen hinreichend
widerlegt und die Halt- und Prinziplosigkeit derselben
genügend nachgewiesen, die denn auch allgemein aner-
kannt ist2).
Aber gewiß ist es nicht minder falsch, wenn nun Sa-
vigny selbst hierüber also spricht3): „Widerruf einer
Schenkung wegen Undankbarkeit oder wegen nachgeborener
Kinder. Es entscheidet die Zeit der Schenkung, nicht die
Zeit des späteren Ereignisses, noch weniger die Zeit der
auf Widerruf angestellten Klage." Es ist dies eben falsch,
sagen wir, ja es kann auf diesem Formelnwege gar nicht
zur Wahrheit durchgebrochen werden. Der Weg zu dieser
ist vielmehr grundsätzlich dadurch versperrt. Es muß
vielmehr eine zweifache Unterscheidung gemacht werden.
Widerruf wegen Undankbarkeit und Widerruf wegen nach-
geborener Kinder sind nicht von derselben Natur. Der
eine findet statt wegen einer auf seiten des Beschenk-
ten vorgenommenen freien Willenshandlung, der andere
wegen eines nur seitens des Schenkers eingetretenen
Ereignisses. Nur in einem bestimmten Fall wirken beide
Gründe, wie wir sehen werden, in derselben Weise ein,
und dies hat verführt, sie überhaupt als unterschiedslose
zu betrachten. Der zweite, noch wichtigere Unterschied,
der gemacht werden muß, ist der : sind die Widerrufs -
gründe durch das Gesetz zur Zeit der Schenkung gegeben
und werden sie durch das neue aufgehoben? oder
fanden sie umgekehrt zur Zeit der Schenkung nicht statt
*) System, VIII, 438 fg.
3) Vgl. Bornemann, a. a. O., S. 25 fg.
3) A. a. O., S. 442.
300
und sind erst durch das neue Gesetz eingeführt ? Es ist
im hohen Grade verwunderlich, daß die Juristen stets
und fast ohne Ausnahme beide Arten von Gesetzwechsel
für identisch wirkend betrachten, nicht nur in diesen, son-
dern ebenso in allen ähnlichen Fällen1). Nichts hat ver-
derblicher gewirkt und mehr zum Irrtum gezwungen
als diese unselige Formelnmethode, da nur in zu häufigen
Fällen der konstitutive Unterschied gerade darin liegen
wird, ob es das alte Gesetz ist, welches die Befugnis
übertrug, die von dem neuen aufgehoben werden soll, oder
ob sie umgekehrt erst durch das neue Gesetz eingeführt
wird.
Betrachten wir also die Zulässigkeit jener Widerrufs-
klagen nach den angegebenen Unterscheidungen. Sind die
Widerrufsgründe durch das Gesetz zur Zeit der Schen-
kung gegeben, so wirken sie als stillschweigender Vor-
behalt des Schenkenden, und hier ist es dann deshalb
gleichgültig, ob der Widerruf sich auf Undankbarkeit
oder auf nachgeborene Kinder gründet. In beiden Fällen
hat sich der Schenkende durch die als stillschweigende
Bedingung in den Kontrakt übergehende gesetzliche Be-
stimmung kontraktlich den Widerruf vorbehalten und der
Beschenkte sich dem unterworfen. Der Schenker hat nur
mit Hinblick auf diese Widerruflichkeit, falls ihm Kin-
der entstünden oder Undankbarkeit zugefügt würde, ge-
schenkt. Er kann wenigstens nur mit Hinsicht auf diese
Garantie die Schenkung getätigt haben, die er sonst viel-
leicht ganz unterlassen oder anders eingerichtet haben
würde. Wie wäre es also möglich, ohne Denaturierung
seiner Handlung, und also ohne eine seinem Willen Ge-
*) Vgl. z. B. über die Zulässigkeit des Zeugenbeweises oben
S. 248 fg.
301
vvalt antuende Rückwirkung ihm diese kontraktlichen Vor-
behalte zu rauben, bloß weil ein neues Gesetz sie nicht
mehr als schon ohne besondere Verabredung gültige, selbst -
rcdende Vorbehalte anerkennt ?
Anders wenn das Gesetz zur Zeit der Schenkung die
Widerrufsgründe nicht kannte und sie ein neues Gesetz
einführt. H i e r ist zu unterscheiden, ob sich der Wider-
ruf auf nachgeborene Kinder oder auf Undankbarkeit
gründet. Im ersteren Falle kann das neue Gesetz durch-
aus nicht einwirken. Es wurde dem Beschenkten eine un-
widerrufliche Schenkung gemacht, und er hat sie als
solche akzeptiert. Wäre sie widerruflich gewesen,
so würde er sie vielleicht gar nicht angenommen und sich
so z. B. der Chance ausgesetzt haben, nach Empfang eines
Vermögenszuwachses, der ihn zu einer Änderung seiner
Lebensweise oder einem Aufgeben oder Vertauschen seines
Geschäftsbetriebes veranlassen konnte, dies Vermögen spä-
ter eventuell zurückgeben zu müssen und dann hierdurch
schlimmer zu stehen als vor dem Empfang desselben. Hier
also wendet sich der Bruch seines Willens und die Rück-
wirkung gegen den Beschenkten.
Aber nicht so verhält es sich, wenn der Widerruf sich
auf Undankbarkeit gründet (natürlich insofern die Hand-
lungen der Undankbarkeit nicht schon dem neuen Gesetze
vorausgegangene sind). Wenn der Beschenkte die Erzeu-
gung von Kindern seitens des Schenkers nicht verhindern
kann, so hängt es dagegen nur von seinem Willen ab, von
jetzt ab keine Handlungen der Undankbarkeit zu begehen.
Begeht er sie dennoch, so hat er sich mit freiem Wil -
1 e n den ihm bekannten Folgen unterworfen, die das jetzt
geltende Gesetz daran knüpft, hat selbst auf die Unwider-
ruflichkeit der Schenkung verzichtet. Da es nur bei
ihm stand, dieselbe aufrechtzuerhalten -- wie kann er sich
302
über auf seinen Willen ausgeübte Gewalt und also über
Rückwirkung beklagen ? Was soll ihm das neue Gesetz
entrissen haben ? Die Schenkung noch nicht — sondern
nur ein Recht auf Undankbarkeit. Ein solches
gibt es überhaupt nicht, und am allerwenigsten ein er-
worbenes. Wenn man sehr weit gehen will, so würde
man nur sagen können, es ist ihm eine gesetzliche Befugnis
entrissen, gewisse Handlungen zu begehen. Aber solche
abstrakte gesetzliche Befugnisse sollen ja eben, wie allge-
mein anerkannte Lehre und auch diejenige Savignys ist,
durch neue Gesetze sofort geändert werden.
§7. Absolute Gesetze. Begriffliche Ein-
wirkung auf erworbene Rechte. Aufhebung
ohne und mit Entschädigung. Auflösung des
Entschädigungsscheines. Das begriffliche
Prinzip des Unterschiedes. Beispiele. Fran-
zösischeundpreußische Gesetze. Die Grün d-
st euerf reiheit. Die beiden Klassen von ab-
soluten Gesetzen und ihr begrifflicher
Unterschied. Wucher gesetz; lex commissoria.
Die Pandektentheorie.
Das Individuum kann durch seine Handlungen, durch
einseitigen oder zweiseitigen Vertrag, sich oder anderen
Personen Rechte nur sichern, wenn und insoweit
die bestehenden Gesetze dies erlauben.
Es kann selbst wundernehmen, in einer wissenschaft-
lichen Behandlung des Rechts einen so elementaren und
sich von selbst verstehenden Satz erst noch ausdrücklich
erwähnt zu sehen.
Und dennoch ist es nur die Vernachlässigung dieses
einfachen Elementarsatzes und seiner in ihm enthaltenen
Konsequenzen, welche die Quelle von unzähligen Schwie-
303
rigkeilen gewesen ist, die man sich selbst bereitet hat, und
von ebenso zahlreichen und großen Irrtümern, in die man
bei der beabsichtigten Lösung jener Schwierigkeiten
verfiel.
Denn in jenem hervorgehobenen Satze ist auch schon
von selbst der Folgesatz enthalten : das Individuum kann
sich und andern nur insoweit und auf so lange
Rechte sichern, insoweit und so lange die
jederzeit bestehenden Gesetze diesen Rechtsinhalt als einen
erlaubten ansehen.
Mit anderen Worten : wir haben hier den Gedanken-
grund der zerstörenden und dennoch von jeder Rückwir-
kung freien Einwirkung prohibitiver oder zwin-
gender Gesetze1) auf frühere Verträge vor
uns, und es ist gegenwärtig unsere Aufgabe, die Recht-
mäßigkeit dieser Einwirkung, die begrifflichen Grenzen
derselben und ihre Übereinstimmung mit unserer Theorie
der individuellen Willensfreiheit näher zu ent-
wickeln.
Diese Rechtmäßigkeit und — was damit zusammen-
fällt ■ — die Nichtverletzung des Begriffes der rechtlichen
Willensfreiheit ist aber durch den einen Satz erwiesen, dem
seine Begründung sofort auf dem Fuße folgen soll, daß :
jedem Vertrage von Anfang an die still-
schweigende Klausel hinzuzudenken ist,
es solle das in demselben für sich oder andere sti-
pulierte Recht nur auf so lange Zeit Gel-
*) Savigny hat die sehr passende Benennung: absolute
Gesetze, für sie eingeführt, unter welchen alle solche Gesetze
verstanden werden, über welche der Privatwille nicht paziszieren
kann, während alle Gesetze, welche ein Abweichen der Privat-
willkür gestatten, von ihm als vermittelnde bezeichnet
werden.
304
tung haben, solange die Gesetzgebung ein
solches Recht überhaupt als zulässig be-
trachten wird.
Und diese Klausel ist um so mehr in jeden Vertrag als
die eigene Willenserklärung der Parteien hineinzudenken,
als ein entgegengesetzter Wille derselben ein von
Haus aus unrechtlicher und ungültiger wäre.
Die Begründung ist einfach. Die alleinige Quelle des
Rechtes ist das gemeinsame Bewußtsein des ganzen Vol-
kes; der allgemeine Geist. Seit Hegel ist dieser Satz
theoretisch so festgestellt, daß er keines neuen Beweises
bedarf. Seit Savigny x) ist er den positiven Juristen so ein-
geimpft, daß auch von ihnen kein Widerspruch mehr zu
befürchten ist. Savigny unterließ nur, die für unser Gebiet
erforderliche erschöpfende Folgerung daraus zu ziehen.
Diese streng logisch-notwendige Folgerung ist die : daß
es für das Individuum rechtlich unmöglich ist, die
Gemeinschaft mit dieser alleinigen Substanz des
Rechtes aufzugeben, seinen Zusammenhang mit ihr zu zer-
reißen und sich gegen ihren Wandel festhalten zu wollen.
Eine solche Absicht des Individuums würde, statt recht-
lich in Betracht zu kommen, vielmehr (ähnlich wie wir
dies von der Rückwirkung in § 1 gesehen haben) das ab-
solute Unrecht bilden, den Rechtsbegriff selbst
aufzuheben. Denn dieser besteht eben nur in dieser
Gemeinschaft, besteht nur darin, daß das, was
jederzeit den absoluten Inhalt des allgemeinen Bewußt-
seins bildet, auch für alle einzelnen da und vor-
handen sei.
*) Und gerade auch wieder bei unserer Materie erinnert er
ausdrücklich an denselben (VIII. 533: ,,Das Recht hat seine
Wurzel in dem gemeinsamen Bewußtsein des Volkes." und
S. 536), ohne ihn aber zu seinen Konsequenzen zu entwickeln.
20 La^alle. Ge> Schriften. Band TX. 305
Die Absicht, durch das Erwerben eines Rechtes
dasselbe gegen eine spätere dieses Recht aus-
schließende Gestalt des öffentlichen Rechtsbewußt -
seins zu befestigen und sich also gegen den Zusammenhang
mit diesem und seine Fortwandlung in isolierter Selbst-
herrlichkeit festhalten zu wollen, würde somit den sich so-
fort logisch selbstzerstörenden Widerspruch in sich
einschließen, in demselben Akt die Gemeinschaft mit
dem allgemeinen Rechtsbewußtsein und die Trennung
von demselben zu gleicher Zeit zu setzen. Denn das ein-
zelne Recht, das eben erworben werden soll, hat zum
letzten und wahren Titel seiner Gültigkeit wiederum nicht
das bestimmte es gestattende Gesetz, welches selbst nur
ein einzelner Ausfluß des Rechtsbewußtseins ist, sondern
es hat zu seinem wirklichen Träger vielmehr nur den
Quell dieses Ausflusses, jenes allgemeine Rechtsbewußt-
sein des Volkes selbst. Auch während seines Beste-
hens und Geltens besteht und gilt dies Recht als ein
Recht nur auf Grund seiner konformen Gemeinschaft
mit diesem Wesen alles Rechtes. Ein Recht erwerben
und es auch für d i e Zeit festhalten wollen, wo das all-
gemeine Bewußtsein dies Recht nicht mehr als zulässig
und erlaubt anschauen wird, heißt also in einem Atem den
Rechtstitel, auf Grund dessen man erwirbt, die Über-
einstimmung mit dem allgemeinen Bewußtsein, setzen
und aufheben, anrufen und ausschließen zu
gleicher Zeit !
Durch Erwerbung eines Rechtes kann sich daher
das Individuum niemals der Einwirkung des allgemeinen
Rechtsbewußtseins entziehen wollen. Sondern gerade eher
nur durch Nichterwerbung wäre dies insoweit min-
destens ohne logischen Widerspruch möglich, und nur ein
solches Individuum würde diese Einwirkung wirklich
306
von sich abhalten können, welches, wenn dies denkbar wäre,
nun und niemals ein Recht weder erwerben
noch ausüben und haben wollte. Denn Er-
werben heißt seitens des Individuums selbst das öffent-
liche Bewußtsein als ein für den Handelnden gültiges
und verbindliches bestellen, und die nicht
erworbenen Rechte sind, wie wir früher gesehen haben,
überhaupt nur vom Gesetz verliehene und mit jedem, sogar
nicht prohibitiven Ruck desselben wandelnde Fähig-
keiten !
Das Individuum kann sich also von vornherein
ein Recht in gültiger Weise nur auf so lange stipulieren.
so lange die Gesetze dies Recht für ein erlaubtes be-
trachten werden.
Das Gesagte ändert sich auch durchaus nicht, wenn ein
Gesetz in aeternum und ausdrücklich gegen jeden künftigen
prohibitiven Gesetzgebungswandel ein bestimmtes Recht
sich zu sichern den Individuen erlauben sollte. Ein solches
Gesetz würde natürlich gar keine längere Zeitdauer
beanspruchen können als jedes andere Gesetz, d. h.
keine längere Dauer als eben d i e seines gesetzlichen
Bestehens. Ein solches Gesetz, welches nur aus einer
irrigen Auffassung der inneren und ewigen Natur alles
Rechtes hervorgegangen wäre, würde natürlich mit der
besseren Erkenntnis des Rechtes als der stetigen Verwirk-
lichung des jederzeitigen allgemeinen Vernunftgehaltes so-
fort von selbst verschwinden und wirkungslos werden müs-
sen. Auch würde diesem Gesetze ebensowenig durch
eine es ergreifende Handlung des Individuums (§ 3) zu
einer längeren Dauer verholfen werden können als einem
anderen Gesetze, d. h. zu längerer Dauer als bis eben
zu dem Moment, wo seine Geltung durch eine die Natur
2o* 307
des Rechtes besser erkennende Gesetzgebung prohibiert
und ausgeschlossen ist.
Es läßt sich also vom Individuum kein Pflock in den
Rechtsboden schlagen und sich mittels desselben für
selbstherrlich für alle Zeiten und gegen alle künf-
tigen zwingenden oder prohibitiven Gesetze1) erklären.
Denn nichts anderes als diese verlangte Selbst-
souveränität des Individuums liegt in der For-
derung, daß ein erworbenes Recht auch für solche Zeiten
fortdauern soll, wo prohibitive Gesetze seine Zulässigkeit
ausschließen.
Ein zeitweilig bestehendes Gesetz stellt einen Rechts-
inhalt als einen erlaubten hin. Das Individuum kann den-
selben erwerben, d. 1. zu dem seinigen machen und for-
dern, daß dieser Rechtsinhalt für es bestehe, solange
irgend die Gesetzgebung denselben als einen erlaubten
und zu erwerbenden zuläßt. Aber was dem einzelnen
nicht zustehen kann, ist dies, das zeitweilig bestehende
Gesetz zu dem für ewige Zeiten, trotz aller spä-
teren ausschließenden Gesetze, für ihn bestehen-
den und ihn regierenden Gesetz zu proklamieren. Es heißt
dies durch die Kraft der Logik gar nichts anderes, als :
sich selbst zu seinem eigenen Gesetzgeber erklären,
indem man durch eigene Machtvollkommenheit ein Gesetz
über die Zeit seiner Dauer hinaus und in die Zeit der
diesen Rechtsinhalt ausschließenden, prohibitiven Gesetze
hinein als noch maßgebend und verbindlich kontinuieren
will. Es braucht aber dieser Anspruch nur auf diese seine
logische Natur zurückgeführt zu werden, um seine ganze
Nichtigkeit, sein totales Verstoßen gegen den Rechts -
*) Wir bemerkten bereits (S. 304, Anm. 1), daß wir hier-
unter mit Savigny alle solche verstehen, welche kein Abweichen
der Privatwillkür gestatten (vgl. oben S. 74 fg.).
308
begriff selbst, und sein ebenso rechtswidriges als
unsittliches Zerreißen des Zusammenhanges mit der allei-
nigen Substanz alles Rechtes, dem allgemeinen Bewußt-
sein, bloßzulegen.
Es läßt sich also, sagen wir, ebensowenig ein solcher
Pflock in den Rechtsboden treiben, als sich ein Pflock in
das Erdreich schlagen und verlangen läßt, daß dieser
selbst dann noch an seiner Stelle bleibe, wenn sich das
ganze Erdreich, in dem er haftet, in Bewegung setzt.
Dies ist der wahre Sinn des oft gehörten Anspruches :
es gibt kein Recht gegen das Recht. Es heißt dies nichts
anderes, als daß jedes einzelne Recht der Umwandlung
der Rechtssubstanz selbst folgt, aus der es hervorgegangen
und in der es haftet.
So einfach und leicht zu lösen sind die über das Ein-
greifen späterer Prohibitivgesetze der verschiedensten
Art1) so unaufhörlich erhobenen Schwierigkeiten, und so
sehr diese Entwicklung nur auf den innersten Konse-
quenzen des von unserer gesamten modernen Philosophie
aufgestellten Rechtsbegriffes beruht2), ebensosehr ist sie
vermöge ihrer logischen Natur, wie wir später sehen wer-
den, in den Entscheidungen der alten römischen
x) Wir heben aber einstweilen hervor, daß, wie schon in
unserer Ausdrucksweise deutlich genug liegt, wir hier immer
nur von materiellen Prohibitivgesetzen reden, nicht also von
solchen, die sich nur gegen die Form von Handlungen richten.
Siehe im Verlauf dieses Paragraphen über die beiden Klas-
sen von Prohibitivgesetzen.
2) Siehe z.B. Fichte, „Gesamte Werke", VII, 560: „Nun
kann aber der Mensch nichts versprechen, er kann sich in nichts
binden, was gegen seine Bestimmung ist. — Gründlich : es
gibt nach mir gar keine geltenden Verträge, als die
durch das Recht geforderten."
309
Juristen stets tätig gewesen und zur Anerkennung ge-
kommen.
Von dem Gesagten aus ergibt sich nun bereits zu-
nächst mit einem Blicke die ganze Hohlheit und tiefe
Rechtswidrigkeit des sinnverwirrenden interessierten Ge-
schreies, welches die Berechtigten jederzeit anheben, wenn
der öffentliche Geist in seiner Fortentwickelung dazu ge-
langt ist, den Fortbestand eines früheren Rechtes, z. B.
Leibeigenschaft, Hörigkeit, Roboten, Bann- und Zwang-
gerechtigkeiten, Dienste und Abgaben bestimmter Natur,
Jagdrecht, Grundsteuerfreiheit, fideikommissarische Erb-
folge usw. von jetzt ab auszuschließen.
Von einer Rückwirkung, von irgendwelcher Krän-
kung erworbener Rechte, kann, wie wir gesehen
haben, in allen diesen Fällen gar nicht die Rede sein.
Machen wir hier einen kurzen vorläufigen Ruhepunkt
und überblicken wir schon hier das Verhältnis unserer
Theorie, wie sie sich bisher in konsequentester Folge vom
strengsten Begriff der individuellen Willensfreiheit aus-
gehend entwickelt hat, zu der von dem philosophischen
Verklärer einer untergehenden Welt, Herrn Stahl, auf-
gestellten Lehre, obgleich die letzte Begründung des im
Anfang des gegenwärtigen Paragraphen Gesagten und seine
innerste Einheit mit dem in § 1 aufgestellten Begriffe,
aus welchem wir alles weitere abgeleitet haben, in noch
tieferer Weise und noch strengerer Systematik sich
erst im weiteren Verlauf dieses Paragraphen sowie des
§ 10 (vgl. auch § 13) ergeben wird.
Der moderne Neuplatoniker, Herr Stahl, beginnt seine
Lehre über die erworbenen Rechte (Philosophie
des Rechts, dritte Auflage, Bd. 2, §§15—18, S. 336
bis 343) damit, daß er dieselben definiert als solche, die
„bestimmte Handlungen oder bestimmte Vor-
310
gänge und Lagen voraussetzen" (S. 336). Der
Schutz der erworbenen Rechte wird dann darauf ba-
siert, daß die Person „handelndes Subjekt" ist,
und es „zum Wesen der Person gehört, für ihren Zu-
stand wirksam und ihres Zustandes sicher zu
sein", daß also „der Rechtszustand eines Menschen nicht
bloß Resultat seines Begriffes als Persönlic h -
k e i t , sondern zum Teil auch sein eigenes Werk,
Resultat seines Handelns und beziehentlich des
Handelns der anderen Personen sein müsse ' ,
da, wenn dieser von der Person siqh selbst konstituierte
Zustand nicht anerkannt würde, dem Menschen die „Selbst-
ursächlichkeit" entzogen wäre ; weshalb der Zustand, wie
ihn der Mensch „der bestehenden Ordnung gemäß (legal)
begründet oder durch Ereignisse gewonnen hat",
ihm „unentziehbar als Erweiterung seiner selbst"
bleiben müsse. Er würde sonst „nicht wahrhaft als Per-
son behandelt werden, sondern lediglich als Begriff
oder Objekt, welchem gewisse Wirkungen not-
wendig zukommen". Insoweit hier in dieser Be-
tonung, daß die Person handelndes Subjekt und darum
Selbstursächlichkeit ihres Zustandes sein müsse, der Be-
griff der individuellen Willensfreiheit tätig
ist, so ist derselbe gerade erst bei uns (§1) zu seiner
wahrhaften Anerkennung und begrifflichen Entwickelung
gelangt, indem gezeigt wurde, daß jede Vernichtung oder
Verletzung einer individuellen Willensaktion als Denatu-
rierung des Wissens und Wollens des Subjektes den
Begriff des subjektiven Geistes, seine Frei-
heit und Zurechnungsfähigkeit aufheben, den
Geist zur Sache machen würde ; daß also auch die
Idee der erworbenen Rechte nur im Begriff des Men-
schen beruht und letzterer daher, wenn er in erworbenen
311
Rechten geschützt wird, gleichfalls nur „lediglich als
— ein bestimmter Begriff, welchem gewisse Wir-
kungen notwendig zukommen", behandelt wird.
Herr Stahl bemüht sich also ebenso vergeblich wie grund-
los, gegen die Behandlung des Menschen nach seinem
Begriffe zu polemisieren und irgend anderswo in der
Luft ein Prinzip zu finden, auf welches der „Schutz'
der erworbenen Rechte zu gründen sei1).
Nur insofern ist diese Polemik gegen den Begriff sub-
jektiv allerdings berechtigt, als bei Herrn Stahl von
Anfang an in greulichster Begriffsverwir-
rung die entschiedensten Gegensätze fried-
lich beieinander schlummern! Wenn nämlich
1) Herr Stahl urgiert dies nochmals in der Anmerkung,
wo er sagt: „Dieser Irrtum — der Nichtanerkennung erwor-
bener Rechte — hängt auf das engste mit dem rationalistischen
Prinzip zusammen: Anerkennung nur dessen, was logisch
folgt, Ausschließung alles dessen, was Persönlich-
keit, Freiheit, Tat zur Ursache hat," weshalb denn auch
Hegel, wie seine Abhandlung über die württembergischen Land-
stände, die englische Reformbill usw. zeige, keinen Sinn für
erworbene Rechte gehabt habe. Aber dieser Gegensatz, wie
er hier aufgestellt wird, ist überhaupt gar kein Gegensatz!
Was wahrhaft durch „Persönlichkeit, Freiheit, Tat"
begründet wird, ist zugleich das, was logisch folgt, aus
dem logischen Begriff des subjektiven Geistes folgt,
wie wir dies gerade durch unsere gesamten, von dem Begriff der
subjektiven Freiheit ausgehenden Ausführungen bereits bisher
zur klarsten Evidenz gebracht haben und weiter bringen werden.
Freilich hat bei Herrn Stahl dieses Ankämpfen gegen den
Begriff seinen tieferen Grund ; denn wo von dem Begriff und
der begrifflichen Freiheit des Subjektes ausgegangen wird,
da ist dann freilich der Sprung in die individuelle Willkür
der germanischen Feudalwelt und das Festhalten ihrer ver-
steinten Ordnung gegen den Fluß des historischen Begriffes
nicht mehr möglich.
312
Herr Stahl schon in der zuerst angeführten Definition der
erworbenen Rechte sie als solche bezeichnet, welche „be-
stimmte Handlungen oder bestimmte Vorgänge und
Lagen voraussetzen", so wird von ihm gänzlich außer
acht gelassen, daß diese beiden Faktoren, Handlungen
einerseits und Vorgänge und Lagen andererseits, ja
gerade in bezug auf den Punkt, aus welchem der
Schutz der erworbenen Rechte fließen soll, die strik-
testen Gegenteile sind. Denn wenn derselbe darauf
basiert werden soll, daß die Person „Selbstursächlich-
keit" ihres Zustandes, „handelndes Subjekt" sei, ihr Zu-
stand „ihr Werk sein müsse", so kann dieses Moment
ja schlechterdings nur für die eigenen individuellen
Handlungen des Individuums angerufen werden,
aber nicht für das, was ihm durch objektive Vorgänge
und Lagen entstanden ist, weil solche ja eben nicht
in der Selbstursächlichkeit des handelnden
Subjektes ihren Grund haben und diese daher auch
nicht durch die Entziehung eines durch sie nicht Ent-
standenen beeinträchtigt werden würde.
Wenn durch einen bloßen Vorgang oder eine Lage
ein erworbenes Recht entstehen könnte, so müßten
dann sogar auch lediglich durch die Handlungen
dritter Personen, z.B. durch Schenkung vor der
Akzeptation oder durch erlittene Beschädigung — die ein
bloßes willenloses Leiden darstellt — erworbene
Rechte entstehen können, wie Herr Stahl auch ausdrück-
lich betont, es müsse der Rechtszustand des Menschen
zum Teil auch sein „eigenes Werk, Resultat seines Han-
delns und beziehentlich des Handelns der anderen
Personen sein". Ja, es müßten dann ganz ebensogut
auch die bloß durch das Gesetz verliehenen Rechte er-
worben sein. Denn auch unter einem bestimmten Ge-
313
setze geboren sein, ist eine Lage, oder wenn ein Ge-
setz während meines Lebens erlassen wird, so ist dies
ein Vorgang, durch den mir Rechte entstehen. Auch
ist zwischen den Handlungen dritter Personen und
denen des ganzen Volkes — dem Erlaß von Ge-
setzen — überhaupt dem Begriff nach für den hier in
Rede stehenden Punkt gar kein Unterschied. Denn alle
Individuen in ihrer Gesamtheit — das ganze Volk — sind
für das einzelne Individuum gewiß um nichts mehr
(sondern wegen der geistigen Gemeinsamkeit nur eher
weniger) andere gegen es, als die besondere andere
Person.
Wenn daher eine Theorie wahrhaft, wie die gegen-
wärtige, von dem Begriff der individuellen Wil-
lensfreiheit ausgehen will, so muß sie vor allem die
Handlungen dritter Personen und die Aktion der Ge-
setze, als gleich wenig der eigenen Willensaktion
des Individuums entflossen, dieser gegenüberstellen
und als erworbenes Recht nur das bestimmen, was durch
die eigene individuelle Willensaktion erzeugt worden ist.
Eine solche Theorie muß dann zeigen, wie wir dies in
§ 2 A — E getan haben, wie die aus dem Erbrecht, Quasi-
kontrakt, negotiorum gestio, Klag Verjährung und Usu-
kapion entspringenden Rechte (vgl. § 9 über den Besitz)
nur scheinbar aus Handlungen dritter Personen oder
Vorgängen und Ereignissen entstehen, nach ihrer begriff-
lichen Natur sich aber in Wahrheit als durch die ei-
gene Willensaktion des berechtigten Individuums er-
zeugt darstellen. Nicht einmal das Erbrecht würde uns
haben als ein erworbenes Recht gelten können — was frei-
lich dann mit gutem Grunde dem gesunden Rechtsgefühl
als bester Beweis für die Unwahrheit der Theorie ge-
golten haben würde — , wenn es nicht bei der tieferen
314
begrifflichen Betrachtung seinen sinnlichen Schein abge-
streift und sich als die eigene Willensaktion des Indivi-
duums ergeben hätte (s. § 2, A und Bd. 2). Selbst die
durch dolus, Irrtum und Zwang dem Individuum entstehen-
den Rechte mußten sich erst in solche, die durch die
eigene innere Willensaktion hervorgebracht sind, auf-
lösen, damit es nicht scheinen könne, daß erworbene
Rechte dem Individuum durch Handlungen dritter Per-
sonen oder selbst durch eigene Handlungen, die aber
dennoch nicht Produkt seiner Willensfreiheit sind
(ungewollte Handlungen), entstehen können (§ 2, B).
Wenn die Auflösung dieser Institute eine theore-
tische Notwendigkeit war, um überhaupt von dem Be-
griff der individuellen Willensfreiheit als dem Gesetz der
Materie sprechen zu können, so zeigt sich dann die prak-
tische Wichtigkeit dieses Gegensatzes darin, daß nur
durch seine schärfste Festhaltung die Verwirrung ver-
mieden wird, die realiter bloß durch Ereignisse oder
Handlungen dritter Personen entstandenen Rechte (s.
z. B. § 5 das Einspruchsrecht ; die Unterschiede beim
Widerruf von Schenkungsakten in § 6 ; die Obligationen
aus den Delikten, s. sub III Anwendungen Nr. III ; die
Unterschiede im Erbrecht) für erworbene zu nehmen.
Ja, wie erst durch diesen Gegensatz klar wird, warum
Ereignisse, Handlungen dritter Personen und Gesetz
sämtlich auf derselben Linie und der individuellen
Willensaktion gegenüberstehen, so wird auch hier erst
klar, warum die nur durch das Gesetz verliehenen
Rechte schlechterdings niemals erworbene sein können.
Indem Herr Stahl aber von Anfang an die Begründung
von Rechten durch individuelle Handlungen und durch
Vorgänge, Lagen, Ereignisse und das Handeln anderer
Personen ganz unbefangen als identische statt als ent-
315
gegengesetzte nimmt und gleichmäßig als erworbene
behandelt, so entsteht zunächst als natürliche Folge, daß,
was zuerst von ihm als Grund für den Schutz der er-
worbenen Rechte ausgegeben wird — die Anerkennung
der Person als handelndes Subjekt — auf das, was
er sagt und behauptet, in keiner Weise paßt und nur
die Rolle einer falschen Phrasenverbrämung
spielt. Es liegt in dieser unbefangenen Behandlung strik-
ter Gegensätze als identischer Begriffe, wenn sie un-
bewußt geschieht, ein für ein philosophisches Werk un-
erträglicher Mangel des einfachsten theoretischen Denkens,
oder, wenn sie bewußt geschieht, eine widerwärtige So-
phistik.
Aber wir zeigten bereits, daß die notwendige Gedanken-
folge dieser Gleichstellung von individuellen Handlungen
und Vorgängen, Lagen und Handlungen Dritter diejenige
sein müsse, auch die durch das Gesetz entstandenen
Rechte — weil sie dem Individuum gegenüber mit jenen
nur auf gleicher Linie stehen — zu erworbenen
Rechten zu machen. Und in der Tat macht sich diese
Konsequenz sofort bei Herrn Stahl geltend, und das bei
ihm Folgende läßt keinen Zweifel darüber, daß dies sein
wahrer Sinn sei. So sagt er bereits auf der folgenden
Seite, wie der Mensch „seinen Rechtszustand der be-
stehenden Ordnung gemäß begründet oder durch Ereig-
nisse gewonnen hat, so muß er ihm unentziehbar blei-
ben als Erweiterung seiner selbst". Zu den „Ereig-
nissen", durch welche ein Rechtszustand „gewonnen'
wird, gehört doch aber auch unbedingt der Erlaß eines
Gesetzes, das mich durch seine bloße Aktion mit einem
bestimmten Rechtszustande befaßt, und so rückt die Kon-
sequenz näher und näher, daß auch die nur durch das
Gesetz selbst übertragenen Rechte feste, keinem Ge-
316
setzwechsel mehr zugängige Versteinerungen sein sollen.
Und in der Tat heißt es noch auf derselben Seite : die
Nichtanerkennung erworbener Rechte entziehe dem Men-
schen die Selbstursächlichkeit und Sicherheit für seine
Rechtssphäre ,, — sie gewährt ihm nur, was in jedem
Augenblick die übrigen für sein Recht ansehen, nicht
was nach einer unzweideutigen gegenständlichen
Ordnung sein Recht ist". Während also oben der
phraseologische Anschein genommen wurde, vom „han-
delnden Subjekt" auszugehen, sind wir hier bereits bei der
Heiligsprechung der bestehenden „gegenständlichen
Ordnung" angelangt, die nun mit allen aus ihr fließenden
Rechten das erworbene Recht der Person bilden
soll ! !
Und nun freilich kann es nicht mehr wundernehmen,
wenn wir sofort auf der nächsten Seite hören (S. 338) :
„Auch politische Stellungen werden auf diesem
Wege als Rechte erworben", wobei an die englische
Pairie erinnert wird.
Da „politische Stellungen" immer nur allgemeine von
dem Gesetz selbst übertragene Qualitäten sind — Stahl
selbst bezeichnet hierbei die Pairie als die individuelle
geschichtliche Gestaltung einer im Wesen des
Staates begründeten organischen Stellung — , so
tritt also hier auf das stärkste heraus, daß selbst die bloß
durch das Gesetz verliehenen Rechte, mit denen das
Individuum nur von der Gesellschaft befaßt wird
(s. § 1), nach Herrn Stahl erworbene Rechte bilden,
wobei sich nun freilich die Phrasen vom „handelnden
Subjekt" in ihr striktes Gegenteil getrieben haben.
Da Herr Stahl nicht von dem wahrhaften Begriffe des
subjektiven Geistes ausgeht, so kann er natürlich noch
viel weniger zu der in dem gegenwärtigen Paragraphen
317
entwickelten Folgerung von dem rechtmäßigen Einwirken
prohibitiver Gesetze auf Rechte, die wirklich durch in-
dividuelle Willensaktion erworben worden sind, gelangen,
eine Folgerung, die sich, wie bereits im Eingange dieses
Paragraphen gezeigt worden ist und im Verlauf des-
selben, sowie in den §§10 und 13 noch näher zum Vor-
schein kommen wird, schlechterdings nur aus dem philo-
sophischen Begriffe des subjektiven Geistes und dem
daraus herfließenden Verhältnis des freien individuellen
Willens zu seiner eigenen Substanz, dem allgemeinen
Geiste, ergibt.
Für Herrn Stahl ist also die berühmte Nacht vom
4. August 1789, auf welche wir bald näher zu sprechen
kommen werden, der „Zugführer" des europäischen Un-
rechtes, die „Bartholomäusnacht des Eigentums" (S.341).
Nach ihm müssen (S. 338), „auch wenn der Rechts-
zustand nicht vollkommen, ja nicht angemessen war, nach
welchem diese zufälligen politischen Berechtigungen und
Ungleichheiten entstehen konnten", die Berechtigungen, die
„einmal rechtmäßig entstanden sind1)", kraft des
Rechtes der Person (!!) geachtet und geschützt
werden.
„Dies gilt" — fährt Herr Stahl fort — „namentlich
auch von den sogenannten feudalen Rechten. Auf ihre
Angemessenheit für die damalige oder die jetzige Zeit
kommt nichts an. Darüber mag man streiten und dürfte
das Urteil wohl ja für die verschiedenen Rechte ver-
schieden ausfallen. Ihre Rechtmäßigkeit für damals
unterliegt keinem Zweifel und danach stehen sie allen
l) Was wiederum sehr genau auf alle bloß legalen Berech-
tigungen paßt. Denn die „rechtmäßige Entstehung" derselben
für den einzelnen, dem sie durch das Gesetz attribuiert werden,
läßt sich doch gewiß nicht in Abrede stellen.
318
anderen erworbenen Rechten gleich. Keine Zeit ist be-
rufen, Gericht zu halten über die Vergangenheit und die
aus derselben stammenden Rechte je nach ihrem Urteil
über die Angemessenheit anzuerkennen oder zu vernich-
ten." Daß keine Zeit berufen ist, Gericht zu halten
über die Vergangenheit, ist sehr richtig, und sowohl im
Verlaufe dieses Paragraphen wie des § 10 wird hier-
mit Ernst gemacht und nachgewiesen werden, welche
begrifflichen und juristischen Unterschiede hieraus ent-
springen und wie die Vergangenheit immer von ihrem
Rechte beherrscht bleiben muß. Aber die Folgerung, die
Herr Stahl daraus ziehen will, folgt sicher nicht daraus.
Denn gerade die Autonomie, die Herr Stahl hier
jeder Zeit zuspricht, bringt notwendig hervor, daß
keine Zeit unter der Herrschaft der anderen stehen
und also auch nicht rechtlich verpflichtet sein kann, in
ihr selbst noch fortwirken zu lassen, was ihrem
Rechtsbewußtsein widerspricht, und von ihr also von
jetzt ab als ein Dasein des Unrechtes, statt des
Rechtes, angeschaut würde. Stände eine Gegenwart
unter einem solchen Herrschaftsrecht der Vergangen-
heit, so wäre es ja eben nicht wahr, daß jede Zeit
autonom sei, und könnte erst im Prinzip zugegeben
werden, daß eine Zeit unter der rechtlichen Herr-
schaft einer anderen stehen kann, so würde der Ge-
danke, das Verhältnis umzukehren und lieber die Ver-
gangenheit unter die rechtliche Herrschaft der stärkeren
und entwickelteren Gegenwart zu setzen und rück-
wirkend widerrechtlich zu durchwühlen, also die nach dem
heutigen Rechtsbewußtsein unzulässigen und widerrecht-
lichen Handlungen als auch schon für die Vergangen-
heit unzulässige und wirkungslose, als von Haus
aus widerrechtliche, zu bestimmen, damit nur auf
319
derselben begrifflichen und juristischen
Linie stehen, so daß also die „Kommunisten", gegen
welche Herr Stahl S. 338 polemisiert, gar keinen Grund
hätten, die Konsequenzen seiner Lehre von sich zu weisen !
Herr Stahl muß also bei seiner Auffassung der er-
worbenen Rechte jeden einmal bestehenden Rechtszustand
als erworbenes Recht hinstellen und heilig sprechen, und
er tut dies auch, wie wir gesehen haben !
Aber nicht nur die ernste Hingabe an die moderne
Philosophie hat ihre unvermeidlichen Folgen, sondern
keiner kann auch nur buhlen mit ihr, ohne Schaden an
seiner Seele zu nehmen. Und Herr Stahl hat viel zu
viel mit ihr gebuhlt, um nicht diese Folge tragen zu
müssen.
Statt also bei der Kanonisierung jedes einmal gewor-
denen Rechtszustandes stehen zu bleiben, statt sich zu der
Hallerschen Theorie der isolierten Selbstherrlichkeit des
Individuums (s. oben S. 308) zu bekennen, die jedes ein-
mal entstandene Recht als unangreifbar für alle Ewigkeit
hinstellt und die in der Tat den wahren Gedanken des
Stahlschen Standpunktes bildet, verwirft Herr Stahl die-
selbe ausdrücklich (S. 343), indem er sie für „eine äu-
ßerste und faktisch gar nicht ausführbare Übertrei-
bung" erklärt, und stellt statt derselben in § 16 (S. 339)
nun folgende Einschränkung auf: „Eine Grenze jedoch
hat die Geltung der erworbenen Rechte gleich aller
menschlichen Freiheit und Tat in dem, was die Idee
des Gemeinzustandes und der Rechtsordnung, oder die
naturgemäße Fortbildung derselben mit unabweis-
barer Notwendigkeit fordert oder ausschließt."
Plötzlich also, trotzdem wir eben hörten, daß es für
die Fortgeltung früher entstandener Rechte durchaus nicht
auf die Angemessenheit derselben für das Rechtsbewußt-
320
sein der Gegenwart ankomme, soll doch wieder eine
Grenze für diese Fortgeltung existieren, und es wird,
wie es scheint, das feste Prinzip einer solchen Grenze an-
gegeben. Sehen wir, in welche unendliche theoretische
Verwirrung und in welche vollständigste Verschwommen-
heit und Haltlosigkeit sich diese scheinbar feste Grenze
auflöst.
Zunächst muß im rein philosophischen Interesse gegen
die Verwirrung Verwahrung eingelegt werden, als ob die
„menschliche Freiheit" eine Grenze habe, und als ob
aus dieser Grenze der Freiheit die Grenze für die
Geltung erworbener Rechte hervorfließe. Der Frei-
heitsbegriff hat keine Grenze, da alles, was aus ihm
folgt, gilt, und, was mißverständlich als seine Grenze
erscheinen könnte, vielmehr nur sein eigenes positives
Setzen und Bestimmen ist. Es kann auch für den Frei-
heitsbegriff um so weniger eine Grenze aus der Idee
des Gemeinzustandes hervorfließen, als er mit dieser
vielmehr identisch und der Gemeinzustand nur die
Realisierung des Freiheitsbegriffes ist. Nicht
also die Freiheit, sondern, was scharf zu unterscheiden
ist, die individuelle Willkür hat ihre Grenze, eine
Grenze, die gerade durch das positive und substan-
tielle Wesen der menschlichen Freiheit an ihr
gesetzt wird, und aus diesem positiven Wesen der Frei-
heit, nicht aus ihrer Grenze, fließt die Grenze der un-
beschränkten Dauer erworbener Rechte hervor. Wir wer-
den nämlich noch im Verlauf dieses Paragraphen sehen,
worauf hier nur hinverwiesen werden kann, daß, wenn ab-
solute, verbietende Gesetze erlassen werden, diese immer
nur darauf beruhen, daß ein früher als veräußer-
lich gedachter Teil der menschlichen Freiheit (Privat-
willkür auch von den Juristen genannt) jetzt als un-
?1 I n.saUe. Cr*. Schriften. Band IX. 32 1
veräußerliche Freiheit des Menschen angesehen
wird, weshalb er nun durch keine Transaktion mehr in
das Eigentum eines Dritten gebracht werden oder
darin verbleiben kann. Die hierdurch bewirkte Aufhebung
der von mir erworbenen Rechte an solchen unveräußer-
lichen Freiheitsbefugnissen eines anderen Individuums be-
ruht also auf einer positiven Vermehrung und
Erweiterung des menschlichen Freiheits-
begriffes, und begrenzt nur zugunsten desselben
die Befugnis der Privatwillkür, das noch länger als ein
Veräußerliches zu behandeln, was sich jetzt durch eine
höhere Entwickelung des Rechtsbewußtseins nicht mehr
als in die Sphäre der Privatwillkür und ihres Schaltens
fallend, sondern als ein unveräußerlicher Ausfluß des
menschlichen Freiheitsbegriffes gezeigt hat.
Allein um von den höheren Anforderungen der Theorie
abzusehen, muß jener angeblichen Grenzbestimmung des
Herrn Stahl ein Einwurf gemacht werden, der in philo-
sophischer, wie juristischer, wie praktischer Hinsicht
gleichmäßig ein kapitaler ist. Die Grenze für die Gel-
tung erworbener Rechte soll nach Herrn Stahl liegen ,,in
dem, was die Idee des Gemeinzustandes und der Rechts-
ordnung oder die naturgemäße Fortbildung derselben mit
unabweisbarer Notwendigkeit fordert oder aus-
schließt".
Allein hiermit ist ja die Frage nach der Grenze auch
nicht im geringsten beantwortet, denn nun entsteht ja die
ganze Frage wieder in der Gestalt: Wo liegt unab-
weisbare Notwendigkeit für den Gemeinzustand
vor? Was ist notwendig? Jeder Mensch und jede Par-
tei, die bisher die Aufhebung erworbener Rechte for-
derte, hat noch immer behauptet, daß dies notwendig
sei. Solange uns Herr Stahl also nicht einen wissen-
322
schaftlichen Maßstab liefert, um zu beurteilen, was not-
wendig sei, hat er uns überhaupt gar nichts gesagt, son-
dern die Frage mit der Frage beantwortet. Denn es
bleibt nun für jedes zu erlassende Gesetz die Verlegen-
heit, Herrn Stahl erst als seinen königlichen Ratgeber
herbeirufen zu müssen. Und da dies nicht immer ausführ-
bar sein wird, so wird nichts übrig bleiben als die Not-
wendigkeit, im Sinne des praktischen Bedürf-
nisses und nach der subjektiven Ansicht der Ur-
teilenden zu entscheiden. Die Rechtsphilosophie fällt also
plötzlich von ihrem hohen wissenschaftlichen Kothurn in
die vulgärste Kategorie des gewöhnlichen Bedürfnisses
und seines schwankenden praktischen Dafürhaltens her-
unter.
Man mißverstehe uns nicht. Wir verlangen natürlich
nicht von Herrn Stahl, daß er inhaltlich angebe, was
alles in jeder künftigen Zeit notwendig sein wird.
Dies wäre weder möglich, noch seine Aufgabe. Aber
das verlangen wir ganz positiv von ihm, daß er das
formelle Kriterium der Beurteilung angebe, wo und
wo nicht Notwendigkeit vorliege.
Wer dieses Gesetz nicht zu entwickeln vermag, hat
eben nur tautologisch gesprochen und muß keine Rechts-
philosophie schreiben. Denn diese hat eben wissen-
schaftlich darzulegen, wo und wann Aufhebung
bestehender Rechte notwendig ist, und zwar hat sie
ferner diese Notwendigkeit und das allgemeine begriff-
liche Kriterium derselben aus der Rechtsidee selbst
abzuleiten. Und erst hierdurch wird die bis dahin bloß
tatsächliche und dem Rechte entgegenstehende Not-
wendigkeit zu einer Rechtskategorie erhoben.
Wir selbst haben bisher in diesem Paragraphen bereits
entwickelt, wie vermöge der rechtlichen Natur des
n* 323
individuellen Willens die Aufhebung des bestehenden
Rechtes beim Erlaß prohibitiver Gesetze nicht als eine
entgegenstehende faktische Notwendigkeit das
Recht bricht, sondern als eine geistige und vorher-
bestimmte Notwendigkeit in Recht und Willen
hineingeschrieben ist. Gleichwohl aber heben wir selbst
hervor, daß auch wir bisher noch nicht das begriffliche
Gesetz entwickelt haben, nach welchem Kriterium
zu jeder Zeit die Notwendigkeit und Recht-
mäßigkeit des Erlasses solcher Gesetze zu erkennen
und zu beurteilen sei. "Aber noch der gegenwärtige Para-
graph wird diese Entwickelung enthalten, und zwar wird
sie sich von selbst vollbringen durch die tiefere Betrach-
tung der prohibitiven Gesetze und des in ihnen statt-
findenden Unterschiedes.
Herr Stahl aber, dessen Lehre sich jetzt, von den
Phrasen entblößt, ihrer Substanz nach getreu in die Worte
zusammenfassen läßt: es ist notwendig, daß erworbene
Rechte bestehen, wenn es nicht notwendig1) ist, sie für
das Gesamtwohl aufzuheben — ein Satz, wie ihn das
gewöhnlichste praktische juristische Handbuch Scheu
tragen würde niederzuschreiben — -, hat in dieser leeren
Tautologie auf jede wissenschaftliche Bestimmung seines
J) Notwendig ist, was nicht anders sein kann. Indem
Herr Stahl also sagt : „Die erworbenen Rechte können für das
Gesamtwohl nur dann aufgehoben werden, wenn dies „,,unab-
weislich notwendig"" ist," bricht er in den geistvollen
Satz aus: ,,sie können aufgehoben werden, wenn sie- nicht
anders können als aufgehoben werden" — womit freilich
die Untersuchung ganz eminent gefördert ist ! Und ferner auch
abgesehen von dieser tautologischen Leerheit, und wenn auch
inhaltlich ganz bestimmt angegeben wäre, was alles heute und
jemals notwendig sein wird, sagen wir : Notwendigkeit ist an
und für sich keine Recht skategorie, sondern wie Wirkung
324
Gegenstandes verzichtet. Auch ändert sich dies gar nicht
dadurch, daß auf das Gesamtwohl — ■ ,,die Idee des Ge-
meinzustandes" — Bezug genommen wird. Denn es ist
überhaupt noch niemandem eingefallen, anderes als im
Namen des Gesamtwohles die Aufhebung bestehender
Rechte zu fordern, und die Frage ist ja eben die, wo
und wann im Namen des Gesamtwohles eine solche
Aufhebung rechtmäßig gefordert werden könne, eine
Rechtmäßigkeit, die Herr Stahl lediglich von ihrer
Notwendigkeit abhängen läßt, ohne diese letztere bis-
her irgendwie zu bestimmen. Selbstredend ist dadurch
wieder, so wenig dies in der Absicht des Herrn Stahl
gelegen sein möchte, durch die natürliche Unfähigkeit so
unbestimmter Vorstellungen, eine Grenze anzugeben,
jeder noch so jakobinischen Ausschweifung Tür und Tor
geöffnet, denn was könnte nicht alles für eine ,, unabweis-
bare Notwendigkeit" für die ,,Idee des Gemeinzustandes
und der Rechtsordnung oder die naturgemäße Fortbil-
dung derselben" ausgegeben werden?!
Herr Stahl fühlt aber selbst, daß er gar nichts ge-
sagt hat, solange er nicht bestimmt hat, wo Notwendig-
keit vorliege und wo nicht, und er entschließt sich also
später, letztere näher zu definieren. Er wirft nämlich
und Ursache usw. eine logische Kategorie, resp. Bezeichnung
eines bestimmten Zusammenhanges tatsächlicher Verhält-
nisse. Die Frage ist also weiter die: wie und wo geht ein
bestimmter Zusammenhang tatsächlicher Verhältnisse (resp. eine
Kategorie des reinen logischen Gedankens) dazu über,
in dem Begriff der subjektiven Geistes- und Willens-
freiheit, ohne diesen zu verletzen und vielmehr als
aus ihm selbst herfließend, eine Rolle zu spielen? Erst
hiermit wird die Notwendigkeit zur Rechtskategorie, d. h.
zur rechtlichen Notwendigkeit. Der Tod ist auch eine Not-
wendigkeit, aber keine des Rechtssysteme s.
325
(S. 341) der „neueren Bildung" vor, daß sie von der
„unleugbaren Zulässigkeit", die Aufhebung von erwor-
benen Rechten „durch das Gemeinwohl (salus pu-
blica, salut public)" zu rechtfertigen, eine falsche An-
wendung mache. Denn unter der salus publica, sagt
Herr Stahl, verstehe jene Bildung nicht „die öffent-
liche Notwendigkeit, d.h. das unabweisbare Er-
fordernis für gesunden gedeihlichen Fortbestand und or-
ganische Entwickelung, sondern den bloßen Nutzen
(hierum)".
Endlich haben wir eine Definition ! Darin also soll
für Herrn Stahl das unterscheidende Kriterium der Not-
wendigkeit liegen, daß sie für jenen Fortbestand,
für die Erhaltung, nicht für das lucrum erforderlich
sei. Durch diese Unterscheidung von lucrum — welches
Wort Herr Stahl selbst in Parenthese beifügt — und
Fortbestand, wird also hier eine Anwendung von dem
Unterschiede gemacht, der bekanntlich bei den privat-
rechtlichen Ansprüchen der Personen untereinander zwi-
schen lucrum und Vermeidung von damnum stattfindet.
Allein zunächst, in welchem Sinne spricht Herr Stahl
von einer „öffentlichen Notwendigkeit"? Meint er
eine Notwendigkeit für das geistige Rechtsbewußt-
sein der Gesellschaft? Im Rechtsbewußtsein, als
einer geistigen unteilbaren Potenz, kann es den quan-
titativen Unterschied von lucrum und vermiedenem
damnum gar nicht geben. Wenn das Rechtsbewußtsein
des Geistes sich verwirklicht, wenn ihm das Bestehende
entspricht, so ist dies für es lucrum, und wenn das
Bestehende dem Rechtsbewußtsein widerspricht,
dieses also negiert, so ist dies für es damnum und der
Gefrierpunkt zwischen beiden nicht zu finden.
Aber Herr Stahl spricht auch gar nicht, wenn man
326
dies auch in einer Rechtsphilosophie erwarten sollte, von
einer geistigen Notwendigkeit für das öf ff entliche
Rechtsbewußtsein, und kann dies auch gar nicht, da
wir schon früher von ihm gehört haben, daß es auf die
„Angemessenheit" eines früheren Rechtszustandes für
das zeitige Rechtsbewußtsein gar nicht ankommen könne.
Er spricht vielmehr, wie seine Erläuterung dieser Not-
wendigkeit, als eines Erfordernisses ,,für gesunden ge-
deihlichen Fortbestand", und auch das darauf weiter Fol-
gende zeigt, von den Erfordernissen des materiellen, öko-
nomischen „Wohlbestandes". Allein wenn freilich bei
den Privatansprüchen der einzelnen nichts bestimmter
sich unterscheidet, als die Erhaltung eines bestehenden Ver-
mögensstandes oder die Vermeidung von Schaden und von
der Erzielung von lucrum, weil jedes Privatvermögen und
jedes durch eine bestimmte Operation, wie z. B. nego-
tiorum gestio, für dasselbe entstandene Resultat bestimmt
festgestellt werden kann, so ist doch nichts unmöglicher,
als diese Unterscheidung zwischen Erhaltung und Ver-
mehrung oder ein lucrum auf nationale Verhältnisse an-
zuwenden. Denn schon die Grenze zwischen beiden ist
hier schlechthin unbestimmbar, und weder der materielle
noch der geistige Besitzstand einer Nation und noch we-
niger das Resultat einer bestimmten Maßregel läßt
sich in der Weise konstatieren, daß anzugeben wäre,
ob eine nützliche Maßregel, wenn sie unterlassen wor-
den wäre, nicht sogar Schaden zur Folge gehabt hätte,
und ob eine Maßregel, die für die Erhaltung des
nationalen Wohlbestandes angerufen wird, nicht vielmehr
bloß lucrum zur Wirkung hat und der nationale Besitz-
stand auf seinem gegenwärtigen Niveau auch ohne
sie geblieben wäre. Was also für eine Nation not-
wendig sei, bloß um zu erhalten, ohne zu bereichern.
327
und was bloß Iukros notwendig sei, ohne daß seine
Unterlassung eine Verminderung des Bestandes zur Folge
haben würde, läßt sich gar nicht abgrenzen. Aber die
Grenze läßt sich nicht nur nicht praktisch be-
stimmen, sie existiert auch gar nicht! Und sie kann
nicht existieren, weil zum Begriffe eines Volkes, zum
Unterschiede vom Privatindividuum, die Entwickelung
gehört, also die Vermehrung oder das lucrum, wenn
schon einmal diese Kategorie hier analogisch angewendet
werden soll.
Ein Volk, das sich nicht entwickelt, also nicht
lukriert, geistig wie materiell, bleibt nicht stehen
auf seinem gegenwärtigen Bestände, sondern schreitet
zurück, wie heutzutage schon jedes Kind weiß. Für
ein Volk ist also lukrieren schon erforderlich, damit nur
gesunder Fortbestand da sei. Und im Grunde weiß das
Herr Stahl auch und verlangt ebendeshalb nicht nur „ge-
sunden ', sondern auch „gedeihlichen Fortbestand"
und „.organische Entwickelung" und (S. 339) „natur-
gemäße Fortbildung", und indem alle diese Ausdrücke:
Entwickelung, Fortbildung, Gedeihen, mit dem Begriff des
Lukrierens in der materiellen Sphäre identisch sind,
verlangt er, indem er einen „gedeihlichen Fortbe-
stand" verlangt, selbst einen lukrosen Fortbestand, und
erklärt also alle solche Aufhebungen bestehender Rechte
für eine „öffentlicheNotwendi gkei t", welche zur
Erzielung eines lukrosen Fortbestandes des Volkswohls
erforderlich sind. D. h. es ist eben nur ein ganz sinnloses
und sich mit jedem Wort aufhebendes leeres Gerede, das,
wenn man Ernst mit ihm machte, vielmehr gerade nur zu
dem durchaus unzulässigen und rechtswidrigen Resultate
führen würde, um des bloßen Nutzens willen erwor-
bene Rechte aufheben zu dürfen.
328
Herr Stahl entwickelt nun aus dieser seiner angeblichen
Grenze (S. 339) drei Folgerungen. Erstens, daß die Skla-
venhändler sich vergeblich auf ihr jus quaesitum berufen,
weil erworbene Rechte nicht als unantastbar gelten können,
soweit sie das Recht der Persönlichkeit anderer auf-
heben — wobei man freilich nicht erfährt, warum das z. B.
nicht ebenso auch von den feudalen Rechten gelten soll, die
gleichfalls in so vielen Abstufungen das Recht der Persön-
lichkeit anderer aufhoben. Nach dieser abgezwungenen
Konzession atmet Herr Stahl wieder frei auf und poniert
als zweite Folge : ,,2. In der ausgebildeten Staatsverfas-
sung, in welcher jedem Gliede seine organische Stelle für
das Ganze angewiesen ist, kann für die Zukunft im
wesentlichen kein Erwerb neuer politischer Rechte, keine
Ungleichheit durch bloß zufällige Handlungen der ein-
zelnen Beteiligten platzgreifen." Herr Stahl druckt die
Worte ,,f ür die Zukunft" breit, um zu betonen, daß
dies wieder ohne Einfluß auf die schon bestehenden Rechte
dieser Art bleiben müsse, legt aber gerade dadurch nur die
höchste theoretische Gedankenlosigkeit an den Tag. Denn
es wird sich später zeigen, daß der Rechtsidee zufolge nie-
mals ein Rechtsinhalt für die Zukunft von der indivi-
duellen Erwerbung ausgeschlossen werden kann, solange
derselbe in den Fällen früherer Entstehung noch als gül-
tiger anerkannt wird, resp. daß ein solches Gesetz nur
ein unlogisches und widerrechtliches, die individuelle Wil-
lensfreiheit verletzendes Verbieten darstellen würde. Es
kann hierüber, wie gesagt, nur auf das später Folgende ver-
wiesen werden. Einstweilen mag nur bemerkt werden, daß
schon der Jurist Savigny dem angeblichen Rechtsphiloso-
phen hier siebenmal theoretisch überlegen ist. Denn in
Savignys Formel, daß Gesetze über das Dasein der
Rechte auf die früheren Erwerbungen rück wirken
329
müssen, liegt bereits, daß ein Rechtsinhalt, der in der
Zukunft nicht mehr entstehen kann, auch aus der Ver-
gangenheit her nicht mehr fortbestehen dürfe, und
daß ersteres gerade das Kriterium für die Entschei-
dung über das letztere ist. Wenn aber Herr Stahl wieder-
holt bei seinen Ausführungen seine Bewunderung vor der
„römischen Ehrfurcht" vor den erworbenen Rechten
ausspricht, so mag ihm die beruhigende Versicherung er-
teilt werden, daß in diesem ganzen Paragraphen nichts ge-
sagt ist, was nicht am Schluß desselben in der strengsten
Weise als römische Pandektentheorie nachgewiesen wer-
den wird.
Drittens konkludiert Herr Stahl : In der „großen welt-
geschichtlichen Fortbildung des ganzen öffentlichen Zu-
standes müssen die erworbenen Rechte einzelner Menschen
oder Klassen zuletzt weichen". Aber sie haben „zu
weichen als Recht und in Anerkennung des-
selben", d. h. „wo das überhaupt möglich, gegen Ent-
schädigung". Dieser sehr vulgäre Irrtum wird ohne-
hin bald zur gründlichen Untersuchung gelangen, weshalb
hier darauf hinzudeuten genügt. Herr Stahl schließt :
„Auch ist die gewaltsame Abstoß ung envorbener
Rechte nach politischen Rücksichten nicht eine
fortwährende und regelmäßige Funktion des Staatsorganis-
mus, sondern bloß das Werk besonderer Zeitepochen, und
hat daher mehr eine weltgeschichtliche als eine
juristische Rechtfertigung."
Es ist wieder jener unvermeidliche jakobinische Hauch,
den jeder der modernen Philosophie Nahende auch wider
Willen von ihr empfängt, der Herrn Stahl hier hinreißt,
der „Weltgeschichte" die welthistorische Absolution für
die „gewaltsame Abstoßung erworbener Rechte
nach politischen Rücksichten" zu erteilen. Frei-
330
lieh war diese welthistorische Absolution für Herrn Stahl
um so bequemer, als er nun damit einer rechtswissen-
schaftlichen Theorie darüber überhoben war, eine
Aufgabe, von der Herr Stahl selbst fühlen mochte, daß er
sie in keiner Weise gelöst hat und vor der er sich daher
mit dieser welthistorischen Verbeugung vorbeistiehlt.
Allein damit ist ja gerade prinzipiell auf die wissen-
schaftliche Aufgabe der Rechtsphilosophie verzichtet,
und das alte leere Gerede von dem Gegensatz von Recht
und Weltgeschichte bleibt nicht nur wieder in voller Blüte,
sondern der Geschichte wird nun auch noch ein besonderes
Recht zu gewalttätigem Unrecht eingeräumt, wovon dann
die von Herrn Stahl so hart angegriffenen „Kommunisten
und „Liberalen", sich gewiß gern mit der „welthistorischen
Rechtfertigung" begnügend, Akt ergreifen mögen. Wir un-
sererseits bedürfen eines solchen besonderen welthisto-
rischen Rechtes, eines Rechtes auf Unrecht, keineswegs.
Wir statuieren auch der Geschichte ein Recht auf eine
widerrechtliche Abstoßung erworbener Rechte nach „poli-
tischen Rücksichten" keineswegs, sind aber freilich dieser
Verkleidung der Gedankenunfähigkeit, die rechtliche Be-
wegung der Geschichte theoretisch zu begreifen, auch nicht
benötigt. Wir halten es vielmehr gerade für die unbe-
dingte Aufgabe der Rechtsphilosophie, die wissen-
schaftliche Theorie aus der reinen Rechtsidee
selbst abzuleiten. Wir bedürfen hierbei auch keines
Unterschiedes zwischen politischem Recht und
Privatrecht, und können hierin keinen solchen statu-
ieren, denn beide sollen doch eben Recht bleiben und die
politische Entwickelung oder die Bewegung des
öffentlichen Rechtes ist eben gar nichts anderes
als die Entwickelung der Rechtsidee selbst.
Und in der Tat werden wir sehen, wie das, was in jenen
331
„welthistorischen" Epochen, wie die französische Revo-
lution und andere, in bezug auf die Aufhebung erworbener
Rechte wahrhaft vor sich ging, nur auf derselben „fort-
währenden und regelmäßigen Funktion des Staatsorganis -
mus", nur auf derselben beständig tätigen Entwickelung der
Rechtsidee beruht, welche in stillerer, aber prinzipiell ganz
gleichstehender Weise in der ununterbrochenen Rechtsbil-
dung des reinen Privatrechtes, in Gesetzen über Wucher.
Alimente, Zeugenbeweis usw. usw. und alle Materien jeder
Art stets stattfindet.
Wir kehren jetzt zu unserer positiven Aufgabe zurück,
bei der wir uns die Kurzweil dieses Exkurses nur gegönnt
haben, um gelegentlich einen Beweis zu liefern, durch
welches inhalts- und gedankenlose, sich selbst vernichtende
Gerede man sich heutzutage in dem Vaterlande Hegels die
Reputation eines Denkers erwirbt !
Wenden wir uns also zunächst zu einigen positiven Bei-
spielen solcher Gesetze, zunächst zu solchen, die am eng-
sten mit dem öffentlichen Recht zusammenhängen, die aber
deshalb um nichts mehr und aus gar keinem anderen
Grunde auf bestehende Rechte einwirken dürfen, als aus
dem für absolute Gesetze überhaupt entwickelten Sach-
verhältnis.
So waren also die Dekrete der berühmten Nacht vom
4. August 1789, durch welche die französische konstitu-
ierende Versammlung alle aus der Feudalherrschaft her-
fließenden Rechte aufhob, von jeder Rechtsverletzung und
Rückwirkung frei. Denn wenn selbst erworben, waren diese
Rechte von Anfang an nur auf so lange gültig er-
worben, b i s eine andere und ausschließende Gestalt, zu
der das öffentliche Bewußtsein in seinem Entwickelungs-
prozeß herangereift sein würde, das Dasein derselben
für rechtlich unmöglich anschauen, bis sie in ihnen ein
332
Daseindes Unrechts statt eines Daseins der Rechts-
substanz erkennen würde.
Glücklicherweise kommt den Menschen, lange ehe eine
Theorie sich zu der Gestalt sich selbst verstehender Klar-
heit vergeistigt, das Richtige unmittelbar zum Bewußtsein
durch jene instinktive Operation des Begriffes, die wir nun
schon zu so wiederholten Malen in unserer Ausführung klar
nachgewiesen zu haben hoffen.
So konnten diese Gesetze erlassen, so konnten sie ver-
teidigt werden, ehe eine wahrhafte Theorie da war, die
sie rechtfertigte!
Aber die nur instinktive Tätigkeit des Begriffes hat zu
ihren notwendigen Folgen die nur stück- und stoßweise
Form, in der er sich zum Bewußtsein bringt, die Inkonse-
quenz, den eigenen Widerspruch, die Rückfälle, die
Schwankungen, den Mangel an Beweiskraft und daher
einerseits die Mißgriffe, andererseits den unablässig von
neuem auftauchenden Widerstand, mit welchem ihm
auf jedem Schritte seiner praktischen Verwirklichung ent-
gegengetreten wird, ein Widerstand, der erst machtlos
werden kann, wenn eine wahrhafte, sich selbst durchsichtige
Theorie die Schwierigkeiten gelöst hat, an denen sich bis
dahin der dunkle Drang des Richtigen gestoßen.
Es tritt dies recht deutlich an den Tag, wenn wir zu-
nächst einen Blick werfen auf die Weise, in der Merlin
die Dekrete der Augustnacht verteidigt.
„C'est ainsi," sagt er (Repert. de Jurisprud. v° Eff.
retroactif, Sect. 2, V, 534), ,,que l'assemblee Constituante,
toute ennemie quelle s'est montree constamment de toute
espece de retroactivite, n'a pas craint, dans la celebre nuit
du 4 aoüt 1789, de detruire la servitude personnelle, la
main-morte et la feodalite. Et certes une loi nouvelle ne
retroagit pas rMlement, lorsqu'en faisant revivre une loi
333
ecrite dans le code ettrnel et imprescriptible de la nature,
eile efface par sa toute-puissance, les actes qui, pendant le
sommeil de celle-ci, ont porte atteinte aux droits les plus
sacres de l'homme."
Aber der „ewige und unverjährbare Code der Natur",
der „Schlummer der Rechte", die hier den Gesetzen prä-
existent sind, und durch diese verletzt werden — alles dies
sind Ausdrücke, denen zwar wiederum in dunkeler Weise
richtige Ahnungen zugrunde liegen ; aber diese in weitester
Unbestimmtheit alles und nichts in sich schließenden
Worte, zu denen sogar dieser sonst so scharfe juristische
Denker greifen muß, um sein instinktives Gefühl des
Richtigen zu verteidigen, sind keine wissenschaft-
lichen juristischen Gründe und müssen, statt zu
beweisen, Gefahr laufen, bloße Deklamationen genannt zu
werden, mit denen sich in der Tat, solange sie nicht zu
präzisen begrifflichen Gesetzen herausgerungen werden,
alles, auch das Unrechtmäßigste, rechtfertigen ließe.
Aber nicht nur die Beweiskraft für andere mangelt die-
sem unbestimmten Gefühle, sondern Merlin selbst geht,
gerade weil er zu weit geht, deshalb notwendig nicht
weit genug. Er fährt unmittelbar hinter jenen Worten
fort :
..Quelquefois aussi des considerations politiques peuvent
determiner le legislateur ä retroaglr dans des matieres de
pur droit prive. C'est ainsi que, par la loi du 14 novem-
bre 1792, la Convention nationale a aboli les substitutions
fideicomm issalres, qui avaient ete creees precedemment et
n etaient pas encore ouvertes."
Von diesem Gesetze gibt also Merlin zu, daß es wirk-
lich zurückgewirkt habe.
Und bald darauf (S. 538), auf eine Bestimmung dieses
Gesetzes näher eingehend, sagt er :
334
„C'est meme sur le principe consacre par ces ar-
rets que se sont fondes ceux qui, apres le 18 brumaire
an 8, ont provoque par des petitions au tribunat et au
gouvernement le rapport de l'art 2 de la loi du 14 no-
vembre 1792 qui, pour abolir les substitutions anteri-
eures non encore ouvertes, avait rendu sans effet les con-
ditions encore pendantes sous lesquelles les substitues
deja nes ou concus etaient appeles par des testamente
dont les auteurs etaient alors decedes. — Et ce n'est
pas en contestant ce principe, ce n'est pas en niant la re-
troactivite, qu'on leur a repondu. On leur a seulement
dit que la raison civile devait ceder ä la raison politique :
que linteret general de l'etat, qui doit toujours predo-
miner dans l'esprit du legislateur, devait faire taire tous
les interets particuliers ; et qu'au surplus la loi du 14
novembre 1792 n'avait fait, en retroagissant sur les sub-
stitutions anterieures pour les abroger entierement, que
ce qu 'avait fait precedemment l'ordonnance de Moulins
de 1566, pour reduire ä quatre degres les substitutions
perpetuelles, qui avaient ete fondees avant l'ordonnance
d'Orleans de 1560."
Es stünde schlimm um dieses Gesetz, wenn wirklich
zuzugeben wäre, daß es ein rückwirkendes gewesen sei.
Denn der Gesetzgeber kann, wie wir (§1) gesehen
haben, aus politischen Gründen ganz ebensowenig wie
aus irgendwelchen anderen ein rückwirkendes Gesetz er-
lassen, ohne damit die individuelle Freiheit und Zurech-
nungsfähigkeit, und somit den Begriff des Rechtes bis
in seine Wurzel aufzuheben. Aber es kann, wie gezeigt,
von Rückwirkung bei jenem Gesetze in der Hinsicht, wie
Merlin dies meint x) — nämlich weil das Gesetz den
1) In welcher anderen, von Merlin nicht gemeinten Hinsicht
dasselbe aber wirklich rückwirkend war, und zwar ge-
335
Fortbestand der f ideikommissarischen Substitutionen
aboliert — , auch gar nicht die Rede sein ! Das Gesetz
tat nichts anderes, als daß es im Art. 1 alle Substitu-
tionen für prohibiert erklärte, und freilich mußte nun in
strenger Folgerichtigkeit hiervon auch das Fortwirken
der früheren Substitutionsordnung von jetzt ab unter-
sagt und hierdurch die Fideikommisse von jetzt ab in
freies Eigentum in der Hand ihrer gegenwär-
tigen gebundenen Eigentümer verwandelt sein.
Und indem in das fideikommissarische Instrument von
vornherein durch die notwendige Natur alles Rechtes die
Bestimmung hineinzudenken ist, daß die angeordnete Sub-
stitution nur unter der Voraussetzung Dasein haben
solle, daß die Gesetze sie erlauben und auf so lange,
als sie sie erlauben, jede andere auch ausdrücklich
entgegengesetzte Bestimmung aber dieselbe Ungültigkeit
haben würde, wie eine gegen verbietende Gesetze
angehende, so kann so wenig im Namen des verstor-
benen Testators als des bereits konzipierten oder gebore-
nen Anwärters, der seinen Anwartschaftsanspruch auf
eventuelles Einrücken nach der Primogenitur- oder son-
stigen Sukzessionsordnung bei der Geburt wieder nur
unter der unvermeidlichen Bedingung erwirbt,
daß nicht vor dem Anfall des Fideikommisses
prohibitive Gesetze dazwischentreten, auch
nur der Schatten eines Vorwurfes von Rückwirkung und
Verletzung der individuellen Willensfreiheit wegen der
abrogierten Fortdauer der Substitutionsord-
nung auf jenes Gesetz fallen. Die individuelle Willens-
freiheit ist vielmehr damit nun in gar keine anderen Schran-
rade dadurch, daß es nicht weit genug ging, werden
wir in den Anwendungen sub II, B. bei der Spezialuntersuchung
der Fideikommißmaterie nachweisen.
336
ken gewiesen, als in die rechtlichen Schranken
überhaupt, an die sie durch die Gesetze unter allen
Gesetzgebungen jederzeit gebunden erscheint.
Werfen wir hierbei einen Blick auf Savigny.
Wir werden später genauer sehen, wie nahe Savignys
Theorie in bezug auf die uns in diesem Paragraphen be-
schäftigende Frage an das Richtige anstreift — und wie
sie sich dennoch wieder die wirkliche Erfassung desselben
völlig und grundsätzlich unmöglich macht ! Von selbst
erhellt jedoch, wie die Savignysche Formel, daß nur
Gesetze über den Erwerb von Rechten nicht rück-
wirken, Gesetze aber über das Dasein von Rechten
rückwirken sollen, in ihrem Resultate mit dem praktischen
Ergebnis unserer Entwickelung bei vielen Gesetzen dieser
Art übereinstimmen muß. Aber abgesehen davon, daß
Savigny dies mit Unrecht als eine Rückwirkung, wenn
auch als eine nach ihm zulässige qualifiziert, stellen sich
zunächst zwei Punkte als Folgen der Mangelhaftigkeit
seiner Theorie heraus. Die erste dieser Folgen ist die
schwankende Weise, in der sich Savigny gerade über
ein neues Gesetz der letzterwähnten Art — Aufhebung
von Fideikommissen — äußert. Er sagt hierüber (VIII,
537) : ,, — Wenn daher gegen die Gesetze, wodurch
Rechtsinstitute aufgehoben oder umgebildet werden, wegen
des Eingriffes in erworbene Rechte ein unbedingter Wider-
spruch erhoben werden soll, so ist dieser Widerspruch
wenigstens wegen der beschränkten Natur des Trä-
gers erworbener Rechte nach zwei Seiten hin in enge
Grenzen zu verweisen.
„Dem neuen Gesetze könnte höchstens seine recht-
mäßige Einwirkung bestritten werden, solange der Träger
eines erworbenen Rechtes lebt. Hinterläßt er Erben, so
haben diese zur Zeit der Erscheinung des neuen Gesetzes
22 La.aalle. G... Schrift«. Bind IX 337
...
kein verletzbares erworbenes Recht. Mit anderen Worten :
Alles Erbrecht ist rein positives, und wenn dasselbe durch
ein neues Gesetz an gewisse Bedingungen und Schranken
geknüpft wird, so kann darin niemals ein Eingriff in er-
worbene Rechte gefunden werden. Wir wollen dieses auf
den oben als Beispiel gewählten Fall anwenden. Wenn
das neue Gesetz, welches die Sklaverei beseitigen wollte,
die Bestimmung gäbe, daß in Zukunft kein Erbe durch
Erbfolge das Eigentum von Sklaven erwerben könnte, so
läge darin gewiß nicht die Verletzung eines erworbenen
Rechtes. — Diese Betrachtung gründete sich auf das
nahe Ende jedes menschlichen Lebens. Eben dahin führt
aber die Erwägung des Anfanges. Jeder Mensch muß
den Rechtszustand anerkennen, den er bei seiner Geburt
bestimmt findet. Wenn also vor seiner Geburt ein Rechts-
institut durch neues Gesetz aufgehoben oder umgebildet
wird, so kann wenigstens ihm nicht ein erworbenes Recht
dadurch verletzt sein." Und als Anmerkung hierzu be-
merkt Savigny : „Ein Gesetz, welches die Lehen oder
Fideikommisse aufhebt, verletzt daher gewiß nicht
die Rechte derjenigen, die erst später erzeugt wer-
den."
Aus dem hervorgehobenen „höchstens" und „ge-
wiß nicht" in der angeführten Stelle fühlt sich wohl
deutlich genug heraus, daß Savigny in dem Nochnichter-
zeugtsein der fideikommissarischen Anwärter nur einen
Umstand sieht, der a fortiori das Gesetz gegen den Vor-
wurf einer Rechtswidrigkeit schützt, daß er aber, auf die
Konsequenz gedrängt, im Grunde auch wenn Anwärter
bereits geboren sind, in einem ihr Anwartschaftsrecht auf
Einrücken in das Fideikommiß nach der Primogenitur-
ordnung aufhebenden Gesetz keine Rechtswidrigkeit er-
blicken würde, und mindestens wäre dies die konsequente
338
und richtige Folge von seiner Formel, daß Gesetze über
das Sein oder Nichtsein von Rechten rückwirken sollen.
— Immerhin bleibt diese schwankende Weise ein irre-
führender Übelstand, der auf keinem irgend haltbaren juri-
stischen Grunde beruht. Nach der von uns entwickelten
Theorie erweist es sich vielmehr in bezug auf den Fort-
bestand der fideikommissarischen Primogeniturordnung als
schlechterdings gleichgültig, ob bereits An-
wärter geboren sind oder nicht, da, so erworben ihre An-
rechte sein mögen, sie immer doch mit der einen Be-
dingung erworben werden, nicht auf Prohibitivgesetze zu
stoßen, da sich contra leges nichts erwerben und ebenso-
wenig Erworbenes festhalten läßt, wie z. B. Sklaven,
Leibeigene oder irgendwelche andere Objekte oder Befug-
nisse, welche bisher zum Eigentum gehörten und von
welchen ein neues Gesetz erklärt, daß sie nicht mehr
eigentümlich besessen werden können. Und dies muß um
so unzweifelhafter und um so mehr ohne alle Schwierig-
keit von dem bereits lebenden Fideikommißanwärter gel-
ten, als, wie unsere Entwickelung schon gezeigt hat und
wie später am Zinsvertrage, an der lex commissoria und
selbst durch noch entscheidendere Fälle bis zur letzten
Evidenz erwiesen werden wird, nicht einmal durch Ver-
t rag ein gegen prohibitive Gesetze fortbestehendes Recht
erworben werden kann, dem Geboren- oder Erzeugtwerden
des Fideikomnnßan Wärters aber doch allerhöchstens die
Wirkung einer vertragsmäßigen Erwerbung zugeschrieben
werden könnte *).
1) Welches ist der Grund, weshalb man fideikommissarische
Anwärter in bezug auf die durch die fideikommissarische Sub-
stitutionsordnung ihnen verliehenen Rechte nicht einfach
wie Testamentserben behandelt, bei welchen letzteren man nicht
zweifelhaft darüber ist. daß. solange der Erbanfall nicht
22« 33"-)
Wenn sich Savigny in bezug auf den erörterten Punkt
nur unbestimmt und schwankend ausdrückt, so verfällt er
dagegen in anderer Hinsicht infolge seiner Theorie in einen
eingetreten, Gesetze über den Inhalt des Testamentes und
über die Fähigkeil des Honorierten stets sofort platzgreifen ?
Der Grund ist der, daß das Testament bei Lebzeiten des Testa-
tors nur einen stets revokabeln Willen darstellt, der daher
■ — ebenso wie das Intestaterbfolgegesetz für den Intestaterben
— solange eine bloße Erwartung und kein erworbenes Recht
gewährt, solange er nicht unwiderruflich geworden, was
also erst mit dem Tode des Testators der Fall ist. Bei Erb-
verträgen und Fideikommissen dagegen liegt eine unwider-
rufliche Bestimmung vor, die eben deshalb ein erworbenes
Recht gewährt. Dieser Unterschied ist in der Tat der einzige,
der in der hier betrachteten Hinsicht zwischen beiden Fällen
stattfindet, und die aus ihm gezogene Folgerung ist auch an
sich eine ganz richtige. Wie wenig aber diese Unwiderruf-
lichkeit der Substitutionsordnung gegen Prohibi-
tivgesetze zu bestehen vermag, soll noch durch einen Fall
bestätigt werden, der nach dem Vorausgeschickten juristisch
ganz auf gleicher Linie nn\ den Fideikommissen steht. Vor der
französischen Revolution galt in vielen Provinzen, z. B. in den
Statuten von Hainaut, Brabant, Lüttich, im Gebiet von Weißen-
burg im Elsaß, und auch im Herzogtum Berg, das sogenannte
Devolutionsrecht. Hiernach hatten die Kinder ersten Bet-
tes, deren Vater sich wieder verheiratet hatte, das Recht, in
seinem Nachlaß alle Güter vor der Teilung vorabzunehmen,
in deren Besitz sich der Vater beim Tode ihrer Mutter be-
funden hatte. Infolge desselben Devolutionsrechtes war es aber
dem Vater auch schon vom Tode der Frau ab untersagt,
diese Güter zum Nachteil jener Kinder zu veräußern oder
zu verhypothezieren. Hierin zeigt sich auf das unleug-
barste, daß die Devolution ein unwiderrufliches Recht
der Kinder erster Ehe hervorbrachte, ganz wie das fideikommis-
sarische Instrument für den geborenen Anwärter. Durch Gesetz
vom 8./15. April 1791 wurden alle statutarischen Bestimmungen
aufgehoben, welche bei der Teilung der Nachlassenschaft des-
340
ebenso entschiedenen als wichtigen Irrtum, der gleich hier
näher zu betrachten ist.
Er stellt nämlich (a.a.O., S. 538 fg.) die Forderung
selben Vaters oder derselben Mutter Unterschiede zwischen
den Kindern aus verschiedenem Bett begründeten. Es entstand
nun die Frage, ob, wenn zwar die Mütter unter altem Recht
gestorben, die Güter also bereits den Kindern erster Ehe durch
Devolution anerfallen waren, der Vater aber erst nach
dem Gesetz vom 8. April 1791 gestorben war, die Kinder
zweiten Bettes von der Teilung derselben ausgeschlossen sein
sollten ? Der Nationalkonvent entschied diese Frage durch das
motivierte Tagesordnungsdekret vom 18. Vendem. II mit Recht
zugunsten der Kinder zweiter Ehe, weil die Wirkungen des
Gesetzes vom 8. April 1791 „doivent avoir Heu sur les biens
meubles et immeubles qui, ä l'epoque de sa publication, etaient
frappes de devolution dans la main de l'epoux survivant avec
enfants." Als später im Jahre IV die rückwirkenden Be-
stimmungen der früheren Gesetze zurückgenommen wurden und
deshalb auch hierauf zurückzukommen versucht wurde, erklärte
der Kassationshof von Paris durch Urteil vom 8. Messidor
und 10. Nivose XIII, daß jenes Dekret keine Rückwirkung
in sich enthielte. Zu einer lebhaften Kontroverse hat dieselbe
Frage vor dem rheinischen Appellationsgerichtshofe zu Köln
und dem rheinischen Revisions- und Kassationshofe zu Berlin
Anlaß gegeben. Durch sieben Urteile (vom 30. Juni und 3. Juli
1823, 29. April und 19. Juni 1824, 11. Februar 1825, 9. April
1829 und 16. Juli 1830) erklärte sich der rheinische Appel-
lationsgerichtshof zu Köln — in Fällen, in welchen der Tod
des Vaters nach Einführung des Code Napoleon eingetreten
war — für die Aufrcchtcrhaltung des Devolutionsrechtes der
Kinder erster Ehe. Der rheinische Revisions- und Kassations-
hof zu Berlin dagegen entschied durch seine Urteile vom 15. Fe-
bruar 1826 (Rheinisches Archiv, 8, 2, 45), vom 28. Februar
1832 (Rheinisches Archiv, 16, 2, 9) und vom 11. Dezember
1843 (Rheinisches Archiv, 37, 2, 3). unter Kassation jener
Urteile des Kölner Appcllhofes, daß die Kinder zweiter Ehe
zur Teilung zuzulassen seien. Diese Entscheidung ist richtig.
341
auf, daß bei der Aufhebung solcher Rechtsinstitute, die
sich auf fortwährende Rechtsverhältnisse beziehen, eine
, .wahre, vollständige Entschädigung des Berechtig-
Sieht man aber auf die vom Revisionshof angegebenen Gründe,
so ist die Unhaltbarkeit derselben einleuchtend. Der Revi-
sionshof sagt, die Güter devolvierten erst dann an die Kinder
erster Ehe, wenn nach einer von dem Überlebenden ihrer Eltern
eingegangenen zweiten Ehe die in der ersten Ehe erzeugten
Kinder jenen Überlebenden überlebten. Es könne daher erst
beim Absterben des in Rede stehenden Ehegatten beur-
teilt werden, ob eine Vinkulation stattfinde, und folg-
lich erlangten die Kinder erster Ehe erst durch dieses Ab-
sterben auch des zweiten Ehegatten ein erworbenes Recht.
Ebenso nennt der Pariser Kassationshof die Devolution ,,une
simple expectative". Allein ganz abgesehen davon, daß sich
einzelne Coutumen ausdrücken, wie z. B. die von Laleu. Art. 28 :
,,dans le cas d entravestissement de sang, la propriete de tous
les heritages sujets au dit echevinage et appartenage et ap-
partenans aux epoux au deces du premier mourant, sera devolue
et appartiendra aux enfants, issus du manage et au dernier
vivant d'iceux, pour, apres le trepas du survivant, etre l'iisufruit
reuni ä la propriete" (ebenso die Coutume von Lüttich, Kap. 11,
Art. 15), was freilich nicht die Regel ist, so ist doch jedenfalls
nicht zu bestreiten, daß die Vinkulation sofort vom Tode
des ersten Ehegatten an vorhanden war, da von diesem
Augenblick an der Überlebende die Güter nicht mehr veräußern
noch beschweren kann und er auch von diesem Augenblick ab
als „proprietaire bridt?" qualifiziert wurde (siehe Stockmans
de jure Devolutionis, Kap. 5, Nr. 1; Kap. 6, Nr. 4). Sohet,
in seinen Inst, de droit pour le pays de Liege, I, 271 fg.,
vergleicht das Devolutionsrecht der Kinder sehr richtig ä un
fidäcommis ' conditionnel qui s'evanouit s'ils meurent avant le
parent. Die Ansicht des Revisionshofes stützt sich darauf, daß,
wenn der Vater die Güter veräußert, diese Veräußerung gleich-
wohl nicht schlechthin nichtig ist, sondern gültig wird, wenn
die Kinder vor ihm — ohne Rücklassung von Kindern — ster-
ben. Allein hieraus kann man durchaus nicht schließen, daß
342
ten" geleistet werde. „Jeder wahre politische oder volks-
wirtschaftliche Zweck," sagt er, ,,wird durch die Ablösung
mit Entschädigung vollständig erreicht, ohne Bereicherung
erst die Zeit des Todes zeige, ob Vinkulation vorhanden war.
Diese war jedenfalls vorhanden und die ungültige Ver-
äußerung konvalesziert nur nachträglich, wenn die
Kinder kinderlos vor dem Vater sterben. Wenn der römische
Ehemann Dotalgrundstücke veräußert, so ist dies eine durchaus
nichtige Handlung. Allein wenn ihm späterhin die ganze Dos
zufällt, so konvalesziert die Veräußerung von selbst und es
braucht auch nicht einmal Wiederholung der früheren Tradition
einzutreten (L. 42 de usurp., 41, 3). Deshalb wird niemand
behaupten wollen, daß die Vinkulation der Dos erst bei Auf-
lösung der Ehe beurteilt werden könne, und ebensowenig be-
zweifeln, daß die Unveräußerlichkeit der Dos ein erworbenes
Recht der Frau bilde. Sogar wenn ein Nichteigentümer
eine Sache veräußert und später das Eigentum an ihr erwirbt,
konvalesziert dadurch die Veräußerung ohne eine Tradition von
selbst (L. eadem., L. 4, § 32, de doli exe, 44, 4). Ebenso
wird die ungültige Veräußerung der lucra propter nuptias nach-
träglich gültig, wenn sämtliche Kinder erster Ehe vor dem
Vater sterben (Nov. 22, c. 26).
Es ist also nicht wahr, was der Berliner Revisions- und
Kassationshof sagt, daß sich erst zur Zeit des Todes beurteilen
lasse, ob Vinkulation vorhanden gewesen sei. Diese war jeden-
falls vorhanden gewesen, ein Gewesensein, welches auf
Grund späterer Gesetze oder Facta leugnen zu wollen, die
Blüte einer in Verlegenheit gesetzten Sophistik ist. Es ist
ebenso nicht wahr, was der Pariser Kassationshof sagt, daß
das Recht der Kinder eine „bloße Erwartung" bildet. Es bildet
vielmehr ein in jure irrevokables Recht, welches nur
unter bestimmten faktischen Bestimmungen fortfallen soll,
ein Recht, das daher mindestens ganz so erworben und
unwiderruflich ist wie das eines bedingten Ve r -
träges, in welchem das Recht sogar erst von dem Ein-
treten bestimmter faktischer Ereignisse abhängig gemacht wird.
Aber das Devolutionsrecht begründet nicht (außer in jener
343
des einen Teils auf Kosten des andern, die durch die
Natur solcher Gesetze auf keine Weise zu rechtfer-
tigen ist."
Auf diese allgemeine Behauptung muß zunächst erwi-
dert werden, daß es gar keinen größeren Irrtum gibt,
als diese Annahme eines angeblichen Rechtes auf Ent-
schädigung in den gedachten Fällen.
Dies ergibt sich mit unvermeidlicher logischer Not-
wendigkeit aus der von uns entwickelten Theorie. Das
Recht konnte selbst durch Vertrag von Haus aus von dem
Individuum mit Gültigkeit nur stipuliert werden b i s z u
dem Tage, wo das allgemeine Dasein eines solchen
Rechtes auf ein es negierendes und für unmöglich er-
klärendes Bewußtsein des öffentlichen Geistes stoßen
würde. Das Recht hat gegolten, solange es gelten konnte
und sollte. Jener Tag des Verhängnisses, der Tag der
von Haus aus dem Akte vorherbestimmten Notwendig-
keit, ist nun eingetreten — und alles ist gesagt !
Ausnahme-Coutume von Laleu usw., wo allerdings auch anders
entschieden werden müßte) einen aktuellen Übergang des
Eigentums der Güter vom Vater auf die Kinder, sondern ein
erworbenes Recht auf Erbschaft für die letzteren (wie
im älteren deutschen Rechte das Recht der nächsten Erben
ein solches war). Der prohibitive Geist des neuen französischen
Rechtsbewußtseins war aber eben der: Erworbenes Recht
auf Sukzession soll überhaupt nicht sein, sondern diese
nur vom Gesetz verliehen werden können (weswegen z.B.
auch die Erbverträge aufgehoben und im Art. 1389 des Code
civil den Ehegatten verboten wurde, in den Ehepakten ab-
weichende Bestimmungen über die legale Sukzession der Kinder
zu treffen), in specie : Vorzugsrecht in der Sukzession zwischen
den Kindern desselben Vaters oder derselben Mutter solle nicht
sein können, — und darum also wich von jetzt ab auch
das erworbene Recht auf Erbschaft als ein nur bis dahin
erworbenes.
344
Die Grenze, bis zu welcher das Recht gelten
sollte und konnte, ist erreicht, und es ist daher hier
logisch und juristisch weder Raum noch Grund denk-
bar für eine Entschädigung. — Es gibt hier nichts zu
entschädigen. Denn es ist hier dem einzelnen nichts ge-
nommen worden, was, wie bei der Expropriation, noch
ferner als ein rechtmäßiges Eigentum aner-
kannt würde. Ein Recht der Entschädigung dennoch
annehmen, da, wo der Inhalt des aufgehobenen Rechtes
vom öffentlichen Bewußtsein bereits prohibiert, d. i.
als widerrechtlich bestimmt ist, hieße vermöge der Kraft
der Logik gar nichts Geringeres, als Klassen oder
Individuen das Recht zusprechen: dem öffent-
lichen Geiste einen Tribut für seine Fort-
entwickelung aufzuerlegen, hieße also nichts
anderes, als ein tributpflichtiges Hörigkeits- oder Abhän-
gigkeitsverhältnis des öffentlichen Geistes von jenen be-
rechtigten Klassen oder Individuen annehmen. —
So unzerbrechlich und genügend diese streng logische
Folgerung ist, so würde doch das Gesagte zu ebenso
großen Irrtümern Anlaß geben können wie die
Worte Savignys nach der entgegengesetzten Seite hin, wenn
nicht noch ein hierbei in Betracht kommender Unter-
schied dargelegt würde, der freilich nie außer Augen
verloren werden darf.
Es ist hier also der Ort, die Theorie der Ent-
schädigung bei Aufhebung bestehender Rechte durch
Prohibitivgesetze im öffentlichen wie im Privatrecht zu
entwickeln, welche die bisherige Unklarheit hierüber be-
seitigen und sich als die immanente Folge oder viel-
mehr nur als eine nähere identische Anwendung
desselben Begriffes herausstellen wird, durch den
sich uns auch die Aufhebung der bestehenden Rechte
345
selbst, bei einer negativen Gestaltung des allgemeinen
Bewußtseins, als notwendiger Ausfluß der Rechtsidee er-
geben hat.
Man muß nämlich genau darauf achten, was durch
den neuen geistigen Inhalt des Bewußtseins wirklich
prohibiert und ausgeschlossen wird: ob das
Rechtsverhältnis selbst oder nur ein bestimm-
ter Modus seiner Ausübung.
Dies bedarf einer schärferen Entwickelung.
Ein Recht qualifiziert sich juristisch nicht bloß durch
den Eigentumsinhalt oder die Forderung, auf die es
einen Anspruch gewährt, sondern ebenso auch durch die
Beschaffenheit des Rechtstitels selbst, aus welchem
der Anspruch fließt. Erst beides zusammen quali-
fiziert das wirkliche bestimmte Recht. Ich kann dieselbe
Summe Geldes, dasselbe Quantum Naturalien, dieselben
Dienstleistungen zu fordern haben. Aber es fragt sich, ob
ich sie auf einen Kauf- oder Nutznießer, oder emphyteu-
tischen Titel usw., auf einen Titel kontraktlicher oder
gesetzlicher Nutznießung, auf einen dinglichen oder obli-
gatorischen, auf einen lästigen oder unentgeltlichen Titel
usw. zu fordern habe. Die juristische Bestimmtheit
des wirklichen Rechtes tritt also erst durch die Hinzu-
nahme des Rechtsgrundes zu dem Inhalt und
Objekt des Rechtes hervor.
Ist nun die negative Wendung des neuen Bewußtseins
die totale, daß nach ihm einerseits ein bestimmtes
dingliches oder obligatorisches Recht von seiner Fortexi-
stenz ausgeschlossen ist und andererseits zugleich aus
diesem Rechtsgrunde (z. B. aus herrenschaftlichen
Rechten) überhaupt keinerlei Recht auf den
Gegenstand des bisherigen Rechtes mehr
entstehen können soll, — so tritt die oben ent-
346
wickelte Folge ein, und von Entschädigung kann nicht
die Rede sein.
Geht aber die Prohibition des neuen Bewußtseins nur
s o weit, daß aus diesem Rechtsgrunde allerdings
noch Rechte, und zwar auch Rechte auf das bisherige
Rechtsobjekt (resp. auf ein Rechtsobjekt dersel-
ben Art1) entstehen können sollen, nur nicht die be-
stimmte bisher gewählte Art der Rechtsbefrie-
*) So wird z. B. bei der Expropriation eines Terrains zum
Zweck öffentlicher Bauten zwar das bestimmte bisherige Rechts-
objekt selbst publiziert, aber nur das einzelne zufällige
Exemplar, nicht die Art dieses Rechtsobjektes. Grundstücke
können noch weiter erworben werden und im Privateigentum sein.
Eben deshalb muß Entschädigung gezahlt werden. Aber selbst
hier ist die Entschädigung bloßer Schein und löst sich, ganz in
Gemäßheit des im Text sofort weiter Gesagten, auf in eine
Umwandlung des Eigentums an dem Grundstück aus seiner
prohibierten in seine noch unprohibierte Form. Das
Eigentum an jeder Sache umfaßt (vgl. hierüber oben Note 3
zu S. 184) zweierlei: erstens das Eigentum an ihrer singu-
lären Existenz (Nutzbarkeit), zweitens das Eigentum
an ihrem allgemeinen Tauschwert. Das Grundstück, das
zum Zwecke öffentlicher Bauten expropriiert wird, ist seiner
singulären Existenz nach publiziert; insoweit ist das Pri-
vateigentum daran aufgehoben, und hierfür wird auch keine
Entschädigung gezahlt ; denn das pretium merae cffectionis wird
von den Expropriationsgesetzen nicht gegeben. Sachen derselben
Art und Gattung (Grundstücke) können aber noch Privat-
eigentum sein. Die Art ist das Allgemeine der individuellen
Sache. Da also das Allgemeine derselben noch nicht
publiziert ist, Privateigentum daran noch ferner anerkannt wird.
so muß dem Einzelnen das in dem speziellen Grundstück für
ihn vorhandene Eigentum an dem allgemeinen Charakter
der Sache auch gelassen, d.h. der allgemeine Tausch-
wert entrichtet werden, was somit gleichfalls nur eine
Überleitung des prohibierten Eigentums in die noch unprohi-
bierte Form desselben darstellt.
347
d i g u n g wegen besonderer Schädlichkeit oder Unstatt-
haftigkeit derselben (z. B. keine dinglichen Rechte mehr,
wohl aber obligatorische usw.). — so muß nun allerdings
eine Umwandlung eintreten. Diese kann und wird
oft die Form einer Entschädigung haben. Aber
dies ist nur ihre täuschende Außenseite. In der Tat ist
sie nur eine Umwandlung, d. h. eine Überleitung
des noch als wirksam anerkannten Rechtsinhaltes aus
der prohibierten Art seiner Befriedigung in seine
un prohibierte. Diese Umwandlung muß eintreten
und zwar aus dem einfachen Grunde, weil ja nicht mehr
aufgehoben werden darf, als durch die Anschauung des
neuen Rechtsbewußtseins wirklich prohibiert ist.
Wenn also im öffentlichen Bewußtsein noch nicht pro-
hibiert ist, daß aus diesem bestimmten Rechtsgrunde
Ansprüche überhaupt, und zwar Ansprüche an dies be-
stimmte Objekt des Rechtsverhältnisses, hervorgehen,
so muß, indem die Prohibition nicht weiter geführt wer-
den darf, als sie eben reicht, die Überleitung aus
der jetzt unerlaubt gewordenen in eine noch erlaubte
Form jenes noch als wirksam angeschauten Rechtsinhaltes
vor sich gehen. Von einer Entschädigung als solcher
ist dabei, auch wenn sie in Geld gezahlt wird, in Wahr-
heit gar nicht die Rede. Es wird bloß nicht mehr
unterdrückt, als eben durch den jetzigen Stand des
öffentlichen Geistes unterdrückt werden soll, und so-
mit tritt logisch von selbst, bloß durch die Nicht -
prohibition, die in dieser Hinsicht vorliegt, der er-
laubte Modus der Befriedigung an Stelle des pro-
hibierten, Abgabe vom Reinertrag an Stelle der Ab-
gabe vom Rohertrag, Geldabgabe an Stelle der Natural-
abgabe usw.
Es ist zunächst erforderlich, das Gesagte durch kon-
348
krete Beispiele zu größerer Anschaulichkeit zu bringen.
Die konstituierende Versammlung, welche im Jahre
1789 in Frankreich zusammentrat, fand in dem bis dahin
herrschenden Feudalsystem und den Lasten, Diensten und
Abgaben aller Art, durch welche es die Freiheit der
Personen und des Eigentumes fesselte, zwei große und
prinzipiell verschiedene Gattungen dieser Rechte vor. Die
einen dieser Lasten, Dienste, Abgaben, Verpflichtungen
und Beschränkungen aller Art waren hervorgegangen aus
der herrenschaftlichen Gewalt, welche früher den adeligen
Grundeigentümern, religiösen Orden und Stiftungen der
leibeigenen und hörigen Bevölkerung gegenüber zuge-
kommen war, und wurzelten somit ursprünglich im reinen
Personenrecht. Die anderen waren auch ursprünglich gegen
eine Verleihung von Grund und Boden, also auf lästigen
Titel, von den Grundherren erworben worden.
Was nun die Rechte der ersten Gattung anbetraf, so
war die neue Anschauung des Bewußtseins eben die, daß
persönliche Oberherrlichkeit, und rechtlicher Unterschied
der Person überhaupt, nicht mehr sein solle, daß aus
dem Personenunterschied kein Recht mehr hervorfließen
solle. — Indem daher die Prohibition des Geistes sich
ebensowohl abolierend gegen das Fortbestehen dieses be-
stimmten Rechtsinhaltes als gegen den Rechtsgrund
dieser Verhältnisse überhaupt wandte und diesen als nicht
mehr rechtlich wirksam anschaute, mußte die Pro-
hibition die totale sein. Da dieser Rechtsgrund
selbst keinerlei Wirkung mehr haben können, keiner-
lei Recht mehr aus ihm entstehen können sollte, so konnte
das Recht auch nicht bloß die Form wechseln und ein
Recht an Stelle des anderen treten.
Hier war daher auch für eine Entschädigung gar
keine logische Möglichkeit vorhanden. Denn durch jede
349
solche wäre gerade als rechtlich fortwirkend gesetzt
und anerkannt worden, was aus dem tiefsten Inneren des
öffentlichen Geistes heraus als Unrecht und als absolut
wirkungslos bestimmt war.
Ganz anders verhielt es sich mit der zweiten Klasse
von Rechten, die ursprünglich gegen eine Verleihung
von Grund und Boden, also auf lästigen Titel1),
stipuliert worden waren.
Daß aus solchem Rechtsgrunde Rechte stipuliert wer-
den konnten, sowohl irgendein Anteil an dem Ertrag des
Grundstückes, als auch Rechte auf Dienstleistungen
der Personen, denen dafür Werte abgetreten worden waren,
!) Unter lästigem Titel können niemals verstanden werden
diejenigen Lasten, welche vom Berechtigten schon deshalb über-
nommen werden müssen, um die bloße Fortdauer des ihm
eingeräumten Genusses zu sichern. Diese bilden kein Äqui-
valent für die Einräumung des Rechtes, sondern bloß eine
notwendige Last der Erhaltung desselben. Es heißt daher
in dieser Hinsicht äußerst richtig im Art. 24, Tit. 2 des Gesetzes
vom 15. März 1790: „Sont exceptees de la suppression ci_-
dessus et seront rachetables : . . . . 2) les banalites qui seront
prouvees avoir ete etablies par une Convention souscritepar
une communaute d'habitants et son seigneur, et par laquelle
le seigneur aura fait ä la communaute quelque ovantage de
plus que de s'obliger ä tenir perpetuellement en etat les moulins,
fours ou autres objets banaux."
Ebenso kann ein Titel, der vielleicht ursprünglich lästig war.
zu einem nicht mehr lästigen werden, indem die Last des-
selben in darin stipulierten fortwährenden Gegenleistungen und
Diensten bestand, welche durch die geänderte Natur der Ver-
hältnisse untunlich oder unzulässig geworden smd (wie z. B.
die mittelalterlichen Ritterdienste der adeligen Grundherren in
Preußen oder der von ihnen den bäuerlichen Hofinsassen zu-
gesicherte Schutz usw.). Er ist dann von da an notwendig zu
einem nicht lästigen Titel geworden und als solcher zu be-
handeln
350
daß also Rechte aus solchem Rechtsgrunde hervor-
gehen, und zwar auf dieselben Rechtsobjekte her-
vorgehen konnten — dies war durch das neue Bewußtsein
nicht prohibiert. Vielmehr durften fortwährend von
neuem auf entgeltlichen Titel Reallasten und obliga-
torische Rechte auf menschliche Handlungen geschaffen
werden. Nur der bestimmte Modus der vorgefundenen
Rechte, nur die gewählte Art der Rechtsbefrie-
digung jener an sich noch immer zulässigen Rechte, war
aus verschiedenen Gründen durch das neue Rechtsbewußt-
sein des Volkes prohibiert. So boten z. B. die Zehenten
den großen Übelstand dar, daß sie als eine Abgabe vom
Rohertrage die Amelioration des Bodens hinderten usw.
Alle diese Realabgaben und ebenso die für Grund-
verleihungen auferlegten persönlichen Dienste (corvees
reelles) waren insoweit durch den Inhalt des gegen-
wärtigen Geistes prohibiert, daß sie in aeternum eine be-
stimmte und auf ewig für unablösbar erklärte Art von ge-
wissen Naturalabgaben oder Dienstleistungen auferlegten.
Sie beschränkten so die freie Benutzung des Grundeigen-
tumes und brachten, indem sie zu einer stationären Be-
bauung desselben zwangen, eine künstliche Verminderung
des Bodenertrages und eine Verarmung des Volkes hervor.
Sie verletzten ebenso den jetzt zum Bewußtsein ge-
kommenen nicht weniger imperativen Grundsatz, die per-
sönliche Freiheit des Menschen nicht auf ewig zu einer
bestimmten Art von Handlungen verpflichten und ihn der
Freiheit berauben zu können, sich durch eine Restitution
des Wertäquivalentes (Ablösung) der übernommenen Ver-
pflichtung zu bestimmten Diensten oder auch zur Ver-
zinsung fremder Werte zu entziehen1).
1) Weshalb im Gesetz vom 18. Dezember 1790 verholen
wurde, de ne plus ä l'avenir creer aueune redevance fonciere
351
Was somit jetzt wirklich durch den Fortschritt des
Geistes prohibiert war, war hier nicht das Recht selbst,
sondern überhaupt bloß seine Unablösbarkeit, war
nicht die Substanz des Rechtes, sondern nur der be-
stimmte Modus der Befriedigung desselben, der in
jenen Verträgen gewählt worden war.
Indem nun also natürlich nicht mehr aufgehoben
werden konnte, als durch den Inhalt des Bewußtseins ge-
boten war, mußte und konnte nur die Unablösbarkeit
solcher Rechte, nicht diese selbst, aufgehoben werden.
Dies gab somit von selbst ihre Ablöslichkeit, die so-
mit nur scheinbar als eine Entschädigung für ein
Prohibiertes, in der Tat aber nur der logisch-not-
wendige Fortbestand des noch nicht Prohibierten
war.
Hätte man hier weiter gehen und jene Rechte, weil
siealsunablösbare auf ewige Zeiten konstituiert waren,
aus dem Grunde einfach unterdrücken wollen, weil das
neue Bewußtsein solche Rechte nicht mehr anerkenne,
so wäre hier allerdings Rückwirkung eingetreten. Denn
wenn das Individuum sich im voraus unterwirft und unter-
werfen muß dem Erlöschen seines Rechtes von dem Zeit-
punkt an, wo das öffentliche Bewußtsein — dieser ein-
zige wahrhafte Rechtsboden — einen bestimmten Rechts-
inhalt als substantiell nichtig anschauen wird, so unter-
wirft sich das Individuum deshalb doch nicht der mate-
riellen Abolition seines Rechtes für den Fall, wo nicht
die Substanz, sondern nur eine bestimmte Befriedigungs-
art desselben vor den Augen des neuen Gesetzgebers
nichtig ist und übergehen muß, also z. B. Unablöslichkeit
non remboursable, was dann zu dem ganz allgemeinen in den
Code übergegangenen Grundsatz führte: chaque rente perpe-
tuelle est essentiellement remboursable.
352
in Ablöslichkeit oder Naturalabgabe in Geldabgabe usw.
Wenn hier statt dessen die gänzliche Unterdrückung er-
folgt wäre, weil die bloße Formbestimmtheit, in der
das Recht konstituiert wurde, nicht fortdauern kann, so
würde das Individuum hier allerdings den Vorwurf gegen
den Gesetzgeber erheben können : es würde, falls jene
Form des Rechtes bei der Konstituierung desselben unter-
sagt gewesen wäre, die andere noch jetzt erlaubte
Form sich stipuliert haben, und dieser Vorwurf würde
eine wirkliche Rückwirkung in sich einschließen, wie
wir im Verlauf noch tiefer sehen werden. Im ersten Falle
aber kann das Individuum diesen Vorwurf nicht erheben,
weil ja auch in keiner anderen gewählten Form das
absolut unzulässig und substantiell nichtig gewordene Recht
länger hätte kontinuiert werden können.
Oder mit anderen Worten. Wenn, wie wir als das
Gesetz der Sache gesehen haben, jedem Vertrage die still-
schweigende Stipulation hinzuzudenken ist, daß das in
ihm konstituierte Recht so lange dauern solle, solange
nur dasselbe dem allgemeinen Geiste als rechtlich mög-
lich und somit als nicht prohibiert erscheinen wird, so ist
nun ebendeshalb für diesen Fall der Prohibition dem Ver-
trage notwendig auch noch die andere stillschwei-
gende Stipulation hinzuzudenken : daß
solange aus diesem Rechtsgrunde und an diesem
Rechtsobjekt überhaupt noch ein Rechtsanspruch von
neuem erworben werden kann und somit als rechtlich
möglich anerkannt werden wird, das vom Individuum
sich konstituierte Recht in jeder anderen Form
und Bestimmtheit fortbestehen sol[e, welche
vor dem Bewußtsein des neuen Gesetzgebers
noch als zulässig erscheinen wird; d.h. also
In jeder Form, in welcher aus diesem Rechtsgrunde
23 LbmJIb, Gci S.Lrlft« IW1 IX. 353
und auf dieses Rechtsobjekt auch noch nach dem
neuen Gesetze Rechte neu erworben werden können1).
Und die Verletzung dieser stillschweigenden Kon-
traktsstipulation, welche die konsequente Abstufung jener
ersten ist, deren notwendiges und stillschweigendes Dasein
allein die Rückwirkung ausschließt, würde somit in der
Tat eine wirkliche Rückwirkung in sich tragen.
Wir werden so von allen Seiten immer wieder auf
unseren systematischen Gedanken zurückgeführt und sehen,
wie derselbe die Kraft hat, die begrifflichen Unterschiede
der Materie aus sich zu erzeugen.
Ganz so nun, wie wir es hier als notwendig aus dem
Begriffe fließend nachgewiesen haben, verfuhren die fran-
zösischen Versammlungen der Revolutionszeit, indem sie
*) Wie sehr die von uns entwickelte Überleitung des Rechtes
in seine noch unprohibierte Gestalt als die wahrhafte logische
Idee der Sache hervortritt, in Rechtsgebieten, in denen von Ent-
schädigung gar keine Rede sein kann, mag beispielsweise
an dem Gesetz vom 8. Mai 1816 gezeigt werden, durch welches
die Restauration in Frankreich die Ehescheidung aufhob. Klagen
auf Trennung von Tisch und Bett (separahon de corps) blieben
zulässig. Infolge dessen verfügte der Art. 2 des Gesetzes, daß
alle hängigen Scheidungsklagen und — da unter dem Code civil
die Scheidung vom Richter nur zugelassen und erst vom Zivil-
standesbeamten ausgesprochen wird — alle bereits erlassenen,
aber noch nicht exekutiven Scheidungsurteile in Separations-
klagen und Separationsurteile umgewandelt sein sollten.
— Scheidung sollte nicht mehr sein können, somit blieb die
Separation als die noch erlaubte Form der Trennung, obgleich
nicht hierauf geklagt und erkannt worden war und für die
Separationsklage andere Formen als für die Scheidungs-
klage galten. Aber da auch jetzt noch auf Separation geklagt
werden konnte, hätte es geheißen, die Gültigkeit individueller
Handlungen rückwirkend vernichten, wenn man diejenigen, die
ein Scheidungsurteil erlangt hatten, jetzt hätte nötigen wollen,
von neuem auf Separation zu klagen.
354
mit der wahrhaften Logik des Begriffes alle Lasten,
Rechte und Beschränkungen der ersten Klasse für ohne
weiteres und ohne jede Entschädigung aufgehoben, alle
solche aber, welche ,,der Preis und die Bedingung
einer ursprünglichen Verleihung von Grund
und Boden" waren, bloß für ablösbar (rachetable)
erklärten. Dies Prinzip wird schon gleich in dem ersten
Dekrete der berühmten Augustnacht angedeutet, wo es
heißt Art. 1 : „L'assemblee nationale detruit entierement
le regime feodal et decrete que, dans les droits et de-
voirs tant feodaux que censuels, ceux qui Hennent ä la
inain-morte reelle ou personnelle et ä la servitude per-
sonnelle sont abolis sans indemnite' et tous les autres
declares rachetables."
Zu seinem reinen begrifflichen Ausdruck kam dies De-
kret erst in dem ausführenden Dekrete derselben National-
versammlung vom 15. März 1790, wo es in Tit. 3, Art. 1,
heißt :
„Seront simplement radietables et continueront d'etre
paye's jusqiCau rachat effectui tous les droits et devoirs
feodaux et censuels utiles qui sont le prix et la conditio n
d'une concession primitive de fonds(i, nachdem in den vor-
hergehenden Titeln alle anderen für unentgeltlich aboliert
erklärt worden waren. Nach anderen ausführenden Ge-
setzen, vom 3. Mai, 14. November, 23. Dezember 179U
und 13. April 1791 gelangte dies Prinzip zu seiner wahr-
haft konsequenten Durchführung erst durch das Gesetz
der assemblee legislative vom 25. August 1792, wozu dann
später das Schlußdekret des Konventes vom 17. Juli 1793
kam 1 ) .
-1) Von den ausführenden Gesetzen ist oben nur an die
wichtigsten erinnert worden ; andere, wie die vom 28. Oktober
1790 über die dimes infeodees, vom 26. Juli 1792 über die
"• 355
Untersuchen wir nun beiläufig von dem festgewonnenen
Standpunkt unseres Pnnzipes aus das preußische Gesetz
über die Regulierung und Ablösung der gutsherrlichen und
bäuerlichen Verhältnisse vom 2. März 1850, so sind es
traurige Resultate, die sich uns ergeben.
Zwar erklärt dieses Gesetz in den §§ 2 und 3 eine An-
zahl von Berechtigungen für unentgeltlich aufgehoben, ins-
besondere auch (§ 2, Nr. 1 und 2) das Obereigentum des
Lehnsherrn, des Guts- oder Grundherrn und des Erbzins-
herrn, desgleichen das Eigentum des Erbverpächters, und
spricht dem Erbzinsmann und Erbpächter das volle Eigen-
tum durch die bloße Kraft des Gesetzes zu. Zwar scheint
dies Gesetz auch ganz direkt dem von uns aufgestellten
Prinzip entflossen zu sein, indem es in § 3, Nr. 10, aus-
drücklich für ohne Entschädigung aufgehoben erklärt :
, .die aus den früheren gutsherrlichen, schutz-
herrlichen und grund herrlichen Rechten ab-
geleiteten und hergebrachten Abgaben und Leistungen,
welche, ohne zum öffentlichen Steuereinkommen zu ge-
hören, die Natur der Steuern haben"
und indem es am Schluß des § 3 verordnet :
..Insofern jedoch die in diesem Paragraphen ge-
dachten Dienste, Abgaben und Leistungen für die Ver-
leihung oder Veräußerung eines Grund-
stückes ausdrücklich übernommen worden sind, bleibt
deren unentgeltliche Aufhebung ausgeschlossen."
droits casuels pour mutation de propriete, vom 17. und 20.
August 1 792 über die droits feodaux fixes et casuels, vom
28. August und 7. Dezember 1792, vom 10. Juni 1793 usw.,
sind übergangen. Ebenso folgten noch auf das obige Dekret
des Konventes einzelne ausführende und interpretierende De-
krete vom 7. September 1793, 2. Oktober 1793, 1. Brumaire.
lJ. Brumaire. 1 Frimaire. 28. Nivose. 29 Floreal II usw.
356
Und gewiß ist nach diesen beiden angeführten Bestim-
mungen unleugbar, daß jener von uns oben (S. 345 fg.) in
allgemeinerer begrifflichen Fassung nachgewiesene Unter-
schied bei diesem Gegenstande praktisch dem eigenen
Rechtsgefühl des preußischen Gesetzgebers nach dem Vor-
gang der französischen Versammlungen zum Bewußtsein
gekommen war.
Aber schon sehr bedenklich erscheint es, wenn der
§ 5 verordnet :
„Die mit dem § 2, Nr. 1 und 2, bestimmte Aufhebung
des Obereigentumes des Lehnsherrn, Guts- oder Grund-
herrn und Erbzinsherrn, sowie des Eigentumes des Erb-
verpächters, hat nicht zugleich die Aufhebung der aus
diesen Verhältnissen entspringenden Be-
rechtigungen auf Abgaben oder Leistungen
oder ausdrücklich vorbehaltene Nutzungen zur Folge ;
vielmehr bleiben diese Berechtigungen, sofern sie
nicht etwa in dem gegenwärtigen Gesetze besonders
für aufgehoben erklärt worden sind, fortbestehend."
Und hierauf werden in § 6 ,,a 1 1 e beständigen Abgaben
und Leistungen, welche auf eigentümlich oder bisher erb-
pachts- oder erbzinsweise besessenen Grundstücken oder
Gerechtigkeiten haften", der Ablösung unterworfen.
Nun läßt sich aber historisch nicht leugnen, und nichts
ist besser und wiederholter nachgewiesen worden, als daß
besonders der Erbzins häufig auch aus bloßen Schutz-
und Vogt ei Verhältnissen entstanden ist, in die sich freie
Bauern mit ihrem Gute zu adeligen Herren oder Stiftern
begeben hatten, ihnen sehr häufig und durch bloße Usur-
pation und durch das Überhandnehmen feudaler Anschau-
ungen1) im Mittelalter aufgebürdet worden ist2).
1) Vgl. z.B. die Maxime: nulle terre sans seigneur.
2) Siehe Anm. 2 zu S. 359.
357
Zwar wird man sagen können, daß der § 5 jene Ab-
gaben und Leistungen bloß insofern der Ablösung unter-
werfe, ,, sofern sie nicht etwa in dem gegenwärtigen Ge-
setze besonders erklärt worden sind", und daß folg-
lich in der vorhin angeführten Nr. 10 des § 3, welche alle
solche Abgaben und Leistungen unentgeltlich aufhebe, die
lediglich auf feudalem oder gutsherrlichem usw. Nexus
beruhen, auch Erbzins e usw. unentgeltlich aufgehoben
sind, insofern ein solcher feudaler Ursprung
derselben nachgewiesen werden kann1).
!) Sicher ist es übrigens durchaus nicht, daß man mit
dieser Auslegung vor unseren Tribunalen durchkommen würde.
Denn hier würde gesagt werden können, daß die aus Erb-
zins- usw. Verhältnissen als solchen entspringenden Berech-
tigungen ausdrücklich vom § 5 für fortbestehend erklärt
werden und daher auf ihren besonderen faktischen oder örtlichen
Ursprung nicht zurückgegangen werden dürfe; daß allerdings
dieser Paragraph auch bei Erbzinsgütern usw. solche auf ihnen
haftende Abgaben ausnehme, welche in dem Gesetz „beson-
ders für aufgehoben erklärt worden sind" ; daß der § 3, Nr. 10.
aber, welcher alle Berechtigungen unentgeltlich aufhebe, welche
die „Natur von Steuern haben", hierdurch nur eine allge-
meine Kategorie aufstelle, aber nicht den Erbzins „be-
sonders" (namentlich) für unter irgendwelchen Umständen
aufgehoben erkläre; daß im Gegenteil der Erbzins als sol-
cher in der Tat nicht die „Natur von Steuern", sondern die
einer reinen Reallast (Grundabgabe) habe (vgl. Allgemeines
Landrecht, T. I. Tit. 18, § 680 fg. und § 813 fg.), und daß
daher der Gegenbeweis, daß ein bestimmter Erbzins durch
seinen faktischen und örtlichen Ursprung eine ähnliche Natur
habe, als nicht von dem Gesetz gestattet zu betrachten sei.
Faßt man das Gesetz in dieser dem Bauer den Gegen-
beweis des feudalen Ursprunges gegen die gesetzliche
Vermutung der Grundverleihung abschneidenden Weise
auf, so gilt dann auch in dieser Hinsicht auf das härteste
358
Wenn man das Gesetz aber selbst in diesem Sinne
auslegt, so enthält es immer noch in bezug auf den Erb-
zins usw. die Aufstellung einer Präsumtion zugunsten des
Berechtigten und schiebt hierin dem Verpflichteten
die Last des Beweises zu, wie dies allerdings auch in
Frankreich zuerst durch das Gesetz der Konstituante vom
15. März 1790 geschehen war1), ein Gesetz, welches
aber in Aufstellung dieser gegen das historische Sach-
verhältnis laufenden, für deutsche Bauernverhält-
nisse übrigens aus historischen Gründen2) noch viel
von diesem Gesetz das, was wir sehr bald in bezug auf andere
Bestimmungen desselben dartun werden.
Jedenfalls werden die Interessen der berechtigten Grund-
aristokratie mit ganz anderer Sorgfalt von diesem Gesetz ge-
wahrt. Denn zu ihren Gunsten wird, wie wir schon gesehen
haben, am Schlüsse des § 3 ganz ausdrücklich bestimmt,
daß auch die vom Gesetz für unentgeltlich aufgehoben
erklärten Berechtigungen dennoch fortbestehen sollen, wenn
ihre Entstehung für Verleihung oder Veräußerung eines Grund-
stückes erwiesen wird.
*) Art. 2: Et sont presumes tels (nämlich als prix dune
concession primitive de fonds, und daher rachetables) sauf
la preuve contraire: 1 ° Toutes les redevances seigneuriales
annuelles en argent, grains, volailles, cire, denrees ou fruits
de la terre, servis sous la denomination de cens, censives, ventes
feodales, seigneuriales et emphyteotiques etc. etc. qui ne se
paient et ne sont dues que par le proprietaire ou possesseur
dun fonds, sauf qu'il est proprietaire ou possesseur et ä raison
de la duree de sa possession.
2) Siehe hierüber und zu dem Vorhergesagten über die aus
Schutzverhältnissen (in die sich Freie mit ihren Gütern be-
geben hatten) übernommenen und aus anderen Feudalzuständen
freien Bauerngütern aufgezwungenen Erbzinse usw. Mitter-
maier, Grundsätze des gemeinen deutschen Privatrechtes,
7. Aufl., Bd. 1, §§ 80-92, und Bd. 2. § 480 fg.; Moser,
Osnabrückische Geschichte, T. 2. Abschnitt 2. §§ 22—24.
359
weniger als für Frankreich gültigen und somit grundlos
die Regeln der juristischen Beweislast umkehrenden1)
und Abschnitt 3, §§ 13 — 15; Haggenmüller, Geschichte von
Kempten, S. 101, 215; Eichhorn, Deutsche Staats- und Rechts-
geschichte, §§ 195, 196, 223, 247 Anmerk. 2, 343, 368,
448, 545, 169, 194; desselben Einleitung usw., § 50 zu Ende,
§§ 51, 52c, 54 fg.; Kindlinger, Geschichte der deutschen
Hörigkeit. §'§ 2 fg., 15, 16, 42 fg.; Grimm, D. R. A.,
S. 503, 562; Sommer, Rechtsverhältnisse usw., S. 113; des-
selben Bauergüter, S. 113, 124; Zimmermann, Geschichte der
Bauernkriege, den ganzen ersten Band und die bei diesen Autoren,
besonders Mittermaier, angeführte Literatur.
1) So sind z. B. im Herzogtum Westfalen die sogenannten
Erbzinsgüter dennoch seit je volles Eigentum der Be-
sitzer (also nicht geteiltes Eigentum oder Erbzinsgüter im Sinne
des Allgemeinen Landrechtes am vorher angeführten Orte) ;
s. Sommer, Bauerngüter im Herzogtum Westfalen, §§ 13, 14,
59. Dasselbe gilt von den Erbzinsgütern im Fürstentum Siegen ;
s. Schenk, „Statistik von Siegen", § 54. Ebenso kommen im
Eichsfelde unter dem Namen Erbzinsgüter häufig reine Zins-
güter vor; s. Revidierter Entwurf des Provinzialrechtes des
Eichsfeldes, § 46, Motive, S. 68 und Akta des Ministeriums
des Innern, Regulierungen und Gemeinheitsteilungen Gen., Nr.
9 b, Bl. 11 fg., angezogen bei Dönniges, Die Landeskultur-
gesetzgebung Preußens, im höheren Auftrage mit Benutzung
amtlicher Quellen, Bd. 2, S. 95. Ebenso erscheinen im Für-
stentum Minden unter dem Namen Erbmeier- (Erbpachts-)
Güter, freie, im vollen Eigentum befindliche Güter; s. Wi-
gand, Provinzialrecht von Minden, I, 120.
Es läßt sich aber überhaupt kein stichhaltiger Grund ab-
sehen, warum der Berechtigte nicht ebenso gut, wie er das
Dasein und den Umfang seines Anspruches zu erweisen
hat (vgl. Struckmann in den Beiträgen zum Osnabrückischen
Eigentumsrecht, Beitr. 10, S. 28; Reyscher, Württembergisches
Privatrecht, I, 411), auch die Qualität seines Anspruches er-
weisen soll, und warum das Gesetz hier, und bei solchen histo-
rischen Umständen, eine den allgemeinen Regeln über die Be-
360
Vermutung den Berechtigten nur noch viel zu günstig
war1).
Allein das Gesetz vom 2. März 1850 enthält andere
Punkte, die keinem Versuche einer Beschönigung zu-
gänglich und deren kritische Bloßlegung in einem noch
engeren Zusammenhange mit den von uns untersuchten
Prinzipien steht.
Durch Tit. 2, §11, desselben werden nämlich auch die
ungemessenen Dienste der Ablösung unter-
worfen.
Die ungemessenen Dienste tragen aber so deut-
lich den Stempel ihres feudalen Ursprunges auf der Stirn,
daß derselbe vom preußischen Gesetzgeber selbst
eingestanden worden ist. In dem für die westfälischen, ber-
gischen und hanseatischen Landesteile zur Schlichtung der
Zweifel über das, was durch die französische Periode
daselbst abgeschafft worden sei oder nicht, erlassenen
preußischen Gesetze vom 25. September 1820
(Gesetzsammlung, S. 169) heißt es:
weislast widersprechende Vermutung aufstellt, zumal endlich,
wo der Erbzins usw. durch Verleihung von Grundstücken ent-
standen ist, der Berechtigte mindestens in der Regel eine
Urkunde darüber besitzen wird, wo er aber etwa durch Miß-
brauch der Feudalgewalt entstand, ein Revers hierüber vom
Feudalherrn freilich nicht ausgestellt wurde !
x) Schon durch die assemblee legislative wurde daher durch
Gesetz vom 25. /28. August 1792, Art. 1 und 4, die Ver-
mutung jenes Gesetzes von 1790 umgekehrt und alle dort für
ablöshch erklärten Rechte für unentgeltlich aufgehoben erklärt,
wenn nicht bewiesen würde, daß sie in einer Abtretung eines
Grundstückes ihren Ursprung haben, welcher Beweis ledig-
lich durch Vorlegung der ursprünglichen „Belehr ungs-,
Zins- oder Erbverpachtungsurkunde" geführt werden
dürfe.
361
§ 3. ,.Die Leibeigenschaft und Erbuntertänigkeit ist und
bleibt mit ihren Folgen aufgehoben."
§ 4. „Zu diesen Folgen werden gerechnet und
sind daher aufgehoben: ... Nr. 4 alle unge-
messenen Dienste, wenn sie auch in Rück-
sicht des Besitzes eines Grundstückes obliegen."
Indem jetzt gleichwohl diese Dienste der Ablösung
unterworfen wurden, liegt hierin nicht nur eine inter-
essante Probe von dem Fortschritt unserer konstitutionellen
Periode gegen die Zeit des Absolutismus, sondern noch
etwas viel Ernsteres vor.
Die Wissenschaft, deren erste Pflicht schärfstes Den-
ken ist, kann deshalb auch gar nicht auf das Recht ver-
zichten, die Schärfe der Begriffsbestimmungen in der ihr
allein entsprechenden Scharfe und Bestimmtheit der Aus-
drücke niederzulegen. Es muß hiernach gesagt werden,
daß es geradezu nichts anderes war, als ein widerrecht-
lich am armen Manne zugunsten der reichen Grundaristo-
kratie begangener — Raub, wenn das Gesetz für nur ab-
lösbar und also fortbestehend Dienste erklärte, welche
vom preußischen Gesetzgeber selbst als „Folgen der Leib-
eigenschaft und Erbuntertänigkeit" anerkannt worden
waren.
Die widerrechtliche Beraubung bestand darin, daß man
diese Fronen trotz ihres feudalen Ursprunges für fort-
bestehend erklärte in demselben Augenblicke, wo
man die prohibitive Wendung des gesamten Rechtsbewußt-
seins der Zeit gegen jene feudalen Verhältnisse gesetz-
geberisch so sehr anerkannte, daß man (s. §§ 2 und 3
des Gesetzes, besonders Nr. 10 und am Schluß) die Fort-
362
dauer dieser Verhältnisse als eine unrechtliche abo-
lierte1)-
Nun erst war die gleichwohl dekretierte Fortdauer
iener Dienste, die entsprungen waren aus Verhältnissen,
welche der Gesetzgeber selbst als ein Dasein des
Unrechtes eingestanden hatte, zu einem wahrhaften Un-
recht und zu einer durch keine bona fides mehr ge-
deckten gewaltsamen Eigentumsverletzung der ärmeren
Klasse geworden. Im Mittelalter konnten wenigstens,
da das juristische Recht stets nach dem Bewußtsein der
Zeit bemessen werden muß, in rechtlicher Weise auf
Grund damals geltender Verhältnisse des öffentlichen
Rechtes feudale Lasten bäuerlichen Gütern und ihren Be-
sitzern auferlegt werden, wenn es auch der historischen
Wirklichkeit zufolge meist durch Gewalt, Usurpation und
Unterdrückung geschah. Jetzt aber dekretierte man den
Fortbestand und den Kapitalabkauf dieser Berech-
tigungen zu einer Zeit, wo man selbst nicht mehr den
Glauben an dieses Recht hatte, in demselben Augen-
blicke, wo vielmehr die Widerrechtlichkeit und
Ungültigkeit aller aus feudalem Titel entsprun-
genen Rechte — vgl. noch Art. 42 der Verfassung
vom 31. Januar 18502) — als die gebieterische
x) ,, weil das ganze Ablösungsgesetz, insbesondere aber
die §§ 2 und 3 desselben ergeben, daß alle auf dem Grund-
eigentum ruhenden Reallasten, die ihre Entstehung in einem
feudalen oder gutsherrlichen usw. Nexus gehabt
haben, aufgehoben werden sollen." (Erwägungsgründe des
5. Senates des Obertribunals Präj. vom 6. November 1855.
Archiv für Rechtsf, XVIII, 277.)
2) Lautend: „Aufgehoben ohne Entschädigung sind: 1. die
Gerichtsherrlichkeit, die gutsherrliche Polizei und obrigkeit-
liche Gewalt, sowie die gewissen Grundstücken zustehenden
Hoheitsrechte und Privilegien; 2. die aus diesen Befug -
363
Vorschrift des allgemeinen Rechtsbewußtseins vom Ge-
setzgeber selbst proklamiert wurde. Dieser Mangel des
Glaubens an sich selbst, die in dem Kapitalabkauf
vorliegende Aufrechterhaltung des Rechtes gegen den
zwingenden Inhalt des eigenen gesetzgeberischen Bewußt-
seins, macht jenen dennoch verordneten Abkauf zu einer
widerrechtlich und wider das eigene Rechts-
bewußtsein verordneten Vermögensverletzung der ärm-
sten Klassen zugunsten der adeligen Grundbesitzer, und
somit allerdings logisch-konsequent zu einem Raube1).
Nicht viel anders verhält es sich in bezug auf die Be-
sitzveränderungsabgaben (Laudemien), von denen in den
§§ 36 — 40 dieses Gesetzes nur die bei Veränderungen in
herrschender Hand eintretenden aufgehoben, aber die bei
Veränderungen in dienender Hand eintretenden — und be-
kanntlich ist letzteres die Regel — mit Ausnahme der
Gerichtssporteln (§ 39) sämtlich der Ablösung unter-
worfen wurden, falls nur die Laudemienpflichtigkeit des
ms sen, aus der Schutzherrlichkeit, der früheren Erbunter-
tänigkeit, der früheren Steuer- und Gewerbeverfassung her-
stammenden Verpflichtungen."
1) Diese Kritik läßt sich natürlich nicht auf solche Ab-
lösungen von ungemessenen Diensten anwenden, welche z. B.
in Preußen in der Gesetzgebungsperiode von 1810 und den
folgenden Jahren angeordnet wurden. Damals traten diese Maß-
regeln als ein merum beneficium zur zweckmäßigen Verbes-
serung der Lage der ländlichen Bevölkerung ein, ohne einem
prohibitiven Rechtsbewußtsein des Gesetzgebers entflossen zu
sein. Damals wurde daher auch nicht die unentgeltliche
Aufhebung der feudalherrlichen Lasten als gesetzgeberische
Rechtsanschauung proklamiert. Daß dies 1850 geschah und
gegen diese vom Gesetzgeber selbst (durch Verfassung wie
Gesetz) verkündete Prohibition des allgemeinen Rechtsbewußt-
seins die Ablösung verfügt wurde, ist es, was die obige Kritik
begründet.
364
Gutes, auch ohne Angabe ihres Rechtsgrundes,
in einer öffentlichen Urkunde anerkannt war. Unmöglich
kann von den Laudemien geleugnet werden, daß sie histo-
risch mindestens in den zahlreichsten Fällen in feudaler
Weise, nicht als reine Grundabgabe (Reallast) entstanden
sind. Gleichwohl lassen die §§ 36 — 40 (und am klarsten
der Schluß des § 3 des Gesetzes, vgl. mit § 39) keinen
Zweifel darüber, daß in bezug auf die Laudemien dem
bäuerlichen Besitzer selbst der Gegenbeweis der feu-
dalen Entstehung abgeschnitten ist.
Endlich ist bei diesem Gesetz noch folgendes in Be-
tracht zu ziehen.
Sogar die französische Konstituierende Versammlung
hatte, wie wir gesehen haben, nur die Unablöslich-
keit jener auf Grund einer Bodenverleihung entstandenen
Lasten, weil der Freiheit des Bodens und des Individuums
widersprechend, aufgehoben. Sie hatte in richtiger Kon-
sequenz dessen nicht mehr aufgehoben, als durch den
prohibitiven Inhalt des Bewußtseins aufzuheben geboten
war, nämlich die Zwangsbestimmung der Unablöslich-
keit. Sie hatte daher diese Rechte nur für ablöslich
erklärt (rachetables) und diese Befugnis in die freie Wahl
der Verpflichteten gestellt1).
In zwingender Weise dagegen trat das Gesetz vom
2. März 1850 auf. Es stellte (s. § 64, 94 und das Ge-
setz über die Rentenbank vom selben Tage) die Forde-
rung der Ablösung nicht bloß in die Wahl der Verpflich-
teten, sondern ebenso auch in die der Berechtigten,
und machte so den Kapitalabkauf der Dienste und
Leistungen aus einer freien Wahl zu einer unfreiwilligen
x) Siehe den Rapport von Tronchet, vom 28. März 1790.
T XVI des proc. verb. He l'Assemblee. Ebenso z. B. die han-
noverische Ablösungsordnung von 1833.
365
Pflicht, statt zu einer Konsequenz der persönlichen
Freiheit der Verpflichteten zu einem Zwange für die-
selben. Es hätte sich dies Gesetz statt Gesetz über die
„Ablösbarkeit", richtiger als ein Gesetz über A b -
lösungszwang charakterisieren sollen. Fragt man sich,
wie dies zur Zeit höchster Reaktion so auffällige,
die französische revolutionäre Versammlung noch weit
hinter sich lassende zwingende Auftreten zugunsten der
persönlichen Freiheit zu verstehen und zu erklären sei, so
bietet sich darauf als Antwort in einleuchtender Analogie
die Motivierung, mit welcher sogar jetzt unter einem
liberalen Ministerium der den Kammern vorgelegte Ent-
wurf zur Aufhebung und Entschädigung der Grundsteuer-
freiheit1) ausdrücklich versehen ist. Die Regierung
— heißt es hier — hofft hierdurch : „eine Frage zur be-
friedigenden Lösung zu bringen, welche, wenn letztere
nicht bald erfolgt, einer weniger rücksichtsvollen
Behandlung unaufhaltsam entgegeneilt".
Der Feudalist fühlt die ihm so knapp zugemessene
Zeit — und greift schnell noch mit beiden Händen von
neuem in die Taschen des Volkes, um noch vor dem
Hahnenschrei durch eine neue Gewalt seinen feudalen
Besitz in bürgerlichen zu verwandeln2)!
x) In der Session von 1859-1860.
8) Kann es wundern, wenn ein Gesetz von den Tribunalen
in dem Geiste interpretiert wird, in welchem es erlassen wor-
den? Das Obertribunal hat dies reichlich getan. So konnte zwar
nicht geleugnet werden, daß die unter der Benennung „Ge-
schoß" und „Erbgeschoß" vorkommende Abgabe aus den
früheren schutzherrlichen Rechten, insbesondere aus der Ge-
richtsherrlichkeit herzuleiten und daher unentgeltlich aufgehoben
sei (Präj. des Obertribunals vom 10. Dezember 1853 und
vom 3. Juli 1855; Entscheidungen, XXVII, 272, und Zeit-
schrift des Revisionskoll., IX, 55), aber das Obertribunal brachte
366
Kehren wir nunmehr von dieser Kritik des Gesetzes
vom 2. März 1850 zu dem oben entwickelten begriff-
lichen Unterschied zurück. Wir haben in demselben ein
gleichwohl fertig zu erklären, daß, wenn nur die — von
den Berechtigten selbst herrührenden — Quittun-
gen eine Abgabe als Geschoß, Geschoßgeld, Geschoßzins
usw. bezeichnen, hieraus für sich allein die Entstehung der
Abgabe aus einem schutzherrlichen, gutsherrlichen oder grund-
herrlichen Rechte oder ihre steuerartige Natur nicht herzu-
leiten sei (Präj. des Obertribunals, II. Senat vom 29. Januar
1856; Archiv für Rechtsf., XX, 95), obgleich schon durch
ein Urteil vom 16. Oktober 1847 (Entscheidungen, XVI, 264)
das Obertribunal die Steuernatur des „Geschoß" nachgewiesen
hatte ; vgl. das schon bezogene gründlich motivierte Erkenntnis
vom 10. Dezember 1853. — Der § 3, Nr. 8 des Gesetzes,
hatte die unentgeltliche Aufhebung der zu persönlichen Be-
dürfnissen der Gutsherrschaft und ihrer Beamten bestimmten
Dienste ausgesprochen. Aber trotz des offenbar herren-
schaftlichen Ursprunges derselben und trotz der im § 3
verfügten Aufhebung aller so entstandenen „Abgaben und
Leistungen" brachte der zweite Senat des Obertribunals
fertig, zu erklären, daß die Abgaben, in welche solche
Dienste erweislich umgewandelt worden, nicht auf-
gehoben seien (Präj. vom 21. März 1854, Entscheidungen,
XXVIII, 261), obwohl der V. Senat des Obertribunals sehr
richtig erwägt : „daß sich kein Grund denken läßt, aus wel-
chem der Gesetzgeber, welcher die aus dem Jagdrecht origi-
nierenden Dienste und Leistungen unentgeltlich aufhebt, die
aus gleichem Grunde entstandenen Abgaben fortbestehen zu
lassen bezweckt haben sollte, da der reprobierte Ver-
pflichtungsgrund zu einer solchen Reallast derselbe bleibt,
ob die Dienste in Natur geleistet werden, oder ob sie
durch Vertrag oder Herkommen in eine Geldrente
umgewandelt worden sind" (Präj. vom 6. November 1855 ;
Archiv für Rechtsf, XVIII, 278), und obwohl bereits durch
Urteil des Obertribunals vom 15. Juni 1852 (Archiv für
Rechtsf., VII, 219) dasselbe entschieden worden war. — Die
367
ebenso unangreifbares als leicht anzuwendendes Prinzip
gefunden, nach welchem jetzt überall mit vollständiger
Sicherheit zu bestimmen ist, wo Entschädigung, respektive
Umwandlung und Ablösung einzutreten hat und wo nicht.
Handelt es sich z. B. um Aufhebung der Leibeigen-
schaft, so kann von einer Ablösung nicht die Rede sein,
weil hier aus diesem Rechtsgrunde — persönliche
Oberherrlichkeit über Menschen — überhaupt kein Recht
mehr nach dem gegenwärtigen Bewußtsein bestehen kann.
Es ändert gar nichts, wenn der Leibeigene durch Kauf
erworben wäre ; denn es kann dabei nur ankommen auf
das Recht des ursprünglichen Besitzers. Kein Verkäufer
kann größere Rechte übertragen, als er selber hat, und
jeder Titel geht über mit der Kaduzität, die ihm anklebt,
insbesondere also mit der Kaduzität vor dem späteren
prohibitiven Gesetz. Dasselbe Resultat ergibt sich übrigens
auch nach unserer Formulierung des Grundsatzes, wenn
man nur auf den letzten Ankauf sieht. Kauf an sich ist
noch ein gültiger Rechtsgrund, aus welchem Rechte ent-
stehen können. Aber an diesem Rechtsobjekt —
dem Menschen - sollen aus diesem Rechtsgrund keine
Rechte mehr entstehen können, Menschen nicht käuflich
sein, und es ist daher die Prohibition die totale, keine
Entscheidung des II. Senates des königlichen Obertribunals
(vom 22. April 1852), daß das Gesetz vom 2. März 1850
auf die in den ehemals französisch-hanseatischen Landesteilen
auf drei Vererbungsfälle geschlossenen Erbpachten nicht an-
wendbar sei, hat bereits bei Gierse, „Über die Natur der
münsterschen Erbpächte" usw., und in der preußischen Ge-
richtszeitung, 1859, Nr. 53, ihre genügende Kritik gefunden.
Man beschuldige diese und andere Entscheidungen der Nicht-
übereinstimmung mit dem Gesetz, so viel man will. In dem
..Geiste" des Gesetzes hat das Obertribunal jedenfalls ent-
schieden !
368
Umwandlung zulassende, da kein Recht mehr fortexistiert,
welches den Grund derselben abgeben könnte.
Oder es handelt sich um Aufhebung der Jagd-
gerechtigkeit.
Im allgemeinen ist dies Recht von feudal-gutsherr-
lichem Ursprünge und insoweit daher infolge der das
Hervorgehen von Rechten aus diesem Rechtsgrund pro-
hibierenden Anschauung des Rechtsbewußtseins absolut
abrogiert. Daß diese ursprünglich feudale Gerechtigkeit
später durch käuflichen Titel übertragen worden sei, bleibt
ein leeres Gerede, das die Natur der Sache nicht ändert,
da hier wie überall der Titel durch seine Übertragung
keine größere Gültigkeit empfangen kann, als ihm ur-
sprünglich zukam, und der Eigentümer jedes Recht, wie
jede Sache, immer auf Gefahr des Unterganges kauft.
Dagegen macht die Unparteilichkeit der Wissenschaft
allerdings zur Pflicht, zu bemerken, daß, da einerseits,
wie selten auch diese Voraussetzung eintreffen möchte,
möglicherweise doch auch ursprünglich eine Jagd-
gerechtigkeit auf einen entgeltlichen, nicht-feudalen Titel
vom Grundeigentümer dem Jagdberechtigten konstituiert
sein konnte, und da andererseits das Jagdgesetz vom
31. Oktober 1848 selbst in seinem § 2 nicht jede Tren-
nung des Jagdrechtes vom Grund und Boden, sondern
solche nur in der Form eines dinglichen
Rechtes prohibiert1)» aus diesen Gründen das bezogene
Gesetz der preußischen Nationalversammlung vom 31.0k-
1) § 2: „Eine Trennung des Jagdrechtes vom Grund und
Boden kann als dingliches Recht künftig nicht statt-
finden," weshalb dann auch durch das Gesetz vom 7. März
1850 unter besonderen Bedingungen Verpachtungen der Jagd
zugelassen wurden.
24 Laj«!;, Co Schritt«. Band IX. 360
tober 1848 zwar die unentgeltliche Aufhebung des aus
herren schaftlichen Rechten hervorgegangenen Jagd-
rechtes und die gesetzliche Vermutung dieses Ursprunges
für alle Jagdgerechtigkeiten hätte aussprechen, zugleich
aber auch den Gegenbeweis entgeltlicher Veräußerung
durch den Bodeneigentümer hätte zulassen und in diesem
Falle die Ablösung verordnen müssen. Nur genau so
weit kann der Einwurf gegen jenes Gesetz getrieben
werden. Denn dies freilich läßt sich nach der oben aus-
einandergesetzten begrifflichen Natur der Sache nicht ab-
sehen, warum selbst insoweit und in bezug auf die
Form, in welcher Jagdrecht auch nach dem neuen Ge-
setze noch sollte neu entstehen können, dasselbe in
bezug auf früher geschlossene Verträge ohne Umwand-
lung und Ablösung unterdrückt sein sollte. — Hierbei
mag übrigens noch genau hervorgehoben werden, daß
diese Ablösung da nicht einzutreten hatte, wo früher
von Seiten eines Gutsherrn einem bäuerlichen Besitzer ur-
sprünglich ein Grundstück mit Vorbehalt der Jagdgerech-
tigkeit abgetreten worden war. Denn dieser Vorbehalt
war ein in der Feudalzeit schon den Verhältnissen der
Gutsoberherrlichkeit und des öffentlichen Rechtes ent-
flossener und deshalb diese Trennung, als jetzt gänzlich
von dem jetzigen Bewußtsein prohibiert, von nun au
wirkungslos in sich zusammengesunken. Nur wo nach-
weislich das Bodeneigentum des bäuerlichen Besitzers der
Abtretung der Jagdgerechtigkeit durch ihn vorher-
gegangen, diese somit von ihm selbst besessen und
durch einen freien Willenskontrakt veräußert worden
war — oder wo zwar ursprünglich bei der Abtretung des
Eigentumes die Jagdgerechtigkeit vorbehalten, diese Ver-
äußerung aber zwischen Rechtsgleichen (adeligen
Grundherren oder Bauern unter sich) und also ohne Ein-
370
fluß des öffentlichen Rechtes geschehen war1) -— , nur
da durfte und mußte Ablösung eintreten.
Umsonst würde man sich gegen diese Kritik unserer
obigen Formel zugunsten dieses Gesetzes bedienen und
etwa sagen wollen: Aus diesem Rechtsgrund — Kauf
— können allerdings noch Rechte hervorgehen, aber nicht
mehr auf dieses Rechtsobjekt — Wild auf
fremdem Acker — , und die Aufhebung ohne Ent-
schädigung ist daher in allen Fällen gerechtfertigt. Die
Antwort darauf liegt in dem bereits hervorgehobenen Mo-
mente, daß auch nach dem Gesetze vom 31. Oktober
das Jagdrecht nur als dingliches Recht ausgeschlossen
worden ist, nicht aber als persönliches Pacht-
recht, in welcher Form es vielmehr zugelassen wird
unter Bedingungen, die dann durch das Gesetz vom
7. März 1850 näher festgestellt worden sind. Nun stellt
aber Pachtung gleichfalls einen Kauf dar, nämlich
einen Kauf der Nutzungen auf bestimmte Jahre,
und es ist also z. B. nicht abzusehen, warum die Jagd-
gerechtigkeit, unter den oben erörterten Voraussetzungen
ihrer Entstehung, wenn die sonstigen Bedingungen des
Gesetzes vom 7. März 1850 vorliegen, nicht in ein Pacht-
recht auf die in § 10 desselben vorgeschriebene längste
Dauer von zwölf Jahren übergegangen oder in anderer
Weise abgelöst worden ist. Es wurde also mehr pro-
*) Ganz angemessen bestimmt daher z. B., offenbar durch
diesen Gedankengang geleitet, das Gesetz der französischen
Nationalversammlung vom 15. März 1790 in Tit. 2, Art. 24:
,,Sont exceptees de la suppression ci-dessus et seront rache-
tables: 1. Les banalites qui seront prouvees avoir ete etablies
par une Convention souscrite entre une communautc d'habitants
et un particulier non seigneur."
24» 371
hibiert, als durcji den Inhalt des gesetzgeberischen Be-
wußtseins selbst zu prohibieren gefordert wurde1).
Setzen wir nun, in unserer Musterung der Fälle fort-
fahrend, in welchen Entschädigung, d. h. Umwandlung,
eintreten und nicht eintreten darf, es handle sich um die
Aufhebung von Grundsteuerfreiheit gewisser Klassen von
Grundbesitzern. Die prohibitive Anschauung des Rechts-
bewußtseins ist hier die : Vorrechte sollen nicht sein.
Rechtsgrund und Inhalt des Rechtes ist also gleichmäßig
aufs stärkste von jeder Fortwirkung ausgeschlossen. Was
also einzutreten hat, ist nichts als sofortiges Weichen des
Rechtes selbst und durchaus nicht eine formelle Um-
wandlung desselben. Eine solche aber und somit nicht
eine Aufhebung, sondern gerade eine fortgesetzte An-
erkennung und perpetuierlich gemachte Fort-
wirkung des durch das Rechtsbewußtsein des Volkes
aufgehobenen Vorrechtes, würde die Entschädigung,
wie wir gesehen haben, notwendig darstellen. Der Ein-
wurf, die betreffenden Güter seien nicht bloß ererbt,
sondern auch käuflich erworben und in diesem Falle
nach dem Reinertrage mit Berücksichtigung ihrer Steuer-
freiheit bezahlt, so daß diese die Natur wahren Eigen-
*) Wenn diese Kritik im Interesse der strengen Unpartei-
lichkeit, welche die Pflicht wissenschaftlicher Theorie ist, ge-
übt wurde, so erhellt von selbst, daß aus der Nichtbeachtung
dieses theoretischen Unterschiedes im gewaltigsten Drange prak-
tischer Ereignisse der Nationalversammlung von 1848 keinerlei
Vorwurf entstehen kann, und um so weniger, als dieser Unter-
schied eben nur eine mehr theoretische Bedeutung hat und
schwerlich irgend zahlreiche Fälle der Art vorlagen, in wel-
chen nach den obigen Auseinandersetzungen die Ablösung wirk-
lich hätte eintreten müssen, der Jurist aber, wie bereits das
römische Rechtsadagio sagt, hauptsächlich auf das sieht, quod
plerumque fit —
372
tunies annehme, bleibt ein widerwärtig leeres Gerede.
Das Vorrecht der Steuerfreiheit läßt sich auf länger,
als der Staat es anerkennt, um gar nichts gültiger von
seinem ersten Inhaber kaufen, als von ihm erben.
Der Verkäufer hat das Gut nur so verkauft, wie er es
selbst besessen, mit dem Vorrecht der Steuerfreiheit bis
zum Tage des prohibitiven Gesetzes. Wurde ein Recht
mitgekauft, welches jetzt zugrunde gegangen ist, so gilt
der alte Grundsatz alles Eigentumsrechtes : res perit
domino. — Der Zinsvertrag stellt gewiß ein wahrhaft
erworbenes Recht dar. Dennoch hat man, wenn z. B.
Justinian, die preußische Regierung und andere Gesetz-
geber Gesetze über ein Zinsmaximum mit Einwirkung
auf die bereits bestehenden Verträge erließen und diese
somit auf die Höhe des jetzt noch erlaubten Zinssatzes
reduziert waren, noch nie gehört, daß die Gläubiger
sich herausgenommen hätten, vom Staate eine Ent-
schädigung für den Betrag der entzogenen Zinsen zu for-
dern, eine Entschädigung, die ja wiederum nur in der Ent-
richtung dieser vom Gesetz verbotenen Zinsen hätte be-
stehen können. Wenn aber hier, im reinen Privatrecht,
an welches hierbei nur als argumentum a fortiori erinnert
wurde, die jedem Vertrage von Haus aus anklebende
Kaduzität vor dem späteren Prohibitivgesetz bisher noch
Schwierigkeiten machen konnte, die erst vor einer voll-
ständig entwickelten Theorie verschwinden können, so
konnten im öffentlichen Rechte solche Schwierig-
keiten doch auch nicht einmal mit dem leisesten Anschein
erhoben werden.
Endlich gar noch der Steuer gegenüber mußte jeder-
mann wissen, daß kein das Recht der Staatssouveränität,
Leistungen für das öffentliche Wesen zu begehren, in
Perpetuum ausschließendes Recht auch nur denkbar sei.
373
und daß daher alle Steuerfreiheit nur die Natur eines
zeitweiligen Vorteiles haben könne. Es war am
Käufer, die Größe desselben und sein mögliches Ende bei
dem Ankaufe zu veranschlagen, ohne daß die etwaige
Unterlassung hiervon für den Staat eine Verpflichtung
schaffen kann. — Wenn somit der angebliche von der
Zugrundelegung des steuerfreien Reinertrages bei dem
Kaufe hergeleitete Grund nach allen Seiten hin von einer
so durch und durch unjuristischen und völlig sinnlosen
Natur ist, wie selten ein Grund, der jemals in einer
ernsten Frage angerufen wurde, so nimmt derselbe durch
eine andere Betrachtung noch dazu die Gestalt der mon-
struosesten Absurdität an. Vermöchte jener Grund näm-
lich irgend etwas zu beweisen, so bewiese er in seiner
Konsequenz nichts Geringeres als ein erworbenes Recht
auf die quantitative Un Veränderlichkeit aller Steuer.
Alle Grundstücke werden mit Zugrundelegung ihres Rein-
ertrages und somit stets mit Berücksichtigung ihrer zeitigen
Grundsteuerlast gekauft. Wird also die Grundsteuer vom
Staate erhöht, ohne daß — was bisher noch nie und
nirgends bei solchem Anlaß geschah und auch bei den
gegenwärtigen Steuerverhältnissen nicht einmal möglich
ist — die Steuer auf das mobile Kapital, und zwar auf
alle Arten, in denen mobiles Kapital angelegt sein und
existieren kann, genau in demselben Verhältnis erhöht
wird, so kann es sich unter Umständen sehr wohl fügen,
daß hierdurch eine Verminderung des Reinertrages der
angekauften Güter im Vergleich zu dem Ertrag eintritt,
welchen der auf sie angelegte Kapitalkaufpreis weiter
abgeworfen haben würde. Der Staat wäre daher auch
nicht zur Erhöhung der Grundsteuer berechtigt über
die Quote hinaus, bei deren zeitigem Bestehen gekauft
worden ist. Noch mehr! Der Reinertrag der Grund -
374
stücke oder die Grundrente beruht auf dem Preis des Ge-
treides, und dieser hat zu seinem Regulator das Maxi-
mum des Kostenpreises, zu welchem sich eine Nation
das ihr nötige Getreide auf eigenen Äckern erzeugen oder
von fremden Ländern beschaffen muß. Durch eine Her-
untersetzung oder Aufhebung der in einem Staate be-
stehenden Getreideeinfuhrzölle wird daher stets und un-
vermeidlich der Reinertrag der Grundstücke ver-
mindert. Der Staat hätte daher wegen der zur Zeit dieser
Einfuhrzölle und mit Zugrundelegung des unter ihnen be-
stehenden Reinertrages geschehenen Ankäufe von Grund-
stücken keinerlei Recht, auch nur die Einfuhrzölle auf
Getreide aufzuheben oder zu vermindern ; oder aber er
müßte die Grundbesitzer für diese Aufhebung der Zölle
durch Auszahlung eines Kapitales entschädigen, dessen
Zinsen ganz oder annähernd das Äquivalent des durch
den jetzt verminderten Getreidepreis fortgefallenen Grund -
rentenbetrages darzustellen hätten. — In der Tat haben
sich die englischen Tories aus jenem Interesse lange ge-
nug der Aufhebung der Getreidezölle in England wider-
setzt. Aber sie haben das in Form der Behauptung ge-
tan, daß durch diese Zollaufhebung die Ackerbauinter-
essen des gesamten Landes litten. Und als durch das
öffentliche Bewußtsein die Zollaufhebung einmal un-
widerruflich beschlossen war, so haben sie nicht die
Schamlosigkeit gehabt, eine Kapitalentschädigung von der
Nation zur Deckung ihrer Revenuenausfälle zu verlangen
und sich aus ihren jetzt unspekulativ gewordenen Güter-
ankäufen ein Ersatzrecht gegen den öffentlichen Geist zu
drehen. Nicht genug hiermit. Da, wie gesagt, die Grund-
rente sich durch den Kostenpreis des Getreides auf dem
unergiebigsten Acker regelt, den eine Nation zur Ge-
winnung des erforderlichen Vorrates noch bebauen muß.
375
so würde der Staat, falls er zu der Überzeugung karre,
daß die Äcker schlechtester Klasse unrechtmäßig oder
zu hoch besteuert sind, nicht einmal die Befugnis haben,
dies eingesehene Unrecht zu ändern und die Steuer auf
diesen Äckern zu ermäßigen oder aufzuheben, oder er
müßte dieses Recht erst den Grundbesitzern der anderen
Ackerklassen durch eine Kapitalsumme abkaufen, da ja
durch eine Ermäßigung oder Abschaffung jener Steuer
auf den schlechtesten Äckern gleichfalls der bei den bis-
herigen Ankäufen von Äckern besserer Klasse gekaufte
Reinertrag sich schmälern würde.
Der letzte und wahre Sinn jenes Entschädigungs-
anspruches ist, wie wir somit von allen Seiten sehen, gar
kein anderer als der, daß es überhaupt kein öffent-
liches Recht gibt, sondern daß alles öffentliche Recht
nur das Privateigentum einer besitzenden
Klasse ist, von welcher jede Erlaubnis zur Fortent-
wickelung vom Staate losgekauft werden muß.
Wenn also dennoch Entschädigung für Aufhebung der
Grundsteuerfreiheit von Rittergütern bewilligt wird, so
tritt hier, da dies Vorrecht durch das prohibitive Rechts -
bewußtsein der Zeit seiner Substanz nach vernichtet und
somit nichts von ihm übriggeblieben ist, was entschädigt,
umgewandelt oder abgelöst werden könnte, auf das stärkste
ein, was schon oben (S. 341 fg.) nachgewiesen wurde. Eine
solche Entschädigung ist, da nichts Abzulösendes mehr
existiert, keine Ablösung, sondern sie stellt einen
Tribut dar, welchen ein Volk einer herrschenden und
gerade dadurch als herrschend anerkannten Klasse ent-
richtet, um von dieser ein — partielles — Recht auf die
Fortentwickelung des öffentlichen Geistes zu erkaufen.
Der Widerspruch ist hier der ungeheuere und kate-
gorische, weil zu gleicher Zeit die prohibitive Aufhebung
376
des Standesvorrechtes durch das gesetzgeberische Bewußt-
sein selbst und zu gleicher Zeit wieder, diesen ersten Satz
vernichtend, in jenem Tribut vielmehr das Herrschafts -
recht der bevorrechteten Klasse proklamiert und seine
Anerkennung dem Volke zugemutet wird ! Es wird sogar
dadurch das Vorrecht aus einem zeitigen nun erst in ein
definites und perpetuelles verwandelt, da natürlich
das für die Ablösung der Steuerfreiheit gewährte Kapital
in seinen perpetuellen Zinsen für immer das Äquivalent
der Steuerfreiheit sichert, die bis dahin nur zeitig bestand.
Ein solcher Vorschlag stellt daher eine kategorische E m -
pörung gegen die Logik selber dar, und muß deshalb
wieder eine Empörung jedes unbefangenen Rechtssinnes
zur Folge haben.
Wenn eine Staatsregierung — wie dies während der
Niederschreibung dieser Zeilen1) von der preußischen
Staatsregierung angekündigt worden ist — die unbegreif-
liche Schwäche hat, einen solchen Vorschlag zu machen,
so verzichtet sie dabei grundsätzlich auf das Souveräni-
tätsrecht des Staates, und wenn eine Kammer pflicht-
vergessen genug sein könnte, aus Rücksicht auf diese
Schwäche auf einen solchen Vorschlag einzugehen2),
*) Winter 1859.
2) Das oben Entwickelte ist eine bloße Folge der rein
allgemeinen, in dieser Materie herrschenden Grundsätze. Noch
viel widerrechtlicher und schlimmer aber verhält sich ein sol-
cher Vorschlag in Preußen, weil hier schon durch das Gesetz
vom 27. Oktober 1810 über die Abgabencinrichtung und die
Finanzen des Staates die unentgeltliche Aufhebung der
adeligen Grundsteuerfreiheit gesetzlich verfügt
worden ist. Es heißt in diesem Gesetze: „Auf dem kürzesten
Wege wird daher auch ein neues Kataster angelegt werden, um
die Grundsteuer danach zu bestimmen. Unsere Absicht ist hier-
bei keineswegs auf eine Vermehrung der bisher aufgekommenen
377
so würde sie wenigstens weit logischer handeln, gleich
geradezu die Hörigkeit des Volkes von den
gerichtet ; nur auf eine gleiche und verhältnismäßige Verteilung
auf alle Grundsteuerpflichtigen. Jedoch sollen alle Exem-
tionen wegfallen, die weder mit der natürlichen Ge-
rechtigkeit (!!), noch mit dem Geist der Verwaltung
in anderen Staaten (sie!) länger vereinbar sind. Die bis
jetzt von der Grundsteuer befreit gebliebenen Grundstücke sollen
also ohne Ausnahme damit belegt werden, und wir
wollen, daß es auch in Absicht auf unsere eigenen Domanial-
besitzungen geschieht. Wir hoffen, daß diejenigen, auf welche
diese Maßregel Anwendung findet, sich damit beruhigen wer-
den, daß künftig der Vorwurf sie nicht weiter tref-
fen kann, daß sie sich auf Kosten ihrer Mitunter-
tanen öffentlichen Lasten entziehen, sowie mit den
Betrachtungen: daß die von ihnen künftig zu entrichtenden
Grundsteuern dem Aufwände nicht gleichkommen, den
sie haben würden, wenn man die ursprünglich auf
ihren Gütern haftenden Ritterdiens t ver p f 1 i ch -
tungen von ihnen forderte, für welche die bisherigen
ganz unverhältnismäßigen Abgaben gegeen die Grundsteuer weg-
fallen."
So sprach das Gesetz schon 1810! Dieses Gesetz wurde nie
aufgehoben, und nur seine Ausführung wußte der Adel zu ver-
hindern Schon 1810 bestand die Grundsteuerfreiheit, wie das
Gesetz ausdrücklich anerkennt, „gegen die natürliche Ge-
rechtigkeit." Seitdem besteht sie auch, nun fünfzig Jahre
hindurch, gegen das Gesetz, das sie ausdrücklich unent-
geltlich aufhob und dessen Grundsätze überall mit den oben
entwickelten übereinstimmen. Wenn es nicht überraschen kann,
daß die von Friedrich Wilhelm III. ausgesprochene utopische
Hoffnung, daß sich die Betroffenen durch den Hinweis auf
ihr rechtliches Gewissen beruhigen würden, an dem für Recht
und Gewissen tauben, ewiger Ausbeutungswut dahingegebenen
Geiste der Aristokratie zu schänden werden mußte, so muß es
dagegen wahrhaft und aufs höchste überraschen, wenn eine
Regierung, welche die konstitutionelle Fahne tragen will, die
Widerrechtlichkeit auf sich nimmt, für ein gegen die „natür-
378
adeligen Grundbesitzern neu zu prokla-
mieren1) !
Wir wenden uns von dieser Entwicklung des begriff-
lichen Unterschiedes, wo die bloße Aufhebung und wo
die Umwandlung oder Ablösung bestehender Rechte durch
prohibitive Gesetze geboten sei, zu unserer Hauptunter-
suchung selbst zurück.
Wir haben bisher nachgewiesen, daß und weshalb pro-
hibitive Gesetze, welche ein früheres Recht als unerlaubt
aus der Rechtssphäre ausschließen, ohne jede Rückwirkung
und ohne jede Beeinträchtigung der rechtlichen Willens-
freiheit und des Grundsatzes von der Festigkeit erwor-
bener Rechte, auch auf die bestehenden Verträge ein-
greifen und dem jetzt als unerlaubt gesetzten Rechtsinhalt
sofort jede Fortexistenz entziehen müssen.
Nunmehr müssen wir jedoch auch noch die begriff-
liche Schranke entwickeln, innerhalb welcher allein
liehe Gerechtigkeit" und seit fünfzig Jahren auch gegen das
Gesetz gehendes abgeschafftes Vorrecht jetzt eine Entschädi-
gung zu beantragen und so allem Volke deutlich zu beweisen
wagt, wie wir mit allem Verfassungsgerede noch lange nicht
einmal auf der Höhe des freisinnigen Absolutismus
wieder angelangt sind.
*) Man kennt übrigens das Schicksal, das dieser in der
Session 1859/1860 von dem Ministerium vorgelegte Entschädi-
gungsgesetzentwurf seitdem gehabt hat. Von der Zweiten Kam-
mer angenommen, wurde er es selbstredend auch, natür-
lich mit der Miene einer heroischen Opferwilligkeit (1),
vom Herrenhause, darauf aber vom Ministerium deshalb zu-
rückgezogen, weil diese Vorlage konnex mit einer anderen über
die Grundsteuerausgleichung der verschiedenen Provinzen ge-
wesen war, die der Grundaristokratie nicht „Opfer" dieser
Art auferlegt hatte und deshalb vom Herrenhause verworfen
worden war.
370
das Gesagte Gültigkeit hat. Es wird also jetzt zu zeigen
sein, wann prohibitive Gesetze die angegebene Wirkung
haben müssen, und wann sie sie nicht haben dürfen,
ohne sich mit Rückwirkung zu beflecken.
Der Nachweis dieses Unterschiedes wird aber das bis-
her Entwickelte in keiner Weise umstoßen, da er
nur die ausdrückliche Heraushebung dessen sein
wird, was bisher stillschweigend voraus-
gesetzt wurde.
Er wird vielmehr einerseits auch das Bisherige durch
die Entwickelung der einzigen Schranke, welche für die
sofortige Einwirkung zwingender Gesetze auf bestehende
Rechtsverhältnisse existiert, durch noch tiefere Be-
gründung erst völlig sicher stellen und unanfecht-
bar machen, andererseits jeden Mißbrauch des entwickel-
ten Gesetzes verhüten und die Wahrheit unserer Theorie
gerade durch die Hindurchführung durch ihren begriff-
lichen Unterschied erst zur letzten Evidenz bringen.
Nachdem wir also bisher nur im allgemeinen gesehen,
daß prohibitive Gesetze sofort einwirken müssen, handelt
es sich jetzt darum, das genaue begriffliche Gesetz zu ent-
wickeln, wann und wann nicht Prohibitivgesetze diese
Wirkung haben dürfen.
Savigny verwirft bekanntlich durchaus die Einwirkung
der Prohibitivgesetze auf frühere Verträge1)-
Und merkwürdigerweise ist es gerade der von Savigny
seiner Theorie zugrunde gelegte Gedanke, welcher, wenn
er in seiner wahren Bedeutung erfaßt wird, Grenze
l) Z.B. VIII, 436: „ so daß die nicht selten aufge-
stellte Behauptung verworfen werden muß, nach welcher neue
Prohibitivgesetze die Natur der früher geschlossenen Verträge
sollen umändern können" usw.
360
und Grund angibt, in welchen Fällen prohibitive Ge-
setze sofort eingreifen dürfen und in welchen nicht !
Savigny selbst ist diese wahre Natur und Bedeutung
des ihn treibenden Gedankens verhüllt geblieben. Und sie
mußte ihm verhüllt bleiben, weil Savigny in diesem Ge-
danken, welcher gerade nur die aus dem Begriffe sich er-
gebende Folgerung für die spezielle Frage der Ein-
wirkung von Prohibitivgesetzen in sich enthält, miß-
verständlichweise das Hauptgesetz für die gesamte
Rückwirkungsmaterie, d.h. für die gesamte Frage
der zeitlichen Kollision der Gesetze erblicken wollte.
Aus dieser falschen Stellung gingen dann notwendiger-
weise sowohl die praktisch-falschen Folgerungen hervor,
die Savigny aus jenem Gedanken zog, als auch die nicht-
begriffliche und schiefe Auffassung und die weder er-
schöpfende und kategorische noch richtige Entwickelung,
zu welcher bei Savigny in seiner Formel vom Erwerb
und vom Dasein der Rechte sich dieser in ihm arbei-
tende Gedanke verkümmert hat.
Dennoch wird es für jeden Denkenden klar sein, daß
das Nachfolgende nur den in seinen eigenen Begriff
erhobenen, nur den zu seiner eigenen Wahrheit
gebrachten in Savigny tätigen Gedanken darstellt.
Das Gesetz, welches wir hier zu entwickeln haben und
von dem wir später zeigen werden, wie es mit imma-
nenter Notwendigkeit aus dem von uns aufgestellten
Begriffe der Nichtrückwirkung herfließt, ist folgendes.
Alle prohibitiven oder zwingenden Gesetze, so viel-
fach verschiedenen Inhaltes sie auch sein mögen, können
immer nur von zweierlei Art sein .
Sie können entweder bestimmen, daß ein bisher be-
stehendes bestimmtes Recht (Rechtsinhalt") überhaupt
381
nicht mehr Eigentum1) des Individuums sein und
durch keinerlei Willenshandlung dazu gemacht werden
könne2).
x) Es erhellt von selbst, daß wir dies Wort hier nicht
in dem engen Sinne des dinglichen Eigentums nehmen, sondern
in jenem allgemeineren, in welchem alles Eigentum des Indi-
viduums genannt werden muß, was der ausschließenden
Herrschaft eines individuellen Willens unter-
worfen werden kann; also in dem Sinne, in welchem das
Allgemeine Landrecht das Eigentum definiert, T. I, Tit. 8,
§ 1 : „Eigentümer heißt derjenige, welcher befugt ist, über
die Substanz einer Sache oder eines Rechtes mit Aus-
schließung anderer aus eigener Macht durch sich selbst
oder einen Dritten zu verfügen." — Wir würden den Ausdruck
,, Vermögensrechte" anwenden, welcher gleichfalls ebenso ding-
liche wie obligatorische Rechte in sich schließt, wenn nicht
Vermögensrechte bloß Ansprüche materieller Natur bezeich-
neten, während, wie z. B. im Familienrecht, Eherecht usw.,
auch Rechte ideeller Natur, die der väterlichen, eheherrlichen,
hausherrlichen und der Personengewalt überhaupt entfließen,
der ausschließenden Herrschaft des individuellen Willens un-
terworfen sein könnten.
2) Es ist also hier von Gesetzen die Rede, welche einen
Rechtsinhalt, um an eine römische Einteilung zu erinnern, extra
nostrum Patrimonium erklären. Denn es ist klar, daß die obige
Unterscheidung auf demselben Gedanken beruht, welcher der
römischen Einteilung der Sachen in res quae in nostro patri-
monio vel extra nostrum Patrimonium habentur (Gajus, II,
1 — 11. Inst, de rerum divis., II, 1. D. de divis. rer. et quäl.,
I, 8) zugrunde liegt, nur daß diese von den Römern nur auf
körperliche Sachen angewendete Einteilung, analog der schon
im Landrecht (s. die vorige Note) vorliegenden Erweiterung
des Eigentumsbegriffes, hier auch auf die persönlichen
Rechte ausgedehnt worden ist. Die Einteilung der Sachen in
res quae in patrim. vel extra nostr. patr. habentur ist übrigens
wieder identisch mit der Einteilung in res quae in commercio
und quae extra commercium sunt, worüber am Ende dieses
Paragraphen.
382
Oder aber sie können das bestimmte Recht als ein
solches, das Eigentum des Individuums sein und dazu
gemacht werden kann, fortbestehen lassen und nur die
Frage betreffen, in welcher Form und unter welchen
Bedingungen die Verbindung des Individuums mit
dem Inhalte dieses Rechtes erfolgen muß, um rechtmäßig
und gültig zu sein.
Prohibitivgesetze der ersten Art, welche also ver-
neinen1), daß ein Rechtsinhalt überhaupt noch vom In-
dividuum zu seinem Eigentum gemacht, seinem Privat-
willen unterworfen werden könne (also Gesetze, welche
einen Rechtsinhalt extra nostrum Patrimonium erklären,
s. Note 2, p. 382), müssen sofort auf alle be-
stehenden Verträge und um so mehr auf alle ande-
ren Rechtsverhältnisse einwirken.
Prohibitivgesetze der zweiten Art, welche ohne die
Fähigkeit eines Rechtes, zum individuellen Eigentum ge-
macht zu werden, aufzuheben, bloß jene Rechtsregeln be-
treffen, welche bestimmen, in welcher Form von Willens-
handlungen und unter welchen Bedingungen derselben
die Verbindung des Individuums mit jenem Recht er-
folgen muß, um es zu seinem Eigentum zu machen, dürfen
niemals auf bestehende, durch individuelle Willensaktion
vermittelte Rechtsverhältnisse einwirken 2) .
x) Auf die Ausdrucksform des Gesetzes kommt es natür-
lich nicht an. Es kann ebenso gut ein zwingendes Gesetz in
positiver Satzform sein, welches dann ebenso sehr verneinend
ist, dadurch, daß es sein Gegenteil ausschließt. Es ist über-
flüssig, zu wiederholen, daß wir unter prohibitiven oder zwin-
genden Gesetzen alle absoluten Gesetze verstehen, welche
alles Abweichen des Privatwillcns ausschließen.
") Es muß schon hier von selbst erhellen, inwieweit dem
Obigen die Savignysche Formel von Gesetzen über den Er-
werb und von Gesetzen über das Dasein der Rechte ent-
383
Um den Schein zu beseitigen, daß dieser kategorische
Unterschied kein den Reichtum der Materie erschöpfender
spricht. In der Tat ist dieselbe dann ganz richtig, wenn
man erstens ihre Gültigkeit lediglich auf die prohibi-
tiven (absoluten) Gesetze beschränkt, und zweitens sie
in ihren oben entwickelten Begriff auflöst, wodurch
dann erkannt wird, daß auch Wuchergesetze, Aufhebung
der lex commissoria etc. etc. (siehe später) zu den Ge-
setzen über das Dasein der Rechte gehören, und endlich
drittens genau festhält, daß auch prohibitive Gesetze immer
nur vom Moment ihres Erscheinens an wirken, also der Fort-
wirkung eines früher vorhandenen Rechtszustandes von jetzt
ab ein Ziel setzen, niemals aber früher vollbrachten individuellen
Handlungen nachträglich eine Wirkung in der Vergangenheit
beilegen können, die sie nach dem damaligen Gesetze nicht
hatten, oder sie der Wirkung, die sie damals hatten, schon für
die Vergangenheit berauben können — drei Punkte, deren
Verkennung in der Savignyschen Theorie innerlich auf das
genaueste zusammenhängt. Daß aber, wenn die Savignysche
Formel in ihren oben entwickelten Begriff aufgehoben
wird, damit etwas ganz anderes aus ihr geworden, bedarf
keiner weiteren Klarlegung und zeigt sich eben am sinnlichsten
schon darin, daß Gesetze, welche nach der Savignyschen Formel
zu den Gesetzen über den Erwerb der Rechte gehören, z.B.
Wuchergesetze usw., nach der obigen Begriffsbestimmung, weil
sie einen Rechtsinhalt außerhalb des Eigentums (extra Patri-
monium) erklären, vielmehr zu Gesetzen über das Dasein der
Rechte werden. — Die Savignysche Formel von den Gesetzen
über den Erwerb und über das Dasein der Rechte hat aber
auch als bloße Verstandes ab straktion das ewige Schick-
sal einer solchen, daß ihre Unterschiede verschwindende
und haltlos ineinander übergehende sind, und also
nicht einmal eine feste Grenze gegeneinander haben. Man
hat dies merkwürdigerweise bei dieser Savignyschen Einteilung
stets übersehen. Aber bei den Anwendungen (1. über Per-
sonenzustand, 2. jura in re) wird nachgewiesen werden, worauf
hier Bezug zu nehmen genügt, daß dieselben Gesetze sich
notwendig, je nachdem man sich auf den Standpunkt des In-
384
sei oder zu Widersprüchen mit dem früher Gesagten führe,
muß zuvörderst gleich hier ausdrücklich hervorgehoben
werden, daß bei den Obligationen, weil diese ihre
bestimmte juristische Natur nicht bloß durch die Hand-
lung empfangen, auf welche sie ein Recht gewähren,
sondern ebensosehr durch ihren Erwerbungsgrund,
Gesetze, welche aufheben, daß aus diesem bestimmten
Erwerbungsgrund eine Obligation überhaupt oder
eine Obligation von bestimmter Beschaffenheit hervor-
gehen könne, zu jenen Prohibitivgesetzen erster Klasse
gehören, welche negieren, daß ein qualitativ bestimmtes
Recht überhaupt noch ferner existieren, unter die Herr-
schaft des individuellen Willens gebracht werden könne.
Denn die obligatorische Forderung hat erst an
ihrem Erwerbungsgrund (Kauf, Darlehn, Entschä-
digung usw.) ihre individuelle Natur und juristische Quali-
fikation, welche dem Rechte seine Bestimmtheit ver-
leiht, es zu dem macht, was es ist. — Anders bei den
dinglichen Rechten. Diese qualifizieren sich lediglich
durch die Bestimmtheit des Rechtsinhaltes, auf wel-
chen sie Anspruch gewähren, und des Rechtsobjek-
tes, das sie demselben unterwerfen. Hier sinkt daher
der Erwerbungsgrund, ob z. B. Eigentum durch Usu-
kapion, Erbschaft, Kauf usw. erworben worden sei, zum
dividuums oder auf den des Gesetzes stellt, das einemal
als Gesetze über den Ervverb, das anderemal als Gesetze
über das Dasein der Rechte darstellen, diese Formel also
überhaupt nicht einmal zu einer Einteilung zu dienen vermag.
— Gleichwohl ist es nur das Walten des oben entwickel-
ten Begriffes, das der Savignyschen Formel in ahnender
Verkümmerung zugrunde liegt. Der Unterschied zwischen beiden
ist nur derjenige, der immer stattfindet, wenn ein geistiger
Inhalt, statt in die Form des Begriffes erhoben zu werden,
sich nur als abstrakte Verstandes vor stel lung erfaßt.
2S Lasialle. Gm. Schriften. Band IX. 385
gleichgültigen Mittel, zur bloßen Form der erwerbenden
Handlung zusammen.
Prohibitivgesetze über den Erwerbungs-
grund gehören daher bei den Obligationen zu den
Gesetzen erster, bei den dinglichen Rechten zu
denen zweiter Art.
Nur dann wird der Rechtsgrund, aus welchem
ein dingliches Recht hervorfließt, von Einfluß, wenn
er auch wieder in dem Inhalte des Rechtes als eine
nähere Bestimmtheit desselben hervortritt. Ding-
liche Rechte waren z. B. im deutschen Recht aus-
herrenschaftlichen Rechten (Oberhoheit, Erbunter-
tänigkeit usw.) hervorgegangen. Dies scheint zunächst nur
ein Erwerbungsgrund, und somit von der gleich-
gültigen Natur zu sein, welche bei dinglichen Rechten dem
Erwerbungsgrund als solchem zukommt. Allein dieser
Rechts- oder Erwerbungsgrund trat hier auch als eine
nähere Qualifikation des konstituierten ding-
lichen Rechtes selbst an demselben hervor. Es
war feudales1) Obereigentum an dem Eigentum
(dominium utile) eines anderen. Oder es war Ober-
hoheit an seinem vollen Eigentum. Dies quali-
tativ-bestimmte Recht sollte nicht mehr sein, war
prohibiert, und somit waren auch solche Geldabgaben
prohibiert, die an sich und aus anderem Rechts-
grunde noch sehr wohl ferner stipuliert werden konnten.
Aber nicht in der äußerlichen Abgabe, in die sich die Be-
friedigung eines Rechtes auflöst — fast alle Rechte lösen
sich zuletzt freilich in Geld auf — , sondern in der an-
gegebenen genauen Qualifikation dieses Rechts-
*) Wenn es nämlich aus feudalem Grunde usw., nicht
aus der Verleihung des Grundstückes unter Vorbehalt
des dominium directum hervorgegangen war.
386
Inhaltes lag die juristische Natur desselben. Hier
war also der Erwerbungsgrund deshalb von Influenz, weil
er sich an dem Rechtsinhalt selbst, durch welchen sich
die dinglichen Rechte qualifizieren, als eine nähere und
jetzt untersagte Bestimmtheit derselben heraus-
stellte. Grundstücke dagegen, zu deren Eigentümer sich
die Adeligen früher, wenn auch in feudalster und unrecht-
mäßigster Weise gemacht hatten, wurden ihnen durch die
Französische Revolution natürlich nicht entzogen und
konnten es nicht werden, weil hier der feudale Erwerbungs-
grund nicht mehr als nähere Bestimmtheit an dem
konstituierten dinglichen Recht fortlebte, son-
dern dies schlechtweg Eigentum überhaupt ge-
worden war. — So wird hier dem, was wir oben über
den Einfluß des Rechtsgrundes gesagt haben, auch in be-
zug auf dingliche Rechte nicht widersprochen, sondern
dasselbe nur vervollständigt und tiefer begründet.
Zu welcher von jenen beiden Arten nun ein Prohibitiv-
gesetz gehöre, wird bei nur einigermaßen genauer Er-
wägung seines bestimmten Inhaltes und Zweckes niemals
zweifelhaft sein können.
Ehe wir aber nachweisen, mit welcher inneren be-
grifflichen Notwendigkeit der angegebene Unter-
schied aus unserer gesamten Theorie hervorfließt, sich aus
ihr rechtfertigt und wieder wechselweise ihr Bestätigung
verleiht, wollen wir denselben zuvor durch einige konkrete
Beispiele zur Anschaulichkeit bringen.
Ein Gesetz also, welches den Übertrag von Eigentum
ohne Tradition oder Schenkungen ohne Insinuation für
ungültig erklärt, darf trotz seiner prohibitiven Natur auf
früher geschlossene Kaufverträge und Schenkungen nicht
einwirken. Denn es hebt nicht das Recht des Individuums
auf, das Eigentum an solchen Objekten zu erwerben.
ö* 3S7
sondern betrifft nur die Frage, in welcher Form diese
Verbindung zu geschehen hat. Dies gilt natürlich für alle
Gesetze über die äußere Form und Gültigkeit von Hand-
lungen.
Ebenso wenn durch ein neues Gesetz Frauen für un-
fähig erklärt werden, ohne Autorisation des Ehemannes.
Söhne ohne väterliche oder vormundschaftliche Einwilli-
gung, oder wenn Personen selbst überhaupt und unter
allen Umständen für unfähig erklärt werden, bestimmte
oder alle Arten von Obligationen gültig zu kontrahieren,
so wirken diese prohibitiven Gesetze auf die bereits ge-
tätigten Obligationen nicht ein. Denn so lange das In-
dividuum den Anspruch auf eine bestimmte Art von Lei-
stungen anderer zu seinem rechtlichen Eigentum machen
kann, so lange haben die Gesetze, welche die Bedingungen
feststellen, unter welchen derselbe auf gewisse Personen,
oder selbst die Klassen von Personen, auf die er über-
haupt erlangt oder nicht erlangt werden kann, immer nur
die Natur, über die bestimmten Formen und Modali-
täten zu handeln, unter welchen der noch als möglich an-
erkannte Anspruch auf diese bestimmte Art von
Leistungen gültig zum individuellen Eigentum gemacht
werden kann. Sie handeln also immer nur über den Er-
werb, nicht über das Dasein des Rechtes in unserem
Sinne. Gesetze also, wie das Sc. Macedonianum oder
Vellejanum, selbst wenn sie wahrhaft prohibitive Gesetze
sind, was jedenfalls das letztere nicht ist, weil den Frauen
erlaubt war, gleich im Bürgschaftsakt auf den Schutz
dieses Senatuskonsults zu verzichten, kurz, alle Gesetze
über die persönliche Handlungsfähigkeit über-
haupt können niemals auf frühere Verträge einwirken.
Ebenso wenn ein Gesetz Erbschaft überhaupt oder Ver-
erbung einer bestimmten Art von Objekten aufhebt, so
388
wirkt dasselbe selbstredend auf die früher bereits, er-
langten Erbschaften nicht ein. In der Tat ist Erbschaft
nur ein bestimmter Erwerbungsgrund, ein Eigentum zu
erlangen : durch Fortsetzung der Personenidentität nach
dem Tode. Durch andere Handlungen, durch Kauf, Okku-
pation, Usukapion usw. kann noch Eigentum, und zwar
Eigentum an diesen Objekten, erworben werden.
.Wenn aber ein Gesetz Eigentum überhaupt oder Eigen-
tum an bestimmten Objekten aufhebt, so ist nun die ganz
selbstredende Folge, in der niemand eine Rückwirkung
finden kann, daß alle diese auch durch frühere Erb-
schaften erworbenen Objekte, ebensogut wie die durch
Kauf oder irgendwie erworbenen, von jetzt ab aus dem
Eigentum der Individuen herausfallen. Es ist diesen
Rechtsobjekten eben die Möglichkeit abgesprochen, eigen-
tümlich besessen zu werden.
Alle die früher von uns analysierten Gesetze über Fidei-
kommisse, Feudallasten, unablösliche Renten usw. ge-
hören nun zu diesen Gesetzen, welche dies auf-
heben : daß ein bestimmtes Recht überhaupt in der
Eigentumssphäre des Individuums sein könne
— und haben deshalb notwendig die sofortige Abro-
gation der weiteren Wirkung solcher auch durch frühere
Verträge gesetzten Rechte zur Folge. Ein Gesetz, wel-
ches fideikommissarische Substitutionen verbietet, löst sich
auf in ein Gesetz, welches aufhebt, daß die Befugnis,
durch graduierte Vererbung1) spätere Generationen an
der freien Disposition von Todes wegen wie unter Leben-
den, oder spätere Gesetze in ihrer freien Verfügung über
Intestaterbfolge, zu beschränken, mit in das Eigentums-
x) Resp. durch Übertragung des Eigentums auf noch unge-
borene Generationen, s. über die Familicnfidcikommisse des
deutschen Rechtes sub III, Anwendungen. II B.
380
recht des testierenden Sacheigentümers hineinfalle. Es
leugnet, daß ein Recht auf solche Bestimmung irgend
rechtliches Eigentum eines Individuums sein könne. Es
erklärt also ein früher eigentümlich besessenes Recht
außerhalb des Eigentumes, extra nostrum Patrimonium,
i. e. außerhalb der Herrschaftssphäre des individuellen
Willens, und entzieht ihm so die Fähigkeit, überhaupt
noch besessen zu werden.
Ein Gesetz, welches die aus feudalem Ursprung her-
vorgehenden Rechte prohibiert, negiert, wie wir sahen,
daß ein Recht auf Oberherrlichkeit über andere Per-
sonen oder ihre Güter zum individuellen Eigentum ge-
macht werden könne.
Ein Gesetz, welches die Unablöslichkeit von
Diensten, von Natural- oder Geldrenten untersagt, leug-
net, auf seinen letzten Grund reduziert, daß jene Be-
schränkung der menschlichen Handlungsfreiheit, welche
in der Verpflichtung eines Individuums zu perpetuellen
Handlungen einer bestimmten Art — ohne das Recht
desselben, diese Verpflichtung in einen Schadenersatz auf-
zulösen — vorliegt, zum rechtlichen Eigentume eines
anderen Individuums werden könne.
Aus diesem Grunde, weil sie ein bisheriges Recht
außerhalb des Privateigentumes erklären, ihm
die Fähigkeit, Eigentum zu sein, überhaupt ent-
ziehen1), müssen diese Gesetze unterschiedslos auch auf
*) So paradox diese Behauptung auf den ersten Blick auch
erscheinen mag, so besteht dennoch im allgemeinen der kultur-
historische Gang aller Rechtsgeschichte eben darin,
immer mehr die Eigentumssphäre des Privatindivi-
duums zu beschränken, immer mehr Objekte außerhalb
des Privateigentums zu setzen. Und wenn eine wahrhafte
Rechtshistorie vom kulturhistorischen Standpunkt aus ge-
schrieben werden sollte, so müßte dies einer der hauptsächlich
390
die bestehenden Rechts- und Vertragsverhältnisse ein-
greifen.
leitenden Gedanken sein. Freilich ist dies noch nie versucht
worden. In der Regel macht man sich auch die richtige Be-
trachtung ganz unmöglich, indem man sich durch die dialek-
tische Natur der einzelnen Folgerungen täuschen läßt, statt auf
den Grund zu gehen. So hält man z. B. Abschaffung der Fidei-
kommisse immer für eine Vermehrung der Freiheit des
Eigentums, für eine Aufhebung seiner Beschränkungen. Dies
ist aber nur als faktische Folge der Fall und äußert sich so
für das Bewußtsein derer, die sie wünschen. Der Sache nach
ist es, wie oben gezeigt, vielmehr die Aufhebung der Eigen-
tumsfreiheit des Eigentümers, diese und jene Bestimmung über
sein Eigentum treffen zu können, vermindert also den Um-
fang des Eigentumsrechtes. Oder man faßt in der Regel die
Periode und Herrschaft der freien Konkurrenz als eine
solche, durch welche das Eigentum erst zu seiner vollen und
wahren Freiheit und Entwicklung gekommen sei. Man quali-
fiziert sie so, und „unbeschränkte Freiheit des Eigentums'
pflegt das Stichwort derer zu sein, welche diese Richtung führen.
Diese Seite ist vermöge der allen Begriffsbestimmungen zu-
kommenden Dialektik in den realen Folgen in der Tat
auch vollständig da und nicht zu leugnen. In ihrem innersten
Grunde genommen beruht aber die Einführung der freien Kon-
kurrenz und die Aufhebung der Monopole und Zünfte vielmehr
auf dem Gedanken, daß ein ausschließendes Recht auf
Gewerbebetrieb und Absatz, d. h. ein Recht darauf, daß andere
Personen an sich erlaubte Handlungen nicht vornehmen dürfen,
unmöglich Privateigentum des Individuums sein könne. — Wie
sehr auch der angegebene Gedanke der zunehmenden Aufhebung
des Privateigentumsumfanges als eines wirklichen Gesetzes der
kulturhistorischen Bewegung des Rechtes auf den ersten An-
schein zum Widerspruch reizen und für paradox gehalten werden
kann, so sehr bewährt er sich bei eingehender detaillierter Be-
trachtung, obwohl statt solcher hier nur einige sehr oberfläch-
liche Blicke hingeworfen werden können.
Es ist natürlich, daß der Mensch am Anfang der Geschichte,
wie das Kind noch heute, nach allem seine Hände ausstreckt.
391
Es ist bereits in dem Bisherigen enthalten und be-
darf nur scharfer Hervorhebung, daß es notwendig ist,
alles als sein setzt und keine Grenze kennt für den Umfang seiner
Privatwillkür. Erst spät und in immer vorschreitendem Maße
lernt er dieselbe finden. Der Fetischdiener zerbricht noch seine
Idole, wenn sie ihm den Willen nicht erfüllen, und behandelt
so selbst seine Götter als sein Eigentum ! Früh wurden die
sacra der Privatwillkür entzogen, aber noch lange blieb der
Mensch selbst Eigentumsgegenstand des anderen Menschen. Das
Leben des im Kriege Überwundenen wird zum Eigentum des
Siegers, und dies Eigentumsrecht erhält sich noch lange in un-
bedingter, dann in bedingter Weise beim Sklaven. Das Eheweib
ist ein Eigentum, wird gekauft (vgl. noch die römische coemptio,
conventio in manum etc.), die Kinder sind Eigentum des Vaters,
der sie nach der Strenge des alten Rechtes töten kann, und der
insolvente Schuldner wird mit Freiheit, Leib und Leben zum
Eigentum des Gläubigers.
Das Recht der Eigentumsverfügung ist selbst der Familie
gegenüber das unbeschränkte vollständiger Enterbung. Die mäh-
lich entstehenden Gesetze über Pflichtteile bei Vermächtnissen
und Schenkungen sind ebenso viele Beschränkungen und Auf-
hebungen von Eigentumsrechten. Die Sklaverei mildert sich zur
Leibeigenschaft, das Eigentumsrecht an dem Leben des Men-
schen vermindert sich zu einem Eigentum an seiner lebensläng-
lichen Arbeitskraft, zu einem Recht auf lebenslängliche und
totale Ausnutzung desselben. Die Leibeigenschaft vermindert
sich zur Hörigkeit in verschiedenen Abstufungen, d. h. das
Eigentumsrecht an der totalen Arbeitskraft des anderen fällt
fort und mindert sich zu einem Eigentumsrecht an einer be-
stimmten Art der Benutzbarkeit des Hörigen und an einem
bestimmten Teile seiner Arbeitskraft und Zeit, woneben er
jetzt also auch für sich erwerben kann. Das jus primae noctis
ist schon die Aufhebung des beständigen Eigentumsrechtes an
dem Leib der Sklavin und die Beschränkung desselben auf ihre
Jungfrauenblüte. — Das Mittelalter ist eben die Periode, wo,
ohne daß Sklaverei mehr vorhanden ist, der mensch-
liche Wille nach allen seinen drei Momenten (Allge-
392
daß das prohibierende Recht, dasselbe aber in seiner ge-
nauen Bestimmtheit genommen, durch keinerlei in-
meinheit, Einzelheit, Besonderheit) als Privateigentum ge-
setzt werden kann. Denn es ist die Periode, wo erstens die
Allgemeinheit des Willens oder der öffentliche Wille
in den verschiedensten Abstufungen als Privateigentum vor-
handen ist : in den an den Grundbesitz geknüpften Souveräne-
tätsrechten und der Teilnahme an solchen, in den mannigfachen
anderen öffentlichen und staatlichen Privilegien der verschie-
denen Stände und Klassen; in den durch Erbschaft und Kauf
eigentümlichen öffentlichen Ämtern; es ist die Periode, in wel-
cher, da, wie sich ein französischer Rechtshistoriker richtig
ausdrückt, ,,das feudale Eigentum die Anmaßung hatte, alles
umfassen zu wollen, Luft und Wasser, öffentliche und reli-
giöse Dinge," Fürsten sogar über die Erbfolge in die Regierung
ihrer Länder beliebig testieren (vgl. z. B. die Testamente bei
Sismondi .Histoire des Francais, VII, 328 fg., und in den
Preuves de l'Histoire de Lorraine par Dom Calmet, III,
277 fg.); es ist ferner die Periode, wo zweitens der indivi-
duelle Wille als Privateigentum da ist, in der persön-
lichen Unfreiheit in allen ihren Abstufungen der Leib-
eigenschaft und Hörigkeit, ja selbst bei persönlich Freien, z. B.
die beliebige Freiheit der Verheiratung einer weiblichen Lehns-
nachfolgerin, und selbst männlicher Nachfolger in dasselbe, in
das Eigentum des Lehnsherrn gesetzt erscheint, und wo drittens
endlich auch, und zwar bei den Freien, die Besonderheit
seines Willens (welche Beschäftigung und Gewerbe er nicht
ergreifen darf, wo er seinen Absatz suchen, wo seinen Bedarf
einkaufen muß) in der Monopol- und Zunftordnung, den
Bann- und Zwangsgerechtigkeiten usw. als Privateigen-
tum anderer gesetzt wird. Dies, daß der menschlicheWille
hier nach allen seinen drei Momenten hin als Privateigentum
gesetzt werden kann, ist es, was in rechtsphilosophischer
Hinsicht das Mittelalter charakterisiert.
Da der Wille nach allen seinen drei Momenten als Eigentum
erscheint, kann somit unter diesem System alles Mögliche
zum Eigentum erhoben werden, und die Unfreiheit ist die
393
dividuelle Willenshandlung fernerhin zu erlangen
sein darf, wenn das prohibitive Gesetz auch auf die schon
totale. Und gerade wieder weil hier alles mögliche, ja der
Wille selbst, zum Eigentum werden kann und eine Schranke
hierfür gar nicht existiert, entspringt hieraus gerade und ist
nur von hier aus zu begreifen die dem Mittelalter eigen-
tümliche Geteiltheit des Eigentumsrechtes. Wenn nämlich
bei der spröden Exklusivität der freien römischen Individua-
lität kein solches, auch an sich zulässiges Recht auf eine Sache,
Eigentumsrecht sein kann, welches erst durch den indi-
viduellen Willen eines anderen Individuums, des
Sacheigentümers selbst, hindurchgehen und ihn sich un-
terwerfen müßte, solche Rechte sich vielmehr in Rom sofort
nur als persönliche Forderungen darstellen, kann hier,
im germanischen Mittelalter, weil hier eben der freie mensch-
liche Wille selbst als Eigentum gesetzt werden kann, nun auch
ganz unbefangen jedes solche Recht zu einem dinglichen Eigen-
tum werden, welches zu seiner Operation erst durch den Wil-
len eines anderen Eigentümers hindurchgehen und diesen
sich unterwerfen muß. Die langen und trostlosen Versuche der
Germanisten, den germanischen Eigentumsbegriff mit dem römi-
schen zu versöhnen, ihre kläglichen und gequälten Anstrengungen.
den ersteren auch nur irgend zu begreifen, ihre Eingeständnisse,
daß ihnen derselbe eine „contradictio in adjecto" sei, da sie
immer und stets unbewußt von dem römischen Begriff des un-
teilbaren Eigentumsrechtes und dem Begriff der römischen
individuellen Willensfreiheit ausgingen, zerfallen von
hier aus in ihr Nichts und lassen nun deutlich ihre Ungründ-
lichkeit und die Notwendigkeit ihres Mißlingens hervortreten.
Keinem ist es eingefallen, daß, was doch so nahe lag, wenn der
Eigentumsbegriff eines Volkes bestimmt werden soll, zu-
vor auf den Willensbegriff dieses Volkes zurück-
gegangen und dieser untersucht werden muß. Keinem ist ein-
gefallen, daß der Willensbegriff selbst bei den verschie-
denen Völkern ein verschiedener ist und zwar die ganze
Verschiedenheit ihres historischen Geistes in sich
enthält. Denn sonst hätte ihnen freilich wohl auch einfallen
müssen, an jenen urgermanischen Zug zu denken, den uns schon
394
bestehenden, durch individuelle Handlungen begründeten
Rechtsverhältnisse einwirken dürfen soll. Der Grund ist
Tacitus berichtet, daß Freie sich selbst zu Sklaven veräußern
können (German., c. 24), während kein Römer sich durch
Vertrag zum Sklaven eines anderen veräußern konnte. ,,Con-
ventio privata neque servum quemquam, neque libertum alicujus
facere potest," L. 37 de lib. caus. (40, 12). Nichts ist be-
zeichnender und lehrreicher als die Weise, in welcher der
überraschte Römer seine Verwunderung darüber ausdrückt, daß
der Germane, der sich im Spiel veräußert hat. wenn er auch
jünger, wenn er auch stärker ist, dennoch leidet, daß er ge-
bunden und als Sklave behandelt wird : „quamvis juvenior,
quamvis robustior, adligari se ac venire patitur; ea est in re
prava pervicacia — ipsi fidem vocant" — „so groß ist ihre
hartnäckige Ausdauer in einer schlechten Sache — sie
selbst aber nennen es fides, Treue gegen die einge-
gangene Verpflichtung" — fügt er hinzu, Worte, die
durch den sich in ihnen aussprechenden Gegensatz den tiefsten
Einblick in die Psychologie des germanischen Geistes und daher
in seine Rechtsentwicklung und politische Geschichte zugleich
gewähren. Denn wenn der germanische Willensbegriff der ist,
daß die individuelle Willkür die Befugnis hat, durch ihr Schal-
ten und Vcrpf lichten über die eigene totale Willensfrei-
heit zu verfügen und sie zum Eigentum eines anderen
zu machen, so ist es klar, daß sie ebenso gut einen par-
tiellen Umfang derselben, eine bestimmte Willens-
aktion, zu der sie sich — überhaupt oder in bezug auf ein
bestimmtes Objekt — verpflichtet, zum rechtlichen Eigentum
eines anderen individuellen Willens machen kann. Nicht nur
also die Benutzung eines Grundstückes, das einem fremden
Eigentümer gehört und dessen Benutzung sich also doch immer
nur durch den zulassenden Willen des Eigentümers vermittelt,
im System des römischen Rechtes sich also als persönliche
Forderung charakterisiert, sondern sogar die bestimmte Be-
nutzungsart, in der er selbst es auszubeuten hat,
kann (durch eine auf Hafer, auf Klee usw. lautende ewige
Rente) zu meinem perpetuierlichen dinglichen Eigentum
werden. Ober- und Untereigentum, Nutzungs- und Sacheigen-
395
sehr einfach. Ist dasselbe Recht auch fernerhin noch
durch irgendeine andere Willenshandlung zu er-
tum fallen daher in den mannigfaltigsten Formen auseinander
und erzeugen die allen landwirtschaftlichen und industriellen
Fortschritt hemmende Division des Eigentumsrechtes.
Die Französische Revolution ist, was schon durch die früher
gegebene Analyse einiger besonders wichtigen aus ihr hervor-
gegangenen Gesetze klar sein muß, nur die Aufhebung jenes
Privateigentums an den drei Momenten des menschlichen Wil-
lens, wie jeder große Kulturfortschritt stets in einer Vermin-
derung des Eigentumsumfanges besteht. — Es braucht wohl
nicht erst näher hervorgehoben zu werden, daß der Begriff
Eigentum hier in seinem wahren Sinne genommen ist, als aus-
schließendes Privateigentum des besonderen Individuums.
Was dem einzelnen als solchem, also jedem ein-
zelnen ohne Unterschied jgehört, ist nicht mehr Eigentum,
wie dies schon die Römer wußten, und zeigt sich hier nur wie-
der die Identität des begrifflichen Momentes der Einzel-
heit und des Allgemeinen.
Es liegt nicht von dieser Erörterung ab, zu bemerken, daß
wenn man die gegenwärtige Periode als diejenige des Indivi
dualismus zu bezeichnen und diese Bezeichnung als den
Charakter des Liberalismus zu denken pflegt, dies zwar
im Sprachgebrauch eine solche Geltung erhalten hat, daß da-
gegen nicht aufzukommen sein wird, daß es aber dennoch durch-
aus unrichtig ist. Wahrer Individualismus würde sich
vielmehr sehr revolutionär nicht nur gegen die noch bestehenden
Einrichtungen, sondern auch gegen die Tendenzen unseres so-
genannten Liberalismus verhalten (man denke nur z.B. an
Fichte). Das, wogegen die tiefer gehenden Strömungen unserer
Zeit gerichtet sind und woran sie sich noch abquälen, ist nicht
das Moment des Individuellen — dieses würde vielmehr
mit eben solcher Konsequenz auf ihrer Seite stehen wie das
des Allgemeinen — , sondern es ist der noch aus dem
Mittelalter mit herübergebrachte und uns immer noch im Fleische
haftende Knorren der Besonderheit. Denn zum Knorren
wird dies Moment da, wo es außerhalb des Umkreises der
auch ihm zukommenden begrifflichen Berechtigung — also außer -
396
werben, so richtet sich die Prohibition des Gesetzes gar
nicht gegen das Recht selbst, das ja noch fortwährend
halb der Sphäre alles dessen, was mit Recht dem reinen Be-
lieben und der bloßen Privatwillkür unterliegt — sich Geltung
verschaffen will. Der Liberalismus will die Rechte, die er
will, politische, wie das Wahlrecht, oder soziale, wie das in der
Gewerbefreiheit liegende Recht auf freie Betätigung der Ar-
beitskraft, nie für das Individuum, sondern immer nur
für das in besonderer Lage befindliche, so und so viel
Steuern zahlende, mit Kapital ausgerüstete usw. Individuum ;
also immer nur für den Besonderen.
Gegenwärtig steht nun Europa besonders an folgenden zwei
sehr interessanten Eigentumsfragen!
Die orientalische Despotie und die europäische absolute
Monarchie unterscheiden sich bereits in rechtlicher Hinsicht
im allgemeinen gerade so, daß dort auch die privatrechtlichen
Verhältnisse der Individuen Eigentum des Herrschers sind, hier
aber nur, was zur Kompetenz des öffentlichen Willens ge-
hört, das mehr oder weniger ausschließliche Eigentum einer
bestimmten Familie ist.
In politischer Hinsicht steht nun Europa an der Aufhebung
dessen, daß der öffentliche Wille einer Nation Eigentum
einer Familie sein könne.
Dies ist vorläufig nur in Frankreich erreicht, nicht nur in
den Prinzipien der Französischen Revolution, sondern auch
trotz mannigfach entgegenstehenden Scheines in der Wirklich-
keit. Dies zeigt sich daran, daß seit siebzig Jahren keine Fa-
milie mehr in Frankreich Dynastie machen konnte ; ferner daran,
daß auch unterdrückende Herrscher daselbst gezwungen sind,
sich auf die Volkswahl statt auf ein Eigentumsrecht, als den
Titel ihrer Stellung zu berufen und so nur als zeitliche, wie
immer auch beschaffene und verfälschende Träger, nicht Eigen-
tümer, des nationalen Willens erscheinen ; drittens dadurch, daß
dieselben genötigt sind, auch im Auslande dies Prinzip, daß
der öffentliche Wille einer Nation nicht Familieneigentum sein
könne, gleichviel mit welcher Halbheit und welchen Wider-
sprüchen, zu vertreten (Nationalitätsprinzip).
In Deutschland nimmt diese Frage eine noch viel intensivere
397
erzeugt werden kann, sondern nur gegen diese oder jene
besondere Art seiner Erwerbung. Es gehört dann
Gestalt an, indem hier nicht nur der Inhalt des Volkswillens,
sondern sogar dies, daß überhaupt kein deutsches
Volk da sei — ein Recht auf Zerteillheit des Volksgeistes
— , als das Eigentumsrecht mehrerer Familien behauptet wird !
In sozialer Beziehung steht die Welt an der Frage, ob heute,
wo es kein Eigentum an der unmittelbaren Benutzbarkeit eines
anderen Menschen mehr gibt, ein solches auf seine mittel-
bare Ausbeutung existieren solle, d.h. gründlich: ob die freie
Betätigung und Entwickulng der eigenen Arbeitskraft ausschließ-
liches Privateigentum des Besitzers von Arbeitssubstrat und Ar-
beitsvorschuß (Kapital) sein und ob folgeweise dem Unter-
nehmer als solchem, und abgesehen von der Remuneration
seiner etwaigen geistigen Arbeit, ein Eigentum an frem-
dem Arbeitswert (Kapitalprämie, Kapitalprofit, der sich
bildet durch die Differenz zwischen dem Verkaufs-
preis des Produktes und der Summe der Löhne und Vergütun-
gen sämtlicher, auch geistiger Arbeiten, die in irgend
welcher Weise zum Zustandekommen des Produktes beigetragen
haben) zustehen solle.
Das Wort : „Emanzipieren", welches man jetzt in einem ver-
wischten und den Sprechenden undeutlichen Sinne auf jedes
Freiheitsbestreben anzuwenden pflegt, ist gerade dann ganz
zutreffend, wenn man es in seinem ursprünglichen strengen Sinne
auffaßt: emancipio, außerdem Eigentum erklären. —
Daß der Kulturgang der Rechtsentwicklung in der Tat in
dieser fortschreitenden Verminderung des Eigentumsumfanges
besteht, was hier nur in sehr flüchtigen Umrissen angedeutet
worden ist, läßt sich im genauen und einzelnen nur bei einer
ebenso eindringenden und kritischen Kenntnis der ökonomi-
schen Gesetze und Verhältnisse jeder Zeit, wie der juri-
stischen, und nur durch das detaillierteste Eingehen auf die
Zustände der verschiedenen Geschichtsperioden darlegen. Bereits
aber muß durch diese kurze Ausführung dies von uns aufge-
zeigte Gesetz der geschichtlichen Bewegung seinen ursprüng-
lichen Anschein von Paradoxie völlig verloren haben, und es
muß bereits deutlich geworden sein, wie diese fortschreitende
398
also zu der zweiten von den oben unterschiedenen Arten
von Prohibitivgesetzen, die, weil sie gar nicht dem Recht
Verminderung des Privateigentumsumfanges auf nichts anderem
als der positiven Entwicklung der menschlichen
Freiheit beruht und hier nur zu seiner Realisierung gekommen
ist, was wir schon S. 321 angedeutet haben. Wir machten da-
selbst bereits darauf aufmerksam, wie gerade die positive Ent-
wicklung der Freiheitsidee zur Folge haben müsse, daß in
immer fortschreitender Steigerung ein früher als ver äußer-
lich gedachter Teil der menschlichen Freiheit — auch von
den Juristen schon Privat willkür genannt — sich jetzt
als zur unveräußerlichen Freiheit des Menschen gehörig
bestimmt [weshalb er nun als der sittlichen Idee und dem
öffentlichen Recht entflossen angesehen und durch ab-
solute (zwingende) Gesetze geregelt wird], so daß nun durch
keine Willenstransaktion mehr und ebensowenig durch Facta,
die wie eine solche wirken, z. B. Krieg, Geburt, Abstammung,
Gewerbe usw., dieser früher veräußerliche Ted der mensch-
lichen Freiheit ferner veräußert werden oder veräußert blei-
ben kann. Daß dies eine stetige Vermehrung der menschlichen
Freiheit ist, ist von selbst evident; denn vermindert und be-
schränkt wird dadurch eben nur die Willkür — die eigene
oder die fremde — , das positive Wesen der Freiheit zu ne-
gieren. Diese Entfaltung und Vermehrung der Frei-
heit ist es nun aber, welche sich, in bezug auf das Verhältnis
der einzelnen untereinander, notwendig als eine Beschrän-
kung dessen, was der ausschließenden Willensherr-
schaft besonderer Individuen unterworfen werden kann,
ausdrücken und sich somit als eine Verminderung des
Privateigentumsumfanges darstellen muß und wirk-
lich darstellt, wie die vorstehende Skizze gezeigt hat.
Ganz parallel der angegebenen Bewegung der Rechtshistorie,
immer mehr Inhalt aus der Eigentumssphäre herauszuwerfen,
läuft in der ökonomischen Entwicklung die genau entspre-
chende Tendenz, immer mehr Faktoren der Produktion
und resp. die Produkte selbst in immer größerem quanti-
tativen Umfang aus der ökonomischen Ei_gentums-
sphäre, der Entgeltlichkeit, in diejenige der Unent-
39^
die Fähigkeit, zum individuellen Eigentum gemacht zu
werden, absprechen, auch nicht auf ein solches, gleich-
viel durch welche andere Willensaktionen, bereits erwor-
benes Eigentumsverhältnis einwirken (s. oben S. 381 fg.).
Nehmen wir z. B. an, daß ein Gesetz die Großjährig-
keit auf vierundzwanzig Jahre fixiert, zugleich aber be-
stimmt, es solle schon bei zurückgelegtem zwanzigsten
Jahre sowohl durch Heirat als auch durch Führung einer
besonderen Wirtschaft die Großjährigkeit erworben wer-
den können. Es erscheint nun ein Gesetz, welches fort-
bestehen läßt, daß nach dem zwanzigsten Jahre durch
Heirat Großjährigkeit erworben werde, aber dies auf-
hebt, daß sie durch bloße Führung einer besonderen Wirt-
schaft erworben werden könne. Wie prohibitiv dies Ge-
setz auch gefaßt sein möge, es kann nicht einwirken auf
diejenigen, welche sich bereits in dieser Weise Groß-
jährigkeit erzeugt haben. Denn da es die Erwerbung
derselben durch Heirat offen läßt, so wäre die Ein-
wirkung auf die Großjährigkeit jener anderen eine
Rückwirkung auf die besondere Handlung, durch
welche sie sich die Großjährigkeit konstituiert haben.
Wenn aber ein Gesetzgeber von der Ansicht ausgeht,
daß die mit der Großjährigkeit gegebene Handlungs-
fähigkeit ausschließlich ein Produkt der nur mit dem
natürlichen Alter eintretenden Reife der Vernunft
sein dürfe und deshalb schlechterdings durch keiner -
geltlichkeit (gratuite, communaute) hinüberzuwerfen (durch
Reduktion des Verkaufspreises auf den Kostenpreis und die
beständige Verminderung der Erzeugungskosten), ein an sich
ganz richtiger Grundgedanke, welchem Bastiat in seinen Har-
monies economiques wegen des ihm mangelnden kritischen Ver-
ständnisses der ökonomischen Kategorien eine ganz falsche und
einseitige Ausführung gegeben hat.
400
lei individuelle Willenshandlung erworben und antizipiert
werden könne, so wird durch ein solches Gesetz auch
jenen schon verheirateten oder eine besondere Wirtschaft
führenden Zwanzigjährigen die bisherige Majorennität wie-
der entzogen werden. Es wird dies deshalb ohne Rück-
wirkung eintreten können, weil nach der Anschauung des
jetzigen Gesetzes Majorennitätsrecht überhaupt gar nicht
erworben werden kann. Denn das Eintreten des-
selben durch das erreichte Alter ist, wie früher bereits
bemerkt (S. 143), da das Alter kein Produkt einer Willens-
aktion ist, keine Erwerbung, sondern immer nur ein
Vorhandensein; nicht ein vom Individuum sich kon-
stituiertes Eigentum, sondern eine bloß infolge des
Gesetzes daseiende Befugnis. Diejenigen aber, welche
sich durch individuelle Handlungen Groß] ährigkei tsrecht
erworben haben, können dasselbe unmöglich auf länger
beanspruchen, als der Gesetzgeber dasselbe als ein über-
haupt des Erworbenwerdens fähiges ansehen wird1).
Der Grund aber, warum nur die Prohibitivgesetze
der ersten Art sofort einwirken dürfen, dieser Grund, von
welchem die soeben betrachtete faktische Bestimmung,
daß jedes Prohibitivgesetz, welches noch übrig läßt, das-
1) Hier vervollständigt sich also das von uns in § 1, S. 143
bis 148, Gesagte. Die bloße Verschiebung des natürlichen Groß-
jährigkeitsalters, z. B. von 21 auf 24 Jahre, ändert also nichts
an der Großjähngkeit der für majorenn Erklärten, solange irgend
eine solche Erwerbung der Majorennität durch Handlungen,
vormundschaftliche Erklärung vor dem natürlichen Alter usw.,
gesetzlich zulässig bleibt. Umgekehrt kann ohne daß der
Alterstermin der Großjährigkeit geändert würde, allen durch
Handlungen (Erklärungen usw.) großjährig Gewordenen das
Majorennitätsrecht wieder entzogen werden, wenn der Gesetz-
geber der Ansicht ist, daß dasselbe durch nichts anderes als
das natürliche Alter eintreten kann.
26 Lw.alle. G«. Schriften. Band IX. 40 i
selbe Recht noch durch andere Willenshandlungen zu
erwerben, zu den Prohibitivgesetzen der zweiten Art
gehört, nur eine Anwendung ist, — dieser Grund ist,
weit entfernt ein äußerer Reflexionsgrund zu sein, nichts
anderes als die konsequente und systematische
Folge unserer gesamten Theorie. Er ist nichts
anderes als der durch jenen Begriff der indivi-
duellen Willensfreiheit selbst, durch dessen allei-
nige Operation wir bisher die ganze Theorie entwickelt
haben, mit Notwendigkeit gegebene Unterschied.
Denn wenn in der Abrogation der weiteren Dauer
eines stipulierten Rechtes durch ein dieses Recht über-
haupt abolierendes Gesetz keine Verletzung der Willens-
freiheit, keine Denaturierung einer individuellen Handlung
liegt, weil logisch und rechtlich Wille und Handlung
von vornherein ein Recht, vermöge der Natur der Rechts -
Substanz selbst, nur auf so lange ergreifen und dem
Individuum sichern können, wie dieser Rechtsinhalt im
gesamten Rechtsbewußtsein ein mögliches Dasein
bewahren und nicht als schlechthin unzulässig aus-
geschlossen sein wird, wenn also hierin statt einer Dena-
turierung der Handlung nur die notwendige Einschrän-
kung derselben auf die ihr logisch von Haus aus ge-
setzte Grenze ihrer Wirksamkeit vorliegt, so
würde dagegen die Anwendung von Prohibitivgesetzen der
zweiten Art auf Rechtsverhältnisse, die durch den in-
dividuellen Willen vermittelt sind, eine wahrhafte Dena-
turierung individueller Handlungen und somit eine
durchaus unzulässige Rückwirkung in sich schließen.
Denn Prohibitivgesetze dieser Art erklären nicht ein
Recht überhaupt als aus der Rechtssphäre herausgefallen
und unfähig, individuelles Eigentum zu sein. Sie lassen
vielmehr dasselbe noch fortbestehen und noch weiter durch |
402
individuelle Willenshandlungen erworben werden, und
schließen nur besondere Bestimmtheiten von Wil-
lenshandlungen von der Fähigkeit dieses Rechtserwerbes
aus. Solche Prohibitivgesetze lösen sich also auf in ein
negatives Urteil des Geistes über die Gültigkeit und Wirk-
samkeit besonderer individueller Handlungen.
Wenn aber das Individuum die Dauer des erworbenen
Rechtes dem prohibitiven Urteil des allgemeinen Geistes
unterwerfen muß, so ist es dagegen logisch ganz unmög-
lich, daß es die besondere Beschaffenheit seiner
momentanen erwerbenden Handlung einer an-
deren Norm unterwerfe, als der zur Zeit dieser Hand-
lung vorhanden gewesenen. Hier würde also, solange
dasselbe qualitativ-bestimmte Recht durch an-
dere Willenshandlungen überhaupt noch erworben werden
kann, mit voller Kraft der Rückwirkungsvorwurf seitens
des Individuums aufwachen (s. S. 121 und 353 fg.): es
würde, falls es dies gewußt hätte, das Recht unter jenen
anderen, es noch heute erwerbenden Formen und Be-
dingungen sich konstituiert haben. Hier entsteht also jener
Vorwurf, menschliche Freiheit und Zurechnungsfähigkeit
forciert zu haben, der aus den entwickelten Gründen nur
dann nicht entsteht, wenn keine Willenshandlung mehr zur
Erwerbung dieses qualitativ-bestimmten Rechtes führen
kann ! Er entsteht hier, weil die Prohibition sich hier gar
nicht gegen den Inhalt des Rechtes, sondern nur gegen
die besondere Handlung richtet. Er entsteht hier,
weil die erwerbende Handlung als solche, als ein in der
Zeit Vorübergehendes, nur während ihrerVoll-
bringung an die Gemeinsamkeit mit dem gesamten
Rechtsbewußtsein des Volkes gebunden und also nur den
zeitigen Prohibitivbestimmungen unterworfen bleibt,
während der ergriffene Rechtsinhalt selbst, als ein
26- 403
für alle Zeiten Dauerndes, daher für alle Zeiten an
diese Gemeinsamkeit gewiesen und deshalb den Prohibitiv-
gesetzen aller Zeiten unterworfen bleibt.
Zugleich folgt aus dem angegebenen Begriffsunterschied,
und schon aus dem begrifflichen Grunde der Einwirkung
prohibitiver Gesetze überhaupt, daß diese selbstredend
erst von der Zeit ihres Erscheinens ab die Fort-
dauer des prohibitiven Rechtes aufheben, daß somit alle
dem Gesetze bereits vorausgegangenen rechtlichen
Folgen bestehen bleiben. Eine Auslöschung derselben
würde wieder notwendig Rückwirkung in sich schließen,
da sich das Individuum nur unterworfen hat und unter-
werfen mußte dem Nichtdasein seines Rechtes vom
Tage ab seiner Exklusion durch das allgemeine Rechts-
bewußtsein.
Erst gegenwärtig liegt die Theorie der Einwirkung ab-
soluter Gesetze in vollständiger Entwickelung
vor, und es wird jetzt überall bestimmt werden können,
ob ein prohibitives Gesetz auf die bestehenden Rechts-
verhältnisse eingreifen darf oder nicht, wobei es nur darauf
ankommt, das qualitativ-bestimmte Recht, das in
Frage steht, genau aufzufassen, da sich nur hieraus beant-
wortet, ob das neue Gesetz einen Rechtsinhalt aus der
Privateigentumssphäre herauswirft oder nicht, und ob es
demnach eingreifen muß oder nicht darf.
Wenden wir uns zunächst zu einigen auf die bestehen-
den Verträge nicht einwirkenden Prohibitivgesetzen.
Wenn ein Gesetz über laesio enormis bei Verkäufen da,
wo solches bisher nicht gegolten hat, erscheint, so wird
es, selbst wenn es ein wahres Prohibitivgesetz darstellt
(d. h. wenn es den Verzicht auf diese Einrede für wir-
kungslos erklärt), auf früher geschlossene Kaufverträge
nicht anwendbar sein. Das Recht auf unwiderrufliche Ent-
404
äußerung und auf das unwiderrufliche Eigentum an der
Kauf summe ist nicht aufgehoben, sondern kann nach wie
vor erzeugt werden, und nur Bedingungen über das Ver-
hältnis der Kauf summe zum Objektswert sind für die Er-
werbung dieses Rechtes festgesetzt. Somit betrifft der
prohibitive Inhalt des Gesetzes nur die Gültigkeit der be-
sonderen Handlung, welche dieses Recht im gegebenen
Falle erwirbt, und wirkt somit auf frühere Handlungen
nicht ein1).
Wenn ein Gesetz, wie z. B. der Art. 1341 Code Nap.,
bei Forderungen über eine gewisse Höhe den Zeugen-
beweis ausschließt2), so schreibt ein solches Gesetz nur
x) Es ergibt sich hier also von dieser Seite die Bestätigung
dessen, was wir oben (S. 299 — 303) gesehen. — (Wenn das
Gesetz über die laesio enormis zur Zeit des Kaufkontraktes
bestand und später aufgehoben wird, so stellt diese Aufhebung
durchaus keine Prohibition dar. Denn die Verkäufer würden
nicht gehindert sein, diese Bedingung im Kaufakt zu stipu-
lieren. Das frühere Gesetz würde also als stillschweigende
Bedingung in bezug auf die früheren Kaufkontrakte fort-
wirken. )
2) Dies Gesetz wird übrigens von einer großen Zahl Autoren
und Urteile der französischen Jurisprudenz gar nicht als ein
wirklich prohibitives angesehen, indem man annimmt, daß der
Zeugenbeweis bei Zustimmung der Gegenpartei zulässig sei;
so u. a. von Bourges vom 16. Dezember 1826, von Rennes vom
25. Februar 1841, von Bordeaux vom 16. Januar 1846; Duran-
ton, T. XIII, Nr. 308; Carre und Chauveau, Lois de la proc,
qu. 976. — Dagegen Merlin, Repert. v° Preuve, Sect. 2, § 3.
Art. 1, No. 29. Toullier. T. IX, Nr. 36 fg. Brodeau sur Louet
lett. D. § 3 u. a.
Es kann nicht genug hervorgehoben werden, daß die schlecht-
hinnige Ausschließung jeder abweichenden Privatwillkür, auch
bei Einverständnis der Parteien, das alleinige Kennzeichen eines
jeden absoluten (prohibitiven oder zwingenden) Gesetzes ist.
Jedes andere Gesetz bleibt ein bloß regulatives, vermittelndes.
405
Bedingungen für die Handlung der Erwerbung vor und
wendet sich daher nicht auf die aus schon vorgefallenen
Handlungen entstandenen Obligationen an. Oder faßt man
das in Rede stehende Recht des Individuums bestimmter
und richtiger als ein Recht auf Zeugenbeweis auf,
so ist zu sagen, daß durch dieses Gesetz nicht (wie dies
z. B. bei der Bestimmung, daß der Beweis der Vater-
schaft untersagt sein solle, der Fall ist) aller Zeugen-
beweis in diesem Rechtsgebiete überhaupt vom
Gesetz alz unzulässig erklärt und prohibiert wird ; derselbe
wird vielmehr vom Gesetz bei Summen unter diesem
Betrag oder bei nicht-obligatorischen Verhältnissen und
auch bei solchen, wenn sich der Gläubiger unmöglich
einen schriftlichen Beweis verschaffen konnte (Art. 1348
C. c.) oder diesen durch casus fortuitus verloren hat,
für zulässig erklärt. Es existiert also noch ein Recht
auf Zeugenbeweis bei Forderungen, und nur be-
sondere Handlungen, welche dieses Recht bisher er-
warben, sind jetzt von demselben ausgeschlossen. Eben-
deshalb darf also, weil sich die Prohibition nur gegen die
Besonderheit der erwerbenden Handlung und nicht
gegen die Existenz des Rechtes selbst und seine allgemeine
Möglichkeit erworben zu werden, richtet, das Gesetz nicht
auf die früheren Erwerbungen dieses Rechtes eingreifen.
Setzen wir aber den Fall, der, wenn auch fast unmög-
lich in sich, doch zur Klarlegung und Bestätigung der
Theorie unterstellt werden mag, ein Gesetzbuch verböte
allen und jeden Zeugenbeweis in Zivilsachen über-
haupt, etwa herrnhuterische Grundsätze, welche in dem
Eide eine Religionswidrigkeit erblicken, auf die Spitze
treibend. Offenbar würde hier auch in bezug auf die
früheren Darlehen usw. das Recht des Zeugenbeweises
ganz unzweifelhaft hin wegfallen müssen. Recht auf
406
Zeugenbeweis ist jetzt überhaupt aboliert, und das In-
dividuum kann dasselbe nur so lange ausüben und be-
sitzen, als es eben nach dem Gesetz überhaupt rechtliches
Eigentum des Individuums sein kann. Auch würden die-
jenigen, welche vor diesem Gesetz Gläubiger ohne schrift-
lichen Beweis wurden, gar nicht härter gestellt sein, als
alle diejenigen, welche erst nach dem Gesetze Gläubiger
werden, sich aber in der Unmöglichkeit befinden, für
ihre Obligation einen schriftlichen Beweis zu erlangen
(z. B. also bei allen Quasikontrakten, Delikten, Quasi-
delikten, bei notwendigen Depositionen). Ein Gläubiger,
welcher vor dem den Zeugenbeweis ausschließenden Ge-
setz ein Darlehen machte, kann, weil er jetzt noch keine
Veranlassung hatte, sich einen schriftlichen Beweis
zu verschaffen, höchstens doch so behandelt und einem
solchen assimiliert werden, der nicht einmal die Mög-
lichkeit zu dieser Beschaffung hatte. Indem jetzt nun
aber alle, die, obwohl nach der Zeit des Gesetzes, sich
in der faktischen Unmöglichkeit befinden, einen
schriftlichen Beweis zu bereiten, gleichwohl vom Zeugen-
beweise ausgeschlossen sind, fallen die Gläubiger aus der
Zeit vor dem Gesetze nur in die Kategorie dieser
letzteren, und der Vorwurf der Rückwirkung, der
nachträglichen Verletzung der Willensfreiheit des be-
sonderen Individuums, fällt um so mehr fort.
Gibt man zu, daß ein solches allen Zeugenbeweis abo-
lierende Gesetz auch auf die früheren Obligationen ein-
wirken müsse — und es wird nicht möglich sein, dies
nicht zuzugeben — , so hat man damit alles, was wir über
die Theorie der Prohibitivgesetze entwickelt haben, an-
erkannt. — Freilich ist das von uns unterstellte Beispiel
ein in sich selbst fast unmögliches. Dies hindert indes
seine Beweiskraft nicht. Überdies sollte diese abstrakte
407
Unterstellung nur als Brücke zu dem nachfolgenden ganz
gleichartigen konkreten Beispiel dienen. Es verhält
sich nämlich offenbar ebenso, wenn ein Gesetz z. B. die
bisher erlaubte Zeugenfähigkeit in einem be-
stimmten Verwandtschaftsgrade überhaupt auf-
hebt. Recht auf Zeugenbeweis existiert hier weiter. Aber
was aufgehoben ist, ist: Recht auf die Zeugenschaft
eines so und so Verwandten. Dies bestimmte
Recht überhaupt ist hier aufgehoben und kann daher
auch in bezug auf frühere Darlehen oder Verträge nicht
ausgeübt werden. Es ist möglich, daß das Individuum bei
der seinen Anspruch begründenden Handlung gerade nur
solche Verwandte (oder andere jetzt prohibierte Personen)
zu Zeugen hatte oder zu Zeugen nahm. Es kann somit
jetzt die ganze Möglichkeit seines Beweises verlieren durch
die Zerstörung der Zeugenschaft von Personen, auf deren
Zeugnis es früher ein Recht hatte. Gleichwohl wird
es der Anwendung jenes Gesetzes keinen Vorwurf der
Rückwirkung machen können. Allerdings ist das Recht des
Individuums auf das Zeugnis anderer Personen überhaupt
nur ein legales, kein erworbenes Recht. Allein dies
ist nicht der letzte Grund der Entscheidung. Dies Recht
kann durch mannigfache Handlungen zu einem erwor-
benen geworden sein, z. B. vertragsmäßig oder da-
durch, daß die Klage schon angestellt, der Zeuge schon
vorgeschlagen, seine Vernehmung auch schon durch richter-
liches Dekret verordnet worden ist. Gleichwohl wird,
wenn das neue Prohibitivgesetz vor dem Audienztermin
erscheint, die Abhörung des Zeugen durchaus unzulässig
sein. Der systematische Grund ist aber, wie schon die
Unterscheidung der Fälle ergibt, kein anderer als der,
daß hier das Recht auf diesen — näher qualifizierten —
Zeugenbeweis, auf Zeugenbeweis durch Verwandte, über-
408
haupt untergegangen ist, nicht aber bloß in Beziehung
auf gewisse besondere Willenshandlungen1).
1) Bei konsequenter Festhaltung der Savignyschen Theorie
würde man das Gegenteil annehmen müssen, was offenbar un-
möglich — und dennoch häufig genug angenommen worden ist.
Ganz so wie der oben behandelte Fall verhält sich nämlich
jedes Gesetz über Zeugenreprochierungsgründe. Gibt
ein Gesetz der Partei das unbedingte Recht, einen in ge-
wissen Fällen befindlichen Zeugen zu reprochieren, so unter-
scheidet sich ein solches Gesetz gar nicht von dem obigen.
Es verhält sich prohibitiv gegen den Rechtsanspruch der
Gegenpartei, einen solchen Zeugen abhören zu lassen. Gibt das
Gesetz die Entscheidung über die Zulassung des reprochierten
Zeugen in die diskretionäre Einsicht des Richters, so kann man
den prohibitiven Charakter eines solchen Gesetzes mit Fug
bestreiten, obgleich durch dasselbe der frühere unbedingte
Anspruch der Partei auf Abhörung des Zeugen (oder resp.
Verlesung seiner Aussage) untergegangen und nun von der Be-
urteilung des Richters abhängig gemacht ist. Allein es darf
überhaupt nicht vergessen werden, daß der prohibitive Cha-
rakter des Gesetzes nur erforderlich ist, wenn bereits durch
Dekret die Vernehmung des Zeugen verordnet und sie hierdurch
zu einem erworbenen Recht geworden ist. Bis zu jenem
Dekret bildet die Bestimmung, durch welche Kategorien von
Zeugen Beweis erbracht werden kann, ein von individueller
Willensaktion ganz unabhängiges, rein legales Recht, welches
daher durch jede Änderung der Gesetzgebung sofort modifiziert
wird. Es ist dies sehr häufig übersehen und z. B. durch zwei
Urteile des rheinischen Appellationsgerichtshofes zu Köln vom
15. Juli 1822 und vom 12. April 1844 (Rheinisches Archiv.
VII, 1, 198, und XXXVII, 1, 81) sehr irrig erkannt worden,
daß die Reproche nach dem älteren Gesetze beurteilt werden
müsse, wenn die Tatsache, über welche der Zeuge vernommen
werden solle, dem neuen Gesetze vorhergegangen ist. Durch
ein etwas späteres Urteil vom 28. Mai 1844 hat derselbe Ge-
richtshof dagegen entschieden, daß es nur auf das neue Ge-
setz dabei ankomme (XXXVII, 1, 84) und zwar deshalb, weil
409
Wenden wir uns jetzt zu einigen Fällen, in welchen
die Praxis der Gesetzgebungen und die Theorie der
neueren Autoren in einem entschiedenen Gegensatz mit-
einander stehen, ein Gegensatz, der leicht begreiflich ist,
da die Gesetzgebungen, dem Instinkt des unmittelbaren
Rechtsgefühles folgend, oft das Richtige hierbei trafen,
während, da alle halbe Theorie von der Wahrheit ab-
und erst die ganze Theorie wieder zu ihr zurückführt,
den Autoren hierdurch die Erkenntnis der Richtigkeit und
Notwendigkeit jener Gesetze unmöglich gemacht war. —
Durch die im Jahre 528 erlassene L. 26 C. de usuris
(6, 32) hatte Justinian verordnet, daß der bis dahin er-
laubte höchste Zinsfuß von zwölf Prozent auf sechs Pro-
zent herabgesetzt sein solle. Ein Jahr darauf fand er sich
veranlaßt, durch die L. 27 (das.) ausdrücklich zu er-
klären, es sei die Absicht jenes Gesetzes, auch die schon
vor dem Gesetz geschlossenen Zinsverträge auf das neue
gesetzliche Zinsmaximum zu reduzieren, mit Ausnahme je-
doch der schon vor dem Erlaß des Gesetzes erfallenen
Zinsen.
Es ist evident, daß nach der von uns entwickelten
Theorie Justinian hierbei in jeder Hinsicht nur die regel-
mäßigste und mit begrifflicher Notwendigkeit dem Ge-
setze zukommende Wirkung für dasselbe in Anspruch
nahm. — Die Prohibition ist hier die totale. Recht auf
es sich hierbei nicht von der Zulässigkeit des Zeugenbeweises
als Beweismittel, sondern von der Zulassung eines Zeugen
handle, worüber die bestehenden prozessualischen Vor-
schriften maßgebend. Die Sophistik dieser Gründe liegt auf
der Hand, denn welche Zeugen ich für einen Beweis benutzen
darf, bezieht sich nicht auf die ordinatoria, sondern decisoria
litis. Die Entscheidung selbst aber rechtfertigt sich durch das
früher Gesagte.
410
höhere als sechsprozentige Zinsen soll von jetzt ab gar
nicht mehr Eigentum des Individuums sein
können, soll — als Zinsen, d. h. bei Garantie des
dargeliehenen Kapitales und seines Ertrages — durch
keinerlei Willenshandlung dazu gemacht werden können.
Da dies Recht vom Tage des Gesetzes ab ganz aus der
Eigentumssphäre des Individuums herausgefallen ist, gar
nicht mehr besessen werden kann, so fällt es eo ipso auch
bei allen denen fort, die diesen Anspruch bisher vertrags-
mäßig besessen und erworben hatten, aber ihn wie jedes
andere Recht nur auf so lange besaßen und erworben
hatten, als dasselbe fähig sein würde, einen Gegenstand
der Herrschaft des individuellen Willens, ein Eigentum
des Individuums zu bilden. Von einer Rückwirkung ist
nicht die Rede, da sich nach unserer Theorie jeder Zins-
vertrag von vornherein notwendig in die Stipulation auf-
löst, daß z. B. zehn Prozent Zinsen während der Dauer
des Vertrages gezahlt werden sollen, solange das Ge-
setz dies erlaubt, und eventuell sonst das
jederzeitige gesetzliche Zinsmaximum.
Zugleich respektiert Justinian die notwendigen Grenzen
des Gesetzes, indem er es auf die vorher erfallenen Zinsen
nicht einwirken läßt. In der Tat würde dies geheißen
haben, die Prohibition über ihren eigenen Inhalt hinaus-
treiben und in Rückwirkung verfallen, da dann individuelle
Willensaktionen nicht in ihrer Wirkung bis auf die Zeit
des Erscheinens prohibitiver Gesetze eingeschränkt,
sondern der ihnen zustehenden vertragsmäßigen Wirkung
aus der Zeit des rechtlichen Erlaubtseins derselben be-
raubt worden, Handlungen also nicht an der immanenten
Grenze ihrer Gültigkeit festgehalten, sondern inner-
halb derselben nachträglich denaturiert worden wären.
Savigny, welcher bei seiner Auffassung seiner Formel
411
vom Erwerb und vom Dasein der Rechte dies Gesetz zu
den über den Erwerb von Rechten handelnden rechnen
muß. greift deshalb dies Zinsgesetz Justinians wegen seines
Einwirkens auf die bestehenden Verträge wiederholt als
ein höchst „eigentümliches und willkürliches" an; er sieht
nur ein Ausnahmsgesetz darin und wirft ihm vom Stand-
punkt der Rechtsgrundsätze aus rechtswidrige Rückwirkung
nachdrücklichst vor1).
Savigny vertritt dabei nur die allgemeine Ansicht der
neueren Autoren, die nach ihm und schon vor ihm mit
großer Einhelligkeit in der Verwerflichkeit eines solchen
Gesetzes zusammentreffen 2) .
!) Savigny, VIII. 382-384, 397, 403, 437.
2) Und zwar gilt dies ebenso von den französischen wie von
den gemeinrechtlichen und preußischen Juristen. Merlin, Repert.
v° Effet retroact., Sect. III, § 3, Art. 3, No. 11, T. 5, p. 575 :
,,Ainsi comme nous venons de le voir, la loi ne peut pas, en
reduisant aujourdhui l'interet conventionnel de l'argent, empecher
qu'un interet plus haut qui a ete precedemment stipule sous
une loi qui autorisait, ne continue d'etre exigible." Von der-
selben Theorie ging das Napoleonische Zinsgesetz vom 3. Sep-
tember 1807 aus, welches ausdrücklich (Art. 5) die bereits
geschlossenen Verträge ausnimmt (vgl. oben S. 101), und ob-
gleich das Gesetz letzteres nur von den Zinsen einfacher Dar-
lehnskontrakte verfügt, faßte der Pariser Kassationshof diese
Bestimmung als eine aus den allgemeinen Rechtsgrundsätzen
selbst folgende auf, indem er sie, ein Urteil des Appellhofes
von Caen kassierend, auch auf eine in Getreide konstituierte
Rente anwandte, welche 12 — 15 Prozent des Rentenkapitals
darstellte (Urteil des Kassationshofes von Paris vom 3. Mai
1809; vgl. die Urteile desselben Hofes vom 5. März 1834
und 15. November 1836; Chabot, Quest. trans. v° Contrat. ;
Zachariä, T. I, § 30 ; Troplong, Pret, Nr. 357).
Von römischen Juristen mag es hinreichen anzuführen: Van-
gerow, Pandekten, 6. Aufl. (1851), T. I, § 26, S. 68, wel-
cher das Gesetz Justinians als einen „Machtspruch" und ein
412
Wir glauben dasselbe durch unsere Theorie auf das
vollständigste gerechtfertigt zu haben, und zwar nicht als
„exorbitantes Gesetz" bezeichnet; Puchta, Pandekten, 5. Aufl.
(Leipzig 1850), § 111, e, welcher ganz dieselbe Ansicht aus-
spricht. Von landrechtlichen Autoren: Bornemann, a. a. O-,
S. 44: „Auf die vertragsmäßigen Zinsen haben neue Gesetze,
welche das Versprechen von Zinsen über eine gewisse Höhe
hinaus verbieten, nach allgemeinen Grundsätzen keinen
Einfluß"; Koch, Allgemeines Landrecht, Bd. 1, S. 13,
Anm. 25, Nr. 5 c (welcher Autor früher — Lehrbuch, T. I,
§ 36 und 37 — anderer Ansicht war) ; vgl. Holzschuher,
Theorie und Kasuistik, 2. Aufl. (Leipzig 1856), S. 48, Nr. 12.
— Gerade diese Einstimmigkeit der neueren Autoren mußte es
uns zur Pflicht machen, unserer Beweisführung eine an sich
vielleicht überflüssig scheinende Ausführlichkeit angedeihen zu
lassen.
Eine Ausnahme von jenem Einklang machen Boecking, Ein-
leitung in die Pandekten des römischen Privatrechtes, 2. Aufl.
(1853), I, 318, und Scheuerl, Beiträge, Nr. VI, S. 142. Allein
gerade die von ihnen geltend gemachten Gründe, bei denen sich
niemand wird beruhigen wollen, nötigen um so mehr, die wahr-
hafte Begründung mit aller Sorgfalt zu führen. Boecking er-
klärt nämlich, in diesem Gesetze deshalb keine Rückwirkung
zu sehen, weil dasselbe nur verfüge, daß „noch nicht ein-
getretene Wirkungen eines früheren Rechtsgeschäftes oder
einer früheren Handlung, welche bei fortgeltendem älteren Rechte
eingetreten sein würden, nun nicht mehr eintreten sollten.
Allein mit dieser schon 1811 von Weber aufgestellten Unter-
scheidung von schon eingetretenen und noch nicht ein-
getretenen Wirkungen eines früheren Rechtsgeschäftes ist ja
nicht im geringsten durchzukommen, und mit Recht ist sie des-
halb von Savigny unter der Bemerkung, daß sie nur vom Ein-
fluß der lex de usuris abgezogen sei, völlig verworfen worden.
Die ersten besten Beispiele zeigen, wie wenig mit dieser Unter-
scheidung anzufangen ist. Wenn ich einen Erbvertrag geschlossen
habe, und nun ein späteres Gesetz die frühere Form dieser
Verträge für nichtig erklärt, oder der bestimmten Alters-
oder Personenklasse, zu der ich gehöre, Erbverträge un-
413
ein zulässiges, sondern als ein solches, welches mit Not-
wendigkeit die begrifflichen Forderungen der Rechtsidee
verwirklicht.
Gleichwohl wollen wir uns jetzt der Mühe unterziehen,
selbst mit Absehung von unserer Theorie, dies Gesetz zu
tersagt, und ich nach diesem Gesetz sterbe, so ist der nun
erfolgende Übergang meines Eigentums an den anderen Kon-
trahenten gleichfalls eine bei dem Erscheinen des Gesetzes
„noch nicht eingetretene Wirkung" des früheren Rechtsgeschäftes
und kann dennoch nicht ohne stärkste Rückwirkung von dem
Gesetz verhindert werden. Oder wenn ich schenke unter einem
Gesetz, welches Revokation der Schenkung wegen späterer Ge-
burt von Kindern oder wegen Undankbarkeit des Beschenkten
gestattet, ein neues Gesetz diese Revokationsgründe aufhebt
und nun erst mir Kinder geboren werden oder der Beschenkte
in Undankbarkeit verfällt, so ist der Widerruf gleichfalls eine
erst nach dem neuen Gesetz eintretende Wirkung eines
früheren Rechtsgeschäftes, und dennoch wäre es flagrante Rück-
wirkung, die Widerrufsklage abzuschneiden (s. S. 299 — 303).
Hundert andere Beispiele könnten gegeben werden. Nicht also
in dieser haltlosen Unterscheidung, daß die noch nicht ein-
getretenen Wirkungen früherer Handlungen durch ein späteres
Gesetz geändert oder unterdrückt werden können, sondern ledig-
lich in der obigen Theorie hat die lex de usuris ihre einzige
und wahre Rechtfertigung. — Scheuerl will sie also recht-
fertigen. Er räumt zwar ein: „Hat jemand unter dem Einfluß
einer damals geltenden Rechtsregel ein gewisses Recht erwor-
ben, so sind nun allerdings an sich auch alle Handlungen,
welche in bloßen Ausübungen dieses Rechtes bestehen, er-
laubte Handlungen." Aber er wendet ein: „Das Dasein
eines Rechtes macht es aber nicht unmöglich, daß eine
neue Rechtsregel seine Ausübung untersage." Was für ein
„Dasein von Recht" ist denn das aber noch, was gar nicht
mehr ausgeübt werden kann? Auch würden bei dieser Regel,
wie die soeben gegen Boecking angeführten Beispiele zeigen,
nicht weniger Tür und Tor der krassesten Rückwirkung ge-
öffnet sein.
414
rechtfertigen. Gelingt uns dies und können wir die da-
gegen erhobenen Einwürfe der Unrichtigkeit und des
Widerspruches mit sich selbst überführen, so ist durch den
Nachweis der Rechtmäßigkeit dieses Gesetzes unsere ge-
samte Theorie über die Einwirkung von Prohibitivgesetzen
auf das unwidersprechlichste bewiesen und gegen jede An-
fechtung gesichert.
Denn wenn die gegenwärtige Theorie, wie jedem von
selbst klar sein wird, auch weit entfernt davon ist, ge-
rade unter dem Einfluß dieses besonderen Gesetzes ent-
standen zu sein, so verhält sich dieses Beispiel doch so
zu ihr, daß durch den juristischen Beweis von der inneren
Rechtmäßigkeit dieses Gesetzes um so mehr und a for-
tiori alles das erwiesen ist, was wir in bezug auf die
sofortige Einwirkung der früher in diesem Paragraphen
analysierten Gesetze entwickelt haben. Dies Beispiel ver-
hält sich jedenfalls so zu unserer Theorie, daß dieselbe
mit ihm steht und fällt. Durch den juristischen Be-
weis der Richtigkeit des erstem wird also die Theorie
selbst ihren letzten und jeden Widerspruch ausschließen-
den empirischen Beweis empfangen haben.
Zuerst wäre hier zu bemerken, wie das Zinsgesetz Ju-
stinians nicht allein steht, die Gesetzgebungen vielmehr,
deren unmittelbares Rechtsgefühl nicht, wie bereits be-
merkt, durch eine halbe Theorie wie bei den Autoren irre-
geführt wurde, gerade in diesem Falle in der Regel die-
selben Grundsätze anerkannt haben. So zunächst die preu-
ßischen transitorischen Edikte der Jahre 1814 und 1816.
welche (s. § 13 des Patentes vom 9. September 1814 für
die Provinzen jenseit der Elbe, und § 17 der zwei Pa-
tente vom 9. November 1816 für das Großherzogtum
Posen und den Kulm- und Michelauschen Kreis; § 13
des Patentes vom 15. November 1816 für die ehemaligen
415
sächsischen Provinzen, und § 20 des Patentes vom 21. Juni
1825 für das Herzogtum Westfalen) sämtlich verordnen,
daß vom Einführungstage ab
,,in Absicht der Höhe der erlaubten Zinsen die Be-
stimmungen des Allgemeinen Landrechtes und der
darauf Bezug habenden späteren Verordnungen der-
gestalt eintreten, daß, wenn in einem früheren Vertrage
höhere Zinsen verabredet worden, als die preußischen
Gesetze gestatten, von dem Tage der Wirksamkeit der
letzteren der Schuldner nur zur Zahlung der erlaubten
niedrigeren Zinsen verpflichtet ist."
Savigny, indem er (a.a.O., S. 437) diese preußischen
Gesetze, die er „auffällig" findet, berührt, wirft ihnen
vor, nicht bemerkt zu haben : „daß sie dadurch dem nahe
dabeistehenden Grundsatz, welcher die Folgen der Ver-
träge dem zur Zeit des Abschlusses geltenden Gesetze
unterwirft, geradezu widersprechen". Wie wenig dies der
Fall ist, hätte Savigny an einer andern Gesetzgebung, der
hannoverischen, sehen können, welche wiederum dieselbe
Zinsbestimmung wie jene preußischen Patente treffen1),
andererseits auch denselben allgemeinen Grundsatz hin-
sichts der Verträge sanktionieren, beide Gedanken aber
gleich zu einer Einheit verbinden. Es wird nämlich in
der Einleitung zu der angezogenen Verordnung für Alt-
hannover die Regel aufgestellt: „Die während der Unter -
*) Siehe die Verordnung vom 23. August 1814 für Alt-
hannover, § 79, und ebenso die Verordnung vom 14. April 1815
für das Fürstentum Hildesheim und vom 13. September 1815
für Meppen und Emsbüren, §§ 87 — 89, wo die zu hohen
Zinsen, wie sehr richtig, obwohl übrigens nach unserer Ent-
wicklung selbstredend ist, selbst für den Fall untersagt werden,
„wenn die Verträge durch rechtskräftige Erkenntnisse aus der
Zwischenzeit bestätigt worden."
416
brechungszeit (d. i. während der Herrschaft des fremden
Gesetzes) durch erlaubte freiwillige Handlungen und Ver-
träge erworbenen Privatrechte bleiben gültig. Ihre
Folgen und Wirkungen, insofern sie nach Unsern
Gesetzen durch Privatwillkür bestimmt werden konn-
ten, mithin nicht den in Unsern Gesetzen ent-
haltenen Verboten entgegenstehen, sind auch
ferner nach dem fremden Rechte zu bestimmen, und ist
bei deren Interpretation bis zum Beweise des Gegenteiles
rechtlich anzunehmen, daß die Parteien die Dispositionen
der fremden Gesetze stillschweigend zugrunde gelegt
haben." Es ist wahrhaft verwunderlich, wie diese Regel,
von der in die Augen fällt, wie sehr sie unsere gesamte
Theorie bestätigt, aus Mangel an systematischer Begrün-
dung so wenig Einfluß auf die juristischen Ansichten er-
langen konnte. —
Das zweite Moment, das bei der Untersuchung des
Justinianischen Gesetzes hervorzuheben ist, ist, daß Ju-
stinian wenigstens durchaus nicht „eigentümlich und will-
kürlich" bei demselben verfahren wollte. Es ist in dieser
Hinsicht erforderlich, einen Blick in das in Rede stehende
Gesetz zu werfen. Justinian sagt in der L. 27 : ,,De usuris,
quarum modum jam statuimus, pravam quorundam inter-
pretationem penitus removentes, jubemus, etiam eos qui ante
eandem sanctionem ampliores quam statutae sunt, usuras
stipulati sunt, ad modum eadem sanctione taxatum ex
tempore lationis ejus suas moderari actiones, scilicet illius
temporis quod ante eandem fluxit legem pro tenore stipu-
lationis usuras exacturas."
Nach Justimans und seiner Juristen Ansicht war also
die in der L. 27 gegebene Verordnung, statt irgendwelche
Ausnahmemaßregel darzustellen und in besonderen damals
etwa vorliegenden positiven Verhältnissen und Nützlich-
-7 Lassalle, Gea. Schriften. Band IX. 4 1/
kcitsrücksichten zu wurzeln, vielmehr eine so regelmäßige
und mit grundsätzlicher Notwendigkeit aus den Rechts -
grundsätzen selbst folgende Anwendung der L. 26,
daß sie nach ihm sogar eine ganz überflüssige und
nur durch irrtümliche Ansichten notwendig gewordene war.
Nach Justinian und seinen Juristen hätte die L. 26, ob-
wohl sie in keiner Hinsicht besonders andeutet, was in be-
zug auf die bestehenden Verträge eintreten solle, schon
von selbst so angewendet werden müssen. Jede andere
Anwendung derselben nennt er geradezu eine prava inter-
pretatio. Zugleich müssen die Ausdrücke „qaorundum inter-
pretationem" und „penitus removentes" zu zeigen scheinen,
daß in der Tat die von Justinian so hart getadelte Aus-
legung nur eine vereinzelte, nicht die allgemeine war, und
bloß zu ihrer gänzlichen Verhütung das neue transitorische
Gesetz erlassen wurde. — Unbegreiflich bleibt es dem-
nach, wie Savigny und Bergmann1) davon sprechen kön-
nen, daß hier etwas Ausnahmsweises und nach der An-
nahme des römischen Gesetzgebers von der Regel Ab-
weichendes von ihm verordnet worden sei. Vielmehr würde
sich diese Verordnung nur durch eine gänzliche Täuschung
Justinians und seiner Juristen erklären lassen.
Statt daß dies der Fall sei, läßt sich aber vielmehr
dartun, daß Savigny durch die Verwerfung jener Wirkung
des Zinsgesetzes Justinians sogar in den handgreiflichsten
Widerspruch mit sich selbst tritt. Um denselben
bis zur Evidenz nachzuweisen, braucht bloß danebengestellt
zu werden, wie Savigny die Einwirkung der bekannten Vor-
schrift des Art. 340 Code civil2) auf die bereits erzeugten
unehelichen Kinder rechtfertigt. Auch hier sind durch die
x) A. a. O., S. 192 fg. u. a. and. St.
2) „La recherche de la paternite est interdite."
41 S
Erzeugung derselben unter einer der Geschwächten und
den Kindern bestimmte Rechtsansprüche zuerteilenden Ge-
setzgebung erworbene individuelle Rechtsverhältnisse und
Verpflichtungen entstanden. Gleichwohl sagt Savigny1):
„Man hat dieses Gesetz mit Unrecht getadelt, als ob es
eine ungehörige Rückwirkung enthielte. Man hat es ebenso
mit Unrecht verteidigt, als ob es den persönlichen Zu-
stand an sich zum Gegenstand hätte. Die wahre Recht-
fertigung liegt darin, daß es ein Gesetz von zwingen-
der Natur ist" — nämlich sittlichen Beweggründen ent-
flossen, wie Savigny zuvor auseinandergesetzt hatte.
Wir haben gesehen, daß es für ein Gesetz durchaus
noch nicht hinreicht, von zwingender Natur zu sein, um
auf die durch individuelle Handlungen konstituierten
Rechtsverhältnisse einwirken zu können ; daß vielmehr eine
solche Wirkung keineswegs eintreten darf, .wenn das zwin-
gende Gesetz — wie z. B. Verbot des Zeugenbeweises bei
Forderungen über einen gewissen Betrag usw. — nur be-
stimmte Bedingungen und Arten von Handlungen, durch
welche sich das Individuum bisher mit einem Rechtsinhalt
zusammenschließen konnte, prohibiert, nicht aber diesen
qualitativ-bestimmten Rechtsinhalt selbst, als einen jeder
Willenshandlung nunmehr schlechthin unzugänglichen, aus
der rechtlichen Eigentumssphäre des Individuums hinaus-
wirft.
Sehen wir inzwischen gegenwärtig von diesem Unter-
schied ab. Wenn Savigny deshalb, weil jenes über den
verbotenen Beweis der Vaterschaft handelnde Gesetz ein
zwingendes ist, zugibt, daß es auf Rechtsverhältnisse,
die durch individuelle Handlungen begründet sind, ein-
wirken darf, warum gibt er dies von den Wucher-
l) A. a. O., VIII, 529.
27* 4 ig
gesetzen nicht zu? Ist ein Wuchergesetz weniger als
jenes andere sittlichen und ökonomischen Motiven ent-
flossen ? Ist es weniger zwingender Natur ? Die Inkonse-
quenz ist also eine schreiende1). —
*) Es muß übrigens bei diesem Anlaß wiederholt bemerkt
und gegen Savigny festgehalten werden, daß jedes Gesetz
ein zwingendes ist, welches das Abweichen der Pri-
vatwillkür ausschließt, gleichviel welchen Motiven, sitt-
lichen oder anderen, es entflossen sei. Wenn man dies nicht
festhält, so gibt es überhaupt gar keinen festen Begriff von
zwingenden Gesetzen mehr. Nichts ist daher irriger als die
Unterscheidung, die Savigny bei seiner Behandlung der ört-
lichen Kollision der Gesetze (VIII, 34 fg.) zwischen den
absoluten (die Privatwillkür ausschließenden) und den zwin-
genden Gesetzen behauptet, unter welchen letzteren er nur
solche absolute Gesetze verstehen will, welche auf sitt-
lichen Gründen oder auf „Gründen des öffentlichen
Wohles (publica utilitas), mögen diese nun mehr einen poli-
tischen, polizeilichen oder volkswirtschaftlichen Charakter an
sich tragen," beruhen und also ,, außerhalb des reinen Rechts-
gebietes" ihre Wurzel haben. Savigny behauptet aber diesen
Unterschied bloß ; weit entfernt, ihn zu beweisen, versucht er
nicht einmal aufzuzeigen, woher er stammen und worin er
liegen soll. Es läßt sich gar nicht absehen, und wird auch
nicht von ihm dargelegt, warum absolute, Privatwillkür aus-
schließende Gesetze, welche nichts geringeres als die gesamte
Rechtsanschauung eines Volkes (das reine Rechtsgebiet) zur
Quelle einer mit Notwendigkeit jedes Abweichen der Privat-
freiheit ausschließenden Kraft haben. In der Tat aber ist
diese ganze Unterscheidung an sich selbst eine unhaltbare. Je-
des absolute Gesetz ist Gründen des öffentlichen Wohles ent-
flossen; es würde sonst schon gar keine Veranlassung
haben, das Abweichen der Privatfreiheit auszuschließen,
und jedes dieses Abweichen ausschließende Gesetz wird daher
auch von den Römern mit vollem Recht zum jus publicum
gezählt (s. oben S. 76, Anm. 1). Als absolute, nicht zwin-
gende Gesetze zählt Savigny auf : die Gesetze über die Ein-
420
Endlich ist ersichtlich, daß nach Savignys eigener For-
mel vom Dasein der Rechte, wenn dieselbe, wie in der
von uns entwickelten Theorie geschehen, zu ihrem ei-
genen Selbstverständnis gebracht und in ihre
schränkung der Handlungsfreiheit wegen des Alters, des Ge-
schlechtes usw. ; "ferner die Gesetze über die Formen der Über-
tragung des Eigentums (ob durch bloßen Vertrag oder durch
Übergabe). Die Gesetze über die Handlungsfähigkeit der Un-
mündigen wurzeln aber in der staatlichen Vorsorge, daß Un-
reifheit der Vernunft nicht gemißbraucht und daß der Ruin der
Personen vor entwickelter Denkfähigkeit verhindert werde, sind
also polizeilichen Charakters und durchaus mit Gründen
des öffentlichen Interesses zusammenhängend. Dasselbe ist der
Fall bei Bestimmungen über die Handlungsfähigkeit des weib-
lichen Geschlechtes, während Gesetze über die Handlungs-
fähigkeit von Ehefrauen auf der eheherrlichen Gewalt und
somit ganz offenbar auf sittlichen Anschauungen vom Dasein
der Familie und ihrer Einheit beruhen, wie denn überhaupt alle
gesetzlichen Vorschriften über die Personengewalt in schlecht-
hin zwingenden Anschauungen des öffentlichen Rechtes wurzeln.
Die Vorschriften, daß Eigentum nur durch schriftlichen Ver-
trag oder resp. nur durch dazutretende Übergabe gültig über-
tragen werde, haben wie alle Formsolennitäten zunächst schon
den Grund: die Unzweideutigkeit des Willens zu mani-
festieren und zu gewährleisten, und beruhen schon deshalb, wie
alle Bestimmungen, deren Zweck es ist, das Dasein des freien
Willens gegen ungewollte Aufhebung seiner sicherzustellen, auf
der Anschauung von der persönlichen Freiheit, die also
im höchsten Maße Sache des öffentlichen Interesses ist. Hätte
ein absolutes Gesetz dieser Art selbst keinen anderen Grund
als den ganz positiven, daß in einem Gebiete eine beliebige
einheitliche Regel herrschte, um die Möglichkeit der Ver-
wirrung auszuschließen oder doch Vereinfachung zu erzielen
— und diesen Grund müßte doch zum mindesten ein Gesetz
haben, welches so weit geht, jede Abweichung der Privat-
freiheit auszuschließen — , so sind ja derartige äußerlich-posi-
tive Gesetze gerade solche, welche, wie die Römer dies nann-
421
Wahrheit erhoben wird, jenes Gesetz sich rechtfertigt.
Was Savigny innerlich stört, ist, obwohl er dies nicht in
dieser Weise ausspricht, offenbar dies, daß Zinsen für
Darlehen noch weiter ausbedungen werden können, das
Gesetz über die Zinsenhöhe sich ihm daher als ein Ge-
setz über die Gültigkeit an sich erlaubter Handlungen
und somit über den Erwerb von Rechten darstellt. Wenn
aber das Recht, Zinsen auszubedingen, weiter existiert,
so ist doch das Recht: mehr als sechs Prozent zu
ten, propter necessitatem oder utilitatem und contra rationem
juris gegeben sind, und deshalb, weil nur um des öffentlichen
Nutzens willen vorhanden und von polizeilichem Charakter, am
meisten zwingender Natur sind (vgl. hierzu Savigny selbst,
I, 61, und VIII, 35). — Das einzige Element, das Savigny
noch bei seinen, dem reinen Rechtsgebiet entflossenen und des-
halb nicht-zwingenden, absoluten Gesetzen im Auge haben kann,
ist somit das eigentlich logisch- juristische Element.
Aber gerade hier läßt sich am wenigsten absehen, warum eine
Vorschrift, die einem Volksgeist mit solcher absoluter Not-
wendigkeit den logischen Denkgesetzen selbst zu entfließen
scheint, daß jede Abweichung ausgeschlossen ist, für weniger
zwingend gelten sollte, als die Gesetze sittlichen, polizeilichen
und ökonomischen Inhaltes. Eine solche Forderung würde dar-
auf hinauslaufen, daß es ein Volk mit den Gesetzen seiner
gesamten Denktätigkeit überhaupt, mit seiner Vernunft-Not-
wendigkeit selbst, weniger streng nehme als damit, was ihm
in einem besonderen Gebiete erforderlich erscheint, und würde
um so unmöglicher sein, als vielmehr die Gesetze sittlichen,
ökonomischen, polizeilichen Inhaltes usw. nur eine Anwen-
dung jener logischen Denktätigkeit des Volksgeistes auf die
besonderen Felder und Gebiete seines Daseins und auf
besonderen Stoff darstellen. Die Römer haben dies sehr wohl
gefühlt und deshalb stets den aus diesem logisch-juristischen
Element hervorgegangenen absoluten Gesetzen eine ebenso zwin-
gende und vernichtende Kraft eingeräumt, als irgendwelchen
anderen. So ist es, um dies an einem Beispiel klar zu machen,
422
nehmen, untergegangen. Dies bestimmte Recht — es
ist natürlich gleichgültig, daß es in diesem Fall eine quan-
titative Grenze ist, an der sich die qualitative Be-
stimmtheit des Rechtes ändert und Zins in Wucher
übergeht — existiert überhaupt nicht mehr. Und es muß
daher vielmehr gesagt werden, daß dies Gesetz, bei rich-
tiger Auffassung dieser Formel, das Dasein derRechte
betrifft.
Auf gleicher Linie wie das Zinsgesetz steht auch die
Aufhebung der lex commissoria durch Kaiser Konstan-
eme rein aus dem logisch-juristischen Elemente hervorgegangene
absolute Rechtsregel, daß, was ohnehin schon mein ist, nicht
noch mehr mein werden und deshalb niemand stipuheren kann,
daß ihm eine ihm ohnehin schon gehörige Sache gegeben werde
(L. 82 de v. o., 44, 1; Inst, de actionibus, VI, § 14; Inst,
de legatis, XX, § 10; L. 159 de r. j., 50, 17). Dem wird nun
zunächst die zwingende Folge gegeben, daß, wenn die Sache
zur Zeit der Stipulation eine fremde und die Stipulation also
utilis war, dieselbe, wenn ich inzwischen das Eigentum an
der Sache erlange, hierdurch faktisch rückwirkend vernichtet
wird (Inst, de inutil. stipulat, XIX, § 2). Es war nur eine
weitere Anwendung jener Regel, daß der Eigentümer der Sache
den Nießbrauch nicht besonders erlangen kann (L. 5 Si usufr.
pet., VII, 6 u. a. a. St.). Dem gab man die zwingende Folge,
daß das frühere Legat des Nießbrauches an einer Sache durch
den späteren Erwerb des Eigentumes an derselben durch den
Legatar vernichtet werde, und Julian hält dies mit Recht so
fest, daß, wenn mir der Nießbrauch an einem Grundstück pure
vermacht ist, das nackte Eigentum an demselben aber sub
conditione dem Titius, und ich während der hängigen Bedingung
das Eigentum erwerbe, darauf aber die Bedingung eintritt, Titius
jetzt nicht nur das nackte Eigentum, sondern Eigentum und
Nießbrauch am Grundstück haben will, weil mein Nießbrauchs-
recht durch den Erwerb des Eigentums einmal zugrunde ge-
gangen ist und Titius also, da der Nießbrauch nicht mehr vom
Eigentum getrennt ist. dasselbe als volles Eigentum erwirbt.
423
tin. Es war bis dahin erlaubt, eine Sache dem Gläubiger
mit der Verabredung zu verpfänden, daß sie ihm, wenn
er nicht bis zu einer bestimmten Zeit befriedigt sei, zum
Eigentum verfallen sein solle. Konstantin verbot diese
„asperitas", von der er dabei selbst sagt, daß sie mehr
als andere zu Beraubungen Anlaß gab, und zwar so, daß
dies Verbot auch die bereits getätigten Pfandverträge
dieser Art infirmieren sollte1). Es kann nicht wunder-
nehmen, wenn Savigny (VIII, 423) und überhaupt alle,
welche in bezug auf das besprochene Zinsgesetz der von
uns widerlegten Meinung sind, hierin gleichfalls eine Aus-
nahme und eine Verletzung der Grundsätze erblicken2).
Wenn es aber leicht möglich ist, die Kaiserkonstitu-
tionen der Eigentümlichkeit und Willkürlichkeit beschul-
digen zu wollen3), oder besondere faktische Umstände und
x) L. 3 C. de pactis pignor. (8, 35) : „Quoniam ihter alias
captiones praecipue commissoriae pignorum legis crescerit aspe-
ritas, placet infirmari eam, et in posterum oranem ejus memo-
riam aboleri. Si quis igitar (dies igitur führt das Nachfolgende
als eine selbstredende Konsequenz des infimari ein, nicht als
eine zusätzliche Ausnahme) tali contractu laborat, hac
sanctione respiret, quae cum praeteritis praesentia quoque repellit
et futura prohibet. Creditores enim, re amissa, jubemus recu-
perare, quod dederunt."
2) In welcher Hinsicht man aber mit Recht — je nachdem
man das Gesetz interpretiert — in demselben eine Rückwirkung
finden könnte, werden wir im folgenden Paragraphen sehen.
8) Ein flagrant rückwirkendes Gesetz ist z. B. die L. 23
C de SS. eccl. (1, 2), durch welche Justinian den Kirchen
und frommen Stiftungen das Privilegium erteilt, daß erst in
hundert Jahren (statt in dreißig) Verjährung ihrer Klagrechte
eintreten solle. Denn am Ende dieses Gesetzes sagt Justinian :
,,Haec autem omnia observari sancimus in iis casibus qui vel
postea fuerint nati, vel jam in Judicium deducti sunt." Merk-
würdigerweise ist es gerade diese Verleihung der hundertjähri-
424
Rücksichten statt Rechtsregeln als den Grund ihrer Ver-
anlassung anzusehen, so wird diese Auflassung doch bei
den Juristenentscheidungen des Pandektenrechtes von
selbst nicht möglich sein.
Wenn es daher gelänge, das von uns entwickelte
Prinzip als Grundsatz des Pandektenrechtes
nachzuweisen, so würden wir demselben die letzte und
vollständigste Sicherstellung gegeben haben,
welche überhaupt denkbar ist.
Und obgleich die Pandekten auf den ersten Blick nir-
gends eine Entscheidung über das enthalten, was bei einer
Veränderung im Gesetze einzutreten habe, wie min-
destens bisher von allen Autoren stets angenommen1) und
häufig beklagt wurde, wird es, so paradox diese Ver-
sicherung zunächst erscheinen mag, nichtsdestoweniger ge-
lingen, diesen Nachweis mit vollster Evidenz zu erbringen !
Und sicherlich wird derselbe der Mühe seiner Führung
lohnen.
Wir müssen zu diesem Zweck zuvörderst einen Blick
auf das sehr analoge Prinzip werfen, welches die Pan-
dekten für faktische Veränderungen bei Vertragsverhält-
nissen aufstellen. Dasselbe lautet nun bekanntlich in ganz
allgemeiner Fassung und in sehr zahlreichen Stellen dahin,
daß bei Verträgen immer auf den Anfang zu sehen sei
(ad initium spectandum) oder auf die Zeit, wo wir
gen Verjährung an die Kirchen, welche Procopius als einen
speziellen Fall für seine Behauptung anführt, daß sich Ju-
stinian durch Bestechung habe zu dem Erlaß von Gesetzen
bewegen lassen (Anecdot., c. 28 und c 13, 14 ib.). War das
Gesetz selbst ein erkauftes, so ging dann natürlich auch die
Rückwirkung um so leichter mit in einem hin.
*) Das Gesetz des Theodosius gilt daher als die älteste
Entscheidung des römischen Rechtes hierüber, siehe Savigny.
VIII, 392, 394.
425
kontrahieren (tempus quo contrahimus) 1). Oder wie
z.B. der Kaiser Alexander dasselbe ausdrückt2) :
„Id quidem, quod jure gestum est, revocari non potest."
Es erhellt von selbst, daß, so oft vor oder nach Sa-
vigny der Grundsatz desselben ausgesprochen wurde, daß
eine Veränderung in der Gesetzgebung auf die be-
stehenden Verträge nicht influieren könne, vielmehr „das
Recht eines Vertrages stets nach dem Gesetz, welches
zur Zeit des geschlossenen Vertrages bestand", zu be-
urteilen sei, dies immer, bewußt oder unbewußt, eine
analoge Anwendung desselben Gedankens war, welchen die
Pandekten für den Fall tatsächlicher Veränderungen
bei Vertragsverhältnissen feststellen.
Allein diesem Prinzip diametral gegenüber finden wir
in den Pandekten auch bereits das direkt entgegengesetzte
Prinzip, welches uns Marcellus in folgender Weise be-
richtet3) :
,, — — et maxime secundum illorum opinionem qui
etiam ac quae recte constiterunt resolvi putant, quum
In eum casum incidemnt, a quo non potuissent consi-
stere."
Aus den Worten, mit welchen Marcellus diesen Grund-
satz anführt (secundum illorum opinionem qui putant) er-
gibt sich bereits, daß derselbe — in dieser abstrakten Form
— auf starken Widerstand gestoßen haben müsse, und
1) Siehe z. B. Ulpian und Labeo in der L. 8 mandati
(17, 1) praef. : ,, — uniuscujusque enim contractus initium spec-
tandum et causam." Paulus in der L. 78 de v. o. (44, 1):
. . . ,quia in stipulationibus id tempus spectatur, quo contra-
himus." Julian in der L. 58 pro socio (17, 2): ,,. . .initium
enim in his contractibus respiciendum" usw.
2) L. 3 C. de confirm. tutor. (5, 29).
8) L. 98 de v. o. (45, 1).
426
Paulus scheint ihn geradezu zu leugnen in seinem Aus-
spruch1) :
,,Non est novum, ut, quae semel utiliter constituta sunt,
durent, licet ille casus exstiterit, a quo initium coepere
non potuerunt"
Allein derselbe Paulus klärt uns anderwärts weit rich-
tiger darüber auf, welches der wahre Sinn und Umfang
dieses Widerspruches sei2):
,,Etsi placeat, extingui obligationem, si in eum casum
inciderit, a quo incipere non potest, non tarnen hoc in
omnibus verum est"
Und in der Tat verfährt er geeigneten Ortes ebensowohl
nach dieser Regel3), wie Marcellus in der zuerst be-
zogenen Stelle. —
Nicht weniger bringt Modestinus dieselbe in An-
wendung4) :
„Et ideo si quis fundum habens viam stipuletur et par-
tem fundi sui postea alienet, corrumpit stipulationem in
eum casum deducendo, a quo stipulatio incipere non
possit."
Ganz ebenso bestimmt wie Modestinus äußert sich
Marcian darüber :
„Item si servo alieno quid legatum fuerit, et postea a
testatore redemtus sit, legatum extinguitur ; nam quae
in eam causam pervenerunt, a qua incipere non poterant,
pro non scriptis habentur*)."
a) L. 85, § 1, de reg. jur. (50, 17).
2) L. 140, § 2, de v. o. (45, 1).
3) Z.B. L. 136, § 1, de v. o. (45, 1): „Si, qui viam
ad fundum suum dari stipulatus fuerit, postea fundum par-
temve ejus ante constitutam servitutem alienaverit, evanescit
stipulatio.
*) L. 11 de Servitut. (8, 1).
r>) L. 3 de his quae pro non scriptis (34, 8).
427
Und derselbe nochmals anderwärts :
,, — quia in eum casum res pervenit, a quo incipere non
potest1)."
und zwar tritt hier dies Prinzip nur als der Grund auf
für eine in der unmittelbar vorhergehenden L. 15 daselbst
gegebene Entscheidung Ulpians. Dieser verfährt übrigens
gleichfalls ganz ausdrücklich nach demselben2) :
,,Si a me fuerit arrogatus, qui mecum erat litem con-
testatus, vel cum quo ego, solvi Judicium Marcellus libro
tertio Digestorum scribit, quoniam nee ab initio inier
nos potuit consistere."
Es erhellt hieraus also, daß, wie ohnehin von selbst
klar gewesen wäre, der Einspruch sich nur gegen die
Allgemeinheit der Regel, nicht aber gegen das Platz-
greifen derselben in gewissen konkreten Fällen richtet und
richten läßt. Wenn sie aber nur in irgendwelchen
Fällen richtig ist, so folgt schon hieraus, daß auch die
erste ihr entgegengesetzte Regel, wenn sie auch
quantitativ häufiger zur Anwendung zu kommen hat, doch
ebensowenig Anspruch auf absolute Wahrheit hat,
als die ihr gegenüberstehende zweite ; daß beide vielmehr
ebenso wahr als falsch sind, was darauf beruht, daß beide
dem wahrhaften Begriffe entflossen sind und Momente
desselben darstellen, keine von beiden aber ihn in seiner
Totalität in sich enthält3).
1) L. 16 ad L. Aquil. (9, 2).
2) L. 11 de judic. (5, 1). Vgl. endlich § 6, Inst, de nox.
act. (4, 8) : „Unde si alienus servus noxam tibi commiserit,
et is postea in potestate tua esse coeperit, intereidit actio quia
in eum casum, dedueta sit, in quo consistere non potuit.
3) Es ist überhaupt der abstrakten Form der Regel ganz
unmöglich, den Begriff in dem wahrhaften Reichtum seiner
Bestimmungen und der Einheit seiner Momente in sich zu
428
Auch dieser zweite Grundsatz — dieser also, daß der
Vertrag hinfällig wird, wenn ein solcher Fall eintritt, in
welchem der Vertrag, falls er nicht geschlossen wäre, auch
gar nicht mehr geschlossen werden dürfte — ist in den
Pandekten zunächst nur in Hinsicht auf faktischeVer-
änderungen aufgestellt.
Gleichwohl müssen wir unsere volle Verwunderung aus-
sprechen, daß noch niemand daran gedacht hat, bei der
Bearbeitung unserer Materie auch auf dies letztere Pan-
dektenpnnzip zurückzugehen und es ebenso in analoger
Weise — also mit Berücksichtigung des Unterschiedes
der etwa zwischen faktischen und rechtlichen Ver-
änderungen stattfindet - auf die Einwirkung neuer Ge-
setze auf Verträge anzuwenden, wie sich die Lehre, daß
beim Rechts Wechsel der Vertrag immer nur nach dem Ge-
setz zur Zeit seiner Schließung zu beurteilen sei, von
selbst als die analoge Anwendung jenes ersten, gleichfalls
für faktische Änderungen gegebenen Pandektenprinzipes
darstellt.
Und diese Verwunderung ist um so legitimer, als nicht
nur die Analogie, welche überhaupt innerhalb gewisser
fassen. Die Regel kann — als abstrakte Verstandeslätigkeit -
immer nur das eine der begrifflichen Momente scharf her-
ausheben und isolieren. Hierauf beruht die allgemeine Erschei-
nung, daß die Regeln, die in den Pandekten aufgestellt werden,
so häufig höchst bedenklicher und irreleitender Natur, die da-
nach gegebenen konkreten Entscheidungen aber richtig sind.
Es ist nur das Einverständnis des Verstandes, daß er den
Begriff, unter dessen treibender Tätigkeit er arbeitet, nie in
seiner adäquaten Reinheit herauszuringen vermag, welches sich
in den Worten des Paulus ausspricht : ,,Non ex regula jus
sumatur, sed ex jure quod est. regula fiat" (L. 1 de r. j. 50.
17), oder in dem bekannten ..Omnis defimtio in jure civili
periculosa" (L. 202 de r. j.).
429
Grenzen zwischen faktischen und rechtlichen Verände-
rungen stattfindet, ganz einleuchtend, sondern auch ganz
anerkannt ist, und Savigny, wie bereits Bergmann und
andere vor ihm, gerade auf diese Analogie ihre
ganze Lehre über den Einfluß des Gesetzwechsels auf
das Erbrecht gründen, indem sie bei Gesetzes Verände-
rungen zwischen Testament und Tod, Tod ab intestato
und Erbanfall usw., fast überall dieselben Regeln zur
Anwendung bringen, die nach römischer Lehre bei Ände-
rungen in den tatsächlichen Verhältnissen zwischen
Testament und Tod usw. eintreten, und gerade durch diese
Übertragung, und sich direkt auf sie gründend, ihre Re-
sultate gewinnen. (Vgl. Savigny, VIII, 450 fg., 461 fg.,
484fg., 488fg.)
Und sicherlich hätte man jenes zweite von Marcellus,
Paulus, Marcianus, Modestinus und Ulpian bekundete Prin-
zip ebensosehr analog auf den Fall von Veränderungen in
der Gesetzgebung angewendet, wie man dies bewußt und
ausdrücklich mit den erbrechtlichen Bestimmungen, wie
man es in der allgemein gültigsten Weise und häufig selbst
ganz unbewußt mit dem ihm entgegenstehenden Prinzip
über die bei faktischen Veränderungen allein in Betracht
kommende Zeit der Vertragschließung getan, so würde
man gerade hierdurch letzteres von seiner Einseitigkeit ge-
reinigt haben, und dadurch zu der ganzen und vollen be-
grifflichen Wahrheit und — wie für jeden, dem dies noch
nicht von selbst einleuchtet, vorläufig als bloße Vermutung
ausgesprochen sein mag — ganz zu der Theorie über
die Einwirkung von Prohibitivgesetzen auf Verträge ge-
kommen sein, die wir im vorstehenden entwickelt
haben!
Allein um diese analoge Übertragung vornehmen zu
können, hätte man zuvor innerhalb des Kreises bloß
430
faktischer Veränderungen klar die allgemeinen Be-
dingungen feststellen müssen, unter welchen jedes-
mal das zweite Prinzip zur Anwendung zu kommen hat
oder nicht, und also folgeweise das erste platzgreifen
muß. Das heißt, man hätte beide Grundsätze in ihrem
sich gegenseitig ergänzenden begrifflichen Verhältnis
zueinander erkennen müssen. Daß sich das zweite Prin-
zip, wegen seiner quantitativ weniger häufigen Anwend-
barkeit, zu dem ersten wie die Ausnahme zur Regel ver-
halte, — mit einer solchen Erklärung ist natürlich die
Sache weder erkannt noch irgendwie von der Stelle ge-
bracht. Denn es handelt sich dann nach wie vor darum :
die begriffliche Bestimmung zu treffen, wo jedesmal die
sogenannte eigentliche Regel und wo die Ausnahme-
regel zur Anwendung kommen müsse. Aber gerade eben
an diesem ersten Erfordernis fehlte es bisher. Umsonst
versuchte J. Gothofredus1) diese Aufgabe zu lösen, und
im Grunde ganz ebensowenig ist dies dem Italiener Ave-
ranius gelungen, welcher ihr einige Kapitel seiner Inter-
pretationes Juris gewidmet hat2).
Wir beabsichtigen inzwischen unsererseits nicht, uns
dieser Aufgabe hier in direkterer Weise zu unterziehen,
als durch die Elemente von selbst geschehen ist, die im
vorstehenden für dieselbe bereits geliefert sind und im
Verlauf noch geliefert werden sollen. Wir beabsichtigen
dies nicht, weil einmal hierzu, für so lösbar wir diese
Aufgabe halten und so sehr die Lösung derselben in
dem bisherigen und ferneren Inhalt dieses Paragraphen,
sowie in dem des § 10 an sich bereits vollbracht
!) Im Tit. de r. j., L. 85, § 1.
2) Jos. Averanius, Interprett. Juris, Üb. IV, c 20 — 26,
3. Ausg. (Leyden 1753), II, 764-841.
431
sein dürft1)- Zl> ihrer Heraushebung eine beson-
dere Zusammenstellung erforderlich wäre, deren wir, wie
sich bald zeigen wird, für unseren Zweck zunächst nicht
mehr benötigt sind, und ferner, weil selbst das Resultat
einer solchen Nachweisung, als nur für Veränderungen in
den tatsächlichen Verhältnissen maßgebend, noch nicht
ohne weiteres auf die Veränderungen in der Gesetz-
gebung zu übertragen wäre. Denn so weit wir davon
entfernt sind, jede Analogie zwischen diesen beiden Arten
von Veränderungen zu leugnen, so wenig findet doch
Identität zwischen beiden statt, oder vielmehr es findet
Identität und Unterschied zugleich statt, und beide
würden durch eine neue Entwickelung erst wieder sehr
sorgfältig auseinander zu halten sein. Wir werden in dieser
Hinsicht später sehen (in den Anwendungen, Nr. VI), daß
Savigny zu vielen irrigen Resultaten beim Erbrecht eben
dadurch gelangt, daß er den bestimmten Unterschied
der begrifflichen und rechtlichen Wirkungen, welche
den tatsächlichen und gesetzlichen Veränderungen zu-
kommen, sich nicht entwickelt, und beide, wie dies bei
der unklaren Kategorie der „Analogie" stets widerfährt,
als analog behandelt hat in Punkten, in welchen sie durch-
aus begrifflich auseinandergehen.
1) Und freilich muß diese Lösung auch durch unsere Ar-
beit vollbracht sein. Denn der Gedanke, warum und inwiefern
der Rechts Wechsel frühere Rechtsverhältnisse aufheben kann,
ist mit der Frage, warum tatsächliche Veränderung dies
nicht vermag und wo auch sie es vermag, innerlich so
konnexer Natur, daß sich der erste gar nicht aus seiner
spekulativen Tiefe entwickeln läßt, ohne durch das hieraus
über die innerste Gedankennatur des Rechtes sich
ergießende Licht auch die zweite Frage und ihre
begrifflichen Unterschiede in vollkommene Helle ge-
stellt zu haben.
432
Diesen begrifflichen Unterschied zu entwickeln, welcher
den Wirkungen tatsächlicher und rechtlicher Ver-
änderungen zukommt und die Rechtsverschiedenheit dieser
Wirkungen bestimmt, halten wir nun allerdings für eine
unabweisbare Aufgabe eines jeden, der unsere Materie
gründlich zu lösen beabsichtigt. Und so wenig einer un-
serer Vorgänger auch nur den Versuch dazu gemacht hat,
so werden wir dennoch in § 10 genötigt sein, diesen Unter-
schied aus seiner begrifflichen Tiefe heraus zu entwickeln.
— Allein gegenwärtig ist dies noch nicht erforderlich.
Denn die Pandekten enthalten — und ebendes-
halb ist es für unseren jetzigen Zweck völlig überflüssig,
die bezeichneten Erörterungen hier vorzunehmen — - in den
Entscheidungen, welche sie unter der Einwirkung des
zweiten Prinzipes von der nachträglichen Hinfälligkeit
der Obligationen geben, mindestens einige Fälle,
in welchen die eingetretene Veränderung nur
ganz scheinbar einen Wechsel in den tatsäch-
lichen Verhältnissen, in Wahrheit aber einen
Wechselinden rechtlichen Verhältnissen, eine
Veränderung in der Gesetzgebung darstellt!
Wenn eine Sache verkauft wurde und nach abgeschlos-
senem Verkauf, aber noch ehe die Tradition an den Käufer
erfolgte, ohne die Schuld des Verkäufers in irgendeiner
Weise zugrunde ging, so bleibt nach römischer Lehre der
Verkauf bestehen und der Verkäufer1) hat das Recht,
den verabredeten Kaufpreis vom Käufer zu fordern. Die
Sache ist auf Gefahr des Käufers zugrunde gegangen, ohne
daß dadurch der Verkaufsvertrag entkräftet wird.
1) Denn er hat den Käufer in obligatione, und diese obligatio
ist nicht zugrunde gegangen.
28 Lawalle. G«. Schriften. Band IX. 433
Die Institutionen enthalten diese Lehre auf das aus-
drücklichste1) :
„Quum autem emtio et venditio contracta sit (quod
effici diximus simulatque de pretio convenerit, quum
sine scriptura res agitur) periculum rei venditae statim
ad emtorem pertinet, tametsi adhuc ea res emtori tra-
dita non sit. Itaque si homo mortuus sit vel aliqua
parte corporis laesus fuerit, aut aedes totae vel aliqua
ex parte incendio consumatae fuennt, aut fundus vi
fluminis totus vel aliqua ex parte ablatus sit, sive
etiam inundatione aquae aut arboribus turbine dejectis
longe minor aut deterior esse coeperit ; emtoris dam-
num est, cui necesse est licet rem non fuerit nactus, pre-
tium solvere; quidqiiid enim sine dolo et culpa vendi-
toris accidit, in eo venditor securus est."
Ebenso bestimmt wird diese Lehre in den Entscheidungen
der Pandekten vorgetragen, z. B. von Julianus 2) :
,,Mortuo autem nomine perinde habenda est venditio,
ac si traditus fuisset, utpote quum venditor liberetur
et emtori homo pereat ; quare, nisi justa conventio inter-
venerit, actiones ex emto et vendito manebunt"
und von anderen3).
In allen diesen Fällen des Unterganges bestand der-
selbe in dem Eintreten einer Veränderung in den tat-
*) Inst. § 3 de emtione et venditione (3, 23).
2) L. 5, § 2 de rescind. vendit. (18, 5).
3) Paulus in der L. 21 de heredit. vel act. vend. (18, 4).
Celsus in der L. 16 de condictione causa data c. n. s. (12,
4), der nicht beim Verkaufskontrakt, sondern nur bei der
Obligation ob rem datam non secutam ein anderes annehmen
will, und endlich die Verordnung der Kaiser Diocletian und
Maximinian L. ult. C. de pericul. et comm. rei vend. (4, 48).
434
sächlichen Verhältnissen der Sache. Er war rein fak-
tischer Natur. Diese Veränderung berührt also den
gültigen Fortbestand des Kontraktes nicht.
Wie aber, wenn eine verkaufte Sache vor der Tradition
- — und zwar ohne Schuld des Verkäufers — extra com-
mercium erklärt worden ist? Wenn also ein Grund -
stück publiziert worden, oder eine Sache zur res sacra
vel religiosa erklärt worden, oder ein fremder Sklave, den
ich verkauft habe, freigelassen worden ist ?
Konstatieren wir zunächst, daß diese Art von Ver-
änderung keine bloß faktische mehr ist, sondern
eine solche nur scheinbar, in der Tat aber eine Verände-
rung rechtlicher Natur, eine Veränderung in der die
Sache betreffenden Gesetzgebung darstellt.
Veränderung in der Gesetzgebung besteht bekanntlich,
zum Unterschied von der faktischen Veränderung, darin,
daß, während die Sache in ihren tatsächlichen Ver-
hältnissen dieselbe geblieben, nur die Rechtsregel,
unter welche sie zu subsumieren ist, eine an-
dere geworden ist.
In der Tat ist es dies, was in jenen Fällen vorliegt. Das
ihnen anklebende Moment faktischer Veränderung
besteht lediglich darin, daß hier für eine individuell -
bestimmte Sache1) eine neue Rechtsregel erlassen,
respektive jene Sache unter eine andere Rechtsregel als
ihre bisherige subsumiert worden ist. Diese Veränderung
hat somit nur die Natur einer lex specialis, die für eine
x) Der für den gegenwärtigen Zweck noch gleichgültige he
griff liehe Unterschied zwischen dem durch faktische Mo-
mente vermittelten Rechts Wechsel und dem reinen
Rechtswechsel wird gleichfalls im § 10 zu seiner Entwicklung
gelangen.
28* 435
individuell-bestimmte Sache erlassen worden ist, aber
immerhin also die Natur einer legalen Veränderung.
Für die gegenwärtige Frage ist es schlechthin gleichgültig,
ob ein bestimmter Garten oder ein gewisser Stichus unter
ein neues Gesetz fällt, weil für das ganze Genus,
unter welches auch dieser bestimmte Garten und dieser
bestimmte Stichus fällt, ein neues Gesetz verkündet wor-
den, oder weil nur für diesen bestimmten Garten
und diesen bestimmten Stichus ein solches erlassen
worden ist. — Es ist für die uns hier beschäftigende
Frage ebenso schlechthin gleichgültig, ob das neue Gesetz
eine solche Rechtsregel ist, die bisher noch gar nicht be-
stand, oder die bisher zwar schon bestand, aber nicht für
diese bestimmten Objekte bestand, die jetzt unter
sie subsumiert werden. Die römischen Juristen behandeln
es daher in ihren bald anzuführenden Aussprüchen mit
Recht als ganz auf derselben Linie stehend, ob ein Sklave
von seinem Herrn freigelassen oder ob „lege aliqua" eine
Sache saknert oder ein Grundstück publiziert oder ein
Sklave freigelassen worden sei usw. Und ebensowenig
wird jemand bezweifeln können, daß die Entscheidungen,
welche sie für diese Fälle geben, notwendig dieselben
bleiben müßten, wenn alle Gärten dieser Art publiziert,
alle Sachen dieser Gattung zu res sacrae vel religiosae
gemacht, alle Sklaven dieser Beschaffenheit oder alle
Sklaven überhaupt freigegeben würden und diese indivi-
duellen Objekte nun um des Genus willen, dem sie an-
gehören, unter ihren neuen Rechtszustand zu subsumieren
wären.
Am klarsten und einfachsten tritt aber die Wahrheit des
Gesagten z. B. daran hervor, daß eine Sache zu einer res
sacra bekanntlich immer nur durch ein besonderes
Gesetz gemacht werden konnte: Sed sacrum quidem
436
solum existimatur auctoritate populi Romani fieri ; con-
secratur enim lege de ea re lata aut senatusconsulto facto x).
So viel ist also hierdurch klar bewiesen, daß die Pan-
dekten, wie man merkwürdigerweise stets unbeachtet ge-
lassen hat, in den angegebenen Fällen gerade solche Fälle
setzen und entscheiden, in denen zwischen der Ab-
schließung des Vertrages und seiner Erfüllung
ein Wechsel in dem die Sache regierenden Ge-
setze eingetreten ist.
Und wie entscheiden sie nun die in Rede stehenden
Fälle?
Sie entscheiden sie auf das bestimmteste dahin, daß,
wenn die Sache zwischen Verkauf und Tradition zu einer
res sacra vel religiosa oder publiziert worden ist, im
strikten Gegensatz zu dem, was für den Fall ihres fak-
tischen Unterganges in diesem Zeitraum gilt, der Käufer
weder die Sache, noch der Verkäufer den Kauf-
preis fordern, ersterer vielmehr diesen, wenn er schon
gezahlt ist, zurückverlangen kann; daß also hier
durch die inzwischen eingetretene Erklärung der Sache zu
einer res extra commercium der Vertrag selbst nach-
träglich hinfällig und ungültig wird.
So Paulus2) :
„Sacram vel religiosam rem, vel usibus publicis in per-
petuum relictam — — — inutiliter stipulor, quamvis
sacra profana fieri, et usibus publicis relicta in pri-
vatos usus reverti et ex libero servus fieri potest. Nam
et quum quis rem profanam aut Stichum dari promisit.
1) Gajus, II, § 5. -- L. 6, § 3; L. 9 de div. rcr. (1, 8);
Inst., II, 1, § 8; Festus v. Sacer mons, ed. O. Müller, p. 318,
321, und Aelius Gallus daselbst.
2) L. 83, § 5, de v. o. (45, 1). ,
437
liberatur, si sine facto ejus res sacra esse coeperlt aut
Stichus ad libertatetn pervenerit."
Und so vernichtet ist dann die Obligation, daß sie nicht
wieder auflebt, wenn durch ein anderes Gesetz die
Sache wieder profan, oder wenn Stichus wieder zum
Sklaven geworden, wie Paulus daselbst ausdrücklich weiter
erklärt :
,,Nec revocantur in obligationem, si rursus lege aliqua
et res sacra profana esse coeperit, et Stichus ex libero
servus effectas sit, quoniam una atque eadem causa et
liberandi et obligandi esset, quot aut dari non possit
aut dari possit."
Es zeigt sich also hieran, daß nicht bloß wegen der fak-
tischen Unmöglichkeit die Ausführung der Obligation
fortfällt, weil diese dann nur bis zur wiedereingetretenen
Möglichkeit sistiert sein müßte1), sondern daß die Exi-
stenz der Obligation selbst vernichtet wird.
Ebenso bestimmt lehrt dies Africanus für den Fall, daß
ein verkauftes Grundstück vor der Übergabe publiziert
wird, und fügt noch hinzu, daß auch der schon ge-
zahlte Kaufpreis dann zurückgezahlt werden
muß2): : i
1) Was, wenn die Unmöglichkeit aus bloß faktischen
Gründen eintritt, in der Tat der Fall ist, wie Paulus dies da-
selbst von dem Schiff lehrt, welches, nach der Obligation von
seinem Eigentümer auseinandergenommen, dann aber aus den-
selben Balken wieder zusammengesetzt worden ist, wodurch
die Verpflichtung wieder fortwirkt. Am deutlichsten setzt diesen
Unterschied Paulus in derL. 98, §8, de solut. (46,3) auseinander:
,,. . . Nee simili argumento usus est, ut si navem, quam tu
promisisti, dominus dissolverit, deinde iisdem tabulis compegerit,
teneri te ; hie enim eadem navis, quam te daturam spopondisti,
ut videatur inagis obligatio cessare, quam extineta esse."
3) L. 33 locati cond. (19, 2).
438
,,. . . nam et si vendideris mihi fundum, isque, prius-
quam vacuus traderetur, publicatus fuerit, tenearis ex
emto. Quod hactenus verum sit, ut pretiutn restltuas,
non ut etiam id praestes, si quid pluris mea intersit1),
eum vacuum mihi tradi",
worauf Africanus denselben Grundsatz auch auf den Miets-
vertrag anwendet2).
*) Es soll also nur der Kaufpreis restituiert und, wenn dieser
noch nicht gezahlt ist, überhaupt nichts aus dem Vertrage ge-
leistet werden. Der Vertrag ist also aufgelöst. — Wenn ich
dagegen unwissend Grundstücke gekauft habe, die schon zur
Zeit des Kaufes publiziert waren, so habe ich allerdings
durch die actio ex emto den Anspruch, daß mir das Inter-
esse geleistet werde. Vgl. Modestinus in der L. 62, § 1,
de contrah. empt. (18, 1): ,,Qui nesciens loca sacra vel reli-
giosa, vel publica pro privatis comparavit, licet emtio non
teneat, ex emto tarnen adversus venditorem experietur, ut conse-
quatur quod interfuit ejus, ne deciperetur." Ebenso Inst. § 5
de emption. vendit. (3, 23). Hier bleibt also die Obligation
als solche bestehen und löst sich nur in die noch mögliche
Art ihrer Erfüllung auf.
3) Diese Stelle des Africanus mußte bisher stets mißver-
standen werden und hat deshalb seit jeher und bis auf den
heutigen Tag das Kreuz der römischen Juristen ausgemacht,
die sich bei der Behandlung des Titels : de periculo et com-
modo rei venditae nutzlos an ihr zermartert haben ! Cujaz wurde
durch sie verführt, statt der herrschenden und gar keinem Zweifel
unterworfenen Lehre, daß mit dem Kaufkontrakt die Gefahr
auf den Käufer übergehe, das Gegenteil derselben aufzustellen
(Tract. VIII ad Africanum in L. 23 D. Locati. Opp. I. 1479.
und Observ. XXIII, c. 29), ist aber später von diesem großen
Irrtum zurückgekommen (Comm. ad Paul, ad Edict., lib. 33,
1. 8, de per. et commodo, Opp. V, 513), ohne die Stelle des
Africanus damit versöhnen zu können. Die äußerst verunglück-
ten Erklärungen von etwa zweihundert anderen großen Rechts-
gelehrten kann man bei Glück, Pandekten, XVII, 133—143,
439
Und an einer anderen Stelle gibt Paulus nicht nur hin-
sichts des freigewordenen Sklaven nochmals dieselbe Ent-
scheidung, sondern bezeugt es auch ausdrücklich
als die allgemein anerkannte Lehre, daß, wenn
nachlesen. „Der bescheidenere Teil der Rechtsgelehrten," sagt
Glück, „gesteht zwar, daß Africanus im Falle der Publi-
kation der verkauften Sache von der oben angegebenen Regel
des Zivilrechtes abgewichen sei ; warum aber ? davon lasse sich
kein befriedigender Grund angeben." Und so steht die Sache
bis heute. So sagt z. B. Vangerow, Pandekten (Marburg 1852),
III, 217: „Bei dem Kaufkontrakte wird in einer Reihe
von Stellen völlig unzweideutig und bestimmt der Grundsatz
ausgesprochen, daß mit dem Augenblick der Perfektion die
Gefahr auf den Käufer übergehe, d.h., daß, wenn die Ware
kasuell zugrunde gehe, der Käufer dennoch den versprochenen
Kaufpreis dafür zu entrichten habe," worauf er dann, als „einige
Bedenklichkeit" dagegen erregend, die Stelle des Africanus
anführt. Diese angebliche Bedenklichkeit will er dann damit
wieder beseitigen: bei dieser Stelle „müsse wohl voraus-
gesetzt (!!) werden, daß der Grund der Konfiskation schon
vor die Zeit des Kontraktes fällt (!!!), so daß die
Sache als eine vitiöse erscheint , und deshalb kein Anspruch
auf den Kaufpreis begründet ist." Diese Erklärung rührt schon
von Voet her ; ehe man aber auf so überaus gewalttätige
Weise eine Stelle gegen ihren offenbaren Sinn und
Buchstabenlaut auslegt, sowie gegen alle Gesetze kriti-
scher Interpretation, welche nicht erlauben, daß man die Schwie-
rigkeit und das Interesse einer Stelle durch verflachende Vor-
aussetzungen los zu werden sucht, ist es besser, sich, wie
Glück sagt, zu dem bescheideneren Teile zu stellen und ein-
zugestehen, daß die Sache vorab nicht zu begreifen sei.
Verstanden aber konnte bisher die Stelle nicht werden, da
man jene ganze oben entwickelte Theorie der Pandekten über-
sehen hatte. Mit derselben erweist sich nun die Entscheidung
des Africanus als notwendig und als ganz identisch mit
den anderen oben angeführten Parallelstellen, andererseits zu-
gleich als der Lehre de periculo et commodo rei venditae
440
derselbe durch ein neues Gesetz wieder zum Sklaven wird,
die Obligation dadurch nicht wiederauflebt1):
,,. . . Respondi, si alienum hominem promisi, et is a
domino manumissus est, liberor. Nee admissum est
quod Celsus alt, si idem rursus lege aliqua servus
effeetas sit, peti eum posse, in perpetuum enim sublata
obligatio restitui non posse, et si servus effectus sit,
alius videtur esse.
In allen diesen Fällen wird also die Obligation gänz-
lich vernichtet2).
Alle diese Fälle beruhen, wie bereits hervorgehoben
ist, auf der gemeinschaftlichen Achse, daß die Sache,
welche Gegenstand der Obligation war, nicht faktisch zu-
grunde ging, sondern extra commercium erklärt wor-
den ist.
Unter den res extra commercium verstanden aber
die Römer bekanntlich nichts anderes als solche
Sachen, welche der Unterwerfung unter die Herr-
durchaus nicht entgegenstehend, weil die Sache eben nicht fak-
tisch untergegangen, sondern extra commercium erklärt wor-
den ist. Das Eigentum an derselben war, da die Übergabe
noch nicht erfolgt ist, noch nicht übergegangen. Nur ein Ver-
trag bestand in bezug auf dieselbe. Da die Sache extra com-
mercium, d.i. außerhalb der rechtlichen Herrschaft
des Privatwillens erklärt worden ist, und also nicht
mehr Gegenstand desselben sein kann, ist der Vertrag
zerstört und Käufer wie Verkäufer haben nun in bezug
auf die Sache nichts mehr voneinander zu fordern, oder müssen
sich resp. das schon Geleistete herausgeben.
!) L. 98, § 8, de solunt. (46, 3).
2) Ebenso die Schadenersatz-Obligation aus der L. Aquilia ;
s. Ulpians Entscheidung in der L. 15 ad Leg. Aqu. (19, 2).
oben S. 427/428.
441
schaft des individuellen Willens entzog en sind
(und deshalb auch nicht Gegenstand des Verkehres sein
können). Mit anderen Worten : Die res extra commercium
sind bekanntlich ganz identisch mit den res quae extra nostrum
Patrimonium habentur, indem jene Einteilung denselben
Gedanken, die Unfähigkeit einer Sache, in die Eigentums-
sphäre des Privatwillens zu fallen, in bezug auf das Wer-
den, diese in bezug auf das Sein ausspricht1).
Das heißt also: „Wir haben in diesen Pandekten -
entscheidungen nichts anderes vor uns, als die strikte
Anerkennung der in diesem Paragraphen von
uns auf anderem Wege entwickelten Theorie
über die Prohibitivgesetze !
Geht die Sache faktisch unter, so bleibt der Vertrag
bestehen; geht aber nicht die Sache, sondern das Recht
auf dieselbe überhaupt zugrunde, geht dies zu-
grunde, daß ein Rechtsinhalt Eigentum sein, d.h. in
die Herrschaftssphäre des individuellen Wil-
lens hineinfallen darf, so ist der Vertrag
selbst, durch welchen dies Recht erworben,
veräußert, übertragen wird, kaduk, und zwar
ohne weiteres, ohne Anspruch auf Erfüllung,
Entschädigung und Interesseleistung kaduk.
Evanescit obligatio, resolvitur contractus.
Oder, wie wir dies sonst ausgedrückt haben, ist die
Prohibition die totale, daß ein bestimmtes Rechts-
*) Siehe z. B. Boecking, Einleitung in die Pandekten des
römischen Privatrechtes, I, 247: „Den selben Gegensatz, nur
wie jene (die res extra Patrimonium) aus dem Gesichtspunkt
des Habens, sondern aus dem des Erwerbens aufgefaßt,
drückt die Einteilung in res quae in commercio sunt aut quarum
commercium non est aus."
442
objekt oder ein genau qualifiziertes Recht überhaupt nicht
mehr von der Privatperson besessen werden
kann, so sind auch die schon geschehenen Er-
werbungen und Stipulationen eo ipso hinfällig.
Alle Ansprüche auf dies Recht konnten von vornherein
nur erworben werden auf die Dauer seines Be-
stehens1).
x) Hierbei ergibt sich auch noch ein sehr heller, beständiger
Blick in die im Anfang dieses Paragraphen entwickelte Natur
der Prohibitivgesetze. Warum kann ich nach römischem Recht
nicht in gültiger Weise die konditionelle Stipulation
treffen : daß ich den (freien) Stichus liefern werde, wenn er
durch ein anderes Gesetz zu einem Sklaven geworden sein
wird, oder dieses Grundstück, wenn es aus einem sacro vel
rehgioso zu einem profanen geworden sein wird ? Daß ich
es nicht kann, sagt Paulus L. 83 de v. o., § 5 (45, 1) ganz
positiv, und hat sehr recht dabei. Aber die Gründe, die er
dafür angibt, sind, wie alle Gründe in den von uns in
den letzten Erörterungen betrachteten Stellen,
sehr unzureichender und unbeholfener Natur. Er sagt, dies
ginge deshalb nicht, quia nee praesentis tetnporis obligationem
reeipere potest (warum aber? danach wird ja eben gefragt;
diese Antwort ist eine petitio principii) et ea dumtaxat quae
natura sui possibilin sunt, dedueuntur in obligationem. Aber
möglich bleibt ja ein solcher Gesetzwechsel sehr wohl, wie
schon seine Unterstellung durch die römischen Juristen selbst
zeigt; möglich bleibt er ganz ebenso gut, als wie daß der
Herr das auseinander genommene Schiff wieder zusammen-
setzt usw. Der Grund ist, wie bei den letzten Erörterungen
überhaupt, ein spekulativer, und darum fühlen ihn die
römischen Juristen, ohne ihn zutage fördern zu können.
Er ist offenbar folgender : daß ein freier Mensch, ein reli-
giöser Ort usw. verkauft werde, ist prohibiert; d.h. cLis
gesamte Rechtsbewußtsein des Volkes verhält sich aus-
schließend dagegen. Nun ist das Rechtsbewußtscin
des Volkes die alleinige Rechtssubstanz. der einzige
143
Und jetzt erst, wo wir die von uns auf rein begriff-
lichem Wege entwickelte und durch so viele andere Be-
weise belegte Theorie auch als die innerlich den Pan-
dekten zugrunde liegende nachgewiesen und somit
durch die Entscheidungen jener römischen Virtuosen der
formellen Rechtslogik bewährt haben, deren Virtuosität
seitdem nicht wieder ihresgleichen gefunden, halten wir
diese Theorie fortan gegen jeden Versuch wissenschaft-
Boden, in dem alles Recht überhaupt existiert und Wirk-
lichkeit hat (siehe oben S. 306 fg.)- Wenn ich nun die
faktische Absicht habe, diesen Menschen oder diesen Ort später,
wenn das prohibitive Gesetz aufgehoben sein wird, zu ver-
kaufen, und wenn dies seinerzeit auch ganz zulässig sein wird,
wie will ich denn diese faktische Absicht gegenwärtig auf
den Rechtsboden übertragen, so daß sie rechtlich wird
und mich für das spätere Eintreten des durch die Bedingung
bestimmten Falles bindet ?
Ich kann diesen faktischen Willen gar nicht auf den Rechts-
boden übertragen, ihm nicht rechtliche Wirklichkeit darin geben,
weil sich dieser Rechtsboden selbst, das Rechtsbewußtsein des
ganzen Volkes, vorläufig repulsiv dagegen verhält, und na-
türlich ebenso — und noch mehr — zeitweilig repulsiv und
ausschließend gegen die Anschauung, daß der gegenwärtige
zwingende Inhalt seines Bewußtseins nicht mehr der seinige
sein wird.
Meine Stipulation, auch wenn ich sie treffe, bleibt also
eine bloß faktisch naturale Absicht, die gar nicht dazu
gelangt, in die Rechtssphäre übergehen und somit recht-
liches Dasein gewinnen zu können. Weil wegen dieses nega-
tiven Verhaltens der Rechtssphäre zu jener Absicht dieselbe
in keiner Weise irgend in sie einzudringen vermag, sagt Ulpian
sehr richtig : res sacra non recipit aestimationem (L. 9, § 5,
D. de div. rer., 1, 8). Übrigens werden wir später Gelegenheit
haben, den Fall des Paulus weiter zu betrachten und zu sehen,
welcher Unterschiede er fähig ist.
444
licher Anfechtung für vollständig gesichert, und es bleibt
uns zunächst nur noch übrig, in dem folgenden Paragraphen
weitere Konsequenzen derselben zu ziehen.
§ 8. Absolute Gesetze. Exceptio rei in Judicium
deductae und rei judicatae. Unterschied der
obligatorischen und dinglichen Rechte.
Aus dem S. 384 hervorgehobenen Unterschied zwischen
obligatorischen und dinglichen Rechten ergibt sich nun
eine Konsequenz über den verschiedenen Einfluß von
Prohibitivgesetzen auf die exceptio rei in Judicium de-
ductae und die exceptio rei judicatae bei obligatori-
schen Forderungen.
Die obligatorische Forderung empfängt, wie daselbst
bemerkt, ihre bestimmte juristische Natur sowohl aus der
Handlung, auf die sie Anspruch gibt, als aus ihrem
Erwerbsgrund. Ein Gesetz also, welches verfügt, daß
aus einem bestimmten Erwerbungsgrund keine Obligation
mehr solle entspringen dürfen, fällt daher in die erste der
beiden auf S. 381 fg. unterschiedenen Arten von Prohibitiv-
gesetzen. Es zerstört also die zur Zeit bereits vorhandenen
aus diesem Erwerbungsgrund fließenden obligatorischen
Forderungen. Es zerstört sie also notwendig auch dann,
wenn dieselben bereits vor Erlaß des Gesetzes eingeklagt
waren ; denn es reicht nicht hin, daß das Recht im Kläger
am Tage der Klage vorhanden war, es muß auch noch
zur Zeit des Urteils in ihm gegenwärtig sein, um ihm
zugesprochen zu werden1). So wird z. B., wenn auf Ent-
schädigung wegen Schwängerung geklagt ist, diese Forde-
*) Vgl. hierüber Averanius, Interprett. Juris, lib. IV, c. 23,
p. 781 sqq., ed. Lugdun. 1753.
445
rung nicht zuerkannt werden können, wenn während des
Prozesses ein Gesetz erscheint, welches Entschädigungs-
klagen aus diesem Grunde verbietet. Anders dagegen ver-
hält es sich mit der res iudicata. Wenn das Prohibitiv-
gesetz nicht die Handlung, auf welche die Obligation An-
spruch gibt, also das Rechtsobjekt selbst, auf welches
erkannt worden ist, der Unterwerfung unter individuelle
Willensherrschaft entzieht und zu einem solchen macht,
das nicht mehr besessen werden kann; wenn das neue
Prohibitivgesetz vielmehr nur verbietet, daß der Anspruch
auf eine an sich zulässige obligatorische Leistung aus
einem bestimmten Erwerbungsgrund hervorgehe, so
kann dasselbe nur die hängige Klage zerstören, auf das
rechtskräftige Urteil aber in keiner Weise einwirken. Es
wird also in dem angegebenen Fall die schwängerungs-
halber einmal rechtskräftig zuerkannte Entschädigungs-
summe schlechterdings gezahlt werden müssen, wenn auch
vor der Exekution ein jeden Rechtsanspruch wegen
Schwängerung verbietendes Gesetz erscheint.
Der Grund dieses Unterschiedes zwischen der exceptio
rei in Judicium deductae und rei judicatae ist klar. Die
hängige Klage erfordert, daß der Rechtsgrund, aus
welchem mir ein obligatorischer Anspruch zuerkannt wer-
den soll, noch wirksam sein könne. Bei der res iudicata
dagegen kommt es gar nicht mehr auf den ursprüng-
lichen Erwerbungsgrund an, weil das Urteil
eine Novation enthält (s. oben S. 259 und Anm. 1
das.). An die Stelle des früheren Erwerbungsgrundes ist
jetzt ein neuer und selbständiger getreten, das Urteil
selbst. Das Prohibitivgesetz, welches verbietet, daß aus
einem bestimmten Erwerbungsgrunde Ansprüche von an
sich noch ferner zulässiger Natur entspringen, kann also
den Inhaber des Judikat nicht mehr treffen ; denn dieser
446
fordert nicht mehr aus dem ursprünglichen Erwerbungs-
grunde, dessen Bestimmtheit vielmehr in und durch den
neuen Titel zugrunde gegangen ist. Er fordert mit
der actio judicati. Mit anderen Worten : an die Stelle des
qualitativ -bestimmten Erwerbungsgrundes, welcher
jetzt prohibiert ist, ist ein Judikat — und ebenso ein Ver-
gleich — , ein durch Willenshandlung über-
haupt1) konstituiertes Recht getreten. Und da auch das
Objekt, auf welches erkannt worden ist — - Zahlung einer
Geldentschädigung überhaupt — , in dem unterstellten Fall
nicht prohibiert ist, so würde die Anwendung des pro-
hibitiven Gesetzes auf die wegen Schwängerung ergangenen
Urteile oder Vergleiche eine wahre Rückwirkung und Ver-
letzung des durch zulässige individuelle Willensaktion Er-
worbenen darstellen.
Prohibitive Gesetze über obligatorische Forderungen
werden meistens diese Natur haben, sich nur gegen den
Erwerbungsgrund der Obligation zu richten, und wer-
den deshalb die res judicata respektieren müssen.
Gleichwohl sind auch die Fälle nicht selten, in welchen
Gesetze das Objekt von Obligationen prohibieren, d.h.
die bestimmte Handlung, zu deren Forderung die
Obligation berechtigt, für eine solche erklären, auf die ein
Anspruch überhaupt nicht mehr besessen wer-
*) Daher das Prinzip, daß das Urteil wie ein Kontrakt
wirkt; siehe Ulpian und Marcellus in der L. 3, § 11, de
peculio (15, 1): ..... nam sicut in stipulatione contrahitur
ita judicio contrahi proinde non originem judicii speetandam, sed
ipsam judicati velut obligationem" ; Worte, welche die obige Theo
rie auf das ausdrücklichste bestätigen.
Daher auch die Folge, daß die actio judicati stets in per-
sonam geht, wenn auch die ursprüngliche Klage eine ding-
liche war.
447
den kann. In diesem Falle wird also, wie unsere gesamte
bisherige Ent Wickelung gezeigt hat, auch die res iudicata
durch das Prohibitivgesetz notwendig mit aboliert.
Wenn also z. B. unter einer Gesetzgebung auf Erfüllung
von Heiratsversprechen geklagt werden kann und ein rechts-
kräftiges Urteil hierauf ergangen ist, durch ein neues Ge-
setz aber Zwangsanspruch auf Heirat als der persönlichen
Freiheit zuwider abgeschafft wird, so wird hierdurch auch
die res iudicata wirkungslos. Denn Zwangsanspruch auf
Heirat ist jetzt etwas, das nicht mehr besessen wer-
den, vom Individuum gar nicht mehr zu seinem Eigentum
gemacht werden kann, und es greifen daher die Entwicke-
lungen des vorigen Paragraphen platz.
Ebenso wenn ein rechtskräftiges Urteil auf Alimente an
ein uneheliches Kind ergangen ist und ein neues Gesetz
diese Verpflichtung bei unehelichen Kindern aufhebt. Von
jetzt ab wird das Alimentenurteil wirkungslos ; denn das-
selbe ist nicht so abstrakt aufzufassen, als habe es auf
Geldzahlungen im allgemeinen erkannt — in Geld lösen
sich freilich fast alle Ansprüche auf — , sondern in seiner
bestimmten juristischen Natur: es ist auf Leistung
von Alimenten erkannt worden1), auf verwandt-
schaftliche Unterstützung. Das Recht des unehe-
lichen Kindes auf verwandtschaftliche Unterstützung des
Vaters ist aber aufgehoben, es kann somit weder erworben
1) Daß die bestimmte juristische Natur des Anspruches
hier qualifizierend in dem Objekt, auf das erkannt
worden ist, fortlebt und er deshalb also nicht zur Forderung
überhaupt zusammengesunken ist, ist ja unbestreitbar. Darum
können z. B. Alimente für insaisissables und für nicht kom-
pensierbar erklärt werden (Cod. civ., Art. 1293 ; Cod. de
proc, Art. 581). Darum erbt der Erbe des Alimentandus
die Forderung nicht usw.
448
noch weiter besessen werden. Was hier prohibiert ist, ist
nicht bloß der Erwerbungsgrund des Anspruches, son-
dern der bestimmte inhaltliche Anspruch selbst, das Ob-
jekt, auf welches durch das Urteil erkannt worden ist.
Bei dinglichen Rechten kann der in diesem Para-
graphen entwickelte Unterschied zwischen der exceptio rei
in Judicium deductae und der exceptio rei judicatae nicht
eintreten. Und zwar deshalb nicht, weil bei dinglichen
Rechten der Erwerbungsgrund nicht, wie bei der Obliga-
tion, zur juristischen Natur derselben gehört, sondern zur
Gleichgültigkeit der besonderen faktischen Handlung zu-
sammensinkt, durch welche das dingliche Recht erworben
worden ist. Es ist schlechthin einflußlos auf die recht-
liche Natur des Eigentumes, der Servitut usw., ob ich das
Eigentumsrecht durch Erbschaft, Usukapion, Kauf usw.
erworben habe (s. oben S. 384). Bei den dinglichen Rech-
ten fällt daher jedes. bloß gegen den Erwerbungs-
grund prohibitive Gesetz — z. B. daß Eigentum nicht
mehr durch Usukapion erlangt werden können solle —
mit Notwendigkeit in die zweite der beiden S. 381 fg.
dargestellten Klassen von Prohibitivgesetzen, und wirkt
daher auch auf die hängige Klage nicht ein, da es nicht
einmal auf das bloße entstandene Recht vor der Klage-
anhängung einwirkt ; während andererseits Prohibitiv-
gesetze, welche nicht den Erwerbungsgrund des dinglichen
Rechtes, sondern dieses selbst aufheben, oder die eine
durch den Erwerbungsgrund zwar vermittelte,
aber an dem dinglichen Recht selbst wieder hervor-
tretendenähereBestimmtheitdesselben aufheben
(s. oben S. 384 und 386), stets zu denen gehören, die
einen Rechtsinhalt außerhalb des Eigentumes erklären und
daher auch auf die durch res judicata festgestellten Eigen-
tumsverhältnisse eingreifen.
29 Lassalle. Ges. Schriften. Band IX. 44Q
§ 9. Absolute Gesetze. Auflösung der Formel
von den vollbrachten Tatsachen. Der Besitz
und sein Wesen. Juris quasi-possessio. Der
Personenzustand.
Es muß hervorgehoben werden, daß wir bis jetzt noch
kein Prinzip entwickelt haben, welches die durch Zahlung
und faktische Ausführung überhaupt einmal zu Ende ge-
brachten Rechtsverhältnisse gegen die Einwirkung von
Prohibitivgesetzen der ersten Art (S. 381 fg.) schützt.
Setzen wir z. B., um uns dem im vorigen Paragraphen
unterstellten Falle anzuschließen, es sei ein Urteil auf
Alimentation eines unehelichen Kindes ergangen und in-
folge desselben freiwillig auf mehrere Jahre im voraus ge-
zahlt worden. Das Erscheinen eines diese Alimentenpflicht
aufhebenden Gesetzes würde, wie wir sahen, das Urteil von
jetzt ab entkräften, aber zur Wiederforderung der voraus-
gezahlten Alimente kann es nicht berechtigen. Dies liegt
auch nicht etwa an dem Zurückbleiben einer naturalis
obligatio ; denn die Folge würde dieselbe sein, wenn das
neue Gesetz auch das Dasein einer naturalis obligatio in
dem betreffenden Fall nicht anerkennen würde.
Man begründet dies stets damit, daß vollbrachte
Tatsachen von neuen Gesetzen nicht berührt werden
können, oder, wie Savigny dies ausdrückt — welcher des-
halb sogar jede Rechtfertigung dieses Satzes von der
Untersuchung über die Rückwirkung der Gesetze zurück-
weist ■ — ■, damit, daß das Gesetz nicht Geschehenes un-
geschehen machen könne.
Was man mit diesen Sätzen ausrichten will, ist meistens
ganz richtig. Allein wir haben schon S. 267 fg. gezeigt, daß
der Satz von den vollbrachten Tatsachen theoretisch
völlig unhaltbar sei, und haben bereits S. 118 fg. darauf
450
aufmerksam gemacht, daß, inwiefern das Gesetz Ge-
schehenes ungeschehen machen könne — was an sich sehr
häufig im juristischen Sinne geschieht - - oder nicht, sich
gerade erst als Resultat dieser Untersuchung ergeben
könne und müsse.
Wenn also unsere Theorie vollständig sein soll, werden
wir. was Prohibitivgesetzen gegenüber bisher noch nicht
geschehen, einen anderen, aus unserer Theorie selbst her-
vorfließenden Grund aufzeigen müssen, welcher dasselbe
Richtige vollbringt, was man mit dem Satze von der Un-
berührbarkeit vollbrachter Tatsachen gewöhnlich auszu-
richten sucht.
Dieser Grund ist aber kein anderer, als das auch von
dieser Seite hervortretende Wesen des Besitzes als eines
selbständigen, auf der faktischen Verbindung der Per-
sönlichkeit mit einer Sache beruhenden Rechtes, als wel-
ches der Besitz nach der in dem bekannten Meisterwerke
Savignys hierfür gegebenen Grundlage nunmehr allgemein
anerkannt ist1).
Der Besitz als eigenes Recht gründet sich darauf, daß
schon die Ineinssetzung der Sache mit einer Per-
sönlichkeit ein rechtliches Band für sich bildet,
bei welchem die causa in den Hintergrund tritt. Es ist
hier in der Kürze an den Auspruch Papinians zu erinnern :
„...possessio plurimum facti habet"2) und an den des
Paulus: ,,. . . in summa possessionis non multum interest,
juste quis an injuste possideat3)."
Aus diesem Wesen des Besitzes ergibt sich für unsere
x) Savigny, Das Recht des Besitzes (6. Aufl., 1837) ; Puchta.
Pandekten (5. Aufl., 1850), § 122; derselbe. Kursus der
Inst.. Bd. 2, § 224.
2) L. 19 quibus ex caus. major (4, 6).
3) L. 3, § 5, de acqu. vel amitt. possessionc (41, 2V
29« 451
Materie die notwendige Folgerung, daß, solange ein Ob-
jekt überhaupt noch besessen werden kann, es
gleichgültig ist, ob der Erwerbungs- und Entstehungs-
grund dieses noch zulässigen Besitzes durch ein neues
Gesetz prohibiert wird.
Das Prohibitivgesetz findet den Besitz, die bereits ge-
schehene Vereinigung der Persönlichkeit mit der Sache,
als ein besonderes Recht vor sich, das daher einzig
und allein dadurch gebrochen wird und gebrochen werden
kann, wenn sich das Prohibitivgesetz statt gegen den Ent-
stehungsgrund des Besitzes, gegen die Fähigkeit
eines Objektes, überhaupt besessen zu werden,
richtet und also gerade die Möglichkeit desselben, sich in
jener Vereinigung mit dem Individuum zu befinden, auf-
hebt.
Von hier aus ergibt sich auch, inwiefern man dem oben
bezogenen, die lex commissoria aufhebenden Gesetz des
Konstantin, je nach der Interpretation desselben, in der
Tat den Vorwurf der Rückwirkung machen könnte (s. dies
Gesetz oben S. 424, Note 1). Durch den Pfandvertrag
der lex commissoria wurde eine Sache mit der Bestim-
mung dem Gläubiger verpfändet, daß, wenn derselbe nicht
binnen einer bestimmten Zeit befriedigt sei, ihm dafür die
Sache zum Eigentum anerf allen sollte. An und für sich
genommen, war dies eventuelle Recht des Gläubigers auf
die Sache, als ein irrevokables, schon vom Moment des
Vertrages ab ein erworbenes. Aber, wie unsere Theorie
gezeigt hat, bloß bis zum Eintreten eines prohibitiven Ge-
setzes. In der Anwendung dieses Gesetzes auf die be-
reits bestehenden Verträge, worin die Autoren die
Rückwirkung erblicken wollen, ist also, insofern der für
die Zahlung der Schuld stipulierte Termin noch nicht
eingetreten war, nicht die leiseste Rückwirkung zu
452
sehen. Anders wenn man annimmt, das Gesetz habe auch
auf solche Fälle Anwendung finden wollen, in denen der
festgesetzte Zahltermin bereits verstrichen und die Sache
somit dem Gläubiger schon zum Eigentum an-
e r f a 1 1 e n war. Denn hier war nun bereits für sich
selbständig-feste Ineinssetzung einer Sache mit einer
Persönlichkeit einmal eingetreten, die Sache war in den
Besitz derselben, gleichviel auf welchen Titel, einmal
übergegangen, und es lag also ein finitum atque absolutum
vor, das so lange nicht aufgehoben werden konnte, solange
die Objekte dieses Besitzes nicht überhaupt für unfähig
erklärt wurden, sich im Privatbesitz zu befinden1) alicujus
in bonis, in patrimonio esse).
Ganz so wie vom Objektsbesitz gilt dies auch von der
juris quasi possessio, wiederum nur mit der Einschränkung,
daß das Prohibitivgesetz nicht eben dies aufhebt, daß das
betreffende Recht sich im Eigentum und somit auch im
Besitz des Individuums befinden kann.
Hierbei ist zu bemerken, daß auch der Personen-
zu stand besessen werden kann. Die Freiheit kann vom
*) Ob das Gesetz in diesem unzulässigen Sinne auszulegen
ist, kann zweifelhaft erscheinen. Dafür scheinen die Worte
des Gesetzes zu sprechen: . . . hac sanctione respiret, quae cum
praeteritis praesentia quoque depellit et futura prohibet. Soll
dies genau genommen werden, so bezieht sich das futura auf
die künftigen, das praesentia auf die gegenwärtigen Verträge,
und für das praeteritis würden dann nur Fälle übrig bleiben,
wo der Zahltermin schon verstrichen und der Eigentumsanfall
also schon geschehen war. Allein es ist fraglich, ob das nicht
überhaupt bloß als phraseologischer Redeluxus zu nehmen ist.
Hierauf weist hin, daß es heißt : Si quis tali contractu laborat,
nicht laboraverit ; und ferner, daß es am Schluß heißt : credi-
tores re amissa usw., während in jenem Falle nicht mehr bloß
von Gläubigern, sondern auch von Eigentümern zu sprechen war.
453
Sklaven durch Ersitzung erworben werden (s. oben
S. 147); ebenso kann, unter bestimmten Bedingungen, die
Kindschaft ersessen werden (vgl. L. 14 de probat, et
praes. [22, 3]. — L. 9 und 22 C. de nuptiis [5, 4]. -
L. 14 und 15 C. de probat. [4, 19], und die Vorschriften
des Code civil über die possession d'etat, Art. 197 und
320fg.).
Hierauf beruht es, daß jeder durch Willensaktion ein-
mal konstituierte persönliche Zustand auch prohibitiven
Gesetzen gegenüber standhält, wenn diese nur den be-
stimmten Erwerb, nicht aber das Sein des Zustandes
prohibieren. Ist also die Ehescheidung einmal eingetreten,
so wirkt ein nunmehr erscheinendes Gesetz, welches die
Ehe für unauflöslich erklärt, auf die schon Geschiedenen
nicht ein, obwohl es das Dasein der Rechte betrifft
und also da, wo, wie unter dem Code civil, die Schei-
dung nicht vom Richter selbst, sondern vom Zivilstandes-
beamten ausgesprochen wird, das rechtskräftige, aber noch
nicht vollstreckte Scheidungsurteil allerdings außer
Kraft setzen würde. Aber der Zustand der Ehelosigkeit
ist durch dies Gesetz nicht aboliert, sondern nur ein be-
stimmter Wiedererwerb desselben durch Verheiratete. Der
einmal erzeugte Besitz dieses Zustandes bleibt also,
da selbiger noch besessen werden kann, von dem Prohibitiv-
gesetz unberührt.
Hierauf beruht es auch, daß ein neues Gesetz über den
Beweis, welchen der Ehemann zur Verleugnung eines in
der Ehe geborenen Kindes seiner Gattin führen muß, zwar
sofort auf die vorhandenen Kinder einwirkt, wenn der Be-
weis durch das neue Gesetz erschwert wird, nicht aber,
wenn er durch dasselbe erleichtert wird. Wird der zu
führende Beweis erschwert, so wird der Ehemann nur in
einer vom Gesetz ihm eingeräumten Befugnis getroffen,
454
von der er bis dahin keinen Gebrauch gemacht hatte.
Überdies hat ein solches Gesetz einen streng zwingenden
Charakter : Verleugnung des in der Ehe geborenen Kindes
soll — außer in den noch übrig gelassen Beweisfällen
nicht sein.
Wird dagegen der zur Verleugnung des Kindes erforder-
liche Beweis erleichtert, so scheint zwar zunächst dasselbe
eintreten zu müssen. Auch würde man sich vergeblich mit
Merlin (Rep. de Jurisp. v° Effet Retroact., Sect. 3, § 2,
Art. 17, T. 5, p. 550) auf die Regel : Jura sanguinis nullo
jure civili dirimi possunt1) dagegen berufen. Dieses Argu-
ment enthält eine petitio principii, da ja im unterstellten
Fall der Ehemann das Dasein der jura sanguinis eben in
Abrede stellt und sie erst als Resultat des nicht erbrachten
Beweises hervorgehen würden. Wenn also dieser Beweis
gegen die Schwierigkeit, welche der Grundsatz : Pater est
quem nuptiae demonstrant, zur Folge hat, erleichtert wird,
so scheint es, daß schon nach der Regel : Fictio fecit
veritati, auch diese Erleichterung sofort platzgreifen müsse,
zumal es sich einerseits um eine bloße Beweisfrage han-
delt, andererseits diese Bestimmungen in Gründen des
öffentlichen Interesses wurzeln, und daher zum jus publi-
cum gehören.
Allein, wie sich aus dem Vorhergehenden ergibt, wäre
diese Folgerung dennoch sehr irrig, und zwar aus fol-
gendem Grunde. Das Kind hat sich durch Willensaktion
— v/elche vermöge der Personenrepräsentation in der
Handlung der Eltern gegeben ist (s. oben § 2, A.) -
den Zustand der Kindschaft als seinen Besitz erzeugt, und
da sich das neue Gesetz höchstens nur gegen die bestimmte
Erwerbung, nicht gegen das Dasein dieses Zustandes an
r) L. 8 de reg. juris (50. 17).
455
sich prohibitiv verhalten kann, so kann es auf die Fälle
des bereits erlangten Besitzes dieses Zustandes nicht ein-
wirken, das Kind somit denselben nicht anders verlieren,
als unter den schon bei seiner Erwerbung vorbehalten ge-
wesenen Beweisbedingungen.
Von hier aus ergibt sich auch erst das theoretische Ver-
ständnis vieler römischen Gesetze der Kaiserzeit, die sonst
als unregelmäßig erscheinen müßten, jetzt aber wechsel-
wirkend wieder dazu dienen, das Gesagte zu bestätigen. So
verordnet z. B. Kaiser Justinus in der L. 7 C. de natural,
liberis et matrib. (5, 27), indem er die vorhergehende
Lex 6 des Kaisers Anastasius über das Erbrecht der
natürlichen Kinder aufhebt, daß in bezug auf diejenigen
Kinder, welche nach oder vor jenem Gesetz des Anastas
einmal durch Arrogation oder Adoption in die paterna
sacra aufgenommen seien, die Adoption oder Arrogation
mit ihren Wirkungen bestehen bleiben solle (firma per-
maneat). „Sint itaque — sagt Justinus — ■ post eandem
arrogationem seu adoptionem sui et in potestate patrum,
successionesque tarn ex testamento quam ab intestato ca-
piant, prout in arrogatis seu adoptatis constitutum est."
Von jetzt ab aber sollten nur die in legitimer Ehe erzeugten
Kinder erben können, und der Vorwand der Arrogation
oder Adoption der natürlichen Kinder nicht mehr zu-
statten kommen.
Da dies Gesetz das Erbrecht betrifft, so könnte man
es unregelmäßig und wider die Prinzipien laufend finden
wollen, daß es sich nicht auf alle bis dahin noch nicht
deferierten Erbschaften anwendet. In der Tat aber würde
dies eine große Verkennung der Sache in sich schließen.
Das Gesetz handelt nicht über das Erbrecht der le-
gitimen Kinder, welches stets abgeändert werden kann,
und ebensowenig über das der natürlichen Kinder als
456
solcher. Es betrifft vielmehr die Frage, ob unter gewissen
Umständen die natürlichen Kinder die Qualität von
legitimen erhalten können. Das ihnen nach der Ver-
ordnung des Anastas zuerkannte Erbrecht war nur die aus
dieser Qualität der sui und legitimi hervorfließende Folge
derselben. Insofern nun bereits der Anastasiani sehen Ver-
ordnung entsprechend natürliche Kinder arrogiert und so
zu sui gemacht worden waren, hatten sie durch diese ein-
mal eingetretene Verbindung ihrer mit der Qualität der
Legimität den Besitz an dieser Qualität erlangt, der
ihnen also nicht wieder entzogen werden konnte. — Oder
aber man könnte sagen, das Gesetz betrifft eine Frage des
Personenzustandes — ob natürliches, ob legitimes
Kind — und muß deshalb sofort auf alle Personen zur
Anwendung kommen. Aber insofern der Personenzustand
durch das Familienrecht vermittelt ist, ist er infolge
der Personenidentität nicht eine Befugnis, sondern ein
durch individuelle Willensaktion konstituiertes
Rechtsverhältnis (vgl. §2, A.).
§ 10. Absolute Gesetze. Konvaleszenz durch
Fortfall derselben. Unterschied von mate-
rieller wie formeller Prohibition. Der be-
griffliche Unterschied von faktischer und
rechtlicher Veränderung. Unterschied in den
Wirkungen. Die Ratihabition und die Auf-
lösung ihrer sogenannten Ausnahmen in den
Unterschied des Begriffes.
Wir haben in den vorhergehenden Paragraphen gesehen,
inwiefern durch das Eintreten prohibitiver Gesetze die
Wirksamkeit ursprünglich gültiger individueller Willens-
aktionen auf ihre ihnen von vornherein immanente und aus
457
dem substantiellen Wesen des Rechtes folgende ideelle
Grenze eingeschränkt wird.
Wir haben jetzt, als eine Folge derselben Prinzipien
und gewissermaßen als die begriffliche Gegenprobe
zu der Richtigkeit derselben, zu zeigen, ob und inwiefern
auch umgekehrt durch den Fortfall bestehender Pro-
hibitivgesetze die durch dieselben prohibierten und so-
mit ursprünglich nichtigen Willenshandlungen nachträglich
konvaleszieren können.
Wir haben gesehen (S. 443, Note 1), daß der gegen
ein Prohibitivgesetz angehende individuelle Wille unter
keinen Umständen — auch nicht als bloß konditioneller
Wille — ein rechtliches Dasein erlangen kann, sondern
schlechterdings als bloß faktischer natürlicher Wille vor-
handen ist. Wenn aber dieser natürliche Wille vom In-
dividuum so lange festgehalten wird, bis das Prohibitiv-
gesetz verschwindet, so muß nun, da das einzige ihm
bisher entgegenstehende Hindernis fortgefallen ist,
dieser bis dahin bloß faktische Wille von jetzt ab auch
rechtliches Dasein gewinnen, d.h. die Handlung kon-
valesziert nachträglich, und man sieht, wie dies, statt
eine Rückwirkung und also eine Verletzung der indivi-
duellen Willensfreiheit zu sein, vielmehr gerade auf dem
Begriff der individuellen Willensfreiheit be-
ruht, welcher, insofern ihm nicht verbietende Gesetze ent-
gegenstehen, die unbedingte Geltung seines Da-
seins fordert.
Es folgt übrigens aus der angegebenen Begriffsbestim-
mung von selbst, daß diese nachträgliche Konvaleszenz nur
bei dem Vorhandensein von folgenden zwei Bedingungen
eintreten kann :
1. wenn das bisherige Prohibitivgesetz den Inhalt
einer Handlung, nicht ihre Form, betraf; mit anderen
458
Worten, wenn es bisher dem Individuum durch die Pro-
hibition schlechthin unmöglich war, einem Willens-
inhalt rechtliches Dasein zu geben; nicht wenn sich die
Prohibition nur auf gewisse Formen der Handlung bezog
und andere Formen, um denselben Willensinhalt zu er-
reichen, übrig ließ ;
2. muß, wie bereits bemerkt, der Wille ein fortgesetzter
und bis in den neuen Zustand hineindauernder
sein. Er darf also nicht in einer bloß einmaligen Hand-
lung vorübergehend zutage getreten sein.
Die Gründe dieser beiden Bedingungen wurzeln im
Begriff der Sache selbst und stellen nur seine Entwicke-
lung dar.
Wenn nicht der Inhalt der Handlung ein verbotener
war, wenn sich die Prohibition oder zwingende gesetzliche
Vorschrift nur auf die Form bezog, und es also dem In-
dividuum schon zur Zeit des prohibitiven Gesetzes
freigestanden hätte, durch eine andere Form dem Inhalt
der Handlung rechtliche Wirklichkeit zu geben, so kann,
da das Individuum dies freiwillig unterließ, gar nicht ein
echter bindender Wille bei ihm präsumiert werden. Es
muß vielmehr angenommen werden, das Individuum habe
nur seinen naturalen, nicht seinen zivilen Willen
engagieren wollen. Da es eine vollständige Rückwirkung
darstellen würde, wenn dem Individuum nachträglich eine
Verpflichtung des bloß natürlichen Willens in eine
solche des zivilen, zwingenden Willens umgewan-
delt wird (s. S. 230fg.), so bleibt das Individuum, welches
auch unter der Herrschaft des prohibitiven Formgesetzes
seinen Willen ziviliter hätte binden können und dies nicht
gewollt hat, ebendeshalb auch nach Fortfall desselben zi-
viliter ungebunden. Und man sieht, wie in streng geschlos-
sener systematischer Bestätigung unserer Theorie dieselben
459
formellen Prohibitivgesetze durch ihre Aufhebung keine
Konvaleszenz hervorbringen können, die wir auch in
§ 7 als jene zweite Klasse von Prohibitivgesetzen kennen
gelernt haben (S. 383 fg.), die durch ihr Eintreten keine
abrogierende Einwirkung hervorbringen können.
Einige Beispiele mögen zuvörderst das bisher Gesagte
teils klarer machen, teils seine empirische Anerkennung
nachweisen. Und zwar wollen wir hierbei zunächst von
den jedenfalls — wir werden bald sehen, warum — weit
schwächeren konvaleszierenden Wirkungen ausgehen,
welche der faktische Fortfall von prohibitiven Um-
ständen auf frühere Handlungen nach römischem Rechte
nach sich zog.
Wenn der eine Ehegatte noch unmündig war, oder wenn
ein Senator eine Freigelassene, oder ein Provinzialbeamter
eine Provinzialin zur Frau nahm, so war eine solche Ehe
nichtig. Aber wenn der Ehegatte die Pubertät erreichte,
der Senator seine Würde verlor, der Provinzialbeamte sein
Amt niederlegte, so konvaleszierte1) in allen diesen Fällen
von jetzt ab die richtige Ehe2). Es muß aber ausdrück-
lich bemerkt werdenden, wie die römischen Juristen be-
sonders hervorheben, es müsse zu diesem Zweck der
Wille — im gegebenen Falle also der eheliche Zustand —
bis nach dem Eintritt des neuen Ereignisses fort-
gedauert haben. So Pomponius in der L. 4 ausdrück-
lich : Minorem annis duodecim nuptam tunc legitimam
uxorem fore, quum apud virum explesset duodecim annos.
Ebenso Paulus in der L. 65 : ... tarnen post depositum
officium, st in eadem voluntate perseverat, justas nuptias
!) L. 4; L. 27; L. 65, § 1, de ritu nupt. (23, 2).
2) Wie wiederum umgekehrt die von Haus aus gültig ge-
schlossene Ehe bekanntlich vernichtet wurde, wenn der eine
Ehegatte später Zivität oder Freiheit verlor.
460
effici etc. Und ebenso ist die Bedingung des Pomponius
offenbar auch der Stelle des Ulpianus (L. 27) hinzu-
zudenken.
Hier treffen also beide obige Bedingungen der Kon-
valeszenz zusammen : der Wille ist festgehalten worden
bis in den neuen von dem prohibitiven Hindernis befreiten
Zustand hinein, und das Prohibitivgesetz war auch kein
bloß formelles, nur eine bestimmte Form für die
Handlung verbietendes oder vorschreibendes, sondern ein
diese selbst materiell untersagendes1). Ob aber das pro-
hibitive Hindernis dadurch fortfiel, daß der Senator aus
dem Senat gestoßen wurde oder daß ein neues Gesetz den
Senatoren die Ehen mit Freigelassenen gestattet, ist offen-
bar zunächst gleichgültig. Die letztere Änderung muß
aber vielmehr nur noch stärkere Wirkungen haben.
Es ist von höchstem Interesse, sich den begrifflichen
Grund und den dadurch bestimmten Umfang dieser
stärkern Wirkung klarzumachen. Hier werden wir denn
also den schon in § 7 versprochenen Begriffsunter-
schied zwischen faktischer und rechtlicher Ver-
änderung entwickeln müssen.
Wenn die Ehe dadurch gültig geworden ist, daß der
1) Auch Justinian verfuhr in dem von uns entwickelten Sinne.
Als er z. B. durch Novelle 117 (Kap. 6 usw.) die Verordnung
Konstantins über Eheverbote zwischen gewissen Würdenträgern
und gewissen Klassen von Frauenzimmern aufhob, verordnet
er im Epilog : Quae igitur praesente hac et in perpetuum
valitura lege serenitas nostra definit, in Omnibus praedictis
casibus obtinere volumus, nisi forte aut sententia judiciali, aut
amica conventione decisa sint, quae suum robur habere sanci-
mus. Es sollten also die zur Zeit ihrer Schließung nichtigen
Ehen durch den Fortfall des Konstantinischcn Prohibitivgesetzes
konvaleszieren, wenn sie nur nach der Novelle Justinians gültig
waren.
461
Senator aus dem Senat gestoßen wurde, so hat sich in
der Anschauung des bestehenden Rechtsbewußtseins
nichts geändert. Die Prohibition wurde dadurch beseitigt,
daß von jetzt ab ein Individuum statt in die eine bestimmte
Klasse der bestehenden Ehegesetze in eine andere be-
stimmte Klasse der bestehenden Ehegesetze zu subsumieren
ist. Während also das allgemeine Rechtsbewußt-
sein mit sich durchaus identisch blieb, trat nur eine
faktische Änderung seitens des Individuums ein, infolge
deren das Hindernis von jetzt ab nicht mehr für es vor-
handen ist. Dies hat daher zur notwendigen Folge, daß
die Handlung, wenn zu ihrer gültigen Vollbringung keine
besondere Form erforderlich ist, sondern der form-
lose Wille genügt (wie dies bei der nach römischem
Recht sola affectione gültig geschlossenen tlhe der Fall
ist), erst von jetzt ab gültig wird, konvalesziert.
Mit andern Worten : Die vorher, in der Zeit der bestehen-
den Prohibition bereits erzeugten Kinder bleiben illegi-
tim, und dies wird in sämtlichen oben angeführten
Pandektenstellen teils vorausgesetzt, teils ausdrücklich ent-
schieden.
Wenn aber, wie z. B. in dem bald anzuführenden
preußischen Gesetze, die Änderung nicht darin besteht,
daß ein Individuum jetzt unter ein anderes der bereits
bestehenden Gesetze zu subsumieren ist, sondern das pro-
hibierende Gesetz selbst aufgehoben wurde, so ist hier
eine Änderung im allgemeinen Rechtsbewußtsein
selbst eingetreten.
Jede Handlung aber, die nach der vorhandenen
Rechtsidee nicht zu verbieten ist, muß vom Standpunkt
dieser letzteren aus als eine der Domäne der indi-
viduellen Willensfreiheit durch sich selbst zustehende be-
trachtet werden. Indem nun durch den Inhalt des gegen-
462
vvärtigen Rechtsbewußtseins die Prohibition aufgehoben
ist, erscheint dieselbe jetzt als ein Eingriff in das Gebiet
der an sich seienden Berechtigung der individuellen
Willensfreiheit oder als eine Verkennung derselben.
Sie erscheint notwendig so, denn sie war eine Nicht-
anerkennung dessen, was das jetzige Bewußtsein als schon
an sich vorhanden anerkennt und dadurch jetzt zu
einem an und für sich seienden macht1).
Das neue, gegenwärtige Rechtsbewußtsein schaut also
die früher prohibierte Handlung als eine schon von Haus
aus an sich gültige und berechtigte an, aber auch nur
als eine an sich berechtigte. Hierin liegt ein Gedoppeltes.
Das Recht ist nicht ein Reich des Ansichseins, son-
dern des Fürsichseins oder der Wirklichkeit. In ihm
kann also nur gelten, was bereits durch das allgemeine
Bewußtsein als geltend anerkannt worden ist. Wirk-
lich geworden ist aber jene schon ab initio an sich vor-
x) Was nicht verboten . ist, ist erlaubt, ist ein Satz, der
naturrechtliche Gültigkeit haben soll. — Die Aufhebung
einer inhaltlichen Prohibition kann niemals die Bedeu-
tung eines rein positiven Gesetzes haben. Die Aufhebung
der Prohibition durch das sie aufhebende Rechtsbewußtsein
hat also die Bedeutung, nur die Verwirklichung, d.h. die
Anerkennung eines schon an sich Vorhandenen zu sein.
In diesem An sich liegt die Notwendigkeit, warum das neue
Rechtsbewußtsein die früher prohibitive Handlung (es ist hier
überall nur von Prohibitivgesetzen die Rede, welche den I n -
halt, nicht die bloße Form einer Handlung betreffen) als
eine schon ursprünglich an sich gültige anerkennt. Denn
alles im Geiste als an sich seiend Anerkannte wird als ein
der Substanz nach von Ewigkeit her so Vorhandenes
aufgefaßt. Die Geschichte, und auch das geschichtliche Recht.
ist nur Verwirklichung des in der menschlichen Natur an
sich oder der Anlage nach von jeher Vorhandenen.
403
handene Berechtigung der Handlung erst durch das die-
selbe anerkennende neue Gesetz, welches die frühere
Prohibition aufhob1). Die Sache steht jetzt, in ihrer voll-
ständigen Bestimmtheit genommen, also : Diese Ehe ist
eine von Anfang an an sich gültige, deren ursprünglich
nur an sich seiende und darum nicht rechtlich-wirkliche
Gültigkeit jetzt auch anerkannt und wirklich ge-
worden ist. Von dieser Wirklichwerdung ab
müssen somit nun alle Folgen einer von Anfang
an an sich gültigen Ehe an ihr hervortreten.
Alle Wirkungen einer schon ursprünglich gültigen Ehe
müssen von jetzt ab, wo die Anerkennung der Gültig-
keit dieser Ehe durch das allgemeine Rechtsbewußtsein
eingetreten ist und ihr hierdurch auch rechtliche Wirk-
lichkeit gegeben hat, an ihr wirklich sein und anerkannt
werden. D.h. also: von jetzt ab müssen die während
der Prohibition erzeugten Kinder als legitime an-
gesehen werden und in bezug auf alle von jetzt ab
noch eintretenden rechtlichen Wirkungen dieses Verhält-
nisses mit dieser Qualität bekleidet sein. — Und in der
Tat wurde durch das bald anzuführende preußische Gesetz
vom 27. Februar 1816 verordnet, daß alle die während
der Prohibition in den betreffenden Ehen erzielten Kinder
„als rechtmäßig eheliche Kinder angesehen
werden" sollen.
Aber wir sagten bereits, daß durch diese Auffassung
*) Die obige Erörterung (vgl. die vorige Note) stellt den
wahrhaften Punkt dar, von welchem aus allein das Verhältnis
des Naturrechtes zum historischen oder wirklichen Rechte zu
begreifen ist. Letzteres bildet nur die prozessierende Ver-
wirklichung des ersteren als seines An sich, ein Ansich des
logischen Begriffes, das aber erst durch das Sicherfassen des
historischen Geistes als Recht wirklich wird.
464
der betreffenden Ehen in ihrer Bestimmtheit, als schon
ursprünglich an sich gültige, aber nur an sich gültige
Ehen, ein Gedoppeltes gegeben sei.
Das neue Rechtsbewußtsein kann nicht verkennen, daß,
wenn es auch diese Ehe als ab initio an sich gültig an-
erkennt, diese Gültigkeit doch damals, während des ihr
entgegenstehenden prohibitiven allgemeinen Rechtsbewußt-
seins, eben nur an sich vorhanden war, aber keine
rechtliche Wirklichkeit hatte. Vielmehr kann die
Ehe infolge der rechtlichen Natur des Prohibitivgesetzes
(s. S. 443, Note 1) während der Dauer desselben
keinerlei (auch nicht einmal ein bedingtes) rechtliches
Dasein gehabt haben, ein Boden, von welchem sie viel-
mehr, wie in der angeführten Note gezeigt ist, schlechthin
durch die Natur der Rechtssubstanz ausgeschlossen war.
Für jene Zeit der Prohibition kann sie daher auch durch
das neue Rechtsbewußtsein keine rechtliche Wirk-
keit bekommen. Dies wäre eine begrifflich unmögliche,
widerrechtliche Rückwirkung. In bezug auf die Zeit der
Prohibition ist auch für diese Ehe nichts dadurch ge-
wonnen, daß sie jetzt durch das gegenwärtige Rechts -
bewußtsein als schon damals an sich gültig angeschaut
wird. Denn indem diesem „Ansich" damals das all-
gemeine Bewußtsein entgegenstand, das Recht aber
nur als das Reich des Wirklichen, vom allgemeinen
Bewußtsein Anerkannten, festgehalten werden muß, so
gelangt man immer nur zu dem Resultat, daß auch vom
Standpunkt des gegenwärtigen Rechtsbewußtseins aus
die Ehe während der früheren Zeit um der ausschließen-
den Natur des damaligen prohibitiven Bewußtseins willen
kein rechtliches Dasein gehabt hat. Die erzeugten Kinder
sind und bleiben also, in bezug auf die Zeit der Dauer
des Prohibitivgesetzes und die innerhalb dieser Zeit ein-
30 Lassalle. Ges. Schriften. Band IX 465
getretenen rechtlichen Folgen und Wirkungen, schlech-
terdings illegitim. Das neue Rechtsbewußtsein kann
sie auch gar nicht mit Beziehung auf jenen Zeitraum an-
erkennen (etwa durch gesetzgeberischen Akt), denn es
ist eine logische Unmöglichkeit, nachträglich zu be-
wirken, daß etwas, trotz aller jetzigen Anerkennung seiner
früher an sich seienden Gültigkeit, in einer Zeit schon
rechtliche Wirklichkeit gehabt habe, in welcher es
von dieser vielmehr durch die Natur der Rechtssubstanz,
den Inhalt des allgemeinen Bewußtseins, direkt aus-
geschlossen war. — Es wird also z. B. in bezug auf die
während der Herrschaft des aufgehobenen Prohibitiv-
gesetzes bereits eingetretenen großelterlichen oder anderen
Erbschaften, insofern seitens der betreffenden Kinder ehe-
liche Geburt zur Erwerbung der Erbschaft erforderlich
war, nichts an der Erbunfähigkeit derselben geändert, auch
nicht, wenn der Fortfall des Prohibitivgesetzes und somit
der Charakter der Legitimität ab nunc, noch während Pro-
zesse über jene Erbschaften schweben, eintritt, oder wenn
er sogar vor jeder Antretung der Erbschaften eintritt, da,
wo diese ipso jure durch die Delation erworben werden.
Dieselben können vielmehr nur den zur Zeit des Erb-
schaftsanfalls Erbberechtigten anerf allen bleiben.
In der vorstehenden Erörterung erst sind wir dazu ge-
langt, allmählich nun auch den wahrhaft spekulativen Be-
griff in seiner innersten Tiefe entwickelt zu haben, auf
welchem sowohl die im § 7 nachgewiesene abrogierende
Wirkung des Eintretens von Prohibitivgesetzen auf frühere
Verträge, als die im gegenwärtigen Paragraphen entwickelte
Konvaleszenz bei dem Fortfall von Prohibitivgesetzen be-
ruhen. Beide Wirkungen sind zunächst rein entgegen-
gesetzte und beide beruhen gleichwohl auf dem gemein-
schaftlichen und echt spekulativen Begriff des Geistes,
466
daß ein an sich Vorhandenes jetzt auch in die Wirk-
lichkeit tritt.
Dort, bei dem Eintreten neuer Prohibitivgesetze, tritt
eine an sich seiende Grenze, hier, bei dem Fortfall
derselben, eine an sich seiende Berechtigung in
die Wirklichkeit über. Weil der Geist dies sein
Setzen nicht als willkürliches oder zufälliges,
sondern nur als Heraussetzen eines schon an sich in
ihm vorhandenen substantiellen Wesens auf-
faßt, dies Wesen somit als sein eigenes Ansich auch
in alle seine geistigen Handlungen an sich schon über-
gegangen war und in ihnen enthalten ist, tritt bei der Wirk-
lich werdung dieses Ansich, auch in seinen früheren
Handlungen diese Wirklichwerdung von jetzt ab
ein, d.h. die Wirkung des neuen Gesetzes ab nunc tritt
an ihnen hervor1). — Weil sie aber erst von jetzt ab
*) Hier zeigt sich also der wahre Gedanke der subtilis divisio
(der Veränderung) juris et facti, wie sich Justinian (L. 25 C.
de donationibus inter etc. 5, 16) einmal ausdrückt. Bei der
faktischen Veränderung tritt eine Geltung ein, die früher
nicht schon an sich vorhanden war, vielmehr nur durch
zufälligen Wechsel in den Verhältnissen eines Individuums
hervorgebracht wird, eine bloß gesetzte, nicht (aus dem Wesen
des Geistes) herausgesetzte Veränderung. Einerseits hat
dies, da jetzt immerhin das Individuum unter die Herrschaft
eines anderen Gesetzes tritt, mit der Rechtsveränderung das
Gemeinsame, daß auch die frühere Handlung, aber nur dann
von jetzt ab konvalesziert, wenn für das gültige Dasein
derselben vom Gesetze nichts anderes als ein bloß form-
loser Wille gefordert wird (wie also bei der römischen Ehe,
oder, wie wir bald an einem anderen Beispiel zeigen werden,
bei dem römischen Fideikommiß, wenn der Wille zu diesen
Handlungen noch jetzt vorhanden ist, so daß man also hier dies
so darstellen kann, als entstünde jetzt erst eine neue Ehe,
ein neues Fideikommiß); andererseits hat diese faktische Wer-
30« 407
hervortritt und das Recht als solches nicht das Reich des
Ansich, sondern des im allgemeinen Bewußtsein Wirk-
lichen, Geltenden ist, so müssen die während des bloßen
Ansichseins der neuen Bestimmungen bereits voll-
endeten Wirkungen dieser Handlungen auch durch das
damals Wirkliche, also das frühere Recht, bestimmt
bleiben.
Von hier aus ist erst in ihrem letzten Grunde die ganze
Notwendigkeit ersichtlich, vermöge welcher die vor dem
Zinsmaximumgesetz erfallenen Zinsen noch weiter einklag-
bar1), das von dem Sklaven vor Aufhebung der Sklaverei
Erworbene Eigentum des Herrn, wie andererseits die vor
der Aufhebung des prohibitiven Ehegesetzes erzeugten
Kinder in bezug auf die bis dahin anerfallenen Erbschaften
illegitim bleiben.
Um nun ferner zuvörderst noch einige Beispiele von
Konvaleszenz durch faktische Änderung im römischen
Recht zu bringen, so ist daran zu erinnern, daß, wenn ein
in väterlicher Gewalt befindlicher Sohn, ein Deportierter
oder ein Sklave, welche alle drei zu jeder letztwilligen
Verfügung unfähig, ein Fideikommiß (im römischen Sinne)
bestellt, dann aber emanzipiert, in die Zivität restituiert
änderung von der Rechtsveränderung das Unterscheidende, daß
bei ihr die Wirkungen der früher bereits entstandenen Tat-
sachen nicht nur für die Vergangenheit bestehen bleiben,
sondern auch von jetzt ab weiter fortdauern, also z. B. die
bis jetzt erzeugten Kinder illegitim bleiben, oder ein Te-
stament, das während einer faktisch (durch wiedererlangte
Vernunft, Aufhebung der Deportation, Freilassung) beseitigten
Unfähigkeit errichtet würde, auch nach der erlangten Fähig-
keit ungültig bleibt. (Vgl. Anwendungen, wo der Unterschied
zwischen der rechtlichen und faktischen Veränderung weiter
untersucht werden wird.)
x) Vgl. oben S. 410 fg.
468
oder freigelassen wird, das Fideikommiß konvalesziert1) ;
und natürlich würde ein die Unfähigkeit aufhebendes
Gesetz mindestens ebenso große Wirkung haben,
wie die Beseitigung derselben durch Herstellung der Zivi-
tät oder Freilassung. Selbstredend wird hier von Ulpian
die Bedingung wiederholt, der auf das Fideikommiß ge-
richtete Wille müsse bis in den neuen von der Prohibition
freien Zustand fortgedauert haben: videlicet si duraverlt
voluntas post manumissionem . . . si modo in eadem volun-
tate duravlt.
Teilweise bestätigend, teilweise aber auch abweichend,
scheint sich zu dem Vorigen das preußische Gesetz vom
27. Februar 1816 zu verhalten. Durch dasselbe wurde
verordnet, daß die in Rheinland wie in Westfalen während
der Fremdherrschaft durch priesterliche Trauung voll-
zogenen Ehen gültig sein und die daraus erzeugten Kinder
als eheliche angesehen werden sollen, wenn auch die von
dem französischen Gesetzbuch unter Strafe der Nichtig-
keit für Eheschließung vorgeschriebenen zivilrechtlichen
Formen nicht beobachtet worden seien.
Wenn also hier, zumal in bezug auf Westfalen, wo be-
kanntlich das preußische Landrecht wieder eingeführt wor-
den war, eine Konvaleszenz im obigen Sinne vorliegt, so
scheint insoweit eine Abweichung von dem von uns Ge-
sagten stattzufinden, als es den betreffenden Parteien doch
auch unter der Herrschaft des Code civil freigestanden
hatte, mit Beobachtung der daselbst vorgeschriebenen
Formen eine gültige Ehe zu schließen, also diese zwingen-
den und respektive prohibitiven Bestimmungen nur das
Formelle von Handlungen betrafen. Allein die Auf-
fassung des preußischen Gesetzgebers, die ihn zu dem in
x) L. 1, § 1 und 5, de lcgat et fideicomm. (32).
469
Rede stehenden Gesetz veranlaßte, war offenbar die, daß
religiöse Gewissensskrupel die Parteien an einer Ehe-
schließung vor dem Zivilstandesbeamten hätten verhindern
und ihnen so die gesetzliche Eheschließung überhaupt,
wenn auch aus Gewissensgründen, unmöglich machen
können.
War dies die dem Gesetze zugrunde liegende Auf-
fassung, so gehört, gleichviel ob man diese Auffassung in
sich selbst billigt oder verwerflich findet, das Gesetz zur
Klasse derer, welche eine materielle, den Individuen
nicht vermeidliche Prohibition aufzuheben beabsich-
tigen.
Leuchtet dies ein, so wird jetzt klar sein, wie dies Ge-
setz unserer vorhergehenden Erörterung entspricht und die
über die Konvaleszenz aus faktischer Veränderung in den
obigen Fällen des römischen Rechtes hinausgehende stär-
kere Wirkung der Rechtsveränderung aufzeigt, welche wir
als dieser begrifflich zukommend nachgewiesen haben.
Denn während nach römischem Recht die Ehe durch die
bloße auf wahre Ehe gerichtete Absicht geschlossen wurde,
und man daher die faktische Konvaleszenz so darzustellen
suchen kann, daß erst jetzt durch Festhaltung des form-
losen Willens die Ehe geschlossen wird, verhält sich die
Sache jedenfalls anders in dem betrachteten Falle des preu-
ßischen Rechtes. Da nach diesem Ehe nur unter be-
stimmten Formen geschlossen werden kann, die geschlos-
senen Ehen aber ohne weiteres für gültig erklärt wurden,
so ist hier nicht jetzt eine neue Ehe entstanden, was in
formloser Weise nicht geschehen konnte, sondern es kon-
valeszierte jetzt die frühere, und zwar ihrerzeit un-
gültige Eheschließung. Da dieselbe jetzt durch den
Rechtswechsel als schon zur Zeit ihrer Schließung an
sich gültig angeschaut wurde, so sollte diese an sich vor-
470
handene Gültigkeit jetzt auch an ihr als wirklich
hervortreten. In dem preußischen Gesetz tritt also bei
genauer Betrachtung, auch schon in bezug auf die Gültig-
keit jener Ehen, dieselbe stärkere, dem Rechts -
Wechsel entsprechende Wirkung ein, die wir ihm in
bezug auf die Legitimität der Kinder nachgewiesen
haben1).
Endlich ist noch ein letzter Unterschied zwischen der
durch faktische und durch Rechtsveränderung herbei-
geführten Konvaleszenz hervorzuheben, der ebenso theo-
retisch wie praktisch von nicht geringer Wichtigkeit ist.
Wir sagten oben, daß zur Konvaleszenz der individuelle
Wille ein fortgesetzter, bis in den neuen Zustand hinein -
dauernder gewesen sein müsse, nicht also bloß in einer
einmaligen Handlung vorübergehend zutage getreten sein
dürfe. Dies gilt jedoch in diesem Umfange nur bei der
durch faktische Beseitigung der (materiellen) Prohibition
eintretenden Konvaleszenz, und wir werden nunmehr sehen,
welche begriffliche Modifikation auch dieser Punkt bei
der durch Rechtsveränderung herbeigeführten empfängt.
Wir haben oben (S. 460, 469) gesehen, wie nach den
römischen Juristen der auf die Ehe oder das Fideikommiß
gerichtete Wille bis nach dem Eintritt des neuen die
Prohibition beseitigenden Ereignisses fortgedauert haben
muß. Es ist dies scharf zu verstehen, so daß es nicht hin-
reicht, wenn der Wille bloß bis zum Moment dieses
*) Der § 1 dieses Gesetzes lautet: „Alle in den gedachten
Provinzen abgeschlossene und durch pnesterliche Einsegnung
vollzogene Ehen sollen als gültig und die darin erzielten Kinder
als rechtmäßig eheliche Kinder angesehen werden, wenngleich
die in dem französischen Gesetzbuche bei Strafe der Nichtig-
keit vorgeschriebenen Förmlichkeiten dabei nicht berücksichtigt
sind."
1,1
Ereignisses gedauert hat, er muß auch noch nach dem-
selben vorhanden gewesen sein. Schon die Worte der
römischen Juristen lassen keinen Zweifel hierüber. Drückt
sich Pomponius ungenauer darüber aus : quum apud vlrum
explesset etc., so spricht Paulus ganz bestimmt, die Se-
natorenehre sei gültig post depositum officium, wenn der
Mann in eadem voluntate perseverat (also von jetzt ab),
und ebenso ausdrücklich sagt Ulpian, das Fideikommiß
sei gültig, si duraverit voluntas post manumissionem.
Auch ist der Grund hiervon sehr einleuchtend. Da bei
der durch nur faktische Veränderung beseitigten Prohi-
bition die während der Dauer derselben vollbrachte Hand-
lung auch nicht als an sich gültig von dem Rechtsbewußt-
sein angeschaut wird, so ist i m Augenblick der Prohi-
bitionsbeseitigung noch nichts an sich Seiendes vorhanden,
was in diesem ideellen Zeitmoment in Wirklichkeit
übergehen könnte. Die Gültigkeit der Handlung kann so-
mit überhaupt erst dadurch entstehen, daß auch noch jetzt
nach der Beseitigung der Prohibition der auf die Ehe
usw. gerichtete Wille da ist.
Infolgedessen haben andere Gesetze nach dem faktischen
Fortfall der Prohibition noch eine gewisse quanti-
tative Ausdehnung des Willens vorgeschrieben, um
das wahrhafte Dasein desselben zu konstatieren
und so die Konvaleszenz hervorzubringen. So ist nach dem
Art. 185 des Code civil von Gatten, die vor dem erforder-
lichen Alter in Ehe traten, die Ehe erst dann nicht
mehr anzugreifen, wenn sie nicht nur das kompetente Alter
erreicht haben, sondern auch bereits sechs Monate nach
Erreichung desselben verflossen sind1). Und es ist dies
*) Art. 185 C. c. : „Neanmoins le manage contracte par des
epoux qui n'avaient point encore 1'äge requis ou dont Tun des
472
um so unangreiflicher, als nach französischem Recht die
Ehe nur durch bestimmte zivile Formen, nicht sola affec-
tione geschlossen wird.
Aber man fühlt sofort, daß dies bei einem Gesetze wie
dem vorbesprochenen preußischen von 1816 nicht also
sein konnte und, wie der Text desselben zeigt, auch nicht
sein sollte. Hier sollten die Ehen gültig sein, wenn auch
bei dem Erscheinen des neuen Gesetzes seitens des einen
oder anderen Ehegatten ein Wille hierzu nicht mehr vor-
handen gewesen wäre. Um die grundsätzliche Richtigkeit
hiervon zu prüfen, ist es inzwischen besser, statt jenes
Gesetzes von 1816, welches in unmittelbarer Gestalt nur
das Formelle der Eheschließung betrifft und erst auf
einem Umwege zu einem solchen wird, welches seiner
inneren Auffassung nach eine inhaltliche Prohibition be-
seitigen wollte, ein Gesetz zu unterstellen, welches ein rein
materielles Eheverbot aufhebt.
Setzen wir also den Fall, daß unter vollkommen ge-
setzlich gültigen Formen eine wegen Verwandtschaft in
unerlaubtem Grade, oder wegen Religionsverschiedenheit
oder Standesungleichheit (Allgemeines Landrecht, T. II,
T. 1, §933 — 940) verbotene Ehe geschlossen worden
ist, und nun die betreffende Eheprohibition durch ein neues
Gesetz aufgehoben wird. Offenbar müssen dadurch alle
noch nicht für nichtig erklärten Ehen dieser Art kon-
valeszieren, wenn auch schon bei oder vor Erlaß des
neuen Gesetzes der faktische Wille der Gatten hierzu
nicht mehr fortdauerte, vielmehr selbst ein entgegen-
gesetzter Wille des einen oder anderen der beiden Ehe-
deux n'avait point atteint cet äge, ne peut plus etre attaque,
1° lorsqu'il s'est ecoule six mois depuis que cet cpoux ou les
epoux ont atteint 1 äge competent . . ."
473
gatten, ja selbst beider vorhanden wäre, z. B. freiwillige
faktische Trennung eingetreten wäre.
Der spekulative Grund hiervon liegt in dem Vorigen.
Es ist eine Ehe freiwillig in gültigen Formen geschlossen
worden. Diese Ehe war nach dem neuen Rechtsbewußt-
sein, welches dieselbe als erlaubt und innerhalb der indi-
viduellen Willensfreiheit liegend anschaut, von vornherein
an sich gültig. Dieses Ansich, weiches während der
Zeit des entgegenstehenden Rechtes unwillkürlich und
wirkungslos war, ist mit dem Moment des neuen Gesetzes
zur Anerkennung und Wirklichkeit gekommen, und die
noch vorhandene Ehe dadurch in dem Augenblicke des
Eintretens desselben zur an und für sich seienden
Gültigkeit gelangt.
Dasselbe Resultat beweist sich aber auch in folgender,
mehr juristischer Form. Welchen Grund will das Indi-
viduum für die Nichtigkeit seiner Ehe anrufen ? Seinen
individuellen Willen ? Sein Wille ist vielmehr der ge-
wesen, die Ehe zu schließen, und es hat dies unter allen
für einen echten Willen hierzu erforderlichen Formen ge-
tan. Das hindernde Gesetz ? Aber dieses ist nicht mehr
vorhanden und hat einem entgegengesetzten Rechtsbewußt-
sein Platz gemacht. Oder soll das frühere Verbotsgesetz
wegen seiner Gleichzeitigkeit mit der Eheschließung jetzt
als erworbenes individuelles Recht gelten ? Aber dadurch,
daß gegen das Verbot eines Gesetzes gehandelt wird,
wird dies Gesetz doch gewiß nicht von dem ihm entgegen-
handelnden Individuum sich angeeignet und zu seinem er-
worbenen Titel gemacht !
Vollkommen kongruent mit den früher entwickelten
Unterschieden ist es also hier bei der durch Gesetzes -
änderung aufgehobenen Prohibition, im Gegensatz zu der
durch faktische Veränderung beseitigten, nicht erst der
474
nach der Beseitigung des Hindernisses noch fortdauernde
Wille, welcher von jetzt ab Wirkungen hervorbringt, son-
dern die frühere Handlung als solche konvalesziert
jetzt dadurch, daß sie seitens des Individuums eine von
ihm hervorgebrachte und von ihm noch nicht auf-
gehobene äußere Wirklichkeit ist, die jetzt durch die
Umwandlung des allgemeinen Bewußtseins — welches
allein sie bisher von der rechtlichen Existenz ausschloß —
in ein mit ihr identisches, die rechtliche Sanktion
erlangt1). Folglich erlangt sie dieselbe in dem ideellen
1) Dies kann zunächst dem S. 443, Note 1, von der Un-
gültigkeit der gegen die Prohibition laufenden konditioneilen
Verpflichtung (s. Paulus daselbst) Gesagten zu widersprechen
scheinen. Aber der Widerspruch wird zunächst schon dadurch
ausgeschlossen, daß ja an dem, was dort über die bloß fak-
tische, nicht rechtliche Existenz der konditionellen Verpflich-
tung während der Fortdauer der Prohibition entwickelt wurde,
durch das Obige nichts geändert wird. Wäre jene konditionelle
Stipulation, was Paulus mit Recht verneint, gültig, so würde
sie, einmal getroffen, nicht einmal während der Zeit der
Prohibition vom Individuum einseitig wieder aufgehoben wer-
den können, was sie nach dem Obigen kann. Und nur auf
die Verneinung dieser konditioneilen Gültigkeit während der
Existenz der Prohibitivbestimmung bezieht sich die Argumen-
tation jener Note.
Übrigens waltet noch ein weiterer, den Widerspruch aus-
schließender Unterschied ob. Jene konditioneile Verpflichtung,
die Paulus erwähnt, geht dahin, einen Menschen zu liefern,
wenn er Sklave, oder einen Ort, wenn er ex sacro religiosove
zu einem profanen geworden sein wird. Diese Verpflichtung
würde nun aber nicht nur während der Prohibition, also wäh-
rend der Freiheit des Menschen, der Heiligkeit des Ortes,
ungültig sein, sondern sie würde auch durch das Eintreffen der
Bedingung nicht konvaleszieren. Der sich aus unserer
ganzen Entwicklung ergebende und sie von neuem bestätigende
Grund hierfür ist folgender : Ist ein Freier zum Sklaven oder
475
Zeitmoment selbst, in welchem diese Entwickelung
der Rechtssubstanz in dem Gesetzwechsel wirklich ge-
worden, und es ist von nun ab der Wille zur Aufrecht-
erhaltung der Handlung gar nicht in mehrerem Grade er-
forderlich, als wenn dieselbe von Anfang an unter einem
sie erlaubenden Gesetz geschehen wäre.
Von selbst dagegen ist evident, daß, wenn bereits wäh-
rend der Zeit des Prohibitivgesetzes der individuelle Wille
die Handlung in der je nach der Natur derselben
hinreichenden Weise wieder aufgehoben hatte, wenn also
die Ehe für nichtig erklärt worden war, oder der Schen-
kende die materiell verbotene Schenkung widerrufen hatte,
ein bestimmter locus sacer zum profanen geworden, so ist
das eine durch faktische Ereignisse vermittelte Veränderung des
Rechtes dieses bestimmten Menschen und dieses bestimmten
Ortes ; aber es ist keine Veränderung in dem allgemeinen
Rechtsbewußtsein selbst vorgegangen. Dieses ist viel-
mehr schlechthin mit sich identisch geblieben. Es wird von
demselben nach wie vor als ungültig angeschaut, über einen
Ort dieser bestimmten Art, einen locus sacer, zu sti-
pulieren (während es in dem im Text in Rede stehenden Falle
jetzt nicht mehr als ungültig angeschaut wird, eine Ehe
dieser bestimmten Art — dieses Verwandtschaftsgrades
— zu schließen), und es wird ebenso noch als zulässig an-
geschaut, daß ein fundus von der Gattung des stipulierten ein
locus sacer sein könne. Daß er es nicht mehr ist, ist eine in
Faktischem wurzelnde zufällige Veränderung. Man sieht,
daß der Unterschied wieder aus dem Punkte entspringt, daß
(s. oben S. 461 fg., 467, Note 1) die durch Faktisches herbei-
geführte Veränderung sich dem Geiste als eine zufällig ein-
tretende, nicht als eine Entwicklung darstellt, also nicht
auf ein ihr vorausgehendes An sich des Geistes zurückweist,
während die geistige Veränderung der allgemeinen Anschau-
ung als eine im Geiste vorgehende, notwendig für den Geist
auch die Bedeutung einer notwendigen, statt zufälligen, die
476
der Fortfall des Prohibitivgesetzes keine konvaleszierende
Wirkung mehr hervorzubringen vermag. Denn das neue
Rechtsbewußtsein findet jetzt auch in dem ideellen Zeit-
moment seines Eintretens gar keine Handlung und keinen
in ihr vorhandenen Willen mehr vor, der zu konvales-
zieren vermöchte. Und trotz seiner gegenwärtigen
Auffassung der früheren Handlung als einer an sich gül-
tigen, kann es dem Individuum das Recht nicht bestreiten,
sie während des entgegenstehenden Gesetzes durch eine
zweite Handlung oder respektive Willenserklärung in
rechtmäßiger — weil der damaligen Wirklichkeit des
Rechtes gemäßer — Weise auch seinerseits als das ge-
Bedeutung der Herausstellung eines schon vorher an sich in
ihm Vorhandenen hat.
Um den Unterschied ganz deutlich zu zeigen, mag also noch
hinzugefügt werden, daß die von Paulus unterstellte ungültige
Stipulation — ob mit, ob ohne Kondition — in zwei Fällen
allerdings nachträglich konvaleszieren würde ; nämlich a) wenn
die Rechtsregel, daß die res sacrae zu den res extra commer-
cium gehören, aufgehoben würde, oder wenn b) die Sache da-
durch profan würde, daß etwa durch eine Änderung in der
religiösen Anschauung die ganze Art, der sie angehört (z.B.
ein Sumpf, eine bestimmte Tierart usw.), zu einer solchen
wird, die schlechterdings nicht Sacra oder sancta sein kann.
— Hier zeigt sich also jetzt auch der tiefere Grund, warum
die in §7, S. 435 fg., betrachtete Veränderung, daß eine Sache
oder ein Ort zur res Sacra etc. gemacht und also extra commer-
cium erklärt wird, dennoch eine durch faktische Umstände
eingetretene R e c h t s Veränderung, keine reine Rechtsver-
änderung ist. Allein dies war dort noch gleichgültig und
konnte daher dort vernachlässigt werden. Denn der reinen
Rechtsveränderung kommen, wie jetzt aus dem Obigen
klar ist, nur noch andere und stärkere, immer aber minde-
stens dieselbe Einwirkung zu, wie dem durch fak-
tische Umstände vermittelten Eintreten von Prohibitiv-
gesetzen.
477
setzt zu haben, was sie damals der Wirklichkeit nach
war, als eine ungültige und von Anfang an nichtige. Diese
zweite in Übereinstimmung mit dem damaligen all-
gemeinen Bewußtsein vorgenommene Handlung oder
Willenserklärung bleibt daher dem Individuum ein
erworbenes Recht.
Es können daher die wegen unerlaubten Verwandt-
schaftsgrades oder Religionsverschiedenheit bereits für
nichtig erklärten Ehen durch die Aufhebung dieser Ge-
setze nicht mehr berührt werden (ebensowenig wie das
preußische Gesetz von 1816 auf solche Fälle mehr ein-
wirken konnte), und auch nicht einmal die zwischen der
Schließung der Ehe und ihrer Nichtigkeitserklärung er-
zeugtön Kinder können durch ein späteres Gesetz legi-
timiert werden, da die Nichtigkeit der Ehe nicht erst von
der Nichtigkeitserklärung datiert, sondern durch diese als
eine ab initio vorhandene erworben ist.
Es ist soeben der Schenkungen Erwähnung getan wor-
den. Aus den entwickelten Prinzipien folgt, daß eine die
materielle Dispositionsbefugnis überschreitende und darum
insoweit nichtige Schenkung konvalesziert, wenn noch wäh-
rend Lebzeiten des Schenkenden und ehe er die Schenkung
widerrufen, das seine Dispositionsbefugnis beschränkende
Prohibitivgesetz aufgehoben wird.
Eine ähnliche Entscheidung ist vom Tribunal zu
Loudun durch Urteil vom 10. April 1822 erlassen worden.
Der einzige Sohn eines unter dem Code civil, und wie es
scheint, ab intestato gestorbenen Vaters, welcher unter dem
die Dispositionsbefugnis zugunsten der Deszendenten auf
ein Zehnteil beschränkenden Gesetz vom 17. Nivöse II
eine diese Grenze überschreitende Schenkung gemacht
hatte, focht dieselbe an, während der Beklagte behaup-
tete, daß dieselbe bestehen bleiben müsse, soweit sie nicht
478
gegen die vom Code civil eingeräumte Dispositionsbefug-
nis verstoße.
Das Tribunal entschied gegen den Kläger mit folgenden
Gründen :
„Attendu que les donations entre vifs, etant irrevo-
cables ne peuvent etre regies que par les lois sous l'em-
pire desquelles elles sont faites ;
„Qu'il en resulte qu'elles ne peuvent jamais etre re-
duites pour une legitime plus forte que celle fixee par
la loi de la donation ;
„Mais que la legitime ne peut etre demandee qu'apres
l'ouverture de la succession ; que le legitimaire n'en peut
etre saisi que par la mort, d'apres ce principe, que le
mort saisit le vif, et qu'il ne peut avant former aucune
espece d'action ä cet egard ;
„Que les successions ne sont regies que par les lois
qui existent ä leur ouverture ; que c'est alors seulement
que Ion peut examiner s'il y a lieu ou s'il n'y a pas
lieu ä la legitime :
„Que le legitimaire ne peut agir pour faire reduire
les donations qu'en vertu de la loi qui regit la succes-
sion, puisque c'est cette loi qui etablit son droit et
qu'ainsi il ne peut demander plus que cette loi ne lui
accorde."
Merlin, welcher dieses Urteil mitteilt1), tritt dem-
selben aus den in demselben angegebenen Gründen gleich-
falls bei. Aber es wird sich nicht verkennen lassen, daß
diese Gründe durchaus unzureichender Natur sind. Die
Schenkung war eine ungültige gewesen. Der Vater hatte
sie auch seit dem Eintreten des Code civil nicht bestätigt.
Auch versucht das Urteil selbst nicht einmal, aus seinem
x) Rep. de Jurispr. vü Effet r6tr.. Sect. III. § 3, Art. 5.
V, 585.
479
Stillschweigen beim Tode eine letztwillige Bestäti-
gung derselben herzuleiten, was auch bei dem System des
französischen Gesetzes über Schenkungen und Testamente
untunlich wäre. War somit die Schenkung niemals gültig
geworden, lag der Anspruch auf die ungültig verschenkten
Objekte bis zum Tode in dem Vermögen des Verstor-
benen1), so erfordert das Prinzip: le mort saisit le vif
vielmehr, daß auch dieser Anspruch nun auf den gesetz-
lichen Erben übergeht2).
*) Es würde ganz irrig sein, diese Schenkung nicht als ein
nichtiges, sondern nur als anfechtbares Rechtsgeschäft be-
trachten zu wollen, welches nur in dem selbständigen
Rechte bestimmter Personen (in der Erbberechtigung
der Deszendenten) das Hindernis seiner Gültigkeit habe, so daß
es nur wegen des Aufhörens dieses Rechtes der dritten
Person seine Anfechtbarkeit durch dieselbe verliert und da-
durch in volle Wirksamkeit tritt, wie dies der innere Gedanken-
gang des obigen Urteiles ist. Es wäre dies sehr irrig, sagen
wir; denn wäre das in dem Rechte der dritten Person liegende
Hindernis in faktischer Weise beseitigt worden, dadurch
nämlich, daß statt des Eintretens des Code civil das Nivosegesetz
bestehen geblieben, der einzige Deszendent des Vaters aber vor
demselben gestorben wäre, so war nun zwar gleichfalls
durch den Tod das in dem Rechte einer bestimmten Person
liegende Hindernis fortgefallen, und dennoch wäre, wie niemand
bestreiten wird, der Vater berechtigt geblieben, die ungültige
Schenkung jederzeit aufzuheben. — Die Konvaleszenz geht also
nicht dadurch vor, daß das Einspruchsrecht des Dritten fort-
fällt, sondern dadurch, daß ein Gesetz eingetreten ist, welches,
die materielle Prohibition beseitigend, die Willenshandlung der
Schenkung als eine in der Befugnis des Individuums stehende
und somit gültige anerkennt.
2) Weshalb denn auch der Pariser Kassationshof durch
Urteil vom 7. Ventöse XIII und vom 1. Februar 1820 in dem
dem Tribunal von Loudun entgegengesetzten Sinne entschieden
hat.
480
Die wahre Rechtfertigung der Entscheidung ergibt sich
vielmehr aus dem Obigen. Die Schenkung konvaleszierte
durch das Eintreten des Code civil, woraus dann aber die
Folgerung hervorgeht, daß sie nun auch von dem Schen-
kenden selbst nicht mehr revoziert werden konnte.
Zur Sicherstellung der in diesem Paragraphen ent-
wickelten Theorie gegen einige mögliche Einwürfe bedarf
es noch eines Blickes auf die Ratihabition und die Ver-
gleichung der durch sie eintretenden Wirkungen mit den
oben entwickelten begrifflichen Folgen.
Die Ratihabition ist, da sie in dem Eintreten einer
früher nicht vorhandenen Einwilligung eines Individuums
besteht, eine faktische Veränderung. Da nun aber die
Ratihabition gleichwohl im allgemeinen auf den Anfang
der ratihabierten Handlung zurückwirkt und sie nicht vorn
Zeitpunkt der Ratihabition, sondern vom Zeitpunkt ihrer
Vollbringung ab gültig macht, so könnte man dies als
einen bestimmten Widerspruch gegen die oben abgeleiteten
Gedankengesetze geltend machen, und diese dadurch der
Unrichtigkeit oder der Un Vollständigkeit und Unfähigkeit
systematischer Durchführbarkeit überführen wollen.
Bei genauerer Betrachtung verschwindet jedoch nicht
nur dieser Schein, sondern ergibt sich sogar eine erheb-
liche und systematische Bestätigung für das durchgreifende
Walten der von uns exponierten Begriffsunterschiede auf
diesem Gebiete.
Zunächst muß hervorgehoben werden, daß die Rati-
habition nur dadurch die Handlung — z. B. den ohne
Mandat geschlossenen Vertrag usw. — von Anfang an
gültig macht, weil sie eine freiwillige Akzeptation
der ursprünglichen Handlung und aller ihrer bis jetzt ein-
getretenen Wirkungen durch den Berechtigten darstellt.
Zum Unterschied der als Folge einer rechtlichen oder
Jl L^iciic. o.= Schriften M^J IX. -Ibl
faktischen Veränderung ipso jure eintretenden eigentlichen
Konvaleszenz, hat die Ratihabition also die Natur eines
jetzigen Vertrages, vermöge deren der Privatwille aus-
drücklich über vergangene Handlungen stipuliert und
sie samt ihren Wirkungen zu den seinigen macht, soweit
nämlich die frühere Ungültigkeit derselben
lediglich seinem Privatrechte entfloß1).
Denn es muß zweitens, an diese letztere Einschränkung
anknüpfend, bemerkt werden, daß die Ratihabition nicht
in allen Fällen retrodatierende Wirkung hat.
Wenn eine Ehe ohne die väterliche Einwilligung ge-
schlossen worden, und letztere später erteilt wird, so wird
die Ehe gültig, aber nicht vom Tag ihrer Schließung,
sondern erst vom Tage des väterlichen Konsenses
an, so daß der Mann niemals die Frau wegen eines vor
diesem Konsens begangenen Ehebruches verklagen kann,
da das Verhältnis bis dahin als Konkubinat aufgefaßt
bleibt2).
Ebenso konvalesziert durch die nachträgliche väterliche
Einwilligung zur Ehe die dotis promissio, aber nur vom
Tage des Konsenses ab, und bei der gegen die kaiser-
lichen Mandate geschlossenen Ehe bleibt die dos, wenn
auch später die Einwilligung erteilt wird, dem Fiskus er-
worben3).
Und Paulus entscheidet ausdrücklich, daß die vor dem
x) Und soweit also, wie wir bald sehen werden, gar kein
Prohibitivgesetz entgegenstand, nämlich keine gesetzliche
Bestimmung, auf welche nicht auch durch die Privatwillkür des
Berechtigten im voraus hätte verzichtet werden können (vgl.
oben S.304, Note 1, und S. 420, Note 1).
2) Ulpian in L. 13, § 6 ad legem Juliam de adult. (48, 5)
und L. 13 de his qui not. infam. (3, 2).
3) L. 8 C. de nuptiis (5, 4) ; vgl. L. 68 de jure dot. (23, 3).
482
väterlichen Konsens erzeugten Kinder illegi-
tim bleiben1).
In anderer Hinsicht verschieden, aber in bezug auf das
bald hervorzuhebende Prinzip grundsätzlich auf derselben
Linie steht auch folgender Fall. Schenkungen zwischen
Mann und Frau während der Ehe sind nach römischein
Recht bekanntlich ungültig. Durch das auf die Rede des
Antoninus erlassene Senatskonsult wurde jedoch fest-
gestellt, daß, wenn der Donator stirbt, ohne die Schen-
kung widerrufen zu haben, dieselbe hierdurch als still-
schweigend konfirmiert und gültig geworden betrachtet
werden soll.
Es wäre irrtümlich zu glauben, daß die ursprünglich
wegen mangelnder Fähigkeit nichtige Schenkung jetzt qua
Testament gültig wird. Schon der eine Grund würde hier-
gegen ausreichen, daß das aus mangelnder Fähigkeit so-
wohl des Testierenden als auch des Honorierten ungültige
Testament selbst nach römischer Lehre nicht durch das
Vorhandensein der Fähigkeit zur Todeszeit ohne ausdrück-
liche Wiederholung gültig wird2).
Die Schenkung konvalesziert somit jetzt als solche durch
die unterstellte Bestätigung. Aber gleichwohl konvalesziert
sie nicht vom Tage der Schenkung, sondern erst von der
Zeit des Todes ab ; sie wird daher als eine Schenkung von
Todes wegen behandelt und die Falcidische Quart von
ihr abgezogen3).
-) L. 11 de stat. hom. (1, 5).
8) S. § 4 Inst, de her. quäl. (2. 19); L. 6. § 2 ; L. 49.
§ 1; L. 59, § 4; de her. inst. (28, 5).
8) S. L. 32 de donat. inter vir. et ux. (24, 1); L. 12 C
ad leg. Falc. (6, 50) und L. 25 C. de donat. inter vir. et
ux. (5, 16). — Erst Justinian bringt durch das letztbezogene
Gesetz Verwirrung in diese Lehre, indem er diese stillschwei-
3i* 483
Betrachtet man nun alle die angeführten Fälle genauer,
so stellen sie sich nicht als bloße Ausnahmen von der
Regel der retrodatierenden Wirkung der Ratihabition dar,
sondern es tritt in diesen scheinbaren Ausnahmen und
dieser scheinbaren Regel nur die Gliederung eines in sich
einigen Prinzipes zutage.
Ist nämlich, wie beim Mangel des väterlichen Ehe-
konsenses, die Nichtigkeit der Handlung nicht bloß Aus-
fluß des Privatrechtes des zur Genehmigung Berech-
tigten, sondern durch Gründe des öffentlichen Rechtes
vermittelt, liegt also eine wahre Prohibition vor, d.h.
ein absolutes Gesetz, über welches die Privatwillkür
nicht transigieren kann, so kann die nachträgliche Rati-
habition keine auf den Anfang der Handlung sich zurück -
erstreckende Konvaleszenz hervorbringen.
Das spätere Faktum der väterlichen Einwilligung kann
nicht bewirken, daß die beim Mangel dieser Einwilligung
durch die Anschauung des öffentlichen Bewußtseins pro-
hibierte Ehe bis zum Eintreten dieser Einwilligung nicht
nichtig gewesen sei und nichtig gewesen bleibe.
Dagegen tritt bei der Ratihabition eines ohne meinen
Willen geschlossenen Vertrages oder der Verpfändung
einer mir gehörigen Sache usw. retrodatierende Wirkung
deshalb ein, weil die Ungültigkeit dieser Handlungen gar
nicht auf einem absoluten und somit gar nicht auf
einem Prohibitivgesetze beruht, sondern lediglich
in der Berechtigung eines Privat willens1).
genden Bestätigungen (und auch die ausdrücklichen) ,,sicut et
alias ratihabitiones negotiorum" teils auf den Tag der Schen-
kung zurückwirken, teils wieder, in besonderen Fällen, nicht
zurückwirken läßt.
-1) Es ist hier von Interesse, einen Blick auf die Ehevor-
schriften des Allgemeinen Landrechtes zu werfen, welchen im
484
Dies zeigt sich, entsprechend dem von uns überall fest-
gehaltenen Begriff des Prohibitivgesetzes (s. oben S= 304
allgemeinen die im bisherigen entwickelten Gedankenbestim-
mungen, daß einerseits bei der faktischen Beseitigung von
Prohibitivgesetzen die Gültigkeit erst ab nunc eintreten
kann, und andererseits Hindernisse, welche lediglich in der
Berechtigung eines bloßen Privatwiliens liegen, nicht als Pro-
hibitionen des öffentlichen Bewußtseins aufzufassen sind und
ihre Beseitigung daher die Handlung zu einer ab initio gültigen
macht, in einer, obwohl nicht konsequent festgehaltenen, aber
doch unleugbaren Weise zugrunde liegen. Das Allgemeine Land-
recht unterscheidet (T. II, Tit. 1, § 933 fg.) zwischen nich-
tigen und ungültigen Ehen. § 933: „Ehen, welche wegen
obwaltender Verbotsgesetze niemals bestehen können,
heißen nichtig." § 934: ,,Ehen, welchen zwar von Anfang
an gesetzliche Hindernisse im Wege stehen, die aber
doch in der Folge durch Hebung dieser Hindernisse verbind-
liche Kraft erlangen, werden ungültig genannt." Der erste
Paragraph spricht also ausdrücklich von den Prohibitivgesetzen
als solchen. Welches zum Unterschiede von diesen der B e -
griff der im zweiten Paragraphen erwähnten „gesetzlichen Hin-
dernisse" sein soll, sagt uns das Allgemeine Landrecht nicht,
sondern begnügt sich damit, die hier gemeinten Ehen an den
von ihm vorgeschriebenen Folgen erkennen zu lassen (statt
umgekehrt die Folgen aus dem Begriff abzuleiten). Sieht man
inzwischen auf die §§ 968 — 972, in welchen das Landrecht die
ungültigen Ehen aufzählt, so findet man, daß meistens solche
Hindernisse gemeint, welche, wenigstens nach der Auffassung
des Allgemeinen Landrechtes, bloß privatrechtlicher Natur sind
(mangelnder individueller Wille usw.). Der hauptsächliche Un-
terschied zwischen den nichtigen und den ungültigen Ehen
besteht nun, unserer Entwicklung sehr entsprechend, in fol-
gendem : Auch von den wegen wahrer Prohibition nichtigen
Ehen wird zugegeben, daß sie durch faktische Beseitigung des
prohibierenden Umstandes zur Gültigkeit gelangen können.
Aber es wird bestimmt, daß diese Gültigkeit erst von jetzt
an ihren Anfang nimmt, und deswegen sogar verordnet (was
4&5
und 420, Note 1), klar daran, daß der Berechtigte auf
die Ungültigkeit solcher Handlungen, zu denen seine Ein-
willigung nicht vorliegen wird, auch im voraus wirk-
sam verzichten kann. Denn dies geschieht in einer
Generalvollmacht, durch welche ich einen procurator
dem Gesetzgeber jedenfalls zustand, s. § 6 über das Recht
desselben, dem Individuum das onus einer nochmaligen Willens-
bestätigung aufzulegen), daß die Ehe jetzt nochmals voll-
zogen werden muß. § 946: „Soll ... die nichtige Ehe nach
gehobenem Hindernis zur Gültigkeit gelangen, so muß
sie auf die in den Gesetzen vorgeschriebene Art nochmals feier-
lich vollzogen werden." § 947: „Mit dem Zeitpunkt dieser
nochmaligen Vollziehung nimmt die Gültigkeit einer sol-
chen Ehe erst ihren Anfang." (Die Vorschrift der noch-
maligen Vollziehung zeigt zugleich, daß das Landrecht bei der
faktischen Beseitigung der Prohibition, die es natürlich
überall unterstellt, mit Recht der Ansicht ist, daß der auf die
Gültigkeit der Handlung gerichtete Wille noch nach der Be-
seitigung des Prohibitivumstandes vorhanden sein muß, damit
Konvaleszenz eintreten könne.) Von den ungültigen Ehen
wird dagegen verordnet, § 975: „Wird aber das Ehehindernis
in der Folge gehoben, so muß angenommen werden, daß die
Ehe von Anfang an gültig gewesen sei." — Zwar rech-
net das Allgemeine Landrecht die Ehen, denen der väterliche
Konsens mangelt, zu den bloß ungültigen Ehen (§ 972), die
also durch die nachträgliche Erteilung des Konsenses von An-
fang an gültig werden. Allein es widerspricht deshalb durch-
aus nicht dem oben an der römischen Behandlung dieses
Falles entwickelten Grundsatz, daß, wo der Mangel an Kon-
sens eine wahre Prohibition begründet, die nachträgliche Rati-
habitation der Handlung erst von jetzt ab und nicht für die
Zeit, wo sie contra jus gewesen, zur rechtlichen Existenz ver-
helfen kann. Denn in den Fällen, wo landesherrliche Einwil-
ligung (beim Militär) oder Dispensation (bei Standesungleich-
heit) erforderlich — in Fällen also, wo auch nach der Auf-
fassung des Allgemeinen Landrechtes eine aus dem öffentlichen
Interesse fließende wahrhafte Prohibition vorliegt — , ist die
486
omnium rerum aut ad omne negotium ernenne1) und künf-
tige Handlungen als für mich gültig erkläre, denen nicht
einmal mein Wissen, und somit auch nicht mein Wollen
einwohnen wird. Darum ist auch nicht einmal das SC.
Macedonianum, in Hinsicht auf den Vater, ein Pro-
hibitivgesetz, da dieser nicht gehindert wäre, dem in seiner
Gewalt befindlichen Sohne eine derartige Generalproku-
ration zu erteilen, während z. B. die Unfähigkeit des
filius, zu testieren, eine prohibitive ist; denn hierzu kann
ihn der Vater auch nicht ermächtigen. Und weil es kein
Prohibitivgesetz rücksichtlich der väterlichen Verbindlich-
keit ist, so wirkt mit Recht die väterliche Ratihabition
eines vom Sohne gemachten Darlehens auf dasselbe ganz
so konvaleszierend ein2), als wenn der Privatwille von
Anfang an (also das Mandat) dazu vorgelegen hätte3).
Ehe nichtig, und bleibt dies auch, wenn nachträglich die
landesherrliche Einwilligung oder Dispensation eintritt, bis zur
nochmaligen Eheschließung (§§ 938, 940, 946). Das Land-
recht erkennt also hierdurch unseren obigen Grundsatz an. Wird
die väterliche Einwilligung abweichend behandelt, so ist dies
also nur ein Beitrag mehr zu der geänderten Auffassung der
patria potestas des Landrechtes im Vergleich zur römischen.
!) Ulpian, L. 1. pr. 1 mandat. (3, 3); Paulus. R. S. I.
3. § 2.
2) Ulpian, L. 7, § 15 de SC. Maced. (14, 6); L. ult.
C. ad SC. Maced. (4, 28).
3) Der einzige scheinbare Fall, den man aus dem römischen
Rechte gegen die obige Entwicklung geltend machen könnte,
wäre folgender: Die Veräußerung eines Dotalgrundstückes durch
den Ehemann ist eine ganz nichtige Handlung. Wenn ihm
aber späterhin die ganze Dos zufällt, so konvalesziert dadurch
die Veräußerung von selbst. (Papinian, L. 42 de usurp., 41.
3.) Da nun aber die Unveräußerlichkeit der Dos eine wahr-
hafte Prohibition darstellt, an welcher der Privatwille nichts
ändern kann; da ferner diese Prohibition im gedachten Falle
487
Seines Rechtes aber zur Einwilligung in die bestimmte
vom Sohne zu schließende Ehe kann sich der Vater nicht
im voraus wirksam begeben. Er kann nicht in gültiger
Weise dem Sohne die allgemeine Ermächtigung erteilen,
jede ihm beliebige Ehe zu schließen und ihn so von der
Erforderlichkeit seines Spezialkonsenses entbinden.
durch faktische Änderung beseitigt ist, und dennoch, ohne
neue Tradition, die Veräußerung konvalesziert, so scheint diese
Konvaleszenz auf den Anfang der Handlung zurückzulaufen,
in welchem Falle sie ein Widerspruch gegen das obige Gesetz
wäre. Da inzwischen begriffliche Gesetze, zum Unterschiede
von Regeln, keine wahrhafte Ausnahme kennen, so ist es Pflicht,
diesen Schein zu beseitigen. Auch wenn ein Nichteigentümer
eine Sache verkauft und hinterher das Eigentum erwirbt, so
konvalesziert dadurch die Veräußerung. Papinian sagt uns das
an derselben Stelle : Idem juris est quam is qui rem f urtivam
vendidit, postea domino heres exstitit. Und ausführlicher ver-
breiten sich Ulpian und Julian darüber, L. 4, § 32, de doli
mali et met. exe. (44, 4). Wenn der zum Eigentümer gewordene
Nichteigentümer gegen den Käufer klagt, so würde er — heißt
es daselbst ■ — mit der exceptio doli mali zurückgewiesen wer-
den. Wenn der zum Eigentümer gewordene Nichteigentümer
aber im Besitz ist und der Käufer klagt, so kann er die
Exzeption des Gegners mit der doli replicatio abschlagen ;
,,ac per hoc intelligeretur," sagen Ulpian und Julian, ,,eum
fundum rursus vendidisse quem in bonis non haberet" (näm-
lich als er ihn zum erstenmal verkaufte). Es wird also die
Sache so gedacht, als wäre im Moment der Eigentumserwerbung
seitens des Verkäufers ein zweiter ideeller Verkauf vor sich
gegangen, d.h. der Verkauf konvalesziert erst von die-
sem Augenblick an, nicht in bezug auf die frühere Zeit
(also nicht in bezug auf die früheren Früchte usw.). Und
offenbar ganz dasselbe muß auch für die Veräußerung von
Dotalgrundstücken gelten, wie zum Überfluß noch die Pa-
pinianische Behandlung beider Fälle als identischer zeigt. —
Es findet also auch hier gar keine Ausnahme statt.
Das Erfordernis dieser Genehmigung beruht also im
Unterschied von den früheren Fällen auf einer abso-
luten, der Privatwillkür nicht anheimgestellten Vorschrift.
Mit anderen Worten: das Verbot, Ehe ohne väterliche
Einwilligung zu schließen, ist eine durch die Anschauung
des allgemeinen Bewußtseins als solchen gesetzte Pro-
hibition, und darum kann, solange dies allgemeine Bewußt-
sein in seiner Rechtsanschauung mit sich identisch bleibt,
das Faktum der nachträglichen väterlichen Einwilligung
nichts daran ändern, daß in bezug auf die Zeit bis dahin
die stattgehabte Ehe als eine durch das Volksbewußtsein
ausgeschlossene nach wie vor ohne rechtliche Existenz
bleibt.
Ebenso stellt die Unfähigkeit der Eheleute, sich zu
beschenken, eine absolute, dem Privatwillen in keiner Weise
überlassene Prohibition dar, und darum kann auch die
Bestätigung derselben von Todes wegen, d. h. in dem
Augenblicke, wo durch faktische Veränderung der Ehe-
gatte diese Fähigkeit erlangt hat, nicht ändern, daß die
Schenkung bis dahin als eine contra jus gewesene ungültig
bleibt und erst von dem Moment der Bestätigung ab
Existenz gewinnt.
Dies ist auch der Grund, weshalb die Autorisation des
Tutor zu einem Vertrage, welche nicht als eine privat-
rechtliche Befugnis, sondern als ein im öffentlichen Inter-
esse liegender Schutz der Willensfreiheit von Unmündigen
gedacht ist, statim in ipso negotio erfolgen muß und der
Tutor weder den Vertrag statt dessen nachträglich ge-
nehmigen, noch im voraus dazu Autorisation erteilen
kann1).
*) Gajus in L. 9, § 5, de autor. et consensu etc. (26, 8) :
Tutor statim in ipso negotio praesens debet auctor fieri. post
480
Was wir durch diese Auseinandersetzung über die Rati-
habition gezeigt zu haben glauben, ist, um das Resultat
kurz zusammenzufassen, folgendes :
1. daß die Ratihabition, obgleich sie eine durch fak-
tische Veränderung eintretende Gültigkeit darstellt und
obgleich diese Gültigkeit auf den Anfang der Handlung
zurückläuft, dennoch den von uns entwickelten begriff-
lichen Gesetzen über die geringere und notwendig nur ab
nunc laufende Wirkung der faktischen Beseitigung von
Prohibitionen nicht widerspricht, da die Ratihabition jenen
retrodatierenden Effekt nur ausübt, weil und insofern
sie nicht in der Beseitigung einer durch das öffentliche
Bewußtsein gesetzten Prohibition, sondern eines rein
privatrechtlichen, lediglich in der Sphäre eines indivi-
duellen Willens gelegenen Hindernisses besteht, ein Privat-
wille, der, wo es auf sein alleiniges Schalten ankommt,
auch wenn er nachträglich eintritt, natürlich als das Frühere
akzeptierend und zu dem Seinigen machend, ganz ebenso
angesehen werden muß, als wäre er ab initio vorhanden
gewesen ; daß also diese Ratihabition einerseits mit un-
serem Gegenstande — den Prohibitivgesetzen — über-
haupt nichts zu tun hat, andererseits gerade durch den in
sich innerlich übereinstimmenden Gegensatz, in welchem
ihr Wesen und ihre Wirkung zu der Prohibition des
öffentlichen Bewußtseins steht, das von uns hierüber Ge-
sagte gerade unterstützt und vervollständigt.
2. daß, wo die Ratihabition wirklich eine faktische Be-
seitigung von Prohibitivgesetzen darstellt, sie in der
Tat keine auf den Anfang der Handlung zurücklaufende
Wirkung ausübt, sondern die konfirmierte Handlung ganz
tempus vero aut per epistolam interposita ejus auctoritas nihil
agit, und Inst. § 2 de auctor tutor
100
so erst von jetzt ab gültig wird, als wäre sie jetzt
erst eingetreten, und alle bereits entstandenen Wirkungen
derselben auch von jetzt ab ungültig bleiben (die Kinder
illegitim, die Dos kaduk), wie wir dies oben entwickelt
haben, und dies die notwendige Gedankenfolge davon ist,
daß das bei der bloß faktischen Beseitigung der Prohibition
in sich identisch gebliebene Rechtsbewußtsein des Volkes
die Handlung bis zum Eintritt der faktischen Änderung
noch nach wie vor als eine an und für sich ungültige
und substantiell nichtige anschaut.
Werden dagegen materielle Prohibitivgesetze aufge-
hoben und somit durch eine Änderung des allgemeinen Be-
wußtseins beseitigt, «o ist in bezug auf die während des
Verbotes in gültigen Formen vorgenommenen und noch
nicht wieder aufgehobenen individuellen Willenshandlungen
dieser Art etwas eingetreten, was man, wenn es auf eine
Analogie ankäme, als eine Ratihabition des öffent-
lichen Geistes bezeichnen könnte.
Diese Ratihabition oder Konfirmation erzeugt nun,
wie wir dies oben ausführlich und in allen ihren Mo-
menten zum Unterschiede von der durch faktische Ände-
derung hervorgebrachten Konvaleszenz auseinander gesetzt
haben, die Folge, daß von jetzt ab die frühere Hand-
lung als solche konvalesziert. d.h. daß die Handlung
nunmehr als von Anfang an an sich gültig angeschaut
wird, dieses Ans ich jetzt zur rechtlichen Anerkennung
kommt, und daher von dieser Anerkennung ab auch
die früher entstandenen Folgen und Wirkungen der
Handlung zu rechtlich gültigen werden und nur be-
reits erworbenen Rechten gegenüber d. h. solchen
gegenüber, welche während der Zeit der Prohibition
bereits erworben worden waren, und deren Erwerb durch
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die damalige Ungültigkeit jener Handlungen vermittelt
worden war — ungültig bleiben1). (Vgl. § 9.)
Da jetzt die Handlung als solche konvalesziert, so liegt
hierin, wie schon oben hervorgehoben wurde2), der Grund,
daß zum Unterschied von der Beseitigung der Prohibition
durch faktische Änderung, auch einmalige Willens-
handlungen, die nicht, wie die Ehe, einen dauernden Zu-
stand begründen, durch rechtliche Aufhebung der mate-
riellen Prohibitionsbestimmung konvaleszieren, wenn nur
nicht bereits vor dem Rechtswechsel die Ungültigkeit
der Handlung wieder ihrerseits durch Willenshandlung.
Urteil oder Vergleich usw. zu einem erworbenen Rechte
geworden ist. Auch fehlt es, außer dem hierüber bereits
Angeführten, nicht an Beispielen hierfür im römischen
Recht. So verordnet der Kaiser Anastasius3), daß alle
über die servilis vel adscriptitia conditio noch zu schlie-
ßenden oder bereits geschlossenen4) Transaktionen,
auch in den noch hängigen Prozessen5), fürder nicht
aus dem Grunde als ungültig angesehen werden sollen, weil
sie über die servilis vel adscriptitia conditio errichtet sind.
Ebenso verordnet Justinian0), daß, wenn auf die der
sazerdotalen Prärogative zustehende Klagverjährung ver-
zichtet worden ist, dieser Verzicht gültig und bindend sein,
und dies auf alle solche Fälle seine Anwendung erhalten
solle ,,qui necdum per judicialem sententiam vel ami-
cabilem conventionem sopiti sunt".
*) Wie also z. B. in dem oben gesetzten Falle der während
der Prohibition, und somit während der Illegitimität der Kinder,
anerfallenen Erbschaft.
2) Siehe oben S. 458 fg., S. 471 fg.
3) L. ult. C de transactionibus (2, 4).
4) . . . transactiones celebrandas vel jam celebratas etc.
5) ... in omnis litigiis jam motis et pendentibus.
6) L. 51 C. de episcopis etc. (1, 3).
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