Skip to main content

Full text of "Gesammelte Romane und Novellen"

See other formats


e 


5 Erin { 


PEORUULILERESELTVEu1BLARLSEEN TIER ET 
r . 
. sr 


alte Rom 


, ; — 


esam 


ae 


1 
3 e 
8 

1 

7 5 
2 


+ 2 
A 


lovellen. 


Ye 


Fontane, Gef. Romane u. Novellen, 


* 
*. 


EN 


1 
hi 


— 


9 


Theodor Fontane's 


Belammelie Romane 


und 


Mau ellen. 


7 1 
7% 


Band VI. 


Berlin W. 
Deutſches Verlagshaus 


(Emil Dominik). 


Fr 
Das „jüngſte Gericht“ und was weiter geſchah. 


In. jener Stille, wie ſie dem Minde'ſchen 
Hausweſen eigen war, verging der Tag; nur der 
Pfauhahn kreiſchte von ſeiner Stange, und aus 
dem Stallgebäude her hörte man das Stampfen 
eines Pferdes, eines ſchönen flandriſchen Thieres, 
das der alte Minde, bei Gelegenheit ſeiner 
zweiten Heirath, aus den Niederlanden mit heim— 
gebracht hatte. Das war nun fünfzehn Jahre; 
es war alt geworden wie ſein Herr, aber hatte 
beſſere Tage als dieſer. 5 

Grete hatte gebeten, das Puppenſpiel im 
Rathhauſe beſuchen zu dürfen, und es war ihr, 
allem Abmahnen Trud's unerachtet, von ihrem 
Vater, dem alten Minde, geſtattet worden, nach⸗ 
dem dieſer in Erfahrung gebracht hatte, daß auch 
Emrentz und Valtin und der alte Zernitz ſelbſt 


8 Grete Minde. 


dem Spiele beiwohnen würden. Lange vor ſieben 
Uhr hatte man Greten abgeholt, und in breiter 
Reihe, als ob ſie zuſammen gehörten, ſchritten 
jetzt alle gemeinſchaftlich auf das Rathhaus zu. 
Die Freitreppe, die hinauf führte, war mit Neu⸗ 
gierigen beſetzt, auch mit ſolchen, die drinnen ihre 
Plätze hatten und nur wieder in's Freie getreten 
waren, um ſo lange wie möglich noch der friſchen 
Luft zu genießen. Denn in dem niedrig ge- 
wölbten Saale war es ſtickig, und kein anderes 
Licht fiel ein, als ein gedämpftes von Flur und 
Treppe her. In der zweiten Reihe waren ihnen 
unter Beiſtand eines alten Stadt- und Raths⸗ 
dieners einige Mittelplätze frei gehalten worden, 
auf denen ſie bequemlich Platz nahmen, erſt 
Zernitz ſelbſt und Emrentz, dann Valtin und 
Grete. Das war auch die Reihenfolge, in der 
ſie ſaßen. Grete war von Anfang an nur Aug' 
und Ohr, und als Emrentz ihr aus einem 
Sandelkäſtchen allerhand Süßigkeiten bot, wie ſie 
damals Sitte waren, überzuckerte Frucht und 
kleine Theriak⸗Kügelchen, dankte ſie und weigerte 
ſich, etwas zu nehmen. Valtin ſah es und 
flüfterte ihr zu: „Fürchteſt Du Dich?“ 

„Ja, Valtin. Bedenke, das jüngſte Gericht.“ 

„Wie kannſt Du nur? Es ſind ja Puppen.“ 


Grete Minde. 9 


„Aber ſie bedeuten 'was, und ich weiß doch 
nicht, ob es Recht iſt.“ 

„Das hat Dir Trud' in's Gewiſſen gered't,“ 
lachte Emrentz, und Grete nickte. 

„Glaub' ihr nicht; es iſt 'ne fromme 
Sach'. Und in Stendal haben ſie's in der 
Kirche geſpielt.“ Und dabei nahm Emrentz eine 
von den kandirten Früchten und drückte den 
Stengel in ihres Alten große Sommerſproſſen— 
Hand. Der aber nickte ihr zärtlich zu, denn er 
nahm es für Liebe. 

Während dieſes Geſprächs hatte ſich der 
Saal auf allen Plätzen gefüllt. Viele ſtanden 
bis nach dem Ausgange zu, vor den Zernitzens 
aber ſaß der alte Peter Guntz, der ſchon zum 
vierten Male Burgemeiſter war, und den ſie um 
ſeiner Klugheit und Treue willen immer wieder 
wählten, trotzdem er ſchon an die Achtzig zählte. 
„Das iſt ja Grete Minde,“ ſagte er, als er des 
Kindes anſichtig wurde. „Sei brav, Gret'.“ 
Und dabei ſah er ſie mit ſeinen kleinen und 
tiefliegenden Augen freundlich an. 

Und nun wurd' es ſtill, denn auf dem 
Rathhausthurme ſchlug es Sieben, und die 
Gardine, die bis dahin den Bühnenraum ver- 
deckt hatte, wurde langſam zurückgezogen. Alles 


10 Grete Minde. 


erſchien anfänglich in grauer Dämmerung, als 
ſich aber das Auge an das Halbdunkel gewöhnt 
hatte, ließ ſich die Herrichtung der Bühne deutlich 
erkennen. Sie war, der Breite nach, dreigetheilt, 
wobei ſich der treppenförmige Mittelraum etwas 
größer erwies, als die beiden Seitenräume, von 
denen der eine, mit der ſchmalen Thür, den 
Himmel, und der andre, mit der breiten Thür, 
die Hölle darſtellte. Engel und Teufel ſtanden 
oder hockten umher, jeder auf der ihm zuſtändigen 
Seite, während eine hagere Puppe, mit weißem 
Rock und trichterförmiger Filzmütze, die dem 
lebendigen Hanswurſt des Vormittagsrittes genau 
nachgebildet ſchien, zu Füßen der großen Mittel- 
treppe ſaß, deren Stufen zu Chriſtus und Maria 
hinaufführten. Was nur der Hagere hier ſollte? 
Grete fragte ſich's und wußte keine Antwort; 
allen anderen aber war kein Zweifel, zu welchem 
Zweck er da war, und daß ihm oblag, Schergen— 
dienſte zu thun und die Sonderung in Gut' und 
Böſe, nach einer ihm werdenden Ordre, oder 
vielleicht auch nach eigenem ſouveränem Ermeſſen 
durchzuführen. Und jetzt erhob ſich Chriſtus von 
ſeinem Thronſeſſel und gab mit der Rechten das 
Zeichen, daß das Gericht zu beginnen habe. 
Ein Donnerſchlag begleitete die Bewegung ſeiner 


Grete Minde. 11 


Hand und die Erde that ſich auf, aus der nun, 
erſt langſam und ängſtlich, dann aber raſch und 
ungeduldig allerhand Geſtalten an's Licht drängten, 
die ſich, irgend einen berühmten Todtentanz ent— 
nommen, unſchwer als Papſt und Kaiſer, als 
Mönch und Ritter, und viel andere noch erkennen 
ließen. Ihr Haſten und Drängen entſprach aber 
nicht dem Willen des Weltenrichters, und auf 
ſeinen Wink eilte jetzt der ſonderbare Scherge 
herbei, drückte die Todten wieder zurück und 
ſchloß den Grabdeckel, auf den er ſich nun ſelber 
gravitätiſch ſetzte. 

Nur zwei waren außerhalb geblieben, ein 
wohlbeleibter Abt mit einem rothen Kreuz auf 
der Bruſt und ein junges Mädchen, ein halbes 
Kind noch, in langem weißen Kleid und mit 
Blumen im Haar, von denen einzelne Blätter 
bei jeder Bewegung niederfielen. Grete ſtarrte 
hin; ihr war, als würde ſie ſelbſt vor Gottes 
Thron gerufen, und ihr Herz ſchlug und ihre 
zarte Geſtalt zitterte. Was wurd' aus dem 
Kind'? Aber ihre bange Frage mußte ſich noch 
gedulden, denn der Abt hatte den Vortritt, und 
Chriſtus, in einem Ton, in dem unverkennbar 
etwas von Scherz und Laune mitklang, ſagte: 


12 Grete Minde. 


Mönchlein, ſchau hin, Du haſt keine Wahl, 
Die ſchmale Pforte, Dir iſt ſie zu ſchmal. 

Und im ſelben Augenblick ergriff ihn der 
Scherge und ſtieß ihn durch das breite Thor nach 
links hin, wo kleine Flammen von Zeit zu Zeit 
aus dem Boden aufſchlugen. 

Und nun ſtand das Kind vor Chriſti Thron. 
Maria aber wandte ſich bittend an ihren Sohn 
und Heiland, und ſprach an ſeiner Statt: 

Dein Tag war kurz, Dein Herze war rein, 

Dafür iſt der Himmel Dein. 

Geh ein! 

Unter Engeln ſollſt Du ein Engel ſein. 

Und Engel umfingen ſie, und es war ein 
Klingen wie von Harfen und leiſem Geſang. 
Und Grete drückte Valtins Hand. Unter allen 
Anweſenden aber herrſchte die gleiche Befriedigung, 
und der alte Zernitz flüſterte: „Hör', Emrentz, 
der verſteht's. Ich glaube jetzt, daß er vor 
Kaiſer und Reich geſpielt hat.“ 

Und das Spiel nahm ſeinen Fortgang. 

Inzwiſchen, es hatte zu dunkeln begonnen, 
waren die Mindes in dem rechts neben der Ylur- 
thür gelegenen Unterzimmer verſammelt, und 
nahmen an einem Tiſche, der nur zur Hälfte 


a 
et 
re 


Grete Minde. 13 


gedeckt war, ihre Abendmahlzeit ein. Der alte 
Jakob Minde hatte den Platz an der einen 
Schmalſeite des Tiſches, während Trud und 
Gerdt, ſeine Schwieger und ſein Sohn, an den 
Längsſeiten einander gegenüber ſaßen, Trud ſteif 
und aufrecht, Gerdt bequem und nachläſſig in 
Kleidung und Haltung. In allem der Gegenpart 
ſeines Weibes; auch ſeines Vaters, der trotz eines 
Zehrfiebers an dem er litt, aus einem ſtarken 
Gefühle deſſen, was ſich für ihn zieme, die 
Schwäche ſeines Körpers und ſeiner Jahre be— 
zwang. 

Es ſchien, daß Trud ihre ſchon Vormittags 
gegen Emrentz gemachten Bemerkungen über das 
Puppenſpiel eben wiederholt hatte, denn Jakob 
Minde, während er einzelne von den großen 
Himbeeren nahm, die, wie er es liebte, mit den 
Stielchen abgepflückt worden waren, ſagte: „Du 
biſt zu ſtreng, Trud, und Du biſt es, weil Du 
nur unſer Tangermündiſch Thun und Laſſen 
kennſt. Und in Alt-Gardelegen iſt es nicht anders. 
Aber draußen in der Welt, in den großen Ländern 
und Städten, da wagt ſich die Kunſt an alles 
Höchſte und Heiligſte, und ſie haben fromme und 
berühmte Meiſter, die nie anders gedacht und ge— 
dichtet, und gemalt und gemeißelt haben, als die 


14 Grete Minde. 


Glorie des Himmels und die Schreckniſſe der 
Hölle.“ 

„Ich weiß davon, Vater,“ ſagte Trud ab— 
lehnend. „Ich habe ſolche Bilder in unſrer 
Gardelegner Kirche geſehn, aber ein Bild iſt 
etwas andres als eine Puppe.“ 

„Bild oder Puppe,“ lächelte der Alte. „Sie 
wollen daſſelbe, und das macht ſie gleich.“ 

„Und doch, Vater, mein’ ich, iſt ein Unter- 
ſchied, ob ein frommer und berühmter Meiſter, 
wie Du ſagſt, eine Schilderei malt zur Ehre 
Gottes, oder ob ein unchriſtlicher Mann, mit 
einem Türkenweib und einem Pickelhäring, Ge— 
winnes halber über Land zieht und mit ſeinem 
Spiel die Schenken füllt und die Kirchen leert.“ 

„Ah, kommt es daher?“ lachte Gerdt und 
ſtreckte ſich noch bequemer in ſeinem Stuhl. 
„Daher alſo. Warſt heut in der Pfarr' und 
da haben wir nun den Pfarrwind. Ja, das iſt 
Gigas; er bangt um ſich und ſeine Kanzel. Und 
nun gar das jüngſte Gericht! Das iſt ja ſein 
eigener Acker, den er am beſten ſelber pflügt. 
So wenigſtens glaubt er. Weiß es Gott, ich 
hab' ihn nie ſprechen hören, auch nicht bei Hochzeit 
und Kindelbier, ohne daß ein hölliſch Feuer aus 
irgend einem Ritz oder Ritzchen aufgeſchlagen 


Grete Minde. 15 


wär'. Und nun kommt dieſer Puppenſpieler und 
thut's ihm zuvor und brennt uns ein wirklich 
Feuerwerk ....“ 

Er konnte ſeinen Satz nicht enden, denn in 
eben dieſem Augenblicke hörten fie, vom Markt- 
platze her, einen dumpfen Knall, der ſo heftig 
war, daß alles Geräth im Zimmer in ein Klirren 
und Zittern kam; und eh ſie noch einander 
fragen konnten, was es ſei, wiederholten ſich die 
Schläge, dreimal, viermal, aber ſchwächer. Trud 
erhob ſich, um auf die Straße zu ſehn, und ein 
dicker Oualm, der ſich in Höhe der gegenüber— 
gelegenen Häuſern hinzog, ließ keinen Zweifel, 
daß bei den Puppenſpielen ein Unglück geſchehen 
fein müſſe. Flüchtig Vorübereilende beſtätigten 
es, und Trud, indem ſie ſich in's Zimmer zurüd- 
wandte, ſagte triumphirend: „Ich wußt' es: Gott 
läßt ſich nicht ſpotten.“ Auf Gerdt's blaſſem 
und gedunſenem Geſicht aber wechſelten Furcht 
und Verlegenheit, wodurch es nicht gewann, 
während der alte Minde ſein Käpſel abnahm und 
mit halblauter Stimme die Barmherzigkeit Gottes 
und den Beiſtand aller Heiligen anrief. Denn 
er war noch aus den katholiſchen Zeiten her. 
In einem Anfluge von Theilnahme war Trud, 
die ſonſt gern ihre herbe Seite herauskehrte, an 


16 Grete Minde. 


den Alten herangetreten und hatte ihre Hand auf 
die Rückenlehne ſeines Stuhls gelegt, als ſie aber 
den Namen Gretens zum dritten Mal aus ſeinem 
Munde hörte, wandte ſie ſich wieder ab und ſchritt 
unruhig und übellaunig im Zimmer auf und 
nieder. Man ſah, daß ſie fremd in dieſem Hauſe 
war, und keine Gemeinſchaft mit den Mindes 
hatte. | 

Sie war eben wieder ans Fenſter getreten 
und ſah nach dem Marktplatze hin, als ſie plötzlich, 
inmitten einer Gruppe, Greten ſelbſt erkannte, 
die mit einem Stücke Zeug unterm Kopf, auf 
einer Bahre herangetragen wurde. War fie todt? 
Es war oft ihr Wunſch geweſen; aber dieſer 
Anblick erſchütterte ſie doch. „Gott, Grete!“ 
rief ſie und ſank in einen Stuhl. 

Die Träger hatten mittlerweile die Bahre 
niedergeſetzt und trugen das ſchöne Kind, deſſen 
Arme ſchlaff herabhingen, von der Straße her 
in's Zimmer. „Hier,“ ſagte Gerdt, als er die 
Leute verlegen und unſchlüſſig daſtehen ſah und 
wies auf eine mit Kiſſen überdeckte Truhe. Und 
auf eben dieſe legten ſie jetzt die ſcheinbar Lebloſe 
nieder. Mit ihnen war auch die alte Regine, die 
Pflegerin Gretens, jammernd und weinend ein— 
getreten, und beruhigte ſich erſt, als nach Be— 


Grete Minde. 17 


ſprengen mit friſchem Waſſer ihr Liebling die 
Augen wieder aufſchlug. 

„Wo bin ich?“ fragte Grete. „Ach .. . . nicht 
in der Hölle!“ Ä 

„Gott, mein ſüß Gretel,“ zitterte Regine 
hin und her. „Was ſprichſt Du nur? Du biſt 
ja ein gutes und liebes Kind. Und ein gutes 
und liebes Kind, das kommt in den Himmel. 
Aber das iſt auch noch nicht, noch lange nicht. 
Du kommſt auch noch nicht in den Himmel. Du 
biſt noch bei uns. Gott ſei Dank, Gott ſei 
Dank. So ſieh doch, ſieh doch, ich bin ja Deine 
alte Regine.“ 

Die Träger ſtanden noch immer verlegen da, 
bis der alte Minde ſie bat, ihm zu erzählen, was 
vorgefallen ſei. Aber ſie wußten nicht viel, da 
ſie wegen des großen Andrangs nur draußen 
auf der Treppe geweſen waren. Sie hatten nur 
gehört, daß, gegen den Schluß hin, ein brennender 
Papierpfropfen in das mit Schwärmern und 
und Feuerrädern angefüllte Vorrathsfaß des 
Puppenſpielers gefallen ſei, und daß es im ſelben 
Augenblicke einen Schlag und gleich darauf ein 
furchtbar Menſchengedränge gegeben habe. In 
dem Gedräng aber ſeien zwei Frauen und ein 
jechsjährig Kind elendiglich ums Leben gekommen. 


Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 104 


18 Grete Minde. 


Grete richtete ſich auf, erſichtlich um zu 
ſprechen und den Bericht nach ihrem eigenen Er— 
lebniß zu vervollſtändigen; als ſie aber ihrer 
Schwieger anſichtig wurde, wandte ſie ſich ab und 
ſagte: „Nein, ich mag nicht.“ 

Trud wußte wohl, was es war. Sie nahm 
deshalb ihres Mannes Hand und ſagte: „Komm. 
Es iſt beſſer, Grete bleibt allein. Wir wollen 
in die Stadt gehen und ſehen wo Hülfe ah 
thut.“ Und damit gingen Beide. 

Als ſie fort waren, wandte ſich Grete wieder 
und ſagte, ohne daß es einer neuen Aufforderung 
bedurft hätte: „Ja, ſo war es. Der Hagre mit 
den Schlackerbeinen und der häßlichen, ſpitzen 
Filzmütze, bat ihn eben, daß er ihm als einen 
Bringerlohn eine von den Seelen wieder frei— 
geben ſolle, — da gab es einen Knall, und als 
ich mich umſah, ſah ich, daß alles nach der Thüre 
hindrängte. Denn da, wo das Spiel geweſen 
war, war alles Rauch und Qualm und Feuer. 
Und ich dachte, der letzte Tag ſei da. Und 
Emrentz hatte mich bei der Hand genommen und 
zog mich mit ſich fort. Aber mit einem Male 
war ich von ihr los und da ſtand ich nun und 
ſchrie, denn es war, als ob ſie mich erdrückten, 
und zuletzt hatt' ich nicht Luft und Athem mehr. 


Grete Minde. 19 


Da packte mich Valtin von hinten her und riß 
mich aus dem Gedränge heraus und in den Saal 
zurück. Und ich meinte, daß er irre geworden, 
und ſo wollt' ich wieder in den Knäuel hinein. 
Er aber zwang mich auf eine Bank nieder und hielt 
mich mit beiden Händen feſt. „Willſt Du mich 
morden?“ rief ich. „Nein, retten will ich Dich.“ 
Und ſo hielt er mich, bis er ſehen mochte, daß 
das Gedränge nachließ. Und nun erſt nahm er mich 
auf ſeinen Arm und trug mich über den Vorplatz 
und die Treppe hinunter, bis wir unten auf dem 
Marktplatz waren. Da ſchwanden mir die Sinne. 
Und was weiter geſchehen, weiß ich nicht. Aber 
das weiß ich, daß ich ohne Valtin erdrückt oder 
verbrannt, oder vor Angſt geſtorben wäre.“ 
Der alte Minde war an einen Schrank ge— 
treten, um von ſeinem Meliſſengeiſt, den er noch 
bei den Brügger Carmeliterinnen erſtanden hatte, 
ein paar Tropfen in ein Spitzglas mit Wein und 
Waſſer zu thun. Grete nahm es; und als eine 
halbe Stunde ſpäter Trud und Gerdt von ihrem 
Ausgange zurückkehrten, verſicherte ſie, kräftig 
genug zu ſein, um ohne Beiſtand in ihre hohe 
Giebelſtube hinaufſteigen zu können. 


} 


w. 


104* 


20 Grete Minde. 


4. 
Regine. 


Dieje Giebelſtube theilte fie mit der alten 
Regine, die von lange her das Minde'ſche Haus— 
weſen führte. Freilich, ſeit Trud da war, war 
es anders geworden aber zu Niemandes rechter 
Zufriedenheit. Am wenigſten zur Zufriedenheit 
der alten Regine. Dieſe ſetzte ſich jetzt an das 
Bett ihres Lieblings und Grete ſagte: „Weißt 
Du, Regine, Trud iſt böſe mit mir.“ 

Regine nickte. 

„Und darum konnt' ich's nicht ſagen,“ fuhr 
Grete fort, „ich meine das von dem Valtin und 
daß er mich aus dem Feuer herausgetragen; und 
ſie merkte wohl, was es war, und warum ich ſchwieg 
und mich abwandte. Denke nur, ich ſoll nicht mehr 
ſprechen mit ihm. Ja, ſo will ſie's; ich weiß 
es von ihm ſelbſt; er hat mir's heute geſagt. 
Und er hat es von der Emrentz. Aber die hat 
gelacht. Höre, Regine, der Emrentz könnt' ich 
gut ſein. Wenn ich doch eine Mutter hätte wie 
die! Ach, meine Mutter! Glaubſt Du nicht, 
daß ſie mich lieb hätte?“ 

„Das hätte ſie,“ ſagte Regine und fuhr ſich 
mit der Hand über das Auge; „das hätte ſie. 


Grete Minde. 21 


Jede Mutter hat ihr Kind lieb, und Deine 
Mutter, ... ach, ich mag es gar nicht denken. 
Ja, mein Gretelchen, da hätten wir andre Tage, 
Du und ich. Und der Vater auch. Er iſt jetzt 
krank, und Trud iſt hart mit ihm und glaubt es 
nicht. Aber ich weiß es, und weiß ſchon, was 
ihm fehlt; ein Herz fehlt ihm, und das iſt es, 
was an ihm nagt und zehrt. Ja, Deine Mutter 
fehlt ihm, Gret'. Er war nicht mehr jung, als 
er ſie von Brügg' her in's Haus bracht', aber er 
liebte ſie ſo, und das mußt' er auch, denn ſie war 
wie ein Engel. Ja, ſo war ſie.“ 

„Und wie ſah ſie aus? Sage mir's.“ 

„Ach, Du weißt es ja. Wie Du. Nur 
hübſcher, jo hübſch Du biſt. Denn es iſt, als 
ob Du das blaſſe Bild von ihr wärſt. Und ſo 
war es gleich den erſten Tag, als Dein Vater 
Dich auf den Arm nahm und ſagte: „ſieh' Gerdt, 
das iſt Deine Schweſter.“ Aber er wollte Dich 
nicht ſehn. Und als ich ihm zuredete und ſagte: 
„ſieh' doch nur ihre ſchwarzen Augen; die hat 
ſie von der Mutter,“ da lief er fort und ſagte: 
„von ihrer Mutter. Aber das iſt nicht meine.“ 

„Und wie war denn ſeine Mutter? Haſt 
Du ſie noch gekannt?“ 

„O gewiß.“ 


* 
ID 


Grete Minde. 


„Und war ſie ſchöner?“ 

„Ach, was Du nur frägſt, Gretel. Schöner 
als Deine Mutter? Schöner war keine. s war eine 
Stendal'ſche, weiter nichts, und der alte Zernitz, 
der ſie nicht leiden konnt', und immer über ſie 
lachte, wiewohlen ſie mit ſeiner eignen Frau zum 
Verwechſeln war, der ſagte: „Höre, Regine, 
ſieht ſie nicht aus wie der Stendal'ſche Roland?“ 
Und wahrhaftig, ſo ſah ſie auch aus, ſo ſteif und 
ſo lang und ſo feierlich. Und auch ſo ſchlohweis, 
denn ſie trug immer ſelbſtgebleichtes Linnen! 
Und warum trug ſie's? Weil ſie geizig war; 
und es ſollt' immer mehr und mehr werden. 
Denn ſie war eines reichen Brauherrn Tochter, 
und alles Geld, das wir haben, das kommt 
von ihr.“ | 

„Und hatte fie der Vater auch lieb?“ 

„Ich hab' ihm nicht in's Herz geſehen. Aber 
ich glaub's nicht recht. Denn ſieh, ſie hatte keine 
Liebe, und wer keine Liebe hat, der find't auch 
keine. Das iſt ſo Lauf der Welt, und es 
war juſt ſo, wie's mit der Trud iſt. Aber ein 
Unterſchied iſt doch. Denn unſre Trud, obwohlen 
ſie mir das gebrannte Herzeleid anthut, iſt doch 
hübſch und klug, und weiß was ſie will, und 
paßt in's Haus, und hat eine vornehme Art. 


Grete Minde. 23 


Das haben ſo die Gardelegenſchen. Aber die 
Stendalſche, die hatt' es nicht und hat keinem 
was gegönnt, und paßte nicht in's Haus, und 
wäre nicht der Grabſtein mit der langen In⸗ 
ſchrift, es wüßte keiner mehr von ihr. Auch 
Gigas nicht. Und zu dem hielt ſie ſich doch nnd 
ging in die Beichte.“ 

„Und zu dem ſoll ich nun auch gehen, 
Regine; morgen ſchon. Trud iſt bei ihm geweſen, 
und das Spielen und Klettern ſoll nun ein End' 
haben, und ich ſoll vernünftig werden, ſo ſagen 
ſie. Aber ich fürchte mich vor Gigas. Er 
ſieht einem ſo durch und durch, und mir iſt 
immer, als mein' er, ich verſtecke was in 


meinem Herzen und ſei noch katholiſch von der 


Mutter her.“ | 
„O, nicht doch, Gret'. Er hat Dich ja 
ſelber getauft. Und jeden Sonntag biſt Du zur 


Kirch' und ſingſt Dr. Lutheri Lieder, und ſingſt 


fte, wie ſie Gigas nicht fingen kann. Ich hör' 
immer Deine feine kleine Stimme. Nein, nein, 
laß nur und ängſt'ge Dich nicht. Er meint es 
gut. Und nun ſchlaf, und wenn Du von dem 
Puppenſpiele träumſt, ſo gieb Acht, mein Gretel, 
und träume von der Seite, wo die Engel ſtehn.“ 

Und damit wollte ſie nebenan in ihre 


24 Grete Minde. 


Kammer gehen. Aber ſie kehrte noch einmal um 
und ſagte: „Und weißt Du, Grete, der Valtin 
iſt doch ein guter Jung'. Alle Zernitzens ſind 
gut.... Und von dem Valtin darfſt Du auch 
träumen. Ich erlaub es Dir, ich, Deine alte 
Regine.“ 


Grete bei Gigas. 


Es war den andern Vormittag und von 
Sanct Stephan ſchlug es eben zehn, als Trud 
und Grete die Lange Straße hinauf gingen. 
Trotz früher Stunde brannte die Sonne ſchon, 
und beide ſtanden unwillkürlich ſtill und athmeten 
auf, als ſie den ſchattigen Lindengang erreicht 
hatten, der, an der niedrigen Kirchhofsmauer 
entlang, auf das Prediger-Haus zulief. Auch 
dieſes Haus ſelber lag noch unter alten Linden 
verſteckt, in denen jetzt viele hunderte von Sper- 
lingen zwitſcherten. Eine alte Magd, als die 
Glocke das Zeichen gegeben, kam ihnen vom 
Hof oder Küche her entgegen, und wies, ohne 
gegrüßt oder gefragt zu haben, nach links hin 
auf die Studirſtube. Wußte ſie doch, daß Frau 
Trud immer willkommen war. 


Grete Minde. 25 


Es war ein ſehr geräumiges Zimmer, mit 
drei großen und hohen Fenſtern, ohne Vorhänge, 
wahrſcheinlich um das wenige Licht, das die 
Bäume zuließen, nicht noch mehr zu verkümmern. 
An den Wänden hin liefen hohe Regale mit 
hundert Bänden in braun und weißem Leder, 
während an einem vorſpringenden Pfeiler, gerade 
der Thür gegenüber, ein halblebensgroßes Crucifix 
hing, das auf einen langen, eichenen Arbeitstiſch 
herniederſah. Auf dieſem Tiſche, zwiſchen auf- 
geſchlagenen Büchern und zahlreichen Aktenſtößen, 
aber bis an die Crucifixwand zurückgeſchoben, 
erhob ſich ein zierliches, fünfſtufiges Ebenholz— 
treppchen, das, in beabſichtigtem oder zufälligem 
Gegenſatz, oben einen Todtenkopf und unten um 
ſeinen Sockel her einen Kranz von rothen und 
weißen Roſen trug. Eigene Zucht. Zehn oder 
Zwölf, die das Zimmer mit ihrem Dufte füllten. 

Gigas, als er die Thür gehen hörte, wandte 
ſich auf ſeinem Drehſchemel und erhob ſich, ſobald 
er Trud erkannte. „Ich bitt' Euch Platz zu 
nehmen, Frau Minde.“ Dabei ſchob er ihr 
einen Stuhl zu, und fuhr in ſeiner Rede fort: 
„Das iſt alſo Grete, von der Ihr mir erzählt 
habt, Eure Schwieger und Euer Kind. Denn 
Ihr tragt es auf dem Herzen, und ſein Wohl 


26 Grete Minde. 


und Weh iſt auch das Eure. Und das jchäß’ 
ich an Euch, Frau Minde. Denn der Teufel 
mit ſeinen Liſten geht immer um, am meiſten 
aber bei der Jugend, und von ihr gilt es 
doppelt: ‚Wachet und betet, daß ihr nicht in 
Anfechtung fallet.“ Beteſt Du, Grete?“ 

„Ja, Herr.“ ) 

„Oft?“ 

„Jeden Abend.“ 

Er ſah, daß Grete zitterte und immer auf 
Trud blickte, aber nicht um Rath und Troſtes 
willen, ſondern aus Scham und Scheu. Und 
Gigas, der nicht nur das menſchliche Herz 
kannte, ſondern ſich aus erbitterten Glaubens⸗ 
kämpfen her auch einen Schatz ächter Liebe ge— 
rettet hatte, wandte ſich jetzt an Trud und ſagte: 
„Ich ſpräche gern allein mit dem Kind. So's 
Euch gefällt, Frau Minde, wartet auf mich in 
Hof oder Garten. Ihr wißt den Weg.“ 

Und damit erhob ſich Trud und verließ das 
Zimmer. Grete folgte mit dem Ohr und wurd' 
erſt ruhiger, als ſie die ſchwere Hofthür in den 
Rollen gehn und wieder zuſchlagen hörte. 

Auch Gigas hatte gewartet. Nun aber fuhr 
er fort: „Alſo jeden Abend beteſt Du, Grete. 
Das hör' ich gern. Aber was beteſt Du?“ 


Grete Minde. 


N 
—1 


„Ich bete die ſieben Bitten.“ 

„Das iſt gut. Aber was beteſt Du noch?“ 

„Ich bet' auch einen Spruch, den mich unſre 
alte Regine gelehrt hat.“ 

„Das iſt die Magd, die Dich großgezogen, 
eh' Deine Schwieger in's Haus kam?“ 

a, Herr.“ 

„Und wie lautet der Spruch? Ich möcht! 
ihn wohl hören. Denn ſieh, Grete, das mußt 
Du wiſſen, ein für allemal, ſo wie wir beten, 
ſo ſind wir. Es iſt ſchon ein Zeichen, wie der 
Menſch zum Menſchen ſpricht, aber wie der 
Menſch zu Gott ſpricht, das entſcheidet über ihn. 
Da liegt es, gut oder böſe. Willſt Du mir den 
Spruch ſagen? Du mußt Dich nicht fürchten 
vor mir. Sammle Dich und beſinne Dich. 
Sieh, ich will Dir auch eine Roſe ſchenken. Da. 
Und wie gut ſie Dir kleidet. Du gleicheſt Deiner 
Mutter, aber nicht in allem, denk' ich. Denn 
Du weißt doch, daß ſie ſich zu dem alten Glauben 
hielt. Und ſie mied mich, wenn ich in Euer 
Haus kam. Aber ich habe für ſie gebetet. Und 
nun ſage mir Deinen Spruch.“ 

„Ich glaube, Herr, es iſt ein Lied.“ 

„Auch das iſt gut. Spruch oder Lied. 
Aber beginne.“ 


28 Grete Minde. 


Und nun faltete Grete die Hände und ſagte, 

während ſie zu dem Alten aufſah: 
Himmelwärts 
Richte Gott mein ſündig Herz, 
Laß der Kranken und der Armen 
Mich in ihrer Noth erbarmen; 
Was ich irdiſch gebe hin, 
Iſt mir himmliſcher Gewinn. 

Gigas lächelte. Die Lieblichkeit des Kindes 
ließ das Feuer, das ſonſt wohl auf ſeiner Stirn 
hoch aufgeſchlagen hätte, nicht übermächtig werden, 
und er ſagte nur: „Nein, Grete, das macht es 
nicht; darin erkenn ich noch die Thorheit von 
den guten Werken. Lernen wir lieber einen 
andern Spruch. Denn ſieh, unſre guten Werke 
ſind nichts und bedeuten nichts, weil all unſer 
Thun fündig iſt von Anfang an. Wir haben 
nichts als den Glauben, und nur eines iſt, das 

ſühnet und Werth hat: der Gekreuzigte.“ 
| „Ja Herr .... Ich weiß .... Und ich hab’ 
einen Splitter von ſeinem Kreuz.“ Und ſie zog 
im freudiger Erregung eine Goldkapſel aus ihrem 
Mieder. 

Gigas war einen Augenblick zurückgetreten 
und ſeine rothen Augen ſchienen röther geworden. 
Aber er ſammelte ſich auch diesmal raſch wieder 
und nahm die Kapſel und betrachtete ſie. Sie 


Grete Klinde. 29 


hing an einem Kettchen. In das obere Kapſel— 
ſtück war eine Mutter Gottes in feinen Linien 
eingegraben, innerhalb aber lag ein rothes 
Seidenläppchen und in dieſem der Splitter. 
Der Alte knipſte das Deckelchen wieder zu und 
ſagte dann ruhig: „Es iſt Götzendienſt, Grete.“ 
„Ein Andenken, Herr! Ein Andenken von 
meiner Mutter. Und es iſt alles, was ich von 
ihr hab'. Ich habe ſie nicht mehr gekannt, Ihr 
wißt es. Aber Regine hat mir das Kettchen 
umgehängt, als ich meinen zehnten Geburtstag 
hatte. So hat ſie's der Mutter verſprechen 
müſſen, und ſeitdem trag' ich es Tag und Nacht.“ 
i „Und ich will es Dir nicht nehmen, Grete, 
jetzt nicht. Aber ich denke, der Tag ſoll kommen, 
wo Du mir es geben wirſt. Denn verſtehe 
wohl, wir ſollen ſein Kreuz tragen, aber keinen 
Splitter von ſeinem Kreuz, und nicht auf 
unſerm Herzen ſoll es ruhen, ſondern in ihm. 
Und nun laß uns gute Freunde ſein. Ich ſehe, 
Du haſt einen offenen Sinn und biſt anders 
als ich dachte. Aber es geht noch um in Dir, 
und die Regine, mit der ich ſprechen will, hat 
nicht gebührlich geſorgt, den alten Spuk mit 
ſeinen Ränken und Liſten auszutreiben. Ich 
denke, Grete, wir wollen die Tenne rein fegen 


30 Grete Minde. 


und die Spreu von dem Weizen ſondern. Du 
haſt das rechte Herz, aber noch nicht den rechten 
Glauben, und irrt der Glaube, ſo irrt auch das 
Herz. Und nun geh, Grete. Und die Gnade 
Gottes ſei mit Dir.“ 

Sie wollte ſeine Hand küſſen, aber er litt 
es nicht und begleitete ſie bis an die Stufen, 
die von der Diele her zu der Hausthür hinauf⸗ 
führten. Hier erſt wandt' er ſich wieder, und 
ging über Flur und Hof auf den Garten zu, 
wo Trud, inmitten eines Buchsbaumganges, in 
ſtattlicher Haltung auf und nieder ſchritt. Beide 
begrüßten einander, und die Magd, die von 
ihrem Küchenfenſter aus ſehen konnte, wie der 
Alte ſich aufrichtete und grader ging als gewöhn— 
lich, verzog ihr Geſicht und murmelte vor ſich 
hin: „Nicht zu glauben! . . . . Und iſt jo alt und jo 
fromm!“ Und dabei kicherte ſie und ließ an 
ihrem Lachen erkennen, daß ſie den Gedanken in 
ihrer Seele weiter ſpann. 

Trud und Gigas waren inzwiſchen den 
Garten hinaufgegangen und hielten vor einem 
runden Beet, das mit Ritterſporn und gelben 
Studentenblumen dicht beſetzt war. „Ich kann 
Euch nicht folgen, Frau Trud, in dem, was Ihr 
mir über das Kind geſagt habt,“ ſagte Gigas. 


Grete Minde. 31 


„Ihr verkennt es. Es iſt ein verzagtes 
Herz und kein trotzig Herz. Ich ſah wie ſie 
zitterte, und der Spruch, den ſie ſagen ſollte, 
wollt' ihr nicht über die Lippen. Nein, es iſt 
ein gutes Kind und ein ſchönes Kind. Wie die 
Mutter.“ 

In Trud's Auge zuckte wieder ein gelber 
Strahl auf, denn ſie hörte nicht gern eines 
andern Lob, und in herbem Tone wieder— 
holte ſie: „Wie die Mutter . ... Ich muß es 
glauben, daß fie ſchön war. Ihr ſagt es und 
alle Welt ſagt es. Aber ich wollte, ſie wär' es 
weniger geweſen. Denn damit zwang ſie's und 
hat unſer Haus behext und in den alten Aber⸗ 
glauben zurückfallen laſſen. So fürcht' ich. Und 
daß ich's offen geſteh', ich traue dem alten Jacob 
Minde nicht und ich traue der Regine nicht. 
Und widerſtünd' es mir nicht, den Horcher und 
Späher im eigenen Haus zu machen, ich glaube, 
daß ich noch manches fänd' wie Bild und 
Splitter.“ 

„Saget das nicht, Frau Trud. Euren 
Vater, den alten Rathsherrn, kenn' ich von 
Beicht' und Abendmahl und hab' ihn allemal 
treu befunden. So das Unweſen aber im 
Mindeſchen Hauſe umginge, was Gott in ſeiner 


32 Grete Minde. 


Gnade verhüten wolle, ſo müßt' ich Euch ver— 
klagen, Frau Trud, Euch, zu der ich mich alles 
Beſten verſehen habe. Denn Ihr beherrſchet 
das Haus. Euer Vater iſt alt und Euer Eheherr 
iſt ein Wachs in Eurer Hand, und ihr wißt es 
wohl, aller Samen, der vom Unkraut fällt und 
wuchert, iſt ein Unheil und ſchädigt uns das 
Korn für unſre himmliſchen Scheuren.“ 

Sie hatten ihren Gang um das Rondel 
herum wieder aufgenommen, aus deſſen kleinen 
dreieckigen Beeten die junge Frau jetzt einzelne 
Blumen pflückte. Beide ſchwiegen. Endlich ſagte 
Trud: „Ich beherrſche das Haus, ſagt Ihr. 
Ja, ich beherrſch' es, und man gehorcht mir; 
aber es iſt ein todter Gehorſam, von dem das 
Herz nicht weiß. Das trotzt mir und geht 
ſeinen eigenen Weg.“ 

„Aber Grete iſt ein Kind.“ 

„Ja und nein. Ihr werdet ſie nun kennen 
lernen. Achtet auf ihr Auge. Jetzt ſchläft es und 
dann ſpringt es auf. Es iſt etwas Böſes in ihr.“ 

„In uns allen, Frau Trud. Und nur zwei 
Dinge ſind, es zu bändigen: der Glaube, den 
wir uns erbitten, und die Liebe, die wir uns 
erziehn. Liebt Ihr das Kind?“ 

Und ſie ſenkte den Blick. 


Grete Minde. 33 


6. 
Das Maienfeſt. 


Ein Jahr beinah war vergangen und die 
Tangermünder feierten, wie herkömmlich, ihr 
Maienfeſt. Das geſchah abwechſelnd in dem 
einen oder andern jener Waldſtücke, die die Stadt 
in einem weiten Halbkreis umgaben. In dieſem 
Jahr aber war es im Lorenzwald, den die 
Bürger beſonders liebten, weil ſich eine Sage 
daran knüpfte, die Sage von der Jungfrau 
Lorenz. Mit dieſer Sage aber verhielt es ſich 
ſo. Jungfrau Lorenz, ein Tangermünder Kind, 
hatte ſich in dem großen, flußabwärts gelegenen 
Waldſtück, das damals noch die Elbheide hieß, 
verirrt, und als der Abend hereinbrach und noch 
immer kein Ausweg ſichtbar wurde, betete ſie zur 
Mutter Gottes, ihr beizuſtehen und ſich ihrer 
Noth zu erbarmen. Und als ſie ſo betete, da 
nahte ſich ihr ein Hirſch, ein hoher Elf-Ender, 
der legte ſich ihr zu Füßen und ſah ſie an, als 
ſpräch' er: „ich bin es, beſteige mich nur.“ 
Und ſie beſtieg muthig ſeinen Rücken, weil ſie 
fühlte, daß ihr die Mutter Gottes das ſchöne 
Thier in Erhörung ihres Gebetes geſchickt habe, 
und klammerte ſich an ſein Geweih. Der Hirſch 

Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 105 


34 Grete Minde. 


aber trug ſie, zwiſchen den hohen Stämmen hin, 
aus der Tiefe des Waldes heraus, bis an das 
Thor und in die Mitte der Stadt. Da blieb 
er und ließ ſich fangen. Und die Stadt gab 
ihm ein eingehürdet Stück Weideland und hielt 
ihn in Schutz und Anſehen bis an ſeinen Tod. 
Und auch da noch ehrten ſie das fromme Thier, 
das der Mutter Gottes gedient hatte, und 
brachten fein Geweih nach Sanct Nikolai und 
hingen es neben dem Altarpfeiler auf. Den 
Wald aber, aus dem er die Jungfrau hinaus⸗ 
getragen, nannten ſie den Lorenz-Wald. 

Und dahin ging es heut. Die Gewerke 
zogen aus mit Muſik und Fahnenſchwenken, und 
die Schulkinder folgten, Mädchen und Knaben, 
und begrüßten den Mai. Und dabei ſangen ſie: 


Habt ihr es nicht vernommen? 
Der Lenz iſt angekommen! 

Es ſagen's euch die Vögelein, 
Es ſagen's euch die Blümelein, 
Der Lenz iſt angekommen. 


Ihr ſeht es an den Feldern, 

Ihr ſeht es an den Wäldern; 
Der Kukuk ruft, der Finke ſchlägt, 
Es jubelt, was ſich froh bewegt, 
Der Lenz iſt angekommen! 


Grete Minde. 35 


Und auch Trud' und Gerdt, als der Nach— 
mittag da war, hatten in gutem Muthe die 
Stadt verlaſſen. Grete mit Reginen folgte. 
Draußen aber trafen ſie die Zernitzens, alt und 
jung, die ſich's auf mitgebrachten und umge— 
ſtülpten Körben bequem gemacht und nun gar 
noch die Freud' und Genugthuung hatten, die 
jungen Mindes, mit denen ſie lieber als mit 
den andern Bürgersleuten verkehrten, an ihrer 
Seite Platz nehmen zu ſehen. Auch Valtin und 
Grete begrüßten ſich, und in Kurzem war alles 
Frohſinn und guter Laune, voran der alte Zer— 
nitz, der ſich, nach Abtretung ſeines Platzes an 
Trud', auf den Rain hin gelagert und jein ficht- 
liches und immer wachſendes Gefallen daran 
hatte, der ſtattlichen, in vollem Staat erſchienenen 
jungen Frau, über ihre Schönheit allerlei 
Schönes zu ſagen. Und dieſe, hart und herbe 
wie ſie war, war doch Frau genug, ſich der 
Schmeichelrede zu freuen. Emrentz drohte mit 
Eiferſucht und lachte dazwiſchen, Gerdt ſummte 
vor ſich hin oder ſteckte Butterblumenſtielchen in 
einander, und inmitten von Scherz und Ge— 
plauder ſah ein Jeglicher auf die ſonnige Wieſe 
hinaus, wo ſich bunte Gruppen um Buden und 


Carouſſel drängten, Bürger nach der Taube 
105 * 


36 Grete Minde. 


ſchoſſen und Kinder ihren Ringelreihen tanzten. 
Ihr Singen klang von der großen Linde her 
herüber, an deren unterſten Zweigen rothe und 
gelbe Tücher hingen. 

So mocht' eine Stunde vergangen ſein, als 
ſie, von der Stadt her, gebückt auf ſeinem 
flandriſchen Pferde, des alten Minde gewahr 
wurden. Inmitten ſeiner Einſamkeit war er 
plötzlich von einer tiefen Sehnſucht erfaßt worden, 
den Mai noch einmal mitzufeiern; und nun kam 
er den breiten Waldweg herauf, auf die Stelle 
zu, wo die Zernitzens und Mindes gemeinſchaft— 
lich lagerten. Ein Diener ſchritt neben dem 
Pferde her und führte den Zügel. Was wollte 
der Alte? Wozu kam er? Und Trud' und Gerdt 
empfingen ihn mit kurzen, raſch herausgeſtoßenen 
Fragen, die mehr nach Mißſtimmung als nach 
Theilnahme klangen, und nur Grete freute ſich 
von Herzen und ſprang ihm entgegen. Und als 
nun Decken für ihn ausgebreitet lagen, ſtieg er 
ab und ſetzte ſich an einen guten Platz, der den 
Waldesſchatten über ſich und die ſonnenbeſchienene 
Lichtung vor ſich hatte. Grete pflückte Blumen 
und ſagte: „Soll ich Dir einen Kranz flechten?“ 
Aber der Alte lächelte: „Noch nicht, Grete. Ich 
warte noch ein Weilchen.“ Und ſie ſah ihn mit 


Grete Minde. 37 


ihren großen Augen an und küßte ſtürmiſch ſeine 
welke Hand. Denn ſie wußte wohl, was er 
meinte. 

Eine Störung war ſein Kommen geweſen, 
das empfanden Alle, vielleicht er ſelbſt. Der 
alte Zernitz zeigte ſich immer ſchweigſamer, 
Emrentz auch, und Trud', um wenigſtens zu 
Sprechen, und vielleicht auch um der beobachtenden 
Blicke Gretens überhoben zu ſein, ſagte zu dieſer: 
„Du ſollteſt unter die Linde gehen, Grete.“ 

„Und Valtin begleitet Dich,“ ſetzte Emrentz 
hinzu. 
| Beide wurden roth, denn ſie waren keine 
Kinder mehr. Aber |fie ſchwiegen und gingen 
auf die Wieſe hinaus. „Sie wollen allein fein,“ 
ſagte Grete. „Seien wir's auch.“ Und an den 
Schau⸗ und Spielbuden vorbei, nahmen ſie, kreuz 
und quer, ihren Weg auf die kleinen und großen 
Gruppen zu, die ſich bei Ringelſtechen und 
Taubenſchießen erluſtigten. Aber zu der Linde, 
wo die Kinder ſpielten, gingen ſie nicht. 

Es war ſehr heiß, ſo daß ſie bald wieder 
den Schatten aufſuchten, und jenſeits der Lichtung 
angekommen, verfolgten ſie jetzt einen halbüber— 
wachſenen Weg, der ſich immer tiefer in den Wald 
hineinzog. Es glühte ſchon in den Wipfeln, da 


38 Grete Minde. 


flog eine Libelle vor ihnen her und Grete ſagte: 
„Sieh, eine Seejungfer. Wo die ſind, da muß 
auch Waſſer ſein. Ein Sumpf oder ein Teich. 
Ob ſchon die Teichroſen blühn? Ich liebe ſie fo. 
Laß uns danach ſuchen.“ 

Und ſo gingen ſie weiter. Aber der Teich 
wollte nicht kommen, und plötzlich überfiel es 
Greten: „Wo ſind wir, Valtin? Ich glaube, wir 
haben uns verirrt.“ 

„Nicht doch. Ich höre ja noch Muſik.“ 

Und ſie blieben ſtehen und horchten. 

Aber ob es eine Täuſchung geweſen war, 
oder ob die Muſik eben jetzt zu ſchweigen begann, 
gleichviel, Beide ſtrengten ſich vergeblich an, einen 
neuen Klang aufzufangen. Und es half auch zu 
nichts, als ſie das Ohr an die Erde legten. 

„Weißt Du, Grete,“ ſagte Valtin, „ich werd' 
hier hinaufſteigen. Das iſt ein hoher Baum, da 
hab' ich Ueberſicht, und es kann keine tauſend 
Schritt ſein.“ Und er ſchwang ſich hinauf und 
kletterte von Aſt zu Aſt, und Grete ſtand unten 
und ein Gefühl des Alleinſeins durchzitterte ſie. 
Nun aber war er hoch oben. „Siehſt du was?“ 
rief ſie hinauf. „Nein. Es ſind hohe Bäume 
rundum. Aber laß nur, die Sonne muß uns 
den Weg zeigen; wo ſie niedergeht iſt Abend, 


Grete Minde. 39 


und die Stadt liegt nach Mittag zu. Soviel 
weiß ich gewiß. Alſo da hinaus müſſen wir.“ 
Und gleich darauf war er wieder unten bei der 
ihn bang Erwartenden. 

Sie ſchlugen nun die Wegrichtung ein, die 
Valtin von oben her mit der Hand bezeichnet 
hatte. Aber ſo ſehr ſie ſpähten und ſuchten, die 
Waldwieſe kam nicht, und Grete ſetzte ſich müd' 
und matt auf einen Baumſtumpf und begann 
leiſe vor ſich hin zu weinen. 

„Meine ſüße Grete,“ ſagte Valtin, „ſei doch 
nicht ſo bang.“ Und er umarmte ſie und küßte 
ſie herzlich. Und ſie litt es und ſchlug nicht mehr 
nach ihm, wie damals unter dem Kirſchbaum; 
nein, ein Gefühl unendlichen Glückes überkam ſie 
mitten in ihrer Angſt, und ſie ſagte nur: „Ich 
will nicht mehr weinen, Valtin. Du biſt ſo gut. 
Und wer gut iſt, dem zu Liebe geſchehen Zeichen 
und Wunder. Und ſiehe, deſſen bin ich gewiß, 
wenn wir zu Gott um ſeine Hülfe bitten, dann 
hilft er auch und führt uns aus dem Walde 
wieder in's Freie und wieder nach Haus. Gerade 
wie damals die Jungfer Lorenz. Denn wir 
ſind ja hier im Lorenzwald.“ 

„Ja, Grete, da ſind wir. Aber wenn 
der Hirſch käm' und es wirklich gut mit uns 


40 Grete Minde. 


meinte, dann trüg' er uns an eine andre Stelle, 
denk' ich, und nicht nach Haus. Denn wir 
haben eigentlich kein Haus, Grete. Du nicht, 
und ich auch nicht. Emrentz iſt eine gute Frau, 
viel beſſer als Trud', und ich danke Gott alle 
Tage dafür; aber ſo ſie mir nichts zu Leide thut, 
ſo thut ſie mir auch nichts zu Liebe. Sie putzt 
ſich für ſich und für den Vater, und das iſt alles. 
Nein, Grete, nicht in die Stadt und nicht nach 
Haus, lieber weit, weit fort, in ein ſchönes Thal, 
von Bergen eingeſchloſſen, und oben weiß von 
Schnee und unten bunt von Blumen . ...“ 

„Wo iſt das?“ 

„Ich weiß es nicht. Aber ich hab' einmal 
in einem alten Buche davon geleſen und da 
wurde mir das Herz ſo weit. Zwiſchen hohen 
Felswänden liegt es, und der Sturm geht drüber 
hin und trifft es nie; und die Sonne ſcheint 
und die Wolken ziehen; und iſt kein Krieg und 
keine Krankheit; und die Menſchen die dort leben, 
lieben einander und werden alt und ſterben ohne 
Schmerz.“ 

„Das iſt ſchön,“ ſagte Grete. „Und nun 
komm' und laß uns ſehen, ob wir's finden.“ 

Und dabei lachten ſie Beid' und ſchritten 
wieder rüſtig vorwärts, denn die Schilderung von 


Grete Minde. 41 


dem Thale hatte Greten erfriſcht und ihr ihren Muth 
und ihre Kraft zurückgegeben. Und eine kleine 
Strecke noch, da lichtete ſich's und wie Dämmerung 
lag es vor ihnen. Aber ſtatt der Waldwieſe war 
es ein Uferſtreifen, auf den ſie jetzt hinaustraten, 
und dicht vor ihnen blitzte der breite Strom. 
„Ich will ſehen, wohin er fließt,“ ſagte Valtin 
und warf einen Zweig hinein. „Nun weiß ich's. 
Dorthin müſſen wir.“ Und ſie ſchritten fluß— 
aufwärts neben einander her. Die Sterne kamen 
und ſpiegelten ſich, und nicht lange mehr, ſo 
hörten ſie das Schlagen der Glocken, und die 
Thurmſpitze von Sanct Stephan ſtieg in dunklen 
Umriſſen vor ihnen auf. 

| Es war neun Uhr, oder ſchon vorüber, als 
ſie das Mindeſche Haus erreichten. Valtin trat 
mit in das untre Zimmer, in dem ſich um 
dieſe Stunde nur noch Trud' und Gerdt befanden, 
und ſagte: „Hier iſt Grete. Wir hatten uns 
verirrt. Aber ich bin Schuld.“ Und damit ging 
er wieder, während Grete verlegen in der Nähe 
der Thüre ſtehen blieb. 

„Verirrt,“ ſagte jetzt Trud', und ihre 
Stimme zitterte. „Ja, verirrt. Ich denke, weil 
ihr's wolltet. Und wenn ihr's nicht wolltet, 
weil ihr ungehorſam war't, und nicht Zucht und 


42 Grete Minde. 


Sitte kennt. Ihr ſolltet zu den Kindern gehen. 
Aber das war euch zuwider. Und ſo ging es 
in den Wald. Ich werde mit Gigas ſprechen 
und mit Deinem Vater. Der ſoll mich hören. 
Denn ich will nicht üble Nachred' im Hauſ', ob 
er's gleich ſelber ſo gewollt hat. Gott ſei's 
geklagt . . .! Was bracht' er uns das fremde 
Blut in's Haus? Das fremde Blut und den 
fremden Glauben. Und arm wie das Heimchen 
unterm Herd.“ | 

In dieſem Augenblicke ſtand Grete vor 
Trud', und ihre bis dahin niedergeſchlagenen 
Augen blitzten in einem unheimlichen Feuer auf: 
„Was ſagſt Du da von fremd und arm? Arm! 
Ich habe mir's von Reginen erzählen laſſen. 
Sie kam aus einem Land, wo ſie glücklich war, 
und hier hat ſie geweint und ſich zurückgeſehnt, 
und vor Sehnſucht iſt fie geſtorben. Arm! 
Wer war arm? Wer? Ich weiß es. Du warſt 
arm. Du!“ 

„Schweig,“ ſagte Gerdt. 

„Ich ſchweige nicht. Was wollt Ihr? Ich 
bin nicht Euer Kind. Gott ſei Dank, daß ich's 
nicht bin. Ich bin Eure Schweſter. Und ich 
wollt', ich wär' auch das nicht. Auch das nicht. 
Verklagt mich. Geht hin, und erzählt ihm, was 


Grete Minde. 43 


ich geſagt' hab'; ich werd' ihm erzählen, was ich 
gehört hab', heute draußen im Wald und hundert— 
mal hier in dieſem ſeinem Haus. O, ich hab' 
Euch ziſcheln hören. Und ich weiß alles, alles. 
Ihr wartet auf ſeinen Tod. Streitet nicht. 
Aber noch lebt er, und ſo lang er lebt, wird 
er mich ſchützen. Und iſt er todt, ſo ſchütz 
ich mich ſelbſt. Ja, ich ſchütze mich ſelbſt. 
Hörſt Du, Trud'.“ Und ſie ballte ihre kleinen 
Hände. 

Trud', in ihrem Gewiſſen getroffen, erkannte, 
daß ſie zu weit gegangen, während Grete plötzlich 
aller Scheu los und ledig war, die ſie bis dahin 
vor ihrer Schwieger gehabt hatte. Sie hatte 
das Gefühl eines vollkommenen Sieges, und 
ſtieg, in der Freude darüber, in den zweiten 
Stock hinauf. Oben fand ſie Reginen und 
erzählte ihr alles, was unten geſchehen. „Kind, 
Kind, das thut nicht gut, das kann ſie Dir nicht 
vergeſſen.“ Aber Grete war übermüthig geworden 
und ſagte: „Sie fürchtet ſich vor mir. Laß ſehn; 
ich habe nun beſſere Tage.“ 


44 Grete Minde. 


. 
Jacob Minde's Tod. 


Und wirklich, es war als ob Grete Recht 
behalten ſollte. Weder des Umherirrens im 
Walde, noch des heftigen Streites, der den Tag 
beſchloſſen, wurde von Trud' irgend noch erwähnt; 
allem Anſcheine nach auch gegen Gigas nicht, der 
ſonſt kaum ermangelt haben würde, von dem 
graden Pfade des Rechts und von dem „Irrpfad, 
in der Wildniß“ zu ſprechen. Aber ſolche Predigt 
unterblieb, und die Sommermonate vergingen 
ruhiger, als irgend eine Zeit vorher. Aller Groll 
ſchien vergeſſen, und Grete, die nach Art leiden— 
ſchaftlicher Naturen, eben ſo raſch zu gewinnen 
als zu reizen war, gewöhnte ſich daran, in den 
Stunden, wo Gerdt außerhalb des Hauſes ſeinen 
Geſchäften nachging, in Trud's Schlafzimmer zu 
ſitzen und ihr vorzuplaudern oder vorzuleſen, 
was ſie beſonders liebte. Und wenn Regine den 
Kopf ſchüttelte, ſagte ſie nur: „Du biſt eiferſüchtig 
und kannſt ſie nicht leiden. Aber ſie meint es 
gut, und es war auch nicht recht, daß wir in den 
Wald gingen.“ 

So kam der Einſegnungstag, Ende September, 
und den Sonntag darauf war Abendmahl, an 


Grete Minde. 45 


dem alle Mitglieder des Hauſes theilnahmen. 
Alle zeigten ſich in gehobener Stimmung, der 
alte Jakob Minde aber, trotzdem er nur mit 
Mühe den Kirchgang gemacht hatte, war mittheil— 
ſamer denn ſeit lange, plauderte viel von ſeiner 
Jugend und ſeinem Alter, und ſprach auch ab— 
wechſelnd und ohne Scheu von Gerdt's und von 
Gretens Mutter, als ob kein Unterſchied wäre. 
Trud' und Gerdt ſahen dabei einander an, und 
was in ihren Blicken ſich ausgeſprochen hatte, 
das ſollte ſich andern Tags beſtätigen. Denn in 
aller Frühe ſchon lief es durch die Stadt, daß 
der alte Rathsherr auf den Tod liege, und als 
um die ſechſte Stunde der Schein der nieder— 


glühte, bat er Reginen, daß ſie die Vorhänge 
zurückſchieben und die Kinder rufen ſolle. Und 
dieſe kamen und Grete nahm ſeine Hand und 
küßte ſie. Gleich danach aber winkte der Alte 
ſeine Schwieger zu ſich heran und ſagte: „Ich 
lege ſie Dir an's Herz, Trud'. Erinnere Dich 
allezeit an die Mahnung des Propheten: ‚laß 
die Waiſen Gnade bei Dir finden.“ Erinnere 
Dich daran und handle danach. Verſprich es mir 
und vergiß nicht dieſe Stunde.“ Trud' antwortete 
nicht, Grete aber warf ſich auf die Kniee und 


gehenden Sonne drüben an den Häuſerfronten 


46 Grete Minde. 


ſchluchzte und betete, und ehe ſie ihren Kopf 
wieder aufrichtete, war es ſtill geworden in dem 
kleinen Raum. 

Am dritten Tage danach ſtand der alte Minde 
hochaufgebahrt in Sanet Stephan, der Tanger- 
mündiſchen Hauptkirche, die, nach Art mittelalter- 
licher Gotteshäuſer, hart am Rande der Stadt 
gelegen war. Auf dem Altar brannten die großen 
Kerzen und rings umher ſaßen die Rathmannen 
der Stadt, obenan der alte Peter Guntz, der nicht 
geglaubt hatte, ſeinen ſo viel jüngeren Freund 
überleben zu müſſen. Keiner fehlte; denn die 
Mindes waren das älteſte Geſchlecht und das 
vornehmſte, wirkliche Kaufherren, und ſeit An— 
beginn im Rathe der Stadt. In nächſter Nähe 
des Sarges aber ſtanden die Leidtragenden. 
Gerdt ſah vor ſich hin, ſtumpf wie gewöhnlich, 
während Trud' und Grete, ſchwarz und in wollene 
Stoffe gekleidet, zum Zeichen ihrer tiefſten Trauer 
bis über Kinn und Mund hinauf hohe weiße 
Tücher trugen, die nur den Oberkopf frei ließen. 
Grete, kaum fünfzehn Jahr, ſah um vieles älter 
aus als ſie war, und alles Kindliche, das ihre 
Erſcheinung bis dahin gehabt hatte, ſchien mit 
dieſem Tage von ihr gewichen. 

Die Orgel ſpielte, die Gemeinde ſang, und 


Grete Minde. 47 


als beide ſchwiegen, trat Gigas aus der Sakriſtei 
und ſchritt auf die Altarſtufen zu. Er ſchien 
noch ernſter als gewöhnlich, und ſein Kopf mit 
dem ſpärlichen weißen Haar ſah unbeweglich über 
die hohe Radkrauſe hinweg. Und nun begann 
er. Erſt hart und herbe, wie faſt immer die 
Strenggläubigen, wenn ſie von Tod und Sterben 
ſprechen; als er aber das Allgemeine ließ und 
vom Tod überhaupt auf dieſen Todten kam, 
wurd' er warm und vergaß aller Herbigkeit. 
Er, deſſen ſtummes Antlitz hier ſpräche, ſo hob 
er mit immer eindringlicher werdender Stimme 
an, ſei ein Mann geweſen, wie wenige, denn er 
habe Beides gehabt, den Glauben und die Liebe. 
Da ſei keiner unter ihnen, an dem er ſeine Liebe 
nicht bethätigt habe; der Arme habe ſeine Mild- 
thätigkeit, der Freund ſeine Hülfe, die Bürger— 
ſchaft ſeinen Rath erfahren, und ſeine klugen 
und feinen Sitten ſeien es geweſen, die bis nach 
Lübeck und bis in die Niederlande hin das An- 
ſehen der Stadt auf die jetzige Höhe gehoben 
hätten. Dies wüßten alle. Aber von ſeinem 
Glauben und ſeiner Glaubensfeſtigkeit wiſſe nur 
er. Und wenn ſchon jeder in Gefahr ſtehe, 
Unkraut unter ſeinem Weizen aufſchießen zu 
ſehen, ſo habe doch dieſe Gefahr keinem ſo nahe 


48 Grete Minde. 


geſtanden wie dieſem Todten. Denn nicht nur, 
daß er eine Reihe von Jahren unter den Be— 
kennern der alten Irrlehre gelebt, die bedrohlichſte 
Stunde für das Heil ſeiner Seele ſei die Stunde 
ſeiner zweiten Eheſchließung geweſen. Denn die 
Liebe zum Weibe, das ſei die größte Verſuchung 
in unſrer Liebe zu Gott. Aber er hab' ihr 
widerſtanden, und habe nicht um irdiſchen Friedens 
willen den ewigen Frieden verſäumt. In ſeinem 
Wandel ein Vorbild, werde ſich die ſelige Ver— 
heißung, die Chriſtus der Herr auf dem Berg 
am Galiläiſchen Meer gegeben, dreifach an ihm 
erfüllen. Sei er doch friedfertig und ſanftmüthig 
geweſen und reinen Herzens. 

Und nun ſangen ſie wieder, während die 
Träger den Todten aufhoben und ihn das Mittel— 
ſchiff entlang aus der Kirche hinaus auf den 
Kirchhof trugen. Denn ein Grab im Freien 
war ſein letzter Wille geweſen. Draußen aber, 
unter alten Kaſtanienbäumen, deren Laub ſich 
herbſtlich zu färben anfing, ſetzten ſie den Sarg 
nieder, und als er hinabgelaſſen und das letzte 
Wort geſprochen war, kehrten alle heim, und 
Trud' und Gerdt ſchritten langſam die Lange 
Straße hinunter, bis an das Mindeſche Haus, 
das nun ihre war. Nur Grete war geblieben 


Grete Minde. 49 


und huſchte heimlich in die Kirche zurück und 
ſetzte ſich auf die Bahre, die noch an alter Stelle 
ſtand. Sie wollte beten, aber ſie konnte nicht, 
und ſah immer nur Trud', ſo herb und ſtreng 
wie ſie ſie früher geſehen hatte, und fühlte 
deutlich, wie ſich ihr das Herz dabei zuſammen⸗ 
ſchnürte. Und eine Vorahnung überkam ſie wie 
Gewißheit, daß Regine doch wohl Recht gehabt 
haben könne. So ſaß ſie und ſtarrte vor ſich 
hin und fröſtelte. Und nun ſah ſie plötzlich auf 
und gewahrte, daß das Abendroth in den hohen 
Chorfenſtern ſtand und daß alles um fie her wie 
in lichtem Feuer glühte: die Pfeiler, die Bilder 
und die hochaufgemauerten Grabſteine. Da war 


es ihr, als ſtünde die Kirche rings in Flammen, 


und von raſender Angſt erfaßt, verließ ſie den 
Platz, auf dem ſie geſeſſen und floh über den 


Kirchhof hin. 
In den engen Gaſſen war es ſchon dunkel 


geworden, der rothe Schein, der ſie geängſtigt, 
ſchwand vor ihren Augen, und ihr Herz begann 


wieder ruhiger zu klopfen. Als ſie aber den 


Flur ihres Hauſes erreicht hatte, ſtieg ſie zu 


Reginen hinauf und umarmte ſie und küßte ſie, 
und ſagte: „Regine, nun bin ich ganz allein. 
Eine Waiſe!“ 


Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 106 


50 Grete Minde. 


8. 
Eine Ritterkette. 
Eine Waiſe war ſie und ſie ſollt' es nur 
allzubald empfinden. Anfangs ging es, auch noch 
um die Chriſtzeit, als aber Oſtern heran kam, 


wurd' es anders im Haus, denn es geſchah, was 


nicht mehr erwartet war: Trud' genas eines 
Knäbleins. Da war nun die Freude groß und 
auch Grete freute ſich. Doch nicht lange. Bald 
mußte ſie wahrnehmen, daß das Neugeborene 
alles war und ſie nichts; Regine kochte den Brei, 
ſie gab ihn. Daß ſie ſelber ein Herz habe und 
ein Glück verlange, daran dachte niemand; ſie 
war nur da um Andrer Glückes willen. Und 
das verbitterte ſie. 

Ein Troſt war, daß ſie Valtin häufiger ſah. 
Denn Trud' hatte für nichts Sinn mehr, als 
für das Kind, und nur ſelten, wenn ſie ſich aus 
Laune oder Zufall auf ihr Hüteramt beſann, 
fiel ſie vorübergehend in ihre frühere Strenge 
zurück. 

So vergingen die Tage, meiſt ohne Streit, 
aber noch mehr ohne Luſt und Freud', und als 
es jährig war, daß ſie den alten Minde von 
ſeinem Platz vor dem Altar auf den Kirchhof 


Grete Minde. 51 


hinaus getragen hatten, ging Grete gen Sanet 
Stephan, um ſeiner an ſeinem Grabe zu ge- 
denken. 

Es war ein ſchöner Octobertag und die 
Kaſtanien lagen ausgeſtreut umher. Grete ſetzte 


ſich auf den Hügel, und das Bild des geliebten 


Todten ſtand wieder vor ihrer Seele, blaß und 
freundlich, und ſie hing ihm noch in ſüßer Trauer 
nach, als ſie ſich plötzlich bei Namen gerufen 
hörte. Sie ſah auf und erkannte Valtin. Er 
hatte ſie das Haus verlaſſen ſehen und war ihr 
nachgegangen. 

„Wie geht es?“ fragte Grete. 

Valtin antwortete nicht gleich. Endlich ſagte 


er: „Ich mag nicht klagen, Grete, denn Dein 


eigen Herz iſt voll. Aber das muß wahr ſein, 
Emrentz iſt wie vertauſcht, und hat 'was gegen 
mich. Und erſt ſeit Kurzem. Denn, wie Du 
weißt, ich hatt' es nicht gut und hatt' es nicht 
ſchlecht. So hab' ich Dir oft geſagt und ſo war 
es. Aber ſeid ihr das Kleine habt, iſt es anders. 
Und jeden Tag wird es ſchlimmer. Es iſt 
ordentlich, als ob ſie's der Trud' nicht gönnte. 
Was meinſt Du?“ 

Grete ſchüttelte den Kopf. „Nein, das iſt 
es nicht. Ich weiß aber, was es iſt, und Trud' 

106* 


52 Grete Minde. 


iſt wieder Schuld. Sie verredet Dich bei der 
Emrentz. Das iſt es.“ 

„Verredet mich? Ei, da laß doch hören,“ 
ſagte Valtin. | 

Ja, verredet Dich. Ich weiß es von der 
Regine. Die war in der Hinterſtub' oben und 
wiegte das Kind, als ſie Beid' am Fenſter ſaßen. 
Und da hörte ſie Dein Lob aus der Emrentz 
Mund und wie ſie ſagte: „Du ſei'ſt ein guter 
Jung' und machteſt ihr das Leben nicht ſchwer, 
was Du doch könnteſt, denn ſie ſei ja noch jung 
und Deine Stief.“ Aber das mißfiel unſrer 
Trud', und ſie nahm ihren ſpöttiſchen Ton an 
und fragte nur: ob ſie denn blind ſei? Und ob 
ſie nicht ſäh', wie Dir der Schalk im Nacken 
ſäße. Du lachteſt ja über fie.” 

Valtins Augen waren immer größer geworden, 
aber Grete ſah es nicht und fuhr unverändert 
fort: „Und das glaube nur, Regine hört alles 
und ſieht alles. Und ſie ſah auch, wie ſich 
Emrentz verfärbte, erſt roth, und dann erdfahl 
im ganzen Geſicht. Und jo bitterbös. Und dann 
hörte ſie, wie ſie der Trud' zuflüſterte: „Ich 
danke Dir, Trud', und ich will nun ein Auge 
darauf haben.“ 

„Alſo daher!“ ſagte Valtin. „Aber gut, 


Grete Minde. 53 


daß ich es weiß. Ich will ſie zur Rede ſtellen, 

Eure Trud', wenn ich ihr auf Flur oder Treppe 

begegne. Mich verreden. Das iſt ſchlecht.“ 
„Und unwahr dazu.“ | 
Valtin ſchwieg eine Weile. Dann nahm er 


Gretens Hand und ſagte beinahe kleinlaut: „Nein, 


unwahr eigentlich nicht. Es iſt wahr, ich habe 
mich abgewandt, und hab' auch gelacht. Aber ich 
that's nicht in Böſem und wollt' ihr nicht wehe 
thun. Und das weiß die Trud' auch. Und ſie 
weiß auch, daß ich der Emrentz nicht gram bin, 
nein, ganz und gar nicht, und daß ich mich 
eigentlich freue, daß er ſie gern hat, wenn ich 


auch ſo manchmal meine Gedanken darüber habe. 


Denn er iſt ein andrer Mann worden, und unſer 
Haus iſt ein ander Haus worden als vordem; 
und das alles dank ich ihr. Eine Stief iſt 
freilich eine Stief, gewiß, das bleibt, und wenn 
ich da bin, iſt es gut, und wenn ich nicht da bin, 
iſt es noch beſſer; ich weiß es wohl, und es geht 
ihr nichts zu Herzen, wenn's nicht eine neue 
Mod' oder ein Putz oder eine Gaſterei iſt; aber 
eigentlich hab' ich ſie doch gern, und weißt Du, 
Gret', ich werde mit ihr ſprechen und nicht mit 
der Trud'. Ich bin jetzt achtzehn, und mit acht- 
zehn, da darf man's. Und ich wette, ſie nimmt's 


54 Grete Minde. 


gut auf und giebt mir einen Kuß, und ruft den 
Vater und erzählt ihm alles und ſagt ihm alles, 
und ſagt ihm auch, daß er Schuld ſei, ja er, er, 
und daß ſie mich heirathen wolle, nächſtens ſchon, 
wenn er nicht anders würde, ganz anders. Und 
dann lacht er immer, weil er es gern hört. Aber 
ſie ſagt es noch lieber.“ 

Grete, die, während er ſprach, eine Menge 
der umherliegenden Kaſtanien geſammelt und auf: 
gezogen hatte, hing ſie ſich jetzt als Schnur um 
den Hals und ſagte: „Wie kleidet es mir?“ 

„Ach, Dir kleidet alles. Du weißt es ja, 
und alle Leute wiſſens. Und ſie ſagen auch, es 
ſei hart, daß Du Dein Leben ſo vertrauern mußt. 
Immer fo mit dem Kind ....“ 

Grete ſeufzte. „Freilich, es iſt nichts Fein's; 
aber bei Tag iſt es ein Spielzeug, und dann ſieh, 
dann giebt mir's auch zu lachen, wenn ich ſo ſeh', 
wie ſie das Würmchen aufputzen und einen 
kleinen Prinzen aus ihm machen möchten. Denn 
Du mußt wiſſen, es iſt ein häßlich Kind, und 
alles an ihm hat eine falſche Stell' und paßt 
nicht recht zuſamm', und ich ſeh es in Gedanken 
ſchon groß, wie's dann auch jo hin und her— 
ſchlänkert, grad' wie der Gerdt, und ſitzt immer 
krumm und eingeſunken, und ſtreckt die Beine 


Grete Minde. 55 


weit, weit von ſich. Ach, es hat ſchon jetzt jo 
lange dünne Beinchen. Wie die Spinn' an der 
Wand.“ 

„Und Trud'?“ fragte Valtin. 

„Die ſieht nur, daß es ein hübſches Kind 
iſt, oder ſie thut doch ſo. Und dann fragt ſie 
mich: „Nicht wahr, Gret', es ſieht gut?“ Und 
wenn ich dann ſchweig' oder verlegen ſeh', dann 
redet ſie auf mich ein und dann heißt es: „Sieh 
doch nur den Mund; iſt er nicht klein? und hat 
auch nicht ſolchen Wulſt. Und ſeine Augen 
ſtehen nicht ſo vor.“ Aber es hilft ihr nichts, 
es iſt und bleibt der Gerdt, und iſt ihm wie 
aus dem Geſicht geſchnitten.“ 
| Valtin ſchüttelte den Kopf und ſagte: „Und 
das iſt alles was Du haſt?!“ 

„Ja und nein. Und Du mußt mich nicht 
bedauern. Denn ich habe ja noch die Regine, 
die mir von alten Zeiten erzählt, und ich habe 
Gigas, der mir ſeine Blumen zeigt. Und dann 
hab' ich den Kirchhof. Und mitunter, wenn ich 
ein rechtes Glück hab', dann hab' ich Dich.“ 

Er ſah ſie zärtlich an und ſagte: „Du biſt 
ſo gut, und trägſt alles, und willſt nichts.“ 

Sie ſchüttelte den Kopf. „Ich will eigentlich 
viel, Valtin.“ 


56 Grete Minde. 


„Ich glaub's nicht.“ 

„Doch, doch. Denn ſieh', Liebe will ich, 
und das iſt viel. Und ich kann kein Unrecht 
ſehn. Und wenn ich's ſeh', da giebt es mir einen 
Stich, hier gerad' in's Herz, und ich möchte 
dann weinen und ſchrein.“ 

„Das iſt es ja, Grete. Darum biſt Du ja 
ſo gut.“ Und er nahm ihre Hand und drückte 
ſie und ſagte ihr, wie lieb er ſie habe. Und 
dann ſprach er leiſer und fragte ſie, ob ſie ſich 
nicht öfter ſehen könnten, ſo wie heut', und ſo 
ganz wie von ungefähr. Und dann nannt' er 
ihr die Plätze, wo's am eheſten ginge. Hier der 
Kirchhof ſei gut, aber eigentlich die Kirche drin, 
die ſei noch beſſer. Am beſten aber ſei die Burg, 
da ſei niemand und ſei alles ſo ſchön und ſo 
ſtill und der Blick ſo weit. 

Grete war es zufrieden und ſie ſagten 
einander zu, daß ſie, ſo lange die ſchönen Herbſtes— 
tage dauerten, ſich allwöchentlich einmal oben auf 
der Burg treffen und miteinander plaudern 
wollten. Und als ſie das beſchloſſen, hing ihm 
Grete die Kaſtanienkette um, die ſie bis dahin 
getragen, und ſagte ihm, er ſei nun ihr Ritter, 
der zu ihr halten und für ſie fechten und ſterben 
müſſe. Und dabei lachten ſie. Gleich danach 


2 78 
Ber nn 
— > 


Grete Minde. 57 


aber trennten ſie ſich, und gingen auf verſchiedenen 
Wegen, auf daß niemand fie zuſammen jähe, 
wieder in ihre Wohnung zurück. 


9. 
Auf der Burg. 


Sie hielten Wort, und eine Woche ſpäter, 
während welcher Grete mehr als ſeit lang unter 
Trud's Launen und einem Rückfall in ihre 
frühere Strenge gelitten hatte, trafen ſie ſich 
Nachmittags auf dem Kirchhof und gingen durch 
Thor und Vorſtadt erſt bis an die „Freiheit“ 


und dann auf einem anſteigenden Schlängelwege 


bis zur Burg ſelbſt hinauf. Hier, auf dem 
großen Außenhof, der zugleich als Wirthſchafts⸗ 
hof diente, war ein buntes und bewegtes Leben: 
im Taktſchlag klang es von der Tenne her, die 
Scheunenthore ſtanden offen und die Mädchen, 
die beim Flachsbrechen waren, ſangen über den 
Hof hin: 

Es waren zwei Königskinder, 

Die hatten einander ſo lieb, 

Sie konnten zuſammen nicht kommen, 

Das Waſſer war viel zu tief. 

„Ach Liebſter könnteſt Du ſchwimmen, 

So ſchwimme doch her zu mir . . ..“ 


58 Grete Minde. 


Es klang jo traurig. Aber die Geſichter 
der Mädchen lachten dabei. 

„Hörſt Du,“ ſagte Valtin, „das gilt uns. 
Sieh nur die Hübſche mit dem Flachskopf. Sieht 
ſie nicht aus, als könnte ſie ſich ihr Brauthemd 
von ihrem eignen Wocken ſpinnen?“ Grete 
ſchwieg. Ihr war ſo weh. Endlich ſagte ſie: 
„laß uns gehen, Valtin. Ich weiß nicht, was 
es iſt. Aber das fühl' ich, daß ich hier auch 
ſtehen und die Hände fleißig rühren und ſingen 
möcht'. Sieh nur, wie die Spreu von der Tenne 
fliegt. Es iſt alles ſo frei und luftig hier, und 
wenn ich hier mitſtünd', ich glaube, da verwehte 
manches, was mich quält und drückt.“ 

Valtin ſuchte nach einem Troſteswort, und 
ſie ſchritten, als er ſie wieder beruhigt, über 
einen wüſten Grasplatz, auf einen aufgemauerten 
und halbausgetrockneten Graben zu, der den 
großen, äußeren Burghof von dem kleinen, inneren 
trennte. Eine ſchmale Zugbrücke führte hinüber 
und ſie paſſirten ſie. Drinnen war alles ſtill: 
der Epheu wuchs hoch am Gemäuer auf und in 
der Mitte ſtand ein alter Nußbaum, deſſen weites 
Geäſt den halben Hofraum überdachte. Und um 
den ausgehöhlten Stamm her war eine Bank. 
Grete wollte ſich ſetzen; Valtin aber nahm ihre 


Grete Minde. 59 


Hand und ſagte: „Nicht hier, Grete, es tft zu 
ſtickig hier.“ Und damit gingen ſie weiter, bis 
an den Fuß eines ſteilen, in die Raſenbettung 
eingeſchnittenen Treppchens, das oben auf einen 
breiten, von zwei Thürmen flankirten Wallgang 
mündete. Zwiſchen dieſen Thürmen aber lief 
eine dicke, niedrige Feldſteinmauer, die nur um 
ein paar Fuß höher war als der Wallgang ſelbſt. 
Und auf dieſe Mauer ſetzten ſie ſich und ſahen 
in die Landſchaft hinaus. Zu Füßen hatten ſie 
den breiten Strom und die ſchmale Tanger, die 
ſpitzwinklig in den Strom einmündete, drüben 
aber, am andern Ufer, dehnten ſich die Wieſen, 
und dahinter lag ein Schattenſtrich, aus deſſen 
Lichtungen hier und dort eine vom Abendroth 
übergoldete Kirchthurmſpitze hervorblickte. Der 
Himmel blau, die Luft friſch; Sommerfäden 
zogen, und in das Geläut der erſten heimwärts 
ziehenden Heerden miſchte ſich von weit her das 
Anſchlagen der Abendglocke. 

„Ach, wie ſchön,“ ſagte Grete. „Jahr und 
Tag, daß ich nicht hier oben war. Und mir iſt 
faſt, als hätt' ich es nie geſehen.“ 

„Das macht, daß wir einen ſo ſchönen Tag 
haben,“ ſagte Valtin. 

„Nein, das macht, daß es hier ſo friſch 


60 Grete Minde. 


und ſo weit iſt, und zu Haus iſt es ſo dumpf 
und fo eng. Da bin ich wie gefangen und ein- 
gemauert, eingemauert wie die Stendal'ſche Nonne, 
von der mir Regine ſo oft erzählt hat.“ 

„Und Du möchteſt fort.“ 

„Lieber heut als morgen. Entſinnſt Du Dich 
noch, Maifeſt vor'm Jahr, als wir uns verirrt 
hatten und auf den Hirſch warteten, der uns 
aus dem Walde hinaustragen ſollte!“ 

Valtin nickte. 

„Sieh, da ſprachſt Du von einem Thal, das 
tief in Bergen läg', und der Sturm ginge drüber 
hin und wäre kein Krieg und die Menſchen liebten 
einander. Und ich weiß, daß ich das Thal in 
Wachen und in Träumen ſah. Viele Wochen lang. 
Und ich ſehnte mich danach und wollte hin. Aber 
heute will ich nur noch fort, nur noch weg aus 
unſerm Haus. Wohin iſt gleich. Es ſchnürt mir die 
Bruſt zuſammen und ich habe keinen Athem mehr.“ 

„Aber Du haſt doch die Regine, Gret'. Und 
Gigas iſt gut mit Dir. Und dann ſieh, Emrentz 
kann Dich leiden. Ich weiß es, ſie hat mir's 
ſelber gejagt, keine drei Tag’ erſt, als ich mein’ 
Ausſprach' mit ihr hatt'. Und dann, Grete, Du 
weißt ja, dann haſt Du mich.“ 

Sie blickte ſich ſcheu-verlegen um. Und als 


Grete Minde. 61 


ſie ſah, daß ſie von niemand belauſcht wurden, 
trat ſie raſch auf ihn zu, ſtrich ihm das Haar 
aus der Stirn und ſagte: „Ja, Dich hab' ich. 
Und ohne Dich wär' ich ſchon todt.“ 

Valtin zitterte vor Bewegung. Er erkannte 
wohl, wie tief⸗unglücklich fie ſei, und ſagte nur: 
„Was iſt es, Grete? Sag' es. Vielleicht, daß 
ich es mit Dir tragen kann. Was drückt Dich?“ 

„Das Leben.“ 

„Das Leben?“ Und er ſah ſie vorwurfs— 
voll an. 

„Nein, nein. Vergiß es. Nicht das Leben. 
Aber der Tag drückt mich; jeder; heute, morgen, 
und der folgende wieder. Endlos, endlos. Und 

iſt kein Troſt und keine Hülfe.“ 
„Der Tag,“ wiederholte Valtin vor ſich hin, 
und es war, als überleg’ er's und muſtre die 
Reihe ſeiner eigenen Tage. | 

Ja, der Tag,“ fuhr Grete fort. „Und jede 
Stund' iſt lang wie das Jahr. Kaum, daß ich 
den Morgenſchlaf aus den Augen hab', ſo heißt 
es: „Das Kind, das Kind.“ Und nun ſpring' ich 
auf und mache das Bad und mache den Brei. 
Und nun iſt das Bad viel zu heiß und der Brei 
viel zu kalt. Und dann wieder: „Das Kind und 
das Kind.“ Und an mir ſehen ſie vorbei, als 


62 Grete Minde. 


wär' ich der Schatten an der Wand. Ach, ich 
weiß, es iſt eine Sünd', aber ich muß mir's 
herunterſprechen von der Seel', und wahr iſt es 
und bleibt es, ich haſſ' es. Und ſo kommt 
Mittag und wir ſitzen an dem runden Tiſch, und 
ich ſpreche das Gebet. Sprech' es, und Niemand 
hört darauf. Und wenn ich das letzte Wort ge— 
ſprochen, ſo heißt es: „Grete, ſieh, ich glaub' es 
ſchreit.“ Und dann bring' ich es, und dann geht 
es reihum und dann ſoll ich eſſen mit dem Kind 
im Arm. Und wenn es hübſch wär'. Aber es 
iſt ſo häßlich, und ſieht mich an, als errieth es 
all' meine Gedanken. Ach, Valtin, daß iſt mein 
Tag und mein Nacht. Und jo leb' ich. In 
meines Vaters Haus ohne Heimath! Unter Bruder 
und Schweſter, und ohne Liebe! Es tödtet mich, 
daß mich Niemand liebt. Ach, wie's mich danach 
verlangt! Nur ein Wort, nur ein einzig Wort.“ 
Und ſie warf ſich auf die Knie und legte den 
Kopf auf den Stein und weinte bitterlich. 

„Es kommen andere Tage,“ ſagte Valtin. 
„Und wir wollen aushalten. Und wenn ſie nicht 
kommen, Eins mußt Du wiſſen, Gret', ich thu' 
alles, was Du willſt. Sage, daß ich hier hin— 
unter ſpringe, ſo ſpring' ich, und ſage, daß Du 
fort willſt, jo will ich auch fort. Und wenn es 


Grete Minde. 63 


in den Tod ging'! Ich kann nicht leben ohne 
Dich. Und ich will auch nicht.“ 

Grete war aufgeſprungen und ſagte: „Das 
hab' ich hören wollen. Das, das! Und nun 
kann ich wieder leben, weil ich dies Elend nicht 
mehr endlos ſeh'. Ich weiß nun, daß ich's ändern 
kann, jeden Tag und jede Stunde. Sieh mich 
nicht ſo an. Erſchrick nicht. Ich bin nicht ſo 
wild und unbändig, wie Du denkſt. Nein, ich 
will ſtill und ruhig ſein. Und wir wollen aus- 
halten, wie Du ſagſt, und wollen hoffen und 
harren, bis wir groß ſind und unſer Erbe haben. 
Denn wir haben doch eins, nicht wahr? Und 
haben wir das, Valtin, ſo haben wir uns, und 
dann haben wir die ganze Welt. Und dann ſind 
wir glücklich. Ach, wie mir ſo leicht um's Herz 
geworden. Und nun komm, und laß uns gehn 
Die Sonn' iſt unter und die letzten Heerden ſind 
eben herein.“ 

Er war es zufrieden und ſie wandten ſich 
und gingen heimwärts, erſt unter dem Nußbaum 
hin und dann über die kleine Zugbrücke fort, die 
von dem inneren Burghof in den Außenhof 
führte. In dem Sumpfwaſſer unter ihnen ſtand 
das Rohr und wuchs hoch hinauf bis an das 
Brückengebälk. Ein paar blaue Dolden, blattlos 


64 Grete Minde. 


und auf langen Stielen, blühten einſam da- 
zwiſchen. Und nun waren ſie wieder jenſeits 
und ſahen, daß alle Arbeit in Hof und Tenne 
ſchwieg. Die Mädchen, die beim Flachsbrechen 
geweſen waren, hatten ſich mit den Knechten auf 
Brettern und Balken geſetzt, die hoch aufgeſchichtet 
an einem Hollunderzaune lagen und ſangen 
allerlei Lieder, Luſtiges und Schelmiſches, und 
neckten ſich untereinander. Als ſie aber des 
jungen Paares anſichtig wurden, brachen ſie 
plötzlich ab und nahmen wie von ſelber die Weiſe 
wieder auf, die ſie, eine Stunde vorher, bei 
Beider Kommen geſungen hatten: 

„Ach Tochter, herzliebſte Tochter, 

Allein ſollſt du nicht gehn, 

Weck' auf deine jüngſte Schweſter 

Und laß ſie mit dir gehn.“ 

„Ach Mutter, herzliebſte Mutter, 

Meine Schweſter iſt noch ein Kind, 

Sie pflückt ja all' die Blumen, 

Die auf grüner Heide ſind.“ 

Valtin und Grete waren raſcher zugeſchritten 
und die letzten Worte des Liedes verklangen 
ihnen unklar und halbgehört. Aber die Weiſe 
traf noch ihr Ohr, als ſie das Burgthor ſchon 
lang im Rücken hatten. 


8 
. . 


Grete Minde. 65 


10. 
Zu Weihnachten. 


„Ich kann nun wieder leben,“ hatte Grete 
geſagt, und wirklich, das Leben wurd' ihr leichter 
ſeitdem. Ein beinah freudiger Trotz, dem ſie ſich, 
auch wenn ſie gehorchte, hingeben konnte, half 
ihr über alle Kränkungen hinweg. Sie gehorchte 
ja nur noch, weil ſie gehorchen wollte. Wollte 
ſie nicht mehr, ſo konnte ſie, wie ſie zu Valtin 
geſagt hatte, jeden Tag „dem Spiel ein Ende 
machen.“ Und wirklich, ein Spiel war es nur 
noch, oder ſie wußt' es doch in dieſem Lichte zu 
ſehen. Das gab ihr eine wunderſame Kraft, und 


wenn ſie dann ſpät Abends in ihre Giebelſtube 


hinaufſtieg, die ſie, ſeit das Kind unten aus der 
erſten Pflege war, wieder mit Reginen bewohnte, 
ſo gelang es ihr mit dieſer zu lachen und zu 
ſcherzen. Und wenn es dann hieß „aber nun 
ſchlafe, Gret',“ dann wickelte ſie ſich freilich in 
ihre Decken und ſchwieg, aber nur, um ſich in 
wachen Träumen eine Welt der Freiheit und des 
Glückes aufzubauen. Dabei ſah ſie ſich am 
liebſten am Bug oder Steuer eines Schiffes 
ſtehen, und der Seewind ging, und es war Nacht⸗ 
zeit und die Sterne funkelten. Und ſie ſah 


Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 107 


66 Grete Minde. 


dann hinauf, und alles war groß und weit und 
frei. Und zuletzt überkam es ſie wie Frieden 
inmitten aller Sehnſucht, ihr Trotz wurde Demuth, 
und an Stelle des böſen Engels, der ihren Tag 
beherrſcht hatte, ſaß nun ihr guter Engel an ihrem 
Bett. Und wenn ſie dann andren Tags erwachte 
und hinunter ſah auf den Garten, und den Pfau 
auf ſeiner Stange kreiſchen hörte, dann fragte ſie 
ſich: „Biſt Du noch Du ſelbſt? Biſt Du noch 
unglücklich?“ Und mitunter wußte ſie's kaum. 
Aber freilich auch andere Tage kamen, wo ſie's 
wußte, nur allzu gut, und wo weder ihr guter 
noch ihr böſer Engel, weder ihre Demuth noch 
ihr Trotz ſie vor einem immer bitterer und lei- 
denſchaftlicher aufgährenden Groll zu ſchützen 
wußte. 

Ein ſolcher Tag, und der bitterſten einer, 
war der Weihnachtstag, an dem auch diesmal ein 
Chriſtbaum angezündet wurde. Aber nicht für 
Grete. Grete war ja groß, nein, nur für das 
Kleine, das denn auch nach den Lichtern haſchte 
und vor allem nach dem Goldſchaum, der reichlich 
in den Zweigen glitzerte. „'s iſt Gerdt's Kind,“ 
ſagte Grete, der ihres Bruders Geiz und Hab— 
ſucht immer ein Abſcheu war; und ſie wandte 
ſich ihren eigenen Geſchenken zu. Es waren ihrer 


— 


Grete Minde. 67 


nicht allzu viele: Lebkuchen und Aepfel und Nüſſe, 
ſammt einem dicken Spangen-Geſangbuch (trotz 
dem ſie ſchon zwei dergleichen hatte), auf deſſen 
Titelblatt in großen Buchſtaben und von Trud's 
eigener Handſchrift geſchrieben war: Sprüche Sa⸗ 


lomonis, Kap. 16, Vers 18. 


Sie kannte den Vers nicht, wußte aber, 
daß er ihr nichts Gutes bedeuten könne, und 
ſobald ſich's gab, war ſie treppauf, um in der 
großen Bibel nachzuſchlagen. Und nun las ſie: 
„Wer zu Grunde gehen ſoll, der wird ſtolz, und 
ſtolzer Muth kommt vor dem Fall.“ 

Es ſchien nicht, daß ſie verwirrt oder irgend— 
wie betroffen war, ſie ſtrich nur, ſchnell ent⸗ 


ſchloſſen, die von Trud eingeſchriebene Zeile mit 


einer dicken Feder durch, blätterte haſtig in dem 
alten Teſtamente weiter, als ob ſie nach einer 
bekannten, aber ihrem Gedächtniß wieder halbent— 
fallenen Stelle ſuche, und ſchrieb dann ihrerſeits 
die Prophetenſtelle darunter, die des alten Jakob 
Minde letzte Mahnung an Trud enthalten hatte: 
„Laſſe die Waiſen Gnade bei Dir finden.“ Und 
nun flog ſie wieder treppab und legte das Buch 
an ſeinen alten Platz. Trud aber hatte wohl 
bemerkt, was um ſie her vorgegangen, und als 
ſie mit Gerdt allein im Zimmer war, ſah ſie nach 
107⸗ 


68 Grete Minde. 


und ſagte, während ſie ſich verfärbte: „Sieh und 
lies!“ Und er nahm nun ſelber das Buch und 
las und lachte vor ſich hin, wie wenn er ſich 
ihrer Niederlage freue. Denn ſeine hämiſche 
Natur kannte nichts Lieb'res als den Aerger 
andrer Leute, ſeine Frau nicht ausgenommen. 
Zwiſchen dieſer aber und Greten unterblieb jedes 
Wort, und als der Faſching kam, den die Stadt 
diesmal ausnahmsweiſe prächtig mit Aufzügen 
und allerlei Mummenſchanz feierte, ſchien der 
Zwiſchenfall vergeſſen. Und auch um Oſtern, 
als ſich alles zu dem herkömmlichen großen Kirch— 
gang rüſtete, hütete ſich Trud wohl, nach dem 
Buche zu fragen. Wußte ſie doch, daß es Gret' 
unter dem Weißzeug ihrer Truhe verſteckt hatte. 
Denn ſie mocht' es nicht ſehen. 


14, 
Der Herr Churfürſt kommt. 


Und nun war Hochſommerzeit (der längſte Tag 
ſchon um vier Wochen vorüber) und die Bürger, 
wenn ſie ſpät Abends aus dem Rathhauskeller heim 
gingen, verſicherten einander, was übrigens Nie— 
mand beſtritt, „daß die Tage ſchon wieder kürzer 
würden.“ Da kam an einem Mittewochen plötzlich die 


r 7 . 


HB, 
N 


Grete Minde. 69 


Nachricht in die Stadt, daß der allergnädigſte Herr 
Churfürſt einzutreffen und einen Tag und eine 
Nacht auf ſeiner Burg Tangermünde zuzubringen 
gedenke. Das gab ein großes Aufſehen, und 
noch mehr der Unruhe, weilen der Herr Churfürſt 


in eben jenen Tagen nicht blos von ſeinem 


lutheriſchen Glauben zum reformirten über⸗ 
getreten, ſondern auch in Folge dieſes Uebertritts 
die Veranlaſſung zu großer Mißſtimmung und 
der Gegenſtand allerheftigſter Angriffe von Seiten 
der Tangermündiſchen Hitzköpfe geworden war. 
Und nun kam er ſelbſt, und während Viele der 
nur zu begründeten Sorge lebten, um ihrer 


ungebührlichen und läſterlichen Rede willen zur 


Rechenſchaft gezogen zu werden, waren andere, 
ihres Glaubens und Gewiſſens halber, in tiefer 
und ernſter Bedrängniß. Unter ihnen Gigas. 
Und dieſe Bedrängniß wuchs noch, als ihm am 
Nachmittage vorerwähnten Mittewochens durch 
einen Herrn vom Hofe vermeldet wurde, daß 
Seine churfürſtliche Durchlaucht um die ſiebente 
Morgenſtunde zu Sanct Stephan vorzuſprechen 
und daſelbſt eine Frühpredigt zu hören gedächten. 
Wie dem hohen Herrn begegnen? Dem Abtrün— 
nigen, der vielleicht alles in Stadt und Land 
zu Abfall und Untreue heranzwingen wollte! 


70 rete Minde. 


Und ſo muthig Gigas war, es kam ihm doch ein 
Bangen und eine Schwachheit an. Aber er be— 
tete ſich durch, und als der andre Morgen da 
war, ſtieg er, ohne Menſchenfurcht, die kleine 
Kanzeltreppe hinauf und predigte über das 
Wort des Heilands: Gebet dem Kaiſer, was des 
Kaiſers, und Gott, was Gottes iſt.“ Und ſiehe 
da, die holzgeſchnitzte Taube des heiligen Geiſtes 
hatte nicht vergeblich über ihm geſchwebt, und 
der Herr Churfürſt, nachdem er entblößten 
Hauptes und „mit abſonderer Aufmerkſamkeit“ 
der Predigt gefolget war, hatte nach Schluß 
derſelben ihm danken und ihn zu weiterer Be— 
ſprechung auf ſeine Burg entbieten laſſen. Und 
hier nun, wie die Chroniſten melden, war Seine 
churfürſtliche Durchlaucht dem feſten und glau— 
benstreuen Manne nicht nur um einen Schritt 
oder zwei zu freundlicher Begrüßung entgegen— 
gegangen, ſondern hatte demſelben auch unter 
freiem Himmel und in Gegenwart vieler Herren 
vom Adel, an Eidesſtatt zugeſichert: „daß er 
ſeine von Gott ihm anbefohlenen Unterthanen 
bei dem Worte Lutheri Augsburgiſcher Confeſſion 
belaſſen, eines jeden Perſon auch in der Frei— 
heit ſeines Glaubens und Gewiſſens ſchützen 
wolle, in eben jener Freiheit, um derentwillen er 


Grete Minde. 71 


für Seine Perſon das Bekenntniß der beſtändig 
hadernden Lutheriſchen abgethan und den refor- 
mirten Glauben angenommen habe.“ 

Und als dieſe zu größerem Theile troſtreiche 
Rede, über deren ſchmerzlichen Ausklang Gigas 
klug hinwegzuhören verſtand, an Burgemeiſter 
und Rath überbracht worden war, waren Peter 
Guntz und die Rathmannen, dazu die Geiſtlichen 
und Rektores aller fünf Kirchen, auf der Burg 
erſchienen, um nach abgeſtattetem Dank und 
wiederholter Verſicherung unverbrüchlicher Treue, 
den Herrn Churfürſten um die Gunſt anzugehen, 
ihm ein feſtlich Mahl herrichten zu dürfen. Aber 
in der Halle ſeiner eigenen Burg, dieweilen 
ihre Rathhaus⸗Halle zu klein ſei, um die reiche 
Zahl der Gäſte zu faſſen. Und alles war an⸗ 
genommen worden und hatte die Stadt um ſo 
mehr erfreut und beglückt, als bei gnädiger Ent⸗ 
laſſung der Sprecher, unter denen ſich auch 
Gerdt in vorderſter Reihe befunden, ſeitens Sr. 
churf. Durchlaucht der Hoffnung Ausdruck ges 
geben worden war, die ſittigen und ehrbaren 
Frauen der Stadt auf ſeiner Burg mit erſcheinen 
und an dem Feſtmahle theilnehmen zu ſehen. 

Und nun war dieſes Mahl, unter freund- 
lichem Beiſtand aller Dienerſchaften des hohen 


2 Grete Minde. 


Herrn, in kürzeſter Friſt hergerichtet worden, 
und um die vierte Stunde bewegte ſich der Zug 
der Geladenen, Männer und Frauen, die Lange 
Straße hinab, zur Burg hinauf. Die kleineren 
Bürgerfrauen aber, die von der Feſtlichkeit aus⸗ 
geſchloſſen waren, ſahen ihnen neidiſch und ſpöt⸗ 
tiſch nach, und nicht zum wenigſten, als Trud 
und Emrentz an ihnen vorüberzogen. Denn 
beide waren abſonderlich reich und prächtig ge— 
kleidet, in Ketten und hohen Krauſen, und 
Emrentz, aller Julihitze zum Trotz, hatte ſich ihr 
mit Hermelinpelz beſetztes Mäntelchen nicht ver- 
ſagen können. Trud's Kleid aber ſtand ſteif und 
feierlich um ſie her und bewegte ſich kaum, als 
ſie, zur Rechten ihrer Muhme, die Straße 
hinunterſchritt. 

Und nun war Alles oben, das Mahl begann, 
und die gothiſchen Fenſter mit ihren kleinen bunt⸗ 
glaſigen und vielhundertfältig in Blei gefaßten 
Scheibchen ſtanden nach Fluß und Hof hin weit 
offen, und die Gäſte, ſo lang es drin ein 
Schweigen gab, hörten von den Zweigen des 
draußenſtehenden Nußbaums her das Jubiliren 
der Vögel. Aber nicht immer ſchwieg es drinnen, 
Trinkſpruch reihte ſich an Trinkſpruch, und wenn 
dann von der großen Empore herab, die zu 


a nn a Aa Se Kr a EEE TER N Een Th nn a a ee 
- .- — N * 2 ER ·¹—mm K Zar nie . 


rr 


Grete Minde. 73 


Häupten des Churfürſten aufragte, die Stadt- 
pfeifer einfielen und die Paukenwirbel über den 
Fluß hin und bis weit hinaus in die Landſchaft 
rollten, dann hielt der Fährmann ſein Boot an 
und die Koppelpferde horchten auf und ſahen ver⸗ 
wundert nach der ſonſt ſo ſtillen Burg hinüber. 


12, 
Am Wendenſtein. 
Um eben dieſe Zeit ſaß Grete daheim in der 


Hinterſtube des erſten Stocks. Trud's letztes 
Wort an ſie war geweſen: „Hüte das Kind.“ 


Und nun hütete ſie's. Es lag in einer Wiege 


von Roſenholz, ein Schleiertuch über dem Köpf⸗ 
chen, und durch Thür und Fenſter, die beide 
geöffnet waren, zog die Luft. Herabgelaſſene 
Vorhänge gaben Schatten, und nur ein paar 
Fliegen tanzten um den Thymianbuſch, der an 
der Decke des Zimmers hing. Es regte ſich 
nichts in dem weiten Hauſe. 

Und doch war Jemand eingetreten: Valtin. 
Er hatte die Hausthür vorſichtig geöffnet, ſo daß 
die Glocke keinen Ton gegeben, und ſah ſich nun 
auf dem halb im Dämmer liegenden Flure neu— 
gierig um. Es war alles wie ſonſt: an dem 


74 Grete Minde. 


vorderſten Querbalken ſaßen die zwei Schwalben⸗ 
neſter und in den Niſchen ſtanden die Schränke, 
erſt die von Nußbaum, dann die von Kiehnenholz, 
bis dicht an die Hofthür hin. Die Hofthür ſelbſt 
aber ſtand auf; ein breiter Lichtſtreifen fiel ein 
und auf dem ſonnenbeſchienenen Hofe ſaßen die 
Tauben und ſpielten im Sand, oder ſchritten 
gurrend, und dabei ſtolz und zierlich ihre Köpfe 
drehend, an dem noch ſtolzeren Pfau vorüber. 
Und dahinten war das vom Wein überwachſene 
Gitter, von dem aus die ſechs Treppenſtufen 
niederführten, und durch die offnen Stellen des 
Laubes hindurch ſah man die Malvenkronen und 
die Strauchſpitzen des tiefer gelegenen Gartens. 
Alles märchenhaft und wie verwunſchen, und 
leiſer noch als er in das Haus eingetreten war, 
ſtieg er jetzt die Stiege hinauf, bis er an der 
Schwelle der Hinterſtube hielt. Es ſchien, daß 
Grete ſchlief, und einen Augenblick war er in 
Zweifel, ob er bleiben oder wieder gehen ſolle. 
Aber zuletzt rief er ihren Namen und ſie ſah 
lächelnd auf. „Komm nur,“ ſagte ſie, „ich ſchlafe 
nicht. Ich hüte ja das Kind. Willſt Du's 
ſehen?“ 

„Nein,“ ſagte er, „laß es. Sehen wir's 
an, ſo wecken wir's, und iſt es wach, ſo ſchreit 


ER 


r r 
9 3 * r 


r r u Eon ma De hir 
N e = Era 


Grete Minde. 75 


es. Und es ſoll nicht wach ſein, und noch we— 
niger ſoll es ſchreien, denn ich will Dich abholen. 
Alle Welt iſt draußen auf der Burg, und Du 
biſt hier allein, als wär'ſt Du die Magd im 
Haus oder die Kindermuhme. Komm, es ſieht 
uns Niemand. Wir gehen an den Gärten hin, 
und die Stadtmauer giebt uns Schatten. Und 
ſind wir erſt oben, da thun wir, als fänden wir 
uns. Sieh, ich bin ſo neugierig. Und Du biſt 
es auch, nicht wahr? Er iſt ja doch eigentlich 
unſer Landesherr. Und am End' iſt es ein Un- 
recht ihn nicht geſehen zu haben, wenn man ihn 
ſehen kann. Ich glaube, wir müſſen ihn ſehen, 
Grete. Was meinſt Du?“ 

Grete lachte. „Wie gut Du die Worte 
ſtellen kannſt. Sonſt heißt es immer, Eva ſei 
Schuld; aber heute nicht. Du bered'ſt mich, und 
ich ſoll thun, was ſie mir verboten.“ 

„Ach, wer?” 

„Nun, Du weißt es ja; Trud. Und da ſitz' 
ich nun hier und gehorche. Und dann iſt das 
Kleine ...“ 

„Laß nur. Es ſchläft ja. Und Regine hütet 


es fo gut wie Du. Komm, und eh' das Feſt 


aus iſt, ſind wir wieder da. Und Du ſetzeſt 
Dich an Deinen alten Platz, und Niemand weiß 


76 Grete Minde. 


es. Und die ſchlafenden Kinder haben ihren 
Engel.“ | 
„Nun gut, ich komm.“ Und dabei rief ſie 
nach der Regine, die neben dem Küchenherde ſaß, 
und ehe noch der Pfau draußen auf dem Hofe 
gekreiſcht und ſein Rad geſchlagen hatte, was er, 
wenn er Greten ſah, immer zu thun pflegte, 
waren fie ſchon an ihm vorbei und zur Garten- 
pforte hinaus, und gingen im Schatten der 
Stadtmauer, ganz wie Valtin es gewollt hatte, 
bis an das Waſſerthor, und dann über die Tan— 
gerwieſen auf die Vorſtadt zu. Niemand be— 
gegnete ihnen hier; alles war wie ausgeſtorben; 
und erſt als ſie die „Freiheit“ paſſirt und den 
äußeren Burghof erreicht hatten, ſahen ſie, daß 
hier die kleinen Leute ſammt ihrem Geſinde zu 
vielen Hunderten ſtanden und den Raum bis an 
die Zugbrücke hin ſo völlig füllten, daß an ein 
Hineinkommen in den inneren Burghof gar nicht 
zu denken war. 

Und ſo ſchlug denn Valtin vor, wieder 
hügelabwärts zu ſteigen und drüben auf den 
Elbwieſen einen Spatziergang zu machen. Grete 
war es zufrieden und erſt als fie den Fähr⸗ 
mann angerufen und den Fluß gekreuzt hatten, 
wandten ſie ſich wieder, um nun unbehindert auf 


nal De a en a a u gr 


r 


Grete Minde. 77 


die goldig im Scheine der Spätnachmittags⸗Sonne 
daliegende Burg zurückzuſehen, und in die von 
drüben her herüberklingenden Lebehochs miteinzu— 
ſtimmen. 

Aber bald waren ſie's müd', und ſie gingen 
tiefer in die hoch in Gras ſtehende, mit Ranunkeln 
und rothem Ampfer überſäte Wieſe hinein, bis 
ſie zuletzt an einen niedrigen mit Werft und 
Weiden beſetzten Erdwall kamen, der ſich quer 
durch die weite Wieſenlandſchaft zog. Auf der 
Höhe dieſes Walles lag ein Feldſtein von abſon— 
derlicher Form und ſo dicht mit Flechten über— 
wachſen, daß ſich ein paar halbverwitterte Schrift— 


zeichen daran nur mühſam erkennen ließen. Und 


auf dieſen Feldſtein ſetzten ſie ſich. 

„Was bedeutet der Stein?“ fragte Grete. 

„Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Wenden— 
grab.“ 

„Wie denn?“ 

„Weißt Du denn nicht? Dies iſt ja das 
Feld, wo die große Tangerſchlacht war. Heiden 
und Chriſten. Und die Heiden ſiegten. Und zu 
beiden Seiten des Erdwalls, auf dem wir hier ſitzen, 
vor uns bis dicht an den Wald und hinter uns 
bis dicht an den Fluß, liegen ſie zu vielen Tau⸗ 
ſenden.“ 


78 Grete Minde. 


„Ich glaub' es nicht. Und wenn auch, ich 
mag nicht davon hören. Auch nicht, wenn die 
Chriſten geſiegt hätten... Aber ſieh, wie ſchön.“ 
Und dabei zeigte ſie mit der Hand auf die vor 
ihnen ausgebreitete Landſchaft, die ſie jetzt erſt, 
von dem hochgelegenen Stein aus, mit ihrem 
Blick umfaſſen konnten. Es war daſſelbe Bild, 
das ſie letzten Herbſt ſchon von der Burg und 
dem Gemäuer aus vor Augen gehabt hatten, 
nur die Dörfer, die damals mit nichts andrem, 
als ihren Kirchthurmſpitzen aus dem Schatten— 
ſtriche des Waldes hervorgeblickt, lagen heute klar 
und deutlich vor ihnen, und die Strohdächer mit 
ihren Storchenneſtern ließen ſich überall erkennen. 

„Weißt Du, wie die Dörfer heißen?“ fragte 
Grete. 

„Gewiß, weiß ich's. Das hier rechts iſt 
Buch, wo der Herr von Buch lebte, der einen 
Schatz in unſerer Tangermünder Kirche viele 
Jahre lang verborgen hielt, um ihn zuletzt als 
Löſegeld für ſeinen Herrn Markgrafen zu zahlen. 
Denn die Magdeburger hatten ihn gefangen ge— 
nommen. Und er hieß Markgraf Otto. Otto 
mit dem Pfeil. Ein ſchöner Herr und ſehr rit— 
terlich, und war ein Dichter und liebte die Frauen. 
Weißt Du davon?“ 


u 


Grete Minde. 79 


„Nein ... Aber hier das Dorf mit dem 
blanken Wetterhahn?“ 

„Das iſt Fiſchbeck.“ 

„Ach, das kenn' ich. Da wohnt ja der alte 
Pfarr... aber nun hab' ich ſeinen Namen ver⸗ 
geſſen. O, von dem weiß ich. Der war eines 
Fiſchbecker Bauern Sohn und ſollte ſeines Vaters 
Pferde hüten. Aber er wollt' es nicht und lief 
ihm fort, denn er wußt' es beſtimmt in ſeinem 
Herzen, daß er ein Geiſtlicher und ein frommer 
Mann werden müſſe. Und er wurd' es auch, 
und nun hütet er am ſelben Ort ſein Amt und 
ſeine Gemeinde. Und ſein Vater hat es noch 
erlebt.“ 

„Aber Grete, woher weißt Du nur das 
alles? Die Geſchichte von der großen Tanger— 
ſchlacht und von dem Tangermünder Schatze, die 
weißt Du nicht, und die von dem Fiſchbecker 
Paſtor weißt Du ſo genau!“ 

Grete lachte. „Und weißt Du, wie lang ich 
ſie weiß? Seit geſtern. Und weißt Du von 
wem? Von Gigas.“ 

„Das mußt Du mir erzählen.“ 

„Freilich. Das will ich auch. Aber da 
muß ich weit ausholen.“ 

„Thu's nur. Wir haben ja Zeit.“ 


80 | Grete Minde. 


„Nun ſieh, Valtin, Du weißt, ich bin immer 
weit fort; weit fort in meinen Gedanken. Und 
Du weißt auch, um deshalb halt' ich's aus. 
Und immer Abends, wenn ich mit der Regine 
bin, leſ' ich von Kindern oder ſchönen Prin- 
zeſſinnen, die vor einem böſen König oder einer 
böſen Königin geflohen ſind, und es giebt viele 
ſolche Geſchichten, und nicht blos in Märchen- 
büchern, viel, viel mehr als Du Dir denken 
kannſt, und mitunter iſt es mir, als wären alle 
Menſchen irgend einmal ihrem Elend entlaufen.“ 

Valtin ſchüttelte den Kopf. 

„Du ſchüttelſt den Kopf. Und ſieh, das 
thu' ich auch. Oder doch von Zeit zu Zeit. 
Und ſo war es auch geſtern, denn ich hatte 
wieder einen Traum gehabt, wieder von Flucht, 
und es war als flög' ich und mir war im Flie— 
gen ſo wohl und ſo leicht. Aber als ich auf— 
wachte, war ich bedrückt und unruhig in meinem 
Gemüth. Und da dacht' ich, das ſoll ein Ende 
haben: du wirſt Gigas fragen, der ſoll dir ſagen, 
ob es etwas Böſes iſt, zu fliehen. Und ſo ging 
ich zu ihm, geſtern um die Mittagsſtunde, troß- 
dem ich wohl gehört hatte, daß er ſelber in 
Sorg' und Unruh' ſei.“ 

„Und wie fandeſt Du ihn?“ 


. , Ze nn Br 


TER GWG 
* 


Grete Minde. 81 


„Ich fand ihn in ſeinen Garten zwiſchen den 
Beeten, und wir gingen auf und ab, wie er's 
gern thut, und ſprachen vielerlei, und zuletzt 
auch von unſerm Herrn Churfürſten, der wie 
wir ja ſchon wußten, eine Nacht und einen Tag 
auf feiner Tangermünder Burg zu verbleiben ge- 
denke. Und als ich ſah, daß er ſich in ſeinem 
Gewiſſen ſorgte, gerade ſo wie ſich's Trud und 
Gerdt, als fie von ihm ſprachen, im unſrem 
Hauſe ſchon zugeflüſtert hatten, da faßt' ich mir 
ein Herz und fragt’ ihn: Was er wohl mein’? 
Ob Flucht allemalen ein bös und unrecht Ding 
ſei? Oder ob es nicht auch ein rechtmäßig und 


zuſtändig Beginnen ſein könne?“ 


„Und was antwortete er Dir?“ 

„Er ſchwieg eine ganze Weile. Als wir 
aber an die Bank kamen, die zu Ende des 
Mittelganges ſteht, ſagte er: „Setz' Dich, Gret'. 
Und nun ſage mir, wie kommſt Du zu ſolcher 
Frag'?“ Aber ich gab ihm keine Antwort und 
wiederholte nur alles, und ſah ihn feſt dabei 
an. Und all das konnt' ich, ohne mich ihm zu 
verrathen, denn ich hatte wohl bemerkt, daß er 
an nichts als an den gnädigen und geſtrengen 
Herrn Churfürſten dachte, der genferiſch gewor— 
den, und daß er immer nur alles Fährliche vor 

Th. Fontane, Gef. Romane u. Novellen. 108 


82 Grete Minde. 


Augen ſah, was ihm ſelber noch bevorſtehen 
könne. Und endlich nahm er meine Hand, und 
ſagte: „Ja, Grete, das iſt eine ſchwere Frag', 
und ich denke, wir müſſen zum Erſten allemal 
beten, daß wir nicht in Verſuchung fallen, und 
zum Zweiten, daß uns die Gnade Gottes überall, 
wo wir zweifelhaft und unſicher in unſerm Ge— 
müthe ſind, den rechten Weg finden laſſe. Denn 
die richtigen Wege ſind oft wechſelvolle Wege, 
und wenn es heut unſre Pflicht iſt zu gehorchen 
und auszuharren, ſo kann es morgen unſre 
Pflicht ſein nicht zu gehorchen und uns durch 
Flucht einem ſchlimmen Anſinnen zu entziehn. 
Aber Eines gilt heut und immerdar: wir müſſen 
in unſrem Thun, ob wir nun fliehen oder aus— 
harren, einem höheren Rufe Folge leiſten.“ 
Und nun erzählte er mir von dem Fiſchbeck'ſchen 
Paſtor und ſeiner Flucht.“ 

„Aber er muß Dir doch noch mehr erzählt 
haben?“ 

„Nein. Vielleicht daß er's gethan, aber der 
alte Peter Guntz kam und unterbrach uns. Und 
ich wußte ja nun auch, was ich wiſſen wollt! 
und daß auch eine Flucht das Rechte ſein könne. 
Und als ich heimging, zählt' ich mir her, 
wer alles geflohen ſei. Joſeph und Maria 


rr 9 nt a 


WWW 


F :mUU ꝛ˙¾‚˙— ... ͤ —ͥudſdt 
“ er nr 
3 


Grete Minde. 83 


floh. Und auch Petrus floh aus ſeinem Ge— 
fängniß.“ 

„Aber ein Engel des Herrn führte ſie,“ 
ſagte Valtin. „Und ſie flohen um Gott und 
Glaubens willen.“ 

Es ſchien, daß dieſe Worte Greten in's Ge— 
wiſſen trafen, denn ſie ſchwieg. Endlich aber 
ſagte ſie: „Ja, um Gott und Glaubens willen. 
Aber auch um Lebens und Rechtes willen. Ich 
mag kein Unrecht ſehen, und auch keines leiden.“ 

„Du weißt aber, daß wir Geduld üben und 
unſere Feinde lieben ſollen.“ 

„Ja, ich weiß es; aber ich kann es nicht.“ 

„Weil Du nicht willſt.“ 

„Nein, ich will es nicht.“ 

Und als ſie ſoweit geſprochen, wandten ſie 
ſich wieder und ſahen, daß der Sonnenball unter 
war und die Burgthürme bereits im Abendrothe 
glühten. „Es iſt Zeit, daß wir heimgehen,“ 
ſagte Valtin, „oder wir verpaſſen's, und Trud 
iſt eher zu Haus als wir.“ 

„Laß ſie,“ ſagte Grete leicht. „Ich mag 
nicht mehr nach Haus. Mir iſt, als wäre dies 
mein letzter Tag, und als müßt' ich fort. Heute 
noch. Gleich. Willſt Du?“ 


Valtin ſah ſie bang und fragend an. 
108 * 


84 Grete Minde. 


„Du willſt nicht? Sag's nur. Du fürchteſt 
Dich.“ | 

„Ich will, Grete. Ganz gewiß, ich will. 
Aber ich muß es einſehen, daß es nicht anders 
geht. Und hab' ich Dir's anders verſprochen, 
damals auf der Burg, als die Mädchen ſangen 
und die Sommerfäden zogen, ſo darfſt Du mich 
nicht beim Worte nehmen. Es war ein Un⸗ 
recht.“ 

Sie warf den Kopf, aber ſagte nichts, und 
nahm ſeinen Arm. Und ſo ſchritten ſie wieder 
auf die Fähre zu. Die Sterne waren bald 
herauf und ſpiegelten ſich in dem ſtillen Strom, 
während Mückenſchwärme wie Rauchſäulen über 
ihnen ſtanden. Oben auf der Burg ſchimmerten 
noch die Lichter, ſonſt aber war alles ſtill, und 
nur aus weiter Ferne her hörte man noch ein Sin— 
gen, das mehr und mehr verklang. Es waren 
die kleinen Leute, die, ſammt ihrem Geſinde, 
vom Außenhofe her wieder in die Stadt zogen. 
Und dazu klatſchten eintönig die Ruderſchläge des 
Fährboots, und nun lief es auf, und Valtin und 
Grete ſprangen ans Ufer. 

Die Stadt gedachten ſie ſoweit wie möglich 
zu meiden und nahmen ihren Weg an den Tan⸗ 
gerwieſen hin, über die jetzt, mit ihnen zugleich, 


Grete Minde. 85 


feuchte, weiße Nebel zogen. Die hohen Nacht- 
kerzen ragten mit ihren Spitzen über die Nebel— 
ſtreifen fort und miſchten ihren Duft mit dem 
Dufte des Heues, das friſchgemäht zu beiden 
Seiten des Weges lag. Sie ſprachen nicht, und 
Valtin ſuchte nur den Fledermäuſen zu wehren, 
die, von dem alten Kirchengemäuer her, neben 
und über ihnen flatterten. So kamen ſie bis an 
das Waſſerthor und bogen in denſelben Zirkel— 
gang ein, auf dem ſie gekommen waren, immer 
zwiſchen den Gärten und der Stadtmauer hin. 
Und nun hielten ſie vor der Mindeſchen Garten— 
pforte. 

„Gute Nacht, Valtin,“ ſagte Grete ruhig 
und beinah gleichgültig. Als dieſer aber ging 
ohne ſich umzuſehen, rief ſie noch einmal ſeinen 
Namen. Und er wandte ſich wieder und 
lief auf ſie zu. Und ſie umarmten ſich und 
küßten ſich. 

„Vergiß, Valtin, was ich geſagt hab'. Ich 
weiß, daß Du Dich nicht fürchteſt. Denn Du 
liebſt mich. Und die ſich lieben, die fürchten ſich 
nicht. Und nun noch Eines. Komm in einer 
halben Stund' in den Garten, in Euren, und 
wart' auf mich. Mir iſt ſo wunderlich, und ich 
muß Dich noch ſehen. Denn ſieh, ich weiß es, 


86 Grete Minde. 


es geſchieht etwas; ich fühl' es ganz deutlich 
hier.“ Und dabei legte ſie die Hand auf's Herz 
und zitterte. 

Und er verſprach es, und ſie trennten ſich. 


1 
Flucht. 


Die Pforte war nur angelehnt, und ſchon 
vom Garten aus ließ ſich's erkennen, daß Trud 
inzwiſchen ins Haus zurückgekehrt ſein müſſe. 
Die Fenſter⸗Vorhänge hingen noch herab und 
das raſch wechſelnde Schattenſpiel zeigte deutlich, 
daß ein Licht dahinter hin und her getragen 
wurde. Grete ſtieg nun die Stufen hinauf, die 
von dem Garten in den Hof führten, drückte das 
Gitter ins Schloß und fühlte ſich, über Flur 
und Treppe hin, bis an das Hinterzimmer des 
oberen Stocks. Die Thüre ſtand noch offen, 
wohl der Schwüle halber, und Grete ſah hinein. 
Was ſie ſah, war nur das Erwartete. Die 
Wiegendecke lag zurückgeſchlagen, und Trud, in 
allem Putz und Staat, den ſie bei der Feſtlich— 
keit getragen, mühte ſich in gebückter Stellung 
um das Kind, das ſtill dalag, und nur dann 
und wann in Krämpfen zuſammenzuckte. Ihre 


r A Ya 
er 


Grete Minde. 87 


hohe Krauſe war zerdrückt, ihr Haar halb herab— 
gefallen; ihren ſilbernen Hakengürtel aber, der 
ihr beim Aufnehmen und Niederlegen des Kindes 
hinderlich geweſen ſein mochte, hatte ſie von ſich 
gethan und über das Fußbrettchen der Wiege 
gehängt. Und jetzt richtete ſie ſich auf und ſah 
Greten vor ſich ſtehen. 

„Ei, Grete. Schon da!“ ſagte ſie bitter, 
aber erſichtlich noch mit ihrer inneren Erregung 
kümpfend. „Wo warſt Du?“ 

„Fort.“ 

„Fort? Und ich hatt' es Dir doch verboten.“ 

„Verboten?“ 

„Ja! Und nun ſieh das Kind. Ein Wunder 


Gottes, wenn es uns am Leben bleibt. Und 


wenn es ſtirbt, ſo biſt Du Schuld.“ 

„Das darfſt Du nicht ſagen, Trud,“ ant- 
wortete Grete ruhig, während es um ihren 
Mund zuckte. „Schilt mich. Schilt mich, daß 
ich ging, das darfſt Du, das magſt Du thun. 
Aber Du darfſt mich nicht ſchelten um des Kin— 
des willen. An dem Kind iſt nichts verſäumt. © 
Ich ließ es bei Reginen, und Regine, was ſag' 
ich, iſt dreißig Jahr im Haus. Und war Kinder: 
muhme bei Gerdt, und dann war ſie's bei mir 
und hat mich groß gezogen.“ 


88 Grete Minde. 


„Ja, das hat ſie. Aber wozu? Du weißt 
es und ich weiß es auch. Und die Stadt wird 
es bald genug erfahren... Armes Ding Du! 
Aber 's iſt Erbſchaft.“ 

„Sage nicht das, Trud. Nichts von ihr. 
Ich will davon nicht hören.“ 

„Aber Du ſollſt es. Undankbare Kreatur!“ 

Grete lachte. 

„Lache nur, Bettelkind! Denn das biſt Du. 
Nichts weiter. Eine fahrende Frau war ſie, 
und Keiner weiß, woher ſie kam. Aber jetzt 
kennen wir ſie, denn wir kennen Dich. Eine 
fremde Brut ſeid Ihr, und der Teufel ſieht Euch 
aus Euren ſchwarzen Augen.“ 

„Das lügſt Du.“ 

Trud aber, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, 
erhob ihre Hand und ſchlug nach ihr. 

Grete war einen Schritt zurückgetreten, und 

es flimmerte ihr vor den Augen. Dann, ohne 
zu wiſſen was ſie that, griff ſie nach dem über 
der Wiege hängenden Gürtel und ſchleuderte ihn 
der verhaßten Schwieger in's Geſicht. Dieſe, 
vor Schmerz aufſchreiend, wankte und hielt ſich 
mühſam an einem hinter ihr ſtehenden Tiſchchen, 
und Grete ſah nun, daß die ſcharfen Ecken des 
langen ſilbernen Gehänges Trud's Stirn oder 


T. . m a ZZ u 


7 


14 
a 
* 


Drete Minde. 89 


Schläfe ſchwer verletzt haben mußten, denn ein 
Blutſtreifen rann über ihre linke Wange. Aber 
ſie ſchrak vor dieſem Anblick nicht zurück und 
hatte nichts als das doppelt ſelige Gefühl ihres 
befriedigten Haſſes und ihrer errungenen Frei⸗ 
heit. Ja Freiheit! Sie war dieſes Haus nun 
los. Denn das ſtand feſt in ihrer Seele, daß 
ſie nicht länger bleiben könne. Fort. Gleich. 
Und ſie flog die Treppe hinab und über Flur 
und Hof in den Garten. 

Da wuchſen wieder die Himbeerbüſche wie 
damals, wo ſie hier mit Valtin zwiſchen dem 
hohen Gezweig geſtanden und über den Hänfling 
und ſein Neſt geplaudert hatte; aber ihre ver- 
wilderte Seele dachte jener Stunden ſtillen Glückes 
nicht mehr. Sie kletterte nur raſch hinauf und 
horchte geſpannt, ob Valtin ſchon da ſei. Er 
war es noch nicht. Und ſo ſprang ſie vom Zaun 
in den Zernitz'ſchen Garten hinunter und ver— 
ſteckte ſich in der Laube. 

Denn daß er kommen würde, das wußte ſie. 

Eine Viertelſtunde war vergangen, als Grete 
Schritte vom Hofe her hörte. Er war es und 
fie lief ihm entgegen. „Valtin, mein einziger 
Valtin. Ach, daß Du nun da biſt! Es tft ge⸗ 
kommen, wie's kommen mußte.“ Und nun er⸗ 


90 Grete Minde. 


zählte ſie was geſchehen. „Ich wußt' es. Alles, 
alles. Und ich muß nun fort. Dieſe Nacht 
noch. Willſt Du, Valtin?“ 

Sie waren, während Grete dieſe Worte 
ſprach, vorſichtshalber, um nicht geſehen zu wer— 
den, von dem Mittelſteige her auf die Schatten- 
ſeite des Gartens getreten, und Valtin ſagte 
nur: „Ja, Gret', ich will. Was es wird, ich 
weiß es nicht. Aber ich ſehe nun, Du mußt 
fort. Und das hab' ich mir geſchworen, ſo ich's 
nur einſeh', daß Du fort mußt, ſo will ich's auch, 
und will mit Dir. Und dann ſieh, ich bin ja 
doch eigentlich Schuld. Denn Du wollteſt nicht 
weg von dem Kind, und ich hab' Dich überredet 
und Dich trotzig gemacht und Dich gefragt, wer 
Dir's denn verbieten wolle?“ 

„Sage nicht nein,“ fuhr er fort, als er ſah, 
daß ſie den Kopf ſchüttelte. „Es iſt ſo. Und 
am Ende, was thut's? Du oder ich, es iſt all 
eins, wer die Schuld hat. Es mußte zuletzt doch 
ſo kommen, für Dich und für mich. Auch für 
mich. Glaub’ es nur. Emrentz iſt nicht wie 
Trud, und wir leben jetzt eigentlich gut mitein— 
ander. Aber auf wie lang? Es iſt ein halber 
Frieden, und der Krieg ſteht immer vor der 
Thür. Eine Stief iſt eine Stief, dabei bleibt's. 


, le ® nn > u 


L e oa nn rn 


ENTE DENE EG ER ne 
5 


Grete Minde. 91 


Und ſoviel ſie lacht, ſie hat doch kein Herz für 
mich, und wo das Herz fehlt, da fehlt das 
Beſte.“ 

„So willſt Du?“ 

„Ja, Grete.“ 

„So laß uns gehen. In einer Stunde 
ſchon. Um elf wart’ ich draußen .. . Und nun 
eile Dich; denn mir brennt der Boden unter den 
Füßen.“ 

Und damit trennten ſie ſich. 

* = 
* 

Als Grete gleich darauf wieder drüben in 

ihrem eigenen Garten war, huſchte ſie den Zaun 


entlang und an dem Weinſpalier vorbei bis auf 


den Hof. Hier aber befiel es ſie plötzlich, daß 
ſie, beim Eintreten in das Haus, vielleicht ihrem 
Bruder Gerdt begegnen könne, der, wenn ge— 
reizt, nach Art ſchwacher und abgeſpannter Natu— 
ren, alle Müdigkeit abthun und in Wuthaus- 
brüche gerathen konnte. Wenn er ihr jetzt in 
den Weg trat? wenn er ſie mißhandelte? Sie 
zitterte bei dem Gedanken, und ſchlich jo geräuſch— 
los wie möglich die Treppe hinauf. Als ſie bei 
der nur angelehnten Thüre des Hinterzimmers 
vorüberkam, hörte ſie, daß Trud und Gerdt 
miteinander ſprachen. „Sie muß aus dem Haus,“ 


92 Grete Minde. 


ſagte Trud, „ich mag die Hexe nicht länger um 
mich haben.“ „„Aber wohin mit ihr?““ fragte 
Gerdt. „Das findet ſich; wo ein Will' iſt, iſt 
auch ein Weg, — ſagt das Sprüchwort. Ich 
hab' an die Nonnen von Arendſee gedacht, das 
iſt nicht zu nah und nicht zu weit. Und da ge— 
hört ſie hin. Denn ſie hat ein katholiſch Herz, 
trotz Gigas, und immer wenn ſie mit mir ſpricht, 
ſo ſucht ſie nach dem Kapſelchen mit dem Split⸗ 
ter, und hält es mit ihren beiden Händen feſt. 
Und ſchweigt ſie dann, fo bewegen ſich ihre Lip 
pen, und ich wollte ſchwören, daß ſie zur 
heiligen Jungfrau betet.“ Mehr konnte ſie nicht 
erlauſchen, denn das Kind, das bis dahin ruhig 
gelegen, begann wieder zu greinen, und Grete 
benutzte den Moment, und fühlte ſich vorſichtig 
weiter bis an das zweite Treppengeländer und 
in ihre Giebelſtube hinauf. 

Der Mond ſchien auf die Dächer gegenüber, 
und ſein zurückfallender Schein gab gerade Licht 
genug, um alles deutlich erkennen zu laſſen. 
Die Thür zu der Kammer nebenan ſtand offen, 
und Regine ſaß eingeſchlafen am Fußende des 
Bettes. „'s iſt gut jo,” ſagte Grete und öffnete 
Schrank und Truhe, nahm heraus, was ihr gut 
dünkte, band ein ſchwarzes Seidentuch um ihren 


Grete Minde. 5 93 


Kopf, und verbarg unter ihrem Mieder ein klei⸗ 
nes Perlenhalsband, das ihr, an ihrem Ein- 
ſegnungstage, vom alten Jacob Minde geſchenkt 
worden war. Anderes hatte ſie nicht. Und nun 
war ſie fertig, und hielt ihr Bündel in Händen. 
Aber ſie konnte noch nicht fort. Nicht ſo. Und 
an der Schwelle der Kammerthür kniete ſie nie⸗ 
der und rief Gott um ſeinen Beiſtand an, auch 
um ſeine Verzeihung, wenn es ein Unrecht ſei, was 
ſie vorhabe. Und heiße Thränen begleiteten ihr 
Gebet. Dann erhob ſie ſich, und küßte Reginen, 
die ſchlaftrunken auffuhr und den Namen ihres 
Lieblings nannte; aber ehe ſie den Schlaf völlig 
abſchütteln und ſich wieder zurecht finden konnte, 
war Grete fort und glitt, mit ihrer Rechten ſich 
aufſtützend, die ſteilen Stufen der Oberſtiege 
hinunter. Und nun horchte ſie wieder. Das 
Kind wimmerte noch leis und die Wiege ging in 
heftiger Schaukelbewegung, während Trud, über 
das Kind gebeugt, raſch und ungeduldig ihre 
Wiegenlieder ſummte; Gerdt ſchwieg. Vielleicht, 
daß er ſchon ſchlief. 

Und im nächſten Augenblicke war ſie treppab, 
über Hof und Garten, und hielt draußen an der 


Pforte. 
Valtin wartete ſchon. Er hatte ſich zu dem 


94 Grete Minde. 


Joppenrock, den er gewöhnlich trug, auch noch 
in eine dicke Friesjacke gekleidet, und in dem 
wuchernden Graſe vor ihm lag eine ſchmale, 
hohe Leiter, wie man ſie um die Kirſchenzeit von 
außen her an die Bäume zu legen pflegt. Grete 
trat auf ihn zu und gab ihm die Hand. Der 
breite Schatten, der auf das Gras fiel, hinderte 
ſie die Leiter zu ſehen, deſto deutlicher aber ſah 
ſie ſeine winterliche Einkleidung. Und ſie lachte. 
Denn der Sinn für das Komiſche war ihr ge— 
blieben. Und Valtin lachte gutmüthig mit, und 
ſagte: „'s iſt für Dich, Grete, wenn Du frierſt. 
Die Nacht iſt kalt, auch eine Sommernacht.“ 
Und derweilen ſchlug es elf und die Glocken— 
ſchläge mahnten ſie wieder an das was ſie vor 
hatten. Valtin legte die Leiter an die Mauer 
und Grete ſtieg hinauf. Und im nächſten Augen— 
blicke war er ſelber oben und zog die Leiter 
nach und ſtellte ſie nach außen. Und nun waren 
ſie frei. Sie ſahen ſich an und athmeten auf, 
und der Zauber des um ſie her liegenden Bildes 
ließ ſie minutenlang ihres Leids und ihrer Ge— 
fahr Vergeſſen. Die Nebel waren fortgezogen, 
ſilbergrüne Wieſen dehnten ſich hüben und drü— 
ben, und dazwiſchen flimmerte der Strom, über 
den der Mond eben ſeine Lichtbrücke baute. 


Grete Minde. 95 


Nichts hörbar, als das Gemurmel des Waſſers 
und die Glocken, die von einigen Stadtkirchen 
her verſpätet nachſchlugen. 

Beide hatten ſich angefaßt und eilten raſchen 
Schrittes auf den Fluß zu. 

„Willſt Du hinüber?“ fragte Grete. 

„Nein, ich will nur einen Kahn los machen. 
Sie glauben dann, wir ſeien drüben.“ 

Und als ſie bald danach den losgebundenen 
Kahn inmitten des Stromes treiben ſahen, hiel— 
ten ſie ſich wieder ſeitwärts, über die thau— 
glitzernden Tangerwieſen hin, bogen in weitem 
Zirkel um den Burghügel herum, und mündeten 
endlich auf einen Feldweg ein, der, hart neben 
der großen Straße hin, BR den Lorenz: Wald 
zuführte. 

Als fie ſeinen Rand beinah erreicht hatten, 
ſagte Grete: „Ich fürchte mich.“ 

„Vor dem Wald?“ 

„Nein. Vor Dir.“ 

Valtin lachte. „Ja, das iſt nun zu ſpät, 
Grete. Du mußt es nun nehmen, wie's fällt. 
Und wenn ich Dir Deinen kleinen Finger ab— 
ſchneide, oder Dich todt drücke vor Haß oder 
Liebe, Du mußt es nun leiden.“ 

Er wollt' ihr zärtlich das Haar ſtreicheln, 


96 Grete Minde. 


ſo weit es aus dem ſchwarzen Kopftuche hervor 
ſah, aber ſie machte ſich los von ihm und ſagte: 
„Laß. Ich weiß nicht was es iſt, aber ſo lange 
wir in dem Wald' ſind, Valtin, darfſt Du mich 
nicht zärtlich anſehen und mich nicht küſſen. 
Unter den Sternen hier, da ſieht uns Gott, 
aber in dem Walde drin iſt alles Nacht und 
Finſterniß. Und die Finſterniß iſt das Böſe. 
Ich weiß es wohl, daß es kindiſch iſt, denn wir 
gehören ja nun zuſammen in Leben und in 
Sterben, aber ich fühl' es ſo, wie ich Dir's 
ſag', und Du mußt mir zu Willen fein. Ver⸗ 
ſprich es.“ 

„Ich verſprech' es. Alles was Du willſt.“ 

„Und hältſt es auch?“ 

„Und halt' es auch.“ 

Und nun nahm ſie wieder ſeine Hand, und 
ſie ſchlugen den Weg ein, der ſie bis an die große 
Waldwieſe führte. Hier war es taghell faſt, 
und ſie zeigten einander die Stelle, wo der 
Maibaum damals geſtanden, und wo ſie ſelber, 
am Schattenrande der Lichtung hin, auf den 
umgeſtülpten Körben geſeſſen und dem Tauben— 
ſchießen und dem Tanz um die Linde her zuge— 
ſehen hatten. Und dann gingen ſie weiter wald— 
einwärts, immer einen breiten Fußpfad haltend, 


EEE TERN. . en — rr 5 


Grete Minde. 97 


der ſich nur mitunter im Geſtrüpp zu verlieren 
ſchien. 

Sie ſprachen wenig. Endlich ſagte Grete: 
„Wohin gehen wir?“ 

„Ins Lüneburg'ſche, denk' ich. Und dann 
weiter auf Lübeck zu. Da hab' ich Anhang.“ 

„Und weißt Du den Weg?“ 

„Nein, Grete, den Weg nicht, aber die 
Richtung. Immer ſtromabwärts. Es kann nicht 
weiter ſein als fünf Stunden; dann haben wir 
die Grenze, die bei Neumühlen läuft. Und die 
Tangermünd'ſchen Stadtreiter, auch wenn ſie 
hinter uns her ſind, haben das Nachſehen.“ 

„Glaubſt Du, daß ſie ſich eilen werden, 
uns wieder zurückzuholen?“ 

„Vielleicht.“ 

„Ja. Aber auch nichts weiter. Sie wer— 
den uns ziehen laſſen und froh ſein, daß wir 
fort ſind. Und wenn Dein Vater es anders 
will, ſo wird's ihm Emrentz ausreden. Und 
wenn nicht Emrentz, ſo doch Trud.“ Und nun 
erzählte ſie das Geſpräch zwiſchen Trud und 
Gerdt, das ſie von der nur angelehnten Thüre 
des Hinterzimmers aus belauſcht hatte. 

So mochten ſie zwei Stunden gegangen 
ſein, und der Mond war eben unter, als Grete 

Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 109 


98 Grete Minde. 


leiſe vor ſich hin ſagte: „Laß uns niederſitzen, 
Valtin. Meine Füße tragen mich nicht mehr.“ 
Und es war alles wie damals, wo ſie ſich als 
Kinder im Walde verirrt hatten. Er aber bat 
ſie, brav auszuhalten, bis ſie wieder an eine 
hellere Stelle kämen. Und ſiehe, jetzt war es 
wirklich, als ob ſich der Wald zu lichten begänne, die 
Stämme ſtanden in größeren Zwiſchenräumen, 
und Valtin ſagte: „Hier Grete, hier wollen wir 
ruh'n.“ Und todtmüde, wie ſie war, warf ſie 
ſich nieder, und ſtreckte ſich in's Moos. Und 
ſchon im nächſten Augenblicke ſchloſſen ſich ihre 
Wimpern. Er ſchob ihr ihr Reiſebündel als 
Kiſſen unter und deckte ſie leiſe mit ſeiner Win— 
terjacke zu, von der er ſich ſelber nur ein 
Zipfelchen gönnte. 
Und dann ſchlief er an ihrer Seite ein. 


14. 
Auf dem Floß. 


Als ſie wieder erwachten, lag Alles um ſie her 
in hellem Sonnenſchein. Sie hatten dicht am 
Rande des großen Lorenz-Waldes geſchlafen, der 
hier mit einer vorſpringenden Ecke bis hart an den 
Strom trat, und der rothe Fingerhut ſtand in 


EEE NETTE ORDER ERELENE EINE 


Pe | — 8 * . 
7 rr 
ns ee Er IE . 


Grete Klinde, 99 


hohen Stauden um ſie her. Ein paar feiner 


Blüthen hatte der Morgenwind auf Greten 
herabgeſchüttelt, und dieſe nahm eine derſelben und 


ſagte: „Was bedeutet es mir? Es iſt eine 


Märchenblume.“ 

„Ja; das iſt es. Und es bedeutet Dir, daß 
Du eine verwunſchene Prinzeſſin oder eine Hexe 
biſt.“ 

„Das darfſt Du nicht ſagen.“ 

„Und warum nicht?“ 

„Weil es Trud inmer geſagt hat... Aber 
weißt Du, Valtin, daß ich Hunger habe?“ 

Und damit erhoben ſie ſich von ihrer Lager— 
ſtatt, und gingen plaudernd immer am Waſſer 
hin, bis fie weiter flußabwärts, wo der Wald- 
vorſprung wieder einbog, an ein Fähr- oder 
Forſthaus kamen. Oder vielleicht auch war 
es beides. Anfangs wollten ſie gemeinſchaftlich 
eintreten, aber Valtin beſann ſich eines andern 
und ſagte: „Nein, bleib; es iſt beſſer, ich geh' 
allein.“ Und eine kleine Weile, ſo kam er mit 
Brot und Milch zurück und hielt, als er Gretens 
anſichtig wurde, die Hände ſchon von Weitem in 
die Höh', um zu zeigen, was er bringe, und ſie 
ſetzten ſich in's hohe Gras, den Fluß zu Füßen 
und den Morgenhimmel über ſich. „Wenn es 

109 * 


100 Grete Minde. 


uns immer jo ſchmeckt ...“ ſagte Valtin. Und 
Grete ſah ihn freundlich an und nickte. 

Als ſie ſo ſaßen und mehr träumten als 
ſprachen, bemerkten ſie, daß mitten auf dem 
Strom ein großes Floß geſchwommen kam, lange 
zuſammengebolzte Stämme, auf denen ſich vier 
Perſonen deutlich erkennen ließen: drei Männer 
und eine Frau. Zwei von den Männern ſtan⸗ 
den vorn an der Spitze des Floſſes, während 
der Dritte, der ſeinen raſchen und kräftigen Be— 
wegungen nach der Jüngſte zu ſein ſchien, das 
ungefüge Steuer führte. „Was meinſt Du,“ 
ſagte Valtin, „wenn wir mitführen? Du biſt 
müde vom Gehen. Und mitten auf dem Strom, 
da ſucht uns Niemand.“ 

Grete ſchien zu ſchwanken; Valtin aber ſetzte 
hinzu: „Laß es uns verſuchen, ich ruf' hinüber, 
und halten ſie ſtill und machen ein Boot los, 
nun ſo nehmen wir's als ein Zeichen, daß es 
ſein ſoll.“ Und er ſprang auf und rief: „Hoiho,“ 
ein Mal über das andere. 

Die Flößer verriethen anfänglich wenig 
Luſt, auf dieſe Zurufe zu achten, als Valtin 
aber nicht abließ, machte der am Steuer 
Stehende den Kahn los, der hinter dem 
Floſſe herſchwamm, und war im nächſten 


r e nn m ul naie 


Grete Minde. 101 


Augenblicke mit ein paar Ruderſchlägen am 


dieſſeitigen Ufer. 


„Hoiho! Was Hoiho?“ 
Valtin hörte nun wohl, daß es Wenden 


‚oder Böhmen waren, die bis Hamburg wollten, 


und trug ſein Anliegen vor, ſo gut es ging. 
Der Böhmake verſtand endlich und bedung ſich 
einen Lohn aus, der ſo gering war, daß ihn 
Valtin gleich als Angeld zahlte. 

Und nun fuhren ſie nach dem Floß hinüber. 

Als ſie neben demſelben anlegten, fanden 
ſich auch die beiden andern Männer ein, zu 
denen nun der Jüngere ſprach und ihnen das 


Geldſtück überreichte. Sie ſchienen's zufrieden, 


und der Aelteſte, ſchon ein Mann über Fünfzig, 
und allem Anſcheine nach der Führer, lüpfte 
ſeine viereckige, mit Pelz beſetzte Mütze, und bot 
Greten und gleich darauf auch Valtin eine 
Hand, um ihnen beim Hinaufſteigen auf das 
Floß behülflich zu ſein. Es war ziemlich an der 
Hinterſeite, nicht weit von dem großen Dreh— 
balken, der als Steuer diente, und unſere beiden 
Flüchtlinge nahmen in Nähe deſſelben Platz. 


Alles gefiel ihnen, und Grete freute ſich, daß 


Valtin den Muth gehabt und die Flößer an— 
gerufen hatte; am beſten aber gefiel ihnen der 


102 Grete Minde. 


Mann am Steuer, der lebhaft und luſtig war 
und ſich befliſſen zeigte, ſie zu zerſtreuen und 
ihnen den Aufenthalt angenehm zu machen. Er 
plauderte mit ihnen, ſo gut es ein paar Wörter 
zuließen, und war erfinderiſch in immer neuen 
Aufmerkſamkeiten. 

Als die Sonne ſchon ziemlich hoch ſtand, 
ſah er, daß die vom Waſſer zurückgeworfenen 
Strahlen die jungen Leute blendeten und kaum 
daß er es wahrgenommen, als er auch ſchon das 
Steuer in Valtins Hand legte und ſich daran 
machte, mit Benutzung umherliegender Bretter, 
aus einem großen Stück Segelleinwand ein 
Zelt für ſeine Schutzbefohlenen aufzurichten. 
Sie ſetzten ſich unter das Dach und genoſſen nun 
erſt der eigenthümlichen Schönheit ihrer Fahrt. 
Am Ufer hin ſtand das hohe Schilf, und wenn 
dann das Floß den grünen Schilfgürtel ſtreifte, 
flogen die Waſſervögel in ganzen Völkern auf 
und fielen plätſchernd und ſchreiend an weiter 
flußabwärts gelegenen Stellen wieder ein. Der 
Himmel wölbte ſich immer blauer, und ein Mit- 
tagswind, der ſich aufgemacht hatte, ſtrich friſch 
an ihnen vorüber und kühlte die Tageshitze. 
Vorne, durch die ganze Länge des Floſſes von 
ihnen getrennt, ſtanden nach wie vor die beiden 


Grete Minde. 103 


älteren Männer und angelten, ihre Haltung aber 
zeigte nur zu deutlich, daß ſie mit dem Ertrag 
ihres Fanges wenig zufrieden waren. Waren 
es doch immer nur kleine Fiſche, die, ſo oft ſie 
die Schnur zogen, in der Sonne hell aufblitzten. 
Jetzt aber gab es einen Freudenſchrei, und ein 
Breitfiſch ſo groß und ſchwer, daß die Schnur 
am Reißen war, flog mit einem Ruck an Bord. 
Das war es, worauf ſie gewartet hatten, und 
ſie ſchütteten nun die neben ihnen ſtehende Kufe 
mit ſammt ihrem Inhalt wieder aus, füllten ſie 
friſch mit Waſſer und trugen ihren großen Fang 
wie im Triumph auf die Mitte des Floſſes, wo 
ſchon ſeit einiger Zeit ein hell aufwirbelnder 
Küchenrauch die Vorbereitungen zu einer Mahl: 
zeit anzudeuten ſchien. Und in der That han- 
tirte hier emſig und lärmend ein junges Frau— 
zimmer umher, daß mit ſeinen ſtechenden kohl— 
ſchwarzen Augen wohl dann und wann zu den 
neuen Ankömmlingen flüchtig herüber geſehen, 
im Uebrigen aber durch ſeine ganze Haltung 
weder Freude noch Theilnahme bezeigt hatte. 
Und immer weiter ging die Fahrt, und 
immer ſtiller wurde der Tag. Auch der Mann 
am Steuer ſchwieg jetzt, und Valtin und Grete 
hörten nichts mehr als das Gurgeln des Waſſers 


104 Grete Minde. 


und das Gezirp im Rohr und dazwiſchen den 
Küchenlärm, in dem ſich das junge Frauenzimmer, 
je näher die Mahlzeit rückte, deſto mehr zu gefallen 
ſchien. Und jetzt nahm ſie einen blanken Teller, 
hielt ihn hoch, und ſchlug mit einem Quirl an 
die Außenſeite. Das war das Zeichen, und alle 
verfämmelten ſich um die Feuerſtelle her. Nur 
Valtin und Grete waren zurückgeblieben; aber 
der Alte kam alsbald auf ſie zu, und nach kurzer 
Anſprache, von der ſie nichts verſtehen konnten, 
nahm er Greten an der Hand, und führte 
ſie, während er die gangbarſten und trockenſten 
Stellen ausſuchte, bis auf die Mitte des Floſſes. 

Und jetzt erſt erkannten unſre Flüchtlinge, 
wie ſonderbar, aber auch wie zweckentſprechend, 
die hier befindliche Kochgelegenheit aufgebaut 
und eingerichtet war. Das ganze Floß, auf 
mehr als zehn Schritt im Quadrat, war wie 
mit einem dicken Raſen überdeckt, auf dem ſich 
wiederum, ebenfalls aus Raſenſtücken aufgeſchich— 
tet, ein wohl drei Fuß hoher und unverhältniß- 
mäßig breiter und geräumiger Herd erhob. In 
dieſen waren Löcher eingeſchnitten, und in den 
Löchern ſtanden Töpfe, um die mehrere kleine 
Feuer luſtig flackerten. Und nun ſetzten ſich die 
Männer in Front des Herdes, ſo daß ſie den 


nnn ou ur 0. 


nr 1 
e 3 
3 
_ s? 


Grete Minde. 105 


Fluß hinunterſehen konnten, und nahmen ihr 


Mahl ein, das zunächſt aus einer Brühe mit 


Huhn und Hirſe, dann aber aus dem Breitfiſch, 
dem letzten Ertrag ihres Fanges beſtand. Alle 
ließen ſich's ſchmecken; und als Valtin, gegen den 
Schluß des Mahles hin, ſich über ihr Wohlleben 
verwunderte, lachte der Alte und beſchrieb einen 
Kreis mit ſeiner Rechten, als ob er andeuten 
wolle, daß ihm Ufer und Landſchaft, mit allem 
was darauf fleucht und kreucht, tributpflichtig 
ſeien. 

Und nun war das Mahl beendet, und 
Valtin und Grete, nachdem ſie gedankt, erhoben 
ſich und ſuchten wieder ihr Zelt in Nähe des 


Steuers auf. 


Sie mußten, an Neumühlen vorüber, ſchon 
meilenweit gefahren ſein und hätten ſich zu Jeg⸗ 
lichem um ſie her beglückwünſchen können, wenn 
nicht das junge Frauenzimmer mit den blanken 
Flechten und den ſchwarzen Stechaugen geweſen 
wäre. Valtin hatte nichts bemerkt, aber der 
ſchärfer ſehenden Grete war es nicht entgangen, 
daß ſie ſeit Mittag kein Auge von ihnen ließ 
und erſichtlich etwas gegen ſie vorhatte. Ob aus 
Eiferſucht oder Habſucht, ließ ſich nicht erkennen, 
aber etwas Gutes konnt' es nicht ſein, und als 


106 Grete Minde. 


der Tag ſich neigte, rückte Grete näher, und 
theilte Valtin ihre Beſorgniſſe mit. Dieſer 
ſchüttelte den Kopf und wollte davon nichts 
wiſſen, und ſiehe da, auch Grete vergaß es wieder, 
als ſich, gleich nach Sonnenuntergang, ein neues 
Leben auf dem Floſſe zu regen begann. Der 
Alte nahm eine Fiedel, und die Frauensperſon, 
die ſich mittlerweile geputzt und eine rothe Schürze 
angelegt hatte, führte mit dem jungen Burſchen 
einen böhmiſchen Tanz auf. Danach ſetzten ſie 
ſich an den Herd und ſangen Lieder, die der 
Alte mit ein paar Strichen auf der Fiedel be— 
gleitete. 

Und nun kam die Dämmerung und die 
Sterne begannen matt zu flimmern. Das Floß 
ſelbſt hatte ſich hart an's Ufer gelegt, das hier, 
anfänglich flach, dreißig Schritte weiter land— 
einwärts eine hohe, ſteile Wandung zeigte. Es 
war noch hell genug, um die rothgelben Töne 
des fetten Lehmbodens erkennen zu können. 
Alles ſchwieg, und nur Grete, der ihr Verdacht 
wiedergekommen war, ſagte leiſe: „Valtin, ich 
habe doch Recht. Ich fürchte mich.“ 

„Glaubſt Du wirklich, daß es böſe Leute 
ſind?“ 

„Nicht eigentlich böſe Leute, aber ſie werden 


Grete Minde. 107 


der Verſuchung nicht wiederſtehen können. Du 
haſt ihnen Geld gezeigt, und die Frau hat geſehen, 
daß ich Schmuck trage. Sie werden uns berauben 
wollen. Und ſetzeſt Du Dich zur Wehr, ſo iſt 
es unſer letzter Tag.“ 

Valtin überlegte hin und her, und ſagte 
dann: „Ich fürcht', es iſt wie Du ſagſt. Und 
ſo müſſen wir wieder fliehen. Ach, immer fliehen! 
Auch noch auf der Flucht eine Flucht.“ Und er 
ſeufzte leiſe. 

Grete hörte die Klage wohl heraus, aber 
ſie hörte zugleich auch, daß es kein Vorwurf war, 
und ſo nahm ſie ſeine Hand und ſah ihn bittend 


an. Kannte ſie doch ihre Macht über ihn. Und 


dieſe Macht blieb ihr auch diesmal treu, und 
alles war wieder gut. | 

Es traf ſich glücklich, daß das Floß mit eben 
dem Hinter⸗Eck, auf dem ihr Zelt ſtand, auf 
den Uferſand gefahren war. Sie theilten ſich's 
mit und kamen überein, auf das Segeltuch, das 
ſie den Tag über zu Häupten gehabt hatten, 
eine Silbermünze zu legen, und ſobald alles 
ſchliefe, mit einem einzigen Satz an's Ufer zu 
ſpringen. Wären ſie dann erſt die ſteile Lehm⸗ 
wand hinauf, jo würde fie niemand mehr ver- 
folgen. Und wenn es geſchäh', ſo wär' es ohne 


108 Grete Minde. 


Noth und Gefahr, denn Schiffsleute hätten einen 
ſchweren Gang und wären langſam zu Fuß. 

Und während ſie ſo ſprachen, war der Mond 
aufgegangen. Das erſchreckte fie vorübergehend. 
Aber es ſtanden auch Wolken am Himmel, und 
ſo warteten ſie, daß dieſe heraufziehen und den 
Mond überdecken möchten. 

Und nun war es geſchehen. „Jetzt,“ ſagte 
Valtin, und den Beiſtand des Himmels anrufend, 
ſprangen ſie vom Floß an's Ufer. Das ſeichte 
Waſſer, das hier um ein paar Binſen herſtand, 
klatſchte hoch auf; aber ſie hatten deſſen nicht 
Acht, und im nächſten Augenblicke die ſteile Lehm⸗ 
wand erkletternd, ſchritten ſie raſch über das 
Feld hin und in die Nacht hinein. 

Niemand folgte. 


10. 
Drei Jahre ſpüter. 


Drei Jahre waren ſeitdem vergangen, und 
wieder färbte der Herbſt die Blätter roth; all: 
überall in der Altmark, und nicht zum wenigſten 
in dem Städchen Arendſee, deſſen endlos lange 
Straße, zugleich ſeine einzige, nach links hin 
aus Häuſern und Gärten, nach rechts hin aus 


Grete Minde. | 109 


Kloftergebäuden und zwiſchenliegenden Hecken— 
zäunen beſtand. Hinter einem dieſer Heckenzäune, 
der abwechſelnd von Dorn und Liguſter gebildet 
wurde, ließ ſich ein auf Säulen ruhender Kreuz⸗ 
gang erkennen, in deſſen quadratiſcher Mitte der 
Kloſterkirchhof lag, wild und verwahrloſt, aber 
in ſeiner Verwahrloſung nur um ſo ſchöner. 
Einige hochaufgemauerte Grabſteine ſchimmerten 
aus allerlei Herbſtesblumen und dichtem Graſe 
hervor, die meiſten aber verſteckten ſich im Schat⸗ 
ten alter Birnbäume, deren ungeſtützte Zweige 
mit ihrer Laſt bis tief zu Boden hingen. Vorüber⸗ 
ziehende Fremde würden ſich des Bildes gefreut 
haben, das eben jetzt, bei niedergehender Sonne, 
von abſonderer Schönheit war; ein paar Arend⸗ 
ſee'ſche Bürger aber, Handwerker und Ackersleute 
zugleich, die mit ihrem Geſpann vom Felde 
hereinkamen, achteten des wohlbekannten Anblicks 
nicht und hielten erſt, als ſie ſchon dreißig Schritt 
über den Heckenzaun hinaus waren und an der 
andern Seite der Straße dreier hochbepackter 
Wagen anſichtig wurden, die hier, vor einer 
alten Ausſpannung mit tiefer Einfahrt, den ohnehin 
ſchmalen Weg beinah verſperrten. 

„Süh, Kerſten, doa ſinn fe all. Awers hüt 
wahrd et nix mihr.“ 


110 Grete Minde. 


„Nei, hüt nich. Un weet'ſt all, Hanne, ſe 
ſpeelen joa nicht blot mihr mit Zocken un Puppen. 
Se kümmen joa nu ſülwer rut.“ 

„Joa,; jo hebb it book hürt. Richt'ge 
Minſchen. . . Jott, wat man nich allens erlewen 
deiht!“ 

Und damit gingen ſie vorüber, weiter in die 
Stadt hinein. 

Und es war ſo, wie die beiden Ackerbürger 
geſagt hatten. Puppenſpieler, die, wie's dazumalen 
aufkam, ihre Puppen zeitweilig im Kaſten ließen 
und an Stelle derſelben in eigener Perſon auf— 
traten, waren an eben jenem Nachmittag in das 
Städtchen gekommen und hatten ſich's in der 
Ausſpannung, vor der ihre Wagen hielten, be— 
quem gemacht. Da ſaßen ſie jetzt zu vier um 
den Tiſch der großen Schenkſtube herum, ihrem 
Aufputz und ihrer Redeweiſe nach, oberdeutſches 
Volk, und verthaten das Geld, das ihnen der 
Salzwedel'ſche Michaelismarkt eingebracht hatte. 
Denn von daher kamen ſie. Zwei derſelben alte 
Bekannte von uns. Der Schwarzhaarige, mit 
einer Narbe quer über der Stirn, war derſelbe, 
den wir an jenem hellen Juli-Vormittag, an 
dem unſere Geſchichte begann, an der Emreng 
Fenſter vorüber ſeinen Umritt hatten machen 


Grete Minde. 111 


ſehen, und der neben ihm, ja, das mußte, wenn 
nicht alles täuſchte, der Hagre, Schlackerbeinige 
mit dem weißen Hemd und der hohen Filzmütze 
ſein, der bei Tage die Pauke gerührt und am 
Abend, in ſeinem hölzernen Abbild wenigſtens, 
den Bolizei-Schergen des „jüngſten Gerichtes“ 
gemacht hatte. Ja, ſie waren es wirklich, dieſel— 
ben fahrenden Leute, denn eben erſchien auch die 
große ſtattliche Frau, die damals, in halb ſpaniſch 
halb türkiſchem Aufzug, als Dritte zwiſchen ihnen 
zu Pferde geſeſſen. Auch heute war ſie ver— 
wunderlich genug gekleidet, trug aber, ſtatt des 
langen ſchwarzen Schleiers mit dem Goldſternchen, 
ein ſcharlachrothes Manteltuch, das ſie, voll 
Majeſtät und nach Art eines Krönungsmantels, 
um ihre Schultern gelegt hatte. „Ach, Zenobia,“ 
riefen alle, und rückten zuſammen, um ihr am 
Tiſche Platz zu machen. Mit ihr zugleich war 
der Wirth eingetreten, ein paar Kannen im 
Arm, und überbot ſich alsbald in Raſchheit und 
Dienſtbefliſſenheit gegen ſeine Gäſte. Wußt' er 
doch, daß ſie mit vollem Beutel kamen, und 
außerdem Freibrief und gutes Zeugniß von aller 
Welt Obrigkeit aufzuweiſen hatten. Und was 
wollt' er mehr? 

„Wirth,“ rief der Schwarzharige, der auch 


2 5 Grete Minde. 


heute wieder die Herrenrolle ſpielte, „die Salz⸗ 
wedel'ſchen haben mir gefallen. Die drehen den 
Schilling nicht erſt ängſtlich um. Zwei Mal 
geſpielt jeden Tag, erſt die Puppen und dann 
wir ſelber. Und immer voll und kein Apfel zur 
Erde. Ein luſtiges Volk; nicht wahr, Wirth? 
Und wie heißt doch der Spruch von den Salz— 
wedel'ſchen? Ihr kennt ihn?“ 

„Ei, freilich; welcher Altmärk'ſche wird den 
nicht kennen. Ein guter Spruch, und er geht ſo: 

De Stendal'ſchen drinken gerne Wien, 

De Gardeleger wüll'n Junker ſien, 


De Tangermünd'ſchen hebben Moth, 
De Soltwedler awers, de hebben dat Goth.“ 


„Ja, das haben ſie, das haben ſie,“ ſchrien 
Alle durcheinander und der Wirth wiederholte 
ſeinerſeits: „Ein guter Spruch, ihr Herren. 

Blos daß die Arendſee'ſchen drin vergeſſen ſind.“ 
| „Ei, warum vergeſſen! Solch' Sprüchel ift 
ja nicht wie's Vaterunſer, wo nichts zukann 
und nichts weg. Was ihm fehlt, das machen 
wir dazu. Könnt ihr nicht einen Reim machen, 
Wirth? Ein Wirth muß Alles können, reimen 
und rechnen.“ 

„Ja rechnen!“ fiel der Chorus ein. 

„Aergert ihn nicht, ſonſt bringt er's nicht 


Grete Minde. 113 


zu Stand'. Und ich ſeh's ihm an, daß er dran 
haſpelt. Habt Ihr's?“ 

„Ja.... De Stendal'ſchen drinken gerne 
Wien “ 

„Nein, nein, das nicht. Das iſt ja die alte 
Leier. Wir wollen den neuen Reim hören, den 
Arendſee'ſchen.“ Und ſo ging es unter Lärmen 
und Schreien weiter, bis der Wirth eine Pauſe 
wahrnahm und in ſchelmiſchem Ernſt über den 
Tiſch hindeclamirte: 

„Un di Arendſee'ſchen, di hebben dat Stroh, 

Awers hebben fifteig'n Nonnen dato.“ 

„Funfzehn Nonnen! Habt Ihr gehört? 
Aber woher denn Nonnen? Es giebt ja keine 
Nonnen mehr. Ich meine hier zu Land. Unten 
im Reich, da hat's ihrer noch genug. Nicht 
wahr, Zenobia? Aber hier! Alles aufgehoben, 
was fie ‚jäcularifiren‘ nennen. Habe mir's wohl 
gemerkt. Und das hat Euer vorvoriger Herr 
Churfürſt gethan, der Herr Joachim, den ich noch 
habe begraben ſehn. War das erſte Mal, daß 
mein Vater ſelig bis hier hinauf in's Witten⸗ 
berg'ſche kam. Anno 71, und ich war noch ein 
Kind.“ 

„Ja, ſie ſind aufgehoben. Aber 's giebt 
ihrer doch noch, hier und überall im Land. Und 


Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 110 


114 Grete Minde. 


obwohlen unſer alter Roggenſtroh alle Sonntage 
gegen ſie predigt, es hilft ihm nichts, ſie bleiben 
doch. Und warum bleiben ſie? Weil ſie den 
adligen Anhang haben. Und oben in Cölln an 
der Spree, na, das weiß man, da ſitzen auch die 
Junkerchen zu Rath und drücken ein Auge zu.“ 

„Gut, gut. Meinetwegen. Laſſen wir die 
Junker und die Nonnen. Es muß auch Nonnen 
geben. Nicht wahr, Zenobia?“ 

Dieſe zog ihre rothe Drapirung nur noch feſter 
um ihre Schultern und ſchwieg in königlicher 
Würde weiter. 

„Un hebben fifteig'n Nonnen dato! Wahr- 
haftig, Wirth, das habt Ihr gut gemacht, ſehr 
gut. Ihr könnt't uns die Stücke ſchreiben. 
Was meinſt, Nazerl, wir haben ſchon ſchlecht're ge— 
habt! Aber ſingen wir; Du ſingſt vor, Matthes.“ 

Und der Angeredete, der ſeinem ſtarr und auf— 
recht ſtehenden rothen Haare, vor allem aber 
ſeinen linſengroßen Sommerſproſſen nach der 
einzig Plattdeutſche von der Geſellſchaft zu ſein 
ſchien, intonirte mit heiſerer Stimme: „Kaiſer 
Karolus ſien beſtet Peerd.“ 

„Nicht doch, nicht doch,“ fuhr der mit der 
Narbe dazwiſchen, „das kann Zenobia nicht hören; 
das ſingen ja die Knechte. Sing’ Du, Hinter- 


Grete Minde. 115 


lachr. Aber was Fein's und Zierlich's.“ Und 
Hinterlachr ſang: 

„Zu Bacharach am Rheine 

Da hat mir's wohlgethan, 

Die Wirthin war ſo feine, 

So feine, 

Und als wir ganz alleine ...“ 

„Ach, dummes Zeug. Immer Weiber und 
Weiber. Aber ſie denken nicht dran; und am 
wenigſten, was eine richtige Wirthin iſt. Sie 
lachen Dich aus. Nazerl, mach' Du Dein' Sach'. 
Aber nichts von den Weibern; hörſt Du. Halt 
Dich an das!“ Und dabei ſchob er ihm eine 
friſche Kanne zu, die der Wirth eben herein⸗ 
gebracht hatte. 

Und Nazerl hob an: 

„Der liebſte Buhle, den ich hab', 

Der liegt beim Wirth im Keller, 

Er hat ein hölzins Röcklein an 

Und heißet Muskateller: 

Hab' manche Nacht mit ihm verbracht, 

Er hat mich immer glücklich 'macht, glücklich 'macht. 
Und lehrt mich luſtig ſingen.“ 

„Das iſt recht. Der liebſte Buhle, den ich hab' 
.. . das gefällt mir. Der Natzi hat's getroffen. 
Was meinſt, Zenobia?“ Und alle wiederholten 
den Vers und ſtießen mit ihren Kannen und 


Bechern zuſammen. 
110* 


116 Grete Minde. 


„Ihr müßt nicht ſo lärmen,“ ſagte jetzt der, 
der mit „Bacharach am Rheine“ jo wenig durch— 
gedrungen war. „Er liegt grad' über uns, und 
ich glaub', er macht es nicht lange mehr.“ 

Zenobia nickte. 

So ging's unten her. Ueber ihnen aber, 
auf einer Schütte Stroh, drüber ein Laken ge⸗ 
breitet war, lag ein Kranker, ein Kiſſen unterm 
Kopf und mit ein paar Kleidungsſtücken zuge⸗ 
deckt. Neben ihm, auf einem Fußſchemel, ſaß 
eine junge Frau, blaß und fremd, und hielt mit 
ihrer Rechten den Henkel eines als Wiege dienen— 
den Korbes, mit ihrer Linken die Hand des 
Kranken. Dieſer ſchien einen Augenblick gejchla- 
fen zu haben, und als er jetzt die Augen wieder 
öffnete, beugte ſie ſich zu ihm nieder und fragte 
leiſe: „Wie iſt Dir?“ 

„Gut.“ 

„Ach, ſage nicht gut. Deine Stirn brennt, 
und ich ſeh' wie Deine Bruſt fliegt. Mein 
einzig lieber Valtin, vergieb mir, ſage mir, daß 
Du mir vergiebſt.“ 

„Was, Grete? Was ſoll ich Dir vergeben?“ 
W Was, was? Alles, Alles! Ich bin ſchuld 
an Deinem Elend und nun bin ich ſchuld an 


Grete Minde. 117 


Deinem Tod. Aber ich wußt' es nicht anders 
und ich wollt' es nicht. Ich war ein Kind noch, 
und ſieh', ich liebte Dich ſo ſehr. Aber nicht 
genug, nicht genug, und es war nicht die rechte 
Liebe. Sonſt wär' es anders gekommen, alles 
anders.“ 

„Laß es, Grete.“ 

„Nein, ich laß es nicht. Ich will mein 
Herz ausſchütten vor Dir. Ach, ſonſt beichten 
die Sterbenden, ich aber will Dir beichten, Dir.“ 

Er lächelte. „Du haſt mir nichts zu beichten.“ 

„Doch, doch. Viel, viel mehr als Du 
glaubſt. Denn ſieh, ich habe nur an mich ge⸗ 
dacht; das war es; da liegt meine Schuld. Es 
kommt alles von Gott, auch das Unrecht, das 
man uns anthut, und wir müſſen es tragen 
lernen. Das hat mir Gigas oft geſagt, ſo oft; 
aber ich wollt' es nicht tragen und hab' aufge: 
bäumt in Haß und in Ungeduld. Und in meinem 
Haß und meiner Ungeduld hab ich Dich mit fort- 
gezwungen, und habe Dich um Glück und Leben 
gebracht.“ 

Er ſchüttelte den Kopf und wiederholte nur 
leiſe: „Laß es, Grete. Du haſt mich nicht um 
das Glück gebracht. Es war nur anders, als 
andrer Leute Glück. Weißt Du noch, als wir 


118 Grete Minde. 


auf dem Floß fuhren und das Schilf ſtreiften 
und die Waſſervögel aufflogen, ach, wie ſtand da 
der Himmel ſo blau und golden über uns und 
wie hell ſchien uns die Sonne! Ja, da waren 
wir glücklich. Und als wir dann auf Lübeck 
zogen und das Holſtenthor vor uns hatten, das 
uns mit ſeinen grünen und rothen Ziegeln anſah, 
und dann Muſik und Fahnenſchwenker auf uns 
zukamen, als ob man uns einen Einzug machen 
wolle, da lachten wir und waren froh in unſerem 
Herzen, denn wir nahmen es als ein gutes Zei— 
chen und wußten nun, daß wir gute Tage haben 
würden. Und wir hatten ſie auch, und hätten 
ſie noch, denn fleißige Tage ſind gute Tage, 
wenn nicht der Streit gekommen wär', der 
Streit um viel und nichts .. Er dacht' eben, er 
dürf' es Dir anſinnen, weil wir arm waren und 
er reich, und eines Rathsherrn Sohn. Und da 
war es denn freilich aus .. Aber laß, Grete. 
Was wir gehabt haben, das haben wir gehabt. 
Und nun gieb mir das Kind, daß ich mich ſeiner 
freue.“ 

Grete war aufgeſtanden, um ihm das Kind 
zu geben; eh' ſie's jedoch aufnehmen konnte, be— 
fiel ihn ein Stickhuſten, wohl von der Anſtren— 
gung des Sprechens, und als der Anfall endlich 


Grete Minde. 119 


vorüber war, lag er ſchweißgebadet da, matt und 
halbgeſchloſſenen Auges, wie ein Sterbender. 
So vergingen Minuten, bis er ſich wieder 
erholt hatte und trinken zu wollen ſchien. Wenig⸗ 
ſtens ſah er ſich um, als ſuch' er etwas. Und 
wirklich, neben ſeinem Lager ſtand ein Hafenglas, 
d'rin ihm aus Brotrinden und dünnem Eſſig ein 
Getränk gemacht worden war. Aber der Ge— 
ſchmack widerſtand ihm, und er wies es zurück 
und ſagte: „Waſſer.“ Und Grete holte den 
Waſſerkrug herbei, der groß und unhandlich, und 
viel zu ſchwer war, um d'raus zu trinken, und 
als ſie noch unſchlüſſig daſtand und überlegte, 
wie ſie den Trunk ihm reichen ſolle, hob er ſich 
mühſam auf und ſagte lächelnd: „Aus Deiner 
Hand, Gret'; ein paar Tropfen blos. Ich brauche 
nicht viel.“ Und ſie that's und gab ihm. Als 
er aber getrunken, hielt ſie ſich nicht länger mehr 
und rief, während ſie halb im Gebet und halb 
in Verzweiflung ihre Hände gen Himmel ſtreckte: 
„Ach, daß ich leben muß! Valtin, mein einzig 
Geliebter, nimm mich mit Dir, mich und unſer 
Kind. Was hier noch war, warſt Du. Nun 
gehſt Du. Und wir ſind unnütz auf dieſer Welt.“ 
„Nein, Grete, nicht unnütz. Und Du mußt 
leben, leben um des Kindes willen. Auch wenn 


120 Grete Minde. 


es Dir ſchwer wird. Und Du wirſt es, denn 
Du hatteſt immer einen tapfern und guten Muth. 
Ich weiß davon. Und nun hör' mich und thu' 
wie ich Dir ſage. Aber bücke Dich; bitt', denn 
es wird mir ſchwer.“ 

Und ſie rückte näher an ſein Kiſſen. 

„Es muß etwas geſchehen,“ fuhr er fort, 
„und Du kannſt nicht mehr bleiben mit den 
fahrenden Leuten unten. Ich mag ſie nicht ſchel— 
ten, denn ſie waren gut mit uns, aber ſie ſind 
doch anders als wir. Und Du mußt wieder 
eine Heimſtätt' haben und Herd und Haus, und 
Sitt' und Glauben. Und ſo verſprich' mir denn, 
mache Dich los hier, in Frieden und guten Wor⸗ 
ten, und zieh’ wieder heim und ſage ... und 
ſage .... daß ich ſchuld geweſen.“ 

Grete ſchüttelte heftig den Kopf. Ihm die 
Schuld zuzuſchieben, das erſchien ihr ſchwerer als 
Alles. Er aber legte ſtill ſeine Hand auf ihren 
Mund und wiederholte nur: „. .. daß ich ſchuld 
geweſen. Und wenn Du das geſagt haſt, Grete, 
dann ſag' auch, Du kämeſt, um wieder gut zu 
machen, was Du gethan, und ſie ſollten Dich 
halten als ihre Magd. Und Du wollteſt kein 
Glück mehr, nein, nur Ruh und Raſt. Und 
dann mußt Du niederknieen, nicht vor ihr, aber 


Grete Minde. 121 


vor Deinem Bruder Gerdt. Und er wird Dich 
hien 

„Ach, daß es käme, wie Du ſagſt! Aber ich 
kenn' ihn beſſer. Er wird mir droh'n und mich 
von ſeiner Schwelle weiſen, mich und das Kind, 
und wird uns böſe Namen geben.“ 

„Ich fürcht' es nicht. Aber wenn er härter 
iſt, als ich ihn ſchätze, dann geh' ihn an um 
Dein Erbe, das wird er Dir nicht weigern kön— 
nen. Und dann ſuche Dir einen ſtillen Platz 
und gründe Dir ein neues Heim und einen 
eigenen Herd. Thu's, Gret'. Ich weiß, Du 
haſt ein trotzig Gemüth; aber bezwinge Dich um 
des Kindes willen. Verſprich mir's. Willſt 
Du?“ 

„Ich will.“ 

Es ſchien, daß ſie noch weiter ſprechen wollt', 
aber in dieſem Augenblicke trat Zenobia ein und 
ſagte: „Denk', Gret', 's giebt noch a Spiel heut. 
Den „Sündfall“ wollen's. Das Leutvolk laßt 
uns ka Ruh nit. Aber a Sündfall“ ohn' a En⸗ 
gel? Das geht halt nit. Und d'rum komm' i. 
Was meinſt, Gret'?“ 

Dieſe ſtarrte vor ſich hin. 

„Geh',“ ſagte Valtin. „Rücke den Korb 
dicht her zu mir und ſpiele den Engel. Und 


122 Grete Minde. 


wenn die Stelle kommt, wo Du die Palme hebſt, 
dann denk' an mich.“ 

Und ſie rückte den Korb näher an ſein 
Lager und beugte ſich über ihn. Er aber nahm 
noch einmal ihre Hand und ſagte: „Und nun 
leb' wohl, Gret', und vergiß es nicht. Ich höre 
jedes Wort. Geh'. Ich wart' auf Dich.“ 

Und Grete ging und barg ihr Geſicht in 
beide Hände. 


16. 


Die Nonnen von Arendſee. 


Am andern Morgen ging es in Arendſee 
von Mund zu Mund, daß einer von den Puppen⸗ 
ſpielern über Nacht geſtorben ſei. An allen 
Ecken ſprach man davon, und alles war in Auf- 
regung. Was mit ihm thun? Ein Sarg war 
beſchafft worden, das war in der Ordnung; aber 
wo ihn begraben, das blieb die Frage. War ihr 
Kirchhof ein Begräbnißplatz für fahrende Leute, 
von denen keiner wußte, wes Glaubens ſie ſeien, 
Chriſten oder Heiden! Oder vielleicht gar Türken. 
Und dabei dachte jeder an die Frau, die geſtern, 
vor Beginn des Spiels, ein langes rothes Tuch 
um die Schulter, am Eingange geſeſſen hatte. 


U 


Grete Minde, 123 


Es war klar, daß nur der alte Prediger 
Roggenſtroh den Fall entſcheiden konnte; und ehe 
Mittag heran war, wußte jeder, daß er ihn ent⸗ 
ſchieden habe und wie. Grete ſelber hatte, neben 
einer eindringlichen Ermahnung, das Nein aus 
ſeinem Munde hören müſſen. 

Da war nun große Noth und Trübſal, und es 
wurd' erſt wieder lichter um Gretens Herz, als 
ſich die Wirthin ihrer erbarmte und ihr anrieth, 
drüben in's Kloſter zu den Nonnen zu gehen, 
die würden ſchon Rath ſchaffen und ihr zu helfen 
wiſſen, wär' es auch nur, weil ſie den alten 
Roggenſtroh nicht leiden könnten. Sie ſolle nur 
Muth haben und nach der Domina fragen, oder, 
wenn die Domina krank ſei (denn ſie ſei ſehr 
alt) nach der Ilſe Schulenburg. Die habe das 
Herz auf dem rechten Fleck und ſei der Domina 
rechte Hand. Und wenn dieſe ſtürbe, dann 
würde ſie's. 

Das waren rechte Troſtesworte, und als 
Grete der Wirthin dafür gedankt, machte ſie ſich 
auf, um drüben im Kloſter das ihr bezeichnete 
Haus aufzuſuchen. Ein paar halbwachſene 
Kinder, die vor dem Thor der Ausſpannung 
ſpielten, wollten ihr den Weg zeigen, aber ſie 
zog es vor allein zu ſein und ging auf die Stelle 


124 Grete Minde. 


zu, wo der Heckenzaun und dahinter der Kreuz⸗ 
gang war. Als ſie hier, trotz allem Suchen, 
keinen Eingang finden konnte, preßte ſie ſich 
durch die Hecke hindurch und ſtand nun unmittel⸗ 
bar vor einer langen offenen Rundbogen-Reihe, 
zu der ein paar flache Sandſtein⸗Stufen von der 
Seite her hinaufführten. Drinnen an den Ge— 
wölbekappen befanden ſich halbverblaßte Bilder, 
von deren eines ſie feſſelte: Engelsgeſtalten, die 
ſchwebend einen Todten trugen. Und ſie ſah 
lange hinauf und ihre Lippen bewegten ſich. 
Dann aber ftieg ſie, nach der andern Seite hin, die 
gleiche Zahl von Stufen wieder hinab und ſah 
ſich alsbald inmitten des Kloſterkirchhofes, der 
faſt noch wirrer um ſie her lag, als ſie beim 
erſten Anblick erwartet. Wo nicht die Birn⸗ 
bäume mit ihren tiefherabhängenden Zweigen 
alles überdeckten, ſtanden Dill- und Fencheldolden, 
hoch in Samen geſchoſſen; dazwiſchen aber aller— 
hand verſpätete Kräuter, Thymian und Rosmarin, 
und füllten die Luft mit ihrem würzigen Duft. 
Und ſie blieb ſtehen, duckte ſich und hob ſich 
wieder, und es war ihr, als ob dieſe wuchernde 
Gräberwildniß, dieſe Pfadloſigkeit unter Blumen, 
ſie mit einem geheimnißvollen Zauber umſpinne. 
Endlich hatte ſie das Ende des Kirchhofes erreicht, 


Grete Minde. 125 


und ſie ſah zwiſchen den Bogen hindurch, die 
das Viereck auch nach dieſer Seite hin abſchloſſen, 
auf den in der Tiefe liegenden Kloſterſee, den 
nach links hin, ein paar hundert Schritt weiter 
abwärts, einige Häuſer umſtanden. Eines davon, 
das vorderſte, ſteckte ganz in Epheu und war 
bis in Mittelhöhe des Daches von fleiſchblättrigem 
und rothblühendem Hauslaub überdeckt. All das 
ließ ſich deutlich erkennen, und als Grete bis 
dicht heran war, ſah ſie, daß eine Magd auf 
dem Schwellſteine ſtand und den großen Meſſing⸗ 
klopfer putzte. 

„Wer wohnt hier?“ fragte Grete. 

„Das Fräulein von Jagow.“ 

„Iſt eine von den Nonnen?“ 

Das Mädchen lachte. „Von den Nonnen? 
Wir haben keine Nonnen mehr. Es iſt die 
Domina.“ 

„Das iſt gut. Die ſuch' ich.“ 

Und das Mädchen, ohne weiter eine Frage 
zu thun, trat in den Flur zurück, um ihr den 
Weg frei zu machen, und wies auf eine Thür 
zur Linken. „Da.“ 

Und Grete öffnete. 

Es war ein hohes, gothiſches, auf einem einzigen 
Mittelpfeiler ruhendes Zimmer, drin es ſchwer 


126 Grete Minde. 


hielt ſich auf den erſten Blick zurecht zu finden, 
denn nur wenig Sonne fiel ein, und alles Licht, 
das herrſchte, ſchien von dem Feuer herzukom⸗ 
men, das in dem tiefen und völlig ſchmuckloſen 
Kamine brannte. Neben dieſem, einander gegen— 
über, ſaßen zwei Frauen, ſehr verſchieden an 
Jahren und Erſcheinung, zwiſchen ihnen aber 
lag ein großer, gelb und ſchwarz gefleckter Wolfs- 
hund, mit ſpitzem Kopf und langer Ruthe, der 
der Jüngeren nach den Augen ſah und wedelnd 
auf die Biſſen wartete, die dieſe ihm zuwarf. 
Er ließ ſich auch durch Gretens Eintreten nicht 
ſtören und gab ſeine Herrin erſt frei, als dieſe 
ſich nach der Thür hin wandte und in halb— 
lautem Tone fragte: „Wen ſuchſt Du, Kind?“ 

„Ich ſuche die Domina.“ 

„Das iſt ſie.“ Und dabei zeigte ſie nach 
dem Stuhl gegenüber. 

Die Geſtalt, die hier bis dahin zuſammen⸗ 
gekauert geſeſſen hatte, richtete ſich jetzt auf und 
Grete ſah nun, daß es eine ſehr alte Dame war, 
aber mit ſcharfen Augen, aus denen noch Geiſt 
und Leben blitzte. Zugleich erhob ſich auch der 
Hund und legte ſeinen Kopf zutraulich an Gretens 
Hand, was ein gutes Vorurtheil für dieſe weckte. 
Denn „er kennt die Menſchen,“ ſagte die Domina. 


. 


i 


— . A 
— 


Grete Minde. 127 


Dieſe hatte mittlerweile Greten an ihren 
Stuhl herangewinkt. 

„Wie heißt Du, Kind? und was führt Dich 
her? Aber ſtelle Dich hier ins Licht, denn mein 
Ohr iſt mir nicht mehr zu Willen, und ich muß 
Dir's von den Lippen leſen.“ 

Und nun erzählte Grete, daß ſie zu den 
fahrenden Leuten gehöre, die geſtern in die Stadt 
gekommen ſeien, und daß einer von ihnen, der 
ihr nahe geſtanden, in dieſer Nacht geſtorben ſei. 
Und nun wüßten ſie nicht, wohin ihn begraben. 
Einen Sarg hätten ſie machen laſſen, aber ſie 
hätten kein Grab für ihn, kein Fleckchen Erde. 


Wohl ſei ſie bei dem alten Prediger geweſen und 


habe ihn gebeten, aber der habe fie hart ange- 
laſſen und ihr den Kirchhof verſagt. Den Kirch— 
hof und ein chriſtlich Begräbniß. 

„Biſt Du chriſtlich?“ 

„Ja.“ 

„Aber Du ſiehſt ſo fremd.“ 

„Das macht, weil meine Mutter eine 
Span 'ſche war.“ 

„Eine Span'ſche?d? . .. Und im alten 
Glauben?“ 

„Ja, Domina.“ 

Die beiden Damen ſahen einander an, und 


128 Grete Minde. 


die Domina ſagte: „Sieh, Ilſe, das hat ihr der 
Roggenſtroh von der Stirn geleſen. Er ſieht 
doch ſchärfer, als wir denken. Aber es hilft ihm 
nichts, und wir wollen ihm einen Strich durch 
die Rechnung machen. Er hat ſeinen Kirchhof 
und wir haben den unſren. Und auf unſrem, 
denk' ich, ſchläft ſich's beſſer.“ 

„Ja, Domina.“ 

„Sieh' Kind, das ſag' ich auch. Und ich 
warte nun ſchon manches Jahr und manchen Tag 
darauf. Aber der Tag will nicht kommen. Denn 
Du mußt wiſſen, ich werde fünf und neunzig 
und war ſchon geboren und getauft, als der 
Wittenberg'ſche Doctor gen Worms ging und 
vor Kaiſer Carolus Quintus ſtand. Ja, Kind, 
ich habe viele Zeiten geſehen, und ſie waren 
nicht ſchlechter als unſre Zeiten ſind. Und 
morgen um die neunte Stunde da komm nur 
herauf mit Deinem Todten, und da ſoll er fein 
Grab haben. Ein Grab bei uns. Und nicht 
an ſchlechter Stell’ und unter Unkraut; nein, 
wir wollen ihn unter einem Birnbaum begraben, 
oder, jo Du's lieber haft, unter einem Flieder⸗ 
buſch. Hörſt Du. Verlaß Dich auf mich und 
auf dieſe hier. Denn die hier und ich, wir 
verſtehen einander, nicht wahr, Ilſe? Und wir 


Grete Minde. 129 


wollen die Kloſterglocke läuten laſſen, daß es der 
Roggenſtroh bis in ſeine Stube hört und nächſten 
Sonntag wieder gegen uns predigt, gegen uns 
und gegen den Antichriſt. Das thut er am 
liebſten, und wir hören es am liebſten. Und 
nun geh', Kind. Ich haſſe den Hochmuth und 
weiß nur das Eine, daß unſer All-Erbarmer für 
unſre Sünden geſtorben iſt und nicht für unſre 
Gerechtigkeit.“ 

Und danach ging Grete und der Hund be— 
gleitete ſie bis an die Thür. 

Als die beiden Frauen wieder allein waren, 
ſagte die Domina: „Unglücklich' Kind. Sie hat 
das Zeichen.“ 

„Nicht doch; ſie hat ſchwarze Augen. Und 
die hab ich auch.“ | 

„Ja, Ilſe. Aber Deine lachen und ihre 
brennen.“ 

„Du ſiehſt zuviel, Domina.“ 

„Und Du zu wenig. Alte Augen ſehen am 
beſten im Dunkeln. Und das Dunkelſte iſt die 
Zukunft.“ | 

= . 3 

Und ſo kam der andre Morgen. 

Die neunte Stunde war noch nicht heran, 
als ganz Arendſee die Kloſterglocke läuten hörte. 


Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 111 


130 Grete Minde. 


Und auch Roggenſtroh hörte ſie; das verdroß 
ihn. Aber, ob es ihn verdroß oder nicht, von 
der tiefen Einfahrt des Gaſthofes her ſetzte 
ſich ein ſeltſamer Zug in Bewegung, ein Be— 
gräbniß, wie die Stadt noch keines geſehen; denn 
die vier Puppenſpieler trugen den Sarg, der 
auf eine Leiter geſtellt worden war, und hinter 
ihnen her ging Grete, nur auf Zenobia geſtützt, 
die ſich heute von allem Roth entkleidet und ſtatt 
deſſen an ihren Spitzhut wieder ihren langen 
ſchwarzen Schleier mit den Goldſternchen be— 
feſtigt hatte. Und dann kamen Kinder aus der 
Stadt, die vorderſten ernſt und traurig, die 
letzten ſpielend und lachend, und ſo ging es die 
Straße hinunter, in weitem Bogen um den 
Kirchhof herum, bis an die See-Seite, wo, von 
alter Zeit her, der Eingang war. 

In Nähe dieſes Einganges, unter einem 
hohen Fliederbuſch, der mit ſeinen Zweigen bis 
in den Kreuzgang hineinwuchs, hatte der Kloſter— 
gärtner das Grab gegraben. Und um das Grab 
her ſtanden die Nonnen von Arendſee: Barbara 
von Rundſtedt, Adelheid von Rademin, Mette von 
Bülow und viele andere noch, alle mit Spitz 
hauben und langen Chormänteln, und in ihrer 
Mitte die Domina, klein und gebückt, und neben 


m, SZ ZZ 


Grete Minde. 131 


ihr Ilſe von Schulenburg, groß und ſtattlich. 


Und als nun der Zug heran war, öffnete ſich 


der Kreis und mit Hülfe von Seilen und Bän⸗ 


dern, die zur Hand waren, wurde der Sarg 
hinabgelaſſen. Und nun ſchwieg die Glocke und 
die Domina ſagte: „Sprich den Spruch, Ilſe.“ 


Und Ilſe trat bis dicht an das Grab und betete: 


„Unſre Schuld iſt groß, unſer Recht iſt klein, 
die Gnade Gottes thut es allein.“ Und 
alle Nonnen wiederholten leiſe vor ſich hin: 
„Und die Gnade Gottes thut es allein. Danach 
warfen die Zunächſtſtehenden eine Hand voll Erde 
dem Todten nach, und als ihr Kreis ſich gelichtet, 


(drängten ſich die Kinder von außen her bis an 
den Rand des Grabes und ſtreuten Blumen 


über den unten ſtehenden Sarg: Aſtern aller 
Farben und Arten, die ſie während der kurzen 
Ceremonie von den verwilderten Beeten gepflückt 
hatten. 

Bald danach war nur noch Grete da, und 
ſah auf den Fliederbuſch, der beſtimmt ſchien, 
das Grab zu ſchützen. Ein Vogel flog auf und 
über fie hin, und ſetzte ſich dann auf eine Hanf- 
ſtaude und wiegte ſich. „Ein Hänfling!“ ſagte 


ſie. Und die Bilder vergangener Tage ſtiegen 
111* 


132 Grete Alinde, 


vor ihr auf; ihr Schmerz löſte fich, und fie warf 
ſich nieder und weinte bitterlich. 

Als ſie ſich erhob, ſah ſie, daß Ilſe, die mit 
den Andern gegangen war, zwiſchen den Rund— 
bögen wieder herauf und auf ſie zu kam, allem 
Anſcheine nach, um ihr eine Botſchaft zu bringen. 
Und ſo war es. „Komm, Grete,“ ſagte ſie, „die 
Domina will Dich ſprechen;“ und Beide gingen 
nun, außerhalb des Kreuzganges, zwiſchen dieſem 
und dem See-Ufer hin, und auf das epheu-um⸗ 
ſponnene Haus mit dem hohen Dach und den 
rothblühenden Laubſtauden zu. 

Es war ſchwül, trotzdem ſchon Detobertage 
waren, und die Domina, die nach Art alter 
Leute die Sonnenwärme liebte, hatte Tiſch und 
Stühle in Front ihres Hauſes bringen laſſen. 
Hier ſaß ſie vor dem dichten, dunklen Gerank, 
durch das von innen her der Wiederſchein des 
Kaminfeuers blitzte, und auf das Tiſchchen neben 
ihr waren Obſt und Lebkuchen geſtellt, Ulmer 
und Basler, und eine zierliche Deckelphiole mit 
Syrakuſer Wein. 

Grete verneigte ſich. 

„Ich habe Dich rufen laſſen,“ ſagte die 
Domina, „weil ich Dir helfen möchte, ſo gut ich 
kann. Es ſoll keiner ungetröſtet von unſrer 


Grete Minde. 133 


Schwelle gehen. So haben es die Arendſee'ſchen 
von Anfang an gehalten, und ſo halten ſie's noch. 
Und auch Ilſe wird es ſo halten. Nicht wahr, 
Ilſe? . .. Und nun ſage mir, Kind, woher Du 
kamſt und wohin Du gehſt? Ich frag' es um 
Deinetwillen. Sage mir, was Du mir ſagen 
kannſt und ſagen willſt.“ 

Und Grete ſagte nun alles, und ſagte zuletzt 
auch, daß ſie zurück zu den Ihren wolle, zu 
Bruder und Schweſter, um an ihrer Schwelle 
Verzeihung und Verſöhnung zu finden. 

„Das iſt ein ſchwerer Gang.“ 

Grete ſchwieg und ſah vor ſich hin. Endlich 


ſagte ſie: „Das iſt es. Aber ich hab' es ihm 


verſprochen. Und ich will es halten.“ 

„Und wann willſt Du gehen?“ 

„Gleich.“ 

„Das iſt gut. Ein guter Wille kann ſchwach 
werden, und wir müſſen das Gute thun, ſo lange 
wir noch Kraft haben und die Luſt dazu lebendig 
in uns iſt. Sonſt zwingen wir's nicht. Und 
nun gieb ihr einen Imbiß, Ilſe, und eine Zehrung 
für den Weg. Und noch eins, Grete: halt' an 
Dich, auch wenn es fehlſchlägt und wiſſe, daß 
Du hier eine Freiſtatt haſt. Und eine Freiſtatt 
iſt faſt ſo gut wie eine Heimſtatt. Und nun 


134 Grete Minde. 


kniee nieder und höre mein Letztes und mein 
Beſtes: ‚Der Herr ſegne Dich und behüte Dich, 
und gebe Dir ſeinen Frieden.“ Ja, ſeinen 
Frieden; den brauchen wir alle, aber Du Arme, 
Du brauchſt ihn doppelt. Und nun geh und eile 
Dich und laß von Dir hören.“ 

Grete küßte der Alten die Hand und ging. 
Ilſe mit ihr. Als dieſe zurückkam und ihren 
vorigen Platz an der Epheuwand eingenommen 
hatte, ſagte die Domina: „Wir ſehen ſie nicht 
wieder.“ 

„Und haſt ihr doch eine Freiſtatt geboten!“ 

„Weil wir das Unſre thun ſollen ... Und 
die Wege Gottes find wunderbar ... Aber ich 
ſah den Tod auf ihrer Stirn. Und hab' Acht, 
Ilſe, ſie lebt keinen dritten Tag mehr!“ 


N. 
Wieder gen Tangermünde. 


Grete war in weitem Umkreiſe bis an das 
Gaſthaus zurückgegangen, um hier von den Leuten, 
die's gut mit ihr und ihrem Todten gemeint 
hatten, Abſchied zu nehmen. Vor allem von 
Zenobia. Dann wickelte ſie das Kind, das dieſe 
bis dahin gewartet hatte, in den Kragen ihres 


Grete Minde. 135 


Mantels, und ſchritt aus der Stadt hinaus, auf 
die große Straße zu, die von Arendſee nach 
Tangermünde führte. Hielt ſie ſich zu, das waren 
der Wirthin letzte Worte geweſen, ſo mußte ſie 
gegen die vierte Stund' an Ort und Stelle ſein. 

Der Weg ging anfänglich über Wieſen. Es 
war ſchon alles herbſtlich; der rothe Ampfer, der 
ſonſt in breiten Streifen an dieſer Stelle blühte, 
ſtand längſt in Samen und die Vögel ſangen 
nicht mehr; aber der Himmel wölbte ſich blau 
und die Sommerfäden zogen, und mitunter war 
es ihr, als vergäße ſie alles Leids, das ſie drückte. 
Ein tiefer Frieden lag über der Natur. „Ach, 
ſtille Tage!“ ſagte ſie leiſe vor ſich hin. 

Nach den Wieſen kam Wald. Junge Tannen 
wechſelten mit alten Eichen, und überall da, wo 
dieſe ſtanden, war eine kräftigere Luft, die Grete 
begierig einſog. Denn es war immer ſchwüler 
geworden und die Sonne brannte. 

Mittag mochte heran ſein, als ſie Raſt 
machte, weniger um ihret- als um des Kindes 
willen. Und ſie gab ihm zu trinken. Das war 
dicht am Rande des Waldes, wo zwiſchen anderem 
Laubholz auch ein paar alte Kaſtanien ihre Zweige 
weit vorſtreckten. Die Straße verbreiterte ſich 
hier auf eine kurze Strecke hin, und ſchuf einen 


136 Grete Minde. 


ſichelförmigen Platz, an deſſen zurückgebogenſter 
Stelle halbgeſchälte Birkenſtämme lagen, hinter 
denen wieder ein Quell aus Moos und Stein 
hervorplätſcherte. Hier ſaß ſie jetzt, und um ſie 
her lagen abgefallene Kaſtanien, einzelne noch in 
ihren Stachelſchalen, die meiſten aber aus ihrer 
Hülle heraus und braun und glänzend. Und ſie 
bückte ſich, um einige von ihnen aufzuheben. Und 
als ſie ſo that, und ihrer immer mehr in den 
Schooß ſammelte, da ſah ſie ſich wieder auf 
ihres Vaters Grab und Valtin neben ſich, und 
und ſie hing ihm die Kette um den Hals und 
nannt' ihn ihren Ritter. War es doch, als ob 
jede Stunde dieſes Tages Erinnerungen in ihr 
wecken ſollte, ſüß und ſchmerzlich zugleich. „Alles 
dahin,“ ſagte ſie. Und ſie ſtand auf und ſchüttete 
die Kaſtanien wieder in das Gras zu ihren Füßen. 

Sie hing ihren Erinnerungen noch nach, als 
ſie das Klirren einer Kummetkette hörte und 
gleich darauf eines Gefährtes anſichtig wurde, 
das, von derſelben Seite her, von der auch ſie 
gekommen, um die Waldecke bog. Es war eine 
Schleife mit zwei kleinen Pferden davor, und ein 
Bauer vorn auf dem Häckſelſack. Auch hinter ihm 
lagen Säcke, muthmaßlich Korn, das er zu Markt 
oder in die Mühle fuhr. Grete trat an ihn 


De n 


* 


Grete Minde. 137 


heran, und frug, ob er ſie mitnehmen wolle? 
„Eine kleine Strecke nur!“ 

„Dat will ick jiern. Stejg man upp, Deern.“ 

Und Grete that's und ſetzte ſich neben ihn, 
und ſie fuhren ſtill in den Wald hinein. Endlich 
ſagte der Bauer: „Kümmſt vun Arendſee?“ 

„Ja,“ ſagte Grete. 

„Denn wihrſt ook in't Kloſter? Jott, de oll 
Domina! Fiefunneijentig. Na, lang kann't joa 
nich mihr woahren. Un denn kümmt unſ' Ilſ' 
ran. De wahrd et.“ 

„Kennt Ihr ſie?“ 

„J, wat wihr ick je nich kenn'? Ick bin 


joa vun Arnsdörb, wo ſe bührtig is. Un wat 


mien Voaders-Schweſter is, de wihr joa ehr' 
Amm'. Un achters hett je ſe uppäppelt. Un de 
ſeggt ümmer: „Ilſ' is de beſt! Un ſo groot ſe is, 
ſo good is ſe. Un doaför wahrd ſe ook Domina.“ 

Und danach ſchwiegen ſie wieder, und nichts 
als ein Paar blaue Fliegen ſummten um ſie her, 
und die Schleife malte weiter durch den Sand. 
Nur wenn dann und wann eine feſtere Stelle 
kam, wo Moos über den Weg gewachſen war, 
oder wo viel Kiefernadeln lagen, über die die 
Fuhre glatter hingleiten konnte, gab der Bauer 
einen Schlag mit ſeiner Leine und ließ die ma— 


138 Grete Minde. 


geren Braunen etwas ſchneller gehn. Und man 
hörte dann ſein Hüh und Hott, und das Klappern 
der Kette. 

„Wo wiſten hen?“ nahm er endlich das Ge— 
ſpräch wieder auf. 

„Nach Tangermünd',“ 

„Na'h Tangermünd'. Oh, doa wihr ick vok. 
Awers dat geiht nu all in't dritt' o'r vörte 
Joahr, as unſ' Herr Kurförſt doa wihr un dat 
grote Foahnenſchwenken wihr, mit Aeten un Ju⸗ 
biliren. Un allens boaben up de Burg. Joa, 
doa wihr ick ook, un ümmer mit damang. Awers 
man buten.“ 

Grete nickte, denn wie hätte ſie des Tages 
vergeſſen können! Und ſo plauderten ſie weiter 
und ſchwiegen noch öfter, bis eine Stelle kam, 
wo der Weg gabelte. „Hier möt ick rechts aff,“ 
ſagte der Bauer. 

Und Grete ſtieg ab und wollt' ihm eine 
kleine Münze geben. „Nei, nei, Deern, dat geiht 
nich. O'r biſt ne Fru?“ 

Sie wurde roth, aber er hatt' es nicht Acht 
und bog nach rechts hin in den Feldweg ein. 

Es war noch zwei Stunden Wegs, und 
Grete, die ſich von der Anſtrengung des Marſches 
erholt hatte, ſchritt wieder rüſtiger vorwärts. 


Grete Minde. 139 


Auch die Schwüle ließ nach; ein Wind ging und 
kühlte die Luft und ihr die Stirn. Und ſie hatte 
wieder guten Muth und gefiel ſich darin, ſich ihr 
künftiges Leben auszumalen. Aber ſonderbar, 
ſie begann es immer vom andern Ende her, und 
je weiter es ab und in allerfernſte Zukunft hin⸗ 
einlag, deſto heller und lichter erſchien es ihr. 
Als aber zuletzt ihre Gedanken und Vorſtellungen 
auch auf das Nah- und Nächſtliegende kamen und 
ſie ſich in Gerdt's Haus eintreten und die Knie 
vor ihm beugen ſah, da wurd' ihr wieder ſo bang 
um's Herz und ſie hatte Mühe ſich zu halten. 
Und ſie nahm das Kind und küßte es. „Es 
muß ſein,“ ſagte fie „und es ſoll fein. Ich 
hab' es ihm verſprochen, und ich will es halten 
und will Demuth lernen. Ja, ich will um einen 
Platz an ſeinem Herde bitten, und will ſeine 
Magd ſein, und will mich vor ihm niederwerfen. 
Aber — und ihre Stimme zitterte — wenn ich 
mich niedergeworfen habe, ſo ſoll er mich auch 
wieder aufrichten. Weh' ihm und mir, wenn er 
mich am Boden liegen läßt.“ Und bei der bloßen 
Vorſtellung war es ihr, als drehe ſich ihr alles 
im Kopf und als ſchwänden ihr die Sinne. 

Endlich hatte ſie ſich wiedergefunden und 
ging raſcheren Schrittes weiter, abwechſelnd in 


140 Grete Minde. 


Furcht und Hoffnung, bis ſie plötzlich, aus dem 
Walde heraustretend, der Dächer und Thürme 
Tangermündens anſichtig wurde. Da ging Alles 
in ihr in alter Lieb’ und Sehnſucht unter, und 
ſie grüßte mit der Hand hinüber. Das war 
Sanct Stephan, und die hohen Linden daneben, 
das waren die Kirchhofslinden. Lebte Gigas noch? 
Blüthen noch die Roſen in ſeinem Garten? Und 
ſie legte die Hand auf ihre Bruſt, und ſchluchzte, 
und ward erſt wieder ruhiger, als ſie die Gold— 
kapſel fühlte, das Einzige, was ihr aus alten 
Tagen her geblieben war. Und ſie öffnete ſie, 
und ſchloß ſie wieder, und preßte ſie voll Inbrunſt 
an ihre Lippen. 


18. 
Grete bei Gerdt. 


Unwillkürlich beſchleunigte ſich ihr Schritt, 
und binnen Kurzem hatte ſie die nur aus wenig 
Häuſern beſtehende Vorſtadt erreicht. Eins dieſer 
Häuſer, das ſich nach ſeinem bemalten und ver— 
goldeten Schilde leicht als ein Herbergshaus er— 
kennen ließ, lag in Nähe des Thores, und ſie 
trat hier ein, um eine Weile zu ruhen und ein 
paar Fragen zu ſtellen. Die Leute zeigten ſich 


Grete Minde. 141 


ihr in allem zu Willen, und eh' eine Stunde 
vergangen war, war ſie fertig und ſtand gerüſtet 
da: die Kleider ausgeſtäubt und geglättet, und 
das während des langen Marſches wirr gewordene 
Haar wieder geordnet. 

Es ſchlug eben fünf, als ſie, das Kind unterm 
Mantel, aus der Herbergsthüre trat. Draußen 
im Sande ſcharrten die Hühner ruhig weiter und 
nur der Hahn trat reſpektvoll bei Seit' und 
krähte dreimal, als ſie vorüberging. Ihr Schritt 
war leicht, leichter als ihr Herz, und wer ihr 
in's Auge geſehen hätte, hätte ſehen müſſen, wie 
der Ausdruck darin beſtändig wechſelte. So paſſirte 
ſie das Thor, auch den Thorplatz dahinter, und 
als ſie jenſeits deſſelben den inneren Bann der 
Stadt erreicht hatte, war es ihr, als wäre ſie ge— 
fangen und könne nicht mehr heraus. Aber ſie 
war nicht im Bann der Stadt, ſondern nur im 
Bann ihrer ſelbſt. Und nun ging ſie die große 
Mittelſtraße hinauf, an dem Rathhauſe vorüber, 
hinter deſſen durchbrochenen Giebelroſetten der 
Himmel wieder glühte, ſo roth und prächtig wie 
jenen Abend, wo Valtin ſie die Treppe hinunter 
in's Freie getragen und von jähem Tod errettet 
hatte. Errettet? Ach, daß ſie damals zerdrückt 
und zertreten worden wäre. Nun zertrat ſie 


142 Grete Minde. 


dieſe Stunde! Aber ſie redete ſich zu, und ſchritt 
weiter in die Stadt hinein, bis ſie dem Minde'ſchen 
Hauſe gegenüber hielt. Es war nichts da, was 
ſie hätte ſtören oder überraſchen können. In allem 
derſelbe Anblick wie früher. Da waren noch die 
Niſchen, auf deren Steinplatten ſie, lang, lang 
eh' Trud in's Haus kam, mit Valtin geſeſſen 
und geplaudert hatte, und dort oben die Giebel— 
fenſter, die jetzt aufſtanden, um die Friſche des 
Abends einzulaſſen, das waren ihre Fenſter. 
Dahinter hatte ſie geträumt, geträumt ſo Vieles, 
ſo Wunderbares. Aber doch nicht das! 

In dieſem Augenblicke ging drüben die Thür, 
und ein Knabe, drei⸗ oder vierjährig, lief auf die 
Stelle zu, wo Grete ſtand. Sie ſah wohl, wer 
es war, und wollt' ihn bei der Hand nehmen; 
aber er riß ſich los und huſchte bang und ängſt— 
lich in eines der Nachbarhäuſer hinein. „So 
beginnt es,“ ſagte ſie und ſchritt quer über den 
Damm und auf das Haus zu, deſſen Thür offen 
geblieben war. In dem Flure, trotzdem es ſchon 
dämmerte, ließ ſich alles deutlich erkennen: an 
den Wänden hin ſtanden die braunen Schränke, 
dahinter die weißen, und nur die Schwalbenneſter, 
die links und rechts an dem großen Querbalken 
geklebt hatten, waren abgeſtoßen. Man ſah nur 


Grete Minde. 143 


noch die Rundung, wo ſie vordem geſeſſen. Das 
erſchreckte ſie mehr als alles andere. „Die 
Schwalben ſind nicht mehr heimiſch hier,“ ſagte 
ſie, „das Haus iſt ungaſtlich geworden.“ Und 
nun klopfte ſie und trat ein. 

Ihr Auge glitt unwillkürlich über die Wände 
hin, an denen ein paar von den Familienbildern 
fehlten, die früher dageweſen waren, auch das 
ihrer Mutter; aber der große Nußbaumtiſch ſtand 
noch am alten Platz, und an der einen Schmal- 
ſeite des Tiſches, den Kopf zurück, die Füße weit 
vor, ſaß Gerdt und las. Es ſchien ein Akten⸗ 
ſtück, deſſen Durchſicht ihm in ſeiner Rathsherren— 
Eigenſchaft obliegen mochte. Denn einer von den 
Mindes ſaß immer im Rathe der Stadt. Das 
war ſo ſeit hundert Jahren oder mehr. 

Grete war an der Schwelle ſtehen geblieben, 
und erſt als ſie wahrnahm, daß Gerdt aufſah 
und die wenigen Bogen, die das Actenſtück 
bildeten, zur Seite legte, ſagte ſie: „Grüß Dich 
Gott, Gerdt. Ich bin Deine Schweſter Grete.“ 

„Ei, Grete,“ ſagte der Angeredete, „biſt Du 
da! Wir haben uns lange nicht geſehen. Was 
machſt Du? Was führt Dich her?“ 

„Valtin iſt todt ....“ 

„Iſt er? Sor“ 


144 Grete Minde. 


„Valtin iſt todt und ich bin allein. Ich 
hab' ihm auf ſeinem Sterbebette verſprechen 
müſſen, Euch um Verzeihung zu bitten. Und da 
bin ich nun und thu's, und bitte Dich um eine 
Heimſtatt und um einen Platz an Deinem Herd. 
Ich bin müde des Umherfahrens und will ſtill 
und ruhig werden. Ganz ſtill. Und ich will 
Euch dienen; das ſoll meine Buße ſein.“ Und 
ſie warf ſich, als ſie ſo geſprochen, mit einem 
heftigen Entſchluſſe vor ihm nieder, mehr raſch 
als reuig, und ſah ihn fragend und mit ſonder— 
barem Ausdruck an. Das Kind aber hielt ſie 
mit der Linken unter ihrem Mantel. 

Gerdt war in ſeiner bequemen Lage geblieben 
und ſah an die Zimmerdecke hinauf. Endlich ſagte 
er: „Buße! Nein, Grete, Du biſt nicht buß— 
fertig geworden. Ich kenne Dich beſſer, Dich und 
Deinen ſtolzen Sinn. Und in Deiner Stimme 
klingt nichts von Demuth. Aber auch wenn Du 
Demuth gelernt hätteſt, unſere Schweſter kann 
nicht unſere Magd ſein. Das verbietet uns das 
Herkommen und das Gerede der Leute.“ 

Grete war in ihrer knieenden Stellung ver— 
blieben und ſagte: 

„Ich dacht' es wohl. Aber wenn ich es 
nicht ſein kann, ſo ſei es das Kind. Ich lieb' 


Grete Minde. 145 


es und weil ich es ſo liebe, mehr als mein 
Leben, will ich mich von ihm trennen, und will's 
in andere Hände geben. In Eure Hände. Es 
wird nicht gut' und glückliche Tage haben, ich 
weiß ja welche, aber wenn es nicht in Glück auf: 
wächſt, jo wird es doch in Sitt' und Ehren auf- 
wachſen. Und das ſoll es. Und ſo Ihr Euch 
ſeiner ſchämt, ſo thut es zu guten Leuten in 
Pfleg' und Zucht, daß es ihr Kind wird und 
mich vergißt, und nichts an ihm bleibt von Sünd' 
und Makel und von dem Flecken ſeiner Geburt. 
Erhöre mich, Gerdt; ſage ja, und Ihr ſollt mich 
nicht wiederſehen. Ich will fort, weit fort, und 
mir eine Stelle ſuchen, zum Leben und zum 
Sterben. Thu's! Ach, Lieb' und Haß haben mir 
die Sinne verwirrt und Vieles iſt geſchehen, das 
beſſer nicht geſchehen wäre. Aber es iſt nichts 
Böſes an dieſer meiner Hand. Hier lieg' ich; 
ich habe mich vor Dir niedergeworfen, nimm mich 
wieder auf! Hilf mir, und wenn nicht mir, ſo 
hilf dem Kind.“ 

Gerdt ſah auf die kniende Frau, gleichgültig 
und mitleidslos, und ſagte, während er den Kopf 
hin und her wiegte: 

„Ich mag ihm nicht Vater ſein und nicht 


Vormund und Berather. Du haſt es ſo gewollt, 
Th. Fontane, Gef. Romane u. Novellen. 112 


146 Grete Minde. 


nun hab' es. Es ſchickt ſich gut, daß Du's 
unterm Mantel trägſt, denn ein Mantelkind iſt 
es. Bei ſeinem vollen Namen will ich's nicht 
nennen.“ er 

Und er ließ fie liegen und griff nach dem 
Actenbündel, als ob er der Störung müde ſei 
und wieder leſen wolle. 

Grete war jetzt aufgeſprungen und ein Blick 
unendlichen Haſſes ſchoß aus ihren Augen. Aber 
ſie bezwang ſich noch und ſagte mit einer Stimme, 
die plötzlich tonlos und heiſer geworden war: 
„Es iſt gut ſo, Gerdt. Aber noch ein Wort. Du 
haft mich nicht erhören wollen in meiner Noth, 
ſo höre mich denn in meinem Recht. Ich bin 
als eine Bittende gekommen, nicht als eine 
Bettlerin. Denn ich bin keine Bettlerin. Ich 
bin des reichen Jacob Minde Tochter. Und ſo 
will ich denn mein Erbe. Hörſt Du, Gerdt, 
mein Erbe.“ 

Gerdt faltete die Bogen des Actenſtücks zu— 
ſammen, ſchlug damit in ſeine linke Hand und 
lachte: „Erbe! Woher Erbe, Grete? Was 
brachte Deine Mutter ein? Kennſt Du das Lied 
vom Sperling und der Naſelnuß? Erbe! Du 
haſt keins. Du haſt Dein Kind, das iſt alles. 
Verſuch' es bei den Zernitzens, ſprich bei dem 


Grete Minde. 147 


Alten vor. Der Valtin hat ein Erbe. Und 
Emrentz denk' ich wird ſich freuen Dich zu ſehn. 1 

„Iſt das Dein letztes Wort?“ 

„Ja, Grete.“ 

„So gehab' Dich wohl, und Dein Lohn ſei 
wie Dein Erbarmen.“ Und damit wandte ſie 
ſich und ſchritt auf die Thür und den Flur zu. 
Als ſie draußen an dem Fenſter vorüber kam, 
ſah ſie noch einmal hinein, aber Gerdt, der ab— 
gewandt und in Gedanken da ſaß, bemerkte 
nichts. 

Er ſah auch noch ſtarr vor ſich hin, als 
Trud eintrat und einen Doppelleuchter vor ihn 
auf den Tiſch ſtellte. Denn es dunkelte ſchon. 
Sie waren kein plaudrig Ehepaar, und die 
ſtummen Abende waren in ihrem Haufe zu Haufe; 
heut aber ſtellte Trud allerlei Fragen, und Gerdt, 
dem es unbehaglich war, erzählte ſchließlich von 
dem, was die letzte Stunde gebracht hatte. Ueber 
alles ging er raſch hinweg; nur als er an das 
Wort „Erbe“ kam, konnt' er davon nicht los 
und wiederholte ſich's zweimal, dreimal, und zwang 
ſich zu lachen. 

Trud aber, als er ſo ſprach, war an das 
Fenſter getreten und klopfte mit ihren Nägeln 
an die Scheiben, wie ſie zu thun pflegte, wenn 

112 


148 Grete Minde. 


ſie zornig war. Endlich wandte ſie ſich wieder 
und ſagte: „Und was glaubſt Du, was nun 
geſchieht?! 

„Was geſchieht? Ich weiß es nicht.“ 

„Aber ich weiß es. Meinſt Du, daß dieſe 
Hexe ſich an die Landſtraße ſetzen und Dir zu 
Liebe ſterben und verderben wird?! O, Gerdt, 
Gerdt, es kann nicht gut thun. Ich hätt's ge— 
durft, vielleicht gedurft, denn wir waren uns 
fremd und feind von Anfang an. Aber Du! 
Du durfteſt es nicht. Ein Unheil giebt's! Und 
Du ſelber haſt es herauf beſchworen. Um guten 
Namens willen, ſagſt Du? Geh,; ich kenn' Dich 
beſſer. Aus Geiz und Habſucht und um Beſitz 
und Goldes willen! Nichts weiter.“ 

Er ſprang auf und wollte heftig antworten, 
denn ſo ſtumpf und gefügig er war, ſo zorn— 
müthig war er, wenn an ſeinem Beſitz gerüttelt 

wurde. Trud aber, uneingeſchüchtert, ſchnitt ihm 
das Wort ab und ſagte: „Sprich nicht, Gerdt; 
ich leſe Dir das ſchlechte Gewiſſen von der Stirn 
herunter. Deine Mutter hat's eingebracht, ich 
weiß es. Aber als die Span'ſche, Gott ſei's ge— 
klagt, in unſer Haus kam, da hatte ſich's ver— 
doppelt und aus eins war zwei geworden. Und 
ſo Du's anders ſagſt, ſo lügſt Du. Sie hat ein 


Grete Minde. 149 


Erbe. Sieh nicht ſo täppiſch drein. Ich weiß 
es, und ſo ſie's nicht empfängt, ſo wollen wir 
ſehen, was von Deinem und Ihrem übrig bleibt. 
Lehre mich ſie kennen. Ich hab' ihr in die 
ſchwarzen Augen geſehen, öfter als Du. Ge— 
zähmt, ſagſt Du? Nie, nie.“ Und ſie zog ihren 
Knaben an ſich, der, während ſie ſprach, in's 
Zimmer getreten war. 

„Ihr ſprecht von der Frau;“ ſagte das Kind. 
„Ich weiß. Sie hat mich bei der Hand nehmen 
wollen. Drüben. Aber ich habe mich vor ihr 
gefürchtet und von ihr losgeriſſen.“ 


19. 
Grete vor Peter Guntz. 


Grete war allem Anſcheine nach ruhig aus 
dem Hauſe getreten; aber in ihrem Herzen jagte 
ſich's wie Sturm und hundert Pläne ſchoſſen in 
ihr auf und ſchwanden wieder, alle von dem 
einen Verlangen eingegeben, ihrem Haß und 
ihrer Rache genug zu thun. Und immer war es 
Gerdt, den fie vor Augen hatte, nicht Trud; 
und auf ſeinen Schultern ſtand ein rothes 
Männlein mit einem rothen Hut und einer rothen 
vielgezackten Fahne, das wollt' er abſchütteln; aber 


150 Grete Minde. 


er konnt' es nicht. Und ſie lachte vor ſich hin, 
ganz laut, und nur in ihrem Innern klang es 
leiſe: „Bin ich irr'?“ 

Unter ſolchen Bildern und Vorſtellungen war 
ſie grad' über den Rathhausplatz hinaus, als ſie 
plötzlich, wie von einem Lichtſcheine geblendet, ſich 
wieder umſah, und der halben Mondesſcheibe 
gewahr wurde, die ſtill und friedlich, als regiere 
ſie dieſe Stunde, über dem Giebelfelde des Rath— 
hauſes ſtand. Und ſie ſah hinauf und ihr war, 
als lege ſich ihr eine Hand beruhigend auf das 
Herz. „Es ſoll mir ein Zeichen ſein“, ſagte ſie. 
„Vor den Rath will ich es bringen; der ſoll 
mich aufrichten . . . . Nein, nicht aufrichten. Richten 
ſoll er. Ich will nicht Troſt und Gnade von 
Menſchenmund und Menſchenhand, aber mein 
Recht will ich, mein Recht gegen ihn, der ſich 

und ſeiner Seelen Seligkeit dem Teufel ver⸗ 
ſchrieben hat. Denn der Geiz iſt der Teufel.“ 
Und ſie wiederholte ſich's, und grüßte mit ihrer 
Hand zu der Mondesſcheibe hinauf. 

Dann aber wandte ſie ſich wieder und ging 
auf das Thor und die Vorſtadt zu. 

Draußen angekommen, ſetzte ſie ſich zu den 
Gäſten, und ſprach mit ihnen und bat um etwas 
Milch. Als ihr dieſe gebracht worden, verab— 


Grete Minde. 151 


ſchiedete fie ſich raſch und ſtieg in die Boden— 
kammer hinauf, darin ihr die Wirthin ein Bett 
und eine Wiege geſtellt hatte. Und todtmüde von 
den Anſtrengungen des Tags warf ſie ſich nieder 
und ſchlief ein. Bis um Mitternacht, wo das 
Kind unruhig zu werden anfing. Sie hörte ſein 
Wimmern und nahm es auf, und als ſie's geſtillt 
und wieder eingewiegt, öffnete ſie das Fenſter, 
das den Blick auf die Vorſtadts⸗Gärten und da⸗ 
hinter auf weite, weite Stoppelfelder hatte. Der 
Mond war unter, aber die Sterne glitzerten in 
beinah' winterlicher Pracht, und ſie ſah hinauf 
in den goldenen Reigen und ſtreckte beide Hände 
danach aus. „Gott erbarme Dich mein!“ Und 
ſie kniete nieder und küßte das Kind. Und ihren 
Kopf auf dem Kiſſen und ihre rechte Hand über 
die Wiege gelegt, ſo fand ſie die Wirthin, als 
ſie bei Tagesanbruch eintrat, um ſie zu wecken. 

Der Schlaf hatte ſie geſtärkt, und noch 
einmal fiel es wie Licht und Hoffnung in ihr 
umdunkeltes Gemüth, ja, ein friſcher Muth kam 
ihr, an den ſie ſelber nicht mehr geglaubt hatte. 
Jeder im Rathe kannte ſie ja, und der alte Peter 
Guntz war ihres Vaters Freund geweſen. Und 
Gerdt? der hatte keinen Anhang und keine Liebe. 
Das wußte ſie von alten und neuen Zeiten her. 


152 Grete Minde. 


Und ſie nahm einen Imbiß und ſpielte mit dem 
Kind und plauderte mit der Wirthin, und auf 
Augenblicke war es, als vergäße ſie, was ſie her— 
geführt. 

Aber nun ſchlug es elf von Sanct Stephan. 
Das war die Stunde, wo die Rathmannen zu— 
ſammen traten, und ſie brach auf und ſchritt raſch 
auf das Thor zu, und wie geſtern die Lange 
Straße hinauf. 

Um das Rathhaus her war ein Gedränge. 
Marktfrauen boten feil, und ſie ſah dem Treiben 
zu. Ach, wie lange war es, daß ſie ſolchen Anblick 
nicht gehabt und ſich ſeiner gefreut hatte! Und 
ſie ging von Stand zu Stand und von Kram zu 
Kram, um das halbe Rathhaus herum, bis ſie 
zuletzt an die Rückwand kam, wo nur noch ein 
paar einzelne Scharren ſtanden. In Höhe dieſer 
war eine Steintafel in die Wand eingelaſſen, die 
ſie früher an dieſer Stelle nie bemerkt hatte. 
Und doch mußte ſie ſchon alt ſein, das ließ ſich 
an dem graugrünen Moos und den altmodiſchen 
Buchſtaben erkennen. Aber ſie waren noch deut— 
lich zu leſen. Und ſie las: 

Haſtu Gewalt, ſo richte recht, 
Gott iſt Dein Herr und Du ſein Knecht; 


Verlaß Dich nicht auf Dein Gewalt, 
Dein Leben iſt hier bald gezahlt, 


Grete Minde. 153 


Wie Du zuvor haſt richtet mich, 
Alſo wird Gott auch richten Dich; 
Hier haſtu gerichtet nur kleine Zeit, 
Dort wirſtu gerichtet in Ewigkeit. 

„Wie ſchön!“ Und ſie las es immer wieder, 
bis ſie jedes Wort auswendig wußte. Dann aber 
ging fie raſch um die zweite Hälfte des Rath⸗ 
hauſes herum, und ſtieg die Freitreppe hinauf, 
die, mit einer kleinen Biegung nach links, un- 
mittelbar in den Sitzungsſaal führte. 

Es war derſelbe Saal, in dem, zu Beginn 
unſerer Erzählung, die Puppenſpieler geſpielt und 
das verhängnißvolle Feuerwerk abgebrannt hatten. 
Aber ſtatt der vielen Bänke ſtand jetzt nur ein 
einziger langer Tiſch inmitten deſſelben, und um 
den Tiſch her, über den eine herunterhängende 
grüne Decke gebreitet war, ſaßen Burgemeiſter 
und Rath. Zuoberſt Peter Guntz, und zu beiden 
Seiten neben ihm: Caspar Helmreich, Joachim 
Lemm, Chriſtoph Thone, Jürgen Lindſtedt, und 
drei, vier andere noch. Nur Rathsherr Zernitz 
hatte ſich mit Krankheit entſchuldigen laſſen. An 
der andern Schmalſeite des Tiſches aber wiegte 
ſich Gerdt auf feinem Stuhl, daſſelbe Aeten— 
bündel in Händen, in dem er geſtern geleſen hatte. 

Er verfärbte ſich jetzt und ſenkte den Blick, 
als er ſeine Schweſter eintreten ſah, und aus 


154 Grete Minde. 


allem war erſichtlich, daß er eine Begegnung an 
dieſer Stelle nicht erwartet hatte. Grete ſah es 
und trat an den Tiſch und ſagte: „Grüß Euch 
Gott, Peter Guntz. Ihr kennt mich nicht mehr; 
aber ich kenn' Euch. Ich bin Grete Minde, Jacob 
Minde's einzige Tochter.“ 

Alle ſahen betroffen auf, erſt auf Grete, 
dann auf Gerdt, und nur der alte Peter Guntz 
ſelbſt, der ſo viel geſehen und erlebt hatte, daß 
ihn nichts mehr verwunderſam bedünkte, zeigte 
keine Betroffenheit und ſagte freundlich: „Ich 
kenn' Dich wohl. Armes Kind. Was bringſt Du, 
Grete? Was führt Dich her?“ 

„Ich komm', um zu klagen wider meinen 
Bruder Gerdt, der mir mein Erbe weigert. Und 
deſſen, denk ich, hat er kein Recht. Ich kam in 
dieſe Stadt, um wieder gut zu machen, was ich 
gefehlt, und wollte dienen und arbeiten, und 
bitten und beten. Und das alles um dieſes 
meines Kindes willen. Aber Gerdt Minde hat 
mich von ſeiner Schwelle gewieſen; er mißtraut 
mir; und vielleicht, daß er's darf. Denn ich 
weiß es wohl, was ich war und was ich bin. 
Aber wenn ich kein Recht hab' an ſein brüderlich 
Herz, jo hab' ich doch ein Recht an mein väter- 
lich Gut. Und dazu, Peter Guntz, und ihr 


Grete Minde. | 155 


andern Herren vom Rath, ſollt ihr mir willfährig 
und behülflich ſein.“ 

Peter Guntz als Grete geendet, wandte ſich 
an Gerdt und ſagte: „Ihr habt die Klage gehört, 
Rathsherr Minde. Iſt es, wie ſie ſagt? Oder 
was habt Ihr dagegen vorzubringen.“ | 

Es iſt nicht, wie fie ſagt,“ erhob ſich Gerdt 
von ſeinem Stuhl. „Ihre Mutter war einer 
armen Frauen Kind, Ihr wiſſet all' wes Landes 
und Glaubens, und kam ohne Mitgift in unſer 
Haus.“ e 

„Ich weiß.“ 

„Ihr wißt es. Und doch ſoll ich ſprechen, 
wo mir zu ſchweigen ziemlicher wär'. Aber Euer 
Anſinnen läſſet mir keine Wahl. Und ſo höret 
denn. Jacob Minde, mein Vater, ſo klug er 
war, ſo wenig umſichtig war er. Und ſo zeigte 
ſich's von Jugend auf. Er hatte keine glückliche 
Hand in Geſchäften und ging doch gern in's 
Große, wie die Lübiſchen thun und die Flan⸗ 
driſchen. Aber das trug unſer Haus nicht. Und 
als ihm zwei Schiffe ſcheiterten, da war er ſelbſt 
am Scheitern. Und um dieſe Zeit war es, daß 
er meine Mutter heimführte, von Stendal her, 
Baldewin Rickhart's einzige Tochter. Und mit 
ihr kam ein Vermögen in unſer Haus. ..“ 


156 Grete Minde. 


„Mit dem Euer Vater wirthſchaftete.“ 

„Aber nicht zu Segen und Vortheil. Und 
ich habe mich mühen müſſen und muß es noch, 
um alte Mißwirthſchaft in neue Gutewirthſchaft 
zu verkehren, und alles was ich mein nenne, bis 
dieſe Stunde, reicht nicht heran an das Einge— 
brachte von den Stendal'ſchen Rickhart's her.“ 

„Und dies ſagt Ihr an Eides ſtatt, Raths— 
herr Minde!“ 

„Ja, Peter Guntz.“ 

„Dann, ſo ſich nicht Widerſpruch . 
weiſ' ich Dich ab mit Deiner Klage. Das iſt 
Tangermündiſch Recht. Aber eh' ich Dich, Grete 
Minde, die Du zu Spruch und Beiſtand uns 
angerufen haft, aus dieſem unſerem Gericht ent— 
laſſe, frag' ich Dich, Gerdt Minde, ob Du Dein 
Recht brauchen und behaupten, oder nicht aus 
chriſtlicher Barmherzigkeit von ihm ablaſſen willſt. 
Denn ſie, die hier vor Dir ſteht iſt Deines 
Vaters Kind und Deine Schweſter.“ 

„Meines Vaters Kind, Peter Guntz, aber 
nicht meine Schweſter. Damit iſt es nun vor⸗ 
bei. Sie fuhr hoch, als ſie noch mit uns war; 
nun fährt ſie niedrig, und ſteht vor Euch und 
mir, und birgt ihr Kind unterm Mantel. Fragt 
ſie, wo ſie's her hat? Am Wege hat ſie's ge— 


Grete Minde. 157 


boren. Und ich habe nichts gemein mit Weibern, 
die zwiſchen Hed’ und Graben ihr Feuer zünden 
und ihre Lagerſtatt beziehn. Unglück? Wer's 
glaubt. Sie hat's gewollt. Kein falſch Er⸗ 
barmen, liebe Herren. Wie wir uns betten, ſo 
liegen wir.“ 

Grete, während ihr Bruder ſprach, hatte 
das Kind aus ihrem Mantel genommen und es 
feſt an ſich gepreßt. Jetzt hob ſie's in die 
Höh', wie zum Zeichen, daß ſie's nicht verheim— 
lichen wolle. Und nun erſt ſchritt fie dem Aus⸗ 
gange zu. Hier wandte ſie ſich noch einmal 
und ſagte ruhig und mit tonloſer Stimme: 

„Verlaß Dich nicht auf Dein Gewalt, 

Dein Leben iſt hier bald gezahlt, 

Wie Du zuvor haft richtet mich, 

Alſo wird Gott auch richten Dich —“ 
und verneigte ſich und ging. 

Die Rathsherren, deren anfängliche Neugier 
und Theilnahme raſch hingeſchwunden war, ſahen 
ihr nach, einige hart und ſpöttiſch, andere gleich— 
gültig. 

Nur Peter Guntz war in Sorg' und Unruh' 
über das Urtel, das er hatte ſprechen müſſen. 
„Ein unbillig Recht, ein todtes Recht.“ Und er 
hob die Sitzung auf und ging ohne Gruß und 
Verneigung an Gerdt Minde vorüber. 


* 


158 Grete Minde. 


20. 


Hier haſtu gerichtet nur kleine Zeit, 
Dort wirſtu gerichtet in Ewigkeit. 


Grete war die Treppe langſam hinabge— 
ſtiegen. Das Markttreiben unten dauerte noch 
fort, aber ſie ſah es nicht mehr; als ſie den 
Platz hinter ſich hatte, richtete ſie ſich auf, wie 
von einem wirr⸗phantaſtiſchen Hoheitsgefühl er⸗ 
griffen. Sie war keine Bettlerin mehr, auch 
keine Bittende; nein; ihr gehörte dieſe Stadt, 
ihr. Und ſo ſchritt ſie die Straße hinunter auf 
das Thor zu. 

Aber angeſichts des Thores bog ſie nach 
links hin in eine Scheunengaſſe und gleich da— 
hinter in einen ſchmalen, grasüberwachſenen Weg 
ein, der, zwiſchen der Mauer und den Gärten 
hin, im Zirkel um die Stadt lief. Hier durfte 
ſie ſicher ſein, Niemandem zu begegnen, und als 
ſie bei der Minde'ſchen Gartenpforte war, blieb 
ſie ſtehen. Erinnerungen kamen ihr, Erinnerun— 
gen an ihn, der jetzt auf dem Kloſterkirchhof 
ſchlief, und ihr ſchönes Menſchenantlitz verklärte 
ſich noch einmal unter flüchtiger Einkehr in alte 
Zeit und altes Glück. Aber dann ſchwand es 
wieder, und jener ſtarr- unheimliche Zug war 


Grete Minde. 159 


wieder da, der über die Trübungen ihrer Seele 
keinen Zweifel ließ. Es war ihr mehr auferlegt 
worden, als ſie tragen konnte, und das Zeichen, 
von dem Domina geſprochen, heut hätt es jeder 
geſehen. Und nun legte ſie die Hand auf die 
roſtige Klinke, drückte die Thür auf und zu, und 
ſah, ihren Vorſtellungen nachhhängend, auf die 
hohen Dächer und Giebel, die von drei Seiten 
her das geſammte Hof- und Gartenviereck dieſes 
Stadttheils umſtanden. Einer dieſer Giebel war 
der Rathhausgiebel, jetzt ſchwarz und glaſig, und 
hinter dem Giebel ſtand ein dickes Gewölk. Zu⸗ 
gleich fühlte ſie, daß eine ſchwere, feuchte Luft 
zog; Windſtöße fuhren dazwiſchen, und ſie hörte 
wie das Obſt von den Bäumen fiel. Ueber die 
Stadt hin aber, von Sanct Stephan her, flogen 
die Dohlen, unruhig als ob ſie nach einem andren 
Platze ſuchten und ihn nicht finden könnten. Grete 
ſah es alles. Und ſie ſog die feuchte Luft ein 
und ging weiter. Ihr war ſo frei. 

Als ſie das zweite Mal ihren Zirkelgang 
gemacht und wieder das Thor und ſeinen inneren 
Vorplatz erreicht hatte, verlangte ſie's nach einer 
kurzen Raſt. Eine von den Scheunen, die mit 
dem Vorplatz grenzte, dünkte ihr am bequemſten 
dazu. Das Dach war ſchadhaft und die Lehm— 


160 Grete Minde. 


füllung an vielen Stellen aus dem Fachwerk 
herausgeſchlagen. Und ſie bückte ſich und ſchlüpfte 
durch eines dieſer Löcher in die Scheune hinein. 
Dieſe war nur halb angefüllt, zumeiſt mit Stroh 
und Werg, und wo der Firſt eingedrückt war, 
hing die Dachung in langen Wiepen herunter. 
Sie ſetzte ſich in den Werg, als wolle ſie ſchlafen. 
Aber ſie ſchlief nicht, von Zeit zu Zeit vielmehr 
erhob ſie ſich, um unter das offene Dach zu 
treten, wo der Himmel finſter-wolkig und dann 
wieder in heller Tagesbläue hereinſah. Endlich 
aber blieb die Helle fort, und ſie wußte nun, 
daß es wirklich Abend geworden. Und darauf 
hatte ſie gewartet. Sie bückte ſich und tappte 
nach ihrem Bündel, das ſie bei Seite gelegt, und 
als ſie's gefunden und ſich wieder aufgerichtet 
hatte, gab es in dem Dunkel einen blaſſen, bläu- 
lichen Schein, wie wenn ſie einen langen Feuer- 
faden in ihrer Hand halte. Und nun ließ ſie 
den Faden fallen, und kroch, ohne ſich umzuſehen, 
aus der Fachwerk-Oeffnung wieder in's Freie 
hinaus. 

Wohin? In die Stadt? Dazu war es 
noch zu früh, und ſo ſuchte ſie nach einem ſchon 
vorher von ihr bemerkten, aus Ziegel und Feld— 
ſtein aufgemauerten Treppenſtück, das von der 


Grete Minde. 161 


Innenſeite der Stadtmauer her, in einen alten, 
längſt abgetragenen Feſtungsthurm hinaufführte. 
Und jetzt hatte ſie das Treppenſtück gefunden. 
Es war ſchmal und bröcklich, und einige Stufen 
fehlten ganz; aber Grete, wie nachtwandelnd, 


ſtieg die ſonderbare Leiter mit Leichtigkeit hinauf, 


ſetzte ſich auf die loſen Steine und lehnte ſich an 
einen Berberitzenſtrauch, der hier oben auf der 
Mauer aufgewachſen war. So ſaß fie und war- 
tete; lange; aber es kam keine Ungeduld über ſie. 
Endlich drängte ſich ein ſchwarzer Qualm aus 
der Dachöffnung und im nächſten Augenblick lief 
es in rothen Funken über den Firſt hin und 


alles Holz- und Sparrenwerk kniſterte auf, als 


ob Reiſig von den Flammen gefaßt worden wäre. 
Dazu wuchs der Wind, und wie aus einem zu— 
gigen Schlot heraus, fuhren jetzt die brennenden 
Wergflocken in die Luft. Einige fielen ſeitwärts 
auf die Nachbarſcheunen nieder, andre aber trieb 
der Nordweſter vorwärts auf die Stadt und eh 
eine Viertelſtunde um war, ſchlug an zwanzig 
Stellen das Feuer auf und von allen Kirchen 
her begann das Stürmen der Glocken. „Das 
it Sanct Stephan,“ jubelte Grete, und dazwiſchen, 
in wirrem Wechſel, ſummte ſie Kinderlieder vor 
ſich hin und rief in ſchrillem Ton und mit er- 
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 113 


162 Grete Minde. 


hobener Hand in die Stadt hinein; „Verlaß 
Dich nicht auf Dein' Gewalt.“ Und dann folgte 
ſie wieder den Glocken, nah und fern, und mühte 
ſich den Ton jeder einzelnen herauszuhören. Und 
wenn ihr Zweifel kamen, ſo ſtritt ſie mit ſich 
ſelbſt und ſprach zu Gunſten dieſer und jener, 
und wurde wie heftig in ihrem Streit. Endlich 
aber ſchwiegen alle, auch Sanct Stephan ſchwieg, 
und Grete, das Kind aufnehmend, das ſie neben 
ſich in das Mauergras gelegt hatte, ſagte: „Nun 
iſt es Zeit.“ Und ſicher, wie ſie die Treppe 
hinaufgeſtiegen, ſtieg ſie dieſelbe wieder hinab, 
und nahm ihren Weg, an den brennenden Scheu— 
nen entlang, auf die Hauptſtraße zu. 

Hunderte, von Furcht um Gut und Leben 
gequält, rannten an ihr vorüber, aber niemand 
achtete der Frau, und ſo kam ſie bis an das 
Minde'ſche Haus und ſtellte ſich demſelben gegen- 
über, an eben die Stelle, wo ſie geſtern geſtanden 
hatte. 

Gerdt konnte nicht zu Hauſe ſein, alles war 
dunkel; aber an einem der Fenſter erkannte ſie Trud 
und neben ihr den Knaben, der, auf einen Stuhl 
geſtiegen, in gleicher Höhe mit ſeiner Mutter 
ſtand. Beide wie Schattenbilder und allein. 
Das war es, was ſie wollte. Sie paſſirte ruhig 


Grete Minde. 163 


den Damm, danach die Thür und den langen 
Flur, und trat zuletzt in die Küche, darin ſie 
jedes Winkelchen kannte. Hier nahm ſie von 
dem Brett, auf dem wie früher die Zinn⸗ und 
Meſſingleuchter ſtanden, einen Blaker und fuhr 
damit in der Gluth-Aſche des Herdes umher. 
Und nun tropfte das Licht und brannte hell und 
groß, viel zu groß, als daß der Zugwind es 
wieder hätte löſchen können. Und ſo ging ſie 
den Flur zurück, bis vorn an die Thür und 
öffnete raſch und wandte ſich auf das Fenſter zu, 
von dem aus Trud und ihr Kind nach wie vor 
auf die Straße hinaus ſtarrten. Und jetzt ſtand 
ſie zwiſchen Beiden. „Um Gottes Barmherzigkeit 
willen,“ ſchrie Trud, und ſank bei dem Anblick 
der in vollem Irrſinn vor ihr Stehenden ohn— 
mächtig in den Stuhl. Und dabei ließ ſie den 
Knaben los, den fie bis dahin angſt- und ahnungs— 
voll an ihrer Hand gehalten hatte. „Komm,“ 
ſagte Grete, während ſie das Licht auf die Fenſter⸗ 
brüſtung ſtellte. Und ſie riß den Knaben mit 
ſich fort, über Flur und Hof hin, und bis in den 
Garten hinein. Er ſchrie nicht mehr, er zitterte 
nur noch. Und nun warf ſie die Gartenthür 
wieder in's Schloß und eilte, den Knaben an 


ihrer Hand, ihr eigenes Kind unterm Mantel, 
113 * 


164 Grete Minde. 


an der Stadtmauer entlang auf Sanct Stephan 
zu. Hier, wie ſie's erwartet, hatte das Stürmen 
längſt aufgehört, Glöckner und Meßner waren 
fort, und unbehelligt und unaufgehalten ſtieg ſie 
vom Unterbau des Thurmes her in den Thurm 
ſelbſt hinauf; erſt eine Wendeltreppe, danach ein 
Geflecht von Leitern, das hoch oben in den 
Glockenſtuhl einmündete. Als die vorderſten 
Sproſſen kamen, wollte das Kind nicht weiter, 
aber ſie zwang es und ſchob es vor ſich her. 
Und nun war ſie ſelber oben und zog die letzte 
Leiter nach. Um ſie her hingen die großen 
Glocken, und ſummten leiſe, wenn ſie den Rand 
derſelben berührte. Und nun trat ſie raſch an 
die Schalllöcher, die nach der Stadtſeite hin 
lagen und ſtieß die hölzernen Läden auf, die ſo— 
fort vom Winde gefaßt und an die Wand ge— 
preßt wurden. Ein Feuermeer unten die ganze 
Stadt; Vernichtung an allen Ecken und Enden, 
und dazwiſchen ein Rennen und Schreien, und 
dann wieder die Stille des Todes. Und jetzt 
fielen einige der vom Winde heraufgewirbelten 
Feuerflocken auf das Schindeldach ihr zu Häupten 
nieder, und ſie ſah wie ſich vom Platz aus Aller 
Blicke nach der Höhe des Thurmes und nach ihr 
ſelber richteten. Unter denen aber, die hinauf— 


n nnen 


Grete Minde. 165 


wieſen, war auch Gerdt. Den hatte ſie mit ihrer 
ganzen Seele geſucht, und jetzt packte ſie ſeinen 
Knaben und hob ihn auf das Lukengebälk, daß 
er frei daſtand und im Wiederſcheine des Feuers 
von unten her in aller Deutlichkeit geſehen werden 
konnte. Und Gerdt ſah ihn wirklich und brach 
in die Knie und ſchrie um Hülfe, und Alles um 
ihn her vergaß der eigenen Noth und drängte 
dem Portal der Kirche zu. Aber ehe noch die 
Vorderſten es erreichen oder gar die Stufen der 
Wendeltreppe gewinnen konnten, ſtürzte die 
Schindeldecke praſſelnd zuſammen, und das Ge— 
bälk zerbrach, an dem die Glocken hingen, und 


Alles ging niederwärts in die Tiefe. 


15 x 


* 

Den Tag danach ſaßen Ilſe Schulenburg 
und die Domina wieder an der Epheuwand ihres 
Hauſes, und alles war wie ſonſt. Die Fenſter 
ſtanden auf, und das Feuer brannte drinnen im 
Kamin, und der Spitzkopf des großen Wolfs— 
hundes ſah wieder wartend zu ſeiner Herrin auf. 
Von jenſeit des Sees aber klang die Glocke, die 
zu Mittag läutete. 

Um dieſe Stunde war es, daß ein Bote vom 
altmärkiſchen Landeshauptmann, Achaz von der 
Schulenburg, gemeldet wurde, der, ein Groß— 


3066 -: . Grete Minde. 


oheim Ilſens, das Kloſter zu ſchneller Hülfe— 
leiſtung und zu Bethätigung ſeiner frommen und 
freundnachbarlichen Geſinnungen auffordern ließ. 
Ilſe ging dem Boten entgegen und gab ihm 
Antwort und Zuſage. Dann kehrte ſie zu der 
Domina zurück. 

„Was war es!“ fragte dieſe. 

„Ein Bote vom Landeshauptmann.“ 

„Gute Nachricht?“ 

„Nein, böſe. Tangermünde liegt in Aſche.“ 

„Und Grete?“ | 

„Mit unter den Trümmern.“ 

„Armes Kind . . .. St heute der dritte 
Tag . . .. Ich wußt' es..“ 

So ging ihr Geſpräch. 

* 
* 

Am Abend aber gaben die Puppenſpieler 
den „Sündenfall.“ Der Saal war gefüllt und 
der Beifall groß. Niemand achtete des Wechſels, 
der in Beſetzung der Rollen ſtattgefunden hatte. 

Zenobia ſpielte den Engel. 


* 


1: 
Heiligabend, 


We war Weihnachten 1812, heiliger Abend. 
Einzelne Schneeflocken fielen und legten ſich auf 
die weiße Decke, die ſchon ſeit Tagen in den 
Straßen der Hauptſtadt lag. Die Laternen, die 
an lang ausgeſpannten Ketten hingen, gaben nur 
ſpärliches Licht; in den Häuſern aber wurde es 
von Minute zu Minute heller und der „heilige 
Chriſt,“ der hier und dort ſchon einzuziehen be— 
gann, warf ſeinen Glanz auch in das draußen 
liegende Dunkel. 

So war es auch in der Kloſterſtraße. Die 
„Singuhr“ der Parochialkirche ſetzte eben ein, 
um die erſten Takte i es Liedes zu ſpielen, als 
ein Schlitten aus dem Gaſthof zum grünen Baum 
herausfuhr und gleich darauf ſchräg gegen— 
über vor einem zweiſtöckigen Hauſe hielt, deſſen 


170 Bor dem Sturm. 


hohes Dach noch eine Manſardenwohnung trug. 
Der Kutſcher des Schlittens, in einem abge— 
tragenen, aber mit drei Kragen ausſtaffirten 
Mantel, beugte ſich vor und ſah nach den oberſten 
Fenſtern hinauf; als er jedoch wahrnahm, daß 
alles ruhig blieb, ſtieg er von ſeinem Sitz, 
ſträngte die Pferde ab und ſchritt auf das Haus 
zu, um durch die halb offen ſtehende Thür in 
dem dunklen Flur deſſelben zu verſchwinden. Wer 
ihm dahin gefolgt wäre, hätte nothwendig das 
ſtufenweiſe Stapfen und Stoßen hören müſſen, 
mit dem er ſich, vorſichtig und ungeſchickt, die 
drei Treppen hinauffühlte. 

Der Schlitten, eine einfache Schleife, auf 
der ein mit einem ſogenannten „Plan“ über— 
ſpannter Korbwagen befeſtigt war, ſtand all die 
Zeit über ruhig auf dem Fahrdamm, hart an 
der Oeffnung einer hier aufgeſchütteten Schnee— 
mauer. Der Korbwagen ſelbſt, muthmaßlich um 
mehr Wärme und Bequemlichkeit zu geben, war 
nach hinten zu, bis an die Plandecke hinauf, mit 
Stroh gefüllt; vorn lag ein Häckſelſack, gerade 
breit genug, um zwei Perſonen Platz zu gönnen. 
Alles ſo primitiv wie möglich. Auch die Pferde 
waren unſcheinbar genug, kleine Ponies, die 
gerade jetzt in ihrem winterlich rauhen Haar un— 


Hor dem Sturm. 171 


geputzt und dadurch ziemlich vernachläſſigt aus— 
ſahen. Aber wie immer auch, die ruſſiſchen 
Sielen, dazu das Schellengeläut, das auf roth 
eingefaßten breiten Ledergurten über den Rücken 
der Pferde hing, ließen keinen Zweifel darüber, 
daß das Fuhrwerk aus einem guten Hauſe ſei. 

So, waren fünf Minuten vergangen oder 
mehr, als es auf dem Flur hell wurde. Eine 
Alte in einer weißen Nachthaube, das Licht mit 
der Hand ſchützend, ſtreckte den Kopf neugierig 
in die Straße hinaus; dann kam der Kutſcher 
mit Mantelſack und Pappkarton; hinter dieſem, 
den Schluß bildend, ein hochaufgeſchoſſener junger 
Mann von leichter vornehmer Haltung. Er trug 
eine Jagdmütze, kurzen Rock und war in ſeiner 
ganzen Oberhälfte unwinterlich gekleidet. Nur 
ſeine Füße ſteckten in hohen Filzſtiefeln. „Frohe 
Feiertage, Frau Hulen,“ damit reichte er der 
Alten die Hand, ſtieg auf die Deichſel und nahm 
Platz neben dem Kutſcher. „Nun vorwärts, 
Kriſt; Mitternacht find wir in Hohen-Vietz. 
Das iſt recht, daß Papa die Ponies geſchickt hat.“ 

Die Pferde zogen an und verſuchten es, 
ihrer Natur nach, in einen leichten Trab zu 
fallen; aber erſt als ſie die Königsſtraße mit 
ihrem Weihnachtsgedränge und Waldteufelgebrumm 


172 Hor dem Sturm. 


im Rücken hatten, ging es in immer raſcherem 
Tempo die Landsberger Straße entlang und 
endlich unter immer munterer werdendem Schellen— 
geläut zum Frankfurter Thore hinaus. 
Draußen umfing ſie Nacht und Stille; der 
Himmel klärte ſich und die erſten Sterne traten 
hervor. Ein leiſer aber ſcharfer Oſtwind fuhr 
über das Schneefeld und der Held unſerer Ge⸗ 
ſchichte, Lewin von Vitzewitz, der ſeinem väter- 
lichen Gute Hohen-Vietz zufuhr, um die Weih— 
nachtsfeiertage daſelbſt zu verbringen, wandte ſich 
jetzt, mit einem Anflug von märkiſchem Dialekt, 
an den neben ihm ſitzenden Gefährten. „Nun, 
Kriſt, wie wär' es? Wir müſſen wohl einheizen.“ 
Dabei legte er Daumen und Zeigefinger ans 
Kinn und paffte mit den Lippen. Dies „wir“ 
war nur eine Vertraulichkeitswendung; Lewin 
ſelbſt rauchte nicht. Kriſt aber, der von dem 
Augenblick an, wo ſie die Stadt im Rücken 
hatten, dieſe Aufforderung erwartet haben mochte, 
legte ohne Weiteres die Leinen in die Hand ſeines 
jungen Herrn und fuhr in die Manteltaſche, erſt 
um eine kurze Pfeife mit bleiernem Abguß, dann 
um ein neues Paket Tabak daraus hervor— 
zuholen. Er nahm beides zwiſchen die Kniee, 
öffnete das mit braunem Lack geſiegelte Paket, 


Hor dem Sturm. 173 


ſtopfte und begann dann mit derſelben langſamen 
Sorglichkeit nach Stahl und Schwamm zu ſuchen. 
Endlich brannte es; er that, indem er wieder die 
Leine nahm, die erſten Züge und während jetzt 
kleine Funken aus dem Drahtdeckel hervor— 
ſprühten, ging es auf Friedrichsfelde zu, deſſen 

Lichter ihnen über das weiße Feld her entgegen 
ſchienen. 

Das Dorf lag bald hinter ihnen. Lewin, 
der ſich's inzwiſchen bequem gemacht und durch 

feſteren Aufbau einiger Strohbündel eine Rücken- 
lehne hergerichtet hatte, ſchien jetzt in der Stim— 
mung, eine Unterhaltung aufzunehmen. Ehe des 

Kutſchers Pfeife brannte, wär' es ohnehin nicht 
räthlich geweſen. 

„Nichts neues, Kriſt?“ begann Lewin, indem 
er ſich feſter in die Strohpolſter drückte. „Was 
macht Willem, mein Päth?“ 

„Dank ſchön, junger Herr, he is ja nu wedder 
bi Weg.“ 

„Was war ihm denn?“ 

„He hett' ſich verfiert. Un noch dato an 
ſinen Gebortsdag. Et is nu en Wochner drei; 
ja, up'n Dag hüt, drei Wochen. DM Doktor 
Leiſt von Lebus hett'em aber wedder to recht 
bracht.“ 


174 Vor dem Sturm. 


„Er hat ſich verfiert?“ 

„Ja, junger Herr, ſo glöwen wi all'. Et 
wihr wol ſo um de fiefte Stunn' as mine Fru 
ſeggen däd: Willem geih, un hol uns en paar 
Aeppels, awers von de Renetten up'n Stroh, 
dicht bi de Bohnenſtakens. Un unſ' Lütt-Willen: 
ging boch, un ick hürt'em noch flüten un fingen 
un dat Klapſen von ſine Pantinen ümmer den 
Floor lang. Awer dunn hürt ick nix mihr, un 
as he nu an de olle wackel'ſche Döör käm un in 
den groten Saal rinnwull, wo unſ' Aeppels 
liggen un wo de Lüt' ſeggen, dat de oll' Matthias 
ſpöken deiht, da möt' em wat paſſirt ſinn. He 
käm nich un käm nich; un as ick nu nahjung un 
ſehn wull, wo he bliwen däd, da läg he, glieks 
achter de Schwell, as dod up de Flieſen.“ 

„Das arme Kind! Und Eure Frau. . ..“ 

„De käm boch, un wi drögen em nu torügg 
in unſe Stuv' un rewen em in. Mine Fru hätt 
ümmer en beten Miren-Spiritus to Huus. As 
he nu wedder to ſich käm, biwwerte em de janze lütte 
Liew un he ſeggte man ümmer: „Ick hebb' em ſehn.“ 

Lewin hatte ſich zurecht gerückt. „Es geht 
alſo wieder beſſer,“ warf er hin, und wie um 
los zu kommen von allerhand Bildern und Ge— 
danken, die des Kutſchers Erzählung in ihm an— 


r 
Sad 4 


Bor dem Sturm. 175 


geregt hatte, fuhr er hin und her in Erkundigungen, 
worauf Kriſt mit ſo viel Ausführlichkeit ant⸗ 
wortete, wie ihm die Raſchheit der Fragen ge— 
ſtattete. Dem Schulzen Kniehaſe war einer von 
ſeinen Braunen gefallen; bei Hoppen-Marieken 
hatte der Schornſtein gebrannt; bei Wittwe 
Gräbſchen hatte Nachtwächter Pachaly einen mittel 
großen Sarg, mit einem Myrthenkranz darauf, 
vor der Hausthür ſtehn ſehn „un wihl et man 
en mittelſcher Sarg weſt wihr, ſo hedden ſe 
all' an de Jüngſcht', an Hanne Gräbſchen dacht. 
De is man kleen, und piept all lang.“ 

Die Sterne traten immer zahlreicher hervor. 


Lewin lupfte die Kappe, um ſich die Stirn von 


der friſchen Winterluft anwehen zu laſſen und 
ſah ſtaunend und andächtig in den funkelnden 
Himmel hinauf. Es war ihm, als fielen alle 
dunklen Geſchicke, das Erbtheil ſeines Hauſes, 
von ihm ab, und als zöge es lichter und heller 
von oben her in ſeine Seele. Er athmete auf. 
Zwei, drei Schlitten flogen vorüber, grüßten und 
ſangen, ſichtlich Gäſte, die im Nebendorf die Be— 
ſcheerung nicht verſäumen wollten; dann, ehe fünf 
Minuten um waren, glitt das Gefährt unſerer 
zwei Freunde unter den Giebelvorbau des Bohls— 
dorfer Kruges. 


176 Vor dem Sturm. 


Bohlsdorf war drittel Weg. Niemand kam. 
An den Fenſtern zeigte ſich kein Licht; die Krügers⸗ 
leute mußten in den Hinterſtuben ſein und das 
Vorfahren des Schlittens, trotz ſeines Schellen— 
geläutes, überhört haben. Kriſt nahm wenig Notiz 
davon. Er ſtieg ab, holte eine der Stehkrippen 
heran, die beſchneit an dem Hofzaun entlang 
ſtanden und ſchüttete den Pferden ihren Hafer ein. 

Auch Lewin war abgeſtiegen. Er ſtampfte 
ein paarmal in den Schnee, wie um das Blut 
wieder in Umlauf zu bringen und trat dann in 
die Gaſtſtube, um ſich zu wärmen und einen 
Imbiß zu nehmen. Drinnen war alles leer und 
dunkel; hinter dem Schenktiſch aber, wo drei 
Stufen zu einem höher gelegenen Alkoven führten, 
blitzte der Chriſtbaum von Lichtern und goldenen 
Ketten. In dieſem Weihnachtsbilde, das der enge 
Thürrahmen einfaßte, ſtand die Krügersfrau in 
Mieder und rothem Friesrock und hatte einen 
Blondkopf auf dem Arm, der nach den Lichtern 
des Baumes langte. Der Krüger ſelbſt ſtand 
neben ihr und ſah auf das Glück, das ihm das 
Leben und dieſer Tag beſcheert hatten. 

Lewin war ergriffen von dem Bilde, das 
faſt wie eine Erſcheinung auf ihn wirkte. Leiſer 
als er eingetreten war, zog er ſich wieder zurück 


Bor dem Sturm. 177 


und trat auf die Dorfſtraße. Gegenüber dem 
Kruge, von einer Feldſteinmauer eingefaßt, lag 
die Bohlsdorfer Kirche, ein alter Ciſtercienſer 
Bau aus den Tagen der erſten Koloniſation. Es 
klang deutlich von drüben her, als würde die 
Orgel geſpielt, und Lewin, während er noch auf— 
horchte, bemerkte zugleich, daß eines der kleinen, 
in halber Wandhöhe hinlaufenden Rundbogenfenſter 
matt erleuchtet war. Neugierig, ob er ſich täuſchte 
oder nicht, ſtieg er über die niedrige Steinmauer 
fort und ſchritt, zwiſchen den Gräbern hin, auf 
die Längswand der Kirche zu. Ziemlich inmitten 
dieſer Wand bemerkte er eine Pforte, die nur 
eingeklinkt aber nicht geſchloſſen war. Er öffnete 
- leife und trat ein. Es war, wie er vermuthet 
hatte. Ein alter Mann, mit Sammtkäpſel und 
ſpärlichem weißen Haar, ſaß vor der Orgel, 
während ein Lichtſtümpfchen neben ihm eine 
kümmerliche Beleuchtung gab. In ſein Orgelſpiel 
vertieft, bemerkte er nicht, daß jemand eingetreten 
war und feierlichen aber gedämpften Tones 
klangen die Weihnachtsmelodieen nach wie vor 
durch die Kirche hin. 

Uebte ſich der Alte für den kommenden Tag, 
oder feierte er hier ſein Chriſtfeſt allein für ſich 
mit Pſalmen und Choral? Lewin hatte ſich die 


Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 114 


178 Bor dem Sturm. 


Frage kaum geſtellt, als er, der Orgel gegenüber, 
einen zweiten Lichtſchimmer wahrnahm; auf der 
unterſten Stufe des Altars ſtand eine kleine 
Hauslaterne. Als er näher trat, ſah er, daß 
Frauenhände hier eben noch beſchäftigt geweſen 
ſein mußten. Ein Handfeger lag da, daneben 
eine kurze Stehleiter, die beiden Seitenhölzer 
oben mit Tüchern ef Das Licht der 
Laterne fiel auf zwei Grabſteine, die vor dem 
Altar in die Flieſen eingelegt waren; der eine 
zur Linken enthielt nur Namen und Datum, der 
andere zur Rechten aber zeigte Bild und Spruch. 
Zwei Lindenbäume neigten ihre Wipfel einander 
zu, und darunter ſtanden Verſe, zehn oder zwölf 
Zeilen. Nur die Zeilen der zweiten Strophe 
waren noch deutlich erkennbar und lauteten: 

Sie ſieht nun tauſend Lichter 

Der Engel Angeſichter 

Ihr treu zu Dienſten jtehn; 

Sie ſchwingt die Siegesfahne 

Auf güldnem Himmelsplane 

Und kann auf Sternen gehn. 

Lewin las zwei- dreimal, bis er die Strophe 
auswendig wußte; die letzte Zeile namentlich hatte 
einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, von dem 
er ſich keine Rechenſchaft geben konnte.) Dann 
ſah er ſich noch einmal in der ſeltſam erleuchteten 


Bor dem Sturm. 179 


Kirche um, deren Pfeiler und Chorſtühle ihn 
ſchattenhaft umſtanden und kehrte, die Thüre leiſe 
wieder anlehnend, erſt auf den Kirchhof, dann, 
mit raſchem Sprung über die Mauer auf die 
Dorfſtraße zurück. 

Der Krug hatte indeſſen ein verändertes An- 
ſehen gewonnen. In der Gaſtſtube war Licht; 
Kriſt ſtand am Schenktiſch im eifrigen Geſpräch 
mit dem Krüger, während die Frau, aus der 
Küche kommend, ein Glas Kirſchpunſch auf den 
Tiſch ſtellte. Sie plauderten noch eine Weile 
auch über den alten Küſter drüben, der, ſeitdem 
er Wittmann geworden, ſeinen heiligen Abend 
mit Orgelſpiel zu feiern pflege; dann, unter 
Händeſchütteln und Wünſchen für ein frohes Feſt, 
wurde Abſchied genommen und an den ſtillen 
Dorfhütten vorbei ging es weiter in die Nacht 
hinein. 5 

Lewin ſprach von den Krügersleuten, Kriſt 
war ihres Lobes voll. Weniger wollt' er vom 
Bohlsdorfer Amtmann wiſſen, am wenigſten vom 
Petershagener Müller, an deſſen abgebrannter 
Bockmühle ſie eben vorüberfuhren. Aus allem 
ging hervor, daß Kriſt, der allwöchentlich dieſes 
Weges kam, den Klatſch der Bierbänke zwiſchen 


Berlin und Hohen-Vietz in treuem Gedächtniß 
114* 


180 Bor dem Sturm. 


trug. Er wußte alles und ſchwieg erſt, als 
Lewin immer ſtiller zu werden begann. Nur 
kurze Anſprachen an die Ponies belebten noch den 
Weg. Die regelmäßige Wiederkehr dieſer Anrufe, 
das monotone Schellenläuten, das alsbald wie 
von weit her zu klingen ſchien, legte ſich mehr 
und mehr mit einſchläfernder Gewalt um die 
Sinne unſeres Helden. Allerhand Geſtalten zogen 
an ſeinem halbgeſchloſſenen Auge vorüber; aber 
eine dieſer Geſtalten, die glänzendſte, nahm er 
mit in ſeinen Traum. Er ſaß vor ihr auf einem 
niedrigen Tabouret; ſie lachte ihn an und ſchlug 
ihn leiſe mit dem Fächer, als er nach ihrer Hand 
haſchte, um ſie zu küſſen. Hundert Lichter, die 
ſich in ſchmalen Spiegeln ſpiegelten, brannten um 
ſie her und vor ihnen lag ein großer Teppich, 
auf dem Göttin Venus in ihrem Taubengeſpann 
durch die Lüfte zog. Dann war es plötzlich, als 
löſchten alle dieſe Lichter aus; nur zwei Stümpfchen 
brannten noch; es war wie eine ſchattendurchhuſchte 
Kirche und an der Stelle, wo der Teppich gelegen 
hatte, lag ein Grabſtein, auf dem die Worte 
ſtanden: 

Sie ſchwingt die Siegesfahne 

Auf güldnem Himmelsplane 

Und kann auf Sternen gehn. 


— 


Bor dem Sturm. 181 


Süß und ſchmerzlich, wie kurz vorher bei 
wachen Sinnen ihn dieſe Worte berührt hatten, 
berührten ſie ihn jetzt im Traum. Er wachte auf. 

„Noch eine halbe Meile, junger Herr,“ 
ſagte Kriſt. 
„Dann ſind wir in Dolgelin?“ 

„Nein, in Hohen-⸗Vietz.“ 

„Da hab' ich feſt geſchlafen.“ 

„Dritthalb Stunn'.“ 

Das erſte, was Lewin wahrnahm, war die 
Sorglichkeit, mit der ſich der alte Kutſcher 
mittlerweile um ihn bemüht hatte. Der Yutter- 
ſack war ihm unter die Füße geſchoben, die beiden 
Pferdedecken lagen ausgebreitet über ſeinen Knieen. 

Nicht lange und der Hohen-Vietzer Kirch— 
thurm wurde ſichtbar. An oberſter Stelle eines 
Höhenzuges, der nach Oſten hin die Landſchaft 
ſchloß, ſtand die graue Maſſe ſchattenhaft im 
funkelnden Nachthimmel. 

Dem Sohne des Hauſes ſchlug das Herz 
immer höher, ſo oft er dieſes Wahrzeichens ſeiner 
Heimath anſichtig wurde. Aber er hatte heute 
nicht lange Zeit, ſich der Eigenthümlichkeit des 
Bildes zu freuen. Die beſchneiten Parkbäume 
traten zwiſchen ihn und die Kirche und einige 
Minuten ſpäter ſchlugen die Hunde an, und 


182 Hor dem Sturm. 


zwiſchen zwei Thorpfeilern hindurch beſchrieb der 
Schlitten eine Kurve und hielt vor der portal— 
artigen Glasthüre, zu der zwei breite Sandſtein— 
ſtufen hinaufführten. 

Lewin, der ſich ſchon vorher erhoben hatte, 
ſprang hinaus und ſchritt auf die Stufen zu. 
„Guten Abend, junger Herr,“ empfing ihn ein 
alter Diener in Gamaſchen und Frackrock, an 
dem nur die großen blanken Knöpfe W 
daß es eine Livrée ſein ſollte. 

„Guten Abend, Jeetze; wie geht es?“ 

Aber über dieſen Gruß kam Lewin nicht 
hinaus, denn im ſelben Augenblick richtete ſich 
ein prächtiger Neufundländer vor ihm auf und 
überfiel ihn die Vorderpfoten auf ſeine Schultern 
legend, mit den allerſtürmiſchſten Liebkoſungen. 

„Hektor, laß gut ſein, Du bringſt mich um.“ 
Damit trat unſer Held in die Halle ſeines väter— 
lichen Hauſes. Ein paar Scheite, die im Kamin 
verglühten, warfen ihr Licht auf die alten Bilder 
an der Wand gegenüber. Lewin ſah ſich um, 
nicht ohne einen Anflug freudigen Stolzes auf 
der Scholle ſeiner Väter zu ſtehen. 

Dann leuchtete ihm der alte Diener die 
ſchwere doppelarmige Treppe hinauf, während 
Hektor folgte. | 


en 6 


Bor dem Sturm. 183 


1 
Hohen- Pietz. 


In der Halle ſchwelen noch einige Brände; 
ſchütten wir Tannäpfel auf und plaudern wir, 
ein paar Seſſel an den Kamin rückend, von 
Hohen ⸗Vietz. 

Hohen-Bieß war urſprünglich ein altes, aus 
den Tagen der letzten Askanier ſtammendes 
Schloß mit Wall und Graben und freiem Blick 
oſtwärts auf die Oder. Es lag auf demſelben 
Höhenzuge wie die Kirche, deren ſchattenhaftes 
Bild uns am Schluß des vorigen Kapitels ent— 


gegentrat, und beherrſchte den breiten Strom, 


wie nicht minder die am linken Flußufer von 
Frankfurt nach Küſtrin führende Straße. Es 
galt für ſehr feſt, und Jahrhunderte lang hatten 
ſie einen Reim im Lebuſiſchen, der lautete: 

De fitt ſo feſt up finen Sitz, 

As de Vitzewitz' up Hohen⸗-Vietz. 

Die Pommern lagen zweimal davor; die 
Huſſiten berannten es, als ſie ſengend und 
brennend in Lebus und Barnim vordrangen, 
aber die heilige Jungfrau im Kirchenbanner 
ſchützte das Schloß, und als der damalige Vitze— 
witz, über deſſen Vornamen die Urkunden ver— 


184 Hor dem Sturm. 


ſchiedene Angaben bringen, ein griechiſches Feuer 
in das Lager der Huſſiten warf, zogen ſie ab, 
nachdem ſie alle umhergelegenen Dörfer ver— 
wüſtet hatten. Die Kunſt des griechiſchen Feuers 
aber hatte der Schloßherr von Rhodus mit 
heimgebracht, wo er unter den Rittern an zwei 
Feldzügen gegen die Türken theilgenommen hatte. 

Das war 1432. Ruhigere Zeiten kamen. 
Der hohe Ruf von Hohen⸗-Vietz lebte fort, ohne 
daß er Gelegenheit gehabt hätte, ſich neu zu be— 
währen. Erſt der dreißigjährige Krieg brachte 
neue und ſchwerere Prüfungen. 

Am 29. März 1631, faſt genau zweihundert 
Jahre nach der Huſſitenüberſchwemmung, er— 
ſchienen von Frankfurt aus ſechs Kompagnien 
Kaiſerlicher vor Hohen-Vietz, das am Tage vor— 
her, den Proteſten des Schloßherrn Rochus von 
Vitzewitz zum Trotz, von den von Stettin und 
Garz her heranziehenden Schweden beſetzt wor— 
den war. Oberſt Maradas, der die Kaiſerlichen 
führte, forderte die Uebergabe des Schloſſes. 
Als dieſe verweigert wurde, legten die Kaiſer— 
lichen, die aus je zwei Kompagnien der Regi- 
menter Butler, Lichtenſtein und Maradas zu— 
ſammengeſetzt waren, die Leitern an, ſtürmten 
das Schloß, brannten es bis auf die nackten 


Bor dem Sturm. 185 


Mauern aus und ließen die ſchwediſche Beſatzung 
über die Klinge ſpringen. 

Einen Augenblick ſtand Rochus von Vitzewitz 
in Gefahr, das Schickſal der Beſatzung zu theilen; 
ſeine beiden halberwachſenen Söhne aber, ſie 
mochten ſiebzehn und ſechszehn Jahre zählen, 
warfen ſich dazwiſchen und retteten ihn durch 
ihre Geiſtesgegenwart. Oberſt Maradas, an 
den jungen Leuten Gefallen findend, bot ihnen 
an, im Kaiſerlichen Heere Dienſt zu nehmen, ein 
Anerbieten, das von Seiten des Jüngeren, 
Matthias, ohne langes Säumen auch ohne Wider— 
ſpruch des Vaters angenommen wurde. Es 


waren nicht Zeiten, um über erfahrene Unbill, 


wie ſie der Lauf des Krieges für Freund und 
Feind gleichmäßig mit ſich brachte, lange zu 
grübeln. Matthias trat als Cornet in das Re— 
giment Lichtenſtein ein, Anſelm aber, der ältere, 
erklärte, bei dem Vater ausharren und demſelben 
bei Wiederaufbau des Schloſſes zur Seite ſtehen 
zu wollen. 

Dieſer Wiederaufbau jedoch verzögerte ſich. 
Als er endlich nach dem Abzug der feindlichen, 
nunmehr Süddeutſchland zum Schauplatz ihrer 
Kämpfe wählenden Heere beginnen ſollte, hatten 
ſich unter den fortwährenden Opfern des Krieges 


186 Nor dem Sturm. 


die Verhältniſſe derart verſchlechtert, daß es an 
den nöthigen Mitteln zu einem Schloßbau ge— 
brach. Rochus entſchied ſich alſo, von der Hohen— 
Vietzerhöhe, von der aus die Seinen dreihundert 
Jahre und länger ins Land geblickt hatten, herab— 
zuſteigen und zu Füßen derſelben, am Nordrande 
des ſich hier hinziehenden alten Wendendorfes, 
ein einfaches Herrenhaus herzurichten. Dies 
war 1634. 

Anſelm ging ihm dabei in allen Stücken zur 
Hand und ſchon Sonntag Exaudi, elf Monate 
nach Beginn des Baues, konnte die neue Heim— 
ſtätte der Vitzewitze bezogen werden. 

Es war ein Fachwerkhaus, lang, niedrig, 
mit hohem Dach. In dem Balken aber, der 
über der Thüre hinlief, war ein Spruch ein— 
geſchnitten: 

Dies iſt der Vitzewitzen Haus, 
Aus dem alten zog es aus; 
Gottes Segen komm herein, 
Wird es wohl geſchützet ſein. 

Und faſt ſchien es, als ob der Spruch ſich 
erfüllen und inmitten aller Kriegstrübſal, die 
über dem Lande lag, an dieſer neugegründeten 
Stätte ein neues Glück erblühen ſolle. Von 
Matthias, der aus dem Regiment Lichtenſtein in 


eee 


Mor dem Sturm. 187 


das Regiment Tiefenbach übergetreten, bei Nörd- 
lingen verwundet und ein halbes Jahr ſpäter, 
erſt zwanzig Jahre alt, zum kaiſerlichen Haupt⸗ 
mann aufgeſtiegen war, trafen Nachrichten ein, 
die des alten Rochus Herz, trotzdem es den 
Schweden zuneigte, mit Stolz und Freude er- 
füllten. Anſelm, ohne darum nachgeſucht zu 
haben, ſah ſich an den Hof gezogen und trat in 
dieſelbe Leibtrabantengarde, in der ſchon ſeit 
hundert Jahren alle Vitzewitze ihrem Herrn, dem 
Kurfürſten, gedient hatten; was aber vor allem 
zu Dank und Hoffnung ſtimmte, das waren zwei 
geſegnete Fruchtjahre, die der Himmel der Hohen— 


Vietzer Feldmark ſchenkte, wahre Prachternten, 


aus deren Erträgen nunmehr die Mittel zur 
Aufführung eines ſtattlichen, rechtwinklig an das 
eigentliche Wohnhaus ſich anlehnenden Anbaues 
entnommen werden konnten. Dieſer Anbau, eine 
einzige mit Emporen, Wappen und Hirſchgeweihen 
geſchmückte Halle, richtete das Gemüth des alten 
Rochus, der eine hohe Vorſtellung von den 
Repräſentationspflichten ſeines Hauſes hatte, 
wieder auf und gemahnte ihn an alte gaſtliche 
Zeiten. Als er das erſte Mal den Nachbaradel 
in dieſem „Banketſaal,“ wie er die Halle gern 
nennen hörte, bewirthete, hielt er eine Anſprache 


188 Bor dem Sturm. 


an die Verſammelten, die der Ueberzeugung Aus— 
druck gab, daß das Haus Vitzewitz auch wieder 
„bergan“ ziehen und nicht immer „geduckt unterm 
Winde“ ſtehen werde. All Ding, ſo etwa ſchloß 
er, habe ſeine Zeit, auch Krieg und Kriegesnoth, 
und der Tag werde kommen, wo ſeine lieben 
Freunde und Nachbaren wieder auf der Höhe 
bei ihm zu Gaſte ſein und frei oſtwärts mit ihm 
blicken würden. 

Alles ſtimmte ein. Aber wenn jemals un- 
prophetiſche Worte geſprochen wurden, ſo waren 
es dieſe. Der Krieg kam wieder, mit ihm Hunger 
und Peſt, und zerſtörte entweder den Wohlſtand 
der Dörfer oder dieſe ſelbſt. Ganze Gemarkungen 
wandelten ſich in eine Wüſte, und die Hälfte der 
Hohen-Vietzer Hofeſtellen ſtand leer, weil ihre 
Inſaſſen verflogen oder verſtorben waren. In⸗ 
mitten dieſes Elendes, ehe noch der Schimmer 
beſſerer Zeiten heraufdämmerte, ſchloß Rochus 
die müden Augen und ſie trugen ihn bergan in 
die Gruft unterm Altar und ſtellten den kupfernen 
Sarg, mit Beſchlägen und Wappentafeln und 
mit aufgelöthetem ſilbernen Kruzifix, in die lange 
Reihe der ihm vorangegangenen Ahnen. Nichts 
fehlte; denn der Zeiten Noth hatte dem Vater 
die Ehren des Begräbniſſes nicht kürzen ſollen. 


Bor dem Sturm. 189 


So wollte es der älteſte Sohn; der jüngere, mit 
ſeinem Regiment an der fränkiſchen Saale ſtehend, 
hatte der Beſtattung nicht beiwohnen können. 
Anſelm war nun Herr auf Hohen- Vietz. 
Es war nicht frohen Herzens, daß er das 
erſte Korn in den nur ſchlecht gepflügten Boden 
warf; aber ſiehe da, die Saat ging auf, ohne daß 
Freund oder Feind — denn zwiſchen beiden war 
längſt kein Unterſchied mehr — die jungen Halme 
zerſtampft hätte; der Krieg, ſo ſchien es, hatte 
ſich ausgebrannt wie ein Feuer, das keine Nahrung 
mehr findet, und ehe das Jahrzehnt ſchloß, ging 
die Mähr von Mund zu Mund, die Mähr, daß 


Friede ſei. 


Und es war Friede. Was niemand mehr 
mit Augen zu ſehen gehofft hatte, es war da. 
Und als abermals zwei Jahre ins Land gezogen 
waren, ohne daß Schwede oder Kaiſerlicher im 
Lebuſiſchen gelagert und geplündert hätte und 
jeder, ſelbſt der Ungläubigſte, ſeiner Zweifel ſich 
entſchlagen mußte, da traf ein Brief im Hohen— 
Vietzer Herrenhauſe ein, der führte die Auf- 
ſchrift: „Dem wohledlen, geſtrengen und feſten 
Anſelm von Vitzewitz, erbſeſſen auf Hohen-Vietz 
im Lande Lebus.“ Der Brief ſelbſt aber lautete: 
„Mein inſonders vielgeliebter Bruder! Von 


190 Vor dem Sturm. 


heut ab in zween Wochen, ſo Gott ſeinen Segen 
zu meinem Plane gibt, bin ich bei Dir in Hohen— 
Vietz. Ich erwarte nur noch die Permiſſion aus 
Wien, die mir Kayſerliche Majeſtät nicht refüſiren 
wird. Vielleicht, daß uns tempora futura wieder 
zuſammenführen, wie uns die Tage der Kindheit 
und adolescentia zuſammen ſahen. Wir Luthe⸗ 
riſchen — trotzdem ſie zu Münſter und Osna— 
brügge den Religionsfrieden mit vollen Backen 
proklamiret haben — ſind wenig gelitten im 
Kayſerlichen Heere, und kein Tag vergeht ohne 
Andeutung, daß man uns nicht mehr braucht. 
Ich höre, daß Unſer gnädigſter Herr Kurfürſt, 
dem ich nie ſäumig geweſen, als meinen Lehns— 
und Landesherren zu konſideriren, eine branden- 
burgiſche Armee wirbt, derowegen er aus 
ſchwediſchem und Kayſerlichem Heer Offiziers und 
Generals im Beträchtlichen herübernimmt. Es 
ſollte mir eine rechte Freude ſein, ſo die Reihe 
auch an mich käme; denn daß ich es ſage, es 
zieht mich wieder heimb in mein liebes Land 
Lebus. Unſere Vettern und Nachbarn, die Burgs— 
dorffs, die post mortem Schwarzenbergii das A 
und das O bei Hofe ſind, werden doch etwas thun 
wollen für eine alte Kriegsgurgel, die den Dienſt 
kennt, wie den Catechismum Lutheri. Interim 


EEE PRO 
. “= 25 
K 


Bor dem Sturm. ö 191 


bene vale. Der ich bin Dein Bruder Matthias 
von Vitzewitz, Kayſerlicher Oberſt.“ 

Und Matthias kam wirklich und hielt die 
angegebene Zeit. Ein Feſt ſollte ſeine Anweſen— 
heit feiern. In dem großen Anbau waren drei 
Tiſche gedeckt; zwei ſtanden unten und liefen, der 
Länge des Saales nach, neben einander her, der 
dritte Tiſch aber ſtand quer auf einer mit Wappen 
und Bannern geſchmückten Empore, zu der drei 
Stufen hinanführten. Die ganze Freundſchaft 
aus Barnim und Lebus war geladen; die Brüder 
ſaßen einander gegenüber; neben ihnen, an der 
Quertafel: Adam und Beteke Pfuel von Jahns— 
felde, Peter Ihlow von Ringenwalde, Balthaſar 
Wulffen von Tempelberg, Hans und Nikolaus 
Barfus von Hohen- und Nieder-Predikow, dazu 
Tamme Strantz, Achim von Kracht, zwei Scha— 
pelows, zwei Beerfeldes und fünfe von Burgs— 
dorf. Sie waren alle, ſchon um Glaubens willen, 
mehr ſchwediſch als kaiſerlich, beſonders Peter 
Ihlow, der — ein Neffe Feldmarſchall Ihlows 
— einen Groll gegen den Wiener Hof hatte, ihn 
anklagend, feinen Oheim in Schloß Eger meuch— 
lings gemordet zu haben. Er wiederholte auch 
heute ſeine Anklage, wobei es dahin geſtellt bleiben 


192 Bor dem Sturm. 


ſein mag, ob er die Gegenwart des Gaſtes mo— 
mentan vergaß oder ſie vergeſſen wollte. 

Matthias von Vitzewitz, als er ſeinen Kriegs— 
herrn, den Kaiſer, in ſo herausfordernder Weiſe 
ſchmähen hörte, erhob ſich und rief: 

„Peter Ihlow, hütet Eure Zunge. Ich bin 
kaiſerlicher Offizier.“ 

„Du biſt es,“ rief jetzt Anſelm, aus dem 
der Wein, aber noch mehr das proteſtantiſche Herz 
ſprach, über den Tiſch hinüber; „Du biſt es, aber 
beſſer wäre es, Du wäreſt es nie geweſen.“ 

„Beſſer oder nicht, ich bin es. Des Kaiſers 
Ehre iſt meine Ehre.“ 

„Ein Glück, daß Du die Ehre ſatt haſt. 
Die Fremden ſind wenig gelitten im kaiſerlichen 
Heere.“ 

Matthias, der ſich bis dahin mühſam be— 
zwungen hatte, verlor alle Herrſchaft über ſich, 
als er ſich, durch Vorhaltung ſeiner eigenen Brief— 
worte, in ſo wenig großmüthiger Weiſe beſiegt 
und gefangen ſah. Die Augen traten ihm aus 
der Stirn, und ſein Kinn auf den Knauf des 
Degens ſtützend, ſchrie er: „Wer das ſagt, 
der lügt.“ 

„Wer es leugnet, der lügt.“ 

In dieſem Augenblicke zogen beide. Die 


Bor dem Sturm. 193 


Zunächſtſitzenden ſprangen auf, aber ehe noch ein 
Dazwiſchenſpringen möglich war, hatte des jüngeren 
Bruders Degen die Bruſt des älteren durchdrungen. 
Anſelm war tödtlich getroffen. 

Matthias, außer ſich über das Geſchehene, 
wollte ſich dem Kurfürſten ſtellen; nur wider— 
willig gab er den Vorſtellungen derer nach, die 
auf Flucht drangen. In ſeine Garniſonſtadt 
Böhmiſch⸗Grätz zurückgekehrt, machte er nach Wien 
hin Meldung von dem Vorgefallenen; dabei hatte 
es ſein Bewenden. Ihm zu zeigen, wie wenig die 
Kriegskanzelei den Vorfall beanſtande, der ja in 
Vertheidigung kaiſerlicher Ehre ſeine erſte Ver— 
anlaſſung hatte, ließ man ihn zum General auf— 
ſteigen und gab ihm ein Kommando in Ungarn. 
Aber dieſe Gnadenbezeugungen, dankbar, wie er 
ſie entgegennahm, gaben ihm doch die Ruhe nicht 
wieder, nach der er dürſtete, und von Peterwardein 
aus, wo er im Feldlager lag, ſchrieb er an den 
Kurfürſten und rief ſeine Gnade an, „um deſſent— 
willen, der aller Menſchen Heil und Gnade ſei.“ 

Der Kurfürſt ſchwankte; als aber durch die 
eidlichen Ausſagen von Peter Ihlow, Beteke Pfuel 
und Ehrenreich von Burgsdorf erwieſen war, daß 
beide Brüder zu gleicher Zeit gezogen hätten, 
kam es zu einem Generalpardon, „gleichweis als 

Th. Fontane Geſ. Romane u. Novellen. 115 


194 Bor dem Sturm. 


ob die Geſchichte nie geſchehen wäre“, und Matthias 
kehrte nach Hohen-Vietz zurück, das er ſeit dem 
Tage, an dem Maradas das Schloß geſtürmt 
hatte, nur einmal, in jener unheilvollen Feſtes— 
ſtunde, wiedergeſehen hatte. 

Er kam und brachte, wie die Hohen-Vietzer 
ſich noch lange erzählten, „eine Tonne Goldes 
mit ſich;“ denn Dotationen und Landerwerbungen, 
wie ſie damals herkömmlich waren, hatten ihn 
reich gemacht. Der Kurfürſt empfing ihn in aus— 
gezeichneter Weiſe und ſetzte ihn, unter Inne— 
haltung herkömmlicher Formen, in den Vollbeſitz 
des verfallenen Gutes ein. Unmittelbar darauf 
ſchritt der Neubelehnte zur Aufführung eines 
ſchloßartigen, mit breiter Treppe und hohen Stuck— 
zimmern reich ausgeſtatteten Renaiſſanceneubaues, 
der, mit dem ärmlichen Fachwerkhaus parallel 
laufend, einen hufeiſenförmigen Gebäudekomplex 
herſtellte, in dem die „Banketthalle“, der mehr— 
genannte Saalanbau des alten Rochus, die ver— 
bindende Linie war. Dieſen Saalanbau ſelbſt 
aber, eingedenk deſſen, was hier geſchah, ſchuf 
Matthias von Vitzewitz in eine Kapelle um. 
Ueber dem Altar ſtiftete er ein Bild, deſſen In— 
halt der Erzählung vom verlorenen Sohn ent⸗ 
nommen war; daneben hing er die Klinge auf, 


Bor dem Sturm. 195 


mit der er den Bruder erſtochen hatte. Er be— 
trat die Kapelle nie anders als in der Dämmer⸗ 
ſtunde; er liebte nicht, daß man es wußte oder 
gar davon ſprach, aber wer auf dem anſtoßenden 
Flieſenflur des alten Fachwerkhauſes zu thun 
hatte oder müßig lauſchte, der hörte ſeine lauten 
Gebete. N 

Seine Buße währte fein Leben lang und 
ſein Leben kam zu hohen Jahren. Noch ſpät 
hatte er ſich vermählt. Im Herbſte deſſelben 
Jahres, das ſeinen Herrn den Kurfürſten hin⸗ 
ſcheiden ſah, ſchied auch er aus dieſer Zeitlichkeit, 
und die Hohen-Vietzer, an ihrer Spitze der acht— 
zehnjährige Sohn des Hauſes, trugen ihn bis zur 
alten Hügelkirche hinauf und ſetzten ihn in die 
Gruft neben den Kupferſarg des Vaters derart, 
daß Anſelm zur Rechten, Matthias aber zur 
Linken ſtand. 

Er war in der Zuverſicht geſtorben, daß 
Gott ſeine Buße angenommen habe; auch die, die 
nach ihm kamen, waren dieſes Glaubens voll. 
Aber dieſer Glaube, wie feſten Lebensgrund er 
ihnen gab, konnte ihnen doch den Frohſinn des 
Lebens nicht wiedergeben. Sie blickten ernſt um 
ſich her. Und dieſer Zug begann ſich fortzuerben. 
Der Familiencharakter, der in alten Zeiten ein 

115* 


196 Hor dem Sturm. 


joviales Aufbrauſen geweſen war, wich einem 
Grübeln und Brüten, und ihr Hang zu Feſten 
und Gelagen ſchlug in einen Hang zur Selbſt— 
pein und Asceſe um. Auch ſahen ſie ſich durch 
manchen Vorgang, durch Spuk und Wirklichkeit, 
in dieſem Hange genährt und gefeſtigt. In dem 
zur Kapelle umgeſchaffenen Saalanbau, der, ver— 
ſtaubend und verfallend, längſt wieder den Kapellen⸗ 
charakter abgeſtreift hatte und zu einem Vor⸗ 
rathsraum für die kleinen Leute des Hauſes ge— 
worden war, ging der alte Matthias um wie zu 
Lebzeiten und kniete vor dem Altar, den er ge— 
ſtiftet. Niemand im Hauſe zweifelte daran. Aber 
wenn auch ein einzelner den Spuk verneint und, 
ſei es aus Glauben oder Unglauben, die Er— 
ſcheinung als ein abergläubiſch Gebilde verworfen 
hätte, ſo hätten doch andere Zeichen zu ihm ge— 
ſprochen. Seit anderthalb hundert Jahren ſtand 
das Geſchlecht auf zwei Augen; es ſah darin 
einen Finger Gottes; zwei Brüder ſollten nicht 
wieder in Waffen gegen einander ſtehen. 

Die Dorfbewohner, wie kaum verſichert zu 
werden braucht, hegten dies alles wie einen 
Schatz, und in den Spinnſtuben wurde nichts 
eifriger verhandelt, als die Frage, ob der alte 
Matthias geſehen worden ſei oder nicht. Es war 


Bor dem Sturm. 197 


eine Art Ehrenſache, ihn geſehen zu haben. Man 
ſcherzte über ihn und fürchtete ſich. Die Bauern 
ſelbſt waren nicht anders wie ihre Mägde. Auf 
dem Höhenzuge, dicht neben der Kirche, ſtand 
eine alte Buche, die theilte ſich halbmannshoch 
über der Wurzel und wuchs in zwei Stämmen 
nach rechts und links. Das paßte den Hohen- 
Vietzern, und die Sage ging, daß beide Brüder, 
als ſie noch Kinder waren, dieſen Baum gemein- 
ſchaftlich gepflanzt hätten. Als aber Anſelm von 
der Hand des Jüngern gefallen ſei, da habe ſich 
der Stamm getheilt. Und noch andere wußten, 
daß Matthias, wenn er unten in der Kapelle ge— 
betet, die große Nußbaumallee bis zur Kirche 
hinaufſteige und den Buchenſtamm da, wo er ſich 
theilt, zu umfaſſen und zuſammenzupreſſen ſuche. 
Aber umſonſt. Er ſitze dann zu Füßen des 
Baumes und klage laut. 

Aber wenn ſich das nach dem Spukhaften 
und Schauerlichen drängende romantiſche Bedürf- 
niß in dieſen trüben Bildern mit Vorliebe aus⸗ 
ſprach, ſo drängte doch auch ein anderer Zug in 
den Herzen der Hohen-Vitzer ebenſo entſchieden 
auf endliche Verſöhnung hin, und einen Reim— 
ſpruch kannte Jung und Alt, der dieſer Hoffnung 
auf Verſöhnung Ausdruck gab. Auch im Herren- 


198 Hor dem Sturm. 


hauſe kannten ſie ihn ſehr wohl und der Reim— 
ſpruch lautete: 

Und eine Prinzeſſin kommt ins Haus, 

Da löſcht ein Feuer den Blutfleck aus, 

Der auseinander getha'ne Stamm 

Wird wieder eins, wächſt wieder zuſamm', 

Und wieder von ſeinem alten Sitz 

Blickt in den Morgen Haus Vitzewitz. 


III. 
Weihnachts morgen. 


An Lewins Seele waren inzwiſchen unruhige 
Träume vorübergegangen. Die Fahrt im Oſt⸗ 
wind hatte ihn fiebrig gemacht und erſt gegen 
Morgen verfiel er in einen feſten Schlaf. Eine 
Stunde ſpäter begann es bereits im Hauſe 
lebendig zu werden; auf dem langen Korridor, 
an deſſen Nordoſtecke Lewins Zimmer gelegen 
war, hallten Schritte auf und ab, ſchwere Holz— 
körbe wurden vor die Feuerſtellen geſetzt und 
große Scheite von außen her in den Ofen ge— 
ſchoben. Bald darauf öffnete ſich die Thür und 
der alte Diener, der am Abend zuvor ſeinen 
jungen Herrn empfangen hatte, trat ein, einen 
Blaker in der Hand. Hektor blieb liegen, reckte 
ſich auf dem Rehfell und wedelte nur, als ob er 


Hor dem Sturm. 199 


rapportiren wolle: Alles in Ordnung. Jeetze 
ſetzte das Licht, deſſen Flamme er bis dahin mit 
ſeiner Rechten ſorglich gehütet hatte, hinter einen 
Schirm und begann alles, was an Garderobe— 
ſtücken umherlag, über ſeinen linken Arm zu 
packen. Er ſelbſt war noch im Morgenkoſtüm; 
zu den Sammthoſen und Gamaſchen, ohne die er 
nicht wohl zu denken war, trug er einen Arbeits— 
rock von doppeltem Zwillich. Als er alles bei— 
ſammen hatte, trat er, leiſe wie er gekommen 
war, ſeinen Rückzug an, dabei nach Art alter 


Leute unverſtändliche Worte vor ſich her murmelnd. 


An dem zuſtimmenden Nicken ſeines Kopfes aber ließ 


ſich erkennen, daß er zufrieden und guter Laune war. 


Die Thüre blieb halb offen und das er— 
wachende Leben des Hauſes drang in immer 
mahnenderen, aber auch in immer anheimelnderen 
Klängen in das wieder ſtill gewordene Zimmer. 
Die großen Scheite Fichtenholz ſprangen mit 
lautem Krach auseinander, von Zeit zu Zeit 
ziſchte das Waſſer, das aus den naßgewordenen 
Stücken in kleinen Rinnen in's Feuer lief, und 
von der Korridorniſche her hörte man den ſichern 
und regelrechteu Strich, mit dem Jeetzes Bürſte 
der Hacheln und Härchen, die nicht los laſſen 
wollten, Herr zu werden ſuchte. 


200 Hor dem Sturm. 


Alles das war hörbar genug, nur Lewin 
hörte es nicht. Endlich beſchloß Hektor, der Uns 
geduld Jeetzes und ſeiner eigenen ein Ende zu 
machen, richtete ſich auf, legte beide Vorderpfoten 
aufs Deckbett und fuhr mit ſeiner Zunge über 
die Stirn des Schlafenden hin, ohne weitere 
Sorge, ob ſeine Liebkoſungen willkommen ſeien 
oder nicht. Lewin wachte auf; die erſte Ver— 
wirrung wich einem heiteren Lachen. „Kuſch, 
Dich, Hektor,“ damit ſprang er aus dem Bett. 
Der Morgenſchlaf hatte ihn friſch gemacht; in 
wenig Minuten war er angekleidet, ein Vortheil 
halb ſoldatiſcher Erziehung. Er durchſchritt ein 
paarmal das Zimmer, betrachtete lächelnd einen 
mit vier Nadeln an die Tiſchdecke feſtgeſteckten 
Bogen Papier, auf dem in großen Buchſtaben 
ſtand: „Willkommen in Hohen-Vietz,“ ließ ſeine 
Augen über ein paar Silhouettenbilder gleiten, 
die er von Jugend auf kannte und doch immer 
wieder mit derſelben Freudigkeit begrüßte, und 
trat dann an eines der zugefrorenen Eckfenſter. 
Sein Hauch thaute die Eisblumen fort, ein Fleck— 
chen, nicht größer wie eine Glaslinſe, wurde frei, 
und ſein erſter Blick fiel jetzt auf die eben auf— 
gehende Weihnachtsſonne, deren rother Ball hinter 
dem Thurmknopf der Hohen -Vietzer Kirche ſtand. 


Bor dem Sturm. 201 


Zwiſchen ihm und dieſer Kirche erhoben ſich die 
Bäume des hügelanſteigenden Parkes, phantaſtiſch 
bereift, auf einzelnen ein paar Raben, die in 
die Sonne ſahen und mit Gekreiſch den Tag 
begrüßten. 

Lewin freute ſich noch des Bildes, als es an 
die Thüre klopfte. 

„Nur herein!“ 

Eine ſchlanke Mädchengeſtalt trat ein und 
mit herzlichem Kuß ſchloſſen ſich die Geſchwiſter 
in die Arme. Daß es Geſchwiſter waren, zeigte 
der erſte Blick: gleiche Figur und Haltung, 
dieſelben ovalen Köpfe, vor allem dieſelben 
Augen, aus denen Phantaſie, Klugheit und Treue 
ſprachen. 

„Wie freue ich mich, Dich wieder hier zu 
haben. Du bleibſt doch über das Feſt? Und 
wie gut Du ausſiehſt, Lewin! Sie ſagen, 
wir ähnelten uns; es wird mich noch eitel 
machen.“ 

Die Schweſter, die bis dahin wie muſternd 
vor dem Bruder geſtanden hatte, legte jetzt ihren 
Arm in den ſeinen und fuhr dann, während 
beide auf der breiten Strohmatte des Zimmers 
auf und ab promenirten, in ihrem Geplauder 
fort. 


202 Bor dem Sturm. 


„Du glaubſt nicht, Lewin, wie öde Tage wir 
jetzt haben. Seit einer Woche flog uns nichts wie 
Schneeflocken ins Haus.“ 

„Aber Du halt doch den Papa . . .“ 

„Ja und nein. Ich hab' ihn und hab' 
ihn nicht; jedenfalls iſt er nicht mehr wie er 
war. Seine kleinen Aufmerkſamkeiten bleiben 
aus; er hat kein Ohr mehr für mich, und wenn 
er es hat, ſo zwingt er ſich und lächelt. Und an 
dem allen ſind die Zeitungen ſchuld, die ich frei— 
lich auch nicht miſſen möchte. Kaum daß Hoppen⸗ 
marieken in den Flur tritt und das Poſtpaket 
aus ihrem Kattuntuch wickelt, ſo iſt es mit ſeiner 
Ruhe hin. Er geht an mir vorbei, ohne mich zu 
ſehen. Briefe werden geſchrieben; die Pferde 
kommen kaum noch aus dem Geſchirr; zu Wagen 
und zu Schlitten geht es hierhin und dorthin. 
Oft ſind wir Tage lang allein. Ein Glück, daß 
ich Tante Schorlemmer habe, ich ängſtigte mich 
ſonſt zu Tode.“ 

„Tante Schorlemmer! So findet alles 
ſeine Zeit.“ 

„O, ſie braucht nicht erſt ihre Zeit zu 
finden, ſie hat immer ihre Zeit, daß weiß nie— 
mand beſſer als Du und ich. Aber freilich, eines 
it meiner guten Schorlemmer nicht gegeben, einen 


Bor dem Sturm. 203 


öden Tag minder öde zu machen. Möchteſt Du, 
eingeſchneit, einen Winter lang mit ihr und ihren 
Sprüchen am Spinnrad ſitzen?“ 

„Nicht um die Welt. Aber wo bleibt der 
Paſtor? Und wo bleibt Marie? Iſt denn alles 
zerſtoben und verflogen? 

„Nein, nein, ſie ſind da, und ſie kommen 
auch, und ſind die alten noch; lieb und gut wie 
immer. Aber unſere Hohen-Vietzer⸗Tage find jo 
lang, und am längſten, wenn im Kalender die 
kürzeſten ſtehen. Marie kommt übrigens heute 
Abend; ſie hat eben anfragen laſſen.“ 

„Und wie geht es unſerm Liebling?“ 

„In den drei Monaten, daß Du nicht hier 
warſt, iſt ſie voll herangewachſen. Sie iſt wie 
ein Märchen. Wenn morgen eine goldene Kutſche 
bei Kniehaſes vorgefahren käme, um ſie aus dem 
Schulzenhauſe mit zwei ſchleppentragenden Pagen 
abzuholen, ich würde mich nicht wundern. Und 
doch ängſtigt ſie mich. Aber je mehr ich mich um 
ſie ſorge, deſto mehr liebe ich ſie.“ 

So weit waren die Geſchwiſter in ihren 
Plaudereien gekommen, als Jeetze — nunmehr 
in voller Livrée — in der Thüre erſchien, um 
ſeinen jungen Herrſchaften anzukündigen, daß es 


Zeit ſei. 


204 Bor dem Sturm. 


„Wo iſt Papa?“ 

„Er baut auf. Kriſt und ich haben zutragen 
müſſen.“ 

„Und Tante Schorlemmer?“ 

„Iſt im Flur. Die Singekinder ſind eben 
gekommen.“ 

Lewin und Renate nickten einander zu und 
traten dann heiteren Geſichts und leichten Ganges, 
ein jeder ſtolz auf den andern, in den Korridor 
hinaus. In demſelben Augenblick, wo ſie an 
dem Treppenknopf angelangt waren, klang es 
weihnachtlich von hellen Kinderſtimmen zu ihnen 
herauf. Und doch war es kein eigentliches Weih— 
nachtslied. Es war das alte „Nun danket alle 
Gott,“ das den märkiſchen Kehlen am geläufigſten 
iſt und am freieſten aus ihrer Seele kommt. 
„Wie ſchön,“ ſagte Lewin und horchte bis die 
erſte Strophe zu Ende war. 

Als die Geſchwiſter im Niederſteigen den 
unterſten Treppenabſatz erreicht hatten, hielten ſie 
abermals und überblickten nun das Bild zu ihren 
Füßen. Die gewölbte Flurhalle, groß und ge— 
räumig, trotz der Eichenſchränke, die umher ſtanden, 
war mit Menſchen, jungen und alten, gefüllt; 
einige Mütterchen hockten auf der Treppe, deren 
unterſte Stufen bis weit in den Flur hinein 


Hor dem Sturm. 205 


vorſprangen. Links, nach der Park- und Garten⸗ 
thür zu, ſtanden die Kinder, einige ſonntäglich 
geputzt, die anderen nothdürftig gekleidet, hinter 
ihnen die Armen des Dorfes, auch Sieche und 
Krüppel; nach rechts hin aber hatte alles, was 
zum Hauſe gehörte, ſeine Aufſtellung genommen: 
der Jäger, der Inſpektor, der Maier, Kriſt und 
Jeetze, dazu die Mägde, der Mehrzahl nach jung 
und hübſch, und alle gekleidet in die maleriſche 
Tracht dieſer Gegenden, den rothen Friesrock, 
das ſchwarzſeidene Kopftuch und den geblümten 
Mancheſter⸗Spenzer. In Front dieſer bunten 
Mädchengruppe gewahrte man eine ältliche Dame 
über fünfzig, grau gekleidet mit weißem Tuch 
und kleiner Tüllhaube, die Hände gefaltet, den 
Kopf vorgebeugt, wie um dem Geſange der Kinder 
mit mehr Andacht folgen zu können. Es war 
Tante Schorlemmer. Nur als die Geſchwiſter 
auf dem Treppenabſatz erſchienen, unterbrach ſie 
ihre Haltung und erwiderte Lewins Gruß mit 
einem freundlichen Nicken. 

Nun war auch der zweite Vers geſungen 
und die Weihnachtsbeſcheerung an die Armen 
und Kinder des Dorfes, wie ſie in dieſem Hauſe 
ſeit alten Zeiten Sitte war, nahm ihren Anfang. 
Niemand drängte vor; jeder wußte, daß ihm 


206 Nor dem Sturm. 


das Seine werden würde. Die Kranken erhielten 
eine Suppe, die Krüppel ein Almoſen, alle einen 
Feſtkuchen, an die Kinder aber traten die Mägde 
heran und ſchütteten ihnen Aepfel und Nüſſe 
in die mitgebrachten Säcke und Taſchen. 

Das Gabenſpenden war kaum zu Ende, als 
die große, vom Flur aus in die Halle führende 
Flügelthüre von innen her ſich öffnete und ein 
heller Lichtſchein in den bis dahin nur halb er— 
leuchteten Flur drang. Damit war das Zeichen 
gegeben, daß nun dem Hauſe ſelber beſcheert 
werden ſolle. Der alte Vitzewitz trat zwiſchen 
Thüre und Weihnachtsbaum, und Lewins an⸗ 
ſichtig werdend, der am Arm der Schweſter dem 
Feſtzug voraufſchritt, rief er ihm zu: „Willkom⸗ 
men, Lewin, in Hohen⸗Vietz.“ Vater und Sohn 
begrüßten ſich herzlich; dann ſetzten die Ge— 
ſchwiſter ihren Umgang um die Tafel fort, 
während draußen im Flur die Kinder wieder an— 


ſtimmten: 
Lob, Ehr und Preis ſei Gott 
Dem Vater und dem Sohne, 
Und auch dem heil'gen Geiſt 
Im hohen Himmelsthrone. 
Der Zug löſte ſich nun auf und jeder trat 
an ſeinen Platz und ſeine Geſchenke. Alles ge— 


fiel und erfreute, die Shawls, die Weſten, die 


Nor dem Sturm. 207 


ſeidenen Tücher. Da lagerte kein Unmuth, keine 
Enttäuſchung auf den Stirnen; jeder wußte, daß 
ſchwere Zeiten waren, und daß der viel heimge— 
ſuchte Herr von Hohen-Vietz ſich mancher Ent— 
behrung unterziehen mußte, um die gute Sitte 
des Hauſes auch in böſen Tagen aufrecht zu 
erhalten. 

Zu beiden Seiten des Kamins, über deſſen 
breiter Marmorkonſole das überlebensgroße Bild 
des alten Matthias aufragte, waren auf kleinen 
Tiſchen die Gaben ausgebreitet, die der Vater 
für Lewin und Renaten gewählt hatte. Lieb⸗ 
lingswünſche hatten ihre Erfüllung gefunden, 
ſonſt waren ſie nicht reichlich. An Lewins 
Platz lag eine gezogene Doppelbüchſe, Suhler 
Arbeit, ſauber, leicht, feſt, eine Freude für den 
Kenner. 

„Das iſt für Dich, Lewin. Wir leben in 
wunderbaren Tagen. Und nun komm und laß 
uns plaudern.“ 

Beide traten in das nebenan gelegene Zim— 
mer, während in der Halle die Weihnachtslichter 
niederbrannten. 


208 Hor dem Sturm. 


IV. 
Berndt von Vitzewitz. 


Der Vater Lewins war Berndt von Vitze— 
witz, ein hoher Fünfziger. Mit dreizehn Jahren 
bei den zu Landsberg garniſonirenden Knobels— 
dorff⸗Dragonern eingetreten, hatte er, nach bei- 
nahe dreißigjährigem Dienſt, das Kommando des 
berühmten Regiment eben übernommen, als ihn 
im Frühjahr 1795, der Abſchluß des Basler 
Friedens veranlaßte, ſeinen Abſchied zu fordern. 
Voller Abſcheu gegen die Pariſer Schreckens— 
männer, ſah er in dem „Pactiren mit den Regi— 
ciden“ ebenſo eine Gefahr, wie eine Erniedrigung 
Preußens. Er zog ſich verſtimmt nach Hohen— 
Vietz zurück. Vielleicht war es ein Ausdruck 
ſeiner Verſtimmung, daß er es, wenigſtens im 
geſelligen Verkehr, vorzog, ſeinen militäriſchen 
Rang ignorirt und ſich lediglich als Herr von 
Vitzewitz angeſprochen zu ſehen. Das Gut ſelbſt 
war ihm ſchon ſieben Jahre früher zugefallen, 
unmittelbar faſt nach ſeiner Vermählung mit 
Madeleine von Dumoulin, älteſten Tochter des 
Generallieutenants von Dumoulin, der bei Zorn— 
dorf, als jüngſter Offizier in der Schwadron 
des Rittmeiſters von Wakenitz, Wunder der 


Nor dem Sturm. 209 


Tapferkeit verrichtet und nach zweimaligem 
Durchbrechen der ruſſiſchen Quarrés den Pour 
le mérite auf dem Schlachtfelde empfangen hatte. 

Madeleine von Dumoulin, groß, ſchlank, 
blond, eine typiſche deutſche Schönheit, wie ſo 
oft die Töchter des altfranzöſiſchen Adels, war 
der Abgott ihres Gemahls. Und doch ſah fie 
zu ihm hinauf; ohne Prätenſionen, faſt ohne 
Laune, beugte ſie ſich vor der Ueberlegenheit 
ſeines Charakters. Die Geburt eines Sohnes, 
noch in der Garniſonſtadt des Regiments, ſchuf 
ein geſteigertes Glück, das aus beider Augen 
noch lebhafter ſprach, als ihnen, bald nach ihrer 
Uebernahme von Hohen-Vietz, auch eine Tochter 
geboren wurde. Es war im Mai 1795, ein 
Frühlingsregen ſprühte und das Zeichen des 
Bundes zwiſchen Gott und den Menſchen, ein 
Regenbogen ſtand verheißungsvoll über dem 
alten Hauſe. Aber die Verheißung, wenn ſie 
dem Kinde gelten mochte, galt nicht dem Vater. 
Ein Allerſchmerzlichſtes blieb auch ihm, wie ſo 
vielen ſeiner Ahnen, unerſpart. Es traf ihn 
anders, aber nicht minder ſchwer. 

Der Tag von Jena hatte über das Schickſal 
Preußens entſchieden; elf Tage ſpäter hielten 
bereits angemeldete franzöſiſche Offiziere vor 

Th. Fontane, Gef. Romane u. Novellen. 116 


210 Bor dem Sturm. 


dem Herrenhauſe in Hohen-Vietz, zu deren Be— 
willkommnung, um nicht Anſtoß zu geben, auch 
die kaum von einem hitzigen Fieber wieder her— 
geſtellte, noch die Bläſſe der Krankheit zeigende 
Dame vom Haufe erſchienen war. In der Halle 
war gedeckt. Frau von Vitzewitz blieb und jchien 
ihren Zweck, ein leidliches Einvernehmen zwiſchen 
Wirth und Gäſten herzuſtellen, erreichen zu 
ſollen, als ſich, während ſchon der Nachtiſch auf- 
getragen wurde, ein ihr gegenüber ſitzender 
Kapitän, von der ſpaniſchen Grenze, olivenfarbig, 
mit dünnem Spitzbart erhob und in unziemlichſter 
Huldigung Worte lallte, die der ſchönen Frau, 
das Blut in die Wangen trieben. Berndt von 
Vitzewitz fuhr auf den Elenden ein, andere 
Offiziere, dazwiſchen ſpringend, trennten die mit 
einander Ringenden und Partei ergreifend für 
den beleidigten Gemahl, ſteckten ſie draußen im 
Park den Platz ab, wo der Handel auf der Stelle 
ausgemacht werden ſollte. Berndt, ein Meifter 
auf den Degen, verwundete ſeinen Gegner jchwer 
am Kopf und die Franzoſen, in der ihnen eigenen 
ritterlichen Geſinnung, beglückwünſchten ihn, ohne 
die geringſte Verſtimmung zu zeigen, zu ſeinem 
Triumph. Aber es war ein kurzer Sieg, zum 
mindeſten ein theuer erkaufter. Die heftigen, 


Nor dem Sturm. 211 


von ſolchen Vorgängen unzertrennlichen Er— 
regungen warfen die ſchöne Frau aufs Kranken⸗ 
bett zurück, am dritten Tag war ſie aufgegeben, 
am neunten trugen ſie ſie die alte Nußbaumallee 
hinauf, bis an die Hohen-Vietzer Kirche und 
ſenkten ſie unter Innehaltung aller von ihr ge— 
gebenen Beſtimmungen ein. Nicht in die Gruft, 
ſondern in „Gottes märkiſche Erde“ wie ſie ſo 
oft gebeten hatte. Die Glocken klangen den 
ganzen Tag ins Land und als der Frühling kam, 
lag ein Stein auf der Grabesſtelle, ohne Namen, 
ohne Datum, nur tief eingegraben: „Hier ruht 


mein, Glück.“ 

| % Berndts Charakter hatte ſich unter dieſen 
Schlägen aus dem Ernſten völlig ins Finſtere 
gewandelt. Die Lage des zerbröckelten, nahezu 
aus der Reihe der Staaten geſtrichenen Vater— 
landes war nicht dazu angethan, ihn aufzurichten. 
Sein eigner Beſitz entwerthet, die Ernten ge— 
raubt, das Gehöft von Räuberhänden halb nieder— 
gebrannt — ſo verfiel er auf Jahr und Tag in 
brütenden Trübſinn und lebte erſt wieder auf, 
als Sorge und Mißgeſchick, die beinahe unaus— 
geſetzt auf ihn eindrangen, einen großen Haß in 
ihm gezeitigt hatten. Er wurde rührig, regſam, 


er hatte Ziele, er lebte wieder. 
116* 


212 Vor dem Sturm. 


Der Haß, dem er dieſes dankte, richtete ſich 
gegen alles, was von jenſeit des Rheines kam, 
aber doch war ein Unterſchied in dem, was er 
gegen den Machthaber und gegen die franzöſiſche 
Nation empfand. Für dieſe letztere, deren Muth, 
Begeiſterung und Opferfähigkeit er ſo oft ge— 
prieſen, ſo oft vorbildlich hingeſtellt hatte, hatte 
er, wie faſt alle Märker, im tiefſten Herzen eine 
nicht zu ertödtende Vorliebe und aller Haß, den 
er dieſer Liebe zum Trvtz, ſtark und ehrlich zur 
Schau trug, war vielmehr Abſicht und Kalkül, 
als unmittelbare Empfindung, empor gewachſen 
aus der unabläſſigen, mit Gefliſſentlichkeit ge— 
hegten Betrachtung, daß, — um ihn ſelber 
ſprechen zu laſſen — „das undankbarſte aller 
Völker einen guten König geſchlachtet habe, um 
ſich vor den Triumphwagen eines freiheits— 
mörderiſchen Tyrannen zu ſpannen.“ Ganz anders 
ſein Haß gegen den Bonaparte ſelbſt. Ungemacht 
und ungekünſtelt, ſprang er wie ein heißer Quell 
aus ſeinem Herzen. Schon der Name widerte 
ihn an. Er war kein Franzos, er war Italiener, 
Korſe, aufgewachſen an jener einzigen Stelle in 
Europa, wo noch die Blutrache Sitte und Gejeß; 
und ſelbſt die Größe, die er ihm zugeſtehen 
mußte, war ihm ſtaunens- aber nicht bewunderns⸗ 


Bor dem Sturm. 213 


werth, weil ſie alles himmliſchen Lichtes ent— 
behrte. Er ſah in ihm einen Dämon, nichts 
weiter; eine Geißel, einen Würger, einen aus 
Weſten kommenden Dſchingiskhan. Als Mitte 
November bekannt wurde, daß der Kaiſer Küſtrin 
paſſiren werde, um bis an die Weichſel zu gehen, 
führte Berndt ſeine beiden halberwachſenen Kinder, 
Renate zählte elf, Lewin eben ſechszehn Jahre, 
nach der alten Oderfeſtung, und nahm Stand 
an dem Müncheberger Thore, um ihnen den zu 
zeigen, „den Gott gezeichnet habe.“ Und als 
dieſer nun unter dem gewölbten Portal hin in 
die ſtille Stadt eintritt und das gelbe Wachs— 
geſicht, wie ein unheimlicher Lichtpunkt zwiſchen 
dem Bug des Pferdes und dem tief in die Stirn 
gerückten Hute ſichtbar wurde, da ſchob er die 
Kinder in die vorderſte Reihe und rief ihnen 
vernehmlich zu: „Seht ſcharf hin, das iſt der 
Böſeſte auf Erden.“ 

Aber wer zu haſſen verſteht, ſo es nur der 
rechte Haß iſt, der weiß auch zu lieben, und die 
leidenſchaftliche Zuneigung, die Berndt ſo viele 
Jahre lang gegen die zu früh Heimgegangene als 
ſein höchſtes irdiſches Glück im Herzen getragen 
hatte, er übertrug ſie jetzt auf die Kinder, die 
als die Ebenbilder der Mutter heranwuchſen. 


214 Bor dem Sturm. 


Schlank aufgeſchoſſen, blond und durchſichtig, 
wichen ſie in jedem Zuge von der äußeren Er— 
ſcheinung des Vaters ab, zu deſſen gedrungener 
Geſtalt ſich dunkelſter Teint und ein ſchwarzes, 
kurz geſchnittenes, mit nur wenig Grau erſt 
untermiſchtes Haar geſellte. Und wie verſchieden 
die Erſcheinung, ſo verſchieden auch waren die 
Charaktere. Leichtbeweglich und leichtgläubig, 
immer geneigt zu bewundern und zu verzeihen, 
hatten die Kinder das heitere Licht der Seele, 
wo der Vater das düſtere Feuer hatte. Demüthig 
und troſtreich, angelegt um zu beglücken und 
glücklich zu ſein, leuchtete ihren Wegen die alles 
verklärende Phantaſie. Der Vater freute ſich 
deſſen. Er träumte von einer Wandlung, die mit 
ihnen über das Haus kommen werde. 

Berndt von Vitzewitz, wie alle, die ihr Herz 
an etwas ſetzen, machte wenig davon, er hatte 
das Schamgefühl der Liebe. Aber eben ſo wenig 
gefiel er ſich darin, eine rauhe Außenſeite heraus— 
zukehren. Weil er Autorität hatte, durfte er 
darauf verzichten, ſie jeden Augenblick geltend zu 
machen. Er liebte es, im Geſpräch den Unter— 
ſchied der Jahre zu überſpringen und beſpöttelte 
jene Väter und Mütter, die, aus der Noth eine 
Tugend machend, ihre Gefühls- und Gedanken— 


Bor dem Sturm. 215 


welt in zwei Rubriken, in eine für die „Intimen“ 
und in eine andere für die Kinder beſtimmte 
Hälfte zu theilen pflegen. Er war offen, ent- 
gegenkommend gegen Lewin, reich an Aufmerk- 
ſamkeiten gegen Renate. Nur in den letzten 
Wochen, wie die Schweſter dem Bruder bereits 
geklagt hatte, war eine Aenderung eingetreten; 
er mied jede Begegnung, ſprach wenig und ſaß 
halbe Nächte lang, wenn ihn nicht Beſuche in die 
Umgegend führten, an ſeinem Schreibtiſch oder 
durchſchritt im Selbſtgeſpräch das einfenſterige 
Kabinet, das ſein Arbeitszimmer bildete. 

Dies Arbeitszimmer war eben ſo tief wie 
ſchmal, jo daß die gelben von Tabak- und Lampen⸗ 
rauch längſt grau gewordenen Wände, bei dem 
wenigen Licht, das einfiel, noch dunkler erſchienen, 
als ſie waren. Von Luxus keine Spur. Nur 
für Bequemlichkeit war geſorgt, für jenes Alles— 
zurhandhaben geiſtig beſchäftigter Männer, denen 
nichts unerträglicher iſt, als erſt holen, ſuchen 
oder gar warten zu müſſen. Die beiden Thüren 
des Kabinets, von denen die eine nach der Halle, 
die andere nach dem Damenzimmer führte, lagen 
dem Fenſter zu, wodurch zwei breite Wandflächen 
zur Aufſtellung eines Schreibtiſches und eines 
Lederſophas, beide von beträchtlicher Länge, ge— 


216 UHor dem Sturm. 


wonnen waren. Ein dazwiſchen ſtehender garten— 
ſtuhlartiger Holzſchemel würde die Kommunikation 
vollſtändig geſchloſſen haben, wenn nicht die Tiſch— 
platte eine entſprechende Einbuchtung gehabt 
hätte. Ueber dem Schreibtiſch hing ein ſchönes 
Frauenporträt, Bruſtbild, nachgedunkelt, über dem 
Sopha ein ſchmaler länglicher Spiegel, deſſen 
völlig verblaktes Glas über ſeine Nutzloſigkeit an. 
dieſer Stelle keinen Zweifel ließ. Ein Schlüſſel⸗ 
brett, dazu zwei, drei Hirſchgeweihe mit allerhand 
Mützen und Hüten daran, vollendeten die Ein— 
richtung. In den Ecken ſtanden Stöcke umher, 
eine Entenflinte und ein Kavalleriedegen, während 
an den Panelen der Fenſterniſche mehrere Spezial— 
karten von Rußland, mit Oblaten und Nägelchen, 
je nachdem es ſich am bequemſten gemacht hatte, 
befeſtigt waren. Zahlloſe rothe Punkte und 
Linien zeigten deutlich, daß mit dem Zeitungs— 
blatt in der Hand zwiſchen Smolensk und Moskau 
bereits viel hin und her gereiſt worden war. 
Dies war das Zimmer, in das, wie am 
Schluſſe des vorigen Kapitels erzählt, Vater und 
Sohn eintraten. Beide nahmen auf dem Sopha 
Platz, gegenüber dem Frauenporträt, das jetzt 
auf ſie nieder ſah. Berndt, der in ſeinem ge— 
wöhnlichen Hauskoſtüm war: weite Beinkleider 


Bor dem Aturm. 211 


von ſchottiſchem Stoff, dunkler Sammtrock, dazu 
ein rothſeidenes Tuch leicht um den Hals ge— 
ſchlungen, ſtreckte den rechten Fuß auf ein hohes, 
tabourettartiges Doppelkiſſen. Lewin aus Reſpekt 
und Gewöhnung ſaß gerade aufrecht neben ihm. 

„Nun was giebt es, Lewin, was bringſt Du?“ 

„Vielleicht eine Neuigkeit. Morgen werden 
unſere Blätter das Bulletin bringen, das die 
Vernichtung des Heeres zugeſteht. Ladalinskis 
hatten den franzöſiſchen Text; Kathinka las uns 
die Hauptſtellen vor. Es hat mich erſchüttert.“ 
„Auch mich, aber noch mehr hat es mich er— 
hoben.“ | 

„So kennſt Du ſchon den Inhalt? und ich 
komme wieder zu ſpät.“ 

„Tante Amelie empfing den Zeitungsausſchnitt 
ſchon geſtern; Du kennſt ihre alten Beziehungen. 
Graf Droſſelſtein, der geſtern bei ihr war, erbot 
ſich, mir perſönlich die Nachricht zu bringen. 
Wir haben wohl eine Stunde geplaudert. Und 
glaube mir, das Bulletin ſagt nicht die Hälfte. 
Wir haben Briefe aus Minsk und Bialyſtock; 
ſie ſind total vernichtet.“ 

„Welch' ein Gericht!“ 

„Ja, Lewin, Du ſprichſt das Wort. — Die 
große Hand, die beim Gaſtmahl des Belſazar 


218 Vor dem Sturm. 


war, hat wieder ihre Zeichen geſchrieben und dies— 
mal keine Räthſelzeichen. Jeder kann ſie leſen: 
„Gezählt, gewogen und hinweg gethan.“ Ein 
Gottesgericht hat ihn verworfen. Und doch fürchte 
ich, Lewin, wir haben Neunmalweiſe am Ruder, 
die dem zornigen Gott in den Arm fallen wollen. 
Sie dürfen es nicht. Wagen ſie es, ſo ſind ſie 
verloren, ſie und wir. — Wie iſt die Stimmung?“ 

„Gut. Es iſt mir, als wäre eine Wandlung 
über die Gemüther gekommen. Das ganze Fühlen 
iſt ein höheres; wo noch Niedrigkeit der Geſinnung 
iſt, da wagt ſie ſich nicht hervor. Was fehlt, iſt 
eins: ein leitender Wille, ein entſchlußkräftiges 
Wort.“ 

„Das Wort muß geſprochen werden, ſo oder 
ſo. Wenn die Menſchen ſtumm ſind, ſo ſchreien 
es die Steine. Gott will es, daß wir ſeine 
Zeichen verſtehen. Lewin, wir alle ſind hier ent— 
ſchloſſen. Wir alle ſtehen hier des Wortes ge— 
wärtig; wird es nicht geſprochen, jo folgen wir 
dem lauten Wort, das in uns klingt. Es be— 
gräbt ſich leicht im Schnee. Nur kein feiges 
Mitleid. Jetzt oder nie. Nicht viele werden den 
Niemen überſchreiten, über die Oder darf 
keiner.“ 

Lewin ſchwieg eine Weile; er mied es, dem 


Bor dem Sturm. 219 


Blick des Vaters zu begegnen. Dann ſprach er 
halb vor ſich hin: „Wir ſind die Verbündeten des 
Kaiſers. Wir wollen das Bündniß löſen, Gott 
gebe es, aber —“ 

„So mißbilligſt Du, was wir vorhaben?“ 

„Ich kann nicht anders. Das was Du vor- 
haſt und was Tauſende der Beſten wollen, es iſt 
gegen meine Natur. Ich habe kein Herz für das, 
was ſie jetzt mit Stolz uud Bewunderung die 
ſpaniſche Kriegsführung nennen. Alles, was von 
hinten her ſein Opfer faßt, iſt mir verhaßt. Ich 
bin für offenen Kampf, bei hellem Sonnenſchein 
und ſchmetternden Trompeten. Wie oft habe ich 
in Entzücken geweint, wenn ich auf der Fußbank 
neben Mama ſaß und fie von ihrem Vater er- 
zählte, wie er, kaum achtzehnjährig, in die ruſſiſchen 
Vierecke einbrach und wie dann Rittmeiſter von 
Wakenitz vor der Schwadron ihn küßte und ihm 
zurief: „Junker von Dumoulin, laſſen Sie uns 
die Degen tauſchen.“ Ja ich will Krieg führen, 
aber deutſch, nicht ſpaniſch, auch nicht ſlaviſch. 
Du weißt, Papa, ich bin meiner Mutter 
Sohn.“ \ 
„Das biſt Du und ein Glück, daß Du es 
biſt. Ueber Deiner Mutter Kindheit haben helle 
Sterne geſtanden und ich bitte Gott, daß der 


220 Nor dem Sturm. 


Segen ihres Hauſes über Dir und über Re— 
naten ſei.“ | | 

Lewin ſah wieder vor ſich hin. Berndt 
von Vitzewitz aber fuhr fort: „Ich weiß, was eine 
Natur zu bedeuten hat; alles An- und Einge- 
borene, das nicht gegen die Gebote Gottes ſtreitet, 
iſt mir heilig; gehe Deinen Weg, Lewin, ich 
zwinge Dich in nichts. Aber ich, in ſtillen Nächten 
habe ich mir's geſchworen, ich will den meinen 
gehen!“ | 

Eine kurze Pauſe folgte, während welcher 
Berndt in dem ſchmalen Zimmer auf und nieder 
ſchritt. Dann, ohne des Schweigens zu achten, 
in dem Lewin verharrte, ſprach er weiter: „Ihr 
in den Städten, und Du biſt ein Stadtkind ge— 
worden, Lewin, ihr wißt es nicht, ihr habt es 
nicht recht erlebt. Unter den Augen der Macht- 
haber nahm die Unterdrückung Maß und das Un— 
geſetzliche geſetzliche Formen an. Sie rühmen ſich 
deſſen ſogar und glauben es beinahe ſelbſt, daß 
ſie unſere Ketten gebrochen haben. Aber wir auf 
dem Lande, wir wiſſen es beſſer und ich ſage Dir, 
Lewin, die rothe Hand, die Feuer an die Scheunen 
legte, die die Goldringe von den Fingern unſerer 
Todten zog, ſie iſt unvergeſſen hier herum und 
eine röthere Hand wird ihr die Antwort geben.“ 


Bor dem Sturm. 991 


Lewin wollte dem Vater antworten; aber dieſer, 
die Heftigkeit ſeiner Rede plötzlich umſtimmend, 
fuhr mit erſichtlicher Bewegung fort: „Du warſt 
noch ein Knabe, als der böſe Feind in's Land 
kam; der Glanz ſeiner Thaten ging vor ihm her. 
Was er damals im Uebermuth ſeines Glückes 
unſere Königin zu fragen ſich erdreiſtete: „Wie 
mochten Sie's nur wagen, den Kampf gegen mich 
aufzunehmen?“ dieſe Frage iſt ſeitdem von tauſend 
Schwachen und Elenden im Lande ſelber nach— 
geſprochen worden, als ob ſie das A und das O 
aller Weisheit wäre. Und in dieſer Vorſtellung 
unſerer Ohnmacht biſt Du herangewachſen, Du 
und Renate. Ihr habt nichts geſehen, als unſere 
Kleinheit, und ihr habt nichts gehört als die 
Größe unſeres Siegers. Aber, Lewin, es war 
einſt anders und wir Alten, die wir noch das 
Auge des großen Königs geſehen haben, wir 
ſchmecken bitter den Kelch der Niedrigkeit, der 
jetzt täglich an unſeren Lippen iſt.“ 

„Und ich bin es ſicher,“ fiel jetzt Lewin ein, 
„er wird von uns genommen werden. Wir werden 
einen frohen, einen heiligen Krieg haben. Aber 
zunächſt ſind wir unſeres Feindes Freund, wir 
haben mit und neben ihm in Waffen geſtanden; 
er rechnet auf uns, er ſchleppt ſich unſerer Thüre 


222 Hor dem Sturm. 


zu, hoffnungsvoll wie der Schwelle ſeines eigenen 
Hauſes; das Licht, das er ſchimmern ſieht, be— 
deutet ihm Rettung, Leben, und an der Schwelle 
eben dieſes Hauſes faßt ihn unſere Hand und 
würgt den Wehrloſen.“ 

In dieſem Augenblick begannen die Glocken 
zu klingen, die von dem alten Hohen -Vietzer 
Thurm her zur Kirche riefen. Sie klangen laut 
und voll in dem klaren Wetter. Berndt horchte 
auf; dann mit der Hand nach Oſten deutend, 
von wo die Klänge herüber hallten, fuhr er ſeiner— 
ſeits fort: „Ich weiß, daß geſchrieben ſteht, die 
Rache iſt mein, und in menſchlicher Gebrechlich— 
keit, das weiß der, der in die Herzen ſieht, bin 
ich allezeit ſeinem Wort gefolgt. Ich fürchte nicht, 
daß ich läſtere, wenn ich ausſpreche: Es giebt 
auch eine heilige Rache. So war es, als Simſon 
die Tempelpfoſten faßte und ſich und ſeine Feinde 
unter Trümmern begrub. Vielleicht, daß auch 
unſere Rache nichts anderes wird, als ein ge— 
meinſchaftliches Grab. Sei's drum; ich habe ab— 
geſchloſſen; ich ſetze mein Leben daran, und, Gott 
ſei Dank, ich darf es. Dieſe Hand, wenn ich 
ſie aufhebe, ſo erhebe ich ſie nicht, um perſönliche 
Unbill zu rächen, nein, ich erhebe ſie gegen den 
böſen Feind aller Menſchheit, und weil ich ihn 


nnr u ET a u u te 


Bor dem Sturm. 223 


ſelber nicht treffen kann, ſo zerbreche ich ſeine 
Waffe, wo ich ſie finde. Der große Schuldige 


reißt viel Unſchuldige mit in fein Verhängniß; 


wir können nicht ſichten und ſondern. Das Netz 
iſt ausgeſpannt und je mehr ſich darin verfangen, 
deſto beſſer. Wir ſprechen weiter davon, Lewin. 
Jetzt iſt Kirchzeit. Laß uns Gottes Wort nicht 
verſäumen. Wir bedürfen ſeiner.“ 

So trennten ſie ſich, als die Glocken zum 
zweiten Mal ihr Geläut begannen. 


V. 
In der Kirche. 


Das Summen der Glocken war noch in der 
Luft, als Berndt von Vitzewitz, Renaten am Arm, 
aus einem in den Schnee gefegten Fußſteig in 
die große Nußbaumallee einbog, die, leiſe an— 


ſteigend, von der Einfahrt des Herrenhauſes her 


in gerader Linie zur Hügelkirche hinauf führte. 
Dem voraufſchreitenden Paare folgten Lewin und 
Tante Schorlemmer. Alle waren winterlich ge— 
kleidet; die Hände der Damen ſteckten in ſchnee— 
weißen Grönlandsmuffen; nur Lewin, alles Pelz— 
werk verſchmähend, trug einen hellgrauen Mantel 
mit weitem Ueberfallkragen. 


224 Bor dem Sturm. 


Die mehrgenannte Hügelkirche, der ſie zu— 
ſchritten, war ein alter Feldſteinbau aus der erſten 
chriſtlichen Zeit, aus den Koloniſationstagen der 
Ciſtercienſer her; dafür ſprachen die ſauber be— 
hauenen Steine, die Chorniſche und vor allem 
die kleinen hochgelegenen Rundbogenfenſter, die 
dieſer Kirche, wie allen vorgothiſchen Gotteshäuſern 
der Mark, den Charakter einer Burg gaben. 
Wenig hatten die Jahrhunderte daran geändert. 
Einige Fenſter waren verbreitert, ein paar Seiten— 
eingänge für den Geiſtlichen und die Gutsherr— 
ſchaft hergerichtet worden; ſonſt, mit Ausnahme 
des Thurmes und eines neuen Gruftanbaues der 
nördlichen Langwand, ſtand alles wie es zu den 
Mönchszeiten geſtanden hatte. 

War nun aber das Aeußere der Kirche ſo 
gut wie unverändert geblieben, ſo hatte das 
Innere derſelben alle Wandlungen eines halben 
Jahrtauſends durchgemacht. Von den Tagen an, 
wo die Askanier hier ihre regelmäßig wieder— 
kehrenden Fehden mit den Pommerherzögen aus- 
fochten, bis auf die Tage herab, wo der große 
König an eben dieſer Stelle, bei Zorndorf und 
Kunersdorf, ſeine blutigſten Schlachten ſchlug, 
war an der Hohen-Bieger Kirche kein Jahr— 
hundert vorübergegangen, das ihr nicht in ihrer 


Bor dem Sturm. 225 


inneren Erſcheinung Abbruch oder Vorſchub ge— 
leiſtet, ihr nicht das eine oder andere gegeben 
oder genommen hätte. | 

Ein gleiches, was hier eingeſchaltet werden 
mag, gilt von der Mehrzahl aller alten märkiſchen 
Dorfkirchen, die dadurch ihren Reiz und ihre 
Eigenthümlichkeit empfangen. Beſonders im 
Gegenſatz zu den weltlichen oder Profanbauten 
unſeres Landes. Ueberblickt man dieſe, jo nimmt 
man alsbald wahr, daß die eine Gruppe zwar 
die Jahre, aber keine Geſchichte, die andere 
Gruppe zwar die Geſchichte, aber keine Jahre 
hat. Burg Soltwedel iſt uralt, aber ſchweigt. 
Schloß Sansſouci ſpricht, aber iſt jung wie ein 
Parvenü. Nur unſere Dorfkirchen ſtellen ſich 
uns vielfach als die Träger unſerer ganzen 
Geſchichte dar und die Berührung der Jahr— 
hunderte unter einander zur Erſcheinung brin— 
gend, beſitzen und äußern ſie den Zauber hiſtori— 
ſcher Kontinuität. 

Die Hohen-Vietzer Kirche hatte drei Ein— 
gänge, der erſte für die Gemeinde von Weſten 
her. Der Thurm, durch den dieſer Eingang 
ging, war aus Feldſtein roh zuſammengemörtelt; 
es fehlte die Sauberkeit, die den älteren Bau 
auszeichnete. Von der Decke herab hing ein 


Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 117 


226 Bor dem Sturm. 


Seil, an dem die Betglocke geläutet wurde. 
Rechts an der Wand hin ſtand ein Grabſcheit, 
eine Todtenbahre; auf ihr lagen Leinentücher um 
die Särge hinabzulaſſen. An der Wand gegen— 
über waren wurmſtichige Holzpuppen, Ueberreſte 
eines Schnitzaltars aus der katholiſchen Zeit her, 
zuſammengefegt; daneben aufgeſchichtetes Knubben— 
holz, wahrſcheinlich um die Sakriſtei zu heizen. 
Das eigentliche Schauſtück dieſer Vorhalle war 
aber die „Türkenglocke“, berühmt, wegen ihres 
Tones und ihrer Größe, die, nachdem ſie lange 
oben im Thurm gehangen und die Oder hinauf 
und hinab geklungen hatte, jetzt geſprungen aus 
ihrer Höhe herabgelaſſen war. Sie war — jo 
wenigſtens ging die Sage — aus Geſchützen ge— 
goſſen, die Iſaſchar von Vitzewitz (des alten 
Matthias Sohn) aus dem Türkenkriege mit heim 
gebracht hatte. Inſchriften bedeckten den Rand; 
eine lautete: 
Ruf ich, öffne deinen Sinn, 
Gott zu dienen iſt Gewinn. 

Der ſchwere Eiſenklöppel ſtand in einer 
Ecke daneben. Aus dem Thurm trat man in 
den Mittelgang der Kirche; dicht an der Schwelle 
lag ein granitner Taufſtein, ohne Fuß oder 
Träger, mitten durchgebrochen, noch aus der Zeit 


nen . nl 


Bor dem Sturm. 297 


der Eiftercienfer her. Weiter links, in der Ede, 
wo Thurm und Kirchenſchiff zuſammenſtießen, 
war eine Niſche in die nördliche Längswand ge— 
hauen; an einem Eiſenſtab hing eine Maria, 
(das Chriſtkind war ihrem Arm entfallen), und 
ihr zu Häupten ſtand einfach die Jahreszahl 
1431. Das war das Huſſitenjahr. Kein Zweifel, 
daß die Vitzewitze dieſen Votivaltar nach Abzug 
des Feindes geſtiftet hatten. Rechts und links 
vom Mittelgange, bis über die Hälfte der Kirche, 
liefen die Kirchenſtühle hin, alle ſauber und ver— 
ſchloſſen; nur die Thür des vorderſten ſtand halb 
offen und hing in den Angeln. Dieſer hieß der 


„Majorsſtuhl“ ſeit den Tagen, die der Kuners- 


dorfer Schlacht unmittelbar gefolgt waren. Bis 
hierher, durch Flucht und Graus hatten Grena— 
diere vom Regiment Itzenplitz ihren verwundeten 
Major getragen, auf dieſe Bank hatten ſie ihn 
niedergelegt, hier hatte er ſich aufgerichtet und 
die Binden abgeriſſen. „Kinder, ich will ſterben.“ 
Die Bank hatte einen Blutfleck 1 und jeder 
mied die Stelle. 

Einen Hauptſchmuck der Hohen-Vietzer Kirche 
bildeten ihre Grabſteine. Einſt hatten ſie vom 
Altar an bis mitten in das Kirchenſchiff hinein 


gelegen; ſeitdem aber das alte Gewölbe zuge— 
1 


228 Bor dem Sturm. 


ſchüttet und die neue Gruft, deren wir ſchon er- 
wähnten, angebaut worden war, ſtanden ſie auf— 
recht an der Nordwand der Kirche hin. Es 
waren meiſt einfache Steine, je nach der Sitte 
der Zeit mit langen oder kurzen Inſchriften ver⸗ 
ſehen, die von Malplaquet und Mollwig erzählten 
oder auch von ſtilleren Tagen, in Hohen-Vietz 
begonnen und beendet. 

An zwei dieſer Steine knüpfte die Sage an. 
Neben der Marienniſche ſtand einer, größer als 
die andern und dicht beſchrieben. Wer die In⸗ 
ſchrift las, der wußte, daß Katharina von Goll- 
mitz, eine Freundin des Hauſes, einſt unter 
dieſem Steine gelegen hatte. Grete von Vitze— 
witz, der Verſtorbenen in beſonderer Liebe zuge— 
than, hatte ihr, als ſie während eines Beſuches 
in Hohen⸗Vietz erkrankte und ſtarb, einen Ehren- 
platz in der Kirche angewieſen; aber die Freundin 
im Grabe hatte kein Gefühl für dieſe Auszeich- 
nung und ſehnte ſich nach Haus. Immer wenn 
Grete Vitzewitz über den Grabſtein hinſchritt, 
hörte ſie eine Stimme: „Grete, mach auf!“ Da 
machten ſie endlich auf und brachten den Sarg 
nach Jargelin, wo Katharina von Gollwitz ihre 
Heimath hatte. Nun wurde es ſtill. Den Grab- 
ſtein aber mauerten ſie in die Wand. 


Bor dem Sturm. 229 


Ein anderer Stein, deſſen Inſchrift längſt 
weggetreten war, lag noch dicht vor dem Altar. 
Er war der einzige, den man an alter Stelle 
belaſſen hatte, vielleicht weil er zerbrochen war. 
Er weigerte ſich hartnäckig, mit den neben ihm 
liegenden Flieſen gleiche Linie zu halten, und 
bildete nach und nach eine Mulde. Wie oft auch 
ſeine zwei Hälften aufgenommen und Sand und 
Gerölle in die Vertiefung hineingeſtampft wurden, 
der Stein ſank immer wieder. Das Volk ſagte: 
„Da liegt der alte Matthias; der geht immer 
tiefer.“ 

Dies war nun freilich ein Irrthum, der alte 
Matthias lag an anderer Stelle, wohl aber ge— 
hörte ihm das große Grabmonument an, das, 
nach der künſtleriſchen Seite hin, den Haupt— 
ſchmuck der Hohen-Vietzer Kirche bildete. Es 
war ein Marmordenkmal, überladen, rococohaft, 
dabei jedoch von großer Meiſterſchaft der Arbeit. 
Dem Gegenſtande nach zeigte es eine gewiſſe 
Verwandtſchaft mit dem Altarbilde des Saal- 
anbaues. Matthias von Vitzewitz und ſeine Ge— 
mahlin knieend, dabei voll Andacht zu einer 
Kreuzigung Chriſti emporblickend. Alles Bas⸗ 
relief, nur die Knieenden faſt in losgelöſter 
Figur. Darunter ihre Namen und die Daten 


230 Bor dem Sturm. 


ihres Lebens und Sterbens. Ein niederländiſcher 
Meiſter hatte das Werk gefertigt und es per— 
ſönlich zu Schiff bis in die Oder hinauf gebracht. 

Als die Bewohner des Herrenhauſes die 
Kirche betraten, begann eben der Geſang der 
Gemeinde. Eine ſchmale Treppe, an einem der 
kleinen Seiteneingänge ausmündend, führte zu 
dem herrſchaftlichen Stuhle hinauf. Dieſer, ein 
auf Pfeilern ruhender, ſehr einfacher Holzbau, 
war urſprünglich durch hohe Schiebefenſter ge— 
ſchloſſen geweſen, längſt aber waren dieſe be— 
ſeitigt und nur noch zwei ſchmale Bretter, die 
von der Brüſtung bis zur vollen Höhe der Decke 
aufſtiegen, theilten den Raum in drei große 
Rahmen ab. Vorn an der Wandung war das 
Vitzewitz'ſche Wappen angebracht, ein Andreas— 
kreuz, weiß auf rothem Grunde. 

In Front dieſes herrſchaftlichen Stuhles, hart 
an der Brüſtung hin, nahmen die Eintretenden 
geräuſchlos Platz: erſt Berndt von Vitzewitz, links 
neben ihm Renate, dann Tante Schorlemmer. 
Lewin ſtellte ſeinen Stuhl in die zweite Reihe. 
So vernachläſſigt alles war, ſo war es doch nicht 
ohne einen gewiſſen Reiz. Gleich zur Rechten 
Altar und Kanzel; in Front des Altars das 
Taufbecken, eine ſilberne mit allegoriſchen Figuren 


Bor dem Sturm. 231 


und unentzifferbaren Inſchriften reich ausge— 
ſchmückte Schüſſel, die nur mit großer Mühe vor 
den Händen des Feindes gerettet worden war. 
An der Wand gegenüber das vorerwähnte Mar— 
mordenkmal des alten Matthias und ſeiner Ge— 
mahlin, das beſte aber, was dieſer unſcheinbaren 
Stelle eigen war, war doch das große, faſt einen 
Halbkreis bildende Fenſter, das einen Blick auf 
den Kirchhof und weiter hügelabwärts auf ein» 
zelne zerſtreute, wie Vorpoſten ausgeſtellte Hütten 
und Häuſer des Dorfes geſtattete. Neben dieſem 
Fenſter, hart an der Kirchwand, ſtand ein Eiben- 
baum, der von der Seite her die längſten ſeiner 
Zweige vorſchob und regelmäßig an die Scheiben 

klopfte, wenn Paſtor Seidentopf ſeine dreigetheilte 
Predigt den Hohenvietzern ans Herz legte. Lewin 
ſetzte ſich immer ſo, daß er einen Blick auf das 
Fenſter frei hatte. Er ſtand wohl feſt auf dem 
Catechismo Lutheri, wie alle Vitzewitze, ſeitdem 
die gereinigte Lehre ins Land gekommen war, aber 
da war doch ein anderes in ihm, das ihn von 
Zeit zu Zeit trieb, mehr auf den Eibenbaum 
draußen als auf die Stimme von der Kanzel her 
zu achten, wäre dieſe Stimme auch mächtiger ge— 
weſen, als die ſeines alten Lehrers und Freundes, 
dem die ſonntägliche Erbauung oblag. 


232 Bor dem Sturm. 


Die Sonne ſchien hell und ein einfallendes 
Streiflicht erleuchtete in plötzlichem Glanz die 
halbe Nordwand, vor allem das große Grab— 
denkmal dem herrſchaftlichen Chorſtuhl gegenüber. 
Die lebensgroßen Figuren waren wie von roſigem 
Leben angehaucht. Lewin hatte die Schönheit 
dieſes Bildwerkes nie ſo voll empfunden; er 
las die langen Inſchriften, wie er ſich geſtand, 
zum erſten Mal. 

Der Geſang ſchwieg; ſchon während des. 
letzten Verſes war Prediger Seidentopf auf die 
Kanzel getreten, ein Sechsziger, mit ſpärlichem 
weißen Haar, von würdiger Haltung und mild 
im Ausdruck ſeiner Züge. Lewin hing an der 
wohlthuenden Erſcheinung, ſenkte dann den Blick 
und folgte in andächtiger Betrachtung dem ſtillen 
Gebet. Die Gemeinde that ein Gleiches, neigte 
ſich und ſchaute voll herzlichem Verlangen zu 
ihrem Geiſtlichen auf, als dieſer fein Gebet be— 
endet und ſein Haupt wiederum erhoben hatte. 
Denn die Gemüther waren damals offen für 
Troſt und Zuſpruch von der Kanzel her und 
rechneten nicht nach, ob die Worte lutheriſch oder 
kalviniſtiſch klangen, ſo ſie nur aus einem 
preußiſchen Herzen kamen. Das wußte Seiden— 
topf, der in gewöhnlichen Zeiten manche Wider— 


1 PPP r 


n 


Bor dem Sturm. 233 


ſacher unter den ſtrenggläubigen Konventiklern 
ſeines Dorfes zu bekämpfen hatte, und ein heller 
Glanz, wie ihn ihm die innere Freude gab, um— 
leuchtete ſeine Stirn, als er nach Leſung des 
Evangeliums die Textesworte zu erklären begann. 
Er ſprach von dem Engel des Herrn, der den 
Hirten erſchien, um ihnen die Geburt eines neuen 
Heiles zu verkünden. Solche Engel, ſo fuhr er 
fort, ſende Gott zu allen Zeiten, vor allen dann, 
wenn die Nacht der Trübſal auf den Völkern 
läge. Und eine Nacht der Trübſal ſei auch über 
dem Baterlande; aber ehe wir es dächten, würde 
inmitten unſeres Bangens der Engel erſcheinen 


Rund uns zurufen: „Fürchtet Euch nicht, ſiehe, ich 


verkündige Euch große Freude.“ Denn das 
Gericht des Herrn habe unſere Feinde getroffen, 
und wie damals die Waſſer zuſammenſchlugen 
und „bedeckten Wagen und Reiter und alle Macht 
des Pharao, daß nicht einer aus ihnen übrig 
blieb,“ ſo ſei es wiederum geſchehen. 

An dieſer Stelle, auf das Weihnachtsevan— 
gelium kurz zurückgreifend, hätte Paſtor Seiden— 
topf ſchließen ſollen; aber unter der Wucht der 
Vorſtellung, daß eine richtige Predigt auch eine 
richtige Länge haben müſſe, begann er jetzt, den 
Vergleich zwiſchen dem alten und dem neuen 


234 Nor dem Sturm. 


Pharao bis in die kleinſten Züge hinein durch— 
zuführen. Und dieſer Aufgabe war er nicht ge— 
wachſen. Dazu gebrach es ihm an Schwung der 
Phantaſie, an Kraft des Ausdrucks und Charakters. 
Schemenhaft zogen die Aegypterſchaaren vorüber. 
Die Aufmerkſamkeit der Gemeinde wich einem 
todten Horchen, und Lewin, der bis dahin kein 
Wort verloren hatte, ſah von der Kanzel fort 
und begann ſeine Aufmerkſamkeit dem Fenſter 
zuzuwenden, vor dem jetzt ein Rothkehlchen auf 
der beſchneiten Eibe ſaß und in leichtem Schaukeln 
den Zweig des Baumes bewegte. 

Nur Berndt folgte in Friſche und Freudig— 
keit der Rede ſeines Paſtors. Seine eigene 
Energie half nach; wo die Konturen nicht aus— 
ausreichten, zog er ſeine ſcharfen Linien in die 
unſicher ſchwankenden hinein. Was als Schatten 
kam, wurde zu Leben und Geſtalt. Er ſah die 
Aegypter. Bataillone mit goldenen Adlern, Reiter— 
geſchwader, über deren weiße Mäntel die ſchwarzen 
Roßſchweife fielen, ſo ſtiegen ſie in endlos langem 
Zuge vor ihm auf und über all ihrer Herrlichkeit 
ſchloſſen ſich die Wellen des Meeres. Nur über 
einem ſchloſſen ſie ſich nicht; er gewann das 
Ufer, ein nördliches Eisgeſtade, und ſiehe da, 
über glitzernde Felder hin flog jetzt ein Schlitten 


Bor dem Sturm. 235 


und zwei dunkle tiefliegende Augen ſtarrten in 
den aufſtäubenden Schnee. Paſtor Seidentopf 
hatte keinen beſſeren Zuhörer als den Patron 
ſeiner Kirche, der — und nicht heute blos — 
die freundlich ſchöne Kunſt des Ergänzens zu 
üben verſtand. Aus der Skizze ſchuf er ein 
Bild und glaubte doch dies Bild von außen 
her, aus der Hand ſeines Freundes, empfangen 
zu haben. 

Nun war der Sand durch die Uhr gelaufen, 
die Predigt ſelbſt geſchloſſen. Da trat der Paſtor 
noch einmal an den Rand der Kanzel, und mit 
eindringlicher Stimme, der ſofort alle Herzen 
wieder zufielen, hob er an: „Mit Chriſti Geburt, 
die wir heute feiern, beginnt das chriſtliche neue 
Jahr. Ein neues Jahr, was wird es uns 
bringen? Es wiſſen zu wollen, wäre Thorheit; 
aber zu hoffen iſt unſerem Herzen erlaubt. Gott 
hat ein Zeichen gegeben; mögen wir es zum 
Rechten deuten, wenn wir es deuten: er will 
uns wieder aufrichten, unſere Buße iſt ange— 
nommen, unſere Gebete ſind erhört. Die Geißel, 
die nach ſeinem Willen ſechs lange Jahre über 
uns war, er hat ſie zerbrochen; er hat ſich un— 
ſerer Knechtſchaft erbarmt und die Weihnachts— 
ſonne, die uns umſcheint, ſie will uns verkündigen, 


236 Bor dem Sturm. 


daß wieder hellere Tage unſerer harren. Ob 
ſie kommen werden mit Palmen, oder ob ſie 
kommen werden mit Schwerterklang, wer ſagt 
es? Wohl miſcht ſich ein Bangen in unſere 
Hoffnung, daß der Sieg nicht einziehen wird 
ohne letzte Opfer an Gut und Blut. Und ſo 
laßt uns denn beten, meine Freunde, und die 
Gnade des Herrn noch einmal anrufen, daß er 
uns die rechte Kraft leihen möge in der Stunde 
der Entſcheidung. Das Wort des Judas Makka⸗ 
bäus ſei unſer Wort: „Das ſei ferne, daß wir 
fliehen ſollten. Iſt unſere Zeit kommen, ſo 
wollen wir ritterlich ſterben um unſerer Brüder 
willen und unſere Ehre nicht laſſen zu Schanden 
werden.“ Gott will kein Weltenvolk, Gott will 
keinen Babelthurm, der in den Himmel ragt, und 
wir ſtehen ein für ſeine ewigen Ordnungen, wenn 
wir einſtehen für uns ſelbſt. Unſer Herd, 
unſer Land ſind Heiligthümer nach dem Willen 
Gottes. Und ſeine Treue wird uns nicht laſſen, 
wenn wir getreu ſind bis in den Tod. Handeln 
wir, wenn die Stunde da iſt, aber bis dahin 
harren wir in Geduld.“ 

Er neigte ſich jetzt, um in Stille das Vater— 
unſer zu ſprechen; die Orgel fiel mit feierlichen 
Klängen ein; die Gemeinde, ſichtlich erbaut durch 


Bor dem Sturm. 237 


die Schlußworte, verließ langſam die Kirche. 
Auf den verſchiedenen Schlängelwegen, die von 
der Kirche ins Dorf hernieder führten, ſchritten 
die Bauern und Halbbauern ihren halbverſchneiten 
Höfen zu. Die Frauen und Mädchen folgten. 
Wer von der Dorfſtraße aus dieſem Herabſteigen 
zuſah, dem erſchloß ſich ein anmuthiges Bild: 
der Schnee, die wendiſchen Trachten und die 
funkelnde Sonne darüber. 

Die Gutsherrſchaft nahm wieder ihren Weg 
durch die Nußbaumallee. Als ſie, einbiegend, an 
die Hofthür kamen, ſtand Kriſt an der unterſten 
Steinſtufe und zog ſeinen Hut. Die ſilberne 
Borte daran war längſt ſchwarz, die Kokarde 
verbogen. Berndt, als er ſeines Kutſchers an— 
ſichtig wurde, trat an ihn heran und ſagte kurz: 

„Fünf Uhr vorfahren! Den kleinen Wagen.“ 

„Die Braunen, gnädiger Herr?“ 

„Nein, die Ponies.“ 

„Zu Befehl!“ Mit dieſen Worten traten 
unſere Freunde ins Haus zurück. 


238 Dor dem Sturm. 


VI. 
Am Kamin. 


Punkt fünf Uhr war Kriſt vorgefahren; 
Berndt liebte nicht zu warten. Von den Kindern 
hatte er kurzen Abſchied genommen, um ſeiner 
Schweſter auf Schloß Guſe, oder der „Tante 
Amelie,“ wie ſie im Hohen-Vietzer Hauſe hieß, 
einen nachbarlichen Beſuch zu machen. Daß er 
noch am ſelben Abend zurückkehren werde, war 
nicht anzunehmen; er hatte vielmehr angedeutet, 
daß aus der kurzen Ausfahrt eine Reiſe nach der 
Hauptſtadt werden könne. Die Unruhe ſeiner 
Empfindung trieb ihn hinaus. Den Weihnachts- 
aufbau, wie ſeit Jahren, hatte er ſich auch heute 
nicht nehmen laſſen wollen, aber kaum frei, im 
Gefühl erfüllter Pflicht, ſchlugen ſeine Gedanken 
die alte Richtung ein. Es drängte ihn nach 
Aktion, oder doch nach Einblick in die Welt- 
händel; ein Bedürfniß, das ihm die Enge ſeines 
Hauſes nicht befriedigen konnte. In der Unter— 
haltung, das hatte Lewin bei Tiſche empfunden, 
that er ſich Zwang an, und das Gefühl davon 
nahm auch dem Geſpräch der Kinder jede freie 
Bewegung. Eine gewiſſe Befangenheit griff Platz. 
So kam es, daß man die Abweſenheit des Vaters, 


Bor dem Sturm. 239 


bei aufrichtigſter Liebe zu ihm, faſt wie eine Be— 
freiung empfand; Herz und Zunge konnten ihren 
Weg gehen, wie fie wollten. Unſere Hohen⸗ 
Vietzer Geſchwiſter empfanden übrigens, wie kaum 
erſt verſichert zu werden braucht, nicht kleiner 
oder ſelbſtſüchtiger, als andere im Lande; ſie 
wollten nur nicht gezwungen ſein, über den 
„Böſeſten der Menſchen“ immer wieder und 
wieder zu ſprechen, als wäre nichts Sprechens— 
werthes in der Welt als dieſer eine. | 

Sie hatten ſich ſammt Tante Schorlemmer 
im Wohnzimmer eingefunden und ſaßen jetzt, es 
mochte die ſiebente Stunde ſein, um den hohen 
altmodiſchen Kamin. Mit ihnen war Marie, die 
Freundin Renatens, des reichen Kniehaſe dunkel— 
äugige Tochter, deren Beſuch für dieſen Abend 
angekündigt war. Jede der drei Damen war 
nach ihrer Weiſe beſchäftigt. Renate, dem Kamin 
zunächſt ſitzend, hielt einen Palmenfächer in der 
Rechten, mit dem ſie die Flamme bald anzufachen, 
bald ſich gegen dieſelbe zu ſchützen ſuchte; Tante 
Schorlemmer ſtrickte mit vier großen Holznadeln 
an einem Shawl, der wie ein Fließ neben ihrem 
Lehnſtuhl niederfiel; Marie blätterte neugierig in 
einer grönländiſchen Reiſebeſchreibung, die ihr 
Tante Schorlemmer zum heiligen Chriſt beſcheert 


240 Bor dem Sturm. 


und mit einem Widmungsverſe aus Zinzendorf 
ausgeſtattet hatte. Zwiſchen Marie und Lewin, 
aber keineswegs als eine Scheidewand, ſtand der 
Weihnachtsbaum, den Jeetze von der Halle her 
hereingetragen hatte. Das Plündern, das Sache 
Lewins war, nahm eben ſeinen Anfang. Jede 
goldene Nuß, die er pflückte, warf er in hohem 
Bogen über die Spitze des Baumes fort, an 
deſſen entgegengeſetzter Seite Marie mit glück— 
licher Handbewegung danach haſchte. Im Werfen 
und Fangen jedes gleich geſchickt. 

Lewin freute ſich dieſes Spieles; zudem war 
er von Alters her nie beſſerer Laune, als wenn 
er ſich den Süßigkeiten des Weihnachtsbaumes 
gegenüber ſah. Das Naſchen war ſonſt nicht ſeine 
Sache, aber die Pfennigreiter, die Nonnen, die 
Fiſche, machten ihn kritiklos und ließen ihn einmal 
über das andere verſichern, „daß in dem platt— 
gedrückteſten Pfefferkuchenbild immer noch ein 
Tropfen vom himmliſchen Manna ſei.“ 

Die gute Laune Lewins ſteigerte ſich bald 
bis zur Neckerei, unter der niemand mehr zu 
leiden hatte als Tante Schorlemmer. „Du ſollſt 
den Feiertag heiligen,“ rief er ihr zu und wies 
dabei auf die vier hölzernen Stricknadeln, die, 
wie ſich von ſelbſt verſteht, nach dieſer ſcherzhaften 


r r ee u an dr — 


272722 — AT 
Et, * ® — A 
7 7 + 


Nor dem Sturu. 241 


Reprimande nur um ſo eifriger zu klappern be— 


gannen. Endlich wurde es ihr zu viel. Sie ver⸗ 


färbte ſich und reſolvirte kurz: „meine Grönländer 
können nicht warten.“ 


Da wir nun im langen Verlauf unſerer Er— 
zählung nirgends einen Punkt entdecken können, 


der Raum böte für eine biographiſche Skizze unter 
dem Titel „Tante Schorlemmer,“ ſo halten wir 


hier den Augenblick für gekommen, uns unſerer 
Pflicht gegen dieſe treffliche Dame zu entledigen. 
Denn Tante Schorlemmer iſt keine Nebenfigur 
in dieſem Buche, und da wir ihr, nach flüchtiger 
Bekanntſchaft in Flur und Kirche, an dieſer Stelle 


bereits zum dritten Male begegnen, ſo hat der 


Leſer ein gutes Recht, Aufſchluß darüber zu ver— 
langen, wer Tante Schorlemmer denn eigent— 
lich iſt. 

Tante Schorlemmer war eine Herrnhuterin. 
Eines Tages, das lag um dreißig Jahre zurück, 
war ihr, der damaligen Schweſter Brigitte, die 
Mittheilung gemacht worden, daß Bruder Jonathan 
Schorlemmer, zur Zeit in Grönland, eine eheliche 
Gefährtin wünſche, bereit, ihm in ſeinem ſchweren 
Werke zur Seite zu ſtehen. Sie hatte dieſem 
Rufe gehorſamt, ihre Wäſche gezeichnet und war 
mit dem nächſten däniſchen Schiff von Hamburg 


Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 118 


242 Nor dem Sturm. 


aus gen Norden gefahren. An einem Tage, der 
keine Nacht hatte, war ſie in Grönland gelandet, 
Bruder Schorlemmer hatte ſie empfangen und 
ihren Bund perſönlich eingeſegnet. Die Ehe blieb. 
kinderlos, deſſen ſich jedoch beide in chriſtlicher 
Ergebung getröſteten. So vergingen ihnen zehn. 
glückliche Jahre. Zu Beginn des elften ſtarb 
Jonathan Schorlemmer an einem Lungenkatarrh, 
und wurde in einem mit Seehundsfell beſchlagenen 
Sarge begraben. Seine Wittwe aber, nachdem 
ſie die Bevölkerung mit allem was ſie hatte, be— 
ſchenkt und jedem einzelnen verſichert hatte, ihn 
nie vergeſſen zu wollen, kehrte mit dem Grön— 
landſchiff zunächſt nach Kopenhagen und von dort 
aus in die deutſche Heimath zurück. 

In die deutſche Heimath, aber nicht nach 
Herrnhut. Auf der weiten Rückreiſe Berlin 
berührend, wo ihr einige Anverwandte lebten, 
beſchloß ſie, im Kreiſe derſelben zu verbleiben 
und bezog in jenem Stadttheile, der fünfzig Jahre 
früher den einwandernden böhmiſchen Brüdern 
und Herrnhutern als Wohnplatz angewieſen 
worden war, ein beſcheidenes Quartier. In 
dieſen kleinen Häuſern der Wilhelmſtraße würde 
ſie ihr ſtilles und treues Leben ſehr wahrſchein— 
lich beſchloſſen haben, wenn ihr nicht eines Tages. 


a 


Bor dem Sturm. 243 


ein Blatt ins Haus geflogen wäre, auf dem ſie 
das Folgende las: „Eine ältere Frau, am liebſten 
Wittwe, wird zur Führung eines Haushaltes auf 
dem Lande geſucht. Eine Tochter von zwölf 
Jahren ſoll ihrer beſonderen Obhut anvertraut 
werden. Bedingungen: Verträglichkeit und Chriſt⸗ 
lichkeit. Anfragen ſind zu richten an: B. v. V., 
poste restante Küſtrin.“ Tante Schorlemmer 
ſchrieb; alles Geſchäftliche erledigte ſich ſchnell. 
Um Weihnachten 1806 traf ſie in Hohen-⸗Vietz 
ein, in deſſen Herrenhauſe gerade damals ein 
trübes Chriſtfeſt gefeiert wurde. Man trat ſich 
gegenſeitig vertrauungsvoll entgegen, und nach 


wenig Wochen ſchon begann der Einfluß unſerer 


Freundin ſich geltend zu machen. Nicht das Glück, 
aber Ruhe und Frieden waren in ihrem Geleit. 
Renate hing ihr an, Lewin verehrte ihre Für⸗ 
ſorge, Berndt von Vitzewitz hatte einen tiefen 
Reſpekt vor ihrem Herrnhuterthume. 

Und darin unterſchied er ſich freilich von 
ſeinen Kindern. Dieſe beugten ſich wohl vor der 
Aufrichtigkeit aber nicht vor der Tiefe von Tante 
Schorlemmers chriſtlichem Gefühl. Ihre Leiden- 
ſchaftsloſigkeit, die dem Vater jo wohl that, er⸗ 
ſchien den Geſchwiſtern einfach als Schwäche. 
Nach Anſicht beider gebrauchte ſie ihr Chriſten— 

| 118* 


244 Bor dem Sturm. 


thum wie eine Hausapotheke und darin lag etwas 
Wahres. Für alle mehr gewöhnlichen Fälle hatte 
ſie das Sal sedativum einer frommen Alltags⸗ 
betrachtung, wie „Rechte Treu kennt keine Scheu“ 
oder „So dunkel iſt keine Nacht, daß Gottes Auge 
nicht drüber wacht;“ für ernſtere Fälle jedoch 
griff ſie nach dem ſtarken und nervenerfriſchenden 
Sal volatile irgend eines Kraftſpruches: „Was 
will Satan und ſeine Liſt, wenn mein Herr Jeſus 
mit mir iſt.“ Das unterſcheidende Merkmal 
zwiſchen den ſchwachen und ſtarken Mitteln be— 
ſtand im weſentlichen darin, daß in den letzteren 
jedesmal der Böſe herausgefordert und ihm die 
Nutzloſigkeit ſeiner Anſtrengungen entgegengehalten 
wurde. Alle dieſe Sprüche aber, ob ſchwach oder 
ſtark, wurden eben ſo ſehr im feſten Glauben an 
ihre innewohnende Kraft, wie mit der äußerſten 
Seelenruhe vorgetragen. Und da ſteckte die Schuld, 
oder doch das, was den Geſchwiſtern als Schuld 
erſchien. Dieſe Seelenruhe, die ſich neben dem 
Maß geforderter Theilnahme oft wie Theilnahm— 
loſigkeit ausnahm, reizte die jungen Gemüther 
und ſtellte ihre Geduld auf manche harte Probe. 
Berndt verſtand dies ſtille Chriſtenthum beſſer 
und hatte an ſich ſelbſt erfahren, daß der Troſt 


Hor dem Sturm. 245 


aus dem Worte Gottes mehr war, als der Wort- 
troſt der Menſchen. 

So war Tante Schorlemmer. — Das Scherzen 
über ihre vorgeblich freie Stellung zum dritten 
Gebot, hatte ſie einen Augenblick ernſtlich ver— 
droſſen; Lewin aber, ohne deſſen zu achten, fuhr 
in ſeinen Neckereien fort: „Unſere Freundin 
ſcheint übrigens keine Ahnung zu haben, welch' 
hoher Beſuch inzwiſchen vor dem Herrnhuter Ge— 
meindehauſe gehalten hat.“ 

„Wer?“ riefen die beiden Mädchen. 

„Niemand Geringeres als Napoleon ſelbſt. 
In der Nacht vom elften zum zwölften. Und 
die Herrnhuter haben wieder verſäumt, ſich heroiſch 
in die Weltgeſchichte einzuführen. Sie haben den 
Kaiſer angegafft, ſo weit es bei Nacht und Schnee— 
treiben möglich war, und haben ihn weiter fahren 
laſſen. Das macht, weil der herrnhutiſche Muth 
im Auslande lebt, in China, in Grönland, in 
Hohen-Vietz. Ueberall iſt er, nur nicht daheim. 
Tante Schorlemmer, deſſen bin ich gewiß, hätte 
ihn verhaften und als Weltfriedensbrecher vor 
Gericht ſtellen laſſen.“ 

Die Angeredete drohte mit einer ihrer großen 
Nadeln zu Lewin hinüber, dem es übrigens nahe 
bevorſtand, ſich aus dem Angriff in die Ber- 


246 Hor dem Sturm. 


theidigung gedrängt zu ſehen. Der „Empereur“ 
war nicht umſonſt eitirt worden; einmal in das 
Geſpräch hineingezogen, gleichviel ob im Ernſt 
oder Scherz, begann er ſeine Macht zu üben, 
und Lewin, wenigſtens momentan des neckiſchen 
Tones vergeſſend, begann ein Bild jener flucht— 
artigen Reiſe zu geben, die den zum erſten Mal 
von ſeinem Glück verlaſſenen Kaiſer in vierzehn- 
tägiger Fahrt von Smolensk bis in ſeine Haupt⸗ 
ſtadt zurückgeführt hatte. Er gab Altes und 
Neues, bei einzelnen Punkten länger verweilend, 
als vielleicht nöthig geweſen wäre. 

Tante Schorlemmer und Marie waren der 
Erzählung aufmerkſam gefolgt; Renate aber warf 
hin: „Vorzüglich und wie belehrend! Ein wahrer 
Generalbericht über ruſſiſch-deutſche Poſtſtationen. 
O, Ihr großſtädtiſchen Herren, wie ſeid Ihr doch 
ſo ſchlechte Erzähler, und je ſchlechter, je klüger 
Ihr ſeid. Immer Vortrag, nie Geplauder!“ 

„Sei's drum, Renate; ich will nicht wider— 
ſprechen. Aber wenn wir ſchlechte Erzähler ſind, 
ſo ſeid Ihr Frauen noch ſchlechtere Hörer. Ihr 
habt keine Geduld, und die Wahrnehmung davon 
verwirrt uns, läßt uns den Faden verlieren und 
führt uns, links und rechts tappend, in die Breite. 
Ihr wollt Guckkaſtenbilder: Brand von Moskau, 


Bor dem Sturm. 247 


Roſtopſchin, Kreml, Uebergang über die Bereſina, 
alles in drei Minuten. Die Erzählung, die Euch 
und Euer Intereſſe tragen ſoll, ſoll bequem wie 
eine gepolſterte Staatsbarke, aber doch auch 
handlich wie eine Nußſchale ſein. Ich weiß wohl, 
wo die Wurzel des Uebels ſteckt: der Zuſammen— 
hang iſt Euch gleichgiltig; Ihr ſeid Springer.“ 

Renate lachte. „Ja, das ſind wir; aber 
wenn wir zu viel ſpringen, ſo ſpringt Ihr zu 
wenig. Eure Gründlichkeit iſt beleidigend. Immer 
glaubt Ihr, daß wir in der Weltgeſchichte weit 
zurück ſeien, und wir wiſſen doch auch, daß der 
Kaiſer in Paris angekommen iſt. O, ich könnte 
Bulletins von Hohen-Vietz aus datiren. Aber 
laſſen wir unſere Fehde, Lewin. Was iſt es mit 
den rothen Scheiben im Schloßhof von Berlin? 
In der Zeitung war eine Andeutung; Kathinka 
ſchrieb ausführlicher davon.“ 

„Was ſchrieb ſie?“ 

„Wie Du nur biſt. Nun kümmert Dich 
wieder, was Kathinka ſchrieb. Daß ich ſo thöricht 
war, den Namen zu nennen.“ 

Lewin ſuchte ſeine flüchtige Verlegenheit zu 
verbergen. „Du irrſt, ich ſchweife nicht ab; mich 
hat das Phänomen lebhaft beſchäftigt. Es kam 
dreimal; am dritten Tage habe ich es geſehen.“ 


248 Nor dem Sturm. 


„Und was war es?“ 

„An allen drei Tagen, etwa eine halbe 
Stunde nach Sonnenuntergang, erglühten plötzlich 
die oberen Fenſter des alten Schloßhofes. Die 
Wachen meldeten es. Da die Sonne längſt unter 
war, jo dachte man an Feuer. Aber es fand id) 
nichts. Auf dem neuen Schloßhof blieben die 
Fenſter dunkel. Die Leute ſagen, es bedeute 
Krieg.“ 

„Ein leichtes Prophezeien,“ bemerkte Tante 
Schorlemmer ruhig. „Wir hatten Krieg in dieſem. 
Jahre und werden ihn mit in das neue hinüber 
nehmen.“ 

„Ich glaube,“ fuhr Lewin fort, „der ganze— 
Vorgang wäre ſchnell vergeſſen worden, wenn 
nicht eines unſerer Blätter, das Euch nicht zu 
Händen kommt, am zweitfolgenden Tage ſchon. 
eine Geſchichte gebracht hätte, die bei allem 
Dunklen erſichtlich darauf berechnet war, der Er— 
ſcheinung im Schloß eine tiefere Bedeutung zu. 
geben, ſo etwas wie Zeichen und Wunder.“ 

„O erzähle!“ 

„Ja. Aber Du darfſt nicht ungeduldig 
werden.“ 

„Biſt Du empfindlich?“ 

„Wohlan denn. Es iſt eine Geſchichte aus 


Bor dem Sturm. 249 


dem Schwediſchen. Die Ueberſchrift, die das 
Blatt ihr gab, war: „Karl XI. und die Er- 
ſcheinung im Reichsſaale zu Stockholm.“ Ich 
bürge nicht dafür, daß ich alles genau ſo wieder— 
gebe, wie's in dem Blatte ſtand, aber in den 
Hauptſtücken bin ich meiner Sache gewiß. Was 
man gern hat, behält man. „Gedächtniß iſt 
Liebe,“ ſagte Tubal noch geſtern, und ſelbſt 
Kathinka ſtimmte bei.“ 

Bei dem Namen Tubal kam das Erröthen 
an Renate. Lewin aber, als ob er es nicht be— 
merkt habe, fuhr fort: „Karl XI. war krank. 
Er lag ſchlaflos zu ſpäter Stunde in ſeinem 
Zimmer und ſah nach der anderen Seite des 
Schloßhofes hinüber, auf die Fenſter des Reichs- 
ſaales. Bei ihm war niemand als der Reichs— 
droſt Bjelke. Da ſchien es dem König, daß die 
Fenſter des Reichsſaales zu glühen anfingen und 
darauf hindeutend, fragte er den Reichsdroſten: 
„Was iſt das für ein Schein?“ Der Reichs— 
droſt antwortete: „Es iſt der Schein des Mondes, 
der gegen die Fenſter glitzert.“ In demſelben 
Augenblick trat der Reichsrath Oxenſtierna herein, 
um ſich nach dem Befinden des Königs zu er— 
kundigen, und der König, wieder auf die glühenden 
Scheiben deutend, fragte den Reichsrath: „Was 


250 Bor dem Sturm. 


iſt das für ein Schein? Ich glaube, das iſt 
Feuer.“ Auch der Reichsrath antwortete: „Nein, 
gottlob, das iſt es nicht; es iſt der Schein des 
Mondes, der gegen die Fenſter glitzert.“ Die 
Unruhe des Königs wuchs aber, und er ſagte 
zuletzt: „Gute Herren, da geht es nicht richtig 
zu; ich will hingehen und erfahren, was es fein 
kann.“ Sie gingen darauf einen Korridor ent— 
lang, der an den Zimmern Guſtav Erichſons 
vorüber führte, bis daß ſie vor der großen 
Thüre des Reichsſaales ſtanden. Der König 
forderte den Reichsdroſten auf, die Thür zu 
öffnen, und als dieſer bat, in dieſer Nacht die 
Thür geſchloſſen zu laſſen, nahm der König ſelbſt 
den Schlüſſel und öffnete. Als er den Fuß auf 
die Schwelle ſetzte, trat er haſtig zurück und 
ſagte: „Gute Herren, wollt Ihr mir folgen, ſo 
werden wir ſehen, wie es ſich hier verhält; 
vielleicht daß der gnädige Gott uns etwas offen— 
baren will.“ Sie antworteten: „Ja.“ 

Hier wurde Lewin unterbrochen. Jeetze 
trat ein, um eine Schale mit Obſt auf den 
Tiſch zu ſtellen, Erdbeeräpfel und Gravenſteiner, 
die in Hohen-Vietz vorzüglich gediehen. Tante 
Schorlemmer benutzte die Unterbrechung, um 
einige wirthſchaftliche Ordres zu geben, Renate 


Bor dem Sturm. 251 


aber bemerkte: Ich vermiſſe die Beziehungen; 
aber freilich, je geheimnißvoller, deſto anregender 
für die Phantaſie.“ 

Lewin nickte zuſtimmend. „Dieſer Eindruck 
wird ſich bei Dir ſteigern.“ Dann fuhr er fort: 
„Als König Karl und die beiden Räthe einge— 
treten waren, wurden ſie eines langen Tiſches 
gewahr, an dem eine Anzahl ehrwürdiger Männer 
ſaßen, in ihrer Mitte ein junger Fürſt; als 
ſolchen bezeichnete ihn der Thron, der mit 
Wappenſchildern und rothen Teppichen behangen, 
unmittelbar in ſeinem Rücken aufgerichtet war. 
Es war erſichtlich, man ſaß zu Gericht. Am 
unteren Ende des Tiſches ſtand ein Richtblock 
und um den Block her, in weitem Halbkreis, 
ſtanden Angeklagte, reich gekleidet, aber nicht in 
der Tracht, die damals in Schweden getragen 
wurde. Die zu Gericht ſitzenden Männer zeigten 
auf die Bücher, die ſie in Händen hielten; ſie 
wollten dem jungen Fürſten nicht zu Willen ſein, 
der aber ſchüttelte hochmüthig den Kopf und wies 
an das untere Ende des Tiſches, wo jetzt Haupt 
um Haupt fiel, bis das Blut längs des Fuß— 
bodens fortzuſtrömen begann. König Karl und 
ſeine Begleiter wandten ſich voll Entſetzen von 
dieſer Scene ab; als ſie wieder hinblickten, war 


252 Bor dem Sturm. 


der Thron zuſammengebrochen. Der König aber, 
indem er des Reichsdroſten Bjelke Hand ergriff, 
rief laut und bittend: „Welche iſt des Herren 
Stimme, die ich hören ſoll? Gott, wann ſoll das 
alles geſchehen?“ 

Und als er Gott zum dritten Male ange— 
rufen hatte, klang ihm die Antwort: „Nicht ſoll 
dies geſchehen in Deiner Zeit, wohl aber in der 
Zeit des ſechſten Herrſchers nach Dir. Es wird 
ein Blutbad ſein, wie nie dergleichen im ſchwe— 
diſchen Lande geweſen. Dann aber wird ein 
großer König kommen, und mit ihm Frieden und 
eine neue Zeit.“ Und als dies geſprochen war, 
verſchwand die Erſcheinung. König Karl hielt 
ſich mühſam. Dann, über denſelben Korridor, 
kehrte er in ſein Schlafgemach zurück. Die beiden 
Räthe folgten.“ 
| Lewin ſchwieg. Im Wohnzimmer war es 

ſtill geworden; der Fächer ruhte, ſelbſt die 
Stricknadeln ruhten; jeder blickte vor ſich hin. 
Nach einer Pauſe fragte Renate: „Wer war der 
ſechſte Herrſcher in Schweden?“ 

„Guſtav IV.; ſein Thron iſt zuſammenge— 
brochen.“ 

„So hältſt Du das Ganze für echt und 
ehrlich, für eine wirkliche Viſion?“ 


Nor dem Sturm. 253 


„Ich ſage nicht ja und nicht nein. Das 
Schriftſtück, das über dieſen Hergang berichtet, 
liegt im Stockholmer Archiv. Es iſt von des 
Königs Hand in ſelbiger Nacht geſchrieben; 
ſeine beiden Begleiter haben es mit unter- 
zeichnet. Die Handſchriften ſind beglaubigt. 
Ich habe weder das Recht noch den Muth, 
ſolchen Erſcheinungen die Möglichkeit abzuſprechen. 
Laß mich ſagen, Renate, wir haben nicht das 
Recht.“ 

Lewin betonte das „wir“. Dann aber 
wandte er ſich, einen ſcherzhaften Ton wieder 
aufnehmend, an Tante Schorlemmer und Marie, 
und drang in fie, ihren Glauben oder Un— 
glauben ſolchen Erſcheinungen gegenüber auszu— 
ſprechen. f 

Marie ſtand auf. Jeder ſah erſt jetzt, 
welchen tiefen Eindruck die Erzählung auf ſie 
gemacht. Sie drückte die Tannenzweige, die 
ſie mittlerweile, ohne zu wiſſen warum, zerpflückt 
hatte, zu einem Knäuel zuſammen, und warf 
alles in die halb niedergebrannte Glut. Der 
raſch aufflackernden Flamme folgte eine Rauch— 
wolke, in der ſie nun, einen Augenblick lang, 
ſelbſt wie eine Erſcheinung ſtand, nur die Um⸗ 
riſſe ſichtbar und die rothen Bänder, die ihr 


254 Bor dem Sturm. 


über Haar und Nacken fielen. Es bedurfte 
ihrerſeits keines weiteren Bekenntniſſes; ſie ſelber 
war die Antwort auf die Frage Lewins. 

Tante Schorlemmer aber, die Stricknadeln 
wieder aufnehmend, ſchüttelte unmuthig den Kopf, 
und citirte dann, als ob fie ein Geſpenſter be— 
ſchwörendes Vaterunſer vor ſich hinbete, mit 
raſcher und deutlicher Stimme: 

Unter Gottes Schirmen 
Bin ich vor den Stürmen 
Alles Böſen frei. 

Laß den Satan wittern, 
Laß den Feind erbittern, 
Mir ſteht Jeſus bei. 


VII. 
Im Kruge, 


Dorf Hohen-Vietz (es hatte auch „ausgebaute 
Looſe“) beſchränkte ſich in ſeinem Innentheil auf 
eine einzige langgeſtreckte Straße, die, dem Fuße 
des Hügels folgend, nach Norden hin mit dem 
Vitzewitziſchen Rittergute, nach Süden hin mit 
einem großen Mühlengehöft abſchloß. 

Das Rittergut, ſoweit ſeine Baulichkeiten 
in Betracht kommen, beſtand aus zwei hufeiſen— 
förmigen Hälften, von denen die eine ſich aus 


Hor dem Sturm. 255 


den drei Flügeln des Herrenhauſes, die andere 
aus Ställen und Scheunen des gutsherrlichen 
Gehöftes zuſammenſetzte. Die offenen Seiten 
beider Hufeiſen waren einander zugekehrt, zwiſchen 
beiden lief ein zugleich als Auffahrt dienender 
Steindamm, der in ſeiner Verlängerung hügel— 
anſteigend in die mehrgenannte Nußbaumallee 
überging. 

Freundlicher noch als das Rittergut lag die 
Mühle, die eine Oel- und Schneidemühle war. 
Ein Waſſer, das mit ſtarkem Gefälle am Dorf 
vorüberfloß, trieb beide Werke. Jetzt war der 
Bach gefroren. Schuee und Eis aber, die in 
phantaſtiſchen Formen an den großen Trieb— 
rädern hingen, ſteigerten, wenn nicht den 
idylliſchen, ſo doch den maleriſchen Reiz des 
weitſchichtigen, aus Häuſern, Schuppen und 
Lagerräumen bunt zuſammengewürfelten Ge— 
höftes. 

Rittergut und Mühle die Flügelpunkte; da⸗ 
zwiſchen die Straße, die ihre dreißig Häuſer oder 
mehr, ziemlich unregelmäßig auf beide Seiten 
vertheilt hatte. Die linke Seite, die öſtliche, war 
die bevorzugte. Hier lagen die Pfarre, die 
Schule, der Schulzenhof, während die rechte Seite, 
die faſt ausſchließlich von Büdnern und Tage— 


256 Hor dem Sturm. 


löhnern bewohnt wurde, nur ein einziges ſtatt— 
liches Gebäude aufwies: den Krug. 

In dieſen treten wir jetzt ein. Er hatte 
nicht das Anſehen wie ſonſt wohl Dorfkrüge, da— 
zu fehlte ihm der auf Holzſäulen ruhende, jedem 
vorfahrenden Wagen als Wetterdach dienende 
Giebelbau, vielmehr ſprang eine doppelarmige, 
aus Backſteinen aufgemauerte Treppe vor, die 
faſt ein Dritttheil der unteren Hausfront aus— 
füllte. Auch das Geländer war von Stein. 
Dieſer äußeren Erſcheinung, die mehr ſtädtiſches 
als dörfiſches hatte, paßte ſich auch die innere 
Einrichtung an. Von den zwei Gaſtzimmern, 
die durch den flieſenbedeckten Flur getrennt waren, 
zeigte das eine mit ſeinen blankgeſcheuerten 
Tiſchen und hochlehnigen Schemelſtühlen, in die 
ein Herz geſchnitten war, allerdings noch den 
Krugcharakter, das andere aber mit Mullgardinen 
und eingerahmten Kupferſtichen, darunter Schill 
und der Erzherzog Karl, glich faſt in allem einer 
Bürgerreſſourcenſtube und hatte ſogar einen Leſe— 
tiſch, auf dem, neben dem Lebuſer Amtsblatt, 
der Beobachter an der Spree und die Berliniſchen 
Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen 
ausgebreitet lagen. Alles verrieth Behagen und 
Wohlhabenheit, und durfte es auch, denn über 


Taten 


Vor dem Sturm. 257 


beides verfügten die Hohen-Vietzer Bauern, die 
hier ihr Solo ſpielten, in ausgiebigſter Weiſe. 
Ihre Hörigkeit, wenn ſie je vorhanden geweſen 
war, hatte in dieſen Gegenden, wo dem herren— 
loſen Bruch- und Sumpflande immer neue 
Strecken fruchtbaren Ackers abgewonnen wurden, 
ſeit lange glücklicheren Verhältniſſen Platz ge— 
macht, und Berndt von Vitzewitz, weil er ſelbſt 
frei fühlte, freute ſich nicht nur dieſer wachſenden 
Selbſtändigkeit, ſondern kam ihr überall entgegen. 
Ein Ereigniß aus ſeinen jüngeren Jahren her hatte 
dazu beigetragen. Kurz vor dem zweiundneunziger 
Feldzug, als er — noch von ſeiner Garniſon 


aus — einen Beſuch in der Salzwedler Gegend 


machte, hatte ein Schloß-Tylſener Kneſebeck, ein 
ehemaliger Regimentskamerad, ihn vom Schloß 
aus ins Dorf geführt und dabei die Worte zu 
ihm geſprochen: „Seht Vitzewitz, hier werdet Ihr 
etwas kennen lernen, was Ihr Euer Lebtag noch 
nicht geſehen habt: freie Bauern.“ Und dieſe 
Worte, dazu die Bauern ſelbſt, hatten eines 
tiefen Eindrucks auf ihn nicht verfehlt. Das lag 
nun zwanzig Jahre zurück, war aber unvergeſſen 
geblieben und den Hohen-Vietzern mehr als ein- 
mal zu Gute gekommen. 


Auch heute, am Weihnachtstage 1812, hatten 
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 119 


258 Bor dem Sturm. 


ſich einige bäuerliche Honoratioren, alles Männer 
von Mitte fünfzig und darüber, in der Gaſt— 
ſtube verſammelt. Es waren ihrer vier: Ganz⸗ 
bauer Kümmeritz, Anderthalbbauer Kallies, Ganz— 
bauer Reetzke und Ganzbauer Krull, lauter echte 
Hohen⸗Vietzer, die ſeit unvordenklichen Zeiten an 
dieſer Stelle ſeſſig, mit den Vitzewitzen das alte 
Höhendorf bewohnt und verlaſſen, dazu auch ge— 
meinſchaftlich mit ihnen die guten und ſchlechten 
Zeiten durchgemacht hatten. Alle waren feſt⸗ 
täglich gekleidet, trugen lange dunkelfarbige Röcke, 
und ſaßen, mit Ausnahme eines von ihnen, grade 
aufrecht in den breiten gartenſtuhlartigen Holz— 
ſeſſeln, die zu acht oder zehn um einen großen 
rothbraun geſtrichenen Rundtiſch herum ſtanden. 

Als fünfter hatte ſich ihnen der Wirth ſelber, 
der Krüger Scharwenka, zugeſellt, der durch Erb— 
ſchaft von Frauensſeite her ein Doppelbauer und 
überhaupt der reichſte Mann im Dorfe war, nichts 
deſtoweniger aber, trotz ſeiner ſechshundert Morgen 
Bruchacker unterm Pflug, nicht für voll und eben⸗ 
bürtig angeſehen wurde. Das hatte zwei gute 
Bauerngründe. Der eine lief darauf hinaus, daß 
erſt ſein Großvater, bei Urbarmachung des Oder— 
bruchs, mit andern böhmiſchen Koloniſten ins 
Dorf gekommen war; der andere wog ſchwerer 


Bor dem Sturm. | 259 


und gipfelte darin, daß er, allem Abmahnen zum 
Trotz, von dem wenig angeſehenen Geſchäft des 
„Krügerns“ nicht laſſen wollte. Scharwenka, ſo 
oft dieſer heikle Punkt zur Sprache kam, pflegte 
ſich auf ſeinen Großvater ſelig zu berufen, der 
ihm von Kindesbeinen an beigebracht habe: 
Dukaten ſeien nie deſpektirlich. Der eigentliche 
Grund aber, warum er den Bierſchank und das 
„Knechte bedienen“ nicht aufgeben wollte, lag 
keineswegs bei den Dukaten. Es war dem 
reichen Doppelbauer viel weniger um den hübſchen 
Krugverdienſt, als um die tagtägliche Berührung 
mit immer neuen Menſchen zu thun; das Plau⸗ 
dern, vor allem das Horchen, das Beſcheidwiſſen 
in anderer Leute Taſchen, das war es, was ihn 
bei der Gaſtwirthſchaft feſthielt. Er ſetzte ſeinen 
Stolz darin, die Nachricht von einer bäuerlichen 
durch die Verhältniſſe nothwendig gewordenen 
Mesalliance vierundzwanzig Stunden früher zu 
haben als jeder andere. Subhaſtationen konnte 
er voraus berechnen wie die Kalendermacher das 
Wetter; ſeine eigentliche Spezialität aber waren 
die der Feuerlegung verdächtigen Windmüller. 
Die Liſte, die er darüber führte, umfaßte ſo 
ziemlich das ganze Gewerk. 


So Krüger Scharwenka. 
119* 


260 Hor dem Sturm. 


Seinen Platz hatte er gerade der Thüre 
gegenüber genommen, um jeden Eintretenden 
ſehen und begrüßen zu können. Unmittelbar neben 
ihm ſaßen Reetzke und Krull, die ſchon ſeit einer 
Stunde rauchten und ſchwiegen, ganz im Gegen— 
ſatz zu Kümmeritz und Kallies, die beide von den 
Geſprächigen waren. Auch von ihnen ein Wort. 

Ganzbauer Kümmeritz trotz ſeiner Fünfzig, 
hatte durchaus die Haltung und das Anſehen 
eines alten Soldaten. Und beides kam ihm zu. 
Er war erſt Grenadier, dann Gefreiter im Re— 
giment Möllendorf geweſen, hatte die Rhein— 
campagne mitgemacht und zweimal die Weißen⸗ 
burger Linien mit erſtiegen. War dann bei 
Kaiſerslautern verwundet worden und hatte den 
Abſchied genommen. Er vertrat in dieſem Kreiſe, 
neben dem Schulzen Kniehaſe, der heute zufällig 
ausgeblieben war, die Traditionen der preußiſchen 
Armee, kontrolirte den Kaiſer Napoleon, malte 
ſeine Schlachten auf den Tiſch, und hielt die 
Anſicht aufrecht, daß Jena, „wo wir den Sieg 
ja ſchon in Händen hatten“, nur durch einen 
Schabernack verloren gegangen ſei. 

Das volle Gegentheil von Kümmeritz war 
Anderthalbbauer Kallies, ein ſchmalſchultriger, 
langaufgeſchoſſener Mann. Geiſtig regſam, aber 


Bor dem Sturm. 261 


ſchwach und widerſtandslos von Charakter, mußte 
er es ſich gefallen laſſen, geneckt und gehänſelt 
zu werden, wozu ſchon, alles andere unerwogen, 
ſein Beiname herauszufordern ſchien. Er war 
nämlich, als er kaum laufen konnte, in eine große 
Rahmbutte oder Sahnenſchüſſe gefallen und hieß 
ſeitdem in ſehr bezeichnender Weiſe „Sahnepott“. 
Denn es war ihm ſein Lebelang etwas Milchernes 
geblieben. 

Alle fünf dampften jetzt aus langen hollän- 
diſchen Pfeifen; neben jedem lag Zündſpan. 
Kallies hatte das Wort. Aus allem ging her— 
vor, daß eben ein anderer Gaſt, ein Reiſender, 
ein Kaufmann wie es ſchien, das Zimmer ver- 
laſſen haben mußte. | 

„Immer wenn ich ihn jo Stehen ſehe,“ jagte 
Kallies mit Wichtigkeit, „fällt mir ſein Vater, 
der alte Tiegel-Schultze ein; der ſtand auch 
immer ſo da, mit beiden Händen in die Hoſen— 
taſchen, und war auch ſo ein ſchnackſcher Kerl, 
und ſah aus, als hätt' er den Gottſeibeiuns beim 
Dreikart betrogen. Scharwenka, Du mußt ja 
den alten Tiegel⸗Schultze auch noch gekannt haben.“ 

Scharwenka nickte; Kümmeritz aber, der eben 
eine neugeſtopfte Pfeife anrauchte, ſprach in kurzen 
Pauſen vor ſich hin: „Tiegel-Schultze? Soll mich 


262 Bor dem Sturm. 


das Wetter, wenn ich den Namen all' mein Leb⸗ 
tag gehört habe. Und bin doch auch ein Hohen- 
Vietzer Kind.“ 

„Das war, als Du bei den Soldaten warſt, 
Kümmeritz. So um die achtziger Jahre. Nach⸗ 
her war Tiegel⸗Schultze todt, wenn er überhaupt 
geſtorben iſt.“ 

Kümmeritz, der wenigſtens einen Theil ſeines 
wendiſchen Aberglaubens bei den Soldaten ge— 
laſſen hatte, ſchmunzelte vor ſich hin und ſagte 
dann: Sahnepott, keine Dummheiten. Immer 
raiſonnabel. Wer todt iſt, iſt todt. Spuken kann 
er; aber fterben muß er. Warum hieß er Tiegel⸗ 
Schultze?“ 

„Er hieß Schultze. Aber alle Welt nannt' 
ihn Tiegel⸗Schultze. Ich bin oft bei ihm geweſen, 
wenn ich ihm den Rübſen brachte. Immer baar 
Geld. Die Schwedter ſagten: „Der hat gut be— 
zahlen.“ Er ſtand dann hinterm Tiſch, immer 
die Hände in den Hoſen, und ſah einen ſo ver— 
flirt an, daß man ganz irre wurde. Aber nie 
kein Handel. Scharwenka, das mußt Du ja 
wiſſen.“ 

Scharwenka nickte wieder. Sahnepott fuhr 
fort: „Die Comptoirſtube ſah aus wie ein Ge— 
fängniß, hoch, weiß, und Eiſenſtangen am Fenſter. 


Bor dem Sturm. 263 


Nichts war drin als drei Wandbretter, und auf 
den Brettern ſtanden viele hundert Tiegel, große 
und kleine, irdene und thönerne, darum hieß er 
Tiegel⸗Schultze. Ein paar ſahen ſchwarz aus und 
waren aus Kohle geſchnitten.“ 

„War er denn ein Schmelzer, ein Gold— 
macher?“ 

„Das war er, und für den Schwedter Mark— 
grafen hat er manchen blanken Klumpen aus⸗ 
geſchmolzen. Als aber der Markgraf dachte, er 
könnt' es nun ſelber und hätte Schultzen alles 
abgeſehen, da wollt' er ihn bei Seite ſchaffen, 
lud ihn auf's Schloß, ſuchte Streit mit ihm und 
feuerte die beiden Läufe ſeines Suhler Doppel⸗ 
gewehrs auf ihn ab, die mit zwei goldenen Zwickeln 
geladen waren. Es waren ſolche, wie die pohl- 
ſchen Edelleute an ihren Röcken tragen. Tiegel- 
Schultze aber lachte, fing die beiden Zwickel mit 
ſeiner Linken auf, denn er war ein Linkepoot, 
zeigte ſie dem Markgrafen und ſagte: „Die trag' 
ich nun zum Andenken an meinen gnädigen 
Herrn.“ 

Es war erſichtlich, daß Kallies, der jetzt 
volles Fahrwaſſer unterm Kiel hatte, den Zeit⸗ 
punkt für gekommen hielt, ſich über das Geſchlecht 
der Tiegel⸗Schultzen, über Raps, Goldmachen und 


264 Vor dem Sturm. 


die Undankbarkeit des Schwedter Markgrafen des 
weiteren verbreiten zu dürfen. Aber ehe es ge— 
ſchehen konnte, trat ein neuer Gaſt ein, der nun 
der Unterhaltung eine andere Wendung gab. 
Der Neueintretende war der Müller Miekley, 
dem die Oel- und Schneidemühle am Südende des 
Dorfes zugehörte. Er war unter Mittelſtatur, 
trug einen hellgrauen Rock und hatte in ſeinem 
Geſicht jenen eigenthümlichen Ausdruck, den man 
bei faſt allen Landleuten findet, die innerhalb der 
religiöſen Kontroverſe ſtehen, Sektirer ſind oder 
es werden wollen. Wo geiſtige Arbeit von Jugend 
auf ihre Züge in das Antlitz ſchreibt, da iſt der 
Sektirerzug nur ein Zug unter anderen Zügen, 
einer unter vielen, in deren Geſammtheit er wie 
verloren gehen oder doch überſehen werden kann; 
bei Landleuten aber tritt er ganz unverkennbar 
hervor, und um ſo mehr, je weniger er die Herr— 
ſchaft zu theilen hat. Dieſer Sektirerzug, in dem 
ſich Sinnlichkeit und Entſagung, Hochmuth und 
Demuth miſchen, lag auch in Müller Miekley 
ausgeſprochen, der im übrigen ein gewiſſenhafter 
Mann war, auf Hausehre hielt und ſich der be— 
ſonderen Protektion Tante Schorlemmers zu er— 
freuen hatte. Es konnte dies geſchehen, ohne 
nach irgend einer Seite hin Anſtoß zu geben, da 


— 


Bor dem Sturm. 265 


Miekley nicht eigentlich aus der Landeskirche aus— 
getreten war, vielmehr regelmäßig die Predigten 
Seidentopfs hörte und nur alle Vierteljahr ein⸗ 
mal aus dem „tieferen Quell“ des Kandidaten 
Uhlenhorſt ſchöpfte, wenn dieſer, das Bruch und 
die Neumark bereiſend, in Hohen-Sathen alle 
Konventikler von dieſſeits und jenſeits der Oder 
um ſich verſammelte. Das war denn freilich ein 
Feſt⸗ und Ehrentag. Alles ruhte, das beſte Ge— 
ſpann kam aus dem Stall, und wenn die Wege 
grundlos geweſen wären, unſer altlutheriſcher 
Müller hätte ſich's zur ewigen Sünde gerechnet, 
das Manna verſäumt zu haben. 

Miekley ſetzte ſich links neben Kümmeritz. 


Dieſer, wohl wiſſend, daß jetzt ein geiſtlicher 


Diskurs unvermeidlich geworden ſei, kam ihm 
zuvor und fragte: „Nun, Miekley, wie hat Euch 
heute die Predigt gefallen?“ 

„Gut, Kümmeritz, von Herzen gut, trotzdem 
er nichts davon geſagt hat, daß uns an dieſem 
Tage zu Bethlehem im judäiſchen Lande das Heil 
geboren wurde. Noch weniger hat er von dem 
„eingeborenen Sohne Gottes“ geſprochen. Uhlen— 
horſt würde den Kopf geſchüttelt haben. Aber 
er hat geſprochen wie ein braver Mann. Ich 
kenn' ihn wohl, er hat ein preußiſches Herz.“ 


266 Bor dem Sturm. 


„Und ein chriſtliches dazu,“ riefen die an⸗ 
deren alle wie aus einem Munde. 

„Er zetert nicht,“ nahm Kallies das Wort, 
„er verdammt nicht; er iſt kein Phariſäer. Er 
hat die Demuth, Miekley, und das iſt die Haupt⸗ 
ſache.“ 

„Sahnepott hat recht,“ bekräftigte Kümmeritz. 
„Da iſt kein zweiter hier herum, der ſich mit 
unſerm Seidentopf meſſen könnte. Er hat nur 
einen Fehler, er iſt zu gut und zu leichtgläubig, 
und ſieht alles wie er es wünſcht. Ueber der 
Aegypter Heer, ſo ſagte er, ſeien die großen 
Waſſer zuſammen geſchlagen, aber König Pharao 
ſitzt wieder in ſeiner Hauptſtadt und ſpinnt die 
alten Fäden. Noch ſind wir im Bündniß mit 
ihm, und der Himmel mag wiſſen, ob wir gnädig 
von ihm los kommen. Geb' uns Gott einen 

ehrlichen Krieg.“ 

| „Den wirſt Du haben, Kümmeritz,“ warf 
hier Miekley ein, der ſich trotz ſeines Luther— 
thums einen ſtarken Glauben an Spuf- und 
Geſpenſtergeſchichten bewahrt hatte, „den wirſt 
Du haben und wir alle mit Dir. Die Alt⸗ 
Landsberger Mäher haben wieder gemäht, und 
jeder von Euch weiß, was das bedeutet. Sie 
haben ſieben Tage gemäht, ehe der alte Fritz in 


Bor dem Sturm. 267 


den Krieg zog, und die Stoppeln waren damals 
ſo roth, als ob es Blut geregnet hätte. In 
dieſem November haben ſie wieder gemäht auf 
kahlem Felde.“ 

„Und von Sonnenuntergang her,“ rief 
Scharwenka dazwiſchen, „das will ſagen, daß der 
Feind von Weſten kommt. Wir werden die 
Franzoſen wieder im Lande haben, neues, 
friſches Volk, mit all ſeinen alten Kniffen und 
Pfiffen, und wer eine Tochter im Hauſe hat, der 
mag ſich vorſehen. Sie haben eine freche Art 
und die Weiber laufen ihnen nach.“ 

„Das ſollen ſie nicht,“ verſicherte Miekley, 
„und wo ſie's thun, da falle die Schande auf 
uns. Wo böſe Luſt über Nacht in die Halme 
ſchießt, da lag von Anfang an eine ſchlechte 
Saat in den Herzen; wo aber Zucht iſt und 
Sitte und Gebet, da hat der Böſe keine Macht, 
auch wenn er ſich in einen ſchlechten Franzoſen 
verkleidet.“ 

Alle nickten zuſtimmend. „Aber,“ fuhr Müller 
Miekley fort, „ſie ſind doch ein Greuel, nicht weil 
ſie leichtfertig ſind, nein weil ſie ein unheiliges 
Volk ſind. Sie haben ſich vermeſſen, den ewigen 
Gott des Himmels und der Erde von Thron 
und Herrſchaft abzuſetzen, und beinahe ſchlimmer 


268 Bor dem Sturm. 


noch, ſie haben ſich vermeſſen, ihn wieder ein— 
zuſetzen. Nun haben ſie wieder einen Gott, aber 
er iſt auch danach; es tft kein rechter Chriſten— 
gott, es iſt blos ein franzöſiſcher Gott, ein ab— 
und eingeſetzter. Sie kennen nur den Götzen— 
dienſt ihres Kaiſers, aber keinen Gottesdienſt, 
und ſo oft ich all' die Jahre über einen Franzoſen 
in unſeren Kirchen geſehen habe, ſo war es nur, 
um Unheil anzurichten.“ 

„Sie haben die Franſen von der Altardecke 
getrennt; ſie haben die goldenen Stickereien aus⸗ 
geſchnitten; ſie haben die Leuchter eingeſchmolzen,“ 
riefen mehrere dazwiſchen. 

„O, Sie haben Schlimmeres gethan, nicht 
hier, aber in unſerer Nachbarſchaft. Den Görls— 
dorfer Paſtor, der das Kirchengut verſteckt hatte, 
haben ſie bis unter die Achſelhöhlen eingegraben 
und ſind erſt in ſich gegangen, als er ſie bat, 
ihn todt zu ſchlagen, anſtatt ihn zu martern. In 
Hohen⸗Finow haben ſie den Abendmahlswein ge— 
trunken und ſchlechte Lieder geſungen; dann haben 
ſie den Altartiſch aus der Kirche auf den Kirchhof 
getragen, haben ihre Teufelsknöchel in den Abend— 
mahlskelch gethan und haben gewürfelt. In die 
Gruft ſind ſie hinabgeſtiegen und haben der jung— 
verſtorbenen Frau die ſeidenen Kleider abgeriſſen.“ 


\ Bor dem Sturm. 269 


„Das haben ſie gethan,“ fiel jetzt Sahnepott 
mit Wichtigkeit ein, der wie alle ſchwachen 
Naturen eine Neigung zum Uebertrumpfen hatte, 
„aber in Haſelberg haben ſie es büßen müſſen, 
wenigſtens einer. Die Haſelberger Gruft iſt, 
was ſie eine Mumiengruft nennen, es ſoll ihrer 
mehrere auf dem Hohen-Barnim geben. Die 
Franzoſen nun, als ſie die Särge aufbrachen, 
da ſahen ſie, daß die Todten unverweſt waren. 
Das gab ein Lachen. Da trugen ſie den einen 
Sarg aus der Gruft in die Kirche, nahmen den 
Todten heraus, und da ſeine Arme beweglich 
waren, beſchloſſen ſie ihn zu kreuzigen. Sie 


ſtellten ihn an die Altarwand und ſchlugen zwei 


Nägel durch ſeine Hände. Die eine Hand aber 


löſte ſich wieder ab und gab im Niederfallen dem 


einen der Miſſethäter einen Backenſtreich. Das 

entſetzte ihn, daß er todt zu Boden ſtürzte.“ 
„Den hat Gott gerichtet,“ rief Miekley. 

„Und ſolch Schlag wird ſie alle treffen, und 


müßten die Todten auferſtehen.“ 


„Ehe aber Gott ſeine Wunder thut,“ jo 
ſchloß Kümmeritz das Geſpräch, „ſollen wir uns 
ſeiner Wunder würdig machen. Nicht wahr, 
Miekley? Wir ſollen die Hände nicht in den 
Schoß legen. Die Alt-Landsberger Mäher haben 


270 Bor dem Sturm. 


gemäht; wenn der König ruft, wer von uns noch 
Kraft hat zu mähen, der mähe mit. Ich bin's 
entſchloſſen. Das letzte für Preußen und den 
König.“ 

Die Bauern ſtanden auf und gingen nach 
entgegengeſetzten Richtungen hin die Dorfgaſſe 
entlang. Nach Norden hin glühte ein rother 
Schein am Himmel auf. 

„Iſt das Feuer?“ fragte Krull. 

„Nein,“ ſagte Miekley, „es iſt ein Nord— 
licht, der Himmel gibt ſeine Zeichen.“ 


VIII. 
Hoppenmarieken. 


Hoppenmarieken wohnte auf dem „Forſtacker“, 
an deſſen Rande ſich ſeit hundert Jahren und 
länger eine aus bloßen Lehmkathen beſtehende 
Straße gebildet hatte. Dieſe Straße, von den 
Hohen-Vietzern immer als etwas Fremdes ange— 
ſehen, ſtand rechtwinklich zu dem eigentlichen Dorf, 
nahm hundert Schritt hinter dem Mühlengehöft 
ihren Anfang und ſtieg hügelan, in Parallellinie 
mit der mehr erwähnten, die Auffahrt zum 
Herrenhauſe fortſetzenden Nußbaumallee. Es 
war das Armenviertel von Hohen-⸗Vietz, zugleich 


Bor dem Sturm. 371 


die Unterkunftsſtätte für alle Verkommenen und 
Ausgeſtoßenen, eine Art ſtabil gewordenes 
Zigeunerlager, das Abgang und Zuzug erfuhr, 
ohne daß ſich die Dorfobrigkeit im Einzelnen 
darum gekümmert hätte. Der „Forſtacker war 
immer ſo.“ So ließ man es gehen, und griff 
nur ein, wenn grober Unfug eine Beſtrafung 
durchaus erforderte. 

Wie der moraliſche Stand des Forſtackers, 
ſo war auch ſeine Erſcheinung. Die Hütten 
ſeiner Bewohner unterſchieden ſich von den in 
Front und Rücken derſelben ſtehenden Kofen in 
nichts als in dem Herdrauch, der aus ihren 
Dächern aufwirbelte. Der Schnee, der jetzt alles 
überdeckte, ſtellte vollends eine Gleichheit her. 

In der letzten, ſchon auf halber Höhe des 
Hügels gelegenen Lehmkathe, wohnte, womit wir 
unſer Kapitel begannen, Hoppenmarieken. Die 
Kofen fehlten; ſtatt deſſen faßte ein Heckenzaun 
das Häuschen ein, welches letztere nach vorn hin 
eine Thür und ein Fenſter, ſonſt aber nirgends 
einen Eingang oder eine Lichtöffnung hatte. Ein 
Würfel mit blos zwei Augen. Das Innere be⸗ 
ſtand aus wenig Räumen. Der Flur, der nach 
hinten zu zugleich die Kochgelegenheit hatte, war 
eben ſo ſchmal wie tief, dazu völlig dunkel; in 


272 Vor dem Slurm. 


Sommerszeit aber erhielt er Licht durch die 
offen ſtehende Thür, während im Winter das auf 
dem Herd brennende Feuer aushelfen mußte. 
Neben dem Flur lag die Stube; hinter dieſer 
der Alkoven. 
So war Hoppenmariekens Haus. Wer aber 
war Hoppenmarieken? 
N Hoppenmarieken war eine Zwergin. Wo 


ſie eigentlich herſtammte, wußte niemand mit 
Beſtimmtheit zu ſagen. Die älteren Hohen— 
Vietzer erzählten, daß ſie vor etwa dreißig Jahren 
ins Dorf gekommen und als eine halbe Land— 
ſtreicherin, wie manche andere vor ihr und nach 
ihr, mit wenig günſtigen Augen angeſehen wor— 
den ſei.] Der damals lebende Gutsherr aber, 
Berndt von Vitzewitz's Vater, habe Mitleid mit 
ihr gehabt und die entgegenſtehenden Bedenken 
mit der halb ſcherzhaften Bemerkung niederge— 
| lagen: „Dafür haben wir den Forſtacker.“ 
| Sen damals, ſo hieß es, habe ſie ſo ausge— 
ſehen wie jetzt, ebenſo alt, ebenſo häßlich, habe 
dieſelben hohen Waſſerſtiefel, daſſelbe Kopftuch 
getragen, und ſei, damals wie heute, ſchon auf 
weithin kennbar geweſen durch den rothen Fries— 
rock, die Kiepe auf ihrem Rücken und den manns— 


hohen, krummſtabartigen Stock in ene 


A e 


N ² . ea 


Hor dem Sturm. | 273 


Hoppenmarieken, ſo viel ſtand feſt, hatte ſich 
ſeitdem auf dem Forſtacker eingebürgert, und 
war in der ganzen Südhälfte des Oderbruchs 
die allergekannteſte Perſon. Dafür ſorgte neben 
ihrer Erſcheinung auch ihr Geſchäft. Sie hatte 
deren mehere. Zunächſt war ſie Botenläuferin. 
Dreimal die Woche, wie immer auch Weg und 


Wetter ſein mochte, brach ſie, je nach dem Poſten— 


gange, früh morgens oder ſpät abends auf, em— 
pfing Briefe, Zeitungen, Pakete und kehrte zwölf 
Stunden ſpäter, es ſei von Frankfurt oder von 
Küſtrin, nach Hohen-Vietz zurück. Und dieſer 
Botendienſt, wie er ſie überall bekannt gemacht 


hatte, machte ſich ſchließlich, trotz allem was dann 


und wann gegen ſie laut wurde, auch wohlgelitten. 
Jedes freute ſich, Hoppenmarieken über den Hof 
kommen und durch eine eigenthümliche Bewegung 
ihres Stockes, die etwas Tambourmajorhaftes 
hatte, angedeutet zu ſehen: „Ich bringe Neuig- 
keiten.“ Alle Landpoſten ſind wohlgelitten. 
Dieſe Botendienſte bildeten aber nur die 
Baſis ihrer Exiſtenz; wichtiger für ſie oder doch 
wenigſtens einträglicher war das Kommiſſions— 
geſchäft, das ſie nebenbei betrieb. Der Eier— 
handel aller Dörfer anderthalb Meilen um Hohen- 


Vietz herum lag eigentlich in ihrer Hand, wobei 
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 120 


24 Bor dem Sturm. 


ſie ſich doppelter Proviſionen zu verſichern wußte. 
Dies ermöglichte ſich dadurch, daß das ganze 
Geſchäft auf Tauſch beruhte. Eine Bauerfrau 
in Zechin oder Wuſchewier, die ſich ein neues 
Kopftuch wünſchte, ſetzte ſich, wenn Hoppen⸗ 
marieken des Weges kam, mit dieſer in Ver⸗ 
bindung, packte ihr einen bereit gehaltenen Hahn 
ſammt ein paar Stiegen Eier in die Kiepe und 
überließ es nun ebenſo ihrem Genius wie ihrer 
Diskretion, das Kopftuch zu beſchaffen. Es kam 
vor, daß in dieſem oder jenem Artikel Hoppen⸗ 
marieken den ganzen Markt beſtimmte. Man 
ſah in dieſen Vortheilen, die ihr zufielen, einen 
ehrlichen Verdienſt, und hatte recht darin. Aber 
nicht all ihr Verdienſt war ſo ehrlicher Natur. 
Auf dem Forſtacker wohnten Leute, die, ſelbſt 
übel beleumdet, ihr böſe Dinge nachſagten. Aber 
auch im Dorfe ſelbſt wußte man davon zu er- 
zählen. Die liederlichen Dirnen ſchlichen ſich 
abends in ihr Haus; ſie wahrſagte, ſie legte 
Karten. Sonntags war ſie immer in der Kirche 
und ſang mit ihrer rauhen Stimme die Geſang— 
buchlieder mit, von denen ſie die bekannteſten 
auswendig wußte; aber niemand glaubte, daß 
ſie eine ehrliche Chriſtin ſei. Man hielt ſie für 
einen Miſchling von Zwerg und Hexe. Selbſt 


Bor dem Sturm. 275 


im Herrenhauſe, wo man ihr als einer Dorf— 
kurioſität, zum Theil aber auch um ihrer Brauch⸗ 
barkeit willen manches nachſah, dachte man im 
Ganzen genommen wenig günftiger über fie. 
Nur Lewin ſtand ihr mit einer gewiſſen poetiſchen 
Zuneigung zur Seite. Er liebte ſcherzhaft über 
ſie zu phantaſiren. Ihr Alter ſei unbeſtimmbar 
ſie ſei ein geheimnißvolles Ueberbleibſel der alten 
wendiſchen Welt, ein Bodenprodukt dieſer 
Gegenden, wie die Krüppelkiefern, deren einige 
noch auf dem Höhenrücken ſtänden. Bei anderen 
Gelegenheiten wieder, wenn ihm vorgehalten 
wurde, daß die Wenden ſehr wahrſcheinlich ſchöne 
Leute geweſen ſeien, begnügte er ſich, ſie als ein 


Götzenbild auszugeben, das, als der letzte Czerne⸗ 


bogtempel fiel, plötzlich lebendig geworden ſei 


und nun die früher beherrſchten Gebiete durch⸗ 


ſchreite. Er fügte auch wohl hinzu: Hoppen⸗ 
marieken werde nie ſterben, denn ſie lebe nicht. 
Sie ſei nur ein 9 Darin verſah er es nun 
aber ganz und gar; ſie lebte nicht nur, ſie lebte 
auch gern und gut und dabei ganz mit jener 
ſinnlichen Luſt, wie ſie den Zwergen immer und 
den Geizigen in der Regel eigen iſt. Und ſie 
war beides, zwergig und geizig. 


Die Bauern hatten ſich nach ihrem Diskurs 
120* 


276 Bor dem Sturm. 


im Scharwenkaſchen Kruge kaum getrennt, als 
Hoppenmarieken in dem ſchweren Schritt ihrer 
Waſſerſtiefel die Dorfgaſſe herauffam. Sie ging 
raſch wie immer, nüſterte und ſprach unverſtänd⸗ 
liche Worte vor ſich hin. Ihr langer Hakenſtock 
bewegte ſich dabei taktmäßig auf und ab und ihr 
rother Friesrock leuchtete. 

Als ſie das Mühlengehöft paſſirt hatte, 
ſchwenkte ſie links und ſchritt nun die verſchneite 
Lehmkathen⸗ und Kofenſtraße hinauf auf ihr 
Häuschen zu. Die Thür deſſelben war nur ein- 
geklinkt und mit Recht, denn alles, was ſich 
drinnen befand, ſtand im Schutze ſeiner eigenen 
Unheimlichkeit. Völliges Dunkel empfing ſie; ſie 
tappte ſich mit dem Stocke fühlend bis in die 
Mitte des Flurs, ſtellte hier Stock und Kiepe 
bei Seite und fuhr dann mit ihrer Hand, die 
eine Hornhaut hatte, in der Herdaſche umher, 
bis ein paar glühende Kohlen zum Vorſchein 
kamen. Sie blies nun, nahm einen Schwefel- 
faden und zündete mit Hilfe deſſelben eine Blech— 
lampe an, ohne übrigens von dem beſcheidenen 
Lichte, das dieſelbe gab, zunächſt Gebrauch zu 
machen. Sie kroch vielmehr in ein großes, un— 
mittelbar neben dem Herd befindliches Ofenloch 
hinein, rührte auch hier mit einem langen, halb 


Bor dem Sturm. 277 


verkohlten Scheit in der tief nach hinten liegenden 
Glut, warf Reiſig, Tannenäpfel und ein paar 
Stücke ſteinharten Torfes auf und trat nun erſt 
in die Stube. 

Dieſe war geräumig. Hoppenmarieken leuch— 
tete darin umher, ſah in alle Winkel, that einen 
Blick in den nach hinten zu gelegenen Alkoven 
und drückte zuletzt, beſtändig vor ſich hinſprechend, 
ihre Zufriedenheit mit dem Sachbefunde aus. 
Die Lampe gab gerade Licht genug, um alles in 
der Stube befindliche erkennen zu können. Neben 
dem Fenſter, dicht an die Ecke geſchoben, ſtand 
ein Wandſchapp mit Taſſen und Tellern; der 
eichene Tiſch war blank geſcheuert; an der 
Alkoventhür hing ein großer, mitten durch— 
geborſtener Rundſpiegel, von dem es zweifelhaft 
bleiben mochte, ob er um Eitelkeits oder Geſchäfts 
willen an dieſer Stelle hing. Denn er ſah aus, 
als ob er beim Wahrſagen und Kartenſchlagen 
nothwendig eine Rolle ſpielen müſſe. Im übrigen 
war eine gewiſſe weihnachtsfeſtliche Herrichtung, 
für die Hoppenmarieken ſelber am Tage vorher 
geſorgt zu haben ſchien, unverkennbar. Das 
Himmelbett hatte friſche Vorhänge, die Dielen 
waren mit Tannenzweigen beſtreut und an den 
Deckenhaken hing ein Ebreſchenzpeig, deſſen 


278 Bor dem Sturm. 


Beeren, trotz vorgeſchrittener Winterzeit, noch 
ihre ſchöne rothe Farbe zeigten. Alles dies hätte 
faſt einen gemüthlichen Eindruck machen müſſen, 
wenn nicht dreierlei geweſen wäre: erſtens 
Hoppenmarieken in Perſon, dann ihre Vogelkäfige 
und drittens und letztens der Alkoven. Hoppen⸗ 
marieken ſelbſt kennen wir; aber von den beiden 
anderen noch ein Wort. 

An allen vier Wänden hin, dicht unter der 
Decke, lief eine Reihe von Vogelbauern. Wohl 
zwanzig an der Zahl. Nur wo Bett und Ofen 
ſtanden, war die Reihe unterbrochen. Was 
eigentlich in den Bauern drin ſteckte, war nicht 
klar zu erkennen geweſen, als Hoppenmarieken 
mit der Lampe daran hingeleuchtet hatte. Nur 
allerhand dunkle Vogelaugen hatten groß und 
ſchläfrig in das Licht geſtarrt. Es mußte ſich 
einem aufdrängen, das ſeien wohl die Augen, die 
bei Abweſenheit der Herrin hier Wache hielten. 

Dieſer ſeltſame Fries von Vogelbauern, in 
denen blos ſchweigſames Volk zu Hauſe zu ſein 
ſchien, war unheimlich genug, aber unheimlicher 
war der Alkoven. Schon der Rundſpiegel, der 
an der Thüre hing, bedeutete nichts Gutes. 
Drinnen war alles leer. Nur Kräuterbüſchel 
zogen ſich hier in ähnlicher Weiſe um die Wände 


Hor dem Sturm. 279 


herum, wie nebenan die Vogelkäfige. Es waren 
gute und ſchlechte Kräuter: Meliſſe, Schafgarbe, 
Wohlverleih, aber auch Allermannsharniſch, Sumpf⸗ 
porſt und Kloſterwachholder. Dazwiſchen Bündel 
von Roggenhalmen, deren geſunde Körner längſt 
ausgefallen waren, während das giftige blaue 
Mutterkorn noch an den Aehren haftete; der 
Geruch im Ganzen war betäubend. Was einem 
ſchärferen Beobachter vielleicht mehr als alles 
andere aufgefallen wäre, war, daß ſämmtliches 
Kräuterwerk, ſtatt an einfachen Nägeln, an dicken 
Holzpflöcken hing, deren mehrere Zoll betragender 
Durchmeſſer in gar keinem Verhältniß zu der 
winzigen, von ihnen zu tragenden Laſt ſtand. 

Hoppenmarieken, die es ſich mittlerweile 
bequem gemacht und die hohen Waſſerſtiefel mit 
ein paar aus Filztuch genähten Schuhen ver- 
tauſcht hatte, holte jetzt die Kiepe vom Flur 
herein und ſchien, ihrem ganzen Hantieren nach 
gewillt, einen Schmaus für ſich ſelber vor— 
zubereiten. Sie wühlte behaglich in ihrer Kiepe, 
bis ſie die Gegenſtände, die ſie ſuchte, gefunden 
hatte. Was zuerſt aus der Tiefe heraufitieg, 
war eine blaue Spitztüte, dann kamen zwei 
Eier, die fie prüfend gegen das Licht hielt, zu= 
letzt ein altes bedrucktes Sacktuch, in das aber 


280 Bor dem Sturm. 


etwas Wichtigeres eingefchlagen war. Wenigſtens 
hielt ſie das Packet mit beiden Händen ans Ohr 
und ſchüttelte. Der Ton, den es gab, beruhigte 
ſie. Sie legte nun alles auf den Tiſch, eines 
neben das andere, und holte vom Schapp her 
einen alten Fayencetopf mit abgebrochenem Henkel, 
dazu einen Quirl und einen Blechlöffel. Jetzt 
war alles beiſammen. Sie that aus der blauen 
Tüte einen Löffel Zucker in den Topf, ſchlug die 
beiden Eier hinein, wickelte aus dem Sacktuch 
eine Rumflaſche heraus, liebäugelte mit ihr, goß 
ein und quirlte. Nur etwas fehlte noch: das 
ſiedende Waſſer. Aber auch dafür war geſorgt. 
Sie trat in den Flur, kroch abermals in das 
Ofenloch und kam mit einem rußigen Theekeſſel 
zurück, deſſen Inhalt ziſchend und ſprudelnd in 
dem großen Fayencetopf verſchwand. 

Hiermit waren die Vorbereitungen als ge— 
ſchloſſen anzuſehen. Das eigentliche Feſt konnte 
beginnen. Sie machte den Tiſch wieder klar, 
baute ſich einen großen, braunen Napfkuchen auf, 
und ſah, während ſie den Kopf in beide Arme 
ſtützte, mit ſinnlicher Zufriedenheit auf das her— 
gerichtete Mahl. Auch jetzt noch war ſie befliſſen 
nichts zu übereilen. War es nun, daß ſie in 
der Hinausſchiebung des Genuſſes eine Steigerung 


Bor dem Sturm. 281 


ſah, oder hatte fie jo ihre eigenen Hoppenmarieke⸗ 
ſchen Vorſtellungen davon, wie nun einmal ein 
erſter Weihnachtstag gefeiert werden müſſe, gleich- 
viel fie begnügte ſich vorläufig damit, den auf- 
ſteigenden Dampf von der Seite her einzuſaugen 
und zog dabei den Tiſchkaſten weit auf, in dem, 
durch eine Scheidewand getrennt, links das Geſang— 
buch, rechts die Karten lagen. Sie nahm das 
Geſangbuch, ſchlug das Chriſtlied auf: „Vom 
Himmel hoch da komm' ich her”, las in recitativiſcher 
Weiſe, die ſie ſelber für Geſang halten mochte, 
die drei erſten, dann die letzte Strophe, klappte 
wieder zu und that einen erſten tüchtigen Zug. 


Gleich darauf ging ſie zu einem allerenergiſchſten 


Angriff auf den Napfkuchen über, der nun inner⸗ 
halb zehn Minuten von der Tiſchfläche ver— 
ſchwunden war. Sie ſtrich die Krümel in ihre 
linke Handfläche zuſammen und ſchüttete alles 
ſorgfältig in den Mund. 

Jetzt, wo der Fayencetopf keinen Neben⸗ 
buhler mehr hatte, war ſie erſt in der Lage, ihm 
zu zeigen, was er ihr war. Sie legte ſtreichelnd 
und patſchelnd ihre Hände um ihn herum, unter⸗ 
ſuchte mit den Knöcheln alle Stellen, die einen 
kleinen Sprung hatten, bog ſich über ihn und 
nippte, ſchlürfte und that dann wieder volle Züge. 


282 Bor dem Sturm. 


Nachdem ſie ſo den ganzen Kurſus des Behagens 
durchſchmarutzt hatte, zog ſie den Schubkaſten 
zum zweiten Male auf, nahm jetzt aber, ſtatt 
des Geſangbuches, das Kartenſpiel heraus. Es 
waren deutſche Karten: Schippen, Herzen, Eichel; 
ſie lagen in Form einer Mulde feſt auf ein⸗ 
ander, was jedoch für Hoppemariekens Hände 
keine Schwierigkeiten bot. Als ſie wohl eine 
halbe Stunde lang aufgelegt, gemiſcht und wieder 
aufgelegt hatte, ohne daß die Karten kommen 
wollten, wie ſie ſollten, ſtieg ihr das Blut zu 
Kopf. 

Der Schippenbube wich ihr nicht von der 
Seite. Das mißfiel ihr; ſie wußte ganz genau, 
wer der Schippenbube war. Was? Da lag er 
wieder neben ihr. Sie ſtand unruhig auf, nahm 
die Lampe, leuchtete hinter den Ofen, ſah zwei-, 
dreimal in den Alkoven hinein und ſetzte ſich 
dann wieder. Aber die Beklemmung wollte nicht 
weichen. Sie ſchnürte deshalb das großgeblumte 
Kattunmieder auf, das ſie trug, neſtelte, zerrte, 
zupfte und fühlte nach einem Täſchchen, das ſie 
an einem Lederſtreifen auf der Bruſt trug. Es 
war da. Sie nahm es ab, zählte ſeinen Inhalt 
und fand alles, wie es ſein mußte. 

Dies gab ihr ihre Ruhe wieder. Sie wollte 


Bor dem Sturm, 283 


es noch einmal verſuchen und begann abermals 
die Karten zu legen. Diesmal traf es; der 
Schippenbube lag weit ab. Ein häßliches Lachen 
zog über ihr Geſicht; dann that ſie den letzten 
Zug, ſchob einen großen Holzriegel vor die Thüre 
und löſchte das Licht. 

Als eine Stunde ſpäter der Mond ins 
Fenſter ſchien, ſchien er auch auf das verwitterte 
Anlitz der Zwergin, das jetzt, wo ſich das fchwarze 
Kopftuch verſchoben und die weißen Haarſträhnen 
blosgelegt hatte, noch häßlicher war als zuvor. 
Der Mond zog vorüber; das Bild gefiel ihm 
nicht. Hoppenmarieken ſelbſt aber träumte, daß 


Schippenbube ſie am Halſe gepackt habe und an 


dem Lederriemen zerre, um ihr die Taſche ab- 
zureißen. Sie rang mit ihm; der Angſtſchweiß 
trat ihr auf die Stirn; dabei aber rief ſie: 
„Wart, ich ſag's: Diebe, Diebe!“ 

Durch das öde Haus hin klangen dieſe Rufe. 
Die Vögel ſtiegen langſam von ihren Sproſſen 
und ſtarrten durch ihre Gitter auf das Bett, von 
wo die Rufe kamen. 


284 Hor dem Sturm. 


IX. 
Schulze Kniehaſe. 


Dem Kruge gegenüber lag der Schulzenhof. 
Er beſtand aus einem Ziegeldachhaus, an das 
ſich nach rückwärts zwei lange ſchmale Stall⸗ 
gebäude anlehnten, die durch eine Scheune mit 
einander verbunden waren. Ein hinter dieſer 
Scheune gelegenes, mit Obſtbäumen und Himbeer⸗ 
ſträuchern beſetztes Ackerſtück, ſtreckte wieder zwei 
ſchmale Blumenſtreifen bis dicht an die Dorf— 
ſtraße vor, ſo daß in Sommerszeit, wenn man 
vom Kirchhügel aus auf das Schulzengehöft her- 
nieder ſah, alles einem großen Garten glich, der 
Haus und Hof wie zwiſchen zwei ausgebreiteten 
Armen hielt. Selbſt Miekleys Mühle war dann 
nicht freundlicher. Bis unter das Dach blühten 
die Malven, die Bienen ſummten um den Stock, 
die Trauben hingen am Spalier, während ſich 
von dem alten, rechts an der Hofthür wache— 
ſtehenden Birnbaum von Zeit zu Zeit die ſchweren 
Früchte löſten und mit Geklatſch auf die Schwell- 
ſteine niederfielen. Von den Inſaſſen des Hauſes 
achtete niemand dieſes Tones; nur ein Mädchen, 
das auf der vorgebauten Steintreppe des Hauſes 
unter einem Gerank von Flieder und Geisblatt 


r 


* 


r NN 
ea 4 . Ten 


ee > cn ai air r * —B ** 


e 


N 
* 
k 
. 
N 


Bor dem Sturm. 285 


ſaß, ſah einen Augenblick horchend auf, ehe es 
fortfuhr das Garn zu wickeln oder die Naht zu 
ſäumen. 5 

So war es im Spätſommer. Aber auch im 
Winter bot der Schulzenhof ein freundliches 
Bild, auch heute am zweiten Weinachtsfeiertage. 
Auf dem Hofe war der Schnee zuſammengeſchippt, 
jo daß er eine Mauer bildete; die Stallthüren 
ſtanden auf, aus denen die warme Luft wie ein 
Nebel ins Freie zog. An der Schwelle ſaßen 
Sperlinge und pickten einzelne Körner auf. Sonſt 
alles ſtill; auch der Hofhund feierte. In einer 
der Ecken zwiſchen Stall und Scheune ſtand ſeine 
Hütte; etwas von ſeinem Lagerſtroh hatte er 


vor die Oeffnung geſchoben, und auf dieſem Kiſſen 


lag nun ſein ſpitzer Wolfskopf und ſah behaglich 
in den Morgen hinein. 

Und ſtill und feſttäglich wie draußen auf 
dem Hofe, ſo war auch das Haus. Schon ſeine 
Treppe war mit Sand beſtreut; in den Ecken 
der Vordiele ſtanden junge Kiefern und füllten 
die Luft mit ihrem Harzgeruch; an einem Haken 
in der Mitte des Flurs aber hing ein Miſtel⸗ 
buſch. Die Wohnſtuben waren ſchon geheizt und 
die Kaminthüren geſchloſſen; nur zur Rechten, 
wo das große Beſuchszimmer lag, kniſterte noch 


286 Bor dem Sturm. 


ein Feuer und warf feinen Schein. Eine Katze 
ſtrich ihre Flanken an den warmen Ecken, 
ſchnurrend mit gekrümmtem Rücken, zum Zeichen 
ihres beſonderen Behagens. 

In dem vorderſten Wohnzimmer, um einen 
ſchweren Eichentiſch herum, befanden ſich drei 
Perſonen. Dem Fenſter zunächſt, und dieſem 
den Rücken zukehrend, ſaß ein breitſchultriger 
Mann, ein Fünfziger. Sein Geſicht drückte 
Kraft, Feſtigkeit und Wohlwollen aus. Spär⸗ 
liches blondes Haar legte ſich an ſeine Scheitel, 
er war ſonntäglich gekleidet und trug einen langen 
ſchwarzbraunen Rock. Die Frau zu ſeiner Linken, 
trotz ihrer vierzig, war noch hübſch, von dunklem 
Teint und wendiſch gekleidet. Ein breiter Kragen 
fiel über ihr Mieder von ſchwarzem Tuch, und 
der kurze Friesrock war in hundert Falten 
gelegt. Unter der engen Tüllmütze verſteckte ſich 
nur halb das glänzend ſchwarze Haar. Aller 
Schmuck war ſilbern. Um den Hals ſchlang ſich 
eine ſtarke, vorn auf der Bruſt durch einen 
Schieber zuſammengehaltene Kette; die Ohr— 
gehänge glichen großen ſilbernen Tropfen. 

Dies war das Schulze Kniehaſeſche Paar. 
Dem Alten gegenüber, im vollen Fenſterlicht, 
ſaß die Tochter des Hauſes, Maria, ebenſo auf— 


Bor dem Sturm. 287 


recht wie Tages zuvor am Kamin des Herren⸗ 
hauſes. Sie trug daſſelbe Taftkleid, daſſelbe 
rothe Band im Haar; und mit derſelben Auf- 
merkſamkeit, mit der ſie geſtern den Erzählungen 
Lewins gefolgt war, folgte ſie heute der Vor⸗ 
leſung ihres Vaters, der zuerſt das Weihnachts— 
evangelium, dann das 8. Kapitel aus dem 
Propheten Daniel las. Der alte Kniehaſe hatte 
dies Kapitel mit gutem Vorbedachte gewählt. 
Mariens Hände lagen ſtill in ihrem Schooß. 
Und als die Stelle kam: „Und nach dieſem wird 
aufkommen ein frecher und tückiſcher König, der 
wird mächtig ſein, doch nicht durch ſeine Kraft, 
und nur durch ſeine Liſt wird ihm der Betrug 
gerathen und er wird ſich auflehnen wider den 
Fürſten aller Fürſten; aber er wird ohne 
Hand zerbrochen werden“ — da wurden 
ihre Augen größer, wie ſie es bei der Er— 
zählung von dem Feuerſchein im Schloſſe zu 
Stockholm geworden waren, denn, erregbaren 
Sinnes, nahm jegliches, wovon ſie hörte, lebendige 
Geſtalt an. Sonſt blieb alles in gleichem 
Schlag. Das Rothkehlchen, mit leiſem Gezirp, 
hüpfte aus dem Ring auf die Sproſſen und 
wieder von den Sproſſen in den Ring; in 
gleichmäßigem Takt ging der Pendel der Gehäuſe— 


288 Bor dem Sturm. 


uhr. Und jo ging auch des Schulzen Knie— 
haſe Herz. 

Kniehaſe war ein „Pfälzer.“ Wie kam er 
in dieſes Wendendorf? Und wie war er der 
Schulze dieſes Dorfes geworden? 

Um dieſelbe Zeit, als die Scharwenkas mit 
anderen czechiſchen Familien von Böhmen her 
überſiedelten, wanderten die Kniehaſes mit 
rheiniſchen Familien ein. Das war um 1750, 
als Friedrich der Große zur Trockenlegung der 
Sumpfſtrecken des Oderbruches und zu ihrer 
Koloniſirung ſchritt. Die czechiſchen Familien, 
weil ihrer nur wenig waren, fanden in den alt⸗ 
wendiſchen Dörfern ein Unterkommen und ſo 
kamen die Scharwenkas nach Hohen-Vietz. Die 
rheiniſchen Koloniſtenfamilien aber, die, ohne 
Rückſicht darauf, ob ſie aus dem Cleveſchen oder 
Siegenſchen, aus Naſſau oder der Pfalz ſtammten, 
ſämmtlich „Pfälzer“ genannt wurden, (etwa wie 
in Irland alle Herübergekommenen „Sachſen“ 
heißen) gründeten eigene Dörfer, unter denen 
Neu⸗Barnim das größte war. In dieſem Dorfe 
wurde unſer Kniehaſe geboren und zwar am 
Tage des Hubertusburger Friedens. Der Vater 
ſchloß daraus, daß der Sohn ein Prediger werden 
müſſe und ließ ihn nach den beſcheidenen Mitteln, 


Hor dem Sturm. 289 


die ſich darboten, etwas Tüchtiges lernen. Aber 
der junge Kniehaſe war weitab davon, ein Mann 
des Friedens werden zu wollen; nur das 
Soldatiſche hatte Reiz für ihn und mit zwanzig 
Jahren ſchon, nachdem er den Widerſtand des 
Vaters unſchwer beſiegt, trat er in die Grenadier⸗ 
kompagnie des Regiments Möllendorf ein, das 
damals zu Berlin in Garniſon ſtand. Der 
Dienſt, trotz aller Strenge, gefiel ihm wohl, und 
ſchon 1792, bei Ausbruch der Rheinkampagne, 
war er unter den Fahnenunteroffizieren des 
Regiments. Bei Valmy erhielt er ein Ehren⸗ 
zeichen, bei Kaiſerslautern ein zweites. Das 
kam ſo. Die Kompagnie von Thadden ſah ſich 
gezwungen, eine Hügelſtellung zu räumen, auf 
der ſie ſich ſeit Beginn des Kampfes behauptet 
hatte; feindliche Artillerie fuhr auf und beherrſchte 
jetzt das abgeſchrägte wohl 1500 Schritt breite 
Terrain, auf dem die zurückgehende Kompagnie, 
zum Theil in bloße Trupps aufgelöſt, ihren 
Rückzug bewerkſtelligte. In Mittelhöhe des Ab- 
hanges lag ein durch einen Schenkelſchuß ver— 
wundeter Gefreiter und beſchwor ſeine Kameraden, 
ihn nicht liegen zu laſſen. Einige hielten inne; 
aber das Kartätſchenfeuer brach wieder den guten 
Willen; auch den Tapferſten verſagte der Muth. 


Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 121 


290 Bor dem Sturm. 


Da ſprang Unteroffizier Kniehaſe vor, lief eine 
Strecke zurück, lud den Verwundeten auf die 
Schulter und trug ihn aus dem Feuer. Stabs- 
kapitän von Thadden, als die Kompagnie ſich 
wieder ſammelte, trat an Kniehaſe heran und 
ſchüttelte ihm die Hand; die Grenadiere aber 
brachen in Jubel aus und nahmen eine halbe 
Stunde ſpäter die verloren gegangene Höhen— 
ſtellung wieder. d 

Dieſer Tag führte unſeren Kniehaſe, wenn 
nicht gleich, ſo doch im regelrechten Lauf der 
Ereigniſſe, nach dem alten Wendendorfe, deſſen 
Obrigkeit er jetzt bildete. Denn der Gefreite, 
den er ſo muthig aus dem feindlichen Feuer ge— 
tragen hatte, war niemand anderes als unſer 
Freund aus dem Hohen-Vietzer Kruge her: Peter 
Kümmeritz. Invalide geworden, erhielt er ſeinen 
Abſchied; zwei Jahre ſpäter aber kam der Frieden 


und die ganze Rheinarmee kehrte in ihre Garniſonen 


zurück. Mit ihr das Regiment Möllendorf. 

Es war nach der Ernte, Anno 95; die 
Sommerfäden flogen ſchon durch die Luft, als an 
einem jener klaren Tage, wie ſie der September 
bringt, an Miekleys Mühle vorbei, ein breit— 
ſchultriger Mann in ſeines Königs Rock in die 
Hohen-Vietzer Dorfſtraße einbog. Auf ſeiner 


Nor dem Siurcm. 291 


Bruſt blitzten ein paar Medaillen, und wer ſich 
auf Litzen und Rabatten verſtand, der ſah, daß 
es ein Chargirter vom Regiment Möllendorf 
war. Es war aber kein anderer als unſer Unter⸗ 
offizier Kniehaſe. Als er, gefolgt von der halben 
Dorfjugend, die ſcheubefliſſen auf ſeine Fragen 
Antwort gab, in das Gehöft ſeines ehemaligen 
Gefreiten eintreten wollte, trat ihm an der 
Schwelle des Hauſes nicht Peter Kümmeritz in 
Perſon, wohl aber Trude Kümmeritz, ſeine 
Schweſter, entgegen. Nach allem, was folgte 
muß angenommen werden, daß dieſe Stellver- 
tretung den Wünſchen unſeres Kniehaſe nicht zu— 
wider lief, denn ehe er nach Wochenfriſt den 
gaſtlichen Kümmeritzſchen Hof verließ, um zu 
ſeinem Regiment zurückzukehren, hatte er nicht 
nur mit Peter die Kriegskameradſchaft erneuert, 
ſondern auch mit Trude ſich zu ehelicher Kamerad⸗ 
ſchaft verſprochen. Er ging überhaupt nur in 
ſeine Garniſon zurück, um aus dem Urlaub einen 
Abſchied zu machen, demnächſt aber einen Neu⸗ 
barnimſchen Hof zu kaufen und ſeine Trude aus 
dem Wendendorf in das Pfälzerdorf hinüber zu 
ziehen. Es kam aber umgekehrt. Eine Hohen— 
Vietzer Stelle wurde unerwartet frei, die Truhen 


der Häuſer Kümmeritz und Kniehaſe ſteuerten 
121* 


292 = Bor dem Sturm. 


zuſammen, und als im Sommer 96 der Raps 
blühte, und ſein Duft auf allen Feldern lag, da 
ſtieg ein Hochzeitszug den Kirchenhügel hinan, 
die Glocken läuteten und die Muſikanten blieſen, 
bis das Brautpaar über die Schwelle war. 
Kniehaſe trug ſeine Uniform, Trude die reiche 
wendiſche Tracht, und Alt und Jung waren einig, 
daß Hohen-Vietz ein ſolches Brautpaar ſeit 
Menſchengedenken nicht geſehen habe. Seit 
Menſchengedenken kein ſtattlicheres, aber auch 
kein glücklicheres Paar. Vor allen Dingen kein 
beſſeres. Neid und üble Nachrede ſchwiegen, und 
wenn anfangs dieſer und jener klagte, „daß nun 
ein Pfälzer ins Dorf gekommen ſei,“ jo ver- 
ſtummte dieſe Klage doch bald, als ſie den 
Pfälzer kennen lernten. Wo es einen Rath galt, 
da war er da, und wo es eine That galt, da 
war er zweimal da. Er verſtand ſich aufs 
Schreiben und Eingabenmachen, aufs Rechnen 
und Regiſtriren, und als Anno 1800 der alte 
Schulze Wendelin Pyterke ſtarb, der ſeit dem 
ſiebenjahrigen Krieg volle vierundvierzig Jahre 
im Amte, und nach der Kunersdorfer Schlacht, 
als die Ruſſen kamen, die Rettung des Dorfes 
geweſen war, da wählten ſie den Kniehaſe zu 
ihrem Schulzen, ohne ſich ums Herkommen zu 


Bor dem Sturm. 0 293 


kümmern, das nur zwei oder drei unter ihnen 
gewahrt wiſſen wollten. Berndt von Vitzewitz 
aber ſagte: „Meine Bauern waren immer geſcheidt, 
doch für ſo geſcheidt hab' ich ſie all mein Lebtag 
nicht gehalten.“ 

Kniehaſe hatte keinen Feind; ſelbſt die Forſt⸗ 
ackers Leute ſprachen gut von ihm. Im Herren⸗ 
hauſe hieß es: „Er iſt ein tüchtiger Mann,“ in 
der Mühle hieß es: „Er iſt ein frommer Mann,“ 
Peter Kümmeritz aber mit immer wachſendem 
Reſpekt ſah zu ſeinem Schwager auf, als ob er 
den Tag von Kaiſerslautern durch eigenes Ein⸗ 
greifen entſchieden habe. Er ſchloß dann wohl 
ab: „Ich ſchulde ihm mein Leben und meine 
Schweſter ſchuldet ihm ihr Glück.“ 

Die Kniehaſes waren ein glückliches Paar; 
aber kein Glück iſt vollkommen: ſie blieben kinder⸗ 
los. Da traf es ſich, daß auch eine Tochter ins 
Haus kam, kein eigenes Kind und doch geliebt 
wie ein ſolches. 

Es war um Weihnachten 1804, zwei Jahre 
früher, als die Frau von Vitzewitz ſtarb, da kam 
ein „ſtarker Mann“ ins Dorf, einer von jenen 
fahrenden Künſtlern, die zunächſt in rothem 
Trikot mit fünf großen Kugeln ſpielen und hinter— 
her ein Taubenpaar aus einem Schubfach auf- 


294 Nor dem Sturm. 


fliegen laſſen, in das ſie vorher eine Uhr oder 
ein Taſchentuch gelegt haben. Der ſtarke Mann 
ſchien beſſere Tage geſehen zu haben; ſeine ganze 
Haltung deutete darauf hin, daß er nicht immer 
in einem Planwagen von Dorf zu Dorf gefahren 
war. Er hielt jetzt vor dem Scharwenkaſchen 
Kruge, führte das magere Pferd in den Stall, 
und am Abend war Vorſtellung. Ein kleines 
Mädchen, das zehn Jahre ſein mochte, wechſelte 
mit ihm ab, fang Lieder und deklamirte; zuletzt 
erſchien ſie in einem kurzen Gazekleid, das mit 
Sternchen von Goldpapier beſetzt war, und führte 
den Shawltanz auf. Die Hohen-Vietzer Bauern, 
ganz beſonders die alten, waren wie benommen 
und ſtreichelten das Kind mit ihren großen 
Händen. Es ſollte ihnen bald Gelegenheit werden, 
ihr gutes Herz noch weiter zu zeigen. 

Der „ſtarke Mann“ war längſt kein ſtarker 
Mann mehr; er war ſiech und krank. Er legte 
ſich und es ging raſch bergab. Paſtor Seidentopf 
ſaß an ſeinem Bett und ſprach ihm Troſt zu; 
der Sterbende aber, der wohl wußte, wie es mit 
ihm ſtand, ſchüttelte den Kopf, zog den Paſtor 
näher an ſich heran und ſagte feſt: „Ich bin 
froh, daß es zu Ende geht.“ Dann wies er mit 
einer leiſen Seitwärtsbewegung des Kopfes auf 


— 


rc 


Hor dem Sturm. 295 


die Kleine, die am Fenſter ſaß, preßte beide 
Hände aufs Herz und ſetzte mit halberſtickter 
Stimme hinzu: „Wenn nur das Kind nicht wäre.“ 
Dabei brach er, alle Kraft über ſich verlierend, 
in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Die Kleine, 
als ſie das Weinen hörte, kam herzu geſprungen 
und küßte in leidenſchaftlicher Liebe die Hand des 
Sterbenden. Dieſer ſtreichelte ihr das Haar, 
ſah ſie an und lächelte. Es war, als ob er in 
eine lichte Zukunft geblickt hätte. So ſtarb er. 
Auf dem Tiſche neben ihm ſtand die kleine 
Zauberkommode, aus der immer die Tauben auf— 


flogen. Paſtor Seidentopf war tief erſchüttert. 


An die Hohen-⸗Vietzer aber traten jetzt zwei 
Fragen heran, von denen es ſchwer zu ſagen, welche 
die Gemüther mehr beſchäftigte. Die erſte Frage 


war: „Was machen wir mit dem Todten?“ 


Die alten Wendenbauern waren gutmüthig, 
aber ſie dachten doch ernſt in ſolchen Sachen. 
Den ſtarken Mann blos einzuſcharren, erſchien 
ihnen als unthunliche Härte, ihn aber auf ihrem 
chriſtlichen Kirchhofe zu begraben, als noch un— 
thunlichere Entweihung. War er überhaupt ein 
Chriſt? Die Mehrzahl zweifelte. Da fand Paſtor 
Seidentopf unter dem Kopfkiſſen des Todten eine 
Taſche mit allerhand Papieren, auch Tauf- und 


296 Bor dem Sturm. 


Trauſchein. Die Briefe gaben weiteren Auf— 
ſchluß. Es zeigte ſich, daß er Schauſpieler ge— 
weſen war, daß er eine Tochter aus gutem Hauſe 
wider den Willen der Eltern geheirathet hatte, und 
daß die Frau ſchließlich hingeſtorben war in Gram 
und Elend, aber ohne Vorwurf und ohne Reue. 
Die letzten Briefe, viel durchleſene, waren aus 
einem ſchleſiſchen Kloſterſpitale datirt. Ein ge- 
ſcheitertes Leben ſprach aus allen, aber kein un⸗ 
glückliches, denn was ſie zuſammengeführt, hatte 
Noth und Tod überdauert. 

Paſtor Seidentopf, als er die Briefe geleſen, 
trat wieder unter ſeine Bauern, die unten im 
Krug ſeiner harrten, und am dritten Tage hatte 
der ſtarke Mann ein chriſtliches Begräbniß, als 
ob er ein Kümmeritz oder ein Miekley geweſen 
wäre. Die Schulkinder ſangen ihn hügelan, 
trotzdem ein großes Schneetreiben war, Frau 
von Vitzewitz, gütig wie immer, ſtand mit am 
Grabe und warf dem Todten die erſte Hand voll 
Erde nach, Berndt von Vitzewitz aber ließ ihm 
ein Kreuz errichten, darauf folgender vom alten 
Küſter Jeſerich Kubalke gedichteter Spruch zu 
leſen war: 


Ein Stärk'rer zwang den ſtarken Mann, 
Nimm ihn Gott in Gnaden an. 


Hor dem Sturm. 297 


So erledigte ſich die erſte Frage. — Die 
zweite Frage war: „Was machen wir mit dem 
Kinde?“ Paſtor Seidentopf erwog die Frage 
hin und her, hundert Pläne gingen ihm durch 
den Kopf, aber keiner wollte paſſen. Die Bauern 
waren ſcheu und ſchwierig. Da trat Schulze 
Kniehaſe dazwiſchen, und das weinende Kind vom 
Krug aus in ſein Haus hinüber führend, ſagte 
er: „Mutter, die ſchickt uns Gott.“ 

Und am anderen Tage, weil es dicht vor 
dem Chriſtfeſt war, begann er ihr einen Baum 
zu putzen, und nannte ſie ſeine Weihnachtspuppe 
und ſein Zauberkind. 

Die Bauern ſahen anfangs ängſtlich zu; 
„ſie wird ihm wegfliegen,“ meinten die einen, 
„und das wäre noch das beſte,“ verſicherten die 


anderen. Aber ſie flog nicht fort, und Paſtor 


Seidentopf ſagte: „Sie wird ihm Segen bringen, 
wie die Schwalben am Sims.“ 


X. 
Marie. 
„Sie wird dem Hauſe Segen bringen, wie 


die Schwalben am Sims,“ ſo hatte Prediger 
Seidentopf geſprochen, und ſeine Worte ſollten 


298 Bor dem Sturm. 


in Erfüllung gehen. Das Kopfſchütteln der 
Bauern nahm bald ein Ende. Es geſchah das, 
was unter ähnlichen Verhältniſſen immer geſchieht: 
dunkle Geburt, ſeltſame Lebenswege, wie ſie den 
Argwohn wecken, wecken auch das Mitgefühl, und 
ein ſchöner Trieb kommt über die Menfchen, 
ein unverſchuldetes Schickſal auszugleichen. Der 
Zauber des Geheimnißvollen unterſtützt die wach— 
gewordene Theilnahme. 

Das erfuhr auch Marie. Ehe noch der erſte 
Winter um war, war ſie der Liebling des Dorfes; 
keiner ſpöttelte mehr über das Gazekleid mit den 
Goldpapierſternchen, in dem ſie zuerſt vor ihnen 
aufgetreten war. Vielmehr erſchien ihnen jetzt 
dieſer bloße Hauch einer Kleidung als ihr natür— 
liches Koſtüm, und wenn Schulze Kniehaſe, der 
das Kind von Anfang an über die Maßen liebte, 
drüben im Kruge ſaß und halb ernſthaft, halb 
ſcherzhaft verſicherte, „ſie ſei ein Feenkind,“ ſo 
widerredete niemand, weil er nur ausſprach, was 
alle längſt ſchon an ſich ſelbſt erfahren hatten. 
Daß ſie fortfliegen würde, daran glaubte freilich 
niemand mehr, mit alleiniger Ausnahme der 
Mädchen in den Spinnſtuben, die voll Spuk⸗ 
und Gejpenfterbedürfnig immer Neues und 
Wunderbares von ihr zu erzählen wußten. Und 


ö 


Hor dem Sturm. 299 


nicht alles war Erfindung. So hatte ſie wirklich 
eine unbezwingbare Vorliebe für den Schnee. 
Wenn die Flocken ſtill vom Himmel fielen, oder 
tanzten und ſtöberten, als würden Betten aus⸗ 
geſchüttet, dann entfernte ſie ſich aus dem Vorder⸗ 
hauſe, kletterte die lange Schrägleiter hinauf, die 
bis auf den Firſt des Scheunendaches führte, 
und ſtand dort oben ſchneeumwirbelt. Die 
Mädchen verſicherten auch, ſie hätten ſie ſingen 
hören. Es bedarf keiner Ausführung, welche 
phantaſtiſch weitgehenden Schlüſſe daraus gezogen 
wurden. 

So war es im Winter. Als der Sommer 


kam, der eine freiere Bewegung gönnte, gewann 


ſie vollends alle Herzen. Sie beſuchte nicht nur 
die einzelnen Bauerhöfe, ſondern auch die aus— 
gebauten Looſe, die weiter ins Bruch hinein⸗ 
lagen, ſpielte mit den Kindern und erzählte 
Geſchichten. Das Fremde und Geheimnißvolle, 
das ſie von Anfang an gehabt hatte, blieb ihr, 
aber niemand wunderte ſich mehr darüber. Auch 
die Dorfmädchen nicht. Einmal verirrte ſie ſich; 
im Kniehaſeſchen Hauſe war große Aufregung; 
alles lief und ſuchte bis an die Oder hin. End- 
lich fand man ſie, keine tauſend Schritt vom 
Dorfe. Sie lag ſchlafend im Korn, ein paar 


300 Nor dem Sturm. 


Mohnblumen in der Hand; ein kleiner Vogel 
ſaß ihr zu Füßen. Niemand kannte den Vogel, 
als er aufflog und aller Augen ihn verfolgten. 
„Der hat fie beſchützt!“ ſagten die Hohen-Vietzer. 

In der Regel ſpielte ſie auf dem Abhange 
zwiſchen der Kirche und dem Dorfe, am liebſten 
auf dem Kirchhofe ſelbſt. Sie las die Inſchriften, 
umarmte den Raſen von ihres Vaters Grabe, 
kletterte auf die hohe Feldſteinmauer und ſah 
auf die Segel der Oderkähne nieder, die, an— 
geglüht von der ſich neigenden Sonne, unten 
auf dem Strome vorüberzogen. Kam dann des 
alten Küſters Kubalke Magd, um zu Abend zu 
läuten, ſo folgte ſie dieſer, zog ein paar mal mit 
an dem Glockenſtrang und huſchte dann in die 
ſchon halbdunkle Kirche hinein. Hier ſetzte ſie 
ſich mit halbem Körper auf das äußerſte Ende 
der Frontbank, auf der am Tage nach der Kuners— 
dorfer Schlacht der Major vom Regiment Itzen— 
plitz verblutet war, blickte ſeitwärts ſcheu nach 
dem dunkeln Fleck, den alles Putzen nicht hatte 
wegſchaffen können, und ſah dann, um das ſelbſt— 
gewollte Grauen wieder von ſich zu bannen, nach 
dem großen Vitzewitzſchen Marmorbilde hinüber, 
das die Inſchrift trug: „ſo Du bei mir biſt, 
wer will wider mich ſein.“ So blieb ſie, bis 


Nor dem Sturm. 301 


der Glockenton verklang. Dann trat ſie wieder 
auf den Kirchhof hinaus, ſah der Magd nach, 
die den Schlängelpfad ins Dorf herniederſtieg 
und umkreiſte bang aber immer enger und enger 
die alte Buche, deren zweigetheilter Stamm, der 
Sage nach, an den Bruderzwiſt der Vitzewitze 
gemahnte. Fiel dann ein Blatt, oder flog ein 
Vogel auf, ſo fuhr ſie zuſammen. 

Es waren ſchöne Tage, dieſer erſte Sommer 
in Hohen⸗Vietz; aber dieſe ſchönen Tage konnten 
nicht dauern. Die Schulzenleute, Mann wie 
Frau, hatten längſt ihre Sorge darüber. All 
dies Umherſtreifen währte ſchon zu lange; Arbeit, 


Ordnung, Schule mußten an ſeine Stelle treten. 


Aber wie? Beide Kniehaſes waren weitab davon, 
ein Prinzeßchen aus ihrem Pflegekind machen zu 
wollen, aber eben ſo beſtimmt fühlten ſie auch, 
daß die Dorfſchule kein Platz für ſie ſei. Sie 
paßte nicht unter die Holzpantoffelkinder, ganz 
abgeſehen davon, daß fie, ohne je eine Schul: 
ſtunde gehabt zu haben, um ein Beträchtliches 
beſſer leſen konnte, als der alte Jeſerich Kubalke, 
zumal wenn er ſeine Hornbrille vergeſſen hatte. 

In dieſer Noth half die gute Frau von Vitze⸗ 
witz. Sie hatte längſt daran gedacht, das ſonder⸗ 
bare Kind, von deſſen phantaſtiſchem Weſen ſie 


302 Vor dem Hturm, 


jo manches gehört hatte, als Spiel- und Schul: 
genoſſin Renatens in ihr Haus zu ziehen, aller- 
hand Erwägungen aber, die dagegen ſprachen, 
hatten es damals nicht dazu kommen laſſen. Der 
Kniehaſeſche Pflegling, ſo gewinnend er ſein 
mochte, war doch immer eines Taſchenſpielers, 
im günſtigſten Falle eines verarmten Schau⸗ 
ſpielers Kind, und ſo wenig ſie perſönlich einen 
Anſtoß daran nahm, ſo glaubte ſie dennoch in 
Erziehungsfragen weniger ihr eigenes, durchaus 
freies und vornehmes Empfinden, als vielmehr 
allgemeine, aus Pflicht und Erfahrung her— 
geleitete Anſchauungen zu Rathe ziehen zu müſſen. 
So zerſchlug es ſich denn wieder. Paſtor Seiden- 
topf hätte es freilich wohl ſchon damals in der 
Hand gehabt, einen andern Ausgang herbei— 
zuführen; er wollte jedoch, in einer jo verant— 
wortungsvollen Angelegenheit, nicht ungefragt 
eingreifen und zog es vor, ſich die Dinge ſelber 
machen zu laſſen. 

Und ſie machten ſich auch, und zwar in ſehr 
eigenthümlicher Weiſe. Am Rande des Vitze— 
witzſchen Parks, ſchon in einiger Erhöhung, ſtand 
eine Floraſtatue und ſah einen breiten Kiesweg 
hinunter auf die Gartenfront des Herrenhauſes. 
Zu Füßen der Statue waren fünf dreieckige 


Bor dem Sturm. 303 


Blumenbeete angelegt, die in ihrer Geſammtheit 
einen einfaſſenden Halbkreis bildeten. An dieſer 
Stelle hatte Marie, bei ihren täglichen Streifereien 
häufig ein paar Blumen gepflückt, Balſaminen 
oder Reſeda, und war dabei niemals einem Ver— 
bot begegnet. Im Gegentheil. Der Gärtner, 
des zierlichen und fremdartigen Kindes ſich 
freuend, hatte ihr zugenickt und einmal ſogar ihr 
ein paar Fuchſia-Knospen über das linke Ohr 
gehängt. Nun war es September geworden; 
die rothen Verbenen blühten und dazwiſchen, 
aus eingegrabenen Töpfen, wuchſen ein paar 
unſcheinbare Blumen auf, die dem ſpielenden 
Kinde als dunkle Vergißmeinnicht erſchienen. 
Sie pflückte fie ab. Es war aber Heliotrop, da- 
mals noch etwas ſeltenes, und Frau von Vitzewitz 
wollte wiſſen, wer ihr das angethan und ſie um 
den Anblick ihrer Lieblingsblume gebracht habe. 
Als Marie davon hörte, faßte ſie raſch einen 
Entſchluß. Sie ſetzte ſich auf eine Bank, in un⸗ 
mittelbarer Nähe der Statue, und als Frau 
von Vitzewitz auf ihrem Spaziergang den breiten 
Kiesweg hinaufſchritt, ſprang ſie auf, eilte der 
Herankommenden entgegen, küßte ihr die Hand 
und ſagte: „Ich habe es gethan.“ Sie war 
dabei hochroth und zitterte, aber ſie weinte nicht. 


304 Vor dem Sturm. 


Von dieſem Augenblick an war die Freundſchaft 
geſchloſſen. Frau von Vitzewitz ſtreichelte ihr 
das Haar und ſah ſie feſt und freundlich an; 
dann führte ſie ſie zu der Bank zurück, von der 
ſie aufgeſtanden war, ſtellte Fragen und ließ ſich 
erzählen. Alles beſtätigte ihr den erſten Ein⸗ 
druck. So trennten ſie ſich. Noch am ſelben 
Nachmittage aber ſagte Frau von Vitzewitz zu 
Seidentopf: „Das iſt ein ſeltenes Kind,“ und 
ehe acht Tage um waren, war ſie die Spiel- und 
Schulgenoſſin Renatens. 

Sie war anfangs zurück; alles was ſie 
konnte, war eben leſen und deklamiren. Aber 
ihre ſchnelle Faſſungsgabe, durch Gedächtniß und 
glühenden Eifer unterſtützt, geſtattete ihr das 
Verſäumte wie im Fluge nachzuholen, und ehe 
noch ein halbes Jahr um war, war ſie in den 
meiſten Disziplinen Renaten gleich. Und wie 
ſie den von Frau von Vitzewitz an ihre Fähig⸗ 
keiten geknüpften Erwartungen entſprach, ſo auch 
denen, die ſich auf ihren Charakter bezogen. 
Sie war ohne Laune und Eigenſinn; etwas 
Heftiges, das ſie hatte, wich jedem freundlichen 
Worte. Die beiden Mädchen liebten ſich wie 
Schweſtern. 

Nichts war mißglückt, über Erwarten hinaus 


Vor dem Sturm. 305 


hatten ſich die Wünſche der Frau von Vitzewitz 
erfüllt, dennoch ſtellten ſich immer wieder Be⸗ 
denken bei ihr ein, die freilich jetzt nicht mehr 
das Glück Renatens, ſondern umgekehrt das 
Glück Mariens betrafen. Es galt nicht nur den 
Augenblick, ſondern auch die Zukunft befragen. 
Wie ſollte ſich dieſe geſtalten? War es recht, 
dem Schulzenkinde die Erziehung eines adeligen 
Hauſes zu geben? Wurde Marie nicht in einen 
Widerſpruch geſtellt, an dem ihr Leben ſcheitern 
konnte? Sie theilte dieſe Bedenken ihrem Gatten 
mit, der, von Anfang an dieſelben Skrupel 
hegend, ſofort entſchloſſen war, mit Schulze 
Kniehaſe, zu deſſen Verſtändigkeit er ein hohes 
Vertrauen hatte, die Sache durchzuſprechen. 

Berndt ging in den Schulzenhof, traf Knie— 
haſe mitten in Rechnungsabſchlüſſen, die das nach 
Küſtrin hin gelieferte Stroh- und Hafer⸗Quantum 
betrafen, rückte mit ihm in die Fenſterniſche und 
ſtellte ihm alles vor, wie er es mit der Frau 
von Vitzewitz beſprochen hatte. 

Schulze Kniehaſe hörte aufmerkſam zu, bung 
ſagte er, als ſein Gutsherr ſchwieg: er habe 
ſich's, als von der Sache zuerſt geſprochen 
wurde, auch überlegt, ob er dem Kinde nicht die 
Ruhe nehme, die doch mehr ſei als alles Lernen 

Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 122 


306 Bor dem Sturm. 


und Wiſſen. All ſein Ueberlegen aber habe doch 
immer wieder dahin geführt, daß es das Beſte 
ſein würde, die gnädige Frau, die es ſo gut 
meine, ruhig gewähren zu laſſen. So ſei es ein 
halbes Jahr gegangen. Es jetzt nun nach der 
entgegengeſetzten Seite hin zu ändern, ſei nur 
rathſam, wenn es der ausgeſprochene Wille der 
gnädigen Frau ſei. Sein eigener Wunſch und 
Wille ſei es ſchon ſeit Monaten nicht mehr; die 
Bedenken, die er anfangs gehabt, ſeien mehr und 
mehr von ihm abgefallen. Er wiſſe auch wohl 
warum. Das Kind, das ihm die Hand Gottes 
faſt auf die Schwelle ſeines Hauſes gelegt habe, 
ſei kein bäuerlich Kind; es ſei nicht bäuerlich von 
Geburt und nicht bäuerlich von Erſcheinung. Er 
ſäße ſo mitunter in der Dämmerſtunde und 
mache ſich Bilder, wie auch wohl andere Leute 
thäten, aber wie vielerlei auch an ihm vorüber 
zöge, nie ſähe er ſeine Marie mit geſchürztem 
Rock und zwei Milcheimern, unter dem Zurufe 
lachender Knechte über den Hof gehen. Er liebe 
das Kind, als ob es ſein eigen wäre; aber er 
betrachte es doch als ein fremdes, das eines 
Tages ihm wieder abgefordert werden würde. 
Nicht von den Menſchen, wohl aber von der 
Natur. Es wird ſo ſein, wie mit den Enten im 


Bor dem Sturm. 307 


Hühnerhof, die eines Tages fortſchwimmen, 
während die Henne am Ufer ſteht. 

Als Kniehaſe ſo geſprochen, hatte ihm Berndt 
von Vitzewitz die Hand gereicht, und im Herren⸗ 
hauſe ſchwiegen von jenem Tage an alle Be⸗ 
denken. 

Auch der Tod der Frau von Vitzewitz, 
ſchmerzlich wie er von Marie empfunden wurde, 
änderte nichts in ihrem Verhältniß zu den 
Zurückgebliebenen. Tante Schorlemmer kam ins 
Haus und frei von jener Liebedienerei, die ſich 
in Bevorzugung Renatens hätte gefallen können, 
betrachtete ſie vielmehr beide Mädchen wie 
Geſchwiſter und umfaßte fie mit gleicher Herz- 
lichkeit. | 

Nach der Einſegnung hörten die Unterrichts- 
ſtunden auf, aber die beiden Mädchen waren zu 
innig an einander gekettet, als daß der Wegfall 
dieſes äußerlichen Bandes das Geringſte an 
ihrer Verkehrs⸗ und Lebensweiſe hätte ändern 
können. Der Geburts- und Standesunterſchied 
wurde von Renate nicht geltend gemacht, von 
Marie nicht empfunden. Sie ſah in die Welt 
wie in einem Traum und ſchritt ſelber traumhaft 
darin umher. Ohne ſich Rechenſchaft davon zu 
geben, ſtellten ſich ihr die hohen und niederen 

122 * 


308 Bor dem Sturm. 


Geſellſchaftsgtade als bloße Rollen dar, die wohl 
dem Namen nach verſchieden, ihrem Weſen nach 
aber gleichwerthig waren. Es war im Zuſammen⸗ 
hange damit, daß unter allen Bildern, die ſich im 
Vitzewitzeſchen Hauſe befanden, eine Nachbildung 
des „Lübecker Todtentanzes,“ bei allem Er⸗ 
ſchütternden, doch zugleich den erhebendſten Ein⸗ 
druck auf ſie gemacht hatte. Die Predigt von 
einer letzten Gleichheit aller irdiſchen Dinge 
ſprach das aus, was dunkel in ihr ſelber lebte. 
Dabei war ſie ohne Anſpruch und ohne Begehr. 
Alles Schöne zog ſie an; aber es drängte ſie nur 
daran Theil zu nehmen, nicht es zu beſttzen. 
Es war ihr wie der Sternenhimmel; ſie freute 
ſich ſeines Glanzes, aber ſie ſtreckte nicht die 
Hände danach aus. 

Dieſe Unbegehrlichkeit hatte ſich auch an 
ihrem ſechszehnter Geburtstage gezeigt. Bei 
dieſer Gelegenheit erhielt ſie als großes Geſchenk 
des Tages ihr eigenes Zimmer. Beide Knie⸗ 
haſes führten ſie, mit einer gewiſſen Feierlichkeit, 
in die nördliche Giebelſtube, die geradeaus den 
Blick auf den Park, nach rechts hin auf die 
Kirche hatte und ſagten: „Marie, das iſt nun 
Dein; ſchalte und walte hier; erfülle Dir jeden 
kleinen Wunſch; uns ſoll es eine Freude ſein.“ 


r 


Bor dem Sturm. 309 


Marie, im erſten Sturm des Glückes, hatte 
ein Hin⸗ und Herſchieben mit Schrank und Näh⸗ 
tiſch, mit Bücherbord und Kleidertruhe begonnen, 
aber dabei war es geblieben. Es kam ihr nicht 
in den Sinn, ihrem alten, ihr lieb gewordenen 
Beſitz etwas Neues hinzuzufügen. Was ſie hatte, 
freute ſie, was ſie nicht hatte, entbehrte ſie nicht. 

„Sie hat Muth und ſie iſt demüthig,“ 
hatte nach jener erſten Begegnung im Park Frau 
von Vitzewitz zu Paſtor Seidentopf geſagt. Sie 
hätte hinzuſetzen dürfen: „vor allem iſt ſie wahr.“ 
Jenes Wunder, das Gott oft in ſeiner Gnade 
thut, es hatte ſich auch hier vollzogen: innerhalb 


einer Welt des Scheins war ein Menſchenherz 


erblüht, über das die Lüge nie Macht gewonnen 
hatte. Noch weniger das Unlautere. Tante 
Schorlemmer ſagte: „Unſere Marie ſieht nur, 
was ihr frommt, für das, was ſchädigt, iſt ſie 
blind.“ Und jo war es. Phantaſie und Leiden- 
ſchaft, weil ſie ſie ganz erfüllten, ſchützten ſie 
auch. Weil ſie ſtark fühlte, fühlte ſie rein. 

Im Hohen-Bieger Herrenhauſe — es war 
im Winter vor Beginn unſerer Erzählung — 
ſang Renate ein Lied, deſſen Refrain lautete: 


Sie iſt- am Wege geboren, 
Am Weg, wo die Roſen blühn ... 


310 Bor dem Sturm. 


Sie begleitete den Text am Klavier. 

„Weißt Du, an wen ich denken muß, ſo oft 
ich dieſe Strophen ſinge,“ fragte Renate den 
hinter ihrem Stuhl ſtehenden Lewin. 

„Ja,“ antwortete dieſer, „Du giebſt keine 
ſchweren Räthſel auf.“ | 

„Nun?“ 

„An Marie.“ 

Renate nickte und ſchloß das Klavier. 


XI. 
Prediger Seidentopf. 


In der Mitte des Dorfes, neben dem 
Schulzenhof, lag die Pfarre, ein über hundert 
Jahre altes, etwas zurück gebautes Giebelhaus, 
das an Stattlichkeit weit hinter den meiſten 
Bauerhöfen zurückblieb. Es war das einzige 
größere Haus im Dorfe, das noch ein Strohdach 
hatte. Zu verſchiedenen Malen war davon die 
Rede geweſen, dieſes der Dorfgemeinde ſowohl 
um ihres Paſtors wie um ihrer ſelbſt willen 
deſpektirlich erſcheinende Strohdach durch ein 
Ziegeldach zu erſetzen; unſer Freund Seidentopf 
aber, der in dieſem Punkte wenigſtens ein 
gewiſſes Stilgefühl hatte, hatte beſtändig gegen 


DD 0 Al a a ln 44 ˙ a in ne 


Hor dem Sturm. 311 


ſolche Moderniſirung proteſtirt. „Es ſei gut ſo, 
wie es ſei.“ Und darin hatte er vollkommen 
Recht. Es war eben ein Dorfidyll, das durch 
jede Aenderung nur verlieren konnte. Der Giebel 
des Hauſes ſtand nach vorn; dicht unter dem 
Strohdach hin lief eine Reihe kleiner, überaus 
freundlich blickender Fenſter, während die Fach⸗ 
werkwände bis hoch hinauf mit Brettern be— 
kleidet und den ganzen Sommer über mit Wein, 
Pfeifenkraut und Spalierobſt überdeckt waren. 
Neben der Hausthüre ſtand ein Roſenbaum, der, 
bis an den Firſt hinauf wachſend, im ganzen 
Oderbruche berühmt war wegen ſeines Alters 


Rund ſeiner Schönheit. Auch das winterliche Bild, 


das die Pfarre bot, war nicht ohne Reiz. Eine 
mächtige Schneehaube ſaß auf ſeinem Dache, 


während die niedergelegten, mit Stroh um— 


wundenen Weinranken, dazu die Matten, die ſich 
ſchützend über dem Spalierobſt ausbreiteten, dem 
Ganzen ein ſorgliches und in ſeiner Sorglichkeit 
wohnlich anheimelndes Anſehen gaben. 

Dem entſprach auch das Innere. Die Haus⸗ 
thür, wie oft in den märkiſchen Pfarrhäuſern, 
hatte eine Klingel, keine von den großen, lärmenden, 
die den Bewohnern zurufen: „Rettet Euch, es 
kommt wer,“ ſondern eine von den kleinen ſtill 


312 Hor dem Sturm. 


geſtimmten, die dem Eintretenden zu ſagen 
ſcheinen: „Bitte ſchön, ich habe Sie ſchon ge— 
meldet.“ Der Thür gegenüber, an der ent⸗ 
gegengeſetzten Seite des langen, faſt durch das 
ganze Haus hinlaufenden Flurs, befand ſich die 
Küche, deren aufſtehende Thüre immer einen 
Blick auf blanke Keſſel und flackerndes Herdfeuer 
gönnte. Die Zimmer lagen nach rechts hin. An 
der linken Flurwand, die zugleich die Wetter⸗ 
wand des Hauſes war, ſtanden allerhand Schränke, 
breite und ſchmale, alte und neue, deren Simſe 
mit zerbrochenen Urnen garnirt waren; da⸗ 
zwiſchen in den zahlreichen Ecken hatten aus⸗ 
gegrabene Pfähle von verſteinertem Holz, Wall- 
fiſchrippen und halbverwitterte Grabſteine ihren 
Platz gefunden, während an den Querbalken des 
Flurs verſchiedene ausgeſtopfte Thiere hingen, 
darunter ein junger Alligator mit bemerkens⸗ 
werthem Gebiß, der, ſo oft der Wind auf die 
Hausthür ſtand, immer unheimlich zu ſchaukeln 
begann, als flöge er durch die Luft. Alles in 
allem eine Ausſtaffirung, die keinen Zweifel 
darüber laſſen konnte, daß das Hohen Vietzer 
Predigerhaus zugleich auch das Haus eines 
leidenſchaftlichen Sammlers ſei. 

Machte ſchon der Flur dieſen Eindruck, ſo 


Bor dem Sturm. 313 


ſteigerte ſich derſelbe beim Eintritt in das nächſt⸗ 
gelegene Zimmer, das einem Antikenkabinet un⸗ 
gleich ähnlicher ſah, als einer chriſtlichen Prediger⸗ 
ſtube. Zwar war der Bewohner deſſelben erſicht⸗ 
lich bemüht geweſen, Amt und Neigung in ein 
gewiſſes Gleichgewicht zu bringen, war aber 
damit geſcheitert. Es ſei geſtattet, einen Augen⸗ 
blick bei dieſem Punkte zu verweilen. | 
Die Studirftube bejaß zwei nach dem Garten 
hinaus ſehende Fenſter, zwiſchen denen unſer 
Freund eine bis in die Mitte des Zimmers 
gehende Scheidewand gezogen hatte. So waren 
zwei große, faſt kabinetartige Fenſterniſchen 
gewonnen, von denen die eine dem Prediger 
Seidentopf, die andere dem Sammler und 
Alterthumsforſcher gleichen Namens angehörte. 
Innerhalb dieſer Niſchen war das Balancir⸗ 
ſyſtem, das ſich ſchon in ihrer äußeren Anlage 
zu erkennen gab, ebenfalls feſtgehalten, indem 
auf dem Arbeitstiſche in der Camera archaeologica 
„Bekmanns hiſtoriſche Beſchreibung der Kurmark 
Brandenburg, Berlin 1751 bis 53,“ auf dem 
Arbeitstiſch in der Camera theologica „Dr. Martin 
Luthers Bibelüberſetzung, Augsburg 1613“ auf⸗ 
geſchlagen lag. Beides Prachtbücher, wie ſie 
nur ein Sammler hat, groß, dick, in feſtem 


314 Hor dem Sturm. 


Leder, mit hundert Bildern. Ueber eine Aeuße⸗ 
rung des Kandidaten Uhlenhorſt, der auf einer 
Verſammlung in Hohen-Sathen gejagt haben 
ſollte: „Prediger Seidentopf greife mitunter 
fehl und ſchlage in Bekmann ſtatt in der Bibel 
nach“ gehen wir wie billig an dieſer Stelle hin. 

Es war dies ein rechter Uhlenhorſtſcher— 
Sarkasmus, wie ihn die Konventikler wohl zu 
haben pflegen; aber darin hatten ſie Recht, daß 
nicht nur der in der archäologiſchen Abtheilung 
ſtehende Lehnſtuhl viel tiefer eingeſeſſen, ſondern 
daß auch der ganze, diesſeits der Fenſterniſchen 
verbliebene Reſt des Zimmers ein heidniſches 
Muſeum, eine bloße Fortſetzung alles deſſen 
war, was ſchon der Flur geboten hatte. Nur 
die Wallfiſchrippe und der Alligator fehlten. 
Zwei mächtige, rechts und links neben der Thür 
ſtehende, über den Sims hin durch einen Mittelbau 
verbundene Glasſchränke bildeten eine Art Arcus 
triumphalis, durch den man in die Studirſtube 
eintrat; und alles, von dem Steinmeſſer und 
dem Aſchenkrug an, was die märkiſche Erde nur 
je an Alterthumsfunden herausgegeben hat, das 
fand ſich hier zuſammen. Daneben konnte freilich 
die theologiſche Bibliothek des Zimmers nicht 
beſtehen, die, ihrer äußerſten Verſtaubung ganz 


Bor dem Sturm. 315 


zu geſchweigen, auf einem ſchmalen zweibrettrigen 
Real zwiſchen Wandvorſprung und Ofen ihre 
Unterkunft gefunden hatte. 

Unſer Seidentopf war ein archäologiſcher 
Enthuſiaſt trotz einem, und ausgerüſtet mit all 
den Schwächen, die von dieſem Enthuſiasmus ſo 
unzertrennlich ſind wie die Eiferſucht von der 
Liebe. Er phantaſirte, er ließ ſich hinters Licht 
führen; aber in einem unterſchied er ſich von der 
großen Armee ſeiner Genoſſen: er ſammelte nicht, 
um zu ſammeln, ſondern um einer Idee willen. 
Er war Tendenzſammler. 

Innerhalb der Kirche, wie Uhlenhorſt ſagte, 
ein Halber, ein Lauwarmer, hatte er, ſobald es 
ſich um Urnen und Todtenköpfe handelte, die 
Dogmenſtrenge eines Großinquiſitors. Er duldete 
keine Kompromiſſe, und als erſtes und letztes 
Reſultat aller ſeiner Forſchungen ſtand für ihn 
unwandelbar feſt, daß die Mark Brandenburg 
nicht nur von Uranfang an ein deutſches Land 
geweſen, ſondern auch durch alle Jahrhunderte 
hin geblieben ſei. Die wendiſche Invaſion 
habe nur den Charakter einer Sturzwelle gehabt, 
durch die oberflächlich das eine oder andere 
geändert, dieſer oder jener Name ſlaviſirt worden 
ſei. Aber nichts weiter. In der Bevölkerung, 


2 Bor dem Sturm. 


wie durch die Sagen von Fricke und Wotan 
bewieſen werde, habe deutſche Sitte und Sage 
fortgelebt, am wenigſten ſeien die Wenden, wie 
ſo oft behauptet werde, in die Tiefen der Erde 
eingedrungen. Ihre ſogenannten „Wendenkirch— 
höfe,“ ihre Todtentöpfe niedrigen Grades, wolle 
er ihnen zugeſtehen, alles andere aber, was ſich 
mit inſtinktiver Vermeidung des Oberflächlichen, 
eingebohrt und eingegraben habe, alles was zu— 
gleich Kultur und Kultus ausdrücke, ſei ſo gewiß 
germaniſch, wie Teut ſelber ein Deutſcher geweſen 
ſei. Um dieſe Sätze drehte ſich für ihn jede 
Debatte von Bedeutung. Er war ſich bewußt, 
in ſeinem archäologiſchen Muſeum durchaus un⸗ 
anfechtbare Belege für ſein Syſtem in Händen 
zu haben, unterſchied aber doch zwiſchen einem 
kleinen und einem großen Beweis. Der kleine 
war ihm perſönlich der liebere, weil er der 
feinere war; er kannte jedoch die Welt genugſam, 
um dem blöden Sinn der Maſſe gegenüber je 
nach einem andern als nach dem großen Beweis 
zu greifen. Die Stücke, die dieſen bildeten, 
befanden ſich ſämmtlich in den zwei großen 
Glasſchränken des Arcus triumphalis, waren 
jedoch ſelbſt wieder in unwiderlegliche und ganz 
unwiderlegliche getheilt, von denen nur die 


Bor dem Sturm. 317 


letzteren die Inſchrift führten: „ultima ratio 
Semnonum.“ Es waren zehn oder zwölf Sachen, 
alle numerirt, zugleich mit Zetteln beklebt, die 
Citate aus Tacitus enthielten. Gleich Nr. 1 
war ein Hauptſtück, ein bronzenes Wildſchweins⸗ 
bild, auf deſſen Zettel die Worte ſtanden: 
Insigne superstitionis formas aprorum gestant, 
„ihren Götzenbildern gaben ſie (die alten 
Germanen) die Geſtalt wilder Schweine.“ Die 
anderen Nummern wieſen Spangen, Ringe, 
Bruſtnadeln, Schwerter auf, woran ſich als die 
Sanspareils und eigentlichen Prachtbeweisſtücke 
der Sammlung drei Münzen aus der Kaiſerzeit 
ſchloſſen, mit den Bildniſſen von Nero, Titus 
und Trajan. Die Trajansmünze trug um das 
lorbeergekrönte Haupt die Umſchrift: „Imp. 
Caes. Trajano Optimo, auf dem daneben 
liegenden Zettel aber hieß es: „gefunden zu 
Reitwein, Land Lebus, in einem Todtenkopf.“ 
Das „in einem Todtenkopf“ war dick unter⸗ 
ſtrichen. Und vom Standpunkte unſeres Freundes 
aus mit vollkommenem Recht. Denn es führte 
den Beweis, oder ſollte ihn wenigſtens führen, 
daß nicht alle Todtenköpfe wendiſch, vielmehr 
die „Todtenköpfe höherer Ordnung“ ebenfalls 
deutſch⸗ſemnoniſchen Urſprungs ſeien. 


318 Bor dem Sturm. 


Auflehnung gegen ſo beredte Zeugen erſchien 
unſerem Seidentopf unmöglich, und dennoch hatte 
er ſie zu befahren, wobei es ſich ſo glücklich oder 
ſo unglücklich traf, daß ſein heftigſter Angreifer 
und ſein älteſter Freund ein und dieſelbe Perſon 
waren. Es ſprach für beide, daß ihre Freund— 
ſchaft unter dieſen Kämpfen nicht nur nicht litt, 
ſondern immer wurzelfeſter wurde; allerdings 
weniger ein Verdienſt unſeres Paſtors, als ſeines 
gut gelaunten Antagoniſten, der weltmänniſch 
über der Sache ſtehend, nicht gewillt war, die 
Semnonen- und Lutizenfrage unter Drangebung 
vieljähriger herzlicher Beziehungen durchzufechten. 
In Wahrheit intereſſirte ihn die „Urne“ erſt 
dann, wenn ſie anfing, die moderne Geſtalt einer 
Bowle anzunehmen. 

Dieſer alte Freund und Gegner war der 
Juſtizrath Turgany aus Frankfurt a. O., der, 
ein Feind aller Prozeßverhandlungen bei trockenem 
Munde, ſpeziell in dem Prozeß „Lutizii contra 
Semnones“ manche liebe Flaſche ausgeſtochen 
hatte, gelegentlich im Pfarrhauſe zu Hohen-Vietz 
am liebſten aber im eigenen Hauſe, nach dem 
Grundſatze, daß er über ſeinen eigenen Wein— 
keller am unterrichtetſten ſei. Schon die 
Studentenzeit hatte beide Freunde, Mitte der 


or dem Sturm. 319 


ſiebziger Jahre, in Göttingen zuſammen geführt, 
wo ſie unter der „deutſchen Eiche“ Schwüre ge⸗ 
tauſcht und Klopſtockſche Bardengeſänge recitirend 
ſich dem Vaterlande Hermanns und Thusneldas 
auf ewig geweiht hatten. Seidentopf war ſeinem 
Schwure treu geblieben. Wie damals in den 
Tagen jugendlicher Begeiſterung erſchien ihm auch 
heute noch der Reſt der Welt als bloßer Roh— 
ſtoff für die Durchführung germaniſch-ſittlicher 
Miſſion; Turgany aber hatte ſeine bei Punſch 
und Klopſtock geleiſteten Schwüre längſt vergeſſen, 
ſchob alles auf den erſteren und gefiel ſich darin 
wenigſtens ſcheinbar, den Apoſtel des Panſlavismus 
zu machen. Die Möglichkeit europäiſcher 
Regeneration lag ihm zwiſchen Don und Dnjepr 
und noch weiter oſtwärts. „Immer,“ ſo hatte 
er bei ſeiner letzten Anweſenheit in Hohen Vietz 
verſichert, „kam die Verjüngung von den Ufern 
der Wolga, und wieder ſtehen wir vor ſolchem 
Auffriſchungsprozeß;“ halb ſcherz⸗, halb ernſthaft 
vorgetragene Paradoxien, die von Seidentopf 
einfach als politiſche Ketzereien ſeines Freundes 
bezeichnet wurden. 

Aber dieſer Freund war nicht halb ſo ſchwarz, 
wie er ſich ſelber malte. Er debattirte nur nach 
dem Prinzip von Stahl und Stein, hart gegen 


320 Bor dem Aturm. 


hart; das gab dann die Funken, die ihm wichtiger 
waren als die Sache ſelbſt. Zudem wußte der 
panſlaviſtiſche Juſtizrath, daß Streit und immer 
wieder in Frage geſtellter Sieg längſt ein Lebens⸗ 
bedürfniß Seidentopfs geworden waren und 
gefiel ſich deshalb in ſeiner Oppoſitionsrolle 
mehr nach aus Rückſicht gegen dieſen, als aus 
Rückſicht gegen ſich ſelbſt. 
(Fortſetzung im ſiebenten Bande.) 


a. 
Pet 


Inhalt des ſechsten Bandes. 


u re 1 
/ ͤ T > 167 


W. Moeſer Hofbuchdruckerei, Berlin, Stallſchreiberſtr. 34. 35. 


„VV ss ein 
* uο r on | 


95 ee 
3 


5 


. 
8 


u 
1 


— 
er 


ae tee 


Set 
Raben 


3 
Fe 2 


3 


— 


r 


= 
= 


er a 
— — > 


Sue 


Ban 


e