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Fontane, Gef. Romane u. Novellen,
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Theodor Fontane's
Belammelie Romane
und
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Band VI.
Berlin W.
Deutſches Verlagshaus
(Emil Dominik).
Fr
Das „jüngſte Gericht“ und was weiter geſchah.
In. jener Stille, wie ſie dem Minde'ſchen
Hausweſen eigen war, verging der Tag; nur der
Pfauhahn kreiſchte von ſeiner Stange, und aus
dem Stallgebäude her hörte man das Stampfen
eines Pferdes, eines ſchönen flandriſchen Thieres,
das der alte Minde, bei Gelegenheit ſeiner
zweiten Heirath, aus den Niederlanden mit heim—
gebracht hatte. Das war nun fünfzehn Jahre;
es war alt geworden wie ſein Herr, aber hatte
beſſere Tage als dieſer. 5
Grete hatte gebeten, das Puppenſpiel im
Rathhauſe beſuchen zu dürfen, und es war ihr,
allem Abmahnen Trud's unerachtet, von ihrem
Vater, dem alten Minde, geſtattet worden, nach⸗
dem dieſer in Erfahrung gebracht hatte, daß auch
Emrentz und Valtin und der alte Zernitz ſelbſt
8 Grete Minde.
dem Spiele beiwohnen würden. Lange vor ſieben
Uhr hatte man Greten abgeholt, und in breiter
Reihe, als ob ſie zuſammen gehörten, ſchritten
jetzt alle gemeinſchaftlich auf das Rathhaus zu.
Die Freitreppe, die hinauf führte, war mit Neu⸗
gierigen beſetzt, auch mit ſolchen, die drinnen ihre
Plätze hatten und nur wieder in's Freie getreten
waren, um ſo lange wie möglich noch der friſchen
Luft zu genießen. Denn in dem niedrig ge-
wölbten Saale war es ſtickig, und kein anderes
Licht fiel ein, als ein gedämpftes von Flur und
Treppe her. In der zweiten Reihe waren ihnen
unter Beiſtand eines alten Stadt- und Raths⸗
dieners einige Mittelplätze frei gehalten worden,
auf denen ſie bequemlich Platz nahmen, erſt
Zernitz ſelbſt und Emrentz, dann Valtin und
Grete. Das war auch die Reihenfolge, in der
ſie ſaßen. Grete war von Anfang an nur Aug'
und Ohr, und als Emrentz ihr aus einem
Sandelkäſtchen allerhand Süßigkeiten bot, wie ſie
damals Sitte waren, überzuckerte Frucht und
kleine Theriak⸗Kügelchen, dankte ſie und weigerte
ſich, etwas zu nehmen. Valtin ſah es und
flüfterte ihr zu: „Fürchteſt Du Dich?“
„Ja, Valtin. Bedenke, das jüngſte Gericht.“
„Wie kannſt Du nur? Es ſind ja Puppen.“
Grete Minde. 9
„Aber ſie bedeuten 'was, und ich weiß doch
nicht, ob es Recht iſt.“
„Das hat Dir Trud' in's Gewiſſen gered't,“
lachte Emrentz, und Grete nickte.
„Glaub' ihr nicht; es iſt 'ne fromme
Sach'. Und in Stendal haben ſie's in der
Kirche geſpielt.“ Und dabei nahm Emrentz eine
von den kandirten Früchten und drückte den
Stengel in ihres Alten große Sommerſproſſen—
Hand. Der aber nickte ihr zärtlich zu, denn er
nahm es für Liebe.
Während dieſes Geſprächs hatte ſich der
Saal auf allen Plätzen gefüllt. Viele ſtanden
bis nach dem Ausgange zu, vor den Zernitzens
aber ſaß der alte Peter Guntz, der ſchon zum
vierten Male Burgemeiſter war, und den ſie um
ſeiner Klugheit und Treue willen immer wieder
wählten, trotzdem er ſchon an die Achtzig zählte.
„Das iſt ja Grete Minde,“ ſagte er, als er des
Kindes anſichtig wurde. „Sei brav, Gret'.“
Und dabei ſah er ſie mit ſeinen kleinen und
tiefliegenden Augen freundlich an.
Und nun wurd' es ſtill, denn auf dem
Rathhausthurme ſchlug es Sieben, und die
Gardine, die bis dahin den Bühnenraum ver-
deckt hatte, wurde langſam zurückgezogen. Alles
10 Grete Minde.
erſchien anfänglich in grauer Dämmerung, als
ſich aber das Auge an das Halbdunkel gewöhnt
hatte, ließ ſich die Herrichtung der Bühne deutlich
erkennen. Sie war, der Breite nach, dreigetheilt,
wobei ſich der treppenförmige Mittelraum etwas
größer erwies, als die beiden Seitenräume, von
denen der eine, mit der ſchmalen Thür, den
Himmel, und der andre, mit der breiten Thür,
die Hölle darſtellte. Engel und Teufel ſtanden
oder hockten umher, jeder auf der ihm zuſtändigen
Seite, während eine hagere Puppe, mit weißem
Rock und trichterförmiger Filzmütze, die dem
lebendigen Hanswurſt des Vormittagsrittes genau
nachgebildet ſchien, zu Füßen der großen Mittel-
treppe ſaß, deren Stufen zu Chriſtus und Maria
hinaufführten. Was nur der Hagere hier ſollte?
Grete fragte ſich's und wußte keine Antwort;
allen anderen aber war kein Zweifel, zu welchem
Zweck er da war, und daß ihm oblag, Schergen—
dienſte zu thun und die Sonderung in Gut' und
Böſe, nach einer ihm werdenden Ordre, oder
vielleicht auch nach eigenem ſouveränem Ermeſſen
durchzuführen. Und jetzt erhob ſich Chriſtus von
ſeinem Thronſeſſel und gab mit der Rechten das
Zeichen, daß das Gericht zu beginnen habe.
Ein Donnerſchlag begleitete die Bewegung ſeiner
Grete Minde. 11
Hand und die Erde that ſich auf, aus der nun,
erſt langſam und ängſtlich, dann aber raſch und
ungeduldig allerhand Geſtalten an's Licht drängten,
die ſich, irgend einen berühmten Todtentanz ent—
nommen, unſchwer als Papſt und Kaiſer, als
Mönch und Ritter, und viel andere noch erkennen
ließen. Ihr Haſten und Drängen entſprach aber
nicht dem Willen des Weltenrichters, und auf
ſeinen Wink eilte jetzt der ſonderbare Scherge
herbei, drückte die Todten wieder zurück und
ſchloß den Grabdeckel, auf den er ſich nun ſelber
gravitätiſch ſetzte.
Nur zwei waren außerhalb geblieben, ein
wohlbeleibter Abt mit einem rothen Kreuz auf
der Bruſt und ein junges Mädchen, ein halbes
Kind noch, in langem weißen Kleid und mit
Blumen im Haar, von denen einzelne Blätter
bei jeder Bewegung niederfielen. Grete ſtarrte
hin; ihr war, als würde ſie ſelbſt vor Gottes
Thron gerufen, und ihr Herz ſchlug und ihre
zarte Geſtalt zitterte. Was wurd' aus dem
Kind'? Aber ihre bange Frage mußte ſich noch
gedulden, denn der Abt hatte den Vortritt, und
Chriſtus, in einem Ton, in dem unverkennbar
etwas von Scherz und Laune mitklang, ſagte:
12 Grete Minde.
Mönchlein, ſchau hin, Du haſt keine Wahl,
Die ſchmale Pforte, Dir iſt ſie zu ſchmal.
Und im ſelben Augenblick ergriff ihn der
Scherge und ſtieß ihn durch das breite Thor nach
links hin, wo kleine Flammen von Zeit zu Zeit
aus dem Boden aufſchlugen.
Und nun ſtand das Kind vor Chriſti Thron.
Maria aber wandte ſich bittend an ihren Sohn
und Heiland, und ſprach an ſeiner Statt:
Dein Tag war kurz, Dein Herze war rein,
Dafür iſt der Himmel Dein.
Geh ein!
Unter Engeln ſollſt Du ein Engel ſein.
Und Engel umfingen ſie, und es war ein
Klingen wie von Harfen und leiſem Geſang.
Und Grete drückte Valtins Hand. Unter allen
Anweſenden aber herrſchte die gleiche Befriedigung,
und der alte Zernitz flüſterte: „Hör', Emrentz,
der verſteht's. Ich glaube jetzt, daß er vor
Kaiſer und Reich geſpielt hat.“
Und das Spiel nahm ſeinen Fortgang.
Inzwiſchen, es hatte zu dunkeln begonnen,
waren die Mindes in dem rechts neben der Ylur-
thür gelegenen Unterzimmer verſammelt, und
nahmen an einem Tiſche, der nur zur Hälfte
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Grete Minde. 13
gedeckt war, ihre Abendmahlzeit ein. Der alte
Jakob Minde hatte den Platz an der einen
Schmalſeite des Tiſches, während Trud und
Gerdt, ſeine Schwieger und ſein Sohn, an den
Längsſeiten einander gegenüber ſaßen, Trud ſteif
und aufrecht, Gerdt bequem und nachläſſig in
Kleidung und Haltung. In allem der Gegenpart
ſeines Weibes; auch ſeines Vaters, der trotz eines
Zehrfiebers an dem er litt, aus einem ſtarken
Gefühle deſſen, was ſich für ihn zieme, die
Schwäche ſeines Körpers und ſeiner Jahre be—
zwang.
Es ſchien, daß Trud ihre ſchon Vormittags
gegen Emrentz gemachten Bemerkungen über das
Puppenſpiel eben wiederholt hatte, denn Jakob
Minde, während er einzelne von den großen
Himbeeren nahm, die, wie er es liebte, mit den
Stielchen abgepflückt worden waren, ſagte: „Du
biſt zu ſtreng, Trud, und Du biſt es, weil Du
nur unſer Tangermündiſch Thun und Laſſen
kennſt. Und in Alt-Gardelegen iſt es nicht anders.
Aber draußen in der Welt, in den großen Ländern
und Städten, da wagt ſich die Kunſt an alles
Höchſte und Heiligſte, und ſie haben fromme und
berühmte Meiſter, die nie anders gedacht und ge—
dichtet, und gemalt und gemeißelt haben, als die
14 Grete Minde.
Glorie des Himmels und die Schreckniſſe der
Hölle.“
„Ich weiß davon, Vater,“ ſagte Trud ab—
lehnend. „Ich habe ſolche Bilder in unſrer
Gardelegner Kirche geſehn, aber ein Bild iſt
etwas andres als eine Puppe.“
„Bild oder Puppe,“ lächelte der Alte. „Sie
wollen daſſelbe, und das macht ſie gleich.“
„Und doch, Vater, mein’ ich, iſt ein Unter-
ſchied, ob ein frommer und berühmter Meiſter,
wie Du ſagſt, eine Schilderei malt zur Ehre
Gottes, oder ob ein unchriſtlicher Mann, mit
einem Türkenweib und einem Pickelhäring, Ge—
winnes halber über Land zieht und mit ſeinem
Spiel die Schenken füllt und die Kirchen leert.“
„Ah, kommt es daher?“ lachte Gerdt und
ſtreckte ſich noch bequemer in ſeinem Stuhl.
„Daher alſo. Warſt heut in der Pfarr' und
da haben wir nun den Pfarrwind. Ja, das iſt
Gigas; er bangt um ſich und ſeine Kanzel. Und
nun gar das jüngſte Gericht! Das iſt ja ſein
eigener Acker, den er am beſten ſelber pflügt.
So wenigſtens glaubt er. Weiß es Gott, ich
hab' ihn nie ſprechen hören, auch nicht bei Hochzeit
und Kindelbier, ohne daß ein hölliſch Feuer aus
irgend einem Ritz oder Ritzchen aufgeſchlagen
Grete Minde. 15
wär'. Und nun kommt dieſer Puppenſpieler und
thut's ihm zuvor und brennt uns ein wirklich
Feuerwerk ....“
Er konnte ſeinen Satz nicht enden, denn in
eben dieſem Augenblicke hörten fie, vom Markt-
platze her, einen dumpfen Knall, der ſo heftig
war, daß alles Geräth im Zimmer in ein Klirren
und Zittern kam; und eh ſie noch einander
fragen konnten, was es ſei, wiederholten ſich die
Schläge, dreimal, viermal, aber ſchwächer. Trud
erhob ſich, um auf die Straße zu ſehn, und ein
dicker Oualm, der ſich in Höhe der gegenüber—
gelegenen Häuſern hinzog, ließ keinen Zweifel,
daß bei den Puppenſpielen ein Unglück geſchehen
fein müſſe. Flüchtig Vorübereilende beſtätigten
es, und Trud, indem ſie ſich in's Zimmer zurüd-
wandte, ſagte triumphirend: „Ich wußt' es: Gott
läßt ſich nicht ſpotten.“ Auf Gerdt's blaſſem
und gedunſenem Geſicht aber wechſelten Furcht
und Verlegenheit, wodurch es nicht gewann,
während der alte Minde ſein Käpſel abnahm und
mit halblauter Stimme die Barmherzigkeit Gottes
und den Beiſtand aller Heiligen anrief. Denn
er war noch aus den katholiſchen Zeiten her.
In einem Anfluge von Theilnahme war Trud,
die ſonſt gern ihre herbe Seite herauskehrte, an
16 Grete Minde.
den Alten herangetreten und hatte ihre Hand auf
die Rückenlehne ſeines Stuhls gelegt, als ſie aber
den Namen Gretens zum dritten Mal aus ſeinem
Munde hörte, wandte ſie ſich wieder ab und ſchritt
unruhig und übellaunig im Zimmer auf und
nieder. Man ſah, daß ſie fremd in dieſem Hauſe
war, und keine Gemeinſchaft mit den Mindes
hatte. |
Sie war eben wieder ans Fenſter getreten
und ſah nach dem Marktplatze hin, als ſie plötzlich,
inmitten einer Gruppe, Greten ſelbſt erkannte,
die mit einem Stücke Zeug unterm Kopf, auf
einer Bahre herangetragen wurde. War fie todt?
Es war oft ihr Wunſch geweſen; aber dieſer
Anblick erſchütterte ſie doch. „Gott, Grete!“
rief ſie und ſank in einen Stuhl.
Die Träger hatten mittlerweile die Bahre
niedergeſetzt und trugen das ſchöne Kind, deſſen
Arme ſchlaff herabhingen, von der Straße her
in's Zimmer. „Hier,“ ſagte Gerdt, als er die
Leute verlegen und unſchlüſſig daſtehen ſah und
wies auf eine mit Kiſſen überdeckte Truhe. Und
auf eben dieſe legten ſie jetzt die ſcheinbar Lebloſe
nieder. Mit ihnen war auch die alte Regine, die
Pflegerin Gretens, jammernd und weinend ein—
getreten, und beruhigte ſich erſt, als nach Be—
Grete Minde. 17
ſprengen mit friſchem Waſſer ihr Liebling die
Augen wieder aufſchlug.
„Wo bin ich?“ fragte Grete. „Ach .. . . nicht
in der Hölle!“ Ä
„Gott, mein ſüß Gretel,“ zitterte Regine
hin und her. „Was ſprichſt Du nur? Du biſt
ja ein gutes und liebes Kind. Und ein gutes
und liebes Kind, das kommt in den Himmel.
Aber das iſt auch noch nicht, noch lange nicht.
Du kommſt auch noch nicht in den Himmel. Du
biſt noch bei uns. Gott ſei Dank, Gott ſei
Dank. So ſieh doch, ſieh doch, ich bin ja Deine
alte Regine.“
Die Träger ſtanden noch immer verlegen da,
bis der alte Minde ſie bat, ihm zu erzählen, was
vorgefallen ſei. Aber ſie wußten nicht viel, da
ſie wegen des großen Andrangs nur draußen
auf der Treppe geweſen waren. Sie hatten nur
gehört, daß, gegen den Schluß hin, ein brennender
Papierpfropfen in das mit Schwärmern und
und Feuerrädern angefüllte Vorrathsfaß des
Puppenſpielers gefallen ſei, und daß es im ſelben
Augenblicke einen Schlag und gleich darauf ein
furchtbar Menſchengedränge gegeben habe. In
dem Gedräng aber ſeien zwei Frauen und ein
jechsjährig Kind elendiglich ums Leben gekommen.
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 104
18 Grete Minde.
Grete richtete ſich auf, erſichtlich um zu
ſprechen und den Bericht nach ihrem eigenen Er—
lebniß zu vervollſtändigen; als ſie aber ihrer
Schwieger anſichtig wurde, wandte ſie ſich ab und
ſagte: „Nein, ich mag nicht.“
Trud wußte wohl, was es war. Sie nahm
deshalb ihres Mannes Hand und ſagte: „Komm.
Es iſt beſſer, Grete bleibt allein. Wir wollen
in die Stadt gehen und ſehen wo Hülfe ah
thut.“ Und damit gingen Beide.
Als ſie fort waren, wandte ſich Grete wieder
und ſagte, ohne daß es einer neuen Aufforderung
bedurft hätte: „Ja, ſo war es. Der Hagre mit
den Schlackerbeinen und der häßlichen, ſpitzen
Filzmütze, bat ihn eben, daß er ihm als einen
Bringerlohn eine von den Seelen wieder frei—
geben ſolle, — da gab es einen Knall, und als
ich mich umſah, ſah ich, daß alles nach der Thüre
hindrängte. Denn da, wo das Spiel geweſen
war, war alles Rauch und Qualm und Feuer.
Und ich dachte, der letzte Tag ſei da. Und
Emrentz hatte mich bei der Hand genommen und
zog mich mit ſich fort. Aber mit einem Male
war ich von ihr los und da ſtand ich nun und
ſchrie, denn es war, als ob ſie mich erdrückten,
und zuletzt hatt' ich nicht Luft und Athem mehr.
Grete Minde. 19
Da packte mich Valtin von hinten her und riß
mich aus dem Gedränge heraus und in den Saal
zurück. Und ich meinte, daß er irre geworden,
und ſo wollt' ich wieder in den Knäuel hinein.
Er aber zwang mich auf eine Bank nieder und hielt
mich mit beiden Händen feſt. „Willſt Du mich
morden?“ rief ich. „Nein, retten will ich Dich.“
Und ſo hielt er mich, bis er ſehen mochte, daß
das Gedränge nachließ. Und nun erſt nahm er mich
auf ſeinen Arm und trug mich über den Vorplatz
und die Treppe hinunter, bis wir unten auf dem
Marktplatz waren. Da ſchwanden mir die Sinne.
Und was weiter geſchehen, weiß ich nicht. Aber
das weiß ich, daß ich ohne Valtin erdrückt oder
verbrannt, oder vor Angſt geſtorben wäre.“
Der alte Minde war an einen Schrank ge—
treten, um von ſeinem Meliſſengeiſt, den er noch
bei den Brügger Carmeliterinnen erſtanden hatte,
ein paar Tropfen in ein Spitzglas mit Wein und
Waſſer zu thun. Grete nahm es; und als eine
halbe Stunde ſpäter Trud und Gerdt von ihrem
Ausgange zurückkehrten, verſicherte ſie, kräftig
genug zu ſein, um ohne Beiſtand in ihre hohe
Giebelſtube hinaufſteigen zu können.
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104*
20 Grete Minde.
4.
Regine.
Dieje Giebelſtube theilte fie mit der alten
Regine, die von lange her das Minde'ſche Haus—
weſen führte. Freilich, ſeit Trud da war, war
es anders geworden aber zu Niemandes rechter
Zufriedenheit. Am wenigſten zur Zufriedenheit
der alten Regine. Dieſe ſetzte ſich jetzt an das
Bett ihres Lieblings und Grete ſagte: „Weißt
Du, Regine, Trud iſt böſe mit mir.“
Regine nickte.
„Und darum konnt' ich's nicht ſagen,“ fuhr
Grete fort, „ich meine das von dem Valtin und
daß er mich aus dem Feuer herausgetragen; und
ſie merkte wohl, was es war, und warum ich ſchwieg
und mich abwandte. Denke nur, ich ſoll nicht mehr
ſprechen mit ihm. Ja, ſo will ſie's; ich weiß
es von ihm ſelbſt; er hat mir's heute geſagt.
Und er hat es von der Emrentz. Aber die hat
gelacht. Höre, Regine, der Emrentz könnt' ich
gut ſein. Wenn ich doch eine Mutter hätte wie
die! Ach, meine Mutter! Glaubſt Du nicht,
daß ſie mich lieb hätte?“
„Das hätte ſie,“ ſagte Regine und fuhr ſich
mit der Hand über das Auge; „das hätte ſie.
Grete Minde. 21
Jede Mutter hat ihr Kind lieb, und Deine
Mutter, ... ach, ich mag es gar nicht denken.
Ja, mein Gretelchen, da hätten wir andre Tage,
Du und ich. Und der Vater auch. Er iſt jetzt
krank, und Trud iſt hart mit ihm und glaubt es
nicht. Aber ich weiß es, und weiß ſchon, was
ihm fehlt; ein Herz fehlt ihm, und das iſt es,
was an ihm nagt und zehrt. Ja, Deine Mutter
fehlt ihm, Gret'. Er war nicht mehr jung, als
er ſie von Brügg' her in's Haus bracht', aber er
liebte ſie ſo, und das mußt' er auch, denn ſie war
wie ein Engel. Ja, ſo war ſie.“
„Und wie ſah ſie aus? Sage mir's.“
„Ach, Du weißt es ja. Wie Du. Nur
hübſcher, jo hübſch Du biſt. Denn es iſt, als
ob Du das blaſſe Bild von ihr wärſt. Und ſo
war es gleich den erſten Tag, als Dein Vater
Dich auf den Arm nahm und ſagte: „ſieh' Gerdt,
das iſt Deine Schweſter.“ Aber er wollte Dich
nicht ſehn. Und als ich ihm zuredete und ſagte:
„ſieh' doch nur ihre ſchwarzen Augen; die hat
ſie von der Mutter,“ da lief er fort und ſagte:
„von ihrer Mutter. Aber das iſt nicht meine.“
„Und wie war denn ſeine Mutter? Haſt
Du ſie noch gekannt?“
„O gewiß.“
*
ID
Grete Minde.
„Und war ſie ſchöner?“
„Ach, was Du nur frägſt, Gretel. Schöner
als Deine Mutter? Schöner war keine. s war eine
Stendal'ſche, weiter nichts, und der alte Zernitz,
der ſie nicht leiden konnt', und immer über ſie
lachte, wiewohlen ſie mit ſeiner eignen Frau zum
Verwechſeln war, der ſagte: „Höre, Regine,
ſieht ſie nicht aus wie der Stendal'ſche Roland?“
Und wahrhaftig, ſo ſah ſie auch aus, ſo ſteif und
ſo lang und ſo feierlich. Und auch ſo ſchlohweis,
denn ſie trug immer ſelbſtgebleichtes Linnen!
Und warum trug ſie's? Weil ſie geizig war;
und es ſollt' immer mehr und mehr werden.
Denn ſie war eines reichen Brauherrn Tochter,
und alles Geld, das wir haben, das kommt
von ihr.“ |
„Und hatte fie der Vater auch lieb?“
„Ich hab' ihm nicht in's Herz geſehen. Aber
ich glaub's nicht recht. Denn ſieh, ſie hatte keine
Liebe, und wer keine Liebe hat, der find't auch
keine. Das iſt ſo Lauf der Welt, und es
war juſt ſo, wie's mit der Trud iſt. Aber ein
Unterſchied iſt doch. Denn unſre Trud, obwohlen
ſie mir das gebrannte Herzeleid anthut, iſt doch
hübſch und klug, und weiß was ſie will, und
paßt in's Haus, und hat eine vornehme Art.
Grete Minde. 23
Das haben ſo die Gardelegenſchen. Aber die
Stendalſche, die hatt' es nicht und hat keinem
was gegönnt, und paßte nicht in's Haus, und
wäre nicht der Grabſtein mit der langen In⸗
ſchrift, es wüßte keiner mehr von ihr. Auch
Gigas nicht. Und zu dem hielt ſie ſich doch nnd
ging in die Beichte.“
„Und zu dem ſoll ich nun auch gehen,
Regine; morgen ſchon. Trud iſt bei ihm geweſen,
und das Spielen und Klettern ſoll nun ein End'
haben, und ich ſoll vernünftig werden, ſo ſagen
ſie. Aber ich fürchte mich vor Gigas. Er
ſieht einem ſo durch und durch, und mir iſt
immer, als mein' er, ich verſtecke was in
meinem Herzen und ſei noch katholiſch von der
Mutter her.“ |
„O, nicht doch, Gret'. Er hat Dich ja
ſelber getauft. Und jeden Sonntag biſt Du zur
Kirch' und ſingſt Dr. Lutheri Lieder, und ſingſt
fte, wie ſie Gigas nicht fingen kann. Ich hör'
immer Deine feine kleine Stimme. Nein, nein,
laß nur und ängſt'ge Dich nicht. Er meint es
gut. Und nun ſchlaf, und wenn Du von dem
Puppenſpiele träumſt, ſo gieb Acht, mein Gretel,
und träume von der Seite, wo die Engel ſtehn.“
Und damit wollte ſie nebenan in ihre
24 Grete Minde.
Kammer gehen. Aber ſie kehrte noch einmal um
und ſagte: „Und weißt Du, Grete, der Valtin
iſt doch ein guter Jung'. Alle Zernitzens ſind
gut.... Und von dem Valtin darfſt Du auch
träumen. Ich erlaub es Dir, ich, Deine alte
Regine.“
Grete bei Gigas.
Es war den andern Vormittag und von
Sanct Stephan ſchlug es eben zehn, als Trud
und Grete die Lange Straße hinauf gingen.
Trotz früher Stunde brannte die Sonne ſchon,
und beide ſtanden unwillkürlich ſtill und athmeten
auf, als ſie den ſchattigen Lindengang erreicht
hatten, der, an der niedrigen Kirchhofsmauer
entlang, auf das Prediger-Haus zulief. Auch
dieſes Haus ſelber lag noch unter alten Linden
verſteckt, in denen jetzt viele hunderte von Sper-
lingen zwitſcherten. Eine alte Magd, als die
Glocke das Zeichen gegeben, kam ihnen vom
Hof oder Küche her entgegen, und wies, ohne
gegrüßt oder gefragt zu haben, nach links hin
auf die Studirſtube. Wußte ſie doch, daß Frau
Trud immer willkommen war.
Grete Minde. 25
Es war ein ſehr geräumiges Zimmer, mit
drei großen und hohen Fenſtern, ohne Vorhänge,
wahrſcheinlich um das wenige Licht, das die
Bäume zuließen, nicht noch mehr zu verkümmern.
An den Wänden hin liefen hohe Regale mit
hundert Bänden in braun und weißem Leder,
während an einem vorſpringenden Pfeiler, gerade
der Thür gegenüber, ein halblebensgroßes Crucifix
hing, das auf einen langen, eichenen Arbeitstiſch
herniederſah. Auf dieſem Tiſche, zwiſchen auf-
geſchlagenen Büchern und zahlreichen Aktenſtößen,
aber bis an die Crucifixwand zurückgeſchoben,
erhob ſich ein zierliches, fünfſtufiges Ebenholz—
treppchen, das, in beabſichtigtem oder zufälligem
Gegenſatz, oben einen Todtenkopf und unten um
ſeinen Sockel her einen Kranz von rothen und
weißen Roſen trug. Eigene Zucht. Zehn oder
Zwölf, die das Zimmer mit ihrem Dufte füllten.
Gigas, als er die Thür gehen hörte, wandte
ſich auf ſeinem Drehſchemel und erhob ſich, ſobald
er Trud erkannte. „Ich bitt' Euch Platz zu
nehmen, Frau Minde.“ Dabei ſchob er ihr
einen Stuhl zu, und fuhr in ſeiner Rede fort:
„Das iſt alſo Grete, von der Ihr mir erzählt
habt, Eure Schwieger und Euer Kind. Denn
Ihr tragt es auf dem Herzen, und ſein Wohl
26 Grete Minde.
und Weh iſt auch das Eure. Und das jchäß’
ich an Euch, Frau Minde. Denn der Teufel
mit ſeinen Liſten geht immer um, am meiſten
aber bei der Jugend, und von ihr gilt es
doppelt: ‚Wachet und betet, daß ihr nicht in
Anfechtung fallet.“ Beteſt Du, Grete?“
„Ja, Herr.“ )
„Oft?“
„Jeden Abend.“
Er ſah, daß Grete zitterte und immer auf
Trud blickte, aber nicht um Rath und Troſtes
willen, ſondern aus Scham und Scheu. Und
Gigas, der nicht nur das menſchliche Herz
kannte, ſondern ſich aus erbitterten Glaubens⸗
kämpfen her auch einen Schatz ächter Liebe ge—
rettet hatte, wandte ſich jetzt an Trud und ſagte:
„Ich ſpräche gern allein mit dem Kind. So's
Euch gefällt, Frau Minde, wartet auf mich in
Hof oder Garten. Ihr wißt den Weg.“
Und damit erhob ſich Trud und verließ das
Zimmer. Grete folgte mit dem Ohr und wurd'
erſt ruhiger, als ſie die ſchwere Hofthür in den
Rollen gehn und wieder zuſchlagen hörte.
Auch Gigas hatte gewartet. Nun aber fuhr
er fort: „Alſo jeden Abend beteſt Du, Grete.
Das hör' ich gern. Aber was beteſt Du?“
Grete Minde.
N
—1
„Ich bete die ſieben Bitten.“
„Das iſt gut. Aber was beteſt Du noch?“
„Ich bet' auch einen Spruch, den mich unſre
alte Regine gelehrt hat.“
„Das iſt die Magd, die Dich großgezogen,
eh' Deine Schwieger in's Haus kam?“
a, Herr.“
„Und wie lautet der Spruch? Ich möcht!
ihn wohl hören. Denn ſieh, Grete, das mußt
Du wiſſen, ein für allemal, ſo wie wir beten,
ſo ſind wir. Es iſt ſchon ein Zeichen, wie der
Menſch zum Menſchen ſpricht, aber wie der
Menſch zu Gott ſpricht, das entſcheidet über ihn.
Da liegt es, gut oder böſe. Willſt Du mir den
Spruch ſagen? Du mußt Dich nicht fürchten
vor mir. Sammle Dich und beſinne Dich.
Sieh, ich will Dir auch eine Roſe ſchenken. Da.
Und wie gut ſie Dir kleidet. Du gleicheſt Deiner
Mutter, aber nicht in allem, denk' ich. Denn
Du weißt doch, daß ſie ſich zu dem alten Glauben
hielt. Und ſie mied mich, wenn ich in Euer
Haus kam. Aber ich habe für ſie gebetet. Und
nun ſage mir Deinen Spruch.“
„Ich glaube, Herr, es iſt ein Lied.“
„Auch das iſt gut. Spruch oder Lied.
Aber beginne.“
28 Grete Minde.
Und nun faltete Grete die Hände und ſagte,
während ſie zu dem Alten aufſah:
Himmelwärts
Richte Gott mein ſündig Herz,
Laß der Kranken und der Armen
Mich in ihrer Noth erbarmen;
Was ich irdiſch gebe hin,
Iſt mir himmliſcher Gewinn.
Gigas lächelte. Die Lieblichkeit des Kindes
ließ das Feuer, das ſonſt wohl auf ſeiner Stirn
hoch aufgeſchlagen hätte, nicht übermächtig werden,
und er ſagte nur: „Nein, Grete, das macht es
nicht; darin erkenn ich noch die Thorheit von
den guten Werken. Lernen wir lieber einen
andern Spruch. Denn ſieh, unſre guten Werke
ſind nichts und bedeuten nichts, weil all unſer
Thun fündig iſt von Anfang an. Wir haben
nichts als den Glauben, und nur eines iſt, das
ſühnet und Werth hat: der Gekreuzigte.“
| „Ja Herr .... Ich weiß .... Und ich hab’
einen Splitter von ſeinem Kreuz.“ Und ſie zog
im freudiger Erregung eine Goldkapſel aus ihrem
Mieder.
Gigas war einen Augenblick zurückgetreten
und ſeine rothen Augen ſchienen röther geworden.
Aber er ſammelte ſich auch diesmal raſch wieder
und nahm die Kapſel und betrachtete ſie. Sie
Grete Klinde. 29
hing an einem Kettchen. In das obere Kapſel—
ſtück war eine Mutter Gottes in feinen Linien
eingegraben, innerhalb aber lag ein rothes
Seidenläppchen und in dieſem der Splitter.
Der Alte knipſte das Deckelchen wieder zu und
ſagte dann ruhig: „Es iſt Götzendienſt, Grete.“
„Ein Andenken, Herr! Ein Andenken von
meiner Mutter. Und es iſt alles, was ich von
ihr hab'. Ich habe ſie nicht mehr gekannt, Ihr
wißt es. Aber Regine hat mir das Kettchen
umgehängt, als ich meinen zehnten Geburtstag
hatte. So hat ſie's der Mutter verſprechen
müſſen, und ſeitdem trag' ich es Tag und Nacht.“
i „Und ich will es Dir nicht nehmen, Grete,
jetzt nicht. Aber ich denke, der Tag ſoll kommen,
wo Du mir es geben wirſt. Denn verſtehe
wohl, wir ſollen ſein Kreuz tragen, aber keinen
Splitter von ſeinem Kreuz, und nicht auf
unſerm Herzen ſoll es ruhen, ſondern in ihm.
Und nun laß uns gute Freunde ſein. Ich ſehe,
Du haſt einen offenen Sinn und biſt anders
als ich dachte. Aber es geht noch um in Dir,
und die Regine, mit der ich ſprechen will, hat
nicht gebührlich geſorgt, den alten Spuk mit
ſeinen Ränken und Liſten auszutreiben. Ich
denke, Grete, wir wollen die Tenne rein fegen
30 Grete Minde.
und die Spreu von dem Weizen ſondern. Du
haſt das rechte Herz, aber noch nicht den rechten
Glauben, und irrt der Glaube, ſo irrt auch das
Herz. Und nun geh, Grete. Und die Gnade
Gottes ſei mit Dir.“
Sie wollte ſeine Hand küſſen, aber er litt
es nicht und begleitete ſie bis an die Stufen,
die von der Diele her zu der Hausthür hinauf⸗
führten. Hier erſt wandt' er ſich wieder, und
ging über Flur und Hof auf den Garten zu,
wo Trud, inmitten eines Buchsbaumganges, in
ſtattlicher Haltung auf und nieder ſchritt. Beide
begrüßten einander, und die Magd, die von
ihrem Küchenfenſter aus ſehen konnte, wie der
Alte ſich aufrichtete und grader ging als gewöhn—
lich, verzog ihr Geſicht und murmelte vor ſich
hin: „Nicht zu glauben! . . . . Und iſt jo alt und jo
fromm!“ Und dabei kicherte ſie und ließ an
ihrem Lachen erkennen, daß ſie den Gedanken in
ihrer Seele weiter ſpann.
Trud und Gigas waren inzwiſchen den
Garten hinaufgegangen und hielten vor einem
runden Beet, das mit Ritterſporn und gelben
Studentenblumen dicht beſetzt war. „Ich kann
Euch nicht folgen, Frau Trud, in dem, was Ihr
mir über das Kind geſagt habt,“ ſagte Gigas.
Grete Minde. 31
„Ihr verkennt es. Es iſt ein verzagtes
Herz und kein trotzig Herz. Ich ſah wie ſie
zitterte, und der Spruch, den ſie ſagen ſollte,
wollt' ihr nicht über die Lippen. Nein, es iſt
ein gutes Kind und ein ſchönes Kind. Wie die
Mutter.“
In Trud's Auge zuckte wieder ein gelber
Strahl auf, denn ſie hörte nicht gern eines
andern Lob, und in herbem Tone wieder—
holte ſie: „Wie die Mutter . ... Ich muß es
glauben, daß fie ſchön war. Ihr ſagt es und
alle Welt ſagt es. Aber ich wollte, ſie wär' es
weniger geweſen. Denn damit zwang ſie's und
hat unſer Haus behext und in den alten Aber⸗
glauben zurückfallen laſſen. So fürcht' ich. Und
daß ich's offen geſteh', ich traue dem alten Jacob
Minde nicht und ich traue der Regine nicht.
Und widerſtünd' es mir nicht, den Horcher und
Späher im eigenen Haus zu machen, ich glaube,
daß ich noch manches fänd' wie Bild und
Splitter.“
„Saget das nicht, Frau Trud. Euren
Vater, den alten Rathsherrn, kenn' ich von
Beicht' und Abendmahl und hab' ihn allemal
treu befunden. So das Unweſen aber im
Mindeſchen Hauſe umginge, was Gott in ſeiner
32 Grete Minde.
Gnade verhüten wolle, ſo müßt' ich Euch ver—
klagen, Frau Trud, Euch, zu der ich mich alles
Beſten verſehen habe. Denn Ihr beherrſchet
das Haus. Euer Vater iſt alt und Euer Eheherr
iſt ein Wachs in Eurer Hand, und ihr wißt es
wohl, aller Samen, der vom Unkraut fällt und
wuchert, iſt ein Unheil und ſchädigt uns das
Korn für unſre himmliſchen Scheuren.“
Sie hatten ihren Gang um das Rondel
herum wieder aufgenommen, aus deſſen kleinen
dreieckigen Beeten die junge Frau jetzt einzelne
Blumen pflückte. Beide ſchwiegen. Endlich ſagte
Trud: „Ich beherrſche das Haus, ſagt Ihr.
Ja, ich beherrſch' es, und man gehorcht mir;
aber es iſt ein todter Gehorſam, von dem das
Herz nicht weiß. Das trotzt mir und geht
ſeinen eigenen Weg.“
„Aber Grete iſt ein Kind.“
„Ja und nein. Ihr werdet ſie nun kennen
lernen. Achtet auf ihr Auge. Jetzt ſchläft es und
dann ſpringt es auf. Es iſt etwas Böſes in ihr.“
„In uns allen, Frau Trud. Und nur zwei
Dinge ſind, es zu bändigen: der Glaube, den
wir uns erbitten, und die Liebe, die wir uns
erziehn. Liebt Ihr das Kind?“
Und ſie ſenkte den Blick.
Grete Minde. 33
6.
Das Maienfeſt.
Ein Jahr beinah war vergangen und die
Tangermünder feierten, wie herkömmlich, ihr
Maienfeſt. Das geſchah abwechſelnd in dem
einen oder andern jener Waldſtücke, die die Stadt
in einem weiten Halbkreis umgaben. In dieſem
Jahr aber war es im Lorenzwald, den die
Bürger beſonders liebten, weil ſich eine Sage
daran knüpfte, die Sage von der Jungfrau
Lorenz. Mit dieſer Sage aber verhielt es ſich
ſo. Jungfrau Lorenz, ein Tangermünder Kind,
hatte ſich in dem großen, flußabwärts gelegenen
Waldſtück, das damals noch die Elbheide hieß,
verirrt, und als der Abend hereinbrach und noch
immer kein Ausweg ſichtbar wurde, betete ſie zur
Mutter Gottes, ihr beizuſtehen und ſich ihrer
Noth zu erbarmen. Und als ſie ſo betete, da
nahte ſich ihr ein Hirſch, ein hoher Elf-Ender,
der legte ſich ihr zu Füßen und ſah ſie an, als
ſpräch' er: „ich bin es, beſteige mich nur.“
Und ſie beſtieg muthig ſeinen Rücken, weil ſie
fühlte, daß ihr die Mutter Gottes das ſchöne
Thier in Erhörung ihres Gebetes geſchickt habe,
und klammerte ſich an ſein Geweih. Der Hirſch
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 105
34 Grete Minde.
aber trug ſie, zwiſchen den hohen Stämmen hin,
aus der Tiefe des Waldes heraus, bis an das
Thor und in die Mitte der Stadt. Da blieb
er und ließ ſich fangen. Und die Stadt gab
ihm ein eingehürdet Stück Weideland und hielt
ihn in Schutz und Anſehen bis an ſeinen Tod.
Und auch da noch ehrten ſie das fromme Thier,
das der Mutter Gottes gedient hatte, und
brachten fein Geweih nach Sanct Nikolai und
hingen es neben dem Altarpfeiler auf. Den
Wald aber, aus dem er die Jungfrau hinaus⸗
getragen, nannten ſie den Lorenz-Wald.
Und dahin ging es heut. Die Gewerke
zogen aus mit Muſik und Fahnenſchwenken, und
die Schulkinder folgten, Mädchen und Knaben,
und begrüßten den Mai. Und dabei ſangen ſie:
Habt ihr es nicht vernommen?
Der Lenz iſt angekommen!
Es ſagen's euch die Vögelein,
Es ſagen's euch die Blümelein,
Der Lenz iſt angekommen.
Ihr ſeht es an den Feldern,
Ihr ſeht es an den Wäldern;
Der Kukuk ruft, der Finke ſchlägt,
Es jubelt, was ſich froh bewegt,
Der Lenz iſt angekommen!
Grete Minde. 35
Und auch Trud' und Gerdt, als der Nach—
mittag da war, hatten in gutem Muthe die
Stadt verlaſſen. Grete mit Reginen folgte.
Draußen aber trafen ſie die Zernitzens, alt und
jung, die ſich's auf mitgebrachten und umge—
ſtülpten Körben bequem gemacht und nun gar
noch die Freud' und Genugthuung hatten, die
jungen Mindes, mit denen ſie lieber als mit
den andern Bürgersleuten verkehrten, an ihrer
Seite Platz nehmen zu ſehen. Auch Valtin und
Grete begrüßten ſich, und in Kurzem war alles
Frohſinn und guter Laune, voran der alte Zer—
nitz, der ſich, nach Abtretung ſeines Platzes an
Trud', auf den Rain hin gelagert und jein ficht-
liches und immer wachſendes Gefallen daran
hatte, der ſtattlichen, in vollem Staat erſchienenen
jungen Frau, über ihre Schönheit allerlei
Schönes zu ſagen. Und dieſe, hart und herbe
wie ſie war, war doch Frau genug, ſich der
Schmeichelrede zu freuen. Emrentz drohte mit
Eiferſucht und lachte dazwiſchen, Gerdt ſummte
vor ſich hin oder ſteckte Butterblumenſtielchen in
einander, und inmitten von Scherz und Ge—
plauder ſah ein Jeglicher auf die ſonnige Wieſe
hinaus, wo ſich bunte Gruppen um Buden und
Carouſſel drängten, Bürger nach der Taube
105 *
36 Grete Minde.
ſchoſſen und Kinder ihren Ringelreihen tanzten.
Ihr Singen klang von der großen Linde her
herüber, an deren unterſten Zweigen rothe und
gelbe Tücher hingen.
So mocht' eine Stunde vergangen ſein, als
ſie, von der Stadt her, gebückt auf ſeinem
flandriſchen Pferde, des alten Minde gewahr
wurden. Inmitten ſeiner Einſamkeit war er
plötzlich von einer tiefen Sehnſucht erfaßt worden,
den Mai noch einmal mitzufeiern; und nun kam
er den breiten Waldweg herauf, auf die Stelle
zu, wo die Zernitzens und Mindes gemeinſchaft—
lich lagerten. Ein Diener ſchritt neben dem
Pferde her und führte den Zügel. Was wollte
der Alte? Wozu kam er? Und Trud' und Gerdt
empfingen ihn mit kurzen, raſch herausgeſtoßenen
Fragen, die mehr nach Mißſtimmung als nach
Theilnahme klangen, und nur Grete freute ſich
von Herzen und ſprang ihm entgegen. Und als
nun Decken für ihn ausgebreitet lagen, ſtieg er
ab und ſetzte ſich an einen guten Platz, der den
Waldesſchatten über ſich und die ſonnenbeſchienene
Lichtung vor ſich hatte. Grete pflückte Blumen
und ſagte: „Soll ich Dir einen Kranz flechten?“
Aber der Alte lächelte: „Noch nicht, Grete. Ich
warte noch ein Weilchen.“ Und ſie ſah ihn mit
Grete Minde. 37
ihren großen Augen an und küßte ſtürmiſch ſeine
welke Hand. Denn ſie wußte wohl, was er
meinte.
Eine Störung war ſein Kommen geweſen,
das empfanden Alle, vielleicht er ſelbſt. Der
alte Zernitz zeigte ſich immer ſchweigſamer,
Emrentz auch, und Trud', um wenigſtens zu
Sprechen, und vielleicht auch um der beobachtenden
Blicke Gretens überhoben zu ſein, ſagte zu dieſer:
„Du ſollteſt unter die Linde gehen, Grete.“
„Und Valtin begleitet Dich,“ ſetzte Emrentz
hinzu.
| Beide wurden roth, denn ſie waren keine
Kinder mehr. Aber |fie ſchwiegen und gingen
auf die Wieſe hinaus. „Sie wollen allein fein,“
ſagte Grete. „Seien wir's auch.“ Und an den
Schau⸗ und Spielbuden vorbei, nahmen ſie, kreuz
und quer, ihren Weg auf die kleinen und großen
Gruppen zu, die ſich bei Ringelſtechen und
Taubenſchießen erluſtigten. Aber zu der Linde,
wo die Kinder ſpielten, gingen ſie nicht.
Es war ſehr heiß, ſo daß ſie bald wieder
den Schatten aufſuchten, und jenſeits der Lichtung
angekommen, verfolgten ſie jetzt einen halbüber—
wachſenen Weg, der ſich immer tiefer in den Wald
hineinzog. Es glühte ſchon in den Wipfeln, da
38 Grete Minde.
flog eine Libelle vor ihnen her und Grete ſagte:
„Sieh, eine Seejungfer. Wo die ſind, da muß
auch Waſſer ſein. Ein Sumpf oder ein Teich.
Ob ſchon die Teichroſen blühn? Ich liebe ſie fo.
Laß uns danach ſuchen.“
Und ſo gingen ſie weiter. Aber der Teich
wollte nicht kommen, und plötzlich überfiel es
Greten: „Wo ſind wir, Valtin? Ich glaube, wir
haben uns verirrt.“
„Nicht doch. Ich höre ja noch Muſik.“
Und ſie blieben ſtehen und horchten.
Aber ob es eine Täuſchung geweſen war,
oder ob die Muſik eben jetzt zu ſchweigen begann,
gleichviel, Beide ſtrengten ſich vergeblich an, einen
neuen Klang aufzufangen. Und es half auch zu
nichts, als ſie das Ohr an die Erde legten.
„Weißt Du, Grete,“ ſagte Valtin, „ich werd'
hier hinaufſteigen. Das iſt ein hoher Baum, da
hab' ich Ueberſicht, und es kann keine tauſend
Schritt ſein.“ Und er ſchwang ſich hinauf und
kletterte von Aſt zu Aſt, und Grete ſtand unten
und ein Gefühl des Alleinſeins durchzitterte ſie.
Nun aber war er hoch oben. „Siehſt du was?“
rief ſie hinauf. „Nein. Es ſind hohe Bäume
rundum. Aber laß nur, die Sonne muß uns
den Weg zeigen; wo ſie niedergeht iſt Abend,
Grete Minde. 39
und die Stadt liegt nach Mittag zu. Soviel
weiß ich gewiß. Alſo da hinaus müſſen wir.“
Und gleich darauf war er wieder unten bei der
ihn bang Erwartenden.
Sie ſchlugen nun die Wegrichtung ein, die
Valtin von oben her mit der Hand bezeichnet
hatte. Aber ſo ſehr ſie ſpähten und ſuchten, die
Waldwieſe kam nicht, und Grete ſetzte ſich müd'
und matt auf einen Baumſtumpf und begann
leiſe vor ſich hin zu weinen.
„Meine ſüße Grete,“ ſagte Valtin, „ſei doch
nicht ſo bang.“ Und er umarmte ſie und küßte
ſie herzlich. Und ſie litt es und ſchlug nicht mehr
nach ihm, wie damals unter dem Kirſchbaum;
nein, ein Gefühl unendlichen Glückes überkam ſie
mitten in ihrer Angſt, und ſie ſagte nur: „Ich
will nicht mehr weinen, Valtin. Du biſt ſo gut.
Und wer gut iſt, dem zu Liebe geſchehen Zeichen
und Wunder. Und ſiehe, deſſen bin ich gewiß,
wenn wir zu Gott um ſeine Hülfe bitten, dann
hilft er auch und führt uns aus dem Walde
wieder in's Freie und wieder nach Haus. Gerade
wie damals die Jungfer Lorenz. Denn wir
ſind ja hier im Lorenzwald.“
„Ja, Grete, da ſind wir. Aber wenn
der Hirſch käm' und es wirklich gut mit uns
40 Grete Minde.
meinte, dann trüg' er uns an eine andre Stelle,
denk' ich, und nicht nach Haus. Denn wir
haben eigentlich kein Haus, Grete. Du nicht,
und ich auch nicht. Emrentz iſt eine gute Frau,
viel beſſer als Trud', und ich danke Gott alle
Tage dafür; aber ſo ſie mir nichts zu Leide thut,
ſo thut ſie mir auch nichts zu Liebe. Sie putzt
ſich für ſich und für den Vater, und das iſt alles.
Nein, Grete, nicht in die Stadt und nicht nach
Haus, lieber weit, weit fort, in ein ſchönes Thal,
von Bergen eingeſchloſſen, und oben weiß von
Schnee und unten bunt von Blumen . ...“
„Wo iſt das?“
„Ich weiß es nicht. Aber ich hab' einmal
in einem alten Buche davon geleſen und da
wurde mir das Herz ſo weit. Zwiſchen hohen
Felswänden liegt es, und der Sturm geht drüber
hin und trifft es nie; und die Sonne ſcheint
und die Wolken ziehen; und iſt kein Krieg und
keine Krankheit; und die Menſchen die dort leben,
lieben einander und werden alt und ſterben ohne
Schmerz.“
„Das iſt ſchön,“ ſagte Grete. „Und nun
komm' und laß uns ſehen, ob wir's finden.“
Und dabei lachten ſie Beid' und ſchritten
wieder rüſtig vorwärts, denn die Schilderung von
Grete Minde. 41
dem Thale hatte Greten erfriſcht und ihr ihren Muth
und ihre Kraft zurückgegeben. Und eine kleine
Strecke noch, da lichtete ſich's und wie Dämmerung
lag es vor ihnen. Aber ſtatt der Waldwieſe war
es ein Uferſtreifen, auf den ſie jetzt hinaustraten,
und dicht vor ihnen blitzte der breite Strom.
„Ich will ſehen, wohin er fließt,“ ſagte Valtin
und warf einen Zweig hinein. „Nun weiß ich's.
Dorthin müſſen wir.“ Und ſie ſchritten fluß—
aufwärts neben einander her. Die Sterne kamen
und ſpiegelten ſich, und nicht lange mehr, ſo
hörten ſie das Schlagen der Glocken, und die
Thurmſpitze von Sanct Stephan ſtieg in dunklen
Umriſſen vor ihnen auf.
| Es war neun Uhr, oder ſchon vorüber, als
ſie das Mindeſche Haus erreichten. Valtin trat
mit in das untre Zimmer, in dem ſich um
dieſe Stunde nur noch Trud' und Gerdt befanden,
und ſagte: „Hier iſt Grete. Wir hatten uns
verirrt. Aber ich bin Schuld.“ Und damit ging
er wieder, während Grete verlegen in der Nähe
der Thüre ſtehen blieb.
„Verirrt,“ ſagte jetzt Trud', und ihre
Stimme zitterte. „Ja, verirrt. Ich denke, weil
ihr's wolltet. Und wenn ihr's nicht wolltet,
weil ihr ungehorſam war't, und nicht Zucht und
42 Grete Minde.
Sitte kennt. Ihr ſolltet zu den Kindern gehen.
Aber das war euch zuwider. Und ſo ging es
in den Wald. Ich werde mit Gigas ſprechen
und mit Deinem Vater. Der ſoll mich hören.
Denn ich will nicht üble Nachred' im Hauſ', ob
er's gleich ſelber ſo gewollt hat. Gott ſei's
geklagt . . .! Was bracht' er uns das fremde
Blut in's Haus? Das fremde Blut und den
fremden Glauben. Und arm wie das Heimchen
unterm Herd.“ |
In dieſem Augenblicke ſtand Grete vor
Trud', und ihre bis dahin niedergeſchlagenen
Augen blitzten in einem unheimlichen Feuer auf:
„Was ſagſt Du da von fremd und arm? Arm!
Ich habe mir's von Reginen erzählen laſſen.
Sie kam aus einem Land, wo ſie glücklich war,
und hier hat ſie geweint und ſich zurückgeſehnt,
und vor Sehnſucht iſt fie geſtorben. Arm!
Wer war arm? Wer? Ich weiß es. Du warſt
arm. Du!“
„Schweig,“ ſagte Gerdt.
„Ich ſchweige nicht. Was wollt Ihr? Ich
bin nicht Euer Kind. Gott ſei Dank, daß ich's
nicht bin. Ich bin Eure Schweſter. Und ich
wollt', ich wär' auch das nicht. Auch das nicht.
Verklagt mich. Geht hin, und erzählt ihm, was
Grete Minde. 43
ich geſagt' hab'; ich werd' ihm erzählen, was ich
gehört hab', heute draußen im Wald und hundert—
mal hier in dieſem ſeinem Haus. O, ich hab'
Euch ziſcheln hören. Und ich weiß alles, alles.
Ihr wartet auf ſeinen Tod. Streitet nicht.
Aber noch lebt er, und ſo lang er lebt, wird
er mich ſchützen. Und iſt er todt, ſo ſchütz
ich mich ſelbſt. Ja, ich ſchütze mich ſelbſt.
Hörſt Du, Trud'.“ Und ſie ballte ihre kleinen
Hände.
Trud', in ihrem Gewiſſen getroffen, erkannte,
daß ſie zu weit gegangen, während Grete plötzlich
aller Scheu los und ledig war, die ſie bis dahin
vor ihrer Schwieger gehabt hatte. Sie hatte
das Gefühl eines vollkommenen Sieges, und
ſtieg, in der Freude darüber, in den zweiten
Stock hinauf. Oben fand ſie Reginen und
erzählte ihr alles, was unten geſchehen. „Kind,
Kind, das thut nicht gut, das kann ſie Dir nicht
vergeſſen.“ Aber Grete war übermüthig geworden
und ſagte: „Sie fürchtet ſich vor mir. Laß ſehn;
ich habe nun beſſere Tage.“
44 Grete Minde.
.
Jacob Minde's Tod.
Und wirklich, es war als ob Grete Recht
behalten ſollte. Weder des Umherirrens im
Walde, noch des heftigen Streites, der den Tag
beſchloſſen, wurde von Trud' irgend noch erwähnt;
allem Anſcheine nach auch gegen Gigas nicht, der
ſonſt kaum ermangelt haben würde, von dem
graden Pfade des Rechts und von dem „Irrpfad,
in der Wildniß“ zu ſprechen. Aber ſolche Predigt
unterblieb, und die Sommermonate vergingen
ruhiger, als irgend eine Zeit vorher. Aller Groll
ſchien vergeſſen, und Grete, die nach Art leiden—
ſchaftlicher Naturen, eben ſo raſch zu gewinnen
als zu reizen war, gewöhnte ſich daran, in den
Stunden, wo Gerdt außerhalb des Hauſes ſeinen
Geſchäften nachging, in Trud's Schlafzimmer zu
ſitzen und ihr vorzuplaudern oder vorzuleſen,
was ſie beſonders liebte. Und wenn Regine den
Kopf ſchüttelte, ſagte ſie nur: „Du biſt eiferſüchtig
und kannſt ſie nicht leiden. Aber ſie meint es
gut, und es war auch nicht recht, daß wir in den
Wald gingen.“
So kam der Einſegnungstag, Ende September,
und den Sonntag darauf war Abendmahl, an
Grete Minde. 45
dem alle Mitglieder des Hauſes theilnahmen.
Alle zeigten ſich in gehobener Stimmung, der
alte Jakob Minde aber, trotzdem er nur mit
Mühe den Kirchgang gemacht hatte, war mittheil—
ſamer denn ſeit lange, plauderte viel von ſeiner
Jugend und ſeinem Alter, und ſprach auch ab—
wechſelnd und ohne Scheu von Gerdt's und von
Gretens Mutter, als ob kein Unterſchied wäre.
Trud' und Gerdt ſahen dabei einander an, und
was in ihren Blicken ſich ausgeſprochen hatte,
das ſollte ſich andern Tags beſtätigen. Denn in
aller Frühe ſchon lief es durch die Stadt, daß
der alte Rathsherr auf den Tod liege, und als
um die ſechſte Stunde der Schein der nieder—
glühte, bat er Reginen, daß ſie die Vorhänge
zurückſchieben und die Kinder rufen ſolle. Und
dieſe kamen und Grete nahm ſeine Hand und
küßte ſie. Gleich danach aber winkte der Alte
ſeine Schwieger zu ſich heran und ſagte: „Ich
lege ſie Dir an's Herz, Trud'. Erinnere Dich
allezeit an die Mahnung des Propheten: ‚laß
die Waiſen Gnade bei Dir finden.“ Erinnere
Dich daran und handle danach. Verſprich es mir
und vergiß nicht dieſe Stunde.“ Trud' antwortete
nicht, Grete aber warf ſich auf die Kniee und
gehenden Sonne drüben an den Häuſerfronten
46 Grete Minde.
ſchluchzte und betete, und ehe ſie ihren Kopf
wieder aufrichtete, war es ſtill geworden in dem
kleinen Raum.
Am dritten Tage danach ſtand der alte Minde
hochaufgebahrt in Sanet Stephan, der Tanger-
mündiſchen Hauptkirche, die, nach Art mittelalter-
licher Gotteshäuſer, hart am Rande der Stadt
gelegen war. Auf dem Altar brannten die großen
Kerzen und rings umher ſaßen die Rathmannen
der Stadt, obenan der alte Peter Guntz, der nicht
geglaubt hatte, ſeinen ſo viel jüngeren Freund
überleben zu müſſen. Keiner fehlte; denn die
Mindes waren das älteſte Geſchlecht und das
vornehmſte, wirkliche Kaufherren, und ſeit An—
beginn im Rathe der Stadt. In nächſter Nähe
des Sarges aber ſtanden die Leidtragenden.
Gerdt ſah vor ſich hin, ſtumpf wie gewöhnlich,
während Trud' und Grete, ſchwarz und in wollene
Stoffe gekleidet, zum Zeichen ihrer tiefſten Trauer
bis über Kinn und Mund hinauf hohe weiße
Tücher trugen, die nur den Oberkopf frei ließen.
Grete, kaum fünfzehn Jahr, ſah um vieles älter
aus als ſie war, und alles Kindliche, das ihre
Erſcheinung bis dahin gehabt hatte, ſchien mit
dieſem Tage von ihr gewichen.
Die Orgel ſpielte, die Gemeinde ſang, und
Grete Minde. 47
als beide ſchwiegen, trat Gigas aus der Sakriſtei
und ſchritt auf die Altarſtufen zu. Er ſchien
noch ernſter als gewöhnlich, und ſein Kopf mit
dem ſpärlichen weißen Haar ſah unbeweglich über
die hohe Radkrauſe hinweg. Und nun begann
er. Erſt hart und herbe, wie faſt immer die
Strenggläubigen, wenn ſie von Tod und Sterben
ſprechen; als er aber das Allgemeine ließ und
vom Tod überhaupt auf dieſen Todten kam,
wurd' er warm und vergaß aller Herbigkeit.
Er, deſſen ſtummes Antlitz hier ſpräche, ſo hob
er mit immer eindringlicher werdender Stimme
an, ſei ein Mann geweſen, wie wenige, denn er
habe Beides gehabt, den Glauben und die Liebe.
Da ſei keiner unter ihnen, an dem er ſeine Liebe
nicht bethätigt habe; der Arme habe ſeine Mild-
thätigkeit, der Freund ſeine Hülfe, die Bürger—
ſchaft ſeinen Rath erfahren, und ſeine klugen
und feinen Sitten ſeien es geweſen, die bis nach
Lübeck und bis in die Niederlande hin das An-
ſehen der Stadt auf die jetzige Höhe gehoben
hätten. Dies wüßten alle. Aber von ſeinem
Glauben und ſeiner Glaubensfeſtigkeit wiſſe nur
er. Und wenn ſchon jeder in Gefahr ſtehe,
Unkraut unter ſeinem Weizen aufſchießen zu
ſehen, ſo habe doch dieſe Gefahr keinem ſo nahe
48 Grete Minde.
geſtanden wie dieſem Todten. Denn nicht nur,
daß er eine Reihe von Jahren unter den Be—
kennern der alten Irrlehre gelebt, die bedrohlichſte
Stunde für das Heil ſeiner Seele ſei die Stunde
ſeiner zweiten Eheſchließung geweſen. Denn die
Liebe zum Weibe, das ſei die größte Verſuchung
in unſrer Liebe zu Gott. Aber er hab' ihr
widerſtanden, und habe nicht um irdiſchen Friedens
willen den ewigen Frieden verſäumt. In ſeinem
Wandel ein Vorbild, werde ſich die ſelige Ver—
heißung, die Chriſtus der Herr auf dem Berg
am Galiläiſchen Meer gegeben, dreifach an ihm
erfüllen. Sei er doch friedfertig und ſanftmüthig
geweſen und reinen Herzens.
Und nun ſangen ſie wieder, während die
Träger den Todten aufhoben und ihn das Mittel—
ſchiff entlang aus der Kirche hinaus auf den
Kirchhof trugen. Denn ein Grab im Freien
war ſein letzter Wille geweſen. Draußen aber,
unter alten Kaſtanienbäumen, deren Laub ſich
herbſtlich zu färben anfing, ſetzten ſie den Sarg
nieder, und als er hinabgelaſſen und das letzte
Wort geſprochen war, kehrten alle heim, und
Trud' und Gerdt ſchritten langſam die Lange
Straße hinunter, bis an das Mindeſche Haus,
das nun ihre war. Nur Grete war geblieben
Grete Minde. 49
und huſchte heimlich in die Kirche zurück und
ſetzte ſich auf die Bahre, die noch an alter Stelle
ſtand. Sie wollte beten, aber ſie konnte nicht,
und ſah immer nur Trud', ſo herb und ſtreng
wie ſie ſie früher geſehen hatte, und fühlte
deutlich, wie ſich ihr das Herz dabei zuſammen⸗
ſchnürte. Und eine Vorahnung überkam ſie wie
Gewißheit, daß Regine doch wohl Recht gehabt
haben könne. So ſaß ſie und ſtarrte vor ſich
hin und fröſtelte. Und nun ſah ſie plötzlich auf
und gewahrte, daß das Abendroth in den hohen
Chorfenſtern ſtand und daß alles um fie her wie
in lichtem Feuer glühte: die Pfeiler, die Bilder
und die hochaufgemauerten Grabſteine. Da war
es ihr, als ſtünde die Kirche rings in Flammen,
und von raſender Angſt erfaßt, verließ ſie den
Platz, auf dem ſie geſeſſen und floh über den
Kirchhof hin.
In den engen Gaſſen war es ſchon dunkel
geworden, der rothe Schein, der ſie geängſtigt,
ſchwand vor ihren Augen, und ihr Herz begann
wieder ruhiger zu klopfen. Als ſie aber den
Flur ihres Hauſes erreicht hatte, ſtieg ſie zu
Reginen hinauf und umarmte ſie und küßte ſie,
und ſagte: „Regine, nun bin ich ganz allein.
Eine Waiſe!“
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 106
50 Grete Minde.
8.
Eine Ritterkette.
Eine Waiſe war ſie und ſie ſollt' es nur
allzubald empfinden. Anfangs ging es, auch noch
um die Chriſtzeit, als aber Oſtern heran kam,
wurd' es anders im Haus, denn es geſchah, was
nicht mehr erwartet war: Trud' genas eines
Knäbleins. Da war nun die Freude groß und
auch Grete freute ſich. Doch nicht lange. Bald
mußte ſie wahrnehmen, daß das Neugeborene
alles war und ſie nichts; Regine kochte den Brei,
ſie gab ihn. Daß ſie ſelber ein Herz habe und
ein Glück verlange, daran dachte niemand; ſie
war nur da um Andrer Glückes willen. Und
das verbitterte ſie.
Ein Troſt war, daß ſie Valtin häufiger ſah.
Denn Trud' hatte für nichts Sinn mehr, als
für das Kind, und nur ſelten, wenn ſie ſich aus
Laune oder Zufall auf ihr Hüteramt beſann,
fiel ſie vorübergehend in ihre frühere Strenge
zurück.
So vergingen die Tage, meiſt ohne Streit,
aber noch mehr ohne Luſt und Freud', und als
es jährig war, daß ſie den alten Minde von
ſeinem Platz vor dem Altar auf den Kirchhof
Grete Minde. 51
hinaus getragen hatten, ging Grete gen Sanet
Stephan, um ſeiner an ſeinem Grabe zu ge-
denken.
Es war ein ſchöner Octobertag und die
Kaſtanien lagen ausgeſtreut umher. Grete ſetzte
ſich auf den Hügel, und das Bild des geliebten
Todten ſtand wieder vor ihrer Seele, blaß und
freundlich, und ſie hing ihm noch in ſüßer Trauer
nach, als ſie ſich plötzlich bei Namen gerufen
hörte. Sie ſah auf und erkannte Valtin. Er
hatte ſie das Haus verlaſſen ſehen und war ihr
nachgegangen.
„Wie geht es?“ fragte Grete.
Valtin antwortete nicht gleich. Endlich ſagte
er: „Ich mag nicht klagen, Grete, denn Dein
eigen Herz iſt voll. Aber das muß wahr ſein,
Emrentz iſt wie vertauſcht, und hat 'was gegen
mich. Und erſt ſeit Kurzem. Denn, wie Du
weißt, ich hatt' es nicht gut und hatt' es nicht
ſchlecht. So hab' ich Dir oft geſagt und ſo war
es. Aber ſeid ihr das Kleine habt, iſt es anders.
Und jeden Tag wird es ſchlimmer. Es iſt
ordentlich, als ob ſie's der Trud' nicht gönnte.
Was meinſt Du?“
Grete ſchüttelte den Kopf. „Nein, das iſt
es nicht. Ich weiß aber, was es iſt, und Trud'
106*
52 Grete Minde.
iſt wieder Schuld. Sie verredet Dich bei der
Emrentz. Das iſt es.“
„Verredet mich? Ei, da laß doch hören,“
ſagte Valtin. |
Ja, verredet Dich. Ich weiß es von der
Regine. Die war in der Hinterſtub' oben und
wiegte das Kind, als ſie Beid' am Fenſter ſaßen.
Und da hörte ſie Dein Lob aus der Emrentz
Mund und wie ſie ſagte: „Du ſei'ſt ein guter
Jung' und machteſt ihr das Leben nicht ſchwer,
was Du doch könnteſt, denn ſie ſei ja noch jung
und Deine Stief.“ Aber das mißfiel unſrer
Trud', und ſie nahm ihren ſpöttiſchen Ton an
und fragte nur: ob ſie denn blind ſei? Und ob
ſie nicht ſäh', wie Dir der Schalk im Nacken
ſäße. Du lachteſt ja über fie.”
Valtins Augen waren immer größer geworden,
aber Grete ſah es nicht und fuhr unverändert
fort: „Und das glaube nur, Regine hört alles
und ſieht alles. Und ſie ſah auch, wie ſich
Emrentz verfärbte, erſt roth, und dann erdfahl
im ganzen Geſicht. Und jo bitterbös. Und dann
hörte ſie, wie ſie der Trud' zuflüſterte: „Ich
danke Dir, Trud', und ich will nun ein Auge
darauf haben.“
„Alſo daher!“ ſagte Valtin. „Aber gut,
Grete Minde. 53
daß ich es weiß. Ich will ſie zur Rede ſtellen,
Eure Trud', wenn ich ihr auf Flur oder Treppe
begegne. Mich verreden. Das iſt ſchlecht.“
„Und unwahr dazu.“ |
Valtin ſchwieg eine Weile. Dann nahm er
Gretens Hand und ſagte beinahe kleinlaut: „Nein,
unwahr eigentlich nicht. Es iſt wahr, ich habe
mich abgewandt, und hab' auch gelacht. Aber ich
that's nicht in Böſem und wollt' ihr nicht wehe
thun. Und das weiß die Trud' auch. Und ſie
weiß auch, daß ich der Emrentz nicht gram bin,
nein, ganz und gar nicht, und daß ich mich
eigentlich freue, daß er ſie gern hat, wenn ich
auch ſo manchmal meine Gedanken darüber habe.
Denn er iſt ein andrer Mann worden, und unſer
Haus iſt ein ander Haus worden als vordem;
und das alles dank ich ihr. Eine Stief iſt
freilich eine Stief, gewiß, das bleibt, und wenn
ich da bin, iſt es gut, und wenn ich nicht da bin,
iſt es noch beſſer; ich weiß es wohl, und es geht
ihr nichts zu Herzen, wenn's nicht eine neue
Mod' oder ein Putz oder eine Gaſterei iſt; aber
eigentlich hab' ich ſie doch gern, und weißt Du,
Gret', ich werde mit ihr ſprechen und nicht mit
der Trud'. Ich bin jetzt achtzehn, und mit acht-
zehn, da darf man's. Und ich wette, ſie nimmt's
54 Grete Minde.
gut auf und giebt mir einen Kuß, und ruft den
Vater und erzählt ihm alles und ſagt ihm alles,
und ſagt ihm auch, daß er Schuld ſei, ja er, er,
und daß ſie mich heirathen wolle, nächſtens ſchon,
wenn er nicht anders würde, ganz anders. Und
dann lacht er immer, weil er es gern hört. Aber
ſie ſagt es noch lieber.“
Grete, die, während er ſprach, eine Menge
der umherliegenden Kaſtanien geſammelt und auf:
gezogen hatte, hing ſie ſich jetzt als Schnur um
den Hals und ſagte: „Wie kleidet es mir?“
„Ach, Dir kleidet alles. Du weißt es ja,
und alle Leute wiſſens. Und ſie ſagen auch, es
ſei hart, daß Du Dein Leben ſo vertrauern mußt.
Immer fo mit dem Kind ....“
Grete ſeufzte. „Freilich, es iſt nichts Fein's;
aber bei Tag iſt es ein Spielzeug, und dann ſieh,
dann giebt mir's auch zu lachen, wenn ich ſo ſeh',
wie ſie das Würmchen aufputzen und einen
kleinen Prinzen aus ihm machen möchten. Denn
Du mußt wiſſen, es iſt ein häßlich Kind, und
alles an ihm hat eine falſche Stell' und paßt
nicht recht zuſamm', und ich ſeh es in Gedanken
ſchon groß, wie's dann auch jo hin und her—
ſchlänkert, grad' wie der Gerdt, und ſitzt immer
krumm und eingeſunken, und ſtreckt die Beine
Grete Minde. 55
weit, weit von ſich. Ach, es hat ſchon jetzt jo
lange dünne Beinchen. Wie die Spinn' an der
Wand.“
„Und Trud'?“ fragte Valtin.
„Die ſieht nur, daß es ein hübſches Kind
iſt, oder ſie thut doch ſo. Und dann fragt ſie
mich: „Nicht wahr, Gret', es ſieht gut?“ Und
wenn ich dann ſchweig' oder verlegen ſeh', dann
redet ſie auf mich ein und dann heißt es: „Sieh
doch nur den Mund; iſt er nicht klein? und hat
auch nicht ſolchen Wulſt. Und ſeine Augen
ſtehen nicht ſo vor.“ Aber es hilft ihr nichts,
es iſt und bleibt der Gerdt, und iſt ihm wie
aus dem Geſicht geſchnitten.“
| Valtin ſchüttelte den Kopf und ſagte: „Und
das iſt alles was Du haſt?!“
„Ja und nein. Und Du mußt mich nicht
bedauern. Denn ich habe ja noch die Regine,
die mir von alten Zeiten erzählt, und ich habe
Gigas, der mir ſeine Blumen zeigt. Und dann
hab' ich den Kirchhof. Und mitunter, wenn ich
ein rechtes Glück hab', dann hab' ich Dich.“
Er ſah ſie zärtlich an und ſagte: „Du biſt
ſo gut, und trägſt alles, und willſt nichts.“
Sie ſchüttelte den Kopf. „Ich will eigentlich
viel, Valtin.“
56 Grete Minde.
„Ich glaub's nicht.“
„Doch, doch. Denn ſieh', Liebe will ich,
und das iſt viel. Und ich kann kein Unrecht
ſehn. Und wenn ich's ſeh', da giebt es mir einen
Stich, hier gerad' in's Herz, und ich möchte
dann weinen und ſchrein.“
„Das iſt es ja, Grete. Darum biſt Du ja
ſo gut.“ Und er nahm ihre Hand und drückte
ſie und ſagte ihr, wie lieb er ſie habe. Und
dann ſprach er leiſer und fragte ſie, ob ſie ſich
nicht öfter ſehen könnten, ſo wie heut', und ſo
ganz wie von ungefähr. Und dann nannt' er
ihr die Plätze, wo's am eheſten ginge. Hier der
Kirchhof ſei gut, aber eigentlich die Kirche drin,
die ſei noch beſſer. Am beſten aber ſei die Burg,
da ſei niemand und ſei alles ſo ſchön und ſo
ſtill und der Blick ſo weit.
Grete war es zufrieden und ſie ſagten
einander zu, daß ſie, ſo lange die ſchönen Herbſtes—
tage dauerten, ſich allwöchentlich einmal oben auf
der Burg treffen und miteinander plaudern
wollten. Und als ſie das beſchloſſen, hing ihm
Grete die Kaſtanienkette um, die ſie bis dahin
getragen, und ſagte ihm, er ſei nun ihr Ritter,
der zu ihr halten und für ſie fechten und ſterben
müſſe. Und dabei lachten ſie. Gleich danach
2 78
Ber nn
— >
Grete Minde. 57
aber trennten ſie ſich, und gingen auf verſchiedenen
Wegen, auf daß niemand fie zuſammen jähe,
wieder in ihre Wohnung zurück.
9.
Auf der Burg.
Sie hielten Wort, und eine Woche ſpäter,
während welcher Grete mehr als ſeit lang unter
Trud's Launen und einem Rückfall in ihre
frühere Strenge gelitten hatte, trafen ſie ſich
Nachmittags auf dem Kirchhof und gingen durch
Thor und Vorſtadt erſt bis an die „Freiheit“
und dann auf einem anſteigenden Schlängelwege
bis zur Burg ſelbſt hinauf. Hier, auf dem
großen Außenhof, der zugleich als Wirthſchafts⸗
hof diente, war ein buntes und bewegtes Leben:
im Taktſchlag klang es von der Tenne her, die
Scheunenthore ſtanden offen und die Mädchen,
die beim Flachsbrechen waren, ſangen über den
Hof hin:
Es waren zwei Königskinder,
Die hatten einander ſo lieb,
Sie konnten zuſammen nicht kommen,
Das Waſſer war viel zu tief.
„Ach Liebſter könnteſt Du ſchwimmen,
So ſchwimme doch her zu mir . . ..“
58 Grete Minde.
Es klang jo traurig. Aber die Geſichter
der Mädchen lachten dabei.
„Hörſt Du,“ ſagte Valtin, „das gilt uns.
Sieh nur die Hübſche mit dem Flachskopf. Sieht
ſie nicht aus, als könnte ſie ſich ihr Brauthemd
von ihrem eignen Wocken ſpinnen?“ Grete
ſchwieg. Ihr war ſo weh. Endlich ſagte ſie:
„laß uns gehen, Valtin. Ich weiß nicht, was
es iſt. Aber das fühl' ich, daß ich hier auch
ſtehen und die Hände fleißig rühren und ſingen
möcht'. Sieh nur, wie die Spreu von der Tenne
fliegt. Es iſt alles ſo frei und luftig hier, und
wenn ich hier mitſtünd', ich glaube, da verwehte
manches, was mich quält und drückt.“
Valtin ſuchte nach einem Troſteswort, und
ſie ſchritten, als er ſie wieder beruhigt, über
einen wüſten Grasplatz, auf einen aufgemauerten
und halbausgetrockneten Graben zu, der den
großen, äußeren Burghof von dem kleinen, inneren
trennte. Eine ſchmale Zugbrücke führte hinüber
und ſie paſſirten ſie. Drinnen war alles ſtill:
der Epheu wuchs hoch am Gemäuer auf und in
der Mitte ſtand ein alter Nußbaum, deſſen weites
Geäſt den halben Hofraum überdachte. Und um
den ausgehöhlten Stamm her war eine Bank.
Grete wollte ſich ſetzen; Valtin aber nahm ihre
Grete Minde. 59
Hand und ſagte: „Nicht hier, Grete, es tft zu
ſtickig hier.“ Und damit gingen ſie weiter, bis
an den Fuß eines ſteilen, in die Raſenbettung
eingeſchnittenen Treppchens, das oben auf einen
breiten, von zwei Thürmen flankirten Wallgang
mündete. Zwiſchen dieſen Thürmen aber lief
eine dicke, niedrige Feldſteinmauer, die nur um
ein paar Fuß höher war als der Wallgang ſelbſt.
Und auf dieſe Mauer ſetzten ſie ſich und ſahen
in die Landſchaft hinaus. Zu Füßen hatten ſie
den breiten Strom und die ſchmale Tanger, die
ſpitzwinklig in den Strom einmündete, drüben
aber, am andern Ufer, dehnten ſich die Wieſen,
und dahinter lag ein Schattenſtrich, aus deſſen
Lichtungen hier und dort eine vom Abendroth
übergoldete Kirchthurmſpitze hervorblickte. Der
Himmel blau, die Luft friſch; Sommerfäden
zogen, und in das Geläut der erſten heimwärts
ziehenden Heerden miſchte ſich von weit her das
Anſchlagen der Abendglocke.
„Ach, wie ſchön,“ ſagte Grete. „Jahr und
Tag, daß ich nicht hier oben war. Und mir iſt
faſt, als hätt' ich es nie geſehen.“
„Das macht, daß wir einen ſo ſchönen Tag
haben,“ ſagte Valtin.
„Nein, das macht, daß es hier ſo friſch
60 Grete Minde.
und ſo weit iſt, und zu Haus iſt es ſo dumpf
und fo eng. Da bin ich wie gefangen und ein-
gemauert, eingemauert wie die Stendal'ſche Nonne,
von der mir Regine ſo oft erzählt hat.“
„Und Du möchteſt fort.“
„Lieber heut als morgen. Entſinnſt Du Dich
noch, Maifeſt vor'm Jahr, als wir uns verirrt
hatten und auf den Hirſch warteten, der uns
aus dem Walde hinaustragen ſollte!“
Valtin nickte.
„Sieh, da ſprachſt Du von einem Thal, das
tief in Bergen läg', und der Sturm ginge drüber
hin und wäre kein Krieg und die Menſchen liebten
einander. Und ich weiß, daß ich das Thal in
Wachen und in Träumen ſah. Viele Wochen lang.
Und ich ſehnte mich danach und wollte hin. Aber
heute will ich nur noch fort, nur noch weg aus
unſerm Haus. Wohin iſt gleich. Es ſchnürt mir die
Bruſt zuſammen und ich habe keinen Athem mehr.“
„Aber Du haſt doch die Regine, Gret'. Und
Gigas iſt gut mit Dir. Und dann ſieh, Emrentz
kann Dich leiden. Ich weiß es, ſie hat mir's
ſelber gejagt, keine drei Tag’ erſt, als ich mein’
Ausſprach' mit ihr hatt'. Und dann, Grete, Du
weißt ja, dann haſt Du mich.“
Sie blickte ſich ſcheu-verlegen um. Und als
Grete Minde. 61
ſie ſah, daß ſie von niemand belauſcht wurden,
trat ſie raſch auf ihn zu, ſtrich ihm das Haar
aus der Stirn und ſagte: „Ja, Dich hab' ich.
Und ohne Dich wär' ich ſchon todt.“
Valtin zitterte vor Bewegung. Er erkannte
wohl, wie tief⸗unglücklich fie ſei, und ſagte nur:
„Was iſt es, Grete? Sag' es. Vielleicht, daß
ich es mit Dir tragen kann. Was drückt Dich?“
„Das Leben.“
„Das Leben?“ Und er ſah ſie vorwurfs—
voll an.
„Nein, nein. Vergiß es. Nicht das Leben.
Aber der Tag drückt mich; jeder; heute, morgen,
und der folgende wieder. Endlos, endlos. Und
iſt kein Troſt und keine Hülfe.“
„Der Tag,“ wiederholte Valtin vor ſich hin,
und es war, als überleg’ er's und muſtre die
Reihe ſeiner eigenen Tage. |
Ja, der Tag,“ fuhr Grete fort. „Und jede
Stund' iſt lang wie das Jahr. Kaum, daß ich
den Morgenſchlaf aus den Augen hab', ſo heißt
es: „Das Kind, das Kind.“ Und nun ſpring' ich
auf und mache das Bad und mache den Brei.
Und nun iſt das Bad viel zu heiß und der Brei
viel zu kalt. Und dann wieder: „Das Kind und
das Kind.“ Und an mir ſehen ſie vorbei, als
62 Grete Minde.
wär' ich der Schatten an der Wand. Ach, ich
weiß, es iſt eine Sünd', aber ich muß mir's
herunterſprechen von der Seel', und wahr iſt es
und bleibt es, ich haſſ' es. Und ſo kommt
Mittag und wir ſitzen an dem runden Tiſch, und
ich ſpreche das Gebet. Sprech' es, und Niemand
hört darauf. Und wenn ich das letzte Wort ge—
ſprochen, ſo heißt es: „Grete, ſieh, ich glaub' es
ſchreit.“ Und dann bring' ich es, und dann geht
es reihum und dann ſoll ich eſſen mit dem Kind
im Arm. Und wenn es hübſch wär'. Aber es
iſt ſo häßlich, und ſieht mich an, als errieth es
all' meine Gedanken. Ach, Valtin, daß iſt mein
Tag und mein Nacht. Und jo leb' ich. In
meines Vaters Haus ohne Heimath! Unter Bruder
und Schweſter, und ohne Liebe! Es tödtet mich,
daß mich Niemand liebt. Ach, wie's mich danach
verlangt! Nur ein Wort, nur ein einzig Wort.“
Und ſie warf ſich auf die Knie und legte den
Kopf auf den Stein und weinte bitterlich.
„Es kommen andere Tage,“ ſagte Valtin.
„Und wir wollen aushalten. Und wenn ſie nicht
kommen, Eins mußt Du wiſſen, Gret', ich thu'
alles, was Du willſt. Sage, daß ich hier hin—
unter ſpringe, ſo ſpring' ich, und ſage, daß Du
fort willſt, jo will ich auch fort. Und wenn es
Grete Minde. 63
in den Tod ging'! Ich kann nicht leben ohne
Dich. Und ich will auch nicht.“
Grete war aufgeſprungen und ſagte: „Das
hab' ich hören wollen. Das, das! Und nun
kann ich wieder leben, weil ich dies Elend nicht
mehr endlos ſeh'. Ich weiß nun, daß ich's ändern
kann, jeden Tag und jede Stunde. Sieh mich
nicht ſo an. Erſchrick nicht. Ich bin nicht ſo
wild und unbändig, wie Du denkſt. Nein, ich
will ſtill und ruhig ſein. Und wir wollen aus-
halten, wie Du ſagſt, und wollen hoffen und
harren, bis wir groß ſind und unſer Erbe haben.
Denn wir haben doch eins, nicht wahr? Und
haben wir das, Valtin, ſo haben wir uns, und
dann haben wir die ganze Welt. Und dann ſind
wir glücklich. Ach, wie mir ſo leicht um's Herz
geworden. Und nun komm, und laß uns gehn
Die Sonn' iſt unter und die letzten Heerden ſind
eben herein.“
Er war es zufrieden und ſie wandten ſich
und gingen heimwärts, erſt unter dem Nußbaum
hin und dann über die kleine Zugbrücke fort, die
von dem inneren Burghof in den Außenhof
führte. In dem Sumpfwaſſer unter ihnen ſtand
das Rohr und wuchs hoch hinauf bis an das
Brückengebälk. Ein paar blaue Dolden, blattlos
64 Grete Minde.
und auf langen Stielen, blühten einſam da-
zwiſchen. Und nun waren ſie wieder jenſeits
und ſahen, daß alle Arbeit in Hof und Tenne
ſchwieg. Die Mädchen, die beim Flachsbrechen
geweſen waren, hatten ſich mit den Knechten auf
Brettern und Balken geſetzt, die hoch aufgeſchichtet
an einem Hollunderzaune lagen und ſangen
allerlei Lieder, Luſtiges und Schelmiſches, und
neckten ſich untereinander. Als ſie aber des
jungen Paares anſichtig wurden, brachen ſie
plötzlich ab und nahmen wie von ſelber die Weiſe
wieder auf, die ſie, eine Stunde vorher, bei
Beider Kommen geſungen hatten:
„Ach Tochter, herzliebſte Tochter,
Allein ſollſt du nicht gehn,
Weck' auf deine jüngſte Schweſter
Und laß ſie mit dir gehn.“
„Ach Mutter, herzliebſte Mutter,
Meine Schweſter iſt noch ein Kind,
Sie pflückt ja all' die Blumen,
Die auf grüner Heide ſind.“
Valtin und Grete waren raſcher zugeſchritten
und die letzten Worte des Liedes verklangen
ihnen unklar und halbgehört. Aber die Weiſe
traf noch ihr Ohr, als ſie das Burgthor ſchon
lang im Rücken hatten.
8
. .
Grete Minde. 65
10.
Zu Weihnachten.
„Ich kann nun wieder leben,“ hatte Grete
geſagt, und wirklich, das Leben wurd' ihr leichter
ſeitdem. Ein beinah freudiger Trotz, dem ſie ſich,
auch wenn ſie gehorchte, hingeben konnte, half
ihr über alle Kränkungen hinweg. Sie gehorchte
ja nur noch, weil ſie gehorchen wollte. Wollte
ſie nicht mehr, ſo konnte ſie, wie ſie zu Valtin
geſagt hatte, jeden Tag „dem Spiel ein Ende
machen.“ Und wirklich, ein Spiel war es nur
noch, oder ſie wußt' es doch in dieſem Lichte zu
ſehen. Das gab ihr eine wunderſame Kraft, und
wenn ſie dann ſpät Abends in ihre Giebelſtube
hinaufſtieg, die ſie, ſeit das Kind unten aus der
erſten Pflege war, wieder mit Reginen bewohnte,
ſo gelang es ihr mit dieſer zu lachen und zu
ſcherzen. Und wenn es dann hieß „aber nun
ſchlafe, Gret',“ dann wickelte ſie ſich freilich in
ihre Decken und ſchwieg, aber nur, um ſich in
wachen Träumen eine Welt der Freiheit und des
Glückes aufzubauen. Dabei ſah ſie ſich am
liebſten am Bug oder Steuer eines Schiffes
ſtehen, und der Seewind ging, und es war Nacht⸗
zeit und die Sterne funkelten. Und ſie ſah
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 107
66 Grete Minde.
dann hinauf, und alles war groß und weit und
frei. Und zuletzt überkam es ſie wie Frieden
inmitten aller Sehnſucht, ihr Trotz wurde Demuth,
und an Stelle des böſen Engels, der ihren Tag
beherrſcht hatte, ſaß nun ihr guter Engel an ihrem
Bett. Und wenn ſie dann andren Tags erwachte
und hinunter ſah auf den Garten, und den Pfau
auf ſeiner Stange kreiſchen hörte, dann fragte ſie
ſich: „Biſt Du noch Du ſelbſt? Biſt Du noch
unglücklich?“ Und mitunter wußte ſie's kaum.
Aber freilich auch andere Tage kamen, wo ſie's
wußte, nur allzu gut, und wo weder ihr guter
noch ihr böſer Engel, weder ihre Demuth noch
ihr Trotz ſie vor einem immer bitterer und lei-
denſchaftlicher aufgährenden Groll zu ſchützen
wußte.
Ein ſolcher Tag, und der bitterſten einer,
war der Weihnachtstag, an dem auch diesmal ein
Chriſtbaum angezündet wurde. Aber nicht für
Grete. Grete war ja groß, nein, nur für das
Kleine, das denn auch nach den Lichtern haſchte
und vor allem nach dem Goldſchaum, der reichlich
in den Zweigen glitzerte. „'s iſt Gerdt's Kind,“
ſagte Grete, der ihres Bruders Geiz und Hab—
ſucht immer ein Abſcheu war; und ſie wandte
ſich ihren eigenen Geſchenken zu. Es waren ihrer
—
Grete Minde. 67
nicht allzu viele: Lebkuchen und Aepfel und Nüſſe,
ſammt einem dicken Spangen-Geſangbuch (trotz
dem ſie ſchon zwei dergleichen hatte), auf deſſen
Titelblatt in großen Buchſtaben und von Trud's
eigener Handſchrift geſchrieben war: Sprüche Sa⸗
lomonis, Kap. 16, Vers 18.
Sie kannte den Vers nicht, wußte aber,
daß er ihr nichts Gutes bedeuten könne, und
ſobald ſich's gab, war ſie treppauf, um in der
großen Bibel nachzuſchlagen. Und nun las ſie:
„Wer zu Grunde gehen ſoll, der wird ſtolz, und
ſtolzer Muth kommt vor dem Fall.“
Es ſchien nicht, daß ſie verwirrt oder irgend—
wie betroffen war, ſie ſtrich nur, ſchnell ent⸗
ſchloſſen, die von Trud eingeſchriebene Zeile mit
einer dicken Feder durch, blätterte haſtig in dem
alten Teſtamente weiter, als ob ſie nach einer
bekannten, aber ihrem Gedächtniß wieder halbent—
fallenen Stelle ſuche, und ſchrieb dann ihrerſeits
die Prophetenſtelle darunter, die des alten Jakob
Minde letzte Mahnung an Trud enthalten hatte:
„Laſſe die Waiſen Gnade bei Dir finden.“ Und
nun flog ſie wieder treppab und legte das Buch
an ſeinen alten Platz. Trud aber hatte wohl
bemerkt, was um ſie her vorgegangen, und als
ſie mit Gerdt allein im Zimmer war, ſah ſie nach
107⸗
68 Grete Minde.
und ſagte, während ſie ſich verfärbte: „Sieh und
lies!“ Und er nahm nun ſelber das Buch und
las und lachte vor ſich hin, wie wenn er ſich
ihrer Niederlage freue. Denn ſeine hämiſche
Natur kannte nichts Lieb'res als den Aerger
andrer Leute, ſeine Frau nicht ausgenommen.
Zwiſchen dieſer aber und Greten unterblieb jedes
Wort, und als der Faſching kam, den die Stadt
diesmal ausnahmsweiſe prächtig mit Aufzügen
und allerlei Mummenſchanz feierte, ſchien der
Zwiſchenfall vergeſſen. Und auch um Oſtern,
als ſich alles zu dem herkömmlichen großen Kirch—
gang rüſtete, hütete ſich Trud wohl, nach dem
Buche zu fragen. Wußte ſie doch, daß es Gret'
unter dem Weißzeug ihrer Truhe verſteckt hatte.
Denn ſie mocht' es nicht ſehen.
14,
Der Herr Churfürſt kommt.
Und nun war Hochſommerzeit (der längſte Tag
ſchon um vier Wochen vorüber) und die Bürger,
wenn ſie ſpät Abends aus dem Rathhauskeller heim
gingen, verſicherten einander, was übrigens Nie—
mand beſtritt, „daß die Tage ſchon wieder kürzer
würden.“ Da kam an einem Mittewochen plötzlich die
r 7 .
HB,
N
Grete Minde. 69
Nachricht in die Stadt, daß der allergnädigſte Herr
Churfürſt einzutreffen und einen Tag und eine
Nacht auf ſeiner Burg Tangermünde zuzubringen
gedenke. Das gab ein großes Aufſehen, und
noch mehr der Unruhe, weilen der Herr Churfürſt
in eben jenen Tagen nicht blos von ſeinem
lutheriſchen Glauben zum reformirten über⸗
getreten, ſondern auch in Folge dieſes Uebertritts
die Veranlaſſung zu großer Mißſtimmung und
der Gegenſtand allerheftigſter Angriffe von Seiten
der Tangermündiſchen Hitzköpfe geworden war.
Und nun kam er ſelbſt, und während Viele der
nur zu begründeten Sorge lebten, um ihrer
ungebührlichen und läſterlichen Rede willen zur
Rechenſchaft gezogen zu werden, waren andere,
ihres Glaubens und Gewiſſens halber, in tiefer
und ernſter Bedrängniß. Unter ihnen Gigas.
Und dieſe Bedrängniß wuchs noch, als ihm am
Nachmittage vorerwähnten Mittewochens durch
einen Herrn vom Hofe vermeldet wurde, daß
Seine churfürſtliche Durchlaucht um die ſiebente
Morgenſtunde zu Sanct Stephan vorzuſprechen
und daſelbſt eine Frühpredigt zu hören gedächten.
Wie dem hohen Herrn begegnen? Dem Abtrün—
nigen, der vielleicht alles in Stadt und Land
zu Abfall und Untreue heranzwingen wollte!
70 rete Minde.
Und ſo muthig Gigas war, es kam ihm doch ein
Bangen und eine Schwachheit an. Aber er be—
tete ſich durch, und als der andre Morgen da
war, ſtieg er, ohne Menſchenfurcht, die kleine
Kanzeltreppe hinauf und predigte über das
Wort des Heilands: Gebet dem Kaiſer, was des
Kaiſers, und Gott, was Gottes iſt.“ Und ſiehe
da, die holzgeſchnitzte Taube des heiligen Geiſtes
hatte nicht vergeblich über ihm geſchwebt, und
der Herr Churfürſt, nachdem er entblößten
Hauptes und „mit abſonderer Aufmerkſamkeit“
der Predigt gefolget war, hatte nach Schluß
derſelben ihm danken und ihn zu weiterer Be—
ſprechung auf ſeine Burg entbieten laſſen. Und
hier nun, wie die Chroniſten melden, war Seine
churfürſtliche Durchlaucht dem feſten und glau—
benstreuen Manne nicht nur um einen Schritt
oder zwei zu freundlicher Begrüßung entgegen—
gegangen, ſondern hatte demſelben auch unter
freiem Himmel und in Gegenwart vieler Herren
vom Adel, an Eidesſtatt zugeſichert: „daß er
ſeine von Gott ihm anbefohlenen Unterthanen
bei dem Worte Lutheri Augsburgiſcher Confeſſion
belaſſen, eines jeden Perſon auch in der Frei—
heit ſeines Glaubens und Gewiſſens ſchützen
wolle, in eben jener Freiheit, um derentwillen er
Grete Minde. 71
für Seine Perſon das Bekenntniß der beſtändig
hadernden Lutheriſchen abgethan und den refor-
mirten Glauben angenommen habe.“
Und als dieſe zu größerem Theile troſtreiche
Rede, über deren ſchmerzlichen Ausklang Gigas
klug hinwegzuhören verſtand, an Burgemeiſter
und Rath überbracht worden war, waren Peter
Guntz und die Rathmannen, dazu die Geiſtlichen
und Rektores aller fünf Kirchen, auf der Burg
erſchienen, um nach abgeſtattetem Dank und
wiederholter Verſicherung unverbrüchlicher Treue,
den Herrn Churfürſten um die Gunſt anzugehen,
ihm ein feſtlich Mahl herrichten zu dürfen. Aber
in der Halle ſeiner eigenen Burg, dieweilen
ihre Rathhaus⸗Halle zu klein ſei, um die reiche
Zahl der Gäſte zu faſſen. Und alles war an⸗
genommen worden und hatte die Stadt um ſo
mehr erfreut und beglückt, als bei gnädiger Ent⸗
laſſung der Sprecher, unter denen ſich auch
Gerdt in vorderſter Reihe befunden, ſeitens Sr.
churf. Durchlaucht der Hoffnung Ausdruck ges
geben worden war, die ſittigen und ehrbaren
Frauen der Stadt auf ſeiner Burg mit erſcheinen
und an dem Feſtmahle theilnehmen zu ſehen.
Und nun war dieſes Mahl, unter freund-
lichem Beiſtand aller Dienerſchaften des hohen
2 Grete Minde.
Herrn, in kürzeſter Friſt hergerichtet worden,
und um die vierte Stunde bewegte ſich der Zug
der Geladenen, Männer und Frauen, die Lange
Straße hinab, zur Burg hinauf. Die kleineren
Bürgerfrauen aber, die von der Feſtlichkeit aus⸗
geſchloſſen waren, ſahen ihnen neidiſch und ſpöt⸗
tiſch nach, und nicht zum wenigſten, als Trud
und Emrentz an ihnen vorüberzogen. Denn
beide waren abſonderlich reich und prächtig ge—
kleidet, in Ketten und hohen Krauſen, und
Emrentz, aller Julihitze zum Trotz, hatte ſich ihr
mit Hermelinpelz beſetztes Mäntelchen nicht ver-
ſagen können. Trud's Kleid aber ſtand ſteif und
feierlich um ſie her und bewegte ſich kaum, als
ſie, zur Rechten ihrer Muhme, die Straße
hinunterſchritt.
Und nun war Alles oben, das Mahl begann,
und die gothiſchen Fenſter mit ihren kleinen bunt⸗
glaſigen und vielhundertfältig in Blei gefaßten
Scheibchen ſtanden nach Fluß und Hof hin weit
offen, und die Gäſte, ſo lang es drin ein
Schweigen gab, hörten von den Zweigen des
draußenſtehenden Nußbaums her das Jubiliren
der Vögel. Aber nicht immer ſchwieg es drinnen,
Trinkſpruch reihte ſich an Trinkſpruch, und wenn
dann von der großen Empore herab, die zu
a nn a Aa Se Kr a EEE TER N Een Th nn a a ee
- .- — N * 2 ER ·¹—mm K Zar nie .
rr
Grete Minde. 73
Häupten des Churfürſten aufragte, die Stadt-
pfeifer einfielen und die Paukenwirbel über den
Fluß hin und bis weit hinaus in die Landſchaft
rollten, dann hielt der Fährmann ſein Boot an
und die Koppelpferde horchten auf und ſahen ver⸗
wundert nach der ſonſt ſo ſtillen Burg hinüber.
12,
Am Wendenſtein.
Um eben dieſe Zeit ſaß Grete daheim in der
Hinterſtube des erſten Stocks. Trud's letztes
Wort an ſie war geweſen: „Hüte das Kind.“
Und nun hütete ſie's. Es lag in einer Wiege
von Roſenholz, ein Schleiertuch über dem Köpf⸗
chen, und durch Thür und Fenſter, die beide
geöffnet waren, zog die Luft. Herabgelaſſene
Vorhänge gaben Schatten, und nur ein paar
Fliegen tanzten um den Thymianbuſch, der an
der Decke des Zimmers hing. Es regte ſich
nichts in dem weiten Hauſe.
Und doch war Jemand eingetreten: Valtin.
Er hatte die Hausthür vorſichtig geöffnet, ſo daß
die Glocke keinen Ton gegeben, und ſah ſich nun
auf dem halb im Dämmer liegenden Flure neu—
gierig um. Es war alles wie ſonſt: an dem
74 Grete Minde.
vorderſten Querbalken ſaßen die zwei Schwalben⸗
neſter und in den Niſchen ſtanden die Schränke,
erſt die von Nußbaum, dann die von Kiehnenholz,
bis dicht an die Hofthür hin. Die Hofthür ſelbſt
aber ſtand auf; ein breiter Lichtſtreifen fiel ein
und auf dem ſonnenbeſchienenen Hofe ſaßen die
Tauben und ſpielten im Sand, oder ſchritten
gurrend, und dabei ſtolz und zierlich ihre Köpfe
drehend, an dem noch ſtolzeren Pfau vorüber.
Und dahinten war das vom Wein überwachſene
Gitter, von dem aus die ſechs Treppenſtufen
niederführten, und durch die offnen Stellen des
Laubes hindurch ſah man die Malvenkronen und
die Strauchſpitzen des tiefer gelegenen Gartens.
Alles märchenhaft und wie verwunſchen, und
leiſer noch als er in das Haus eingetreten war,
ſtieg er jetzt die Stiege hinauf, bis er an der
Schwelle der Hinterſtube hielt. Es ſchien, daß
Grete ſchlief, und einen Augenblick war er in
Zweifel, ob er bleiben oder wieder gehen ſolle.
Aber zuletzt rief er ihren Namen und ſie ſah
lächelnd auf. „Komm nur,“ ſagte ſie, „ich ſchlafe
nicht. Ich hüte ja das Kind. Willſt Du's
ſehen?“
„Nein,“ ſagte er, „laß es. Sehen wir's
an, ſo wecken wir's, und iſt es wach, ſo ſchreit
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Grete Minde. 75
es. Und es ſoll nicht wach ſein, und noch we—
niger ſoll es ſchreien, denn ich will Dich abholen.
Alle Welt iſt draußen auf der Burg, und Du
biſt hier allein, als wär'ſt Du die Magd im
Haus oder die Kindermuhme. Komm, es ſieht
uns Niemand. Wir gehen an den Gärten hin,
und die Stadtmauer giebt uns Schatten. Und
ſind wir erſt oben, da thun wir, als fänden wir
uns. Sieh, ich bin ſo neugierig. Und Du biſt
es auch, nicht wahr? Er iſt ja doch eigentlich
unſer Landesherr. Und am End' iſt es ein Un-
recht ihn nicht geſehen zu haben, wenn man ihn
ſehen kann. Ich glaube, wir müſſen ihn ſehen,
Grete. Was meinſt Du?“
Grete lachte. „Wie gut Du die Worte
ſtellen kannſt. Sonſt heißt es immer, Eva ſei
Schuld; aber heute nicht. Du bered'ſt mich, und
ich ſoll thun, was ſie mir verboten.“
„Ach, wer?”
„Nun, Du weißt es ja; Trud. Und da ſitz'
ich nun hier und gehorche. Und dann iſt das
Kleine ...“
„Laß nur. Es ſchläft ja. Und Regine hütet
es fo gut wie Du. Komm, und eh' das Feſt
aus iſt, ſind wir wieder da. Und Du ſetzeſt
Dich an Deinen alten Platz, und Niemand weiß
76 Grete Minde.
es. Und die ſchlafenden Kinder haben ihren
Engel.“ |
„Nun gut, ich komm.“ Und dabei rief ſie
nach der Regine, die neben dem Küchenherde ſaß,
und ehe noch der Pfau draußen auf dem Hofe
gekreiſcht und ſein Rad geſchlagen hatte, was er,
wenn er Greten ſah, immer zu thun pflegte,
waren fie ſchon an ihm vorbei und zur Garten-
pforte hinaus, und gingen im Schatten der
Stadtmauer, ganz wie Valtin es gewollt hatte,
bis an das Waſſerthor, und dann über die Tan—
gerwieſen auf die Vorſtadt zu. Niemand be—
gegnete ihnen hier; alles war wie ausgeſtorben;
und erſt als ſie die „Freiheit“ paſſirt und den
äußeren Burghof erreicht hatten, ſahen ſie, daß
hier die kleinen Leute ſammt ihrem Geſinde zu
vielen Hunderten ſtanden und den Raum bis an
die Zugbrücke hin ſo völlig füllten, daß an ein
Hineinkommen in den inneren Burghof gar nicht
zu denken war.
Und ſo ſchlug denn Valtin vor, wieder
hügelabwärts zu ſteigen und drüben auf den
Elbwieſen einen Spatziergang zu machen. Grete
war es zufrieden und erſt als fie den Fähr⸗
mann angerufen und den Fluß gekreuzt hatten,
wandten ſie ſich wieder, um nun unbehindert auf
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Grete Minde. 77
die goldig im Scheine der Spätnachmittags⸗Sonne
daliegende Burg zurückzuſehen, und in die von
drüben her herüberklingenden Lebehochs miteinzu—
ſtimmen.
Aber bald waren ſie's müd', und ſie gingen
tiefer in die hoch in Gras ſtehende, mit Ranunkeln
und rothem Ampfer überſäte Wieſe hinein, bis
ſie zuletzt an einen niedrigen mit Werft und
Weiden beſetzten Erdwall kamen, der ſich quer
durch die weite Wieſenlandſchaft zog. Auf der
Höhe dieſes Walles lag ein Feldſtein von abſon—
derlicher Form und ſo dicht mit Flechten über—
wachſen, daß ſich ein paar halbverwitterte Schrift—
zeichen daran nur mühſam erkennen ließen. Und
auf dieſen Feldſtein ſetzten ſie ſich.
„Was bedeutet der Stein?“ fragte Grete.
„Ich weiß es nicht. Vielleicht ein Wenden—
grab.“
„Wie denn?“
„Weißt Du denn nicht? Dies iſt ja das
Feld, wo die große Tangerſchlacht war. Heiden
und Chriſten. Und die Heiden ſiegten. Und zu
beiden Seiten des Erdwalls, auf dem wir hier ſitzen,
vor uns bis dicht an den Wald und hinter uns
bis dicht an den Fluß, liegen ſie zu vielen Tau⸗
ſenden.“
78 Grete Minde.
„Ich glaub' es nicht. Und wenn auch, ich
mag nicht davon hören. Auch nicht, wenn die
Chriſten geſiegt hätten... Aber ſieh, wie ſchön.“
Und dabei zeigte ſie mit der Hand auf die vor
ihnen ausgebreitete Landſchaft, die ſie jetzt erſt,
von dem hochgelegenen Stein aus, mit ihrem
Blick umfaſſen konnten. Es war daſſelbe Bild,
das ſie letzten Herbſt ſchon von der Burg und
dem Gemäuer aus vor Augen gehabt hatten,
nur die Dörfer, die damals mit nichts andrem,
als ihren Kirchthurmſpitzen aus dem Schatten—
ſtriche des Waldes hervorgeblickt, lagen heute klar
und deutlich vor ihnen, und die Strohdächer mit
ihren Storchenneſtern ließen ſich überall erkennen.
„Weißt Du, wie die Dörfer heißen?“ fragte
Grete.
„Gewiß, weiß ich's. Das hier rechts iſt
Buch, wo der Herr von Buch lebte, der einen
Schatz in unſerer Tangermünder Kirche viele
Jahre lang verborgen hielt, um ihn zuletzt als
Löſegeld für ſeinen Herrn Markgrafen zu zahlen.
Denn die Magdeburger hatten ihn gefangen ge—
nommen. Und er hieß Markgraf Otto. Otto
mit dem Pfeil. Ein ſchöner Herr und ſehr rit—
terlich, und war ein Dichter und liebte die Frauen.
Weißt Du davon?“
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Grete Minde. 79
„Nein ... Aber hier das Dorf mit dem
blanken Wetterhahn?“
„Das iſt Fiſchbeck.“
„Ach, das kenn' ich. Da wohnt ja der alte
Pfarr... aber nun hab' ich ſeinen Namen ver⸗
geſſen. O, von dem weiß ich. Der war eines
Fiſchbecker Bauern Sohn und ſollte ſeines Vaters
Pferde hüten. Aber er wollt' es nicht und lief
ihm fort, denn er wußt' es beſtimmt in ſeinem
Herzen, daß er ein Geiſtlicher und ein frommer
Mann werden müſſe. Und er wurd' es auch,
und nun hütet er am ſelben Ort ſein Amt und
ſeine Gemeinde. Und ſein Vater hat es noch
erlebt.“
„Aber Grete, woher weißt Du nur das
alles? Die Geſchichte von der großen Tanger—
ſchlacht und von dem Tangermünder Schatze, die
weißt Du nicht, und die von dem Fiſchbecker
Paſtor weißt Du ſo genau!“
Grete lachte. „Und weißt Du, wie lang ich
ſie weiß? Seit geſtern. Und weißt Du von
wem? Von Gigas.“
„Das mußt Du mir erzählen.“
„Freilich. Das will ich auch. Aber da
muß ich weit ausholen.“
„Thu's nur. Wir haben ja Zeit.“
80 | Grete Minde.
„Nun ſieh, Valtin, Du weißt, ich bin immer
weit fort; weit fort in meinen Gedanken. Und
Du weißt auch, um deshalb halt' ich's aus.
Und immer Abends, wenn ich mit der Regine
bin, leſ' ich von Kindern oder ſchönen Prin-
zeſſinnen, die vor einem böſen König oder einer
böſen Königin geflohen ſind, und es giebt viele
ſolche Geſchichten, und nicht blos in Märchen-
büchern, viel, viel mehr als Du Dir denken
kannſt, und mitunter iſt es mir, als wären alle
Menſchen irgend einmal ihrem Elend entlaufen.“
Valtin ſchüttelte den Kopf.
„Du ſchüttelſt den Kopf. Und ſieh, das
thu' ich auch. Oder doch von Zeit zu Zeit.
Und ſo war es auch geſtern, denn ich hatte
wieder einen Traum gehabt, wieder von Flucht,
und es war als flög' ich und mir war im Flie—
gen ſo wohl und ſo leicht. Aber als ich auf—
wachte, war ich bedrückt und unruhig in meinem
Gemüth. Und da dacht' ich, das ſoll ein Ende
haben: du wirſt Gigas fragen, der ſoll dir ſagen,
ob es etwas Böſes iſt, zu fliehen. Und ſo ging
ich zu ihm, geſtern um die Mittagsſtunde, troß-
dem ich wohl gehört hatte, daß er ſelber in
Sorg' und Unruh' ſei.“
„Und wie fandeſt Du ihn?“
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Grete Minde. 81
„Ich fand ihn in ſeinen Garten zwiſchen den
Beeten, und wir gingen auf und ab, wie er's
gern thut, und ſprachen vielerlei, und zuletzt
auch von unſerm Herrn Churfürſten, der wie
wir ja ſchon wußten, eine Nacht und einen Tag
auf feiner Tangermünder Burg zu verbleiben ge-
denke. Und als ich ſah, daß er ſich in ſeinem
Gewiſſen ſorgte, gerade ſo wie ſich's Trud und
Gerdt, als fie von ihm ſprachen, im unſrem
Hauſe ſchon zugeflüſtert hatten, da faßt' ich mir
ein Herz und fragt’ ihn: Was er wohl mein’?
Ob Flucht allemalen ein bös und unrecht Ding
ſei? Oder ob es nicht auch ein rechtmäßig und
zuſtändig Beginnen ſein könne?“
„Und was antwortete er Dir?“
„Er ſchwieg eine ganze Weile. Als wir
aber an die Bank kamen, die zu Ende des
Mittelganges ſteht, ſagte er: „Setz' Dich, Gret'.
Und nun ſage mir, wie kommſt Du zu ſolcher
Frag'?“ Aber ich gab ihm keine Antwort und
wiederholte nur alles, und ſah ihn feſt dabei
an. Und all das konnt' ich, ohne mich ihm zu
verrathen, denn ich hatte wohl bemerkt, daß er
an nichts als an den gnädigen und geſtrengen
Herrn Churfürſten dachte, der genferiſch gewor—
den, und daß er immer nur alles Fährliche vor
Th. Fontane, Gef. Romane u. Novellen. 108
82 Grete Minde.
Augen ſah, was ihm ſelber noch bevorſtehen
könne. Und endlich nahm er meine Hand, und
ſagte: „Ja, Grete, das iſt eine ſchwere Frag',
und ich denke, wir müſſen zum Erſten allemal
beten, daß wir nicht in Verſuchung fallen, und
zum Zweiten, daß uns die Gnade Gottes überall,
wo wir zweifelhaft und unſicher in unſerm Ge—
müthe ſind, den rechten Weg finden laſſe. Denn
die richtigen Wege ſind oft wechſelvolle Wege,
und wenn es heut unſre Pflicht iſt zu gehorchen
und auszuharren, ſo kann es morgen unſre
Pflicht ſein nicht zu gehorchen und uns durch
Flucht einem ſchlimmen Anſinnen zu entziehn.
Aber Eines gilt heut und immerdar: wir müſſen
in unſrem Thun, ob wir nun fliehen oder aus—
harren, einem höheren Rufe Folge leiſten.“
Und nun erzählte er mir von dem Fiſchbeck'ſchen
Paſtor und ſeiner Flucht.“
„Aber er muß Dir doch noch mehr erzählt
haben?“
„Nein. Vielleicht daß er's gethan, aber der
alte Peter Guntz kam und unterbrach uns. Und
ich wußte ja nun auch, was ich wiſſen wollt!
und daß auch eine Flucht das Rechte ſein könne.
Und als ich heimging, zählt' ich mir her,
wer alles geflohen ſei. Joſeph und Maria
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Grete Minde. 83
floh. Und auch Petrus floh aus ſeinem Ge—
fängniß.“
„Aber ein Engel des Herrn führte ſie,“
ſagte Valtin. „Und ſie flohen um Gott und
Glaubens willen.“
Es ſchien, daß dieſe Worte Greten in's Ge—
wiſſen trafen, denn ſie ſchwieg. Endlich aber
ſagte ſie: „Ja, um Gott und Glaubens willen.
Aber auch um Lebens und Rechtes willen. Ich
mag kein Unrecht ſehen, und auch keines leiden.“
„Du weißt aber, daß wir Geduld üben und
unſere Feinde lieben ſollen.“
„Ja, ich weiß es; aber ich kann es nicht.“
„Weil Du nicht willſt.“
„Nein, ich will es nicht.“
Und als ſie ſoweit geſprochen, wandten ſie
ſich wieder und ſahen, daß der Sonnenball unter
war und die Burgthürme bereits im Abendrothe
glühten. „Es iſt Zeit, daß wir heimgehen,“
ſagte Valtin, „oder wir verpaſſen's, und Trud
iſt eher zu Haus als wir.“
„Laß ſie,“ ſagte Grete leicht. „Ich mag
nicht mehr nach Haus. Mir iſt, als wäre dies
mein letzter Tag, und als müßt' ich fort. Heute
noch. Gleich. Willſt Du?“
Valtin ſah ſie bang und fragend an.
108 *
84 Grete Minde.
„Du willſt nicht? Sag's nur. Du fürchteſt
Dich.“ |
„Ich will, Grete. Ganz gewiß, ich will.
Aber ich muß es einſehen, daß es nicht anders
geht. Und hab' ich Dir's anders verſprochen,
damals auf der Burg, als die Mädchen ſangen
und die Sommerfäden zogen, ſo darfſt Du mich
nicht beim Worte nehmen. Es war ein Un⸗
recht.“
Sie warf den Kopf, aber ſagte nichts, und
nahm ſeinen Arm. Und ſo ſchritten ſie wieder
auf die Fähre zu. Die Sterne waren bald
herauf und ſpiegelten ſich in dem ſtillen Strom,
während Mückenſchwärme wie Rauchſäulen über
ihnen ſtanden. Oben auf der Burg ſchimmerten
noch die Lichter, ſonſt aber war alles ſtill, und
nur aus weiter Ferne her hörte man noch ein Sin—
gen, das mehr und mehr verklang. Es waren
die kleinen Leute, die, ſammt ihrem Geſinde,
vom Außenhofe her wieder in die Stadt zogen.
Und dazu klatſchten eintönig die Ruderſchläge des
Fährboots, und nun lief es auf, und Valtin und
Grete ſprangen ans Ufer.
Die Stadt gedachten ſie ſoweit wie möglich
zu meiden und nahmen ihren Weg an den Tan⸗
gerwieſen hin, über die jetzt, mit ihnen zugleich,
Grete Minde. 85
feuchte, weiße Nebel zogen. Die hohen Nacht-
kerzen ragten mit ihren Spitzen über die Nebel—
ſtreifen fort und miſchten ihren Duft mit dem
Dufte des Heues, das friſchgemäht zu beiden
Seiten des Weges lag. Sie ſprachen nicht, und
Valtin ſuchte nur den Fledermäuſen zu wehren,
die, von dem alten Kirchengemäuer her, neben
und über ihnen flatterten. So kamen ſie bis an
das Waſſerthor und bogen in denſelben Zirkel—
gang ein, auf dem ſie gekommen waren, immer
zwiſchen den Gärten und der Stadtmauer hin.
Und nun hielten ſie vor der Mindeſchen Garten—
pforte.
„Gute Nacht, Valtin,“ ſagte Grete ruhig
und beinah gleichgültig. Als dieſer aber ging
ohne ſich umzuſehen, rief ſie noch einmal ſeinen
Namen. Und er wandte ſich wieder und
lief auf ſie zu. Und ſie umarmten ſich und
küßten ſich.
„Vergiß, Valtin, was ich geſagt hab'. Ich
weiß, daß Du Dich nicht fürchteſt. Denn Du
liebſt mich. Und die ſich lieben, die fürchten ſich
nicht. Und nun noch Eines. Komm in einer
halben Stund' in den Garten, in Euren, und
wart' auf mich. Mir iſt ſo wunderlich, und ich
muß Dich noch ſehen. Denn ſieh, ich weiß es,
86 Grete Minde.
es geſchieht etwas; ich fühl' es ganz deutlich
hier.“ Und dabei legte ſie die Hand auf's Herz
und zitterte.
Und er verſprach es, und ſie trennten ſich.
1
Flucht.
Die Pforte war nur angelehnt, und ſchon
vom Garten aus ließ ſich's erkennen, daß Trud
inzwiſchen ins Haus zurückgekehrt ſein müſſe.
Die Fenſter⸗Vorhänge hingen noch herab und
das raſch wechſelnde Schattenſpiel zeigte deutlich,
daß ein Licht dahinter hin und her getragen
wurde. Grete ſtieg nun die Stufen hinauf, die
von dem Garten in den Hof führten, drückte das
Gitter ins Schloß und fühlte ſich, über Flur
und Treppe hin, bis an das Hinterzimmer des
oberen Stocks. Die Thüre ſtand noch offen,
wohl der Schwüle halber, und Grete ſah hinein.
Was ſie ſah, war nur das Erwartete. Die
Wiegendecke lag zurückgeſchlagen, und Trud, in
allem Putz und Staat, den ſie bei der Feſtlich—
keit getragen, mühte ſich in gebückter Stellung
um das Kind, das ſtill dalag, und nur dann
und wann in Krämpfen zuſammenzuckte. Ihre
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Grete Minde. 87
hohe Krauſe war zerdrückt, ihr Haar halb herab—
gefallen; ihren ſilbernen Hakengürtel aber, der
ihr beim Aufnehmen und Niederlegen des Kindes
hinderlich geweſen ſein mochte, hatte ſie von ſich
gethan und über das Fußbrettchen der Wiege
gehängt. Und jetzt richtete ſie ſich auf und ſah
Greten vor ſich ſtehen.
„Ei, Grete. Schon da!“ ſagte ſie bitter,
aber erſichtlich noch mit ihrer inneren Erregung
kümpfend. „Wo warſt Du?“
„Fort.“
„Fort? Und ich hatt' es Dir doch verboten.“
„Verboten?“
„Ja! Und nun ſieh das Kind. Ein Wunder
Gottes, wenn es uns am Leben bleibt. Und
wenn es ſtirbt, ſo biſt Du Schuld.“
„Das darfſt Du nicht ſagen, Trud,“ ant-
wortete Grete ruhig, während es um ihren
Mund zuckte. „Schilt mich. Schilt mich, daß
ich ging, das darfſt Du, das magſt Du thun.
Aber Du darfſt mich nicht ſchelten um des Kin—
des willen. An dem Kind iſt nichts verſäumt. ©
Ich ließ es bei Reginen, und Regine, was ſag'
ich, iſt dreißig Jahr im Haus. Und war Kinder:
muhme bei Gerdt, und dann war ſie's bei mir
und hat mich groß gezogen.“
88 Grete Minde.
„Ja, das hat ſie. Aber wozu? Du weißt
es und ich weiß es auch. Und die Stadt wird
es bald genug erfahren... Armes Ding Du!
Aber 's iſt Erbſchaft.“
„Sage nicht das, Trud. Nichts von ihr.
Ich will davon nicht hören.“
„Aber Du ſollſt es. Undankbare Kreatur!“
Grete lachte.
„Lache nur, Bettelkind! Denn das biſt Du.
Nichts weiter. Eine fahrende Frau war ſie,
und Keiner weiß, woher ſie kam. Aber jetzt
kennen wir ſie, denn wir kennen Dich. Eine
fremde Brut ſeid Ihr, und der Teufel ſieht Euch
aus Euren ſchwarzen Augen.“
„Das lügſt Du.“
Trud aber, ihrer Sinne nicht mehr mächtig,
erhob ihre Hand und ſchlug nach ihr.
Grete war einen Schritt zurückgetreten, und
es flimmerte ihr vor den Augen. Dann, ohne
zu wiſſen was ſie that, griff ſie nach dem über
der Wiege hängenden Gürtel und ſchleuderte ihn
der verhaßten Schwieger in's Geſicht. Dieſe,
vor Schmerz aufſchreiend, wankte und hielt ſich
mühſam an einem hinter ihr ſtehenden Tiſchchen,
und Grete ſah nun, daß die ſcharfen Ecken des
langen ſilbernen Gehänges Trud's Stirn oder
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7
14
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Drete Minde. 89
Schläfe ſchwer verletzt haben mußten, denn ein
Blutſtreifen rann über ihre linke Wange. Aber
ſie ſchrak vor dieſem Anblick nicht zurück und
hatte nichts als das doppelt ſelige Gefühl ihres
befriedigten Haſſes und ihrer errungenen Frei⸗
heit. Ja Freiheit! Sie war dieſes Haus nun
los. Denn das ſtand feſt in ihrer Seele, daß
ſie nicht länger bleiben könne. Fort. Gleich.
Und ſie flog die Treppe hinab und über Flur
und Hof in den Garten.
Da wuchſen wieder die Himbeerbüſche wie
damals, wo ſie hier mit Valtin zwiſchen dem
hohen Gezweig geſtanden und über den Hänfling
und ſein Neſt geplaudert hatte; aber ihre ver-
wilderte Seele dachte jener Stunden ſtillen Glückes
nicht mehr. Sie kletterte nur raſch hinauf und
horchte geſpannt, ob Valtin ſchon da ſei. Er
war es noch nicht. Und ſo ſprang ſie vom Zaun
in den Zernitz'ſchen Garten hinunter und ver—
ſteckte ſich in der Laube.
Denn daß er kommen würde, das wußte ſie.
Eine Viertelſtunde war vergangen, als Grete
Schritte vom Hofe her hörte. Er war es und
fie lief ihm entgegen. „Valtin, mein einziger
Valtin. Ach, daß Du nun da biſt! Es tft ge⸗
kommen, wie's kommen mußte.“ Und nun er⸗
90 Grete Minde.
zählte ſie was geſchehen. „Ich wußt' es. Alles,
alles. Und ich muß nun fort. Dieſe Nacht
noch. Willſt Du, Valtin?“
Sie waren, während Grete dieſe Worte
ſprach, vorſichtshalber, um nicht geſehen zu wer—
den, von dem Mittelſteige her auf die Schatten-
ſeite des Gartens getreten, und Valtin ſagte
nur: „Ja, Gret', ich will. Was es wird, ich
weiß es nicht. Aber ich ſehe nun, Du mußt
fort. Und das hab' ich mir geſchworen, ſo ich's
nur einſeh', daß Du fort mußt, ſo will ich's auch,
und will mit Dir. Und dann ſieh, ich bin ja
doch eigentlich Schuld. Denn Du wollteſt nicht
weg von dem Kind, und ich hab' Dich überredet
und Dich trotzig gemacht und Dich gefragt, wer
Dir's denn verbieten wolle?“
„Sage nicht nein,“ fuhr er fort, als er ſah,
daß ſie den Kopf ſchüttelte. „Es iſt ſo. Und
am Ende, was thut's? Du oder ich, es iſt all
eins, wer die Schuld hat. Es mußte zuletzt doch
ſo kommen, für Dich und für mich. Auch für
mich. Glaub’ es nur. Emrentz iſt nicht wie
Trud, und wir leben jetzt eigentlich gut mitein—
ander. Aber auf wie lang? Es iſt ein halber
Frieden, und der Krieg ſteht immer vor der
Thür. Eine Stief iſt eine Stief, dabei bleibt's.
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Grete Minde. 91
Und ſoviel ſie lacht, ſie hat doch kein Herz für
mich, und wo das Herz fehlt, da fehlt das
Beſte.“
„So willſt Du?“
„Ja, Grete.“
„So laß uns gehen. In einer Stunde
ſchon. Um elf wart’ ich draußen .. . Und nun
eile Dich; denn mir brennt der Boden unter den
Füßen.“
Und damit trennten ſie ſich.
* =
*
Als Grete gleich darauf wieder drüben in
ihrem eigenen Garten war, huſchte ſie den Zaun
entlang und an dem Weinſpalier vorbei bis auf
den Hof. Hier aber befiel es ſie plötzlich, daß
ſie, beim Eintreten in das Haus, vielleicht ihrem
Bruder Gerdt begegnen könne, der, wenn ge—
reizt, nach Art ſchwacher und abgeſpannter Natu—
ren, alle Müdigkeit abthun und in Wuthaus-
brüche gerathen konnte. Wenn er ihr jetzt in
den Weg trat? wenn er ſie mißhandelte? Sie
zitterte bei dem Gedanken, und ſchlich jo geräuſch—
los wie möglich die Treppe hinauf. Als ſie bei
der nur angelehnten Thüre des Hinterzimmers
vorüberkam, hörte ſie, daß Trud und Gerdt
miteinander ſprachen. „Sie muß aus dem Haus,“
92 Grete Minde.
ſagte Trud, „ich mag die Hexe nicht länger um
mich haben.“ „„Aber wohin mit ihr?““ fragte
Gerdt. „Das findet ſich; wo ein Will' iſt, iſt
auch ein Weg, — ſagt das Sprüchwort. Ich
hab' an die Nonnen von Arendſee gedacht, das
iſt nicht zu nah und nicht zu weit. Und da ge—
hört ſie hin. Denn ſie hat ein katholiſch Herz,
trotz Gigas, und immer wenn ſie mit mir ſpricht,
ſo ſucht ſie nach dem Kapſelchen mit dem Split⸗
ter, und hält es mit ihren beiden Händen feſt.
Und ſchweigt ſie dann, fo bewegen ſich ihre Lip
pen, und ich wollte ſchwören, daß ſie zur
heiligen Jungfrau betet.“ Mehr konnte ſie nicht
erlauſchen, denn das Kind, das bis dahin ruhig
gelegen, begann wieder zu greinen, und Grete
benutzte den Moment, und fühlte ſich vorſichtig
weiter bis an das zweite Treppengeländer und
in ihre Giebelſtube hinauf.
Der Mond ſchien auf die Dächer gegenüber,
und ſein zurückfallender Schein gab gerade Licht
genug, um alles deutlich erkennen zu laſſen.
Die Thür zu der Kammer nebenan ſtand offen,
und Regine ſaß eingeſchlafen am Fußende des
Bettes. „'s iſt gut jo,” ſagte Grete und öffnete
Schrank und Truhe, nahm heraus, was ihr gut
dünkte, band ein ſchwarzes Seidentuch um ihren
Grete Minde. 5 93
Kopf, und verbarg unter ihrem Mieder ein klei⸗
nes Perlenhalsband, das ihr, an ihrem Ein-
ſegnungstage, vom alten Jacob Minde geſchenkt
worden war. Anderes hatte ſie nicht. Und nun
war ſie fertig, und hielt ihr Bündel in Händen.
Aber ſie konnte noch nicht fort. Nicht ſo. Und
an der Schwelle der Kammerthür kniete ſie nie⸗
der und rief Gott um ſeinen Beiſtand an, auch
um ſeine Verzeihung, wenn es ein Unrecht ſei, was
ſie vorhabe. Und heiße Thränen begleiteten ihr
Gebet. Dann erhob ſie ſich, und küßte Reginen,
die ſchlaftrunken auffuhr und den Namen ihres
Lieblings nannte; aber ehe ſie den Schlaf völlig
abſchütteln und ſich wieder zurecht finden konnte,
war Grete fort und glitt, mit ihrer Rechten ſich
aufſtützend, die ſteilen Stufen der Oberſtiege
hinunter. Und nun horchte ſie wieder. Das
Kind wimmerte noch leis und die Wiege ging in
heftiger Schaukelbewegung, während Trud, über
das Kind gebeugt, raſch und ungeduldig ihre
Wiegenlieder ſummte; Gerdt ſchwieg. Vielleicht,
daß er ſchon ſchlief.
Und im nächſten Augenblicke war ſie treppab,
über Hof und Garten, und hielt draußen an der
Pforte.
Valtin wartete ſchon. Er hatte ſich zu dem
94 Grete Minde.
Joppenrock, den er gewöhnlich trug, auch noch
in eine dicke Friesjacke gekleidet, und in dem
wuchernden Graſe vor ihm lag eine ſchmale,
hohe Leiter, wie man ſie um die Kirſchenzeit von
außen her an die Bäume zu legen pflegt. Grete
trat auf ihn zu und gab ihm die Hand. Der
breite Schatten, der auf das Gras fiel, hinderte
ſie die Leiter zu ſehen, deſto deutlicher aber ſah
ſie ſeine winterliche Einkleidung. Und ſie lachte.
Denn der Sinn für das Komiſche war ihr ge—
blieben. Und Valtin lachte gutmüthig mit, und
ſagte: „'s iſt für Dich, Grete, wenn Du frierſt.
Die Nacht iſt kalt, auch eine Sommernacht.“
Und derweilen ſchlug es elf und die Glocken—
ſchläge mahnten ſie wieder an das was ſie vor
hatten. Valtin legte die Leiter an die Mauer
und Grete ſtieg hinauf. Und im nächſten Augen—
blicke war er ſelber oben und zog die Leiter
nach und ſtellte ſie nach außen. Und nun waren
ſie frei. Sie ſahen ſich an und athmeten auf,
und der Zauber des um ſie her liegenden Bildes
ließ ſie minutenlang ihres Leids und ihrer Ge—
fahr Vergeſſen. Die Nebel waren fortgezogen,
ſilbergrüne Wieſen dehnten ſich hüben und drü—
ben, und dazwiſchen flimmerte der Strom, über
den der Mond eben ſeine Lichtbrücke baute.
Grete Minde. 95
Nichts hörbar, als das Gemurmel des Waſſers
und die Glocken, die von einigen Stadtkirchen
her verſpätet nachſchlugen.
Beide hatten ſich angefaßt und eilten raſchen
Schrittes auf den Fluß zu.
„Willſt Du hinüber?“ fragte Grete.
„Nein, ich will nur einen Kahn los machen.
Sie glauben dann, wir ſeien drüben.“
Und als ſie bald danach den losgebundenen
Kahn inmitten des Stromes treiben ſahen, hiel—
ten ſie ſich wieder ſeitwärts, über die thau—
glitzernden Tangerwieſen hin, bogen in weitem
Zirkel um den Burghügel herum, und mündeten
endlich auf einen Feldweg ein, der, hart neben
der großen Straße hin, BR den Lorenz: Wald
zuführte.
Als fie ſeinen Rand beinah erreicht hatten,
ſagte Grete: „Ich fürchte mich.“
„Vor dem Wald?“
„Nein. Vor Dir.“
Valtin lachte. „Ja, das iſt nun zu ſpät,
Grete. Du mußt es nun nehmen, wie's fällt.
Und wenn ich Dir Deinen kleinen Finger ab—
ſchneide, oder Dich todt drücke vor Haß oder
Liebe, Du mußt es nun leiden.“
Er wollt' ihr zärtlich das Haar ſtreicheln,
96 Grete Minde.
ſo weit es aus dem ſchwarzen Kopftuche hervor
ſah, aber ſie machte ſich los von ihm und ſagte:
„Laß. Ich weiß nicht was es iſt, aber ſo lange
wir in dem Wald' ſind, Valtin, darfſt Du mich
nicht zärtlich anſehen und mich nicht küſſen.
Unter den Sternen hier, da ſieht uns Gott,
aber in dem Walde drin iſt alles Nacht und
Finſterniß. Und die Finſterniß iſt das Böſe.
Ich weiß es wohl, daß es kindiſch iſt, denn wir
gehören ja nun zuſammen in Leben und in
Sterben, aber ich fühl' es ſo, wie ich Dir's
ſag', und Du mußt mir zu Willen fein. Ver⸗
ſprich es.“
„Ich verſprech' es. Alles was Du willſt.“
„Und hältſt es auch?“
„Und halt' es auch.“
Und nun nahm ſie wieder ſeine Hand, und
ſie ſchlugen den Weg ein, der ſie bis an die große
Waldwieſe führte. Hier war es taghell faſt,
und ſie zeigten einander die Stelle, wo der
Maibaum damals geſtanden, und wo ſie ſelber,
am Schattenrande der Lichtung hin, auf den
umgeſtülpten Körben geſeſſen und dem Tauben—
ſchießen und dem Tanz um die Linde her zuge—
ſehen hatten. Und dann gingen ſie weiter wald—
einwärts, immer einen breiten Fußpfad haltend,
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Grete Minde. 97
der ſich nur mitunter im Geſtrüpp zu verlieren
ſchien.
Sie ſprachen wenig. Endlich ſagte Grete:
„Wohin gehen wir?“
„Ins Lüneburg'ſche, denk' ich. Und dann
weiter auf Lübeck zu. Da hab' ich Anhang.“
„Und weißt Du den Weg?“
„Nein, Grete, den Weg nicht, aber die
Richtung. Immer ſtromabwärts. Es kann nicht
weiter ſein als fünf Stunden; dann haben wir
die Grenze, die bei Neumühlen läuft. Und die
Tangermünd'ſchen Stadtreiter, auch wenn ſie
hinter uns her ſind, haben das Nachſehen.“
„Glaubſt Du, daß ſie ſich eilen werden,
uns wieder zurückzuholen?“
„Vielleicht.“
„Ja. Aber auch nichts weiter. Sie wer—
den uns ziehen laſſen und froh ſein, daß wir
fort ſind. Und wenn Dein Vater es anders
will, ſo wird's ihm Emrentz ausreden. Und
wenn nicht Emrentz, ſo doch Trud.“ Und nun
erzählte ſie das Geſpräch zwiſchen Trud und
Gerdt, das ſie von der nur angelehnten Thüre
des Hinterzimmers aus belauſcht hatte.
So mochten ſie zwei Stunden gegangen
ſein, und der Mond war eben unter, als Grete
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 109
98 Grete Minde.
leiſe vor ſich hin ſagte: „Laß uns niederſitzen,
Valtin. Meine Füße tragen mich nicht mehr.“
Und es war alles wie damals, wo ſie ſich als
Kinder im Walde verirrt hatten. Er aber bat
ſie, brav auszuhalten, bis ſie wieder an eine
hellere Stelle kämen. Und ſiehe, jetzt war es
wirklich, als ob ſich der Wald zu lichten begänne, die
Stämme ſtanden in größeren Zwiſchenräumen,
und Valtin ſagte: „Hier Grete, hier wollen wir
ruh'n.“ Und todtmüde, wie ſie war, warf ſie
ſich nieder, und ſtreckte ſich in's Moos. Und
ſchon im nächſten Augenblicke ſchloſſen ſich ihre
Wimpern. Er ſchob ihr ihr Reiſebündel als
Kiſſen unter und deckte ſie leiſe mit ſeiner Win—
terjacke zu, von der er ſich ſelber nur ein
Zipfelchen gönnte.
Und dann ſchlief er an ihrer Seite ein.
14.
Auf dem Floß.
Als ſie wieder erwachten, lag Alles um ſie her
in hellem Sonnenſchein. Sie hatten dicht am
Rande des großen Lorenz-Waldes geſchlafen, der
hier mit einer vorſpringenden Ecke bis hart an den
Strom trat, und der rothe Fingerhut ſtand in
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Grete Klinde, 99
hohen Stauden um ſie her. Ein paar feiner
Blüthen hatte der Morgenwind auf Greten
herabgeſchüttelt, und dieſe nahm eine derſelben und
ſagte: „Was bedeutet es mir? Es iſt eine
Märchenblume.“
„Ja; das iſt es. Und es bedeutet Dir, daß
Du eine verwunſchene Prinzeſſin oder eine Hexe
biſt.“
„Das darfſt Du nicht ſagen.“
„Und warum nicht?“
„Weil es Trud inmer geſagt hat... Aber
weißt Du, Valtin, daß ich Hunger habe?“
Und damit erhoben ſie ſich von ihrer Lager—
ſtatt, und gingen plaudernd immer am Waſſer
hin, bis fie weiter flußabwärts, wo der Wald-
vorſprung wieder einbog, an ein Fähr- oder
Forſthaus kamen. Oder vielleicht auch war
es beides. Anfangs wollten ſie gemeinſchaftlich
eintreten, aber Valtin beſann ſich eines andern
und ſagte: „Nein, bleib; es iſt beſſer, ich geh'
allein.“ Und eine kleine Weile, ſo kam er mit
Brot und Milch zurück und hielt, als er Gretens
anſichtig wurde, die Hände ſchon von Weitem in
die Höh', um zu zeigen, was er bringe, und ſie
ſetzten ſich in's hohe Gras, den Fluß zu Füßen
und den Morgenhimmel über ſich. „Wenn es
109 *
100 Grete Minde.
uns immer jo ſchmeckt ...“ ſagte Valtin. Und
Grete ſah ihn freundlich an und nickte.
Als ſie ſo ſaßen und mehr träumten als
ſprachen, bemerkten ſie, daß mitten auf dem
Strom ein großes Floß geſchwommen kam, lange
zuſammengebolzte Stämme, auf denen ſich vier
Perſonen deutlich erkennen ließen: drei Männer
und eine Frau. Zwei von den Männern ſtan⸗
den vorn an der Spitze des Floſſes, während
der Dritte, der ſeinen raſchen und kräftigen Be—
wegungen nach der Jüngſte zu ſein ſchien, das
ungefüge Steuer führte. „Was meinſt Du,“
ſagte Valtin, „wenn wir mitführen? Du biſt
müde vom Gehen. Und mitten auf dem Strom,
da ſucht uns Niemand.“
Grete ſchien zu ſchwanken; Valtin aber ſetzte
hinzu: „Laß es uns verſuchen, ich ruf' hinüber,
und halten ſie ſtill und machen ein Boot los,
nun ſo nehmen wir's als ein Zeichen, daß es
ſein ſoll.“ Und er ſprang auf und rief: „Hoiho,“
ein Mal über das andere.
Die Flößer verriethen anfänglich wenig
Luſt, auf dieſe Zurufe zu achten, als Valtin
aber nicht abließ, machte der am Steuer
Stehende den Kahn los, der hinter dem
Floſſe herſchwamm, und war im nächſten
r e nn m ul naie
Grete Minde. 101
Augenblicke mit ein paar Ruderſchlägen am
dieſſeitigen Ufer.
„Hoiho! Was Hoiho?“
Valtin hörte nun wohl, daß es Wenden
‚oder Böhmen waren, die bis Hamburg wollten,
und trug ſein Anliegen vor, ſo gut es ging.
Der Böhmake verſtand endlich und bedung ſich
einen Lohn aus, der ſo gering war, daß ihn
Valtin gleich als Angeld zahlte.
Und nun fuhren ſie nach dem Floß hinüber.
Als ſie neben demſelben anlegten, fanden
ſich auch die beiden andern Männer ein, zu
denen nun der Jüngere ſprach und ihnen das
Geldſtück überreichte. Sie ſchienen's zufrieden,
und der Aelteſte, ſchon ein Mann über Fünfzig,
und allem Anſcheine nach der Führer, lüpfte
ſeine viereckige, mit Pelz beſetzte Mütze, und bot
Greten und gleich darauf auch Valtin eine
Hand, um ihnen beim Hinaufſteigen auf das
Floß behülflich zu ſein. Es war ziemlich an der
Hinterſeite, nicht weit von dem großen Dreh—
balken, der als Steuer diente, und unſere beiden
Flüchtlinge nahmen in Nähe deſſelben Platz.
Alles gefiel ihnen, und Grete freute ſich, daß
Valtin den Muth gehabt und die Flößer an—
gerufen hatte; am beſten aber gefiel ihnen der
102 Grete Minde.
Mann am Steuer, der lebhaft und luſtig war
und ſich befliſſen zeigte, ſie zu zerſtreuen und
ihnen den Aufenthalt angenehm zu machen. Er
plauderte mit ihnen, ſo gut es ein paar Wörter
zuließen, und war erfinderiſch in immer neuen
Aufmerkſamkeiten.
Als die Sonne ſchon ziemlich hoch ſtand,
ſah er, daß die vom Waſſer zurückgeworfenen
Strahlen die jungen Leute blendeten und kaum
daß er es wahrgenommen, als er auch ſchon das
Steuer in Valtins Hand legte und ſich daran
machte, mit Benutzung umherliegender Bretter,
aus einem großen Stück Segelleinwand ein
Zelt für ſeine Schutzbefohlenen aufzurichten.
Sie ſetzten ſich unter das Dach und genoſſen nun
erſt der eigenthümlichen Schönheit ihrer Fahrt.
Am Ufer hin ſtand das hohe Schilf, und wenn
dann das Floß den grünen Schilfgürtel ſtreifte,
flogen die Waſſervögel in ganzen Völkern auf
und fielen plätſchernd und ſchreiend an weiter
flußabwärts gelegenen Stellen wieder ein. Der
Himmel wölbte ſich immer blauer, und ein Mit-
tagswind, der ſich aufgemacht hatte, ſtrich friſch
an ihnen vorüber und kühlte die Tageshitze.
Vorne, durch die ganze Länge des Floſſes von
ihnen getrennt, ſtanden nach wie vor die beiden
Grete Minde. 103
älteren Männer und angelten, ihre Haltung aber
zeigte nur zu deutlich, daß ſie mit dem Ertrag
ihres Fanges wenig zufrieden waren. Waren
es doch immer nur kleine Fiſche, die, ſo oft ſie
die Schnur zogen, in der Sonne hell aufblitzten.
Jetzt aber gab es einen Freudenſchrei, und ein
Breitfiſch ſo groß und ſchwer, daß die Schnur
am Reißen war, flog mit einem Ruck an Bord.
Das war es, worauf ſie gewartet hatten, und
ſie ſchütteten nun die neben ihnen ſtehende Kufe
mit ſammt ihrem Inhalt wieder aus, füllten ſie
friſch mit Waſſer und trugen ihren großen Fang
wie im Triumph auf die Mitte des Floſſes, wo
ſchon ſeit einiger Zeit ein hell aufwirbelnder
Küchenrauch die Vorbereitungen zu einer Mahl:
zeit anzudeuten ſchien. Und in der That han-
tirte hier emſig und lärmend ein junges Frau—
zimmer umher, daß mit ſeinen ſtechenden kohl—
ſchwarzen Augen wohl dann und wann zu den
neuen Ankömmlingen flüchtig herüber geſehen,
im Uebrigen aber durch ſeine ganze Haltung
weder Freude noch Theilnahme bezeigt hatte.
Und immer weiter ging die Fahrt, und
immer ſtiller wurde der Tag. Auch der Mann
am Steuer ſchwieg jetzt, und Valtin und Grete
hörten nichts mehr als das Gurgeln des Waſſers
104 Grete Minde.
und das Gezirp im Rohr und dazwiſchen den
Küchenlärm, in dem ſich das junge Frauenzimmer,
je näher die Mahlzeit rückte, deſto mehr zu gefallen
ſchien. Und jetzt nahm ſie einen blanken Teller,
hielt ihn hoch, und ſchlug mit einem Quirl an
die Außenſeite. Das war das Zeichen, und alle
verfämmelten ſich um die Feuerſtelle her. Nur
Valtin und Grete waren zurückgeblieben; aber
der Alte kam alsbald auf ſie zu, und nach kurzer
Anſprache, von der ſie nichts verſtehen konnten,
nahm er Greten an der Hand, und führte
ſie, während er die gangbarſten und trockenſten
Stellen ausſuchte, bis auf die Mitte des Floſſes.
Und jetzt erſt erkannten unſre Flüchtlinge,
wie ſonderbar, aber auch wie zweckentſprechend,
die hier befindliche Kochgelegenheit aufgebaut
und eingerichtet war. Das ganze Floß, auf
mehr als zehn Schritt im Quadrat, war wie
mit einem dicken Raſen überdeckt, auf dem ſich
wiederum, ebenfalls aus Raſenſtücken aufgeſchich—
tet, ein wohl drei Fuß hoher und unverhältniß-
mäßig breiter und geräumiger Herd erhob. In
dieſen waren Löcher eingeſchnitten, und in den
Löchern ſtanden Töpfe, um die mehrere kleine
Feuer luſtig flackerten. Und nun ſetzten ſich die
Männer in Front des Herdes, ſo daß ſie den
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Grete Minde. 105
Fluß hinunterſehen konnten, und nahmen ihr
Mahl ein, das zunächſt aus einer Brühe mit
Huhn und Hirſe, dann aber aus dem Breitfiſch,
dem letzten Ertrag ihres Fanges beſtand. Alle
ließen ſich's ſchmecken; und als Valtin, gegen den
Schluß des Mahles hin, ſich über ihr Wohlleben
verwunderte, lachte der Alte und beſchrieb einen
Kreis mit ſeiner Rechten, als ob er andeuten
wolle, daß ihm Ufer und Landſchaft, mit allem
was darauf fleucht und kreucht, tributpflichtig
ſeien.
Und nun war das Mahl beendet, und
Valtin und Grete, nachdem ſie gedankt, erhoben
ſich und ſuchten wieder ihr Zelt in Nähe des
Steuers auf.
Sie mußten, an Neumühlen vorüber, ſchon
meilenweit gefahren ſein und hätten ſich zu Jeg⸗
lichem um ſie her beglückwünſchen können, wenn
nicht das junge Frauenzimmer mit den blanken
Flechten und den ſchwarzen Stechaugen geweſen
wäre. Valtin hatte nichts bemerkt, aber der
ſchärfer ſehenden Grete war es nicht entgangen,
daß ſie ſeit Mittag kein Auge von ihnen ließ
und erſichtlich etwas gegen ſie vorhatte. Ob aus
Eiferſucht oder Habſucht, ließ ſich nicht erkennen,
aber etwas Gutes konnt' es nicht ſein, und als
106 Grete Minde.
der Tag ſich neigte, rückte Grete näher, und
theilte Valtin ihre Beſorgniſſe mit. Dieſer
ſchüttelte den Kopf und wollte davon nichts
wiſſen, und ſiehe da, auch Grete vergaß es wieder,
als ſich, gleich nach Sonnenuntergang, ein neues
Leben auf dem Floſſe zu regen begann. Der
Alte nahm eine Fiedel, und die Frauensperſon,
die ſich mittlerweile geputzt und eine rothe Schürze
angelegt hatte, führte mit dem jungen Burſchen
einen böhmiſchen Tanz auf. Danach ſetzten ſie
ſich an den Herd und ſangen Lieder, die der
Alte mit ein paar Strichen auf der Fiedel be—
gleitete.
Und nun kam die Dämmerung und die
Sterne begannen matt zu flimmern. Das Floß
ſelbſt hatte ſich hart an's Ufer gelegt, das hier,
anfänglich flach, dreißig Schritte weiter land—
einwärts eine hohe, ſteile Wandung zeigte. Es
war noch hell genug, um die rothgelben Töne
des fetten Lehmbodens erkennen zu können.
Alles ſchwieg, und nur Grete, der ihr Verdacht
wiedergekommen war, ſagte leiſe: „Valtin, ich
habe doch Recht. Ich fürchte mich.“
„Glaubſt Du wirklich, daß es böſe Leute
ſind?“
„Nicht eigentlich böſe Leute, aber ſie werden
Grete Minde. 107
der Verſuchung nicht wiederſtehen können. Du
haſt ihnen Geld gezeigt, und die Frau hat geſehen,
daß ich Schmuck trage. Sie werden uns berauben
wollen. Und ſetzeſt Du Dich zur Wehr, ſo iſt
es unſer letzter Tag.“
Valtin überlegte hin und her, und ſagte
dann: „Ich fürcht', es iſt wie Du ſagſt. Und
ſo müſſen wir wieder fliehen. Ach, immer fliehen!
Auch noch auf der Flucht eine Flucht.“ Und er
ſeufzte leiſe.
Grete hörte die Klage wohl heraus, aber
ſie hörte zugleich auch, daß es kein Vorwurf war,
und ſo nahm ſie ſeine Hand und ſah ihn bittend
an. Kannte ſie doch ihre Macht über ihn. Und
dieſe Macht blieb ihr auch diesmal treu, und
alles war wieder gut. |
Es traf ſich glücklich, daß das Floß mit eben
dem Hinter⸗Eck, auf dem ihr Zelt ſtand, auf
den Uferſand gefahren war. Sie theilten ſich's
mit und kamen überein, auf das Segeltuch, das
ſie den Tag über zu Häupten gehabt hatten,
eine Silbermünze zu legen, und ſobald alles
ſchliefe, mit einem einzigen Satz an's Ufer zu
ſpringen. Wären ſie dann erſt die ſteile Lehm⸗
wand hinauf, jo würde fie niemand mehr ver-
folgen. Und wenn es geſchäh', ſo wär' es ohne
108 Grete Minde.
Noth und Gefahr, denn Schiffsleute hätten einen
ſchweren Gang und wären langſam zu Fuß.
Und während ſie ſo ſprachen, war der Mond
aufgegangen. Das erſchreckte fie vorübergehend.
Aber es ſtanden auch Wolken am Himmel, und
ſo warteten ſie, daß dieſe heraufziehen und den
Mond überdecken möchten.
Und nun war es geſchehen. „Jetzt,“ ſagte
Valtin, und den Beiſtand des Himmels anrufend,
ſprangen ſie vom Floß an's Ufer. Das ſeichte
Waſſer, das hier um ein paar Binſen herſtand,
klatſchte hoch auf; aber ſie hatten deſſen nicht
Acht, und im nächſten Augenblicke die ſteile Lehm⸗
wand erkletternd, ſchritten ſie raſch über das
Feld hin und in die Nacht hinein.
Niemand folgte.
10.
Drei Jahre ſpüter.
Drei Jahre waren ſeitdem vergangen, und
wieder färbte der Herbſt die Blätter roth; all:
überall in der Altmark, und nicht zum wenigſten
in dem Städchen Arendſee, deſſen endlos lange
Straße, zugleich ſeine einzige, nach links hin
aus Häuſern und Gärten, nach rechts hin aus
Grete Minde. | 109
Kloftergebäuden und zwiſchenliegenden Hecken—
zäunen beſtand. Hinter einem dieſer Heckenzäune,
der abwechſelnd von Dorn und Liguſter gebildet
wurde, ließ ſich ein auf Säulen ruhender Kreuz⸗
gang erkennen, in deſſen quadratiſcher Mitte der
Kloſterkirchhof lag, wild und verwahrloſt, aber
in ſeiner Verwahrloſung nur um ſo ſchöner.
Einige hochaufgemauerte Grabſteine ſchimmerten
aus allerlei Herbſtesblumen und dichtem Graſe
hervor, die meiſten aber verſteckten ſich im Schat⸗
ten alter Birnbäume, deren ungeſtützte Zweige
mit ihrer Laſt bis tief zu Boden hingen. Vorüber⸗
ziehende Fremde würden ſich des Bildes gefreut
haben, das eben jetzt, bei niedergehender Sonne,
von abſonderer Schönheit war; ein paar Arend⸗
ſee'ſche Bürger aber, Handwerker und Ackersleute
zugleich, die mit ihrem Geſpann vom Felde
hereinkamen, achteten des wohlbekannten Anblicks
nicht und hielten erſt, als ſie ſchon dreißig Schritt
über den Heckenzaun hinaus waren und an der
andern Seite der Straße dreier hochbepackter
Wagen anſichtig wurden, die hier, vor einer
alten Ausſpannung mit tiefer Einfahrt, den ohnehin
ſchmalen Weg beinah verſperrten.
„Süh, Kerſten, doa ſinn fe all. Awers hüt
wahrd et nix mihr.“
110 Grete Minde.
„Nei, hüt nich. Un weet'ſt all, Hanne, ſe
ſpeelen joa nicht blot mihr mit Zocken un Puppen.
Se kümmen joa nu ſülwer rut.“
„Joa,; jo hebb it book hürt. Richt'ge
Minſchen. . . Jott, wat man nich allens erlewen
deiht!“
Und damit gingen ſie vorüber, weiter in die
Stadt hinein.
Und es war ſo, wie die beiden Ackerbürger
geſagt hatten. Puppenſpieler, die, wie's dazumalen
aufkam, ihre Puppen zeitweilig im Kaſten ließen
und an Stelle derſelben in eigener Perſon auf—
traten, waren an eben jenem Nachmittag in das
Städtchen gekommen und hatten ſich's in der
Ausſpannung, vor der ihre Wagen hielten, be—
quem gemacht. Da ſaßen ſie jetzt zu vier um
den Tiſch der großen Schenkſtube herum, ihrem
Aufputz und ihrer Redeweiſe nach, oberdeutſches
Volk, und verthaten das Geld, das ihnen der
Salzwedel'ſche Michaelismarkt eingebracht hatte.
Denn von daher kamen ſie. Zwei derſelben alte
Bekannte von uns. Der Schwarzhaarige, mit
einer Narbe quer über der Stirn, war derſelbe,
den wir an jenem hellen Juli-Vormittag, an
dem unſere Geſchichte begann, an der Emreng
Fenſter vorüber ſeinen Umritt hatten machen
Grete Minde. 111
ſehen, und der neben ihm, ja, das mußte, wenn
nicht alles täuſchte, der Hagre, Schlackerbeinige
mit dem weißen Hemd und der hohen Filzmütze
ſein, der bei Tage die Pauke gerührt und am
Abend, in ſeinem hölzernen Abbild wenigſtens,
den Bolizei-Schergen des „jüngſten Gerichtes“
gemacht hatte. Ja, ſie waren es wirklich, dieſel—
ben fahrenden Leute, denn eben erſchien auch die
große ſtattliche Frau, die damals, in halb ſpaniſch
halb türkiſchem Aufzug, als Dritte zwiſchen ihnen
zu Pferde geſeſſen. Auch heute war ſie ver—
wunderlich genug gekleidet, trug aber, ſtatt des
langen ſchwarzen Schleiers mit dem Goldſternchen,
ein ſcharlachrothes Manteltuch, das ſie, voll
Majeſtät und nach Art eines Krönungsmantels,
um ihre Schultern gelegt hatte. „Ach, Zenobia,“
riefen alle, und rückten zuſammen, um ihr am
Tiſche Platz zu machen. Mit ihr zugleich war
der Wirth eingetreten, ein paar Kannen im
Arm, und überbot ſich alsbald in Raſchheit und
Dienſtbefliſſenheit gegen ſeine Gäſte. Wußt' er
doch, daß ſie mit vollem Beutel kamen, und
außerdem Freibrief und gutes Zeugniß von aller
Welt Obrigkeit aufzuweiſen hatten. Und was
wollt' er mehr?
„Wirth,“ rief der Schwarzharige, der auch
2 5 Grete Minde.
heute wieder die Herrenrolle ſpielte, „die Salz⸗
wedel'ſchen haben mir gefallen. Die drehen den
Schilling nicht erſt ängſtlich um. Zwei Mal
geſpielt jeden Tag, erſt die Puppen und dann
wir ſelber. Und immer voll und kein Apfel zur
Erde. Ein luſtiges Volk; nicht wahr, Wirth?
Und wie heißt doch der Spruch von den Salz—
wedel'ſchen? Ihr kennt ihn?“
„Ei, freilich; welcher Altmärk'ſche wird den
nicht kennen. Ein guter Spruch, und er geht ſo:
De Stendal'ſchen drinken gerne Wien,
De Gardeleger wüll'n Junker ſien,
De Tangermünd'ſchen hebben Moth,
De Soltwedler awers, de hebben dat Goth.“
„Ja, das haben ſie, das haben ſie,“ ſchrien
Alle durcheinander und der Wirth wiederholte
ſeinerſeits: „Ein guter Spruch, ihr Herren.
Blos daß die Arendſee'ſchen drin vergeſſen ſind.“
| „Ei, warum vergeſſen! Solch' Sprüchel ift
ja nicht wie's Vaterunſer, wo nichts zukann
und nichts weg. Was ihm fehlt, das machen
wir dazu. Könnt ihr nicht einen Reim machen,
Wirth? Ein Wirth muß Alles können, reimen
und rechnen.“
„Ja rechnen!“ fiel der Chorus ein.
„Aergert ihn nicht, ſonſt bringt er's nicht
Grete Minde. 113
zu Stand'. Und ich ſeh's ihm an, daß er dran
haſpelt. Habt Ihr's?“
„Ja.... De Stendal'ſchen drinken gerne
Wien “
„Nein, nein, das nicht. Das iſt ja die alte
Leier. Wir wollen den neuen Reim hören, den
Arendſee'ſchen.“ Und ſo ging es unter Lärmen
und Schreien weiter, bis der Wirth eine Pauſe
wahrnahm und in ſchelmiſchem Ernſt über den
Tiſch hindeclamirte:
„Un di Arendſee'ſchen, di hebben dat Stroh,
Awers hebben fifteig'n Nonnen dato.“
„Funfzehn Nonnen! Habt Ihr gehört?
Aber woher denn Nonnen? Es giebt ja keine
Nonnen mehr. Ich meine hier zu Land. Unten
im Reich, da hat's ihrer noch genug. Nicht
wahr, Zenobia? Aber hier! Alles aufgehoben,
was fie ‚jäcularifiren‘ nennen. Habe mir's wohl
gemerkt. Und das hat Euer vorvoriger Herr
Churfürſt gethan, der Herr Joachim, den ich noch
habe begraben ſehn. War das erſte Mal, daß
mein Vater ſelig bis hier hinauf in's Witten⸗
berg'ſche kam. Anno 71, und ich war noch ein
Kind.“
„Ja, ſie ſind aufgehoben. Aber 's giebt
ihrer doch noch, hier und überall im Land. Und
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 110
114 Grete Minde.
obwohlen unſer alter Roggenſtroh alle Sonntage
gegen ſie predigt, es hilft ihm nichts, ſie bleiben
doch. Und warum bleiben ſie? Weil ſie den
adligen Anhang haben. Und oben in Cölln an
der Spree, na, das weiß man, da ſitzen auch die
Junkerchen zu Rath und drücken ein Auge zu.“
„Gut, gut. Meinetwegen. Laſſen wir die
Junker und die Nonnen. Es muß auch Nonnen
geben. Nicht wahr, Zenobia?“
Dieſe zog ihre rothe Drapirung nur noch feſter
um ihre Schultern und ſchwieg in königlicher
Würde weiter.
„Un hebben fifteig'n Nonnen dato! Wahr-
haftig, Wirth, das habt Ihr gut gemacht, ſehr
gut. Ihr könnt't uns die Stücke ſchreiben.
Was meinſt, Nazerl, wir haben ſchon ſchlecht're ge—
habt! Aber ſingen wir; Du ſingſt vor, Matthes.“
Und der Angeredete, der ſeinem ſtarr und auf—
recht ſtehenden rothen Haare, vor allem aber
ſeinen linſengroßen Sommerſproſſen nach der
einzig Plattdeutſche von der Geſellſchaft zu ſein
ſchien, intonirte mit heiſerer Stimme: „Kaiſer
Karolus ſien beſtet Peerd.“
„Nicht doch, nicht doch,“ fuhr der mit der
Narbe dazwiſchen, „das kann Zenobia nicht hören;
das ſingen ja die Knechte. Sing’ Du, Hinter-
Grete Minde. 115
lachr. Aber was Fein's und Zierlich's.“ Und
Hinterlachr ſang:
„Zu Bacharach am Rheine
Da hat mir's wohlgethan,
Die Wirthin war ſo feine,
So feine,
Und als wir ganz alleine ...“
„Ach, dummes Zeug. Immer Weiber und
Weiber. Aber ſie denken nicht dran; und am
wenigſten, was eine richtige Wirthin iſt. Sie
lachen Dich aus. Nazerl, mach' Du Dein' Sach'.
Aber nichts von den Weibern; hörſt Du. Halt
Dich an das!“ Und dabei ſchob er ihm eine
friſche Kanne zu, die der Wirth eben herein⸗
gebracht hatte.
Und Nazerl hob an:
„Der liebſte Buhle, den ich hab',
Der liegt beim Wirth im Keller,
Er hat ein hölzins Röcklein an
Und heißet Muskateller:
Hab' manche Nacht mit ihm verbracht,
Er hat mich immer glücklich 'macht, glücklich 'macht.
Und lehrt mich luſtig ſingen.“
„Das iſt recht. Der liebſte Buhle, den ich hab'
.. . das gefällt mir. Der Natzi hat's getroffen.
Was meinſt, Zenobia?“ Und alle wiederholten
den Vers und ſtießen mit ihren Kannen und
Bechern zuſammen.
110*
116 Grete Minde.
„Ihr müßt nicht ſo lärmen,“ ſagte jetzt der,
der mit „Bacharach am Rheine“ jo wenig durch—
gedrungen war. „Er liegt grad' über uns, und
ich glaub', er macht es nicht lange mehr.“
Zenobia nickte.
So ging's unten her. Ueber ihnen aber,
auf einer Schütte Stroh, drüber ein Laken ge⸗
breitet war, lag ein Kranker, ein Kiſſen unterm
Kopf und mit ein paar Kleidungsſtücken zuge⸗
deckt. Neben ihm, auf einem Fußſchemel, ſaß
eine junge Frau, blaß und fremd, und hielt mit
ihrer Rechten den Henkel eines als Wiege dienen—
den Korbes, mit ihrer Linken die Hand des
Kranken. Dieſer ſchien einen Augenblick gejchla-
fen zu haben, und als er jetzt die Augen wieder
öffnete, beugte ſie ſich zu ihm nieder und fragte
leiſe: „Wie iſt Dir?“
„Gut.“
„Ach, ſage nicht gut. Deine Stirn brennt,
und ich ſeh' wie Deine Bruſt fliegt. Mein
einzig lieber Valtin, vergieb mir, ſage mir, daß
Du mir vergiebſt.“
„Was, Grete? Was ſoll ich Dir vergeben?“
W Was, was? Alles, Alles! Ich bin ſchuld
an Deinem Elend und nun bin ich ſchuld an
Grete Minde. 117
Deinem Tod. Aber ich wußt' es nicht anders
und ich wollt' es nicht. Ich war ein Kind noch,
und ſieh', ich liebte Dich ſo ſehr. Aber nicht
genug, nicht genug, und es war nicht die rechte
Liebe. Sonſt wär' es anders gekommen, alles
anders.“
„Laß es, Grete.“
„Nein, ich laß es nicht. Ich will mein
Herz ausſchütten vor Dir. Ach, ſonſt beichten
die Sterbenden, ich aber will Dir beichten, Dir.“
Er lächelte. „Du haſt mir nichts zu beichten.“
„Doch, doch. Viel, viel mehr als Du
glaubſt. Denn ſieh, ich habe nur an mich ge⸗
dacht; das war es; da liegt meine Schuld. Es
kommt alles von Gott, auch das Unrecht, das
man uns anthut, und wir müſſen es tragen
lernen. Das hat mir Gigas oft geſagt, ſo oft;
aber ich wollt' es nicht tragen und hab' aufge:
bäumt in Haß und in Ungeduld. Und in meinem
Haß und meiner Ungeduld hab ich Dich mit fort-
gezwungen, und habe Dich um Glück und Leben
gebracht.“
Er ſchüttelte den Kopf und wiederholte nur
leiſe: „Laß es, Grete. Du haſt mich nicht um
das Glück gebracht. Es war nur anders, als
andrer Leute Glück. Weißt Du noch, als wir
118 Grete Minde.
auf dem Floß fuhren und das Schilf ſtreiften
und die Waſſervögel aufflogen, ach, wie ſtand da
der Himmel ſo blau und golden über uns und
wie hell ſchien uns die Sonne! Ja, da waren
wir glücklich. Und als wir dann auf Lübeck
zogen und das Holſtenthor vor uns hatten, das
uns mit ſeinen grünen und rothen Ziegeln anſah,
und dann Muſik und Fahnenſchwenker auf uns
zukamen, als ob man uns einen Einzug machen
wolle, da lachten wir und waren froh in unſerem
Herzen, denn wir nahmen es als ein gutes Zei—
chen und wußten nun, daß wir gute Tage haben
würden. Und wir hatten ſie auch, und hätten
ſie noch, denn fleißige Tage ſind gute Tage,
wenn nicht der Streit gekommen wär', der
Streit um viel und nichts .. Er dacht' eben, er
dürf' es Dir anſinnen, weil wir arm waren und
er reich, und eines Rathsherrn Sohn. Und da
war es denn freilich aus .. Aber laß, Grete.
Was wir gehabt haben, das haben wir gehabt.
Und nun gieb mir das Kind, daß ich mich ſeiner
freue.“
Grete war aufgeſtanden, um ihm das Kind
zu geben; eh' ſie's jedoch aufnehmen konnte, be—
fiel ihn ein Stickhuſten, wohl von der Anſtren—
gung des Sprechens, und als der Anfall endlich
Grete Minde. 119
vorüber war, lag er ſchweißgebadet da, matt und
halbgeſchloſſenen Auges, wie ein Sterbender.
So vergingen Minuten, bis er ſich wieder
erholt hatte und trinken zu wollen ſchien. Wenig⸗
ſtens ſah er ſich um, als ſuch' er etwas. Und
wirklich, neben ſeinem Lager ſtand ein Hafenglas,
d'rin ihm aus Brotrinden und dünnem Eſſig ein
Getränk gemacht worden war. Aber der Ge—
ſchmack widerſtand ihm, und er wies es zurück
und ſagte: „Waſſer.“ Und Grete holte den
Waſſerkrug herbei, der groß und unhandlich, und
viel zu ſchwer war, um d'raus zu trinken, und
als ſie noch unſchlüſſig daſtand und überlegte,
wie ſie den Trunk ihm reichen ſolle, hob er ſich
mühſam auf und ſagte lächelnd: „Aus Deiner
Hand, Gret'; ein paar Tropfen blos. Ich brauche
nicht viel.“ Und ſie that's und gab ihm. Als
er aber getrunken, hielt ſie ſich nicht länger mehr
und rief, während ſie halb im Gebet und halb
in Verzweiflung ihre Hände gen Himmel ſtreckte:
„Ach, daß ich leben muß! Valtin, mein einzig
Geliebter, nimm mich mit Dir, mich und unſer
Kind. Was hier noch war, warſt Du. Nun
gehſt Du. Und wir ſind unnütz auf dieſer Welt.“
„Nein, Grete, nicht unnütz. Und Du mußt
leben, leben um des Kindes willen. Auch wenn
120 Grete Minde.
es Dir ſchwer wird. Und Du wirſt es, denn
Du hatteſt immer einen tapfern und guten Muth.
Ich weiß davon. Und nun hör' mich und thu'
wie ich Dir ſage. Aber bücke Dich; bitt', denn
es wird mir ſchwer.“
Und ſie rückte näher an ſein Kiſſen.
„Es muß etwas geſchehen,“ fuhr er fort,
„und Du kannſt nicht mehr bleiben mit den
fahrenden Leuten unten. Ich mag ſie nicht ſchel—
ten, denn ſie waren gut mit uns, aber ſie ſind
doch anders als wir. Und Du mußt wieder
eine Heimſtätt' haben und Herd und Haus, und
Sitt' und Glauben. Und ſo verſprich' mir denn,
mache Dich los hier, in Frieden und guten Wor⸗
ten, und zieh’ wieder heim und ſage ... und
ſage .... daß ich ſchuld geweſen.“
Grete ſchüttelte heftig den Kopf. Ihm die
Schuld zuzuſchieben, das erſchien ihr ſchwerer als
Alles. Er aber legte ſtill ſeine Hand auf ihren
Mund und wiederholte nur: „. .. daß ich ſchuld
geweſen. Und wenn Du das geſagt haſt, Grete,
dann ſag' auch, Du kämeſt, um wieder gut zu
machen, was Du gethan, und ſie ſollten Dich
halten als ihre Magd. Und Du wollteſt kein
Glück mehr, nein, nur Ruh und Raſt. Und
dann mußt Du niederknieen, nicht vor ihr, aber
Grete Minde. 121
vor Deinem Bruder Gerdt. Und er wird Dich
hien
„Ach, daß es käme, wie Du ſagſt! Aber ich
kenn' ihn beſſer. Er wird mir droh'n und mich
von ſeiner Schwelle weiſen, mich und das Kind,
und wird uns böſe Namen geben.“
„Ich fürcht' es nicht. Aber wenn er härter
iſt, als ich ihn ſchätze, dann geh' ihn an um
Dein Erbe, das wird er Dir nicht weigern kön—
nen. Und dann ſuche Dir einen ſtillen Platz
und gründe Dir ein neues Heim und einen
eigenen Herd. Thu's, Gret'. Ich weiß, Du
haſt ein trotzig Gemüth; aber bezwinge Dich um
des Kindes willen. Verſprich mir's. Willſt
Du?“
„Ich will.“
Es ſchien, daß ſie noch weiter ſprechen wollt',
aber in dieſem Augenblicke trat Zenobia ein und
ſagte: „Denk', Gret', 's giebt noch a Spiel heut.
Den „Sündfall“ wollen's. Das Leutvolk laßt
uns ka Ruh nit. Aber a Sündfall“ ohn' a En⸗
gel? Das geht halt nit. Und d'rum komm' i.
Was meinſt, Gret'?“
Dieſe ſtarrte vor ſich hin.
„Geh',“ ſagte Valtin. „Rücke den Korb
dicht her zu mir und ſpiele den Engel. Und
122 Grete Minde.
wenn die Stelle kommt, wo Du die Palme hebſt,
dann denk' an mich.“
Und ſie rückte den Korb näher an ſein
Lager und beugte ſich über ihn. Er aber nahm
noch einmal ihre Hand und ſagte: „Und nun
leb' wohl, Gret', und vergiß es nicht. Ich höre
jedes Wort. Geh'. Ich wart' auf Dich.“
Und Grete ging und barg ihr Geſicht in
beide Hände.
16.
Die Nonnen von Arendſee.
Am andern Morgen ging es in Arendſee
von Mund zu Mund, daß einer von den Puppen⸗
ſpielern über Nacht geſtorben ſei. An allen
Ecken ſprach man davon, und alles war in Auf-
regung. Was mit ihm thun? Ein Sarg war
beſchafft worden, das war in der Ordnung; aber
wo ihn begraben, das blieb die Frage. War ihr
Kirchhof ein Begräbnißplatz für fahrende Leute,
von denen keiner wußte, wes Glaubens ſie ſeien,
Chriſten oder Heiden! Oder vielleicht gar Türken.
Und dabei dachte jeder an die Frau, die geſtern,
vor Beginn des Spiels, ein langes rothes Tuch
um die Schulter, am Eingange geſeſſen hatte.
U
Grete Minde, 123
Es war klar, daß nur der alte Prediger
Roggenſtroh den Fall entſcheiden konnte; und ehe
Mittag heran war, wußte jeder, daß er ihn ent⸗
ſchieden habe und wie. Grete ſelber hatte, neben
einer eindringlichen Ermahnung, das Nein aus
ſeinem Munde hören müſſen.
Da war nun große Noth und Trübſal, und es
wurd' erſt wieder lichter um Gretens Herz, als
ſich die Wirthin ihrer erbarmte und ihr anrieth,
drüben in's Kloſter zu den Nonnen zu gehen,
die würden ſchon Rath ſchaffen und ihr zu helfen
wiſſen, wär' es auch nur, weil ſie den alten
Roggenſtroh nicht leiden könnten. Sie ſolle nur
Muth haben und nach der Domina fragen, oder,
wenn die Domina krank ſei (denn ſie ſei ſehr
alt) nach der Ilſe Schulenburg. Die habe das
Herz auf dem rechten Fleck und ſei der Domina
rechte Hand. Und wenn dieſe ſtürbe, dann
würde ſie's.
Das waren rechte Troſtesworte, und als
Grete der Wirthin dafür gedankt, machte ſie ſich
auf, um drüben im Kloſter das ihr bezeichnete
Haus aufzuſuchen. Ein paar halbwachſene
Kinder, die vor dem Thor der Ausſpannung
ſpielten, wollten ihr den Weg zeigen, aber ſie
zog es vor allein zu ſein und ging auf die Stelle
124 Grete Minde.
zu, wo der Heckenzaun und dahinter der Kreuz⸗
gang war. Als ſie hier, trotz allem Suchen,
keinen Eingang finden konnte, preßte ſie ſich
durch die Hecke hindurch und ſtand nun unmittel⸗
bar vor einer langen offenen Rundbogen-Reihe,
zu der ein paar flache Sandſtein⸗Stufen von der
Seite her hinaufführten. Drinnen an den Ge—
wölbekappen befanden ſich halbverblaßte Bilder,
von deren eines ſie feſſelte: Engelsgeſtalten, die
ſchwebend einen Todten trugen. Und ſie ſah
lange hinauf und ihre Lippen bewegten ſich.
Dann aber ftieg ſie, nach der andern Seite hin, die
gleiche Zahl von Stufen wieder hinab und ſah
ſich alsbald inmitten des Kloſterkirchhofes, der
faſt noch wirrer um ſie her lag, als ſie beim
erſten Anblick erwartet. Wo nicht die Birn⸗
bäume mit ihren tiefherabhängenden Zweigen
alles überdeckten, ſtanden Dill- und Fencheldolden,
hoch in Samen geſchoſſen; dazwiſchen aber aller—
hand verſpätete Kräuter, Thymian und Rosmarin,
und füllten die Luft mit ihrem würzigen Duft.
Und ſie blieb ſtehen, duckte ſich und hob ſich
wieder, und es war ihr, als ob dieſe wuchernde
Gräberwildniß, dieſe Pfadloſigkeit unter Blumen,
ſie mit einem geheimnißvollen Zauber umſpinne.
Endlich hatte ſie das Ende des Kirchhofes erreicht,
Grete Minde. 125
und ſie ſah zwiſchen den Bogen hindurch, die
das Viereck auch nach dieſer Seite hin abſchloſſen,
auf den in der Tiefe liegenden Kloſterſee, den
nach links hin, ein paar hundert Schritt weiter
abwärts, einige Häuſer umſtanden. Eines davon,
das vorderſte, ſteckte ganz in Epheu und war
bis in Mittelhöhe des Daches von fleiſchblättrigem
und rothblühendem Hauslaub überdeckt. All das
ließ ſich deutlich erkennen, und als Grete bis
dicht heran war, ſah ſie, daß eine Magd auf
dem Schwellſteine ſtand und den großen Meſſing⸗
klopfer putzte.
„Wer wohnt hier?“ fragte Grete.
„Das Fräulein von Jagow.“
„Iſt eine von den Nonnen?“
Das Mädchen lachte. „Von den Nonnen?
Wir haben keine Nonnen mehr. Es iſt die
Domina.“
„Das iſt gut. Die ſuch' ich.“
Und das Mädchen, ohne weiter eine Frage
zu thun, trat in den Flur zurück, um ihr den
Weg frei zu machen, und wies auf eine Thür
zur Linken. „Da.“
Und Grete öffnete.
Es war ein hohes, gothiſches, auf einem einzigen
Mittelpfeiler ruhendes Zimmer, drin es ſchwer
126 Grete Minde.
hielt ſich auf den erſten Blick zurecht zu finden,
denn nur wenig Sonne fiel ein, und alles Licht,
das herrſchte, ſchien von dem Feuer herzukom⸗
men, das in dem tiefen und völlig ſchmuckloſen
Kamine brannte. Neben dieſem, einander gegen—
über, ſaßen zwei Frauen, ſehr verſchieden an
Jahren und Erſcheinung, zwiſchen ihnen aber
lag ein großer, gelb und ſchwarz gefleckter Wolfs-
hund, mit ſpitzem Kopf und langer Ruthe, der
der Jüngeren nach den Augen ſah und wedelnd
auf die Biſſen wartete, die dieſe ihm zuwarf.
Er ließ ſich auch durch Gretens Eintreten nicht
ſtören und gab ſeine Herrin erſt frei, als dieſe
ſich nach der Thür hin wandte und in halb—
lautem Tone fragte: „Wen ſuchſt Du, Kind?“
„Ich ſuche die Domina.“
„Das iſt ſie.“ Und dabei zeigte ſie nach
dem Stuhl gegenüber.
Die Geſtalt, die hier bis dahin zuſammen⸗
gekauert geſeſſen hatte, richtete ſich jetzt auf und
Grete ſah nun, daß es eine ſehr alte Dame war,
aber mit ſcharfen Augen, aus denen noch Geiſt
und Leben blitzte. Zugleich erhob ſich auch der
Hund und legte ſeinen Kopf zutraulich an Gretens
Hand, was ein gutes Vorurtheil für dieſe weckte.
Denn „er kennt die Menſchen,“ ſagte die Domina.
.
i
— . A
—
Grete Minde. 127
Dieſe hatte mittlerweile Greten an ihren
Stuhl herangewinkt.
„Wie heißt Du, Kind? und was führt Dich
her? Aber ſtelle Dich hier ins Licht, denn mein
Ohr iſt mir nicht mehr zu Willen, und ich muß
Dir's von den Lippen leſen.“
Und nun erzählte Grete, daß ſie zu den
fahrenden Leuten gehöre, die geſtern in die Stadt
gekommen ſeien, und daß einer von ihnen, der
ihr nahe geſtanden, in dieſer Nacht geſtorben ſei.
Und nun wüßten ſie nicht, wohin ihn begraben.
Einen Sarg hätten ſie machen laſſen, aber ſie
hätten kein Grab für ihn, kein Fleckchen Erde.
Wohl ſei ſie bei dem alten Prediger geweſen und
habe ihn gebeten, aber der habe fie hart ange-
laſſen und ihr den Kirchhof verſagt. Den Kirch—
hof und ein chriſtlich Begräbniß.
„Biſt Du chriſtlich?“
„Ja.“
„Aber Du ſiehſt ſo fremd.“
„Das macht, weil meine Mutter eine
Span 'ſche war.“
„Eine Span'ſche?d? . .. Und im alten
Glauben?“
„Ja, Domina.“
Die beiden Damen ſahen einander an, und
128 Grete Minde.
die Domina ſagte: „Sieh, Ilſe, das hat ihr der
Roggenſtroh von der Stirn geleſen. Er ſieht
doch ſchärfer, als wir denken. Aber es hilft ihm
nichts, und wir wollen ihm einen Strich durch
die Rechnung machen. Er hat ſeinen Kirchhof
und wir haben den unſren. Und auf unſrem,
denk' ich, ſchläft ſich's beſſer.“
„Ja, Domina.“
„Sieh' Kind, das ſag' ich auch. Und ich
warte nun ſchon manches Jahr und manchen Tag
darauf. Aber der Tag will nicht kommen. Denn
Du mußt wiſſen, ich werde fünf und neunzig
und war ſchon geboren und getauft, als der
Wittenberg'ſche Doctor gen Worms ging und
vor Kaiſer Carolus Quintus ſtand. Ja, Kind,
ich habe viele Zeiten geſehen, und ſie waren
nicht ſchlechter als unſre Zeiten ſind. Und
morgen um die neunte Stunde da komm nur
herauf mit Deinem Todten, und da ſoll er fein
Grab haben. Ein Grab bei uns. Und nicht
an ſchlechter Stell’ und unter Unkraut; nein,
wir wollen ihn unter einem Birnbaum begraben,
oder, jo Du's lieber haft, unter einem Flieder⸗
buſch. Hörſt Du. Verlaß Dich auf mich und
auf dieſe hier. Denn die hier und ich, wir
verſtehen einander, nicht wahr, Ilſe? Und wir
Grete Minde. 129
wollen die Kloſterglocke läuten laſſen, daß es der
Roggenſtroh bis in ſeine Stube hört und nächſten
Sonntag wieder gegen uns predigt, gegen uns
und gegen den Antichriſt. Das thut er am
liebſten, und wir hören es am liebſten. Und
nun geh', Kind. Ich haſſe den Hochmuth und
weiß nur das Eine, daß unſer All-Erbarmer für
unſre Sünden geſtorben iſt und nicht für unſre
Gerechtigkeit.“
Und danach ging Grete und der Hund be—
gleitete ſie bis an die Thür.
Als die beiden Frauen wieder allein waren,
ſagte die Domina: „Unglücklich' Kind. Sie hat
das Zeichen.“
„Nicht doch; ſie hat ſchwarze Augen. Und
die hab ich auch.“ |
„Ja, Ilſe. Aber Deine lachen und ihre
brennen.“
„Du ſiehſt zuviel, Domina.“
„Und Du zu wenig. Alte Augen ſehen am
beſten im Dunkeln. Und das Dunkelſte iſt die
Zukunft.“ |
= . 3
Und ſo kam der andre Morgen.
Die neunte Stunde war noch nicht heran,
als ganz Arendſee die Kloſterglocke läuten hörte.
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 111
130 Grete Minde.
Und auch Roggenſtroh hörte ſie; das verdroß
ihn. Aber, ob es ihn verdroß oder nicht, von
der tiefen Einfahrt des Gaſthofes her ſetzte
ſich ein ſeltſamer Zug in Bewegung, ein Be—
gräbniß, wie die Stadt noch keines geſehen; denn
die vier Puppenſpieler trugen den Sarg, der
auf eine Leiter geſtellt worden war, und hinter
ihnen her ging Grete, nur auf Zenobia geſtützt,
die ſich heute von allem Roth entkleidet und ſtatt
deſſen an ihren Spitzhut wieder ihren langen
ſchwarzen Schleier mit den Goldſternchen be—
feſtigt hatte. Und dann kamen Kinder aus der
Stadt, die vorderſten ernſt und traurig, die
letzten ſpielend und lachend, und ſo ging es die
Straße hinunter, in weitem Bogen um den
Kirchhof herum, bis an die See-Seite, wo, von
alter Zeit her, der Eingang war.
In Nähe dieſes Einganges, unter einem
hohen Fliederbuſch, der mit ſeinen Zweigen bis
in den Kreuzgang hineinwuchs, hatte der Kloſter—
gärtner das Grab gegraben. Und um das Grab
her ſtanden die Nonnen von Arendſee: Barbara
von Rundſtedt, Adelheid von Rademin, Mette von
Bülow und viele andere noch, alle mit Spitz
hauben und langen Chormänteln, und in ihrer
Mitte die Domina, klein und gebückt, und neben
m, SZ ZZ
Grete Minde. 131
ihr Ilſe von Schulenburg, groß und ſtattlich.
Und als nun der Zug heran war, öffnete ſich
der Kreis und mit Hülfe von Seilen und Bän⸗
dern, die zur Hand waren, wurde der Sarg
hinabgelaſſen. Und nun ſchwieg die Glocke und
die Domina ſagte: „Sprich den Spruch, Ilſe.“
Und Ilſe trat bis dicht an das Grab und betete:
„Unſre Schuld iſt groß, unſer Recht iſt klein,
die Gnade Gottes thut es allein.“ Und
alle Nonnen wiederholten leiſe vor ſich hin:
„Und die Gnade Gottes thut es allein. Danach
warfen die Zunächſtſtehenden eine Hand voll Erde
dem Todten nach, und als ihr Kreis ſich gelichtet,
(drängten ſich die Kinder von außen her bis an
den Rand des Grabes und ſtreuten Blumen
über den unten ſtehenden Sarg: Aſtern aller
Farben und Arten, die ſie während der kurzen
Ceremonie von den verwilderten Beeten gepflückt
hatten.
Bald danach war nur noch Grete da, und
ſah auf den Fliederbuſch, der beſtimmt ſchien,
das Grab zu ſchützen. Ein Vogel flog auf und
über fie hin, und ſetzte ſich dann auf eine Hanf-
ſtaude und wiegte ſich. „Ein Hänfling!“ ſagte
ſie. Und die Bilder vergangener Tage ſtiegen
111*
132 Grete Alinde,
vor ihr auf; ihr Schmerz löſte fich, und fie warf
ſich nieder und weinte bitterlich.
Als ſie ſich erhob, ſah ſie, daß Ilſe, die mit
den Andern gegangen war, zwiſchen den Rund—
bögen wieder herauf und auf ſie zu kam, allem
Anſcheine nach, um ihr eine Botſchaft zu bringen.
Und ſo war es. „Komm, Grete,“ ſagte ſie, „die
Domina will Dich ſprechen;“ und Beide gingen
nun, außerhalb des Kreuzganges, zwiſchen dieſem
und dem See-Ufer hin, und auf das epheu-um⸗
ſponnene Haus mit dem hohen Dach und den
rothblühenden Laubſtauden zu.
Es war ſchwül, trotzdem ſchon Detobertage
waren, und die Domina, die nach Art alter
Leute die Sonnenwärme liebte, hatte Tiſch und
Stühle in Front ihres Hauſes bringen laſſen.
Hier ſaß ſie vor dem dichten, dunklen Gerank,
durch das von innen her der Wiederſchein des
Kaminfeuers blitzte, und auf das Tiſchchen neben
ihr waren Obſt und Lebkuchen geſtellt, Ulmer
und Basler, und eine zierliche Deckelphiole mit
Syrakuſer Wein.
Grete verneigte ſich.
„Ich habe Dich rufen laſſen,“ ſagte die
Domina, „weil ich Dir helfen möchte, ſo gut ich
kann. Es ſoll keiner ungetröſtet von unſrer
Grete Minde. 133
Schwelle gehen. So haben es die Arendſee'ſchen
von Anfang an gehalten, und ſo halten ſie's noch.
Und auch Ilſe wird es ſo halten. Nicht wahr,
Ilſe? . .. Und nun ſage mir, Kind, woher Du
kamſt und wohin Du gehſt? Ich frag' es um
Deinetwillen. Sage mir, was Du mir ſagen
kannſt und ſagen willſt.“
Und Grete ſagte nun alles, und ſagte zuletzt
auch, daß ſie zurück zu den Ihren wolle, zu
Bruder und Schweſter, um an ihrer Schwelle
Verzeihung und Verſöhnung zu finden.
„Das iſt ein ſchwerer Gang.“
Grete ſchwieg und ſah vor ſich hin. Endlich
ſagte ſie: „Das iſt es. Aber ich hab' es ihm
verſprochen. Und ich will es halten.“
„Und wann willſt Du gehen?“
„Gleich.“
„Das iſt gut. Ein guter Wille kann ſchwach
werden, und wir müſſen das Gute thun, ſo lange
wir noch Kraft haben und die Luſt dazu lebendig
in uns iſt. Sonſt zwingen wir's nicht. Und
nun gieb ihr einen Imbiß, Ilſe, und eine Zehrung
für den Weg. Und noch eins, Grete: halt' an
Dich, auch wenn es fehlſchlägt und wiſſe, daß
Du hier eine Freiſtatt haſt. Und eine Freiſtatt
iſt faſt ſo gut wie eine Heimſtatt. Und nun
134 Grete Minde.
kniee nieder und höre mein Letztes und mein
Beſtes: ‚Der Herr ſegne Dich und behüte Dich,
und gebe Dir ſeinen Frieden.“ Ja, ſeinen
Frieden; den brauchen wir alle, aber Du Arme,
Du brauchſt ihn doppelt. Und nun geh und eile
Dich und laß von Dir hören.“
Grete küßte der Alten die Hand und ging.
Ilſe mit ihr. Als dieſe zurückkam und ihren
vorigen Platz an der Epheuwand eingenommen
hatte, ſagte die Domina: „Wir ſehen ſie nicht
wieder.“
„Und haſt ihr doch eine Freiſtatt geboten!“
„Weil wir das Unſre thun ſollen ... Und
die Wege Gottes find wunderbar ... Aber ich
ſah den Tod auf ihrer Stirn. Und hab' Acht,
Ilſe, ſie lebt keinen dritten Tag mehr!“
N.
Wieder gen Tangermünde.
Grete war in weitem Umkreiſe bis an das
Gaſthaus zurückgegangen, um hier von den Leuten,
die's gut mit ihr und ihrem Todten gemeint
hatten, Abſchied zu nehmen. Vor allem von
Zenobia. Dann wickelte ſie das Kind, das dieſe
bis dahin gewartet hatte, in den Kragen ihres
Grete Minde. 135
Mantels, und ſchritt aus der Stadt hinaus, auf
die große Straße zu, die von Arendſee nach
Tangermünde führte. Hielt ſie ſich zu, das waren
der Wirthin letzte Worte geweſen, ſo mußte ſie
gegen die vierte Stund' an Ort und Stelle ſein.
Der Weg ging anfänglich über Wieſen. Es
war ſchon alles herbſtlich; der rothe Ampfer, der
ſonſt in breiten Streifen an dieſer Stelle blühte,
ſtand längſt in Samen und die Vögel ſangen
nicht mehr; aber der Himmel wölbte ſich blau
und die Sommerfäden zogen, und mitunter war
es ihr, als vergäße ſie alles Leids, das ſie drückte.
Ein tiefer Frieden lag über der Natur. „Ach,
ſtille Tage!“ ſagte ſie leiſe vor ſich hin.
Nach den Wieſen kam Wald. Junge Tannen
wechſelten mit alten Eichen, und überall da, wo
dieſe ſtanden, war eine kräftigere Luft, die Grete
begierig einſog. Denn es war immer ſchwüler
geworden und die Sonne brannte.
Mittag mochte heran ſein, als ſie Raſt
machte, weniger um ihret- als um des Kindes
willen. Und ſie gab ihm zu trinken. Das war
dicht am Rande des Waldes, wo zwiſchen anderem
Laubholz auch ein paar alte Kaſtanien ihre Zweige
weit vorſtreckten. Die Straße verbreiterte ſich
hier auf eine kurze Strecke hin, und ſchuf einen
136 Grete Minde.
ſichelförmigen Platz, an deſſen zurückgebogenſter
Stelle halbgeſchälte Birkenſtämme lagen, hinter
denen wieder ein Quell aus Moos und Stein
hervorplätſcherte. Hier ſaß ſie jetzt, und um ſie
her lagen abgefallene Kaſtanien, einzelne noch in
ihren Stachelſchalen, die meiſten aber aus ihrer
Hülle heraus und braun und glänzend. Und ſie
bückte ſich, um einige von ihnen aufzuheben. Und
als ſie ſo that, und ihrer immer mehr in den
Schooß ſammelte, da ſah ſie ſich wieder auf
ihres Vaters Grab und Valtin neben ſich, und
und ſie hing ihm die Kette um den Hals und
nannt' ihn ihren Ritter. War es doch, als ob
jede Stunde dieſes Tages Erinnerungen in ihr
wecken ſollte, ſüß und ſchmerzlich zugleich. „Alles
dahin,“ ſagte ſie. Und ſie ſtand auf und ſchüttete
die Kaſtanien wieder in das Gras zu ihren Füßen.
Sie hing ihren Erinnerungen noch nach, als
ſie das Klirren einer Kummetkette hörte und
gleich darauf eines Gefährtes anſichtig wurde,
das, von derſelben Seite her, von der auch ſie
gekommen, um die Waldecke bog. Es war eine
Schleife mit zwei kleinen Pferden davor, und ein
Bauer vorn auf dem Häckſelſack. Auch hinter ihm
lagen Säcke, muthmaßlich Korn, das er zu Markt
oder in die Mühle fuhr. Grete trat an ihn
De n
*
Grete Minde. 137
heran, und frug, ob er ſie mitnehmen wolle?
„Eine kleine Strecke nur!“
„Dat will ick jiern. Stejg man upp, Deern.“
Und Grete that's und ſetzte ſich neben ihn,
und ſie fuhren ſtill in den Wald hinein. Endlich
ſagte der Bauer: „Kümmſt vun Arendſee?“
„Ja,“ ſagte Grete.
„Denn wihrſt ook in't Kloſter? Jott, de oll
Domina! Fiefunneijentig. Na, lang kann't joa
nich mihr woahren. Un denn kümmt unſ' Ilſ'
ran. De wahrd et.“
„Kennt Ihr ſie?“
„J, wat wihr ick je nich kenn'? Ick bin
joa vun Arnsdörb, wo ſe bührtig is. Un wat
mien Voaders-Schweſter is, de wihr joa ehr'
Amm'. Un achters hett je ſe uppäppelt. Un de
ſeggt ümmer: „Ilſ' is de beſt! Un ſo groot ſe is,
ſo good is ſe. Un doaför wahrd ſe ook Domina.“
Und danach ſchwiegen ſie wieder, und nichts
als ein Paar blaue Fliegen ſummten um ſie her,
und die Schleife malte weiter durch den Sand.
Nur wenn dann und wann eine feſtere Stelle
kam, wo Moos über den Weg gewachſen war,
oder wo viel Kiefernadeln lagen, über die die
Fuhre glatter hingleiten konnte, gab der Bauer
einen Schlag mit ſeiner Leine und ließ die ma—
138 Grete Minde.
geren Braunen etwas ſchneller gehn. Und man
hörte dann ſein Hüh und Hott, und das Klappern
der Kette.
„Wo wiſten hen?“ nahm er endlich das Ge—
ſpräch wieder auf.
„Nach Tangermünd',“
„Na'h Tangermünd'. Oh, doa wihr ick vok.
Awers dat geiht nu all in't dritt' o'r vörte
Joahr, as unſ' Herr Kurförſt doa wihr un dat
grote Foahnenſchwenken wihr, mit Aeten un Ju⸗
biliren. Un allens boaben up de Burg. Joa,
doa wihr ick ook, un ümmer mit damang. Awers
man buten.“
Grete nickte, denn wie hätte ſie des Tages
vergeſſen können! Und ſo plauderten ſie weiter
und ſchwiegen noch öfter, bis eine Stelle kam,
wo der Weg gabelte. „Hier möt ick rechts aff,“
ſagte der Bauer.
Und Grete ſtieg ab und wollt' ihm eine
kleine Münze geben. „Nei, nei, Deern, dat geiht
nich. O'r biſt ne Fru?“
Sie wurde roth, aber er hatt' es nicht Acht
und bog nach rechts hin in den Feldweg ein.
Es war noch zwei Stunden Wegs, und
Grete, die ſich von der Anſtrengung des Marſches
erholt hatte, ſchritt wieder rüſtiger vorwärts.
Grete Minde. 139
Auch die Schwüle ließ nach; ein Wind ging und
kühlte die Luft und ihr die Stirn. Und ſie hatte
wieder guten Muth und gefiel ſich darin, ſich ihr
künftiges Leben auszumalen. Aber ſonderbar,
ſie begann es immer vom andern Ende her, und
je weiter es ab und in allerfernſte Zukunft hin⸗
einlag, deſto heller und lichter erſchien es ihr.
Als aber zuletzt ihre Gedanken und Vorſtellungen
auch auf das Nah- und Nächſtliegende kamen und
ſie ſich in Gerdt's Haus eintreten und die Knie
vor ihm beugen ſah, da wurd' ihr wieder ſo bang
um's Herz und ſie hatte Mühe ſich zu halten.
Und ſie nahm das Kind und küßte es. „Es
muß ſein,“ ſagte fie „und es ſoll fein. Ich
hab' es ihm verſprochen, und ich will es halten
und will Demuth lernen. Ja, ich will um einen
Platz an ſeinem Herde bitten, und will ſeine
Magd ſein, und will mich vor ihm niederwerfen.
Aber — und ihre Stimme zitterte — wenn ich
mich niedergeworfen habe, ſo ſoll er mich auch
wieder aufrichten. Weh' ihm und mir, wenn er
mich am Boden liegen läßt.“ Und bei der bloßen
Vorſtellung war es ihr, als drehe ſich ihr alles
im Kopf und als ſchwänden ihr die Sinne.
Endlich hatte ſie ſich wiedergefunden und
ging raſcheren Schrittes weiter, abwechſelnd in
140 Grete Minde.
Furcht und Hoffnung, bis ſie plötzlich, aus dem
Walde heraustretend, der Dächer und Thürme
Tangermündens anſichtig wurde. Da ging Alles
in ihr in alter Lieb’ und Sehnſucht unter, und
ſie grüßte mit der Hand hinüber. Das war
Sanct Stephan, und die hohen Linden daneben,
das waren die Kirchhofslinden. Lebte Gigas noch?
Blüthen noch die Roſen in ſeinem Garten? Und
ſie legte die Hand auf ihre Bruſt, und ſchluchzte,
und ward erſt wieder ruhiger, als ſie die Gold—
kapſel fühlte, das Einzige, was ihr aus alten
Tagen her geblieben war. Und ſie öffnete ſie,
und ſchloß ſie wieder, und preßte ſie voll Inbrunſt
an ihre Lippen.
18.
Grete bei Gerdt.
Unwillkürlich beſchleunigte ſich ihr Schritt,
und binnen Kurzem hatte ſie die nur aus wenig
Häuſern beſtehende Vorſtadt erreicht. Eins dieſer
Häuſer, das ſich nach ſeinem bemalten und ver—
goldeten Schilde leicht als ein Herbergshaus er—
kennen ließ, lag in Nähe des Thores, und ſie
trat hier ein, um eine Weile zu ruhen und ein
paar Fragen zu ſtellen. Die Leute zeigten ſich
Grete Minde. 141
ihr in allem zu Willen, und eh' eine Stunde
vergangen war, war ſie fertig und ſtand gerüſtet
da: die Kleider ausgeſtäubt und geglättet, und
das während des langen Marſches wirr gewordene
Haar wieder geordnet.
Es ſchlug eben fünf, als ſie, das Kind unterm
Mantel, aus der Herbergsthüre trat. Draußen
im Sande ſcharrten die Hühner ruhig weiter und
nur der Hahn trat reſpektvoll bei Seit' und
krähte dreimal, als ſie vorüberging. Ihr Schritt
war leicht, leichter als ihr Herz, und wer ihr
in's Auge geſehen hätte, hätte ſehen müſſen, wie
der Ausdruck darin beſtändig wechſelte. So paſſirte
ſie das Thor, auch den Thorplatz dahinter, und
als ſie jenſeits deſſelben den inneren Bann der
Stadt erreicht hatte, war es ihr, als wäre ſie ge—
fangen und könne nicht mehr heraus. Aber ſie
war nicht im Bann der Stadt, ſondern nur im
Bann ihrer ſelbſt. Und nun ging ſie die große
Mittelſtraße hinauf, an dem Rathhauſe vorüber,
hinter deſſen durchbrochenen Giebelroſetten der
Himmel wieder glühte, ſo roth und prächtig wie
jenen Abend, wo Valtin ſie die Treppe hinunter
in's Freie getragen und von jähem Tod errettet
hatte. Errettet? Ach, daß ſie damals zerdrückt
und zertreten worden wäre. Nun zertrat ſie
142 Grete Minde.
dieſe Stunde! Aber ſie redete ſich zu, und ſchritt
weiter in die Stadt hinein, bis ſie dem Minde'ſchen
Hauſe gegenüber hielt. Es war nichts da, was
ſie hätte ſtören oder überraſchen können. In allem
derſelbe Anblick wie früher. Da waren noch die
Niſchen, auf deren Steinplatten ſie, lang, lang
eh' Trud in's Haus kam, mit Valtin geſeſſen
und geplaudert hatte, und dort oben die Giebel—
fenſter, die jetzt aufſtanden, um die Friſche des
Abends einzulaſſen, das waren ihre Fenſter.
Dahinter hatte ſie geträumt, geträumt ſo Vieles,
ſo Wunderbares. Aber doch nicht das!
In dieſem Augenblicke ging drüben die Thür,
und ein Knabe, drei⸗ oder vierjährig, lief auf die
Stelle zu, wo Grete ſtand. Sie ſah wohl, wer
es war, und wollt' ihn bei der Hand nehmen;
aber er riß ſich los und huſchte bang und ängſt—
lich in eines der Nachbarhäuſer hinein. „So
beginnt es,“ ſagte ſie und ſchritt quer über den
Damm und auf das Haus zu, deſſen Thür offen
geblieben war. In dem Flure, trotzdem es ſchon
dämmerte, ließ ſich alles deutlich erkennen: an
den Wänden hin ſtanden die braunen Schränke,
dahinter die weißen, und nur die Schwalbenneſter,
die links und rechts an dem großen Querbalken
geklebt hatten, waren abgeſtoßen. Man ſah nur
Grete Minde. 143
noch die Rundung, wo ſie vordem geſeſſen. Das
erſchreckte ſie mehr als alles andere. „Die
Schwalben ſind nicht mehr heimiſch hier,“ ſagte
ſie, „das Haus iſt ungaſtlich geworden.“ Und
nun klopfte ſie und trat ein.
Ihr Auge glitt unwillkürlich über die Wände
hin, an denen ein paar von den Familienbildern
fehlten, die früher dageweſen waren, auch das
ihrer Mutter; aber der große Nußbaumtiſch ſtand
noch am alten Platz, und an der einen Schmal-
ſeite des Tiſches, den Kopf zurück, die Füße weit
vor, ſaß Gerdt und las. Es ſchien ein Akten⸗
ſtück, deſſen Durchſicht ihm in ſeiner Rathsherren—
Eigenſchaft obliegen mochte. Denn einer von den
Mindes ſaß immer im Rathe der Stadt. Das
war ſo ſeit hundert Jahren oder mehr.
Grete war an der Schwelle ſtehen geblieben,
und erſt als ſie wahrnahm, daß Gerdt aufſah
und die wenigen Bogen, die das Actenſtück
bildeten, zur Seite legte, ſagte ſie: „Grüß Dich
Gott, Gerdt. Ich bin Deine Schweſter Grete.“
„Ei, Grete,“ ſagte der Angeredete, „biſt Du
da! Wir haben uns lange nicht geſehen. Was
machſt Du? Was führt Dich her?“
„Valtin iſt todt ....“
„Iſt er? Sor“
144 Grete Minde.
„Valtin iſt todt und ich bin allein. Ich
hab' ihm auf ſeinem Sterbebette verſprechen
müſſen, Euch um Verzeihung zu bitten. Und da
bin ich nun und thu's, und bitte Dich um eine
Heimſtatt und um einen Platz an Deinem Herd.
Ich bin müde des Umherfahrens und will ſtill
und ruhig werden. Ganz ſtill. Und ich will
Euch dienen; das ſoll meine Buße ſein.“ Und
ſie warf ſich, als ſie ſo geſprochen, mit einem
heftigen Entſchluſſe vor ihm nieder, mehr raſch
als reuig, und ſah ihn fragend und mit ſonder—
barem Ausdruck an. Das Kind aber hielt ſie
mit der Linken unter ihrem Mantel.
Gerdt war in ſeiner bequemen Lage geblieben
und ſah an die Zimmerdecke hinauf. Endlich ſagte
er: „Buße! Nein, Grete, Du biſt nicht buß—
fertig geworden. Ich kenne Dich beſſer, Dich und
Deinen ſtolzen Sinn. Und in Deiner Stimme
klingt nichts von Demuth. Aber auch wenn Du
Demuth gelernt hätteſt, unſere Schweſter kann
nicht unſere Magd ſein. Das verbietet uns das
Herkommen und das Gerede der Leute.“
Grete war in ihrer knieenden Stellung ver—
blieben und ſagte:
„Ich dacht' es wohl. Aber wenn ich es
nicht ſein kann, ſo ſei es das Kind. Ich lieb'
Grete Minde. 145
es und weil ich es ſo liebe, mehr als mein
Leben, will ich mich von ihm trennen, und will's
in andere Hände geben. In Eure Hände. Es
wird nicht gut' und glückliche Tage haben, ich
weiß ja welche, aber wenn es nicht in Glück auf:
wächſt, jo wird es doch in Sitt' und Ehren auf-
wachſen. Und das ſoll es. Und ſo Ihr Euch
ſeiner ſchämt, ſo thut es zu guten Leuten in
Pfleg' und Zucht, daß es ihr Kind wird und
mich vergißt, und nichts an ihm bleibt von Sünd'
und Makel und von dem Flecken ſeiner Geburt.
Erhöre mich, Gerdt; ſage ja, und Ihr ſollt mich
nicht wiederſehen. Ich will fort, weit fort, und
mir eine Stelle ſuchen, zum Leben und zum
Sterben. Thu's! Ach, Lieb' und Haß haben mir
die Sinne verwirrt und Vieles iſt geſchehen, das
beſſer nicht geſchehen wäre. Aber es iſt nichts
Böſes an dieſer meiner Hand. Hier lieg' ich;
ich habe mich vor Dir niedergeworfen, nimm mich
wieder auf! Hilf mir, und wenn nicht mir, ſo
hilf dem Kind.“
Gerdt ſah auf die kniende Frau, gleichgültig
und mitleidslos, und ſagte, während er den Kopf
hin und her wiegte:
„Ich mag ihm nicht Vater ſein und nicht
Vormund und Berather. Du haſt es ſo gewollt,
Th. Fontane, Gef. Romane u. Novellen. 112
146 Grete Minde.
nun hab' es. Es ſchickt ſich gut, daß Du's
unterm Mantel trägſt, denn ein Mantelkind iſt
es. Bei ſeinem vollen Namen will ich's nicht
nennen.“ er
Und er ließ fie liegen und griff nach dem
Actenbündel, als ob er der Störung müde ſei
und wieder leſen wolle.
Grete war jetzt aufgeſprungen und ein Blick
unendlichen Haſſes ſchoß aus ihren Augen. Aber
ſie bezwang ſich noch und ſagte mit einer Stimme,
die plötzlich tonlos und heiſer geworden war:
„Es iſt gut ſo, Gerdt. Aber noch ein Wort. Du
haft mich nicht erhören wollen in meiner Noth,
ſo höre mich denn in meinem Recht. Ich bin
als eine Bittende gekommen, nicht als eine
Bettlerin. Denn ich bin keine Bettlerin. Ich
bin des reichen Jacob Minde Tochter. Und ſo
will ich denn mein Erbe. Hörſt Du, Gerdt,
mein Erbe.“
Gerdt faltete die Bogen des Actenſtücks zu—
ſammen, ſchlug damit in ſeine linke Hand und
lachte: „Erbe! Woher Erbe, Grete? Was
brachte Deine Mutter ein? Kennſt Du das Lied
vom Sperling und der Naſelnuß? Erbe! Du
haſt keins. Du haſt Dein Kind, das iſt alles.
Verſuch' es bei den Zernitzens, ſprich bei dem
Grete Minde. 147
Alten vor. Der Valtin hat ein Erbe. Und
Emrentz denk' ich wird ſich freuen Dich zu ſehn. 1
„Iſt das Dein letztes Wort?“
„Ja, Grete.“
„So gehab' Dich wohl, und Dein Lohn ſei
wie Dein Erbarmen.“ Und damit wandte ſie
ſich und ſchritt auf die Thür und den Flur zu.
Als ſie draußen an dem Fenſter vorüber kam,
ſah ſie noch einmal hinein, aber Gerdt, der ab—
gewandt und in Gedanken da ſaß, bemerkte
nichts.
Er ſah auch noch ſtarr vor ſich hin, als
Trud eintrat und einen Doppelleuchter vor ihn
auf den Tiſch ſtellte. Denn es dunkelte ſchon.
Sie waren kein plaudrig Ehepaar, und die
ſtummen Abende waren in ihrem Haufe zu Haufe;
heut aber ſtellte Trud allerlei Fragen, und Gerdt,
dem es unbehaglich war, erzählte ſchließlich von
dem, was die letzte Stunde gebracht hatte. Ueber
alles ging er raſch hinweg; nur als er an das
Wort „Erbe“ kam, konnt' er davon nicht los
und wiederholte ſich's zweimal, dreimal, und zwang
ſich zu lachen.
Trud aber, als er ſo ſprach, war an das
Fenſter getreten und klopfte mit ihren Nägeln
an die Scheiben, wie ſie zu thun pflegte, wenn
112
148 Grete Minde.
ſie zornig war. Endlich wandte ſie ſich wieder
und ſagte: „Und was glaubſt Du, was nun
geſchieht?!
„Was geſchieht? Ich weiß es nicht.“
„Aber ich weiß es. Meinſt Du, daß dieſe
Hexe ſich an die Landſtraße ſetzen und Dir zu
Liebe ſterben und verderben wird?! O, Gerdt,
Gerdt, es kann nicht gut thun. Ich hätt's ge—
durft, vielleicht gedurft, denn wir waren uns
fremd und feind von Anfang an. Aber Du!
Du durfteſt es nicht. Ein Unheil giebt's! Und
Du ſelber haſt es herauf beſchworen. Um guten
Namens willen, ſagſt Du? Geh,; ich kenn' Dich
beſſer. Aus Geiz und Habſucht und um Beſitz
und Goldes willen! Nichts weiter.“
Er ſprang auf und wollte heftig antworten,
denn ſo ſtumpf und gefügig er war, ſo zorn—
müthig war er, wenn an ſeinem Beſitz gerüttelt
wurde. Trud aber, uneingeſchüchtert, ſchnitt ihm
das Wort ab und ſagte: „Sprich nicht, Gerdt;
ich leſe Dir das ſchlechte Gewiſſen von der Stirn
herunter. Deine Mutter hat's eingebracht, ich
weiß es. Aber als die Span'ſche, Gott ſei's ge—
klagt, in unſer Haus kam, da hatte ſich's ver—
doppelt und aus eins war zwei geworden. Und
ſo Du's anders ſagſt, ſo lügſt Du. Sie hat ein
Grete Minde. 149
Erbe. Sieh nicht ſo täppiſch drein. Ich weiß
es, und ſo ſie's nicht empfängt, ſo wollen wir
ſehen, was von Deinem und Ihrem übrig bleibt.
Lehre mich ſie kennen. Ich hab' ihr in die
ſchwarzen Augen geſehen, öfter als Du. Ge—
zähmt, ſagſt Du? Nie, nie.“ Und ſie zog ihren
Knaben an ſich, der, während ſie ſprach, in's
Zimmer getreten war.
„Ihr ſprecht von der Frau;“ ſagte das Kind.
„Ich weiß. Sie hat mich bei der Hand nehmen
wollen. Drüben. Aber ich habe mich vor ihr
gefürchtet und von ihr losgeriſſen.“
19.
Grete vor Peter Guntz.
Grete war allem Anſcheine nach ruhig aus
dem Hauſe getreten; aber in ihrem Herzen jagte
ſich's wie Sturm und hundert Pläne ſchoſſen in
ihr auf und ſchwanden wieder, alle von dem
einen Verlangen eingegeben, ihrem Haß und
ihrer Rache genug zu thun. Und immer war es
Gerdt, den fie vor Augen hatte, nicht Trud;
und auf ſeinen Schultern ſtand ein rothes
Männlein mit einem rothen Hut und einer rothen
vielgezackten Fahne, das wollt' er abſchütteln; aber
150 Grete Minde.
er konnt' es nicht. Und ſie lachte vor ſich hin,
ganz laut, und nur in ihrem Innern klang es
leiſe: „Bin ich irr'?“
Unter ſolchen Bildern und Vorſtellungen war
ſie grad' über den Rathhausplatz hinaus, als ſie
plötzlich, wie von einem Lichtſcheine geblendet, ſich
wieder umſah, und der halben Mondesſcheibe
gewahr wurde, die ſtill und friedlich, als regiere
ſie dieſe Stunde, über dem Giebelfelde des Rath—
hauſes ſtand. Und ſie ſah hinauf und ihr war,
als lege ſich ihr eine Hand beruhigend auf das
Herz. „Es ſoll mir ein Zeichen ſein“, ſagte ſie.
„Vor den Rath will ich es bringen; der ſoll
mich aufrichten . . . . Nein, nicht aufrichten. Richten
ſoll er. Ich will nicht Troſt und Gnade von
Menſchenmund und Menſchenhand, aber mein
Recht will ich, mein Recht gegen ihn, der ſich
und ſeiner Seelen Seligkeit dem Teufel ver⸗
ſchrieben hat. Denn der Geiz iſt der Teufel.“
Und ſie wiederholte ſich's, und grüßte mit ihrer
Hand zu der Mondesſcheibe hinauf.
Dann aber wandte ſie ſich wieder und ging
auf das Thor und die Vorſtadt zu.
Draußen angekommen, ſetzte ſie ſich zu den
Gäſten, und ſprach mit ihnen und bat um etwas
Milch. Als ihr dieſe gebracht worden, verab—
Grete Minde. 151
ſchiedete fie ſich raſch und ſtieg in die Boden—
kammer hinauf, darin ihr die Wirthin ein Bett
und eine Wiege geſtellt hatte. Und todtmüde von
den Anſtrengungen des Tags warf ſie ſich nieder
und ſchlief ein. Bis um Mitternacht, wo das
Kind unruhig zu werden anfing. Sie hörte ſein
Wimmern und nahm es auf, und als ſie's geſtillt
und wieder eingewiegt, öffnete ſie das Fenſter,
das den Blick auf die Vorſtadts⸗Gärten und da⸗
hinter auf weite, weite Stoppelfelder hatte. Der
Mond war unter, aber die Sterne glitzerten in
beinah' winterlicher Pracht, und ſie ſah hinauf
in den goldenen Reigen und ſtreckte beide Hände
danach aus. „Gott erbarme Dich mein!“ Und
ſie kniete nieder und küßte das Kind. Und ihren
Kopf auf dem Kiſſen und ihre rechte Hand über
die Wiege gelegt, ſo fand ſie die Wirthin, als
ſie bei Tagesanbruch eintrat, um ſie zu wecken.
Der Schlaf hatte ſie geſtärkt, und noch
einmal fiel es wie Licht und Hoffnung in ihr
umdunkeltes Gemüth, ja, ein friſcher Muth kam
ihr, an den ſie ſelber nicht mehr geglaubt hatte.
Jeder im Rathe kannte ſie ja, und der alte Peter
Guntz war ihres Vaters Freund geweſen. Und
Gerdt? der hatte keinen Anhang und keine Liebe.
Das wußte ſie von alten und neuen Zeiten her.
152 Grete Minde.
Und ſie nahm einen Imbiß und ſpielte mit dem
Kind und plauderte mit der Wirthin, und auf
Augenblicke war es, als vergäße ſie, was ſie her—
geführt.
Aber nun ſchlug es elf von Sanct Stephan.
Das war die Stunde, wo die Rathmannen zu—
ſammen traten, und ſie brach auf und ſchritt raſch
auf das Thor zu, und wie geſtern die Lange
Straße hinauf.
Um das Rathhaus her war ein Gedränge.
Marktfrauen boten feil, und ſie ſah dem Treiben
zu. Ach, wie lange war es, daß ſie ſolchen Anblick
nicht gehabt und ſich ſeiner gefreut hatte! Und
ſie ging von Stand zu Stand und von Kram zu
Kram, um das halbe Rathhaus herum, bis ſie
zuletzt an die Rückwand kam, wo nur noch ein
paar einzelne Scharren ſtanden. In Höhe dieſer
war eine Steintafel in die Wand eingelaſſen, die
ſie früher an dieſer Stelle nie bemerkt hatte.
Und doch mußte ſie ſchon alt ſein, das ließ ſich
an dem graugrünen Moos und den altmodiſchen
Buchſtaben erkennen. Aber ſie waren noch deut—
lich zu leſen. Und ſie las:
Haſtu Gewalt, ſo richte recht,
Gott iſt Dein Herr und Du ſein Knecht;
Verlaß Dich nicht auf Dein Gewalt,
Dein Leben iſt hier bald gezahlt,
Grete Minde. 153
Wie Du zuvor haſt richtet mich,
Alſo wird Gott auch richten Dich;
Hier haſtu gerichtet nur kleine Zeit,
Dort wirſtu gerichtet in Ewigkeit.
„Wie ſchön!“ Und ſie las es immer wieder,
bis ſie jedes Wort auswendig wußte. Dann aber
ging fie raſch um die zweite Hälfte des Rath⸗
hauſes herum, und ſtieg die Freitreppe hinauf,
die, mit einer kleinen Biegung nach links, un-
mittelbar in den Sitzungsſaal führte.
Es war derſelbe Saal, in dem, zu Beginn
unſerer Erzählung, die Puppenſpieler geſpielt und
das verhängnißvolle Feuerwerk abgebrannt hatten.
Aber ſtatt der vielen Bänke ſtand jetzt nur ein
einziger langer Tiſch inmitten deſſelben, und um
den Tiſch her, über den eine herunterhängende
grüne Decke gebreitet war, ſaßen Burgemeiſter
und Rath. Zuoberſt Peter Guntz, und zu beiden
Seiten neben ihm: Caspar Helmreich, Joachim
Lemm, Chriſtoph Thone, Jürgen Lindſtedt, und
drei, vier andere noch. Nur Rathsherr Zernitz
hatte ſich mit Krankheit entſchuldigen laſſen. An
der andern Schmalſeite des Tiſches aber wiegte
ſich Gerdt auf feinem Stuhl, daſſelbe Aeten—
bündel in Händen, in dem er geſtern geleſen hatte.
Er verfärbte ſich jetzt und ſenkte den Blick,
als er ſeine Schweſter eintreten ſah, und aus
154 Grete Minde.
allem war erſichtlich, daß er eine Begegnung an
dieſer Stelle nicht erwartet hatte. Grete ſah es
und trat an den Tiſch und ſagte: „Grüß Euch
Gott, Peter Guntz. Ihr kennt mich nicht mehr;
aber ich kenn' Euch. Ich bin Grete Minde, Jacob
Minde's einzige Tochter.“
Alle ſahen betroffen auf, erſt auf Grete,
dann auf Gerdt, und nur der alte Peter Guntz
ſelbſt, der ſo viel geſehen und erlebt hatte, daß
ihn nichts mehr verwunderſam bedünkte, zeigte
keine Betroffenheit und ſagte freundlich: „Ich
kenn' Dich wohl. Armes Kind. Was bringſt Du,
Grete? Was führt Dich her?“
„Ich komm', um zu klagen wider meinen
Bruder Gerdt, der mir mein Erbe weigert. Und
deſſen, denk ich, hat er kein Recht. Ich kam in
dieſe Stadt, um wieder gut zu machen, was ich
gefehlt, und wollte dienen und arbeiten, und
bitten und beten. Und das alles um dieſes
meines Kindes willen. Aber Gerdt Minde hat
mich von ſeiner Schwelle gewieſen; er mißtraut
mir; und vielleicht, daß er's darf. Denn ich
weiß es wohl, was ich war und was ich bin.
Aber wenn ich kein Recht hab' an ſein brüderlich
Herz, jo hab' ich doch ein Recht an mein väter-
lich Gut. Und dazu, Peter Guntz, und ihr
Grete Minde. | 155
andern Herren vom Rath, ſollt ihr mir willfährig
und behülflich ſein.“
Peter Guntz als Grete geendet, wandte ſich
an Gerdt und ſagte: „Ihr habt die Klage gehört,
Rathsherr Minde. Iſt es, wie ſie ſagt? Oder
was habt Ihr dagegen vorzubringen.“ |
Es iſt nicht, wie fie ſagt,“ erhob ſich Gerdt
von ſeinem Stuhl. „Ihre Mutter war einer
armen Frauen Kind, Ihr wiſſet all' wes Landes
und Glaubens, und kam ohne Mitgift in unſer
Haus.“ e
„Ich weiß.“
„Ihr wißt es. Und doch ſoll ich ſprechen,
wo mir zu ſchweigen ziemlicher wär'. Aber Euer
Anſinnen läſſet mir keine Wahl. Und ſo höret
denn. Jacob Minde, mein Vater, ſo klug er
war, ſo wenig umſichtig war er. Und ſo zeigte
ſich's von Jugend auf. Er hatte keine glückliche
Hand in Geſchäften und ging doch gern in's
Große, wie die Lübiſchen thun und die Flan⸗
driſchen. Aber das trug unſer Haus nicht. Und
als ihm zwei Schiffe ſcheiterten, da war er ſelbſt
am Scheitern. Und um dieſe Zeit war es, daß
er meine Mutter heimführte, von Stendal her,
Baldewin Rickhart's einzige Tochter. Und mit
ihr kam ein Vermögen in unſer Haus. ..“
156 Grete Minde.
„Mit dem Euer Vater wirthſchaftete.“
„Aber nicht zu Segen und Vortheil. Und
ich habe mich mühen müſſen und muß es noch,
um alte Mißwirthſchaft in neue Gutewirthſchaft
zu verkehren, und alles was ich mein nenne, bis
dieſe Stunde, reicht nicht heran an das Einge—
brachte von den Stendal'ſchen Rickhart's her.“
„Und dies ſagt Ihr an Eides ſtatt, Raths—
herr Minde!“
„Ja, Peter Guntz.“
„Dann, ſo ſich nicht Widerſpruch .
weiſ' ich Dich ab mit Deiner Klage. Das iſt
Tangermündiſch Recht. Aber eh' ich Dich, Grete
Minde, die Du zu Spruch und Beiſtand uns
angerufen haft, aus dieſem unſerem Gericht ent—
laſſe, frag' ich Dich, Gerdt Minde, ob Du Dein
Recht brauchen und behaupten, oder nicht aus
chriſtlicher Barmherzigkeit von ihm ablaſſen willſt.
Denn ſie, die hier vor Dir ſteht iſt Deines
Vaters Kind und Deine Schweſter.“
„Meines Vaters Kind, Peter Guntz, aber
nicht meine Schweſter. Damit iſt es nun vor⸗
bei. Sie fuhr hoch, als ſie noch mit uns war;
nun fährt ſie niedrig, und ſteht vor Euch und
mir, und birgt ihr Kind unterm Mantel. Fragt
ſie, wo ſie's her hat? Am Wege hat ſie's ge—
Grete Minde. 157
boren. Und ich habe nichts gemein mit Weibern,
die zwiſchen Hed’ und Graben ihr Feuer zünden
und ihre Lagerſtatt beziehn. Unglück? Wer's
glaubt. Sie hat's gewollt. Kein falſch Er⸗
barmen, liebe Herren. Wie wir uns betten, ſo
liegen wir.“
Grete, während ihr Bruder ſprach, hatte
das Kind aus ihrem Mantel genommen und es
feſt an ſich gepreßt. Jetzt hob ſie's in die
Höh', wie zum Zeichen, daß ſie's nicht verheim—
lichen wolle. Und nun erſt ſchritt fie dem Aus⸗
gange zu. Hier wandte ſie ſich noch einmal
und ſagte ruhig und mit tonloſer Stimme:
„Verlaß Dich nicht auf Dein Gewalt,
Dein Leben iſt hier bald gezahlt,
Wie Du zuvor haft richtet mich,
Alſo wird Gott auch richten Dich —“
und verneigte ſich und ging.
Die Rathsherren, deren anfängliche Neugier
und Theilnahme raſch hingeſchwunden war, ſahen
ihr nach, einige hart und ſpöttiſch, andere gleich—
gültig.
Nur Peter Guntz war in Sorg' und Unruh'
über das Urtel, das er hatte ſprechen müſſen.
„Ein unbillig Recht, ein todtes Recht.“ Und er
hob die Sitzung auf und ging ohne Gruß und
Verneigung an Gerdt Minde vorüber.
*
158 Grete Minde.
20.
Hier haſtu gerichtet nur kleine Zeit,
Dort wirſtu gerichtet in Ewigkeit.
Grete war die Treppe langſam hinabge—
ſtiegen. Das Markttreiben unten dauerte noch
fort, aber ſie ſah es nicht mehr; als ſie den
Platz hinter ſich hatte, richtete ſie ſich auf, wie
von einem wirr⸗phantaſtiſchen Hoheitsgefühl er⸗
griffen. Sie war keine Bettlerin mehr, auch
keine Bittende; nein; ihr gehörte dieſe Stadt,
ihr. Und ſo ſchritt ſie die Straße hinunter auf
das Thor zu.
Aber angeſichts des Thores bog ſie nach
links hin in eine Scheunengaſſe und gleich da—
hinter in einen ſchmalen, grasüberwachſenen Weg
ein, der, zwiſchen der Mauer und den Gärten
hin, im Zirkel um die Stadt lief. Hier durfte
ſie ſicher ſein, Niemandem zu begegnen, und als
ſie bei der Minde'ſchen Gartenpforte war, blieb
ſie ſtehen. Erinnerungen kamen ihr, Erinnerun—
gen an ihn, der jetzt auf dem Kloſterkirchhof
ſchlief, und ihr ſchönes Menſchenantlitz verklärte
ſich noch einmal unter flüchtiger Einkehr in alte
Zeit und altes Glück. Aber dann ſchwand es
wieder, und jener ſtarr- unheimliche Zug war
Grete Minde. 159
wieder da, der über die Trübungen ihrer Seele
keinen Zweifel ließ. Es war ihr mehr auferlegt
worden, als ſie tragen konnte, und das Zeichen,
von dem Domina geſprochen, heut hätt es jeder
geſehen. Und nun legte ſie die Hand auf die
roſtige Klinke, drückte die Thür auf und zu, und
ſah, ihren Vorſtellungen nachhhängend, auf die
hohen Dächer und Giebel, die von drei Seiten
her das geſammte Hof- und Gartenviereck dieſes
Stadttheils umſtanden. Einer dieſer Giebel war
der Rathhausgiebel, jetzt ſchwarz und glaſig, und
hinter dem Giebel ſtand ein dickes Gewölk. Zu⸗
gleich fühlte ſie, daß eine ſchwere, feuchte Luft
zog; Windſtöße fuhren dazwiſchen, und ſie hörte
wie das Obſt von den Bäumen fiel. Ueber die
Stadt hin aber, von Sanct Stephan her, flogen
die Dohlen, unruhig als ob ſie nach einem andren
Platze ſuchten und ihn nicht finden könnten. Grete
ſah es alles. Und ſie ſog die feuchte Luft ein
und ging weiter. Ihr war ſo frei.
Als ſie das zweite Mal ihren Zirkelgang
gemacht und wieder das Thor und ſeinen inneren
Vorplatz erreicht hatte, verlangte ſie's nach einer
kurzen Raſt. Eine von den Scheunen, die mit
dem Vorplatz grenzte, dünkte ihr am bequemſten
dazu. Das Dach war ſchadhaft und die Lehm—
160 Grete Minde.
füllung an vielen Stellen aus dem Fachwerk
herausgeſchlagen. Und ſie bückte ſich und ſchlüpfte
durch eines dieſer Löcher in die Scheune hinein.
Dieſe war nur halb angefüllt, zumeiſt mit Stroh
und Werg, und wo der Firſt eingedrückt war,
hing die Dachung in langen Wiepen herunter.
Sie ſetzte ſich in den Werg, als wolle ſie ſchlafen.
Aber ſie ſchlief nicht, von Zeit zu Zeit vielmehr
erhob ſie ſich, um unter das offene Dach zu
treten, wo der Himmel finſter-wolkig und dann
wieder in heller Tagesbläue hereinſah. Endlich
aber blieb die Helle fort, und ſie wußte nun,
daß es wirklich Abend geworden. Und darauf
hatte ſie gewartet. Sie bückte ſich und tappte
nach ihrem Bündel, das ſie bei Seite gelegt, und
als ſie's gefunden und ſich wieder aufgerichtet
hatte, gab es in dem Dunkel einen blaſſen, bläu-
lichen Schein, wie wenn ſie einen langen Feuer-
faden in ihrer Hand halte. Und nun ließ ſie
den Faden fallen, und kroch, ohne ſich umzuſehen,
aus der Fachwerk-Oeffnung wieder in's Freie
hinaus.
Wohin? In die Stadt? Dazu war es
noch zu früh, und ſo ſuchte ſie nach einem ſchon
vorher von ihr bemerkten, aus Ziegel und Feld—
ſtein aufgemauerten Treppenſtück, das von der
Grete Minde. 161
Innenſeite der Stadtmauer her, in einen alten,
längſt abgetragenen Feſtungsthurm hinaufführte.
Und jetzt hatte ſie das Treppenſtück gefunden.
Es war ſchmal und bröcklich, und einige Stufen
fehlten ganz; aber Grete, wie nachtwandelnd,
ſtieg die ſonderbare Leiter mit Leichtigkeit hinauf,
ſetzte ſich auf die loſen Steine und lehnte ſich an
einen Berberitzenſtrauch, der hier oben auf der
Mauer aufgewachſen war. So ſaß fie und war-
tete; lange; aber es kam keine Ungeduld über ſie.
Endlich drängte ſich ein ſchwarzer Qualm aus
der Dachöffnung und im nächſten Augenblick lief
es in rothen Funken über den Firſt hin und
alles Holz- und Sparrenwerk kniſterte auf, als
ob Reiſig von den Flammen gefaßt worden wäre.
Dazu wuchs der Wind, und wie aus einem zu—
gigen Schlot heraus, fuhren jetzt die brennenden
Wergflocken in die Luft. Einige fielen ſeitwärts
auf die Nachbarſcheunen nieder, andre aber trieb
der Nordweſter vorwärts auf die Stadt und eh
eine Viertelſtunde um war, ſchlug an zwanzig
Stellen das Feuer auf und von allen Kirchen
her begann das Stürmen der Glocken. „Das
it Sanct Stephan,“ jubelte Grete, und dazwiſchen,
in wirrem Wechſel, ſummte ſie Kinderlieder vor
ſich hin und rief in ſchrillem Ton und mit er-
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 113
162 Grete Minde.
hobener Hand in die Stadt hinein; „Verlaß
Dich nicht auf Dein' Gewalt.“ Und dann folgte
ſie wieder den Glocken, nah und fern, und mühte
ſich den Ton jeder einzelnen herauszuhören. Und
wenn ihr Zweifel kamen, ſo ſtritt ſie mit ſich
ſelbſt und ſprach zu Gunſten dieſer und jener,
und wurde wie heftig in ihrem Streit. Endlich
aber ſchwiegen alle, auch Sanct Stephan ſchwieg,
und Grete, das Kind aufnehmend, das ſie neben
ſich in das Mauergras gelegt hatte, ſagte: „Nun
iſt es Zeit.“ Und ſicher, wie ſie die Treppe
hinaufgeſtiegen, ſtieg ſie dieſelbe wieder hinab,
und nahm ihren Weg, an den brennenden Scheu—
nen entlang, auf die Hauptſtraße zu.
Hunderte, von Furcht um Gut und Leben
gequält, rannten an ihr vorüber, aber niemand
achtete der Frau, und ſo kam ſie bis an das
Minde'ſche Haus und ſtellte ſich demſelben gegen-
über, an eben die Stelle, wo ſie geſtern geſtanden
hatte.
Gerdt konnte nicht zu Hauſe ſein, alles war
dunkel; aber an einem der Fenſter erkannte ſie Trud
und neben ihr den Knaben, der, auf einen Stuhl
geſtiegen, in gleicher Höhe mit ſeiner Mutter
ſtand. Beide wie Schattenbilder und allein.
Das war es, was ſie wollte. Sie paſſirte ruhig
Grete Minde. 163
den Damm, danach die Thür und den langen
Flur, und trat zuletzt in die Küche, darin ſie
jedes Winkelchen kannte. Hier nahm ſie von
dem Brett, auf dem wie früher die Zinn⸗ und
Meſſingleuchter ſtanden, einen Blaker und fuhr
damit in der Gluth-Aſche des Herdes umher.
Und nun tropfte das Licht und brannte hell und
groß, viel zu groß, als daß der Zugwind es
wieder hätte löſchen können. Und ſo ging ſie
den Flur zurück, bis vorn an die Thür und
öffnete raſch und wandte ſich auf das Fenſter zu,
von dem aus Trud und ihr Kind nach wie vor
auf die Straße hinaus ſtarrten. Und jetzt ſtand
ſie zwiſchen Beiden. „Um Gottes Barmherzigkeit
willen,“ ſchrie Trud, und ſank bei dem Anblick
der in vollem Irrſinn vor ihr Stehenden ohn—
mächtig in den Stuhl. Und dabei ließ ſie den
Knaben los, den fie bis dahin angſt- und ahnungs—
voll an ihrer Hand gehalten hatte. „Komm,“
ſagte Grete, während ſie das Licht auf die Fenſter⸗
brüſtung ſtellte. Und ſie riß den Knaben mit
ſich fort, über Flur und Hof hin, und bis in den
Garten hinein. Er ſchrie nicht mehr, er zitterte
nur noch. Und nun warf ſie die Gartenthür
wieder in's Schloß und eilte, den Knaben an
ihrer Hand, ihr eigenes Kind unterm Mantel,
113 *
164 Grete Minde.
an der Stadtmauer entlang auf Sanct Stephan
zu. Hier, wie ſie's erwartet, hatte das Stürmen
längſt aufgehört, Glöckner und Meßner waren
fort, und unbehelligt und unaufgehalten ſtieg ſie
vom Unterbau des Thurmes her in den Thurm
ſelbſt hinauf; erſt eine Wendeltreppe, danach ein
Geflecht von Leitern, das hoch oben in den
Glockenſtuhl einmündete. Als die vorderſten
Sproſſen kamen, wollte das Kind nicht weiter,
aber ſie zwang es und ſchob es vor ſich her.
Und nun war ſie ſelber oben und zog die letzte
Leiter nach. Um ſie her hingen die großen
Glocken, und ſummten leiſe, wenn ſie den Rand
derſelben berührte. Und nun trat ſie raſch an
die Schalllöcher, die nach der Stadtſeite hin
lagen und ſtieß die hölzernen Läden auf, die ſo—
fort vom Winde gefaßt und an die Wand ge—
preßt wurden. Ein Feuermeer unten die ganze
Stadt; Vernichtung an allen Ecken und Enden,
und dazwiſchen ein Rennen und Schreien, und
dann wieder die Stille des Todes. Und jetzt
fielen einige der vom Winde heraufgewirbelten
Feuerflocken auf das Schindeldach ihr zu Häupten
nieder, und ſie ſah wie ſich vom Platz aus Aller
Blicke nach der Höhe des Thurmes und nach ihr
ſelber richteten. Unter denen aber, die hinauf—
n nnen
Grete Minde. 165
wieſen, war auch Gerdt. Den hatte ſie mit ihrer
ganzen Seele geſucht, und jetzt packte ſie ſeinen
Knaben und hob ihn auf das Lukengebälk, daß
er frei daſtand und im Wiederſcheine des Feuers
von unten her in aller Deutlichkeit geſehen werden
konnte. Und Gerdt ſah ihn wirklich und brach
in die Knie und ſchrie um Hülfe, und Alles um
ihn her vergaß der eigenen Noth und drängte
dem Portal der Kirche zu. Aber ehe noch die
Vorderſten es erreichen oder gar die Stufen der
Wendeltreppe gewinnen konnten, ſtürzte die
Schindeldecke praſſelnd zuſammen, und das Ge—
bälk zerbrach, an dem die Glocken hingen, und
Alles ging niederwärts in die Tiefe.
15 x
*
Den Tag danach ſaßen Ilſe Schulenburg
und die Domina wieder an der Epheuwand ihres
Hauſes, und alles war wie ſonſt. Die Fenſter
ſtanden auf, und das Feuer brannte drinnen im
Kamin, und der Spitzkopf des großen Wolfs—
hundes ſah wieder wartend zu ſeiner Herrin auf.
Von jenſeit des Sees aber klang die Glocke, die
zu Mittag läutete.
Um dieſe Stunde war es, daß ein Bote vom
altmärkiſchen Landeshauptmann, Achaz von der
Schulenburg, gemeldet wurde, der, ein Groß—
3066 -: . Grete Minde.
oheim Ilſens, das Kloſter zu ſchneller Hülfe—
leiſtung und zu Bethätigung ſeiner frommen und
freundnachbarlichen Geſinnungen auffordern ließ.
Ilſe ging dem Boten entgegen und gab ihm
Antwort und Zuſage. Dann kehrte ſie zu der
Domina zurück.
„Was war es!“ fragte dieſe.
„Ein Bote vom Landeshauptmann.“
„Gute Nachricht?“
„Nein, böſe. Tangermünde liegt in Aſche.“
„Und Grete?“ |
„Mit unter den Trümmern.“
„Armes Kind . . .. St heute der dritte
Tag . . .. Ich wußt' es..“
So ging ihr Geſpräch.
*
*
Am Abend aber gaben die Puppenſpieler
den „Sündenfall.“ Der Saal war gefüllt und
der Beifall groß. Niemand achtete des Wechſels,
der in Beſetzung der Rollen ſtattgefunden hatte.
Zenobia ſpielte den Engel.
*
1:
Heiligabend,
We war Weihnachten 1812, heiliger Abend.
Einzelne Schneeflocken fielen und legten ſich auf
die weiße Decke, die ſchon ſeit Tagen in den
Straßen der Hauptſtadt lag. Die Laternen, die
an lang ausgeſpannten Ketten hingen, gaben nur
ſpärliches Licht; in den Häuſern aber wurde es
von Minute zu Minute heller und der „heilige
Chriſt,“ der hier und dort ſchon einzuziehen be—
gann, warf ſeinen Glanz auch in das draußen
liegende Dunkel.
So war es auch in der Kloſterſtraße. Die
„Singuhr“ der Parochialkirche ſetzte eben ein,
um die erſten Takte i es Liedes zu ſpielen, als
ein Schlitten aus dem Gaſthof zum grünen Baum
herausfuhr und gleich darauf ſchräg gegen—
über vor einem zweiſtöckigen Hauſe hielt, deſſen
170 Bor dem Sturm.
hohes Dach noch eine Manſardenwohnung trug.
Der Kutſcher des Schlittens, in einem abge—
tragenen, aber mit drei Kragen ausſtaffirten
Mantel, beugte ſich vor und ſah nach den oberſten
Fenſtern hinauf; als er jedoch wahrnahm, daß
alles ruhig blieb, ſtieg er von ſeinem Sitz,
ſträngte die Pferde ab und ſchritt auf das Haus
zu, um durch die halb offen ſtehende Thür in
dem dunklen Flur deſſelben zu verſchwinden. Wer
ihm dahin gefolgt wäre, hätte nothwendig das
ſtufenweiſe Stapfen und Stoßen hören müſſen,
mit dem er ſich, vorſichtig und ungeſchickt, die
drei Treppen hinauffühlte.
Der Schlitten, eine einfache Schleife, auf
der ein mit einem ſogenannten „Plan“ über—
ſpannter Korbwagen befeſtigt war, ſtand all die
Zeit über ruhig auf dem Fahrdamm, hart an
der Oeffnung einer hier aufgeſchütteten Schnee—
mauer. Der Korbwagen ſelbſt, muthmaßlich um
mehr Wärme und Bequemlichkeit zu geben, war
nach hinten zu, bis an die Plandecke hinauf, mit
Stroh gefüllt; vorn lag ein Häckſelſack, gerade
breit genug, um zwei Perſonen Platz zu gönnen.
Alles ſo primitiv wie möglich. Auch die Pferde
waren unſcheinbar genug, kleine Ponies, die
gerade jetzt in ihrem winterlich rauhen Haar un—
Hor dem Sturm. 171
geputzt und dadurch ziemlich vernachläſſigt aus—
ſahen. Aber wie immer auch, die ruſſiſchen
Sielen, dazu das Schellengeläut, das auf roth
eingefaßten breiten Ledergurten über den Rücken
der Pferde hing, ließen keinen Zweifel darüber,
daß das Fuhrwerk aus einem guten Hauſe ſei.
So, waren fünf Minuten vergangen oder
mehr, als es auf dem Flur hell wurde. Eine
Alte in einer weißen Nachthaube, das Licht mit
der Hand ſchützend, ſtreckte den Kopf neugierig
in die Straße hinaus; dann kam der Kutſcher
mit Mantelſack und Pappkarton; hinter dieſem,
den Schluß bildend, ein hochaufgeſchoſſener junger
Mann von leichter vornehmer Haltung. Er trug
eine Jagdmütze, kurzen Rock und war in ſeiner
ganzen Oberhälfte unwinterlich gekleidet. Nur
ſeine Füße ſteckten in hohen Filzſtiefeln. „Frohe
Feiertage, Frau Hulen,“ damit reichte er der
Alten die Hand, ſtieg auf die Deichſel und nahm
Platz neben dem Kutſcher. „Nun vorwärts,
Kriſt; Mitternacht find wir in Hohen-Vietz.
Das iſt recht, daß Papa die Ponies geſchickt hat.“
Die Pferde zogen an und verſuchten es,
ihrer Natur nach, in einen leichten Trab zu
fallen; aber erſt als ſie die Königsſtraße mit
ihrem Weihnachtsgedränge und Waldteufelgebrumm
172 Hor dem Sturm.
im Rücken hatten, ging es in immer raſcherem
Tempo die Landsberger Straße entlang und
endlich unter immer munterer werdendem Schellen—
geläut zum Frankfurter Thore hinaus.
Draußen umfing ſie Nacht und Stille; der
Himmel klärte ſich und die erſten Sterne traten
hervor. Ein leiſer aber ſcharfer Oſtwind fuhr
über das Schneefeld und der Held unſerer Ge⸗
ſchichte, Lewin von Vitzewitz, der ſeinem väter-
lichen Gute Hohen-Vietz zufuhr, um die Weih—
nachtsfeiertage daſelbſt zu verbringen, wandte ſich
jetzt, mit einem Anflug von märkiſchem Dialekt,
an den neben ihm ſitzenden Gefährten. „Nun,
Kriſt, wie wär' es? Wir müſſen wohl einheizen.“
Dabei legte er Daumen und Zeigefinger ans
Kinn und paffte mit den Lippen. Dies „wir“
war nur eine Vertraulichkeitswendung; Lewin
ſelbſt rauchte nicht. Kriſt aber, der von dem
Augenblick an, wo ſie die Stadt im Rücken
hatten, dieſe Aufforderung erwartet haben mochte,
legte ohne Weiteres die Leinen in die Hand ſeines
jungen Herrn und fuhr in die Manteltaſche, erſt
um eine kurze Pfeife mit bleiernem Abguß, dann
um ein neues Paket Tabak daraus hervor—
zuholen. Er nahm beides zwiſchen die Kniee,
öffnete das mit braunem Lack geſiegelte Paket,
Hor dem Sturm. 173
ſtopfte und begann dann mit derſelben langſamen
Sorglichkeit nach Stahl und Schwamm zu ſuchen.
Endlich brannte es; er that, indem er wieder die
Leine nahm, die erſten Züge und während jetzt
kleine Funken aus dem Drahtdeckel hervor—
ſprühten, ging es auf Friedrichsfelde zu, deſſen
Lichter ihnen über das weiße Feld her entgegen
ſchienen.
Das Dorf lag bald hinter ihnen. Lewin,
der ſich's inzwiſchen bequem gemacht und durch
feſteren Aufbau einiger Strohbündel eine Rücken-
lehne hergerichtet hatte, ſchien jetzt in der Stim—
mung, eine Unterhaltung aufzunehmen. Ehe des
Kutſchers Pfeife brannte, wär' es ohnehin nicht
räthlich geweſen.
„Nichts neues, Kriſt?“ begann Lewin, indem
er ſich feſter in die Strohpolſter drückte. „Was
macht Willem, mein Päth?“
„Dank ſchön, junger Herr, he is ja nu wedder
bi Weg.“
„Was war ihm denn?“
„He hett' ſich verfiert. Un noch dato an
ſinen Gebortsdag. Et is nu en Wochner drei;
ja, up'n Dag hüt, drei Wochen. DM Doktor
Leiſt von Lebus hett'em aber wedder to recht
bracht.“
174 Vor dem Sturm.
„Er hat ſich verfiert?“
„Ja, junger Herr, ſo glöwen wi all'. Et
wihr wol ſo um de fiefte Stunn' as mine Fru
ſeggen däd: Willem geih, un hol uns en paar
Aeppels, awers von de Renetten up'n Stroh,
dicht bi de Bohnenſtakens. Un unſ' Lütt-Willen:
ging boch, un ick hürt'em noch flüten un fingen
un dat Klapſen von ſine Pantinen ümmer den
Floor lang. Awer dunn hürt ick nix mihr, un
as he nu an de olle wackel'ſche Döör käm un in
den groten Saal rinnwull, wo unſ' Aeppels
liggen un wo de Lüt' ſeggen, dat de oll' Matthias
ſpöken deiht, da möt' em wat paſſirt ſinn. He
käm nich un käm nich; un as ick nu nahjung un
ſehn wull, wo he bliwen däd, da läg he, glieks
achter de Schwell, as dod up de Flieſen.“
„Das arme Kind! Und Eure Frau. . ..“
„De käm boch, un wi drögen em nu torügg
in unſe Stuv' un rewen em in. Mine Fru hätt
ümmer en beten Miren-Spiritus to Huus. As
he nu wedder to ſich käm, biwwerte em de janze lütte
Liew un he ſeggte man ümmer: „Ick hebb' em ſehn.“
Lewin hatte ſich zurecht gerückt. „Es geht
alſo wieder beſſer,“ warf er hin, und wie um
los zu kommen von allerhand Bildern und Ge—
danken, die des Kutſchers Erzählung in ihm an—
r
Sad 4
Bor dem Sturm. 175
geregt hatte, fuhr er hin und her in Erkundigungen,
worauf Kriſt mit ſo viel Ausführlichkeit ant⸗
wortete, wie ihm die Raſchheit der Fragen ge—
ſtattete. Dem Schulzen Kniehaſe war einer von
ſeinen Braunen gefallen; bei Hoppen-Marieken
hatte der Schornſtein gebrannt; bei Wittwe
Gräbſchen hatte Nachtwächter Pachaly einen mittel
großen Sarg, mit einem Myrthenkranz darauf,
vor der Hausthür ſtehn ſehn „un wihl et man
en mittelſcher Sarg weſt wihr, ſo hedden ſe
all' an de Jüngſcht', an Hanne Gräbſchen dacht.
De is man kleen, und piept all lang.“
Die Sterne traten immer zahlreicher hervor.
Lewin lupfte die Kappe, um ſich die Stirn von
der friſchen Winterluft anwehen zu laſſen und
ſah ſtaunend und andächtig in den funkelnden
Himmel hinauf. Es war ihm, als fielen alle
dunklen Geſchicke, das Erbtheil ſeines Hauſes,
von ihm ab, und als zöge es lichter und heller
von oben her in ſeine Seele. Er athmete auf.
Zwei, drei Schlitten flogen vorüber, grüßten und
ſangen, ſichtlich Gäſte, die im Nebendorf die Be—
ſcheerung nicht verſäumen wollten; dann, ehe fünf
Minuten um waren, glitt das Gefährt unſerer
zwei Freunde unter den Giebelvorbau des Bohls—
dorfer Kruges.
176 Vor dem Sturm.
Bohlsdorf war drittel Weg. Niemand kam.
An den Fenſtern zeigte ſich kein Licht; die Krügers⸗
leute mußten in den Hinterſtuben ſein und das
Vorfahren des Schlittens, trotz ſeines Schellen—
geläutes, überhört haben. Kriſt nahm wenig Notiz
davon. Er ſtieg ab, holte eine der Stehkrippen
heran, die beſchneit an dem Hofzaun entlang
ſtanden und ſchüttete den Pferden ihren Hafer ein.
Auch Lewin war abgeſtiegen. Er ſtampfte
ein paarmal in den Schnee, wie um das Blut
wieder in Umlauf zu bringen und trat dann in
die Gaſtſtube, um ſich zu wärmen und einen
Imbiß zu nehmen. Drinnen war alles leer und
dunkel; hinter dem Schenktiſch aber, wo drei
Stufen zu einem höher gelegenen Alkoven führten,
blitzte der Chriſtbaum von Lichtern und goldenen
Ketten. In dieſem Weihnachtsbilde, das der enge
Thürrahmen einfaßte, ſtand die Krügersfrau in
Mieder und rothem Friesrock und hatte einen
Blondkopf auf dem Arm, der nach den Lichtern
des Baumes langte. Der Krüger ſelbſt ſtand
neben ihr und ſah auf das Glück, das ihm das
Leben und dieſer Tag beſcheert hatten.
Lewin war ergriffen von dem Bilde, das
faſt wie eine Erſcheinung auf ihn wirkte. Leiſer
als er eingetreten war, zog er ſich wieder zurück
Bor dem Sturm. 177
und trat auf die Dorfſtraße. Gegenüber dem
Kruge, von einer Feldſteinmauer eingefaßt, lag
die Bohlsdorfer Kirche, ein alter Ciſtercienſer
Bau aus den Tagen der erſten Koloniſation. Es
klang deutlich von drüben her, als würde die
Orgel geſpielt, und Lewin, während er noch auf—
horchte, bemerkte zugleich, daß eines der kleinen,
in halber Wandhöhe hinlaufenden Rundbogenfenſter
matt erleuchtet war. Neugierig, ob er ſich täuſchte
oder nicht, ſtieg er über die niedrige Steinmauer
fort und ſchritt, zwiſchen den Gräbern hin, auf
die Längswand der Kirche zu. Ziemlich inmitten
dieſer Wand bemerkte er eine Pforte, die nur
eingeklinkt aber nicht geſchloſſen war. Er öffnete
- leife und trat ein. Es war, wie er vermuthet
hatte. Ein alter Mann, mit Sammtkäpſel und
ſpärlichem weißen Haar, ſaß vor der Orgel,
während ein Lichtſtümpfchen neben ihm eine
kümmerliche Beleuchtung gab. In ſein Orgelſpiel
vertieft, bemerkte er nicht, daß jemand eingetreten
war und feierlichen aber gedämpften Tones
klangen die Weihnachtsmelodieen nach wie vor
durch die Kirche hin.
Uebte ſich der Alte für den kommenden Tag,
oder feierte er hier ſein Chriſtfeſt allein für ſich
mit Pſalmen und Choral? Lewin hatte ſich die
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 114
178 Bor dem Sturm.
Frage kaum geſtellt, als er, der Orgel gegenüber,
einen zweiten Lichtſchimmer wahrnahm; auf der
unterſten Stufe des Altars ſtand eine kleine
Hauslaterne. Als er näher trat, ſah er, daß
Frauenhände hier eben noch beſchäftigt geweſen
ſein mußten. Ein Handfeger lag da, daneben
eine kurze Stehleiter, die beiden Seitenhölzer
oben mit Tüchern ef Das Licht der
Laterne fiel auf zwei Grabſteine, die vor dem
Altar in die Flieſen eingelegt waren; der eine
zur Linken enthielt nur Namen und Datum, der
andere zur Rechten aber zeigte Bild und Spruch.
Zwei Lindenbäume neigten ihre Wipfel einander
zu, und darunter ſtanden Verſe, zehn oder zwölf
Zeilen. Nur die Zeilen der zweiten Strophe
waren noch deutlich erkennbar und lauteten:
Sie ſieht nun tauſend Lichter
Der Engel Angeſichter
Ihr treu zu Dienſten jtehn;
Sie ſchwingt die Siegesfahne
Auf güldnem Himmelsplane
Und kann auf Sternen gehn.
Lewin las zwei- dreimal, bis er die Strophe
auswendig wußte; die letzte Zeile namentlich hatte
einen tiefen Eindruck auf ihn gemacht, von dem
er ſich keine Rechenſchaft geben konnte.) Dann
ſah er ſich noch einmal in der ſeltſam erleuchteten
Bor dem Sturm. 179
Kirche um, deren Pfeiler und Chorſtühle ihn
ſchattenhaft umſtanden und kehrte, die Thüre leiſe
wieder anlehnend, erſt auf den Kirchhof, dann,
mit raſchem Sprung über die Mauer auf die
Dorfſtraße zurück.
Der Krug hatte indeſſen ein verändertes An-
ſehen gewonnen. In der Gaſtſtube war Licht;
Kriſt ſtand am Schenktiſch im eifrigen Geſpräch
mit dem Krüger, während die Frau, aus der
Küche kommend, ein Glas Kirſchpunſch auf den
Tiſch ſtellte. Sie plauderten noch eine Weile
auch über den alten Küſter drüben, der, ſeitdem
er Wittmann geworden, ſeinen heiligen Abend
mit Orgelſpiel zu feiern pflege; dann, unter
Händeſchütteln und Wünſchen für ein frohes Feſt,
wurde Abſchied genommen und an den ſtillen
Dorfhütten vorbei ging es weiter in die Nacht
hinein. 5
Lewin ſprach von den Krügersleuten, Kriſt
war ihres Lobes voll. Weniger wollt' er vom
Bohlsdorfer Amtmann wiſſen, am wenigſten vom
Petershagener Müller, an deſſen abgebrannter
Bockmühle ſie eben vorüberfuhren. Aus allem
ging hervor, daß Kriſt, der allwöchentlich dieſes
Weges kam, den Klatſch der Bierbänke zwiſchen
Berlin und Hohen-Vietz in treuem Gedächtniß
114*
180 Bor dem Sturm.
trug. Er wußte alles und ſchwieg erſt, als
Lewin immer ſtiller zu werden begann. Nur
kurze Anſprachen an die Ponies belebten noch den
Weg. Die regelmäßige Wiederkehr dieſer Anrufe,
das monotone Schellenläuten, das alsbald wie
von weit her zu klingen ſchien, legte ſich mehr
und mehr mit einſchläfernder Gewalt um die
Sinne unſeres Helden. Allerhand Geſtalten zogen
an ſeinem halbgeſchloſſenen Auge vorüber; aber
eine dieſer Geſtalten, die glänzendſte, nahm er
mit in ſeinen Traum. Er ſaß vor ihr auf einem
niedrigen Tabouret; ſie lachte ihn an und ſchlug
ihn leiſe mit dem Fächer, als er nach ihrer Hand
haſchte, um ſie zu küſſen. Hundert Lichter, die
ſich in ſchmalen Spiegeln ſpiegelten, brannten um
ſie her und vor ihnen lag ein großer Teppich,
auf dem Göttin Venus in ihrem Taubengeſpann
durch die Lüfte zog. Dann war es plötzlich, als
löſchten alle dieſe Lichter aus; nur zwei Stümpfchen
brannten noch; es war wie eine ſchattendurchhuſchte
Kirche und an der Stelle, wo der Teppich gelegen
hatte, lag ein Grabſtein, auf dem die Worte
ſtanden:
Sie ſchwingt die Siegesfahne
Auf güldnem Himmelsplane
Und kann auf Sternen gehn.
—
Bor dem Sturm. 181
Süß und ſchmerzlich, wie kurz vorher bei
wachen Sinnen ihn dieſe Worte berührt hatten,
berührten ſie ihn jetzt im Traum. Er wachte auf.
„Noch eine halbe Meile, junger Herr,“
ſagte Kriſt.
„Dann ſind wir in Dolgelin?“
„Nein, in Hohen-⸗Vietz.“
„Da hab' ich feſt geſchlafen.“
„Dritthalb Stunn'.“
Das erſte, was Lewin wahrnahm, war die
Sorglichkeit, mit der ſich der alte Kutſcher
mittlerweile um ihn bemüht hatte. Der Yutter-
ſack war ihm unter die Füße geſchoben, die beiden
Pferdedecken lagen ausgebreitet über ſeinen Knieen.
Nicht lange und der Hohen-Vietzer Kirch—
thurm wurde ſichtbar. An oberſter Stelle eines
Höhenzuges, der nach Oſten hin die Landſchaft
ſchloß, ſtand die graue Maſſe ſchattenhaft im
funkelnden Nachthimmel.
Dem Sohne des Hauſes ſchlug das Herz
immer höher, ſo oft er dieſes Wahrzeichens ſeiner
Heimath anſichtig wurde. Aber er hatte heute
nicht lange Zeit, ſich der Eigenthümlichkeit des
Bildes zu freuen. Die beſchneiten Parkbäume
traten zwiſchen ihn und die Kirche und einige
Minuten ſpäter ſchlugen die Hunde an, und
182 Hor dem Sturm.
zwiſchen zwei Thorpfeilern hindurch beſchrieb der
Schlitten eine Kurve und hielt vor der portal—
artigen Glasthüre, zu der zwei breite Sandſtein—
ſtufen hinaufführten.
Lewin, der ſich ſchon vorher erhoben hatte,
ſprang hinaus und ſchritt auf die Stufen zu.
„Guten Abend, junger Herr,“ empfing ihn ein
alter Diener in Gamaſchen und Frackrock, an
dem nur die großen blanken Knöpfe W
daß es eine Livrée ſein ſollte.
„Guten Abend, Jeetze; wie geht es?“
Aber über dieſen Gruß kam Lewin nicht
hinaus, denn im ſelben Augenblick richtete ſich
ein prächtiger Neufundländer vor ihm auf und
überfiel ihn die Vorderpfoten auf ſeine Schultern
legend, mit den allerſtürmiſchſten Liebkoſungen.
„Hektor, laß gut ſein, Du bringſt mich um.“
Damit trat unſer Held in die Halle ſeines väter—
lichen Hauſes. Ein paar Scheite, die im Kamin
verglühten, warfen ihr Licht auf die alten Bilder
an der Wand gegenüber. Lewin ſah ſich um,
nicht ohne einen Anflug freudigen Stolzes auf
der Scholle ſeiner Väter zu ſtehen.
Dann leuchtete ihm der alte Diener die
ſchwere doppelarmige Treppe hinauf, während
Hektor folgte. |
en 6
Bor dem Sturm. 183
1
Hohen- Pietz.
In der Halle ſchwelen noch einige Brände;
ſchütten wir Tannäpfel auf und plaudern wir,
ein paar Seſſel an den Kamin rückend, von
Hohen ⸗Vietz.
Hohen-Bieß war urſprünglich ein altes, aus
den Tagen der letzten Askanier ſtammendes
Schloß mit Wall und Graben und freiem Blick
oſtwärts auf die Oder. Es lag auf demſelben
Höhenzuge wie die Kirche, deren ſchattenhaftes
Bild uns am Schluß des vorigen Kapitels ent—
gegentrat, und beherrſchte den breiten Strom,
wie nicht minder die am linken Flußufer von
Frankfurt nach Küſtrin führende Straße. Es
galt für ſehr feſt, und Jahrhunderte lang hatten
ſie einen Reim im Lebuſiſchen, der lautete:
De fitt ſo feſt up finen Sitz,
As de Vitzewitz' up Hohen⸗-Vietz.
Die Pommern lagen zweimal davor; die
Huſſiten berannten es, als ſie ſengend und
brennend in Lebus und Barnim vordrangen,
aber die heilige Jungfrau im Kirchenbanner
ſchützte das Schloß, und als der damalige Vitze—
witz, über deſſen Vornamen die Urkunden ver—
184 Hor dem Sturm.
ſchiedene Angaben bringen, ein griechiſches Feuer
in das Lager der Huſſiten warf, zogen ſie ab,
nachdem ſie alle umhergelegenen Dörfer ver—
wüſtet hatten. Die Kunſt des griechiſchen Feuers
aber hatte der Schloßherr von Rhodus mit
heimgebracht, wo er unter den Rittern an zwei
Feldzügen gegen die Türken theilgenommen hatte.
Das war 1432. Ruhigere Zeiten kamen.
Der hohe Ruf von Hohen⸗-Vietz lebte fort, ohne
daß er Gelegenheit gehabt hätte, ſich neu zu be—
währen. Erſt der dreißigjährige Krieg brachte
neue und ſchwerere Prüfungen.
Am 29. März 1631, faſt genau zweihundert
Jahre nach der Huſſitenüberſchwemmung, er—
ſchienen von Frankfurt aus ſechs Kompagnien
Kaiſerlicher vor Hohen-Vietz, das am Tage vor—
her, den Proteſten des Schloßherrn Rochus von
Vitzewitz zum Trotz, von den von Stettin und
Garz her heranziehenden Schweden beſetzt wor—
den war. Oberſt Maradas, der die Kaiſerlichen
führte, forderte die Uebergabe des Schloſſes.
Als dieſe verweigert wurde, legten die Kaiſer—
lichen, die aus je zwei Kompagnien der Regi-
menter Butler, Lichtenſtein und Maradas zu—
ſammengeſetzt waren, die Leitern an, ſtürmten
das Schloß, brannten es bis auf die nackten
Bor dem Sturm. 185
Mauern aus und ließen die ſchwediſche Beſatzung
über die Klinge ſpringen.
Einen Augenblick ſtand Rochus von Vitzewitz
in Gefahr, das Schickſal der Beſatzung zu theilen;
ſeine beiden halberwachſenen Söhne aber, ſie
mochten ſiebzehn und ſechszehn Jahre zählen,
warfen ſich dazwiſchen und retteten ihn durch
ihre Geiſtesgegenwart. Oberſt Maradas, an
den jungen Leuten Gefallen findend, bot ihnen
an, im Kaiſerlichen Heere Dienſt zu nehmen, ein
Anerbieten, das von Seiten des Jüngeren,
Matthias, ohne langes Säumen auch ohne Wider—
ſpruch des Vaters angenommen wurde. Es
waren nicht Zeiten, um über erfahrene Unbill,
wie ſie der Lauf des Krieges für Freund und
Feind gleichmäßig mit ſich brachte, lange zu
grübeln. Matthias trat als Cornet in das Re—
giment Lichtenſtein ein, Anſelm aber, der ältere,
erklärte, bei dem Vater ausharren und demſelben
bei Wiederaufbau des Schloſſes zur Seite ſtehen
zu wollen.
Dieſer Wiederaufbau jedoch verzögerte ſich.
Als er endlich nach dem Abzug der feindlichen,
nunmehr Süddeutſchland zum Schauplatz ihrer
Kämpfe wählenden Heere beginnen ſollte, hatten
ſich unter den fortwährenden Opfern des Krieges
186 Nor dem Sturm.
die Verhältniſſe derart verſchlechtert, daß es an
den nöthigen Mitteln zu einem Schloßbau ge—
brach. Rochus entſchied ſich alſo, von der Hohen—
Vietzerhöhe, von der aus die Seinen dreihundert
Jahre und länger ins Land geblickt hatten, herab—
zuſteigen und zu Füßen derſelben, am Nordrande
des ſich hier hinziehenden alten Wendendorfes,
ein einfaches Herrenhaus herzurichten. Dies
war 1634.
Anſelm ging ihm dabei in allen Stücken zur
Hand und ſchon Sonntag Exaudi, elf Monate
nach Beginn des Baues, konnte die neue Heim—
ſtätte der Vitzewitze bezogen werden.
Es war ein Fachwerkhaus, lang, niedrig,
mit hohem Dach. In dem Balken aber, der
über der Thüre hinlief, war ein Spruch ein—
geſchnitten:
Dies iſt der Vitzewitzen Haus,
Aus dem alten zog es aus;
Gottes Segen komm herein,
Wird es wohl geſchützet ſein.
Und faſt ſchien es, als ob der Spruch ſich
erfüllen und inmitten aller Kriegstrübſal, die
über dem Lande lag, an dieſer neugegründeten
Stätte ein neues Glück erblühen ſolle. Von
Matthias, der aus dem Regiment Lichtenſtein in
eee
Mor dem Sturm. 187
das Regiment Tiefenbach übergetreten, bei Nörd-
lingen verwundet und ein halbes Jahr ſpäter,
erſt zwanzig Jahre alt, zum kaiſerlichen Haupt⸗
mann aufgeſtiegen war, trafen Nachrichten ein,
die des alten Rochus Herz, trotzdem es den
Schweden zuneigte, mit Stolz und Freude er-
füllten. Anſelm, ohne darum nachgeſucht zu
haben, ſah ſich an den Hof gezogen und trat in
dieſelbe Leibtrabantengarde, in der ſchon ſeit
hundert Jahren alle Vitzewitze ihrem Herrn, dem
Kurfürſten, gedient hatten; was aber vor allem
zu Dank und Hoffnung ſtimmte, das waren zwei
geſegnete Fruchtjahre, die der Himmel der Hohen—
Vietzer Feldmark ſchenkte, wahre Prachternten,
aus deren Erträgen nunmehr die Mittel zur
Aufführung eines ſtattlichen, rechtwinklig an das
eigentliche Wohnhaus ſich anlehnenden Anbaues
entnommen werden konnten. Dieſer Anbau, eine
einzige mit Emporen, Wappen und Hirſchgeweihen
geſchmückte Halle, richtete das Gemüth des alten
Rochus, der eine hohe Vorſtellung von den
Repräſentationspflichten ſeines Hauſes hatte,
wieder auf und gemahnte ihn an alte gaſtliche
Zeiten. Als er das erſte Mal den Nachbaradel
in dieſem „Banketſaal,“ wie er die Halle gern
nennen hörte, bewirthete, hielt er eine Anſprache
188 Bor dem Sturm.
an die Verſammelten, die der Ueberzeugung Aus—
druck gab, daß das Haus Vitzewitz auch wieder
„bergan“ ziehen und nicht immer „geduckt unterm
Winde“ ſtehen werde. All Ding, ſo etwa ſchloß
er, habe ſeine Zeit, auch Krieg und Kriegesnoth,
und der Tag werde kommen, wo ſeine lieben
Freunde und Nachbaren wieder auf der Höhe
bei ihm zu Gaſte ſein und frei oſtwärts mit ihm
blicken würden.
Alles ſtimmte ein. Aber wenn jemals un-
prophetiſche Worte geſprochen wurden, ſo waren
es dieſe. Der Krieg kam wieder, mit ihm Hunger
und Peſt, und zerſtörte entweder den Wohlſtand
der Dörfer oder dieſe ſelbſt. Ganze Gemarkungen
wandelten ſich in eine Wüſte, und die Hälfte der
Hohen-Vietzer Hofeſtellen ſtand leer, weil ihre
Inſaſſen verflogen oder verſtorben waren. In⸗
mitten dieſes Elendes, ehe noch der Schimmer
beſſerer Zeiten heraufdämmerte, ſchloß Rochus
die müden Augen und ſie trugen ihn bergan in
die Gruft unterm Altar und ſtellten den kupfernen
Sarg, mit Beſchlägen und Wappentafeln und
mit aufgelöthetem ſilbernen Kruzifix, in die lange
Reihe der ihm vorangegangenen Ahnen. Nichts
fehlte; denn der Zeiten Noth hatte dem Vater
die Ehren des Begräbniſſes nicht kürzen ſollen.
Bor dem Sturm. 189
So wollte es der älteſte Sohn; der jüngere, mit
ſeinem Regiment an der fränkiſchen Saale ſtehend,
hatte der Beſtattung nicht beiwohnen können.
Anſelm war nun Herr auf Hohen- Vietz.
Es war nicht frohen Herzens, daß er das
erſte Korn in den nur ſchlecht gepflügten Boden
warf; aber ſiehe da, die Saat ging auf, ohne daß
Freund oder Feind — denn zwiſchen beiden war
längſt kein Unterſchied mehr — die jungen Halme
zerſtampft hätte; der Krieg, ſo ſchien es, hatte
ſich ausgebrannt wie ein Feuer, das keine Nahrung
mehr findet, und ehe das Jahrzehnt ſchloß, ging
die Mähr von Mund zu Mund, die Mähr, daß
Friede ſei.
Und es war Friede. Was niemand mehr
mit Augen zu ſehen gehofft hatte, es war da.
Und als abermals zwei Jahre ins Land gezogen
waren, ohne daß Schwede oder Kaiſerlicher im
Lebuſiſchen gelagert und geplündert hätte und
jeder, ſelbſt der Ungläubigſte, ſeiner Zweifel ſich
entſchlagen mußte, da traf ein Brief im Hohen—
Vietzer Herrenhauſe ein, der führte die Auf-
ſchrift: „Dem wohledlen, geſtrengen und feſten
Anſelm von Vitzewitz, erbſeſſen auf Hohen-Vietz
im Lande Lebus.“ Der Brief ſelbſt aber lautete:
„Mein inſonders vielgeliebter Bruder! Von
190 Vor dem Sturm.
heut ab in zween Wochen, ſo Gott ſeinen Segen
zu meinem Plane gibt, bin ich bei Dir in Hohen—
Vietz. Ich erwarte nur noch die Permiſſion aus
Wien, die mir Kayſerliche Majeſtät nicht refüſiren
wird. Vielleicht, daß uns tempora futura wieder
zuſammenführen, wie uns die Tage der Kindheit
und adolescentia zuſammen ſahen. Wir Luthe⸗
riſchen — trotzdem ſie zu Münſter und Osna—
brügge den Religionsfrieden mit vollen Backen
proklamiret haben — ſind wenig gelitten im
Kayſerlichen Heere, und kein Tag vergeht ohne
Andeutung, daß man uns nicht mehr braucht.
Ich höre, daß Unſer gnädigſter Herr Kurfürſt,
dem ich nie ſäumig geweſen, als meinen Lehns—
und Landesherren zu konſideriren, eine branden-
burgiſche Armee wirbt, derowegen er aus
ſchwediſchem und Kayſerlichem Heer Offiziers und
Generals im Beträchtlichen herübernimmt. Es
ſollte mir eine rechte Freude ſein, ſo die Reihe
auch an mich käme; denn daß ich es ſage, es
zieht mich wieder heimb in mein liebes Land
Lebus. Unſere Vettern und Nachbarn, die Burgs—
dorffs, die post mortem Schwarzenbergii das A
und das O bei Hofe ſind, werden doch etwas thun
wollen für eine alte Kriegsgurgel, die den Dienſt
kennt, wie den Catechismum Lutheri. Interim
EEE PRO
. “= 25
K
Bor dem Sturm. ö 191
bene vale. Der ich bin Dein Bruder Matthias
von Vitzewitz, Kayſerlicher Oberſt.“
Und Matthias kam wirklich und hielt die
angegebene Zeit. Ein Feſt ſollte ſeine Anweſen—
heit feiern. In dem großen Anbau waren drei
Tiſche gedeckt; zwei ſtanden unten und liefen, der
Länge des Saales nach, neben einander her, der
dritte Tiſch aber ſtand quer auf einer mit Wappen
und Bannern geſchmückten Empore, zu der drei
Stufen hinanführten. Die ganze Freundſchaft
aus Barnim und Lebus war geladen; die Brüder
ſaßen einander gegenüber; neben ihnen, an der
Quertafel: Adam und Beteke Pfuel von Jahns—
felde, Peter Ihlow von Ringenwalde, Balthaſar
Wulffen von Tempelberg, Hans und Nikolaus
Barfus von Hohen- und Nieder-Predikow, dazu
Tamme Strantz, Achim von Kracht, zwei Scha—
pelows, zwei Beerfeldes und fünfe von Burgs—
dorf. Sie waren alle, ſchon um Glaubens willen,
mehr ſchwediſch als kaiſerlich, beſonders Peter
Ihlow, der — ein Neffe Feldmarſchall Ihlows
— einen Groll gegen den Wiener Hof hatte, ihn
anklagend, feinen Oheim in Schloß Eger meuch—
lings gemordet zu haben. Er wiederholte auch
heute ſeine Anklage, wobei es dahin geſtellt bleiben
192 Bor dem Sturm.
ſein mag, ob er die Gegenwart des Gaſtes mo—
mentan vergaß oder ſie vergeſſen wollte.
Matthias von Vitzewitz, als er ſeinen Kriegs—
herrn, den Kaiſer, in ſo herausfordernder Weiſe
ſchmähen hörte, erhob ſich und rief:
„Peter Ihlow, hütet Eure Zunge. Ich bin
kaiſerlicher Offizier.“
„Du biſt es,“ rief jetzt Anſelm, aus dem
der Wein, aber noch mehr das proteſtantiſche Herz
ſprach, über den Tiſch hinüber; „Du biſt es, aber
beſſer wäre es, Du wäreſt es nie geweſen.“
„Beſſer oder nicht, ich bin es. Des Kaiſers
Ehre iſt meine Ehre.“
„Ein Glück, daß Du die Ehre ſatt haſt.
Die Fremden ſind wenig gelitten im kaiſerlichen
Heere.“
Matthias, der ſich bis dahin mühſam be—
zwungen hatte, verlor alle Herrſchaft über ſich,
als er ſich, durch Vorhaltung ſeiner eigenen Brief—
worte, in ſo wenig großmüthiger Weiſe beſiegt
und gefangen ſah. Die Augen traten ihm aus
der Stirn, und ſein Kinn auf den Knauf des
Degens ſtützend, ſchrie er: „Wer das ſagt,
der lügt.“
„Wer es leugnet, der lügt.“
In dieſem Augenblicke zogen beide. Die
Bor dem Sturm. 193
Zunächſtſitzenden ſprangen auf, aber ehe noch ein
Dazwiſchenſpringen möglich war, hatte des jüngeren
Bruders Degen die Bruſt des älteren durchdrungen.
Anſelm war tödtlich getroffen.
Matthias, außer ſich über das Geſchehene,
wollte ſich dem Kurfürſten ſtellen; nur wider—
willig gab er den Vorſtellungen derer nach, die
auf Flucht drangen. In ſeine Garniſonſtadt
Böhmiſch⸗Grätz zurückgekehrt, machte er nach Wien
hin Meldung von dem Vorgefallenen; dabei hatte
es ſein Bewenden. Ihm zu zeigen, wie wenig die
Kriegskanzelei den Vorfall beanſtande, der ja in
Vertheidigung kaiſerlicher Ehre ſeine erſte Ver—
anlaſſung hatte, ließ man ihn zum General auf—
ſteigen und gab ihm ein Kommando in Ungarn.
Aber dieſe Gnadenbezeugungen, dankbar, wie er
ſie entgegennahm, gaben ihm doch die Ruhe nicht
wieder, nach der er dürſtete, und von Peterwardein
aus, wo er im Feldlager lag, ſchrieb er an den
Kurfürſten und rief ſeine Gnade an, „um deſſent—
willen, der aller Menſchen Heil und Gnade ſei.“
Der Kurfürſt ſchwankte; als aber durch die
eidlichen Ausſagen von Peter Ihlow, Beteke Pfuel
und Ehrenreich von Burgsdorf erwieſen war, daß
beide Brüder zu gleicher Zeit gezogen hätten,
kam es zu einem Generalpardon, „gleichweis als
Th. Fontane Geſ. Romane u. Novellen. 115
194 Bor dem Sturm.
ob die Geſchichte nie geſchehen wäre“, und Matthias
kehrte nach Hohen-Vietz zurück, das er ſeit dem
Tage, an dem Maradas das Schloß geſtürmt
hatte, nur einmal, in jener unheilvollen Feſtes—
ſtunde, wiedergeſehen hatte.
Er kam und brachte, wie die Hohen-Vietzer
ſich noch lange erzählten, „eine Tonne Goldes
mit ſich;“ denn Dotationen und Landerwerbungen,
wie ſie damals herkömmlich waren, hatten ihn
reich gemacht. Der Kurfürſt empfing ihn in aus—
gezeichneter Weiſe und ſetzte ihn, unter Inne—
haltung herkömmlicher Formen, in den Vollbeſitz
des verfallenen Gutes ein. Unmittelbar darauf
ſchritt der Neubelehnte zur Aufführung eines
ſchloßartigen, mit breiter Treppe und hohen Stuck—
zimmern reich ausgeſtatteten Renaiſſanceneubaues,
der, mit dem ärmlichen Fachwerkhaus parallel
laufend, einen hufeiſenförmigen Gebäudekomplex
herſtellte, in dem die „Banketthalle“, der mehr—
genannte Saalanbau des alten Rochus, die ver—
bindende Linie war. Dieſen Saalanbau ſelbſt
aber, eingedenk deſſen, was hier geſchah, ſchuf
Matthias von Vitzewitz in eine Kapelle um.
Ueber dem Altar ſtiftete er ein Bild, deſſen In—
halt der Erzählung vom verlorenen Sohn ent⸗
nommen war; daneben hing er die Klinge auf,
Bor dem Sturm. 195
mit der er den Bruder erſtochen hatte. Er be—
trat die Kapelle nie anders als in der Dämmer⸗
ſtunde; er liebte nicht, daß man es wußte oder
gar davon ſprach, aber wer auf dem anſtoßenden
Flieſenflur des alten Fachwerkhauſes zu thun
hatte oder müßig lauſchte, der hörte ſeine lauten
Gebete. N
Seine Buße währte fein Leben lang und
ſein Leben kam zu hohen Jahren. Noch ſpät
hatte er ſich vermählt. Im Herbſte deſſelben
Jahres, das ſeinen Herrn den Kurfürſten hin⸗
ſcheiden ſah, ſchied auch er aus dieſer Zeitlichkeit,
und die Hohen-Vietzer, an ihrer Spitze der acht—
zehnjährige Sohn des Hauſes, trugen ihn bis zur
alten Hügelkirche hinauf und ſetzten ihn in die
Gruft neben den Kupferſarg des Vaters derart,
daß Anſelm zur Rechten, Matthias aber zur
Linken ſtand.
Er war in der Zuverſicht geſtorben, daß
Gott ſeine Buße angenommen habe; auch die, die
nach ihm kamen, waren dieſes Glaubens voll.
Aber dieſer Glaube, wie feſten Lebensgrund er
ihnen gab, konnte ihnen doch den Frohſinn des
Lebens nicht wiedergeben. Sie blickten ernſt um
ſich her. Und dieſer Zug begann ſich fortzuerben.
Der Familiencharakter, der in alten Zeiten ein
115*
196 Hor dem Sturm.
joviales Aufbrauſen geweſen war, wich einem
Grübeln und Brüten, und ihr Hang zu Feſten
und Gelagen ſchlug in einen Hang zur Selbſt—
pein und Asceſe um. Auch ſahen ſie ſich durch
manchen Vorgang, durch Spuk und Wirklichkeit,
in dieſem Hange genährt und gefeſtigt. In dem
zur Kapelle umgeſchaffenen Saalanbau, der, ver—
ſtaubend und verfallend, längſt wieder den Kapellen⸗
charakter abgeſtreift hatte und zu einem Vor⸗
rathsraum für die kleinen Leute des Hauſes ge—
worden war, ging der alte Matthias um wie zu
Lebzeiten und kniete vor dem Altar, den er ge—
ſtiftet. Niemand im Hauſe zweifelte daran. Aber
wenn auch ein einzelner den Spuk verneint und,
ſei es aus Glauben oder Unglauben, die Er—
ſcheinung als ein abergläubiſch Gebilde verworfen
hätte, ſo hätten doch andere Zeichen zu ihm ge—
ſprochen. Seit anderthalb hundert Jahren ſtand
das Geſchlecht auf zwei Augen; es ſah darin
einen Finger Gottes; zwei Brüder ſollten nicht
wieder in Waffen gegen einander ſtehen.
Die Dorfbewohner, wie kaum verſichert zu
werden braucht, hegten dies alles wie einen
Schatz, und in den Spinnſtuben wurde nichts
eifriger verhandelt, als die Frage, ob der alte
Matthias geſehen worden ſei oder nicht. Es war
Bor dem Sturm. 197
eine Art Ehrenſache, ihn geſehen zu haben. Man
ſcherzte über ihn und fürchtete ſich. Die Bauern
ſelbſt waren nicht anders wie ihre Mägde. Auf
dem Höhenzuge, dicht neben der Kirche, ſtand
eine alte Buche, die theilte ſich halbmannshoch
über der Wurzel und wuchs in zwei Stämmen
nach rechts und links. Das paßte den Hohen-
Vietzern, und die Sage ging, daß beide Brüder,
als ſie noch Kinder waren, dieſen Baum gemein-
ſchaftlich gepflanzt hätten. Als aber Anſelm von
der Hand des Jüngern gefallen ſei, da habe ſich
der Stamm getheilt. Und noch andere wußten,
daß Matthias, wenn er unten in der Kapelle ge—
betet, die große Nußbaumallee bis zur Kirche
hinaufſteige und den Buchenſtamm da, wo er ſich
theilt, zu umfaſſen und zuſammenzupreſſen ſuche.
Aber umſonſt. Er ſitze dann zu Füßen des
Baumes und klage laut.
Aber wenn ſich das nach dem Spukhaften
und Schauerlichen drängende romantiſche Bedürf-
niß in dieſen trüben Bildern mit Vorliebe aus⸗
ſprach, ſo drängte doch auch ein anderer Zug in
den Herzen der Hohen-Vitzer ebenſo entſchieden
auf endliche Verſöhnung hin, und einen Reim—
ſpruch kannte Jung und Alt, der dieſer Hoffnung
auf Verſöhnung Ausdruck gab. Auch im Herren-
198 Hor dem Sturm.
hauſe kannten ſie ihn ſehr wohl und der Reim—
ſpruch lautete:
Und eine Prinzeſſin kommt ins Haus,
Da löſcht ein Feuer den Blutfleck aus,
Der auseinander getha'ne Stamm
Wird wieder eins, wächſt wieder zuſamm',
Und wieder von ſeinem alten Sitz
Blickt in den Morgen Haus Vitzewitz.
III.
Weihnachts morgen.
An Lewins Seele waren inzwiſchen unruhige
Träume vorübergegangen. Die Fahrt im Oſt⸗
wind hatte ihn fiebrig gemacht und erſt gegen
Morgen verfiel er in einen feſten Schlaf. Eine
Stunde ſpäter begann es bereits im Hauſe
lebendig zu werden; auf dem langen Korridor,
an deſſen Nordoſtecke Lewins Zimmer gelegen
war, hallten Schritte auf und ab, ſchwere Holz—
körbe wurden vor die Feuerſtellen geſetzt und
große Scheite von außen her in den Ofen ge—
ſchoben. Bald darauf öffnete ſich die Thür und
der alte Diener, der am Abend zuvor ſeinen
jungen Herrn empfangen hatte, trat ein, einen
Blaker in der Hand. Hektor blieb liegen, reckte
ſich auf dem Rehfell und wedelte nur, als ob er
Hor dem Sturm. 199
rapportiren wolle: Alles in Ordnung. Jeetze
ſetzte das Licht, deſſen Flamme er bis dahin mit
ſeiner Rechten ſorglich gehütet hatte, hinter einen
Schirm und begann alles, was an Garderobe—
ſtücken umherlag, über ſeinen linken Arm zu
packen. Er ſelbſt war noch im Morgenkoſtüm;
zu den Sammthoſen und Gamaſchen, ohne die er
nicht wohl zu denken war, trug er einen Arbeits—
rock von doppeltem Zwillich. Als er alles bei—
ſammen hatte, trat er, leiſe wie er gekommen
war, ſeinen Rückzug an, dabei nach Art alter
Leute unverſtändliche Worte vor ſich her murmelnd.
An dem zuſtimmenden Nicken ſeines Kopfes aber ließ
ſich erkennen, daß er zufrieden und guter Laune war.
Die Thüre blieb halb offen und das er—
wachende Leben des Hauſes drang in immer
mahnenderen, aber auch in immer anheimelnderen
Klängen in das wieder ſtill gewordene Zimmer.
Die großen Scheite Fichtenholz ſprangen mit
lautem Krach auseinander, von Zeit zu Zeit
ziſchte das Waſſer, das aus den naßgewordenen
Stücken in kleinen Rinnen in's Feuer lief, und
von der Korridorniſche her hörte man den ſichern
und regelrechteu Strich, mit dem Jeetzes Bürſte
der Hacheln und Härchen, die nicht los laſſen
wollten, Herr zu werden ſuchte.
200 Hor dem Sturm.
Alles das war hörbar genug, nur Lewin
hörte es nicht. Endlich beſchloß Hektor, der Uns
geduld Jeetzes und ſeiner eigenen ein Ende zu
machen, richtete ſich auf, legte beide Vorderpfoten
aufs Deckbett und fuhr mit ſeiner Zunge über
die Stirn des Schlafenden hin, ohne weitere
Sorge, ob ſeine Liebkoſungen willkommen ſeien
oder nicht. Lewin wachte auf; die erſte Ver—
wirrung wich einem heiteren Lachen. „Kuſch,
Dich, Hektor,“ damit ſprang er aus dem Bett.
Der Morgenſchlaf hatte ihn friſch gemacht; in
wenig Minuten war er angekleidet, ein Vortheil
halb ſoldatiſcher Erziehung. Er durchſchritt ein
paarmal das Zimmer, betrachtete lächelnd einen
mit vier Nadeln an die Tiſchdecke feſtgeſteckten
Bogen Papier, auf dem in großen Buchſtaben
ſtand: „Willkommen in Hohen-Vietz,“ ließ ſeine
Augen über ein paar Silhouettenbilder gleiten,
die er von Jugend auf kannte und doch immer
wieder mit derſelben Freudigkeit begrüßte, und
trat dann an eines der zugefrorenen Eckfenſter.
Sein Hauch thaute die Eisblumen fort, ein Fleck—
chen, nicht größer wie eine Glaslinſe, wurde frei,
und ſein erſter Blick fiel jetzt auf die eben auf—
gehende Weihnachtsſonne, deren rother Ball hinter
dem Thurmknopf der Hohen -Vietzer Kirche ſtand.
Bor dem Sturm. 201
Zwiſchen ihm und dieſer Kirche erhoben ſich die
Bäume des hügelanſteigenden Parkes, phantaſtiſch
bereift, auf einzelnen ein paar Raben, die in
die Sonne ſahen und mit Gekreiſch den Tag
begrüßten.
Lewin freute ſich noch des Bildes, als es an
die Thüre klopfte.
„Nur herein!“
Eine ſchlanke Mädchengeſtalt trat ein und
mit herzlichem Kuß ſchloſſen ſich die Geſchwiſter
in die Arme. Daß es Geſchwiſter waren, zeigte
der erſte Blick: gleiche Figur und Haltung,
dieſelben ovalen Köpfe, vor allem dieſelben
Augen, aus denen Phantaſie, Klugheit und Treue
ſprachen.
„Wie freue ich mich, Dich wieder hier zu
haben. Du bleibſt doch über das Feſt? Und
wie gut Du ausſiehſt, Lewin! Sie ſagen,
wir ähnelten uns; es wird mich noch eitel
machen.“
Die Schweſter, die bis dahin wie muſternd
vor dem Bruder geſtanden hatte, legte jetzt ihren
Arm in den ſeinen und fuhr dann, während
beide auf der breiten Strohmatte des Zimmers
auf und ab promenirten, in ihrem Geplauder
fort.
202 Bor dem Sturm.
„Du glaubſt nicht, Lewin, wie öde Tage wir
jetzt haben. Seit einer Woche flog uns nichts wie
Schneeflocken ins Haus.“
„Aber Du halt doch den Papa . . .“
„Ja und nein. Ich hab' ihn und hab'
ihn nicht; jedenfalls iſt er nicht mehr wie er
war. Seine kleinen Aufmerkſamkeiten bleiben
aus; er hat kein Ohr mehr für mich, und wenn
er es hat, ſo zwingt er ſich und lächelt. Und an
dem allen ſind die Zeitungen ſchuld, die ich frei—
lich auch nicht miſſen möchte. Kaum daß Hoppen⸗
marieken in den Flur tritt und das Poſtpaket
aus ihrem Kattuntuch wickelt, ſo iſt es mit ſeiner
Ruhe hin. Er geht an mir vorbei, ohne mich zu
ſehen. Briefe werden geſchrieben; die Pferde
kommen kaum noch aus dem Geſchirr; zu Wagen
und zu Schlitten geht es hierhin und dorthin.
Oft ſind wir Tage lang allein. Ein Glück, daß
ich Tante Schorlemmer habe, ich ängſtigte mich
ſonſt zu Tode.“
„Tante Schorlemmer! So findet alles
ſeine Zeit.“
„O, ſie braucht nicht erſt ihre Zeit zu
finden, ſie hat immer ihre Zeit, daß weiß nie—
mand beſſer als Du und ich. Aber freilich, eines
it meiner guten Schorlemmer nicht gegeben, einen
Bor dem Sturm. 203
öden Tag minder öde zu machen. Möchteſt Du,
eingeſchneit, einen Winter lang mit ihr und ihren
Sprüchen am Spinnrad ſitzen?“
„Nicht um die Welt. Aber wo bleibt der
Paſtor? Und wo bleibt Marie? Iſt denn alles
zerſtoben und verflogen?
„Nein, nein, ſie ſind da, und ſie kommen
auch, und ſind die alten noch; lieb und gut wie
immer. Aber unſere Hohen-Vietzer⸗Tage find jo
lang, und am längſten, wenn im Kalender die
kürzeſten ſtehen. Marie kommt übrigens heute
Abend; ſie hat eben anfragen laſſen.“
„Und wie geht es unſerm Liebling?“
„In den drei Monaten, daß Du nicht hier
warſt, iſt ſie voll herangewachſen. Sie iſt wie
ein Märchen. Wenn morgen eine goldene Kutſche
bei Kniehaſes vorgefahren käme, um ſie aus dem
Schulzenhauſe mit zwei ſchleppentragenden Pagen
abzuholen, ich würde mich nicht wundern. Und
doch ängſtigt ſie mich. Aber je mehr ich mich um
ſie ſorge, deſto mehr liebe ich ſie.“
So weit waren die Geſchwiſter in ihren
Plaudereien gekommen, als Jeetze — nunmehr
in voller Livrée — in der Thüre erſchien, um
ſeinen jungen Herrſchaften anzukündigen, daß es
Zeit ſei.
204 Bor dem Sturm.
„Wo iſt Papa?“
„Er baut auf. Kriſt und ich haben zutragen
müſſen.“
„Und Tante Schorlemmer?“
„Iſt im Flur. Die Singekinder ſind eben
gekommen.“
Lewin und Renate nickten einander zu und
traten dann heiteren Geſichts und leichten Ganges,
ein jeder ſtolz auf den andern, in den Korridor
hinaus. In demſelben Augenblick, wo ſie an
dem Treppenknopf angelangt waren, klang es
weihnachtlich von hellen Kinderſtimmen zu ihnen
herauf. Und doch war es kein eigentliches Weih—
nachtslied. Es war das alte „Nun danket alle
Gott,“ das den märkiſchen Kehlen am geläufigſten
iſt und am freieſten aus ihrer Seele kommt.
„Wie ſchön,“ ſagte Lewin und horchte bis die
erſte Strophe zu Ende war.
Als die Geſchwiſter im Niederſteigen den
unterſten Treppenabſatz erreicht hatten, hielten ſie
abermals und überblickten nun das Bild zu ihren
Füßen. Die gewölbte Flurhalle, groß und ge—
räumig, trotz der Eichenſchränke, die umher ſtanden,
war mit Menſchen, jungen und alten, gefüllt;
einige Mütterchen hockten auf der Treppe, deren
unterſte Stufen bis weit in den Flur hinein
Hor dem Sturm. 205
vorſprangen. Links, nach der Park- und Garten⸗
thür zu, ſtanden die Kinder, einige ſonntäglich
geputzt, die anderen nothdürftig gekleidet, hinter
ihnen die Armen des Dorfes, auch Sieche und
Krüppel; nach rechts hin aber hatte alles, was
zum Hauſe gehörte, ſeine Aufſtellung genommen:
der Jäger, der Inſpektor, der Maier, Kriſt und
Jeetze, dazu die Mägde, der Mehrzahl nach jung
und hübſch, und alle gekleidet in die maleriſche
Tracht dieſer Gegenden, den rothen Friesrock,
das ſchwarzſeidene Kopftuch und den geblümten
Mancheſter⸗Spenzer. In Front dieſer bunten
Mädchengruppe gewahrte man eine ältliche Dame
über fünfzig, grau gekleidet mit weißem Tuch
und kleiner Tüllhaube, die Hände gefaltet, den
Kopf vorgebeugt, wie um dem Geſange der Kinder
mit mehr Andacht folgen zu können. Es war
Tante Schorlemmer. Nur als die Geſchwiſter
auf dem Treppenabſatz erſchienen, unterbrach ſie
ihre Haltung und erwiderte Lewins Gruß mit
einem freundlichen Nicken.
Nun war auch der zweite Vers geſungen
und die Weihnachtsbeſcheerung an die Armen
und Kinder des Dorfes, wie ſie in dieſem Hauſe
ſeit alten Zeiten Sitte war, nahm ihren Anfang.
Niemand drängte vor; jeder wußte, daß ihm
206 Nor dem Sturm.
das Seine werden würde. Die Kranken erhielten
eine Suppe, die Krüppel ein Almoſen, alle einen
Feſtkuchen, an die Kinder aber traten die Mägde
heran und ſchütteten ihnen Aepfel und Nüſſe
in die mitgebrachten Säcke und Taſchen.
Das Gabenſpenden war kaum zu Ende, als
die große, vom Flur aus in die Halle führende
Flügelthüre von innen her ſich öffnete und ein
heller Lichtſchein in den bis dahin nur halb er—
leuchteten Flur drang. Damit war das Zeichen
gegeben, daß nun dem Hauſe ſelber beſcheert
werden ſolle. Der alte Vitzewitz trat zwiſchen
Thüre und Weihnachtsbaum, und Lewins an⸗
ſichtig werdend, der am Arm der Schweſter dem
Feſtzug voraufſchritt, rief er ihm zu: „Willkom⸗
men, Lewin, in Hohen⸗Vietz.“ Vater und Sohn
begrüßten ſich herzlich; dann ſetzten die Ge—
ſchwiſter ihren Umgang um die Tafel fort,
während draußen im Flur die Kinder wieder an—
ſtimmten:
Lob, Ehr und Preis ſei Gott
Dem Vater und dem Sohne,
Und auch dem heil'gen Geiſt
Im hohen Himmelsthrone.
Der Zug löſte ſich nun auf und jeder trat
an ſeinen Platz und ſeine Geſchenke. Alles ge—
fiel und erfreute, die Shawls, die Weſten, die
Nor dem Sturm. 207
ſeidenen Tücher. Da lagerte kein Unmuth, keine
Enttäuſchung auf den Stirnen; jeder wußte, daß
ſchwere Zeiten waren, und daß der viel heimge—
ſuchte Herr von Hohen-Vietz ſich mancher Ent—
behrung unterziehen mußte, um die gute Sitte
des Hauſes auch in böſen Tagen aufrecht zu
erhalten.
Zu beiden Seiten des Kamins, über deſſen
breiter Marmorkonſole das überlebensgroße Bild
des alten Matthias aufragte, waren auf kleinen
Tiſchen die Gaben ausgebreitet, die der Vater
für Lewin und Renaten gewählt hatte. Lieb⸗
lingswünſche hatten ihre Erfüllung gefunden,
ſonſt waren ſie nicht reichlich. An Lewins
Platz lag eine gezogene Doppelbüchſe, Suhler
Arbeit, ſauber, leicht, feſt, eine Freude für den
Kenner.
„Das iſt für Dich, Lewin. Wir leben in
wunderbaren Tagen. Und nun komm und laß
uns plaudern.“
Beide traten in das nebenan gelegene Zim—
mer, während in der Halle die Weihnachtslichter
niederbrannten.
208 Hor dem Sturm.
IV.
Berndt von Vitzewitz.
Der Vater Lewins war Berndt von Vitze—
witz, ein hoher Fünfziger. Mit dreizehn Jahren
bei den zu Landsberg garniſonirenden Knobels—
dorff⸗Dragonern eingetreten, hatte er, nach bei-
nahe dreißigjährigem Dienſt, das Kommando des
berühmten Regiment eben übernommen, als ihn
im Frühjahr 1795, der Abſchluß des Basler
Friedens veranlaßte, ſeinen Abſchied zu fordern.
Voller Abſcheu gegen die Pariſer Schreckens—
männer, ſah er in dem „Pactiren mit den Regi—
ciden“ ebenſo eine Gefahr, wie eine Erniedrigung
Preußens. Er zog ſich verſtimmt nach Hohen—
Vietz zurück. Vielleicht war es ein Ausdruck
ſeiner Verſtimmung, daß er es, wenigſtens im
geſelligen Verkehr, vorzog, ſeinen militäriſchen
Rang ignorirt und ſich lediglich als Herr von
Vitzewitz angeſprochen zu ſehen. Das Gut ſelbſt
war ihm ſchon ſieben Jahre früher zugefallen,
unmittelbar faſt nach ſeiner Vermählung mit
Madeleine von Dumoulin, älteſten Tochter des
Generallieutenants von Dumoulin, der bei Zorn—
dorf, als jüngſter Offizier in der Schwadron
des Rittmeiſters von Wakenitz, Wunder der
Nor dem Sturm. 209
Tapferkeit verrichtet und nach zweimaligem
Durchbrechen der ruſſiſchen Quarrés den Pour
le mérite auf dem Schlachtfelde empfangen hatte.
Madeleine von Dumoulin, groß, ſchlank,
blond, eine typiſche deutſche Schönheit, wie ſo
oft die Töchter des altfranzöſiſchen Adels, war
der Abgott ihres Gemahls. Und doch ſah fie
zu ihm hinauf; ohne Prätenſionen, faſt ohne
Laune, beugte ſie ſich vor der Ueberlegenheit
ſeines Charakters. Die Geburt eines Sohnes,
noch in der Garniſonſtadt des Regiments, ſchuf
ein geſteigertes Glück, das aus beider Augen
noch lebhafter ſprach, als ihnen, bald nach ihrer
Uebernahme von Hohen-Vietz, auch eine Tochter
geboren wurde. Es war im Mai 1795, ein
Frühlingsregen ſprühte und das Zeichen des
Bundes zwiſchen Gott und den Menſchen, ein
Regenbogen ſtand verheißungsvoll über dem
alten Hauſe. Aber die Verheißung, wenn ſie
dem Kinde gelten mochte, galt nicht dem Vater.
Ein Allerſchmerzlichſtes blieb auch ihm, wie ſo
vielen ſeiner Ahnen, unerſpart. Es traf ihn
anders, aber nicht minder ſchwer.
Der Tag von Jena hatte über das Schickſal
Preußens entſchieden; elf Tage ſpäter hielten
bereits angemeldete franzöſiſche Offiziere vor
Th. Fontane, Gef. Romane u. Novellen. 116
210 Bor dem Sturm.
dem Herrenhauſe in Hohen-Vietz, zu deren Be—
willkommnung, um nicht Anſtoß zu geben, auch
die kaum von einem hitzigen Fieber wieder her—
geſtellte, noch die Bläſſe der Krankheit zeigende
Dame vom Haufe erſchienen war. In der Halle
war gedeckt. Frau von Vitzewitz blieb und jchien
ihren Zweck, ein leidliches Einvernehmen zwiſchen
Wirth und Gäſten herzuſtellen, erreichen zu
ſollen, als ſich, während ſchon der Nachtiſch auf-
getragen wurde, ein ihr gegenüber ſitzender
Kapitän, von der ſpaniſchen Grenze, olivenfarbig,
mit dünnem Spitzbart erhob und in unziemlichſter
Huldigung Worte lallte, die der ſchönen Frau,
das Blut in die Wangen trieben. Berndt von
Vitzewitz fuhr auf den Elenden ein, andere
Offiziere, dazwiſchen ſpringend, trennten die mit
einander Ringenden und Partei ergreifend für
den beleidigten Gemahl, ſteckten ſie draußen im
Park den Platz ab, wo der Handel auf der Stelle
ausgemacht werden ſollte. Berndt, ein Meifter
auf den Degen, verwundete ſeinen Gegner jchwer
am Kopf und die Franzoſen, in der ihnen eigenen
ritterlichen Geſinnung, beglückwünſchten ihn, ohne
die geringſte Verſtimmung zu zeigen, zu ſeinem
Triumph. Aber es war ein kurzer Sieg, zum
mindeſten ein theuer erkaufter. Die heftigen,
Nor dem Sturm. 211
von ſolchen Vorgängen unzertrennlichen Er—
regungen warfen die ſchöne Frau aufs Kranken⸗
bett zurück, am dritten Tag war ſie aufgegeben,
am neunten trugen ſie ſie die alte Nußbaumallee
hinauf, bis an die Hohen-Vietzer Kirche und
ſenkten ſie unter Innehaltung aller von ihr ge—
gebenen Beſtimmungen ein. Nicht in die Gruft,
ſondern in „Gottes märkiſche Erde“ wie ſie ſo
oft gebeten hatte. Die Glocken klangen den
ganzen Tag ins Land und als der Frühling kam,
lag ein Stein auf der Grabesſtelle, ohne Namen,
ohne Datum, nur tief eingegraben: „Hier ruht
mein, Glück.“
| % Berndts Charakter hatte ſich unter dieſen
Schlägen aus dem Ernſten völlig ins Finſtere
gewandelt. Die Lage des zerbröckelten, nahezu
aus der Reihe der Staaten geſtrichenen Vater—
landes war nicht dazu angethan, ihn aufzurichten.
Sein eigner Beſitz entwerthet, die Ernten ge—
raubt, das Gehöft von Räuberhänden halb nieder—
gebrannt — ſo verfiel er auf Jahr und Tag in
brütenden Trübſinn und lebte erſt wieder auf,
als Sorge und Mißgeſchick, die beinahe unaus—
geſetzt auf ihn eindrangen, einen großen Haß in
ihm gezeitigt hatten. Er wurde rührig, regſam,
er hatte Ziele, er lebte wieder.
116*
212 Vor dem Sturm.
Der Haß, dem er dieſes dankte, richtete ſich
gegen alles, was von jenſeit des Rheines kam,
aber doch war ein Unterſchied in dem, was er
gegen den Machthaber und gegen die franzöſiſche
Nation empfand. Für dieſe letztere, deren Muth,
Begeiſterung und Opferfähigkeit er ſo oft ge—
prieſen, ſo oft vorbildlich hingeſtellt hatte, hatte
er, wie faſt alle Märker, im tiefſten Herzen eine
nicht zu ertödtende Vorliebe und aller Haß, den
er dieſer Liebe zum Trvtz, ſtark und ehrlich zur
Schau trug, war vielmehr Abſicht und Kalkül,
als unmittelbare Empfindung, empor gewachſen
aus der unabläſſigen, mit Gefliſſentlichkeit ge—
hegten Betrachtung, daß, — um ihn ſelber
ſprechen zu laſſen — „das undankbarſte aller
Völker einen guten König geſchlachtet habe, um
ſich vor den Triumphwagen eines freiheits—
mörderiſchen Tyrannen zu ſpannen.“ Ganz anders
ſein Haß gegen den Bonaparte ſelbſt. Ungemacht
und ungekünſtelt, ſprang er wie ein heißer Quell
aus ſeinem Herzen. Schon der Name widerte
ihn an. Er war kein Franzos, er war Italiener,
Korſe, aufgewachſen an jener einzigen Stelle in
Europa, wo noch die Blutrache Sitte und Gejeß;
und ſelbſt die Größe, die er ihm zugeſtehen
mußte, war ihm ſtaunens- aber nicht bewunderns⸗
Bor dem Sturm. 213
werth, weil ſie alles himmliſchen Lichtes ent—
behrte. Er ſah in ihm einen Dämon, nichts
weiter; eine Geißel, einen Würger, einen aus
Weſten kommenden Dſchingiskhan. Als Mitte
November bekannt wurde, daß der Kaiſer Küſtrin
paſſiren werde, um bis an die Weichſel zu gehen,
führte Berndt ſeine beiden halberwachſenen Kinder,
Renate zählte elf, Lewin eben ſechszehn Jahre,
nach der alten Oderfeſtung, und nahm Stand
an dem Müncheberger Thore, um ihnen den zu
zeigen, „den Gott gezeichnet habe.“ Und als
dieſer nun unter dem gewölbten Portal hin in
die ſtille Stadt eintritt und das gelbe Wachs—
geſicht, wie ein unheimlicher Lichtpunkt zwiſchen
dem Bug des Pferdes und dem tief in die Stirn
gerückten Hute ſichtbar wurde, da ſchob er die
Kinder in die vorderſte Reihe und rief ihnen
vernehmlich zu: „Seht ſcharf hin, das iſt der
Böſeſte auf Erden.“
Aber wer zu haſſen verſteht, ſo es nur der
rechte Haß iſt, der weiß auch zu lieben, und die
leidenſchaftliche Zuneigung, die Berndt ſo viele
Jahre lang gegen die zu früh Heimgegangene als
ſein höchſtes irdiſches Glück im Herzen getragen
hatte, er übertrug ſie jetzt auf die Kinder, die
als die Ebenbilder der Mutter heranwuchſen.
214 Bor dem Sturm.
Schlank aufgeſchoſſen, blond und durchſichtig,
wichen ſie in jedem Zuge von der äußeren Er—
ſcheinung des Vaters ab, zu deſſen gedrungener
Geſtalt ſich dunkelſter Teint und ein ſchwarzes,
kurz geſchnittenes, mit nur wenig Grau erſt
untermiſchtes Haar geſellte. Und wie verſchieden
die Erſcheinung, ſo verſchieden auch waren die
Charaktere. Leichtbeweglich und leichtgläubig,
immer geneigt zu bewundern und zu verzeihen,
hatten die Kinder das heitere Licht der Seele,
wo der Vater das düſtere Feuer hatte. Demüthig
und troſtreich, angelegt um zu beglücken und
glücklich zu ſein, leuchtete ihren Wegen die alles
verklärende Phantaſie. Der Vater freute ſich
deſſen. Er träumte von einer Wandlung, die mit
ihnen über das Haus kommen werde.
Berndt von Vitzewitz, wie alle, die ihr Herz
an etwas ſetzen, machte wenig davon, er hatte
das Schamgefühl der Liebe. Aber eben ſo wenig
gefiel er ſich darin, eine rauhe Außenſeite heraus—
zukehren. Weil er Autorität hatte, durfte er
darauf verzichten, ſie jeden Augenblick geltend zu
machen. Er liebte es, im Geſpräch den Unter—
ſchied der Jahre zu überſpringen und beſpöttelte
jene Väter und Mütter, die, aus der Noth eine
Tugend machend, ihre Gefühls- und Gedanken—
Bor dem Sturm. 215
welt in zwei Rubriken, in eine für die „Intimen“
und in eine andere für die Kinder beſtimmte
Hälfte zu theilen pflegen. Er war offen, ent-
gegenkommend gegen Lewin, reich an Aufmerk-
ſamkeiten gegen Renate. Nur in den letzten
Wochen, wie die Schweſter dem Bruder bereits
geklagt hatte, war eine Aenderung eingetreten;
er mied jede Begegnung, ſprach wenig und ſaß
halbe Nächte lang, wenn ihn nicht Beſuche in die
Umgegend führten, an ſeinem Schreibtiſch oder
durchſchritt im Selbſtgeſpräch das einfenſterige
Kabinet, das ſein Arbeitszimmer bildete.
Dies Arbeitszimmer war eben ſo tief wie
ſchmal, jo daß die gelben von Tabak- und Lampen⸗
rauch längſt grau gewordenen Wände, bei dem
wenigen Licht, das einfiel, noch dunkler erſchienen,
als ſie waren. Von Luxus keine Spur. Nur
für Bequemlichkeit war geſorgt, für jenes Alles—
zurhandhaben geiſtig beſchäftigter Männer, denen
nichts unerträglicher iſt, als erſt holen, ſuchen
oder gar warten zu müſſen. Die beiden Thüren
des Kabinets, von denen die eine nach der Halle,
die andere nach dem Damenzimmer führte, lagen
dem Fenſter zu, wodurch zwei breite Wandflächen
zur Aufſtellung eines Schreibtiſches und eines
Lederſophas, beide von beträchtlicher Länge, ge—
216 UHor dem Sturm.
wonnen waren. Ein dazwiſchen ſtehender garten—
ſtuhlartiger Holzſchemel würde die Kommunikation
vollſtändig geſchloſſen haben, wenn nicht die Tiſch—
platte eine entſprechende Einbuchtung gehabt
hätte. Ueber dem Schreibtiſch hing ein ſchönes
Frauenporträt, Bruſtbild, nachgedunkelt, über dem
Sopha ein ſchmaler länglicher Spiegel, deſſen
völlig verblaktes Glas über ſeine Nutzloſigkeit an.
dieſer Stelle keinen Zweifel ließ. Ein Schlüſſel⸗
brett, dazu zwei, drei Hirſchgeweihe mit allerhand
Mützen und Hüten daran, vollendeten die Ein—
richtung. In den Ecken ſtanden Stöcke umher,
eine Entenflinte und ein Kavalleriedegen, während
an den Panelen der Fenſterniſche mehrere Spezial—
karten von Rußland, mit Oblaten und Nägelchen,
je nachdem es ſich am bequemſten gemacht hatte,
befeſtigt waren. Zahlloſe rothe Punkte und
Linien zeigten deutlich, daß mit dem Zeitungs—
blatt in der Hand zwiſchen Smolensk und Moskau
bereits viel hin und her gereiſt worden war.
Dies war das Zimmer, in das, wie am
Schluſſe des vorigen Kapitels erzählt, Vater und
Sohn eintraten. Beide nahmen auf dem Sopha
Platz, gegenüber dem Frauenporträt, das jetzt
auf ſie nieder ſah. Berndt, der in ſeinem ge—
wöhnlichen Hauskoſtüm war: weite Beinkleider
Bor dem Aturm. 211
von ſchottiſchem Stoff, dunkler Sammtrock, dazu
ein rothſeidenes Tuch leicht um den Hals ge—
ſchlungen, ſtreckte den rechten Fuß auf ein hohes,
tabourettartiges Doppelkiſſen. Lewin aus Reſpekt
und Gewöhnung ſaß gerade aufrecht neben ihm.
„Nun was giebt es, Lewin, was bringſt Du?“
„Vielleicht eine Neuigkeit. Morgen werden
unſere Blätter das Bulletin bringen, das die
Vernichtung des Heeres zugeſteht. Ladalinskis
hatten den franzöſiſchen Text; Kathinka las uns
die Hauptſtellen vor. Es hat mich erſchüttert.“
„Auch mich, aber noch mehr hat es mich er—
hoben.“ |
„So kennſt Du ſchon den Inhalt? und ich
komme wieder zu ſpät.“
„Tante Amelie empfing den Zeitungsausſchnitt
ſchon geſtern; Du kennſt ihre alten Beziehungen.
Graf Droſſelſtein, der geſtern bei ihr war, erbot
ſich, mir perſönlich die Nachricht zu bringen.
Wir haben wohl eine Stunde geplaudert. Und
glaube mir, das Bulletin ſagt nicht die Hälfte.
Wir haben Briefe aus Minsk und Bialyſtock;
ſie ſind total vernichtet.“
„Welch' ein Gericht!“
„Ja, Lewin, Du ſprichſt das Wort. — Die
große Hand, die beim Gaſtmahl des Belſazar
218 Vor dem Sturm.
war, hat wieder ihre Zeichen geſchrieben und dies—
mal keine Räthſelzeichen. Jeder kann ſie leſen:
„Gezählt, gewogen und hinweg gethan.“ Ein
Gottesgericht hat ihn verworfen. Und doch fürchte
ich, Lewin, wir haben Neunmalweiſe am Ruder,
die dem zornigen Gott in den Arm fallen wollen.
Sie dürfen es nicht. Wagen ſie es, ſo ſind ſie
verloren, ſie und wir. — Wie iſt die Stimmung?“
„Gut. Es iſt mir, als wäre eine Wandlung
über die Gemüther gekommen. Das ganze Fühlen
iſt ein höheres; wo noch Niedrigkeit der Geſinnung
iſt, da wagt ſie ſich nicht hervor. Was fehlt, iſt
eins: ein leitender Wille, ein entſchlußkräftiges
Wort.“
„Das Wort muß geſprochen werden, ſo oder
ſo. Wenn die Menſchen ſtumm ſind, ſo ſchreien
es die Steine. Gott will es, daß wir ſeine
Zeichen verſtehen. Lewin, wir alle ſind hier ent—
ſchloſſen. Wir alle ſtehen hier des Wortes ge—
wärtig; wird es nicht geſprochen, jo folgen wir
dem lauten Wort, das in uns klingt. Es be—
gräbt ſich leicht im Schnee. Nur kein feiges
Mitleid. Jetzt oder nie. Nicht viele werden den
Niemen überſchreiten, über die Oder darf
keiner.“
Lewin ſchwieg eine Weile; er mied es, dem
Bor dem Sturm. 219
Blick des Vaters zu begegnen. Dann ſprach er
halb vor ſich hin: „Wir ſind die Verbündeten des
Kaiſers. Wir wollen das Bündniß löſen, Gott
gebe es, aber —“
„So mißbilligſt Du, was wir vorhaben?“
„Ich kann nicht anders. Das was Du vor-
haſt und was Tauſende der Beſten wollen, es iſt
gegen meine Natur. Ich habe kein Herz für das,
was ſie jetzt mit Stolz uud Bewunderung die
ſpaniſche Kriegsführung nennen. Alles, was von
hinten her ſein Opfer faßt, iſt mir verhaßt. Ich
bin für offenen Kampf, bei hellem Sonnenſchein
und ſchmetternden Trompeten. Wie oft habe ich
in Entzücken geweint, wenn ich auf der Fußbank
neben Mama ſaß und fie von ihrem Vater er-
zählte, wie er, kaum achtzehnjährig, in die ruſſiſchen
Vierecke einbrach und wie dann Rittmeiſter von
Wakenitz vor der Schwadron ihn küßte und ihm
zurief: „Junker von Dumoulin, laſſen Sie uns
die Degen tauſchen.“ Ja ich will Krieg führen,
aber deutſch, nicht ſpaniſch, auch nicht ſlaviſch.
Du weißt, Papa, ich bin meiner Mutter
Sohn.“ \
„Das biſt Du und ein Glück, daß Du es
biſt. Ueber Deiner Mutter Kindheit haben helle
Sterne geſtanden und ich bitte Gott, daß der
220 Nor dem Sturm.
Segen ihres Hauſes über Dir und über Re—
naten ſei.“ | |
Lewin ſah wieder vor ſich hin. Berndt
von Vitzewitz aber fuhr fort: „Ich weiß, was eine
Natur zu bedeuten hat; alles An- und Einge-
borene, das nicht gegen die Gebote Gottes ſtreitet,
iſt mir heilig; gehe Deinen Weg, Lewin, ich
zwinge Dich in nichts. Aber ich, in ſtillen Nächten
habe ich mir's geſchworen, ich will den meinen
gehen!“ |
Eine kurze Pauſe folgte, während welcher
Berndt in dem ſchmalen Zimmer auf und nieder
ſchritt. Dann, ohne des Schweigens zu achten,
in dem Lewin verharrte, ſprach er weiter: „Ihr
in den Städten, und Du biſt ein Stadtkind ge—
worden, Lewin, ihr wißt es nicht, ihr habt es
nicht recht erlebt. Unter den Augen der Macht-
haber nahm die Unterdrückung Maß und das Un—
geſetzliche geſetzliche Formen an. Sie rühmen ſich
deſſen ſogar und glauben es beinahe ſelbſt, daß
ſie unſere Ketten gebrochen haben. Aber wir auf
dem Lande, wir wiſſen es beſſer und ich ſage Dir,
Lewin, die rothe Hand, die Feuer an die Scheunen
legte, die die Goldringe von den Fingern unſerer
Todten zog, ſie iſt unvergeſſen hier herum und
eine röthere Hand wird ihr die Antwort geben.“
Bor dem Sturm. 991
Lewin wollte dem Vater antworten; aber dieſer,
die Heftigkeit ſeiner Rede plötzlich umſtimmend,
fuhr mit erſichtlicher Bewegung fort: „Du warſt
noch ein Knabe, als der böſe Feind in's Land
kam; der Glanz ſeiner Thaten ging vor ihm her.
Was er damals im Uebermuth ſeines Glückes
unſere Königin zu fragen ſich erdreiſtete: „Wie
mochten Sie's nur wagen, den Kampf gegen mich
aufzunehmen?“ dieſe Frage iſt ſeitdem von tauſend
Schwachen und Elenden im Lande ſelber nach—
geſprochen worden, als ob ſie das A und das O
aller Weisheit wäre. Und in dieſer Vorſtellung
unſerer Ohnmacht biſt Du herangewachſen, Du
und Renate. Ihr habt nichts geſehen, als unſere
Kleinheit, und ihr habt nichts gehört als die
Größe unſeres Siegers. Aber, Lewin, es war
einſt anders und wir Alten, die wir noch das
Auge des großen Königs geſehen haben, wir
ſchmecken bitter den Kelch der Niedrigkeit, der
jetzt täglich an unſeren Lippen iſt.“
„Und ich bin es ſicher,“ fiel jetzt Lewin ein,
„er wird von uns genommen werden. Wir werden
einen frohen, einen heiligen Krieg haben. Aber
zunächſt ſind wir unſeres Feindes Freund, wir
haben mit und neben ihm in Waffen geſtanden;
er rechnet auf uns, er ſchleppt ſich unſerer Thüre
222 Hor dem Sturm.
zu, hoffnungsvoll wie der Schwelle ſeines eigenen
Hauſes; das Licht, das er ſchimmern ſieht, be—
deutet ihm Rettung, Leben, und an der Schwelle
eben dieſes Hauſes faßt ihn unſere Hand und
würgt den Wehrloſen.“
In dieſem Augenblick begannen die Glocken
zu klingen, die von dem alten Hohen -Vietzer
Thurm her zur Kirche riefen. Sie klangen laut
und voll in dem klaren Wetter. Berndt horchte
auf; dann mit der Hand nach Oſten deutend,
von wo die Klänge herüber hallten, fuhr er ſeiner—
ſeits fort: „Ich weiß, daß geſchrieben ſteht, die
Rache iſt mein, und in menſchlicher Gebrechlich—
keit, das weiß der, der in die Herzen ſieht, bin
ich allezeit ſeinem Wort gefolgt. Ich fürchte nicht,
daß ich läſtere, wenn ich ausſpreche: Es giebt
auch eine heilige Rache. So war es, als Simſon
die Tempelpfoſten faßte und ſich und ſeine Feinde
unter Trümmern begrub. Vielleicht, daß auch
unſere Rache nichts anderes wird, als ein ge—
meinſchaftliches Grab. Sei's drum; ich habe ab—
geſchloſſen; ich ſetze mein Leben daran, und, Gott
ſei Dank, ich darf es. Dieſe Hand, wenn ich
ſie aufhebe, ſo erhebe ich ſie nicht, um perſönliche
Unbill zu rächen, nein, ich erhebe ſie gegen den
böſen Feind aller Menſchheit, und weil ich ihn
nnr u ET a u u te
Bor dem Sturm. 223
ſelber nicht treffen kann, ſo zerbreche ich ſeine
Waffe, wo ich ſie finde. Der große Schuldige
reißt viel Unſchuldige mit in fein Verhängniß;
wir können nicht ſichten und ſondern. Das Netz
iſt ausgeſpannt und je mehr ſich darin verfangen,
deſto beſſer. Wir ſprechen weiter davon, Lewin.
Jetzt iſt Kirchzeit. Laß uns Gottes Wort nicht
verſäumen. Wir bedürfen ſeiner.“
So trennten ſie ſich, als die Glocken zum
zweiten Mal ihr Geläut begannen.
V.
In der Kirche.
Das Summen der Glocken war noch in der
Luft, als Berndt von Vitzewitz, Renaten am Arm,
aus einem in den Schnee gefegten Fußſteig in
die große Nußbaumallee einbog, die, leiſe an—
ſteigend, von der Einfahrt des Herrenhauſes her
in gerader Linie zur Hügelkirche hinauf führte.
Dem voraufſchreitenden Paare folgten Lewin und
Tante Schorlemmer. Alle waren winterlich ge—
kleidet; die Hände der Damen ſteckten in ſchnee—
weißen Grönlandsmuffen; nur Lewin, alles Pelz—
werk verſchmähend, trug einen hellgrauen Mantel
mit weitem Ueberfallkragen.
224 Bor dem Sturm.
Die mehrgenannte Hügelkirche, der ſie zu—
ſchritten, war ein alter Feldſteinbau aus der erſten
chriſtlichen Zeit, aus den Koloniſationstagen der
Ciſtercienſer her; dafür ſprachen die ſauber be—
hauenen Steine, die Chorniſche und vor allem
die kleinen hochgelegenen Rundbogenfenſter, die
dieſer Kirche, wie allen vorgothiſchen Gotteshäuſern
der Mark, den Charakter einer Burg gaben.
Wenig hatten die Jahrhunderte daran geändert.
Einige Fenſter waren verbreitert, ein paar Seiten—
eingänge für den Geiſtlichen und die Gutsherr—
ſchaft hergerichtet worden; ſonſt, mit Ausnahme
des Thurmes und eines neuen Gruftanbaues der
nördlichen Langwand, ſtand alles wie es zu den
Mönchszeiten geſtanden hatte.
War nun aber das Aeußere der Kirche ſo
gut wie unverändert geblieben, ſo hatte das
Innere derſelben alle Wandlungen eines halben
Jahrtauſends durchgemacht. Von den Tagen an,
wo die Askanier hier ihre regelmäßig wieder—
kehrenden Fehden mit den Pommerherzögen aus-
fochten, bis auf die Tage herab, wo der große
König an eben dieſer Stelle, bei Zorndorf und
Kunersdorf, ſeine blutigſten Schlachten ſchlug,
war an der Hohen-Bieger Kirche kein Jahr—
hundert vorübergegangen, das ihr nicht in ihrer
Bor dem Sturm. 225
inneren Erſcheinung Abbruch oder Vorſchub ge—
leiſtet, ihr nicht das eine oder andere gegeben
oder genommen hätte. |
Ein gleiches, was hier eingeſchaltet werden
mag, gilt von der Mehrzahl aller alten märkiſchen
Dorfkirchen, die dadurch ihren Reiz und ihre
Eigenthümlichkeit empfangen. Beſonders im
Gegenſatz zu den weltlichen oder Profanbauten
unſeres Landes. Ueberblickt man dieſe, jo nimmt
man alsbald wahr, daß die eine Gruppe zwar
die Jahre, aber keine Geſchichte, die andere
Gruppe zwar die Geſchichte, aber keine Jahre
hat. Burg Soltwedel iſt uralt, aber ſchweigt.
Schloß Sansſouci ſpricht, aber iſt jung wie ein
Parvenü. Nur unſere Dorfkirchen ſtellen ſich
uns vielfach als die Träger unſerer ganzen
Geſchichte dar und die Berührung der Jahr—
hunderte unter einander zur Erſcheinung brin—
gend, beſitzen und äußern ſie den Zauber hiſtori—
ſcher Kontinuität.
Die Hohen-Vietzer Kirche hatte drei Ein—
gänge, der erſte für die Gemeinde von Weſten
her. Der Thurm, durch den dieſer Eingang
ging, war aus Feldſtein roh zuſammengemörtelt;
es fehlte die Sauberkeit, die den älteren Bau
auszeichnete. Von der Decke herab hing ein
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 117
226 Bor dem Sturm.
Seil, an dem die Betglocke geläutet wurde.
Rechts an der Wand hin ſtand ein Grabſcheit,
eine Todtenbahre; auf ihr lagen Leinentücher um
die Särge hinabzulaſſen. An der Wand gegen—
über waren wurmſtichige Holzpuppen, Ueberreſte
eines Schnitzaltars aus der katholiſchen Zeit her,
zuſammengefegt; daneben aufgeſchichtetes Knubben—
holz, wahrſcheinlich um die Sakriſtei zu heizen.
Das eigentliche Schauſtück dieſer Vorhalle war
aber die „Türkenglocke“, berühmt, wegen ihres
Tones und ihrer Größe, die, nachdem ſie lange
oben im Thurm gehangen und die Oder hinauf
und hinab geklungen hatte, jetzt geſprungen aus
ihrer Höhe herabgelaſſen war. Sie war — jo
wenigſtens ging die Sage — aus Geſchützen ge—
goſſen, die Iſaſchar von Vitzewitz (des alten
Matthias Sohn) aus dem Türkenkriege mit heim
gebracht hatte. Inſchriften bedeckten den Rand;
eine lautete:
Ruf ich, öffne deinen Sinn,
Gott zu dienen iſt Gewinn.
Der ſchwere Eiſenklöppel ſtand in einer
Ecke daneben. Aus dem Thurm trat man in
den Mittelgang der Kirche; dicht an der Schwelle
lag ein granitner Taufſtein, ohne Fuß oder
Träger, mitten durchgebrochen, noch aus der Zeit
nen . nl
Bor dem Sturm. 297
der Eiftercienfer her. Weiter links, in der Ede,
wo Thurm und Kirchenſchiff zuſammenſtießen,
war eine Niſche in die nördliche Längswand ge—
hauen; an einem Eiſenſtab hing eine Maria,
(das Chriſtkind war ihrem Arm entfallen), und
ihr zu Häupten ſtand einfach die Jahreszahl
1431. Das war das Huſſitenjahr. Kein Zweifel,
daß die Vitzewitze dieſen Votivaltar nach Abzug
des Feindes geſtiftet hatten. Rechts und links
vom Mittelgange, bis über die Hälfte der Kirche,
liefen die Kirchenſtühle hin, alle ſauber und ver—
ſchloſſen; nur die Thür des vorderſten ſtand halb
offen und hing in den Angeln. Dieſer hieß der
„Majorsſtuhl“ ſeit den Tagen, die der Kuners-
dorfer Schlacht unmittelbar gefolgt waren. Bis
hierher, durch Flucht und Graus hatten Grena—
diere vom Regiment Itzenplitz ihren verwundeten
Major getragen, auf dieſe Bank hatten ſie ihn
niedergelegt, hier hatte er ſich aufgerichtet und
die Binden abgeriſſen. „Kinder, ich will ſterben.“
Die Bank hatte einen Blutfleck 1 und jeder
mied die Stelle.
Einen Hauptſchmuck der Hohen-Vietzer Kirche
bildeten ihre Grabſteine. Einſt hatten ſie vom
Altar an bis mitten in das Kirchenſchiff hinein
gelegen; ſeitdem aber das alte Gewölbe zuge—
1
228 Bor dem Sturm.
ſchüttet und die neue Gruft, deren wir ſchon er-
wähnten, angebaut worden war, ſtanden ſie auf—
recht an der Nordwand der Kirche hin. Es
waren meiſt einfache Steine, je nach der Sitte
der Zeit mit langen oder kurzen Inſchriften ver⸗
ſehen, die von Malplaquet und Mollwig erzählten
oder auch von ſtilleren Tagen, in Hohen-Vietz
begonnen und beendet.
An zwei dieſer Steine knüpfte die Sage an.
Neben der Marienniſche ſtand einer, größer als
die andern und dicht beſchrieben. Wer die In⸗
ſchrift las, der wußte, daß Katharina von Goll-
mitz, eine Freundin des Hauſes, einſt unter
dieſem Steine gelegen hatte. Grete von Vitze—
witz, der Verſtorbenen in beſonderer Liebe zuge—
than, hatte ihr, als ſie während eines Beſuches
in Hohen⸗Vietz erkrankte und ſtarb, einen Ehren-
platz in der Kirche angewieſen; aber die Freundin
im Grabe hatte kein Gefühl für dieſe Auszeich-
nung und ſehnte ſich nach Haus. Immer wenn
Grete Vitzewitz über den Grabſtein hinſchritt,
hörte ſie eine Stimme: „Grete, mach auf!“ Da
machten ſie endlich auf und brachten den Sarg
nach Jargelin, wo Katharina von Gollwitz ihre
Heimath hatte. Nun wurde es ſtill. Den Grab-
ſtein aber mauerten ſie in die Wand.
Bor dem Sturm. 229
Ein anderer Stein, deſſen Inſchrift längſt
weggetreten war, lag noch dicht vor dem Altar.
Er war der einzige, den man an alter Stelle
belaſſen hatte, vielleicht weil er zerbrochen war.
Er weigerte ſich hartnäckig, mit den neben ihm
liegenden Flieſen gleiche Linie zu halten, und
bildete nach und nach eine Mulde. Wie oft auch
ſeine zwei Hälften aufgenommen und Sand und
Gerölle in die Vertiefung hineingeſtampft wurden,
der Stein ſank immer wieder. Das Volk ſagte:
„Da liegt der alte Matthias; der geht immer
tiefer.“
Dies war nun freilich ein Irrthum, der alte
Matthias lag an anderer Stelle, wohl aber ge—
hörte ihm das große Grabmonument an, das,
nach der künſtleriſchen Seite hin, den Haupt—
ſchmuck der Hohen-Vietzer Kirche bildete. Es
war ein Marmordenkmal, überladen, rococohaft,
dabei jedoch von großer Meiſterſchaft der Arbeit.
Dem Gegenſtande nach zeigte es eine gewiſſe
Verwandtſchaft mit dem Altarbilde des Saal-
anbaues. Matthias von Vitzewitz und ſeine Ge—
mahlin knieend, dabei voll Andacht zu einer
Kreuzigung Chriſti emporblickend. Alles Bas⸗
relief, nur die Knieenden faſt in losgelöſter
Figur. Darunter ihre Namen und die Daten
230 Bor dem Sturm.
ihres Lebens und Sterbens. Ein niederländiſcher
Meiſter hatte das Werk gefertigt und es per—
ſönlich zu Schiff bis in die Oder hinauf gebracht.
Als die Bewohner des Herrenhauſes die
Kirche betraten, begann eben der Geſang der
Gemeinde. Eine ſchmale Treppe, an einem der
kleinen Seiteneingänge ausmündend, führte zu
dem herrſchaftlichen Stuhle hinauf. Dieſer, ein
auf Pfeilern ruhender, ſehr einfacher Holzbau,
war urſprünglich durch hohe Schiebefenſter ge—
ſchloſſen geweſen, längſt aber waren dieſe be—
ſeitigt und nur noch zwei ſchmale Bretter, die
von der Brüſtung bis zur vollen Höhe der Decke
aufſtiegen, theilten den Raum in drei große
Rahmen ab. Vorn an der Wandung war das
Vitzewitz'ſche Wappen angebracht, ein Andreas—
kreuz, weiß auf rothem Grunde.
In Front dieſes herrſchaftlichen Stuhles, hart
an der Brüſtung hin, nahmen die Eintretenden
geräuſchlos Platz: erſt Berndt von Vitzewitz, links
neben ihm Renate, dann Tante Schorlemmer.
Lewin ſtellte ſeinen Stuhl in die zweite Reihe.
So vernachläſſigt alles war, ſo war es doch nicht
ohne einen gewiſſen Reiz. Gleich zur Rechten
Altar und Kanzel; in Front des Altars das
Taufbecken, eine ſilberne mit allegoriſchen Figuren
Bor dem Sturm. 231
und unentzifferbaren Inſchriften reich ausge—
ſchmückte Schüſſel, die nur mit großer Mühe vor
den Händen des Feindes gerettet worden war.
An der Wand gegenüber das vorerwähnte Mar—
mordenkmal des alten Matthias und ſeiner Ge—
mahlin, das beſte aber, was dieſer unſcheinbaren
Stelle eigen war, war doch das große, faſt einen
Halbkreis bildende Fenſter, das einen Blick auf
den Kirchhof und weiter hügelabwärts auf ein»
zelne zerſtreute, wie Vorpoſten ausgeſtellte Hütten
und Häuſer des Dorfes geſtattete. Neben dieſem
Fenſter, hart an der Kirchwand, ſtand ein Eiben-
baum, der von der Seite her die längſten ſeiner
Zweige vorſchob und regelmäßig an die Scheiben
klopfte, wenn Paſtor Seidentopf ſeine dreigetheilte
Predigt den Hohenvietzern ans Herz legte. Lewin
ſetzte ſich immer ſo, daß er einen Blick auf das
Fenſter frei hatte. Er ſtand wohl feſt auf dem
Catechismo Lutheri, wie alle Vitzewitze, ſeitdem
die gereinigte Lehre ins Land gekommen war, aber
da war doch ein anderes in ihm, das ihn von
Zeit zu Zeit trieb, mehr auf den Eibenbaum
draußen als auf die Stimme von der Kanzel her
zu achten, wäre dieſe Stimme auch mächtiger ge—
weſen, als die ſeines alten Lehrers und Freundes,
dem die ſonntägliche Erbauung oblag.
232 Bor dem Sturm.
Die Sonne ſchien hell und ein einfallendes
Streiflicht erleuchtete in plötzlichem Glanz die
halbe Nordwand, vor allem das große Grab—
denkmal dem herrſchaftlichen Chorſtuhl gegenüber.
Die lebensgroßen Figuren waren wie von roſigem
Leben angehaucht. Lewin hatte die Schönheit
dieſes Bildwerkes nie ſo voll empfunden; er
las die langen Inſchriften, wie er ſich geſtand,
zum erſten Mal.
Der Geſang ſchwieg; ſchon während des.
letzten Verſes war Prediger Seidentopf auf die
Kanzel getreten, ein Sechsziger, mit ſpärlichem
weißen Haar, von würdiger Haltung und mild
im Ausdruck ſeiner Züge. Lewin hing an der
wohlthuenden Erſcheinung, ſenkte dann den Blick
und folgte in andächtiger Betrachtung dem ſtillen
Gebet. Die Gemeinde that ein Gleiches, neigte
ſich und ſchaute voll herzlichem Verlangen zu
ihrem Geiſtlichen auf, als dieſer fein Gebet be—
endet und ſein Haupt wiederum erhoben hatte.
Denn die Gemüther waren damals offen für
Troſt und Zuſpruch von der Kanzel her und
rechneten nicht nach, ob die Worte lutheriſch oder
kalviniſtiſch klangen, ſo ſie nur aus einem
preußiſchen Herzen kamen. Das wußte Seiden—
topf, der in gewöhnlichen Zeiten manche Wider—
1 PPP r
n
Bor dem Sturm. 233
ſacher unter den ſtrenggläubigen Konventiklern
ſeines Dorfes zu bekämpfen hatte, und ein heller
Glanz, wie ihn ihm die innere Freude gab, um—
leuchtete ſeine Stirn, als er nach Leſung des
Evangeliums die Textesworte zu erklären begann.
Er ſprach von dem Engel des Herrn, der den
Hirten erſchien, um ihnen die Geburt eines neuen
Heiles zu verkünden. Solche Engel, ſo fuhr er
fort, ſende Gott zu allen Zeiten, vor allen dann,
wenn die Nacht der Trübſal auf den Völkern
läge. Und eine Nacht der Trübſal ſei auch über
dem Baterlande; aber ehe wir es dächten, würde
inmitten unſeres Bangens der Engel erſcheinen
Rund uns zurufen: „Fürchtet Euch nicht, ſiehe, ich
verkündige Euch große Freude.“ Denn das
Gericht des Herrn habe unſere Feinde getroffen,
und wie damals die Waſſer zuſammenſchlugen
und „bedeckten Wagen und Reiter und alle Macht
des Pharao, daß nicht einer aus ihnen übrig
blieb,“ ſo ſei es wiederum geſchehen.
An dieſer Stelle, auf das Weihnachtsevan—
gelium kurz zurückgreifend, hätte Paſtor Seiden—
topf ſchließen ſollen; aber unter der Wucht der
Vorſtellung, daß eine richtige Predigt auch eine
richtige Länge haben müſſe, begann er jetzt, den
Vergleich zwiſchen dem alten und dem neuen
234 Nor dem Sturm.
Pharao bis in die kleinſten Züge hinein durch—
zuführen. Und dieſer Aufgabe war er nicht ge—
wachſen. Dazu gebrach es ihm an Schwung der
Phantaſie, an Kraft des Ausdrucks und Charakters.
Schemenhaft zogen die Aegypterſchaaren vorüber.
Die Aufmerkſamkeit der Gemeinde wich einem
todten Horchen, und Lewin, der bis dahin kein
Wort verloren hatte, ſah von der Kanzel fort
und begann ſeine Aufmerkſamkeit dem Fenſter
zuzuwenden, vor dem jetzt ein Rothkehlchen auf
der beſchneiten Eibe ſaß und in leichtem Schaukeln
den Zweig des Baumes bewegte.
Nur Berndt folgte in Friſche und Freudig—
keit der Rede ſeines Paſtors. Seine eigene
Energie half nach; wo die Konturen nicht aus—
ausreichten, zog er ſeine ſcharfen Linien in die
unſicher ſchwankenden hinein. Was als Schatten
kam, wurde zu Leben und Geſtalt. Er ſah die
Aegypter. Bataillone mit goldenen Adlern, Reiter—
geſchwader, über deren weiße Mäntel die ſchwarzen
Roßſchweife fielen, ſo ſtiegen ſie in endlos langem
Zuge vor ihm auf und über all ihrer Herrlichkeit
ſchloſſen ſich die Wellen des Meeres. Nur über
einem ſchloſſen ſie ſich nicht; er gewann das
Ufer, ein nördliches Eisgeſtade, und ſiehe da,
über glitzernde Felder hin flog jetzt ein Schlitten
Bor dem Sturm. 235
und zwei dunkle tiefliegende Augen ſtarrten in
den aufſtäubenden Schnee. Paſtor Seidentopf
hatte keinen beſſeren Zuhörer als den Patron
ſeiner Kirche, der — und nicht heute blos —
die freundlich ſchöne Kunſt des Ergänzens zu
üben verſtand. Aus der Skizze ſchuf er ein
Bild und glaubte doch dies Bild von außen
her, aus der Hand ſeines Freundes, empfangen
zu haben.
Nun war der Sand durch die Uhr gelaufen,
die Predigt ſelbſt geſchloſſen. Da trat der Paſtor
noch einmal an den Rand der Kanzel, und mit
eindringlicher Stimme, der ſofort alle Herzen
wieder zufielen, hob er an: „Mit Chriſti Geburt,
die wir heute feiern, beginnt das chriſtliche neue
Jahr. Ein neues Jahr, was wird es uns
bringen? Es wiſſen zu wollen, wäre Thorheit;
aber zu hoffen iſt unſerem Herzen erlaubt. Gott
hat ein Zeichen gegeben; mögen wir es zum
Rechten deuten, wenn wir es deuten: er will
uns wieder aufrichten, unſere Buße iſt ange—
nommen, unſere Gebete ſind erhört. Die Geißel,
die nach ſeinem Willen ſechs lange Jahre über
uns war, er hat ſie zerbrochen; er hat ſich un—
ſerer Knechtſchaft erbarmt und die Weihnachts—
ſonne, die uns umſcheint, ſie will uns verkündigen,
236 Bor dem Sturm.
daß wieder hellere Tage unſerer harren. Ob
ſie kommen werden mit Palmen, oder ob ſie
kommen werden mit Schwerterklang, wer ſagt
es? Wohl miſcht ſich ein Bangen in unſere
Hoffnung, daß der Sieg nicht einziehen wird
ohne letzte Opfer an Gut und Blut. Und ſo
laßt uns denn beten, meine Freunde, und die
Gnade des Herrn noch einmal anrufen, daß er
uns die rechte Kraft leihen möge in der Stunde
der Entſcheidung. Das Wort des Judas Makka⸗
bäus ſei unſer Wort: „Das ſei ferne, daß wir
fliehen ſollten. Iſt unſere Zeit kommen, ſo
wollen wir ritterlich ſterben um unſerer Brüder
willen und unſere Ehre nicht laſſen zu Schanden
werden.“ Gott will kein Weltenvolk, Gott will
keinen Babelthurm, der in den Himmel ragt, und
wir ſtehen ein für ſeine ewigen Ordnungen, wenn
wir einſtehen für uns ſelbſt. Unſer Herd,
unſer Land ſind Heiligthümer nach dem Willen
Gottes. Und ſeine Treue wird uns nicht laſſen,
wenn wir getreu ſind bis in den Tod. Handeln
wir, wenn die Stunde da iſt, aber bis dahin
harren wir in Geduld.“
Er neigte ſich jetzt, um in Stille das Vater—
unſer zu ſprechen; die Orgel fiel mit feierlichen
Klängen ein; die Gemeinde, ſichtlich erbaut durch
Bor dem Sturm. 237
die Schlußworte, verließ langſam die Kirche.
Auf den verſchiedenen Schlängelwegen, die von
der Kirche ins Dorf hernieder führten, ſchritten
die Bauern und Halbbauern ihren halbverſchneiten
Höfen zu. Die Frauen und Mädchen folgten.
Wer von der Dorfſtraße aus dieſem Herabſteigen
zuſah, dem erſchloß ſich ein anmuthiges Bild:
der Schnee, die wendiſchen Trachten und die
funkelnde Sonne darüber.
Die Gutsherrſchaft nahm wieder ihren Weg
durch die Nußbaumallee. Als ſie, einbiegend, an
die Hofthür kamen, ſtand Kriſt an der unterſten
Steinſtufe und zog ſeinen Hut. Die ſilberne
Borte daran war längſt ſchwarz, die Kokarde
verbogen. Berndt, als er ſeines Kutſchers an—
ſichtig wurde, trat an ihn heran und ſagte kurz:
„Fünf Uhr vorfahren! Den kleinen Wagen.“
„Die Braunen, gnädiger Herr?“
„Nein, die Ponies.“
„Zu Befehl!“ Mit dieſen Worten traten
unſere Freunde ins Haus zurück.
238 Dor dem Sturm.
VI.
Am Kamin.
Punkt fünf Uhr war Kriſt vorgefahren;
Berndt liebte nicht zu warten. Von den Kindern
hatte er kurzen Abſchied genommen, um ſeiner
Schweſter auf Schloß Guſe, oder der „Tante
Amelie,“ wie ſie im Hohen-Vietzer Hauſe hieß,
einen nachbarlichen Beſuch zu machen. Daß er
noch am ſelben Abend zurückkehren werde, war
nicht anzunehmen; er hatte vielmehr angedeutet,
daß aus der kurzen Ausfahrt eine Reiſe nach der
Hauptſtadt werden könne. Die Unruhe ſeiner
Empfindung trieb ihn hinaus. Den Weihnachts-
aufbau, wie ſeit Jahren, hatte er ſich auch heute
nicht nehmen laſſen wollen, aber kaum frei, im
Gefühl erfüllter Pflicht, ſchlugen ſeine Gedanken
die alte Richtung ein. Es drängte ihn nach
Aktion, oder doch nach Einblick in die Welt-
händel; ein Bedürfniß, das ihm die Enge ſeines
Hauſes nicht befriedigen konnte. In der Unter—
haltung, das hatte Lewin bei Tiſche empfunden,
that er ſich Zwang an, und das Gefühl davon
nahm auch dem Geſpräch der Kinder jede freie
Bewegung. Eine gewiſſe Befangenheit griff Platz.
So kam es, daß man die Abweſenheit des Vaters,
Bor dem Sturm. 239
bei aufrichtigſter Liebe zu ihm, faſt wie eine Be—
freiung empfand; Herz und Zunge konnten ihren
Weg gehen, wie fie wollten. Unſere Hohen⸗
Vietzer Geſchwiſter empfanden übrigens, wie kaum
erſt verſichert zu werden braucht, nicht kleiner
oder ſelbſtſüchtiger, als andere im Lande; ſie
wollten nur nicht gezwungen ſein, über den
„Böſeſten der Menſchen“ immer wieder und
wieder zu ſprechen, als wäre nichts Sprechens—
werthes in der Welt als dieſer eine. |
Sie hatten ſich ſammt Tante Schorlemmer
im Wohnzimmer eingefunden und ſaßen jetzt, es
mochte die ſiebente Stunde ſein, um den hohen
altmodiſchen Kamin. Mit ihnen war Marie, die
Freundin Renatens, des reichen Kniehaſe dunkel—
äugige Tochter, deren Beſuch für dieſen Abend
angekündigt war. Jede der drei Damen war
nach ihrer Weiſe beſchäftigt. Renate, dem Kamin
zunächſt ſitzend, hielt einen Palmenfächer in der
Rechten, mit dem ſie die Flamme bald anzufachen,
bald ſich gegen dieſelbe zu ſchützen ſuchte; Tante
Schorlemmer ſtrickte mit vier großen Holznadeln
an einem Shawl, der wie ein Fließ neben ihrem
Lehnſtuhl niederfiel; Marie blätterte neugierig in
einer grönländiſchen Reiſebeſchreibung, die ihr
Tante Schorlemmer zum heiligen Chriſt beſcheert
240 Bor dem Sturm.
und mit einem Widmungsverſe aus Zinzendorf
ausgeſtattet hatte. Zwiſchen Marie und Lewin,
aber keineswegs als eine Scheidewand, ſtand der
Weihnachtsbaum, den Jeetze von der Halle her
hereingetragen hatte. Das Plündern, das Sache
Lewins war, nahm eben ſeinen Anfang. Jede
goldene Nuß, die er pflückte, warf er in hohem
Bogen über die Spitze des Baumes fort, an
deſſen entgegengeſetzter Seite Marie mit glück—
licher Handbewegung danach haſchte. Im Werfen
und Fangen jedes gleich geſchickt.
Lewin freute ſich dieſes Spieles; zudem war
er von Alters her nie beſſerer Laune, als wenn
er ſich den Süßigkeiten des Weihnachtsbaumes
gegenüber ſah. Das Naſchen war ſonſt nicht ſeine
Sache, aber die Pfennigreiter, die Nonnen, die
Fiſche, machten ihn kritiklos und ließen ihn einmal
über das andere verſichern, „daß in dem platt—
gedrückteſten Pfefferkuchenbild immer noch ein
Tropfen vom himmliſchen Manna ſei.“
Die gute Laune Lewins ſteigerte ſich bald
bis zur Neckerei, unter der niemand mehr zu
leiden hatte als Tante Schorlemmer. „Du ſollſt
den Feiertag heiligen,“ rief er ihr zu und wies
dabei auf die vier hölzernen Stricknadeln, die,
wie ſich von ſelbſt verſteht, nach dieſer ſcherzhaften
r r ee u an dr —
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7 7 +
Nor dem Sturu. 241
Reprimande nur um ſo eifriger zu klappern be—
gannen. Endlich wurde es ihr zu viel. Sie ver⸗
färbte ſich und reſolvirte kurz: „meine Grönländer
können nicht warten.“
Da wir nun im langen Verlauf unſerer Er—
zählung nirgends einen Punkt entdecken können,
der Raum böte für eine biographiſche Skizze unter
dem Titel „Tante Schorlemmer,“ ſo halten wir
hier den Augenblick für gekommen, uns unſerer
Pflicht gegen dieſe treffliche Dame zu entledigen.
Denn Tante Schorlemmer iſt keine Nebenfigur
in dieſem Buche, und da wir ihr, nach flüchtiger
Bekanntſchaft in Flur und Kirche, an dieſer Stelle
bereits zum dritten Male begegnen, ſo hat der
Leſer ein gutes Recht, Aufſchluß darüber zu ver—
langen, wer Tante Schorlemmer denn eigent—
lich iſt.
Tante Schorlemmer war eine Herrnhuterin.
Eines Tages, das lag um dreißig Jahre zurück,
war ihr, der damaligen Schweſter Brigitte, die
Mittheilung gemacht worden, daß Bruder Jonathan
Schorlemmer, zur Zeit in Grönland, eine eheliche
Gefährtin wünſche, bereit, ihm in ſeinem ſchweren
Werke zur Seite zu ſtehen. Sie hatte dieſem
Rufe gehorſamt, ihre Wäſche gezeichnet und war
mit dem nächſten däniſchen Schiff von Hamburg
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 118
242 Nor dem Sturm.
aus gen Norden gefahren. An einem Tage, der
keine Nacht hatte, war ſie in Grönland gelandet,
Bruder Schorlemmer hatte ſie empfangen und
ihren Bund perſönlich eingeſegnet. Die Ehe blieb.
kinderlos, deſſen ſich jedoch beide in chriſtlicher
Ergebung getröſteten. So vergingen ihnen zehn.
glückliche Jahre. Zu Beginn des elften ſtarb
Jonathan Schorlemmer an einem Lungenkatarrh,
und wurde in einem mit Seehundsfell beſchlagenen
Sarge begraben. Seine Wittwe aber, nachdem
ſie die Bevölkerung mit allem was ſie hatte, be—
ſchenkt und jedem einzelnen verſichert hatte, ihn
nie vergeſſen zu wollen, kehrte mit dem Grön—
landſchiff zunächſt nach Kopenhagen und von dort
aus in die deutſche Heimath zurück.
In die deutſche Heimath, aber nicht nach
Herrnhut. Auf der weiten Rückreiſe Berlin
berührend, wo ihr einige Anverwandte lebten,
beſchloß ſie, im Kreiſe derſelben zu verbleiben
und bezog in jenem Stadttheile, der fünfzig Jahre
früher den einwandernden böhmiſchen Brüdern
und Herrnhutern als Wohnplatz angewieſen
worden war, ein beſcheidenes Quartier. In
dieſen kleinen Häuſern der Wilhelmſtraße würde
ſie ihr ſtilles und treues Leben ſehr wahrſchein—
lich beſchloſſen haben, wenn ihr nicht eines Tages.
a
Bor dem Sturm. 243
ein Blatt ins Haus geflogen wäre, auf dem ſie
das Folgende las: „Eine ältere Frau, am liebſten
Wittwe, wird zur Führung eines Haushaltes auf
dem Lande geſucht. Eine Tochter von zwölf
Jahren ſoll ihrer beſonderen Obhut anvertraut
werden. Bedingungen: Verträglichkeit und Chriſt⸗
lichkeit. Anfragen ſind zu richten an: B. v. V.,
poste restante Küſtrin.“ Tante Schorlemmer
ſchrieb; alles Geſchäftliche erledigte ſich ſchnell.
Um Weihnachten 1806 traf ſie in Hohen-⸗Vietz
ein, in deſſen Herrenhauſe gerade damals ein
trübes Chriſtfeſt gefeiert wurde. Man trat ſich
gegenſeitig vertrauungsvoll entgegen, und nach
wenig Wochen ſchon begann der Einfluß unſerer
Freundin ſich geltend zu machen. Nicht das Glück,
aber Ruhe und Frieden waren in ihrem Geleit.
Renate hing ihr an, Lewin verehrte ihre Für⸗
ſorge, Berndt von Vitzewitz hatte einen tiefen
Reſpekt vor ihrem Herrnhuterthume.
Und darin unterſchied er ſich freilich von
ſeinen Kindern. Dieſe beugten ſich wohl vor der
Aufrichtigkeit aber nicht vor der Tiefe von Tante
Schorlemmers chriſtlichem Gefühl. Ihre Leiden-
ſchaftsloſigkeit, die dem Vater jo wohl that, er⸗
ſchien den Geſchwiſtern einfach als Schwäche.
Nach Anſicht beider gebrauchte ſie ihr Chriſten—
| 118*
244 Bor dem Sturm.
thum wie eine Hausapotheke und darin lag etwas
Wahres. Für alle mehr gewöhnlichen Fälle hatte
ſie das Sal sedativum einer frommen Alltags⸗
betrachtung, wie „Rechte Treu kennt keine Scheu“
oder „So dunkel iſt keine Nacht, daß Gottes Auge
nicht drüber wacht;“ für ernſtere Fälle jedoch
griff ſie nach dem ſtarken und nervenerfriſchenden
Sal volatile irgend eines Kraftſpruches: „Was
will Satan und ſeine Liſt, wenn mein Herr Jeſus
mit mir iſt.“ Das unterſcheidende Merkmal
zwiſchen den ſchwachen und ſtarken Mitteln be—
ſtand im weſentlichen darin, daß in den letzteren
jedesmal der Böſe herausgefordert und ihm die
Nutzloſigkeit ſeiner Anſtrengungen entgegengehalten
wurde. Alle dieſe Sprüche aber, ob ſchwach oder
ſtark, wurden eben ſo ſehr im feſten Glauben an
ihre innewohnende Kraft, wie mit der äußerſten
Seelenruhe vorgetragen. Und da ſteckte die Schuld,
oder doch das, was den Geſchwiſtern als Schuld
erſchien. Dieſe Seelenruhe, die ſich neben dem
Maß geforderter Theilnahme oft wie Theilnahm—
loſigkeit ausnahm, reizte die jungen Gemüther
und ſtellte ihre Geduld auf manche harte Probe.
Berndt verſtand dies ſtille Chriſtenthum beſſer
und hatte an ſich ſelbſt erfahren, daß der Troſt
Hor dem Sturm. 245
aus dem Worte Gottes mehr war, als der Wort-
troſt der Menſchen.
So war Tante Schorlemmer. — Das Scherzen
über ihre vorgeblich freie Stellung zum dritten
Gebot, hatte ſie einen Augenblick ernſtlich ver—
droſſen; Lewin aber, ohne deſſen zu achten, fuhr
in ſeinen Neckereien fort: „Unſere Freundin
ſcheint übrigens keine Ahnung zu haben, welch'
hoher Beſuch inzwiſchen vor dem Herrnhuter Ge—
meindehauſe gehalten hat.“
„Wer?“ riefen die beiden Mädchen.
„Niemand Geringeres als Napoleon ſelbſt.
In der Nacht vom elften zum zwölften. Und
die Herrnhuter haben wieder verſäumt, ſich heroiſch
in die Weltgeſchichte einzuführen. Sie haben den
Kaiſer angegafft, ſo weit es bei Nacht und Schnee—
treiben möglich war, und haben ihn weiter fahren
laſſen. Das macht, weil der herrnhutiſche Muth
im Auslande lebt, in China, in Grönland, in
Hohen-Vietz. Ueberall iſt er, nur nicht daheim.
Tante Schorlemmer, deſſen bin ich gewiß, hätte
ihn verhaften und als Weltfriedensbrecher vor
Gericht ſtellen laſſen.“
Die Angeredete drohte mit einer ihrer großen
Nadeln zu Lewin hinüber, dem es übrigens nahe
bevorſtand, ſich aus dem Angriff in die Ber-
246 Hor dem Sturm.
theidigung gedrängt zu ſehen. Der „Empereur“
war nicht umſonſt eitirt worden; einmal in das
Geſpräch hineingezogen, gleichviel ob im Ernſt
oder Scherz, begann er ſeine Macht zu üben,
und Lewin, wenigſtens momentan des neckiſchen
Tones vergeſſend, begann ein Bild jener flucht—
artigen Reiſe zu geben, die den zum erſten Mal
von ſeinem Glück verlaſſenen Kaiſer in vierzehn-
tägiger Fahrt von Smolensk bis in ſeine Haupt⸗
ſtadt zurückgeführt hatte. Er gab Altes und
Neues, bei einzelnen Punkten länger verweilend,
als vielleicht nöthig geweſen wäre.
Tante Schorlemmer und Marie waren der
Erzählung aufmerkſam gefolgt; Renate aber warf
hin: „Vorzüglich und wie belehrend! Ein wahrer
Generalbericht über ruſſiſch-deutſche Poſtſtationen.
O, Ihr großſtädtiſchen Herren, wie ſeid Ihr doch
ſo ſchlechte Erzähler, und je ſchlechter, je klüger
Ihr ſeid. Immer Vortrag, nie Geplauder!“
„Sei's drum, Renate; ich will nicht wider—
ſprechen. Aber wenn wir ſchlechte Erzähler ſind,
ſo ſeid Ihr Frauen noch ſchlechtere Hörer. Ihr
habt keine Geduld, und die Wahrnehmung davon
verwirrt uns, läßt uns den Faden verlieren und
führt uns, links und rechts tappend, in die Breite.
Ihr wollt Guckkaſtenbilder: Brand von Moskau,
Bor dem Sturm. 247
Roſtopſchin, Kreml, Uebergang über die Bereſina,
alles in drei Minuten. Die Erzählung, die Euch
und Euer Intereſſe tragen ſoll, ſoll bequem wie
eine gepolſterte Staatsbarke, aber doch auch
handlich wie eine Nußſchale ſein. Ich weiß wohl,
wo die Wurzel des Uebels ſteckt: der Zuſammen—
hang iſt Euch gleichgiltig; Ihr ſeid Springer.“
Renate lachte. „Ja, das ſind wir; aber
wenn wir zu viel ſpringen, ſo ſpringt Ihr zu
wenig. Eure Gründlichkeit iſt beleidigend. Immer
glaubt Ihr, daß wir in der Weltgeſchichte weit
zurück ſeien, und wir wiſſen doch auch, daß der
Kaiſer in Paris angekommen iſt. O, ich könnte
Bulletins von Hohen-Vietz aus datiren. Aber
laſſen wir unſere Fehde, Lewin. Was iſt es mit
den rothen Scheiben im Schloßhof von Berlin?
In der Zeitung war eine Andeutung; Kathinka
ſchrieb ausführlicher davon.“
„Was ſchrieb ſie?“
„Wie Du nur biſt. Nun kümmert Dich
wieder, was Kathinka ſchrieb. Daß ich ſo thöricht
war, den Namen zu nennen.“
Lewin ſuchte ſeine flüchtige Verlegenheit zu
verbergen. „Du irrſt, ich ſchweife nicht ab; mich
hat das Phänomen lebhaft beſchäftigt. Es kam
dreimal; am dritten Tage habe ich es geſehen.“
248 Nor dem Sturm.
„Und was war es?“
„An allen drei Tagen, etwa eine halbe
Stunde nach Sonnenuntergang, erglühten plötzlich
die oberen Fenſter des alten Schloßhofes. Die
Wachen meldeten es. Da die Sonne längſt unter
war, jo dachte man an Feuer. Aber es fand id)
nichts. Auf dem neuen Schloßhof blieben die
Fenſter dunkel. Die Leute ſagen, es bedeute
Krieg.“
„Ein leichtes Prophezeien,“ bemerkte Tante
Schorlemmer ruhig. „Wir hatten Krieg in dieſem.
Jahre und werden ihn mit in das neue hinüber
nehmen.“
„Ich glaube,“ fuhr Lewin fort, „der ganze—
Vorgang wäre ſchnell vergeſſen worden, wenn
nicht eines unſerer Blätter, das Euch nicht zu
Händen kommt, am zweitfolgenden Tage ſchon.
eine Geſchichte gebracht hätte, die bei allem
Dunklen erſichtlich darauf berechnet war, der Er—
ſcheinung im Schloß eine tiefere Bedeutung zu.
geben, ſo etwas wie Zeichen und Wunder.“
„O erzähle!“
„Ja. Aber Du darfſt nicht ungeduldig
werden.“
„Biſt Du empfindlich?“
„Wohlan denn. Es iſt eine Geſchichte aus
Bor dem Sturm. 249
dem Schwediſchen. Die Ueberſchrift, die das
Blatt ihr gab, war: „Karl XI. und die Er-
ſcheinung im Reichsſaale zu Stockholm.“ Ich
bürge nicht dafür, daß ich alles genau ſo wieder—
gebe, wie's in dem Blatte ſtand, aber in den
Hauptſtücken bin ich meiner Sache gewiß. Was
man gern hat, behält man. „Gedächtniß iſt
Liebe,“ ſagte Tubal noch geſtern, und ſelbſt
Kathinka ſtimmte bei.“
Bei dem Namen Tubal kam das Erröthen
an Renate. Lewin aber, als ob er es nicht be—
merkt habe, fuhr fort: „Karl XI. war krank.
Er lag ſchlaflos zu ſpäter Stunde in ſeinem
Zimmer und ſah nach der anderen Seite des
Schloßhofes hinüber, auf die Fenſter des Reichs-
ſaales. Bei ihm war niemand als der Reichs—
droſt Bjelke. Da ſchien es dem König, daß die
Fenſter des Reichsſaales zu glühen anfingen und
darauf hindeutend, fragte er den Reichsdroſten:
„Was iſt das für ein Schein?“ Der Reichs—
droſt antwortete: „Es iſt der Schein des Mondes,
der gegen die Fenſter glitzert.“ In demſelben
Augenblick trat der Reichsrath Oxenſtierna herein,
um ſich nach dem Befinden des Königs zu er—
kundigen, und der König, wieder auf die glühenden
Scheiben deutend, fragte den Reichsrath: „Was
250 Bor dem Sturm.
iſt das für ein Schein? Ich glaube, das iſt
Feuer.“ Auch der Reichsrath antwortete: „Nein,
gottlob, das iſt es nicht; es iſt der Schein des
Mondes, der gegen die Fenſter glitzert.“ Die
Unruhe des Königs wuchs aber, und er ſagte
zuletzt: „Gute Herren, da geht es nicht richtig
zu; ich will hingehen und erfahren, was es fein
kann.“ Sie gingen darauf einen Korridor ent—
lang, der an den Zimmern Guſtav Erichſons
vorüber führte, bis daß ſie vor der großen
Thüre des Reichsſaales ſtanden. Der König
forderte den Reichsdroſten auf, die Thür zu
öffnen, und als dieſer bat, in dieſer Nacht die
Thür geſchloſſen zu laſſen, nahm der König ſelbſt
den Schlüſſel und öffnete. Als er den Fuß auf
die Schwelle ſetzte, trat er haſtig zurück und
ſagte: „Gute Herren, wollt Ihr mir folgen, ſo
werden wir ſehen, wie es ſich hier verhält;
vielleicht daß der gnädige Gott uns etwas offen—
baren will.“ Sie antworteten: „Ja.“
Hier wurde Lewin unterbrochen. Jeetze
trat ein, um eine Schale mit Obſt auf den
Tiſch zu ſtellen, Erdbeeräpfel und Gravenſteiner,
die in Hohen-Vietz vorzüglich gediehen. Tante
Schorlemmer benutzte die Unterbrechung, um
einige wirthſchaftliche Ordres zu geben, Renate
Bor dem Sturm. 251
aber bemerkte: Ich vermiſſe die Beziehungen;
aber freilich, je geheimnißvoller, deſto anregender
für die Phantaſie.“
Lewin nickte zuſtimmend. „Dieſer Eindruck
wird ſich bei Dir ſteigern.“ Dann fuhr er fort:
„Als König Karl und die beiden Räthe einge—
treten waren, wurden ſie eines langen Tiſches
gewahr, an dem eine Anzahl ehrwürdiger Männer
ſaßen, in ihrer Mitte ein junger Fürſt; als
ſolchen bezeichnete ihn der Thron, der mit
Wappenſchildern und rothen Teppichen behangen,
unmittelbar in ſeinem Rücken aufgerichtet war.
Es war erſichtlich, man ſaß zu Gericht. Am
unteren Ende des Tiſches ſtand ein Richtblock
und um den Block her, in weitem Halbkreis,
ſtanden Angeklagte, reich gekleidet, aber nicht in
der Tracht, die damals in Schweden getragen
wurde. Die zu Gericht ſitzenden Männer zeigten
auf die Bücher, die ſie in Händen hielten; ſie
wollten dem jungen Fürſten nicht zu Willen ſein,
der aber ſchüttelte hochmüthig den Kopf und wies
an das untere Ende des Tiſches, wo jetzt Haupt
um Haupt fiel, bis das Blut längs des Fuß—
bodens fortzuſtrömen begann. König Karl und
ſeine Begleiter wandten ſich voll Entſetzen von
dieſer Scene ab; als ſie wieder hinblickten, war
252 Bor dem Sturm.
der Thron zuſammengebrochen. Der König aber,
indem er des Reichsdroſten Bjelke Hand ergriff,
rief laut und bittend: „Welche iſt des Herren
Stimme, die ich hören ſoll? Gott, wann ſoll das
alles geſchehen?“
Und als er Gott zum dritten Male ange—
rufen hatte, klang ihm die Antwort: „Nicht ſoll
dies geſchehen in Deiner Zeit, wohl aber in der
Zeit des ſechſten Herrſchers nach Dir. Es wird
ein Blutbad ſein, wie nie dergleichen im ſchwe—
diſchen Lande geweſen. Dann aber wird ein
großer König kommen, und mit ihm Frieden und
eine neue Zeit.“ Und als dies geſprochen war,
verſchwand die Erſcheinung. König Karl hielt
ſich mühſam. Dann, über denſelben Korridor,
kehrte er in ſein Schlafgemach zurück. Die beiden
Räthe folgten.“
| Lewin ſchwieg. Im Wohnzimmer war es
ſtill geworden; der Fächer ruhte, ſelbſt die
Stricknadeln ruhten; jeder blickte vor ſich hin.
Nach einer Pauſe fragte Renate: „Wer war der
ſechſte Herrſcher in Schweden?“
„Guſtav IV.; ſein Thron iſt zuſammenge—
brochen.“
„So hältſt Du das Ganze für echt und
ehrlich, für eine wirkliche Viſion?“
Nor dem Sturm. 253
„Ich ſage nicht ja und nicht nein. Das
Schriftſtück, das über dieſen Hergang berichtet,
liegt im Stockholmer Archiv. Es iſt von des
Königs Hand in ſelbiger Nacht geſchrieben;
ſeine beiden Begleiter haben es mit unter-
zeichnet. Die Handſchriften ſind beglaubigt.
Ich habe weder das Recht noch den Muth,
ſolchen Erſcheinungen die Möglichkeit abzuſprechen.
Laß mich ſagen, Renate, wir haben nicht das
Recht.“
Lewin betonte das „wir“. Dann aber
wandte er ſich, einen ſcherzhaften Ton wieder
aufnehmend, an Tante Schorlemmer und Marie,
und drang in fie, ihren Glauben oder Un—
glauben ſolchen Erſcheinungen gegenüber auszu—
ſprechen. f
Marie ſtand auf. Jeder ſah erſt jetzt,
welchen tiefen Eindruck die Erzählung auf ſie
gemacht. Sie drückte die Tannenzweige, die
ſie mittlerweile, ohne zu wiſſen warum, zerpflückt
hatte, zu einem Knäuel zuſammen, und warf
alles in die halb niedergebrannte Glut. Der
raſch aufflackernden Flamme folgte eine Rauch—
wolke, in der ſie nun, einen Augenblick lang,
ſelbſt wie eine Erſcheinung ſtand, nur die Um⸗
riſſe ſichtbar und die rothen Bänder, die ihr
254 Bor dem Sturm.
über Haar und Nacken fielen. Es bedurfte
ihrerſeits keines weiteren Bekenntniſſes; ſie ſelber
war die Antwort auf die Frage Lewins.
Tante Schorlemmer aber, die Stricknadeln
wieder aufnehmend, ſchüttelte unmuthig den Kopf,
und citirte dann, als ob fie ein Geſpenſter be—
ſchwörendes Vaterunſer vor ſich hinbete, mit
raſcher und deutlicher Stimme:
Unter Gottes Schirmen
Bin ich vor den Stürmen
Alles Böſen frei.
Laß den Satan wittern,
Laß den Feind erbittern,
Mir ſteht Jeſus bei.
VII.
Im Kruge,
Dorf Hohen-Vietz (es hatte auch „ausgebaute
Looſe“) beſchränkte ſich in ſeinem Innentheil auf
eine einzige langgeſtreckte Straße, die, dem Fuße
des Hügels folgend, nach Norden hin mit dem
Vitzewitziſchen Rittergute, nach Süden hin mit
einem großen Mühlengehöft abſchloß.
Das Rittergut, ſoweit ſeine Baulichkeiten
in Betracht kommen, beſtand aus zwei hufeiſen—
förmigen Hälften, von denen die eine ſich aus
Hor dem Sturm. 255
den drei Flügeln des Herrenhauſes, die andere
aus Ställen und Scheunen des gutsherrlichen
Gehöftes zuſammenſetzte. Die offenen Seiten
beider Hufeiſen waren einander zugekehrt, zwiſchen
beiden lief ein zugleich als Auffahrt dienender
Steindamm, der in ſeiner Verlängerung hügel—
anſteigend in die mehrgenannte Nußbaumallee
überging.
Freundlicher noch als das Rittergut lag die
Mühle, die eine Oel- und Schneidemühle war.
Ein Waſſer, das mit ſtarkem Gefälle am Dorf
vorüberfloß, trieb beide Werke. Jetzt war der
Bach gefroren. Schuee und Eis aber, die in
phantaſtiſchen Formen an den großen Trieb—
rädern hingen, ſteigerten, wenn nicht den
idylliſchen, ſo doch den maleriſchen Reiz des
weitſchichtigen, aus Häuſern, Schuppen und
Lagerräumen bunt zuſammengewürfelten Ge—
höftes.
Rittergut und Mühle die Flügelpunkte; da⸗
zwiſchen die Straße, die ihre dreißig Häuſer oder
mehr, ziemlich unregelmäßig auf beide Seiten
vertheilt hatte. Die linke Seite, die öſtliche, war
die bevorzugte. Hier lagen die Pfarre, die
Schule, der Schulzenhof, während die rechte Seite,
die faſt ausſchließlich von Büdnern und Tage—
256 Hor dem Sturm.
löhnern bewohnt wurde, nur ein einziges ſtatt—
liches Gebäude aufwies: den Krug.
In dieſen treten wir jetzt ein. Er hatte
nicht das Anſehen wie ſonſt wohl Dorfkrüge, da—
zu fehlte ihm der auf Holzſäulen ruhende, jedem
vorfahrenden Wagen als Wetterdach dienende
Giebelbau, vielmehr ſprang eine doppelarmige,
aus Backſteinen aufgemauerte Treppe vor, die
faſt ein Dritttheil der unteren Hausfront aus—
füllte. Auch das Geländer war von Stein.
Dieſer äußeren Erſcheinung, die mehr ſtädtiſches
als dörfiſches hatte, paßte ſich auch die innere
Einrichtung an. Von den zwei Gaſtzimmern,
die durch den flieſenbedeckten Flur getrennt waren,
zeigte das eine mit ſeinen blankgeſcheuerten
Tiſchen und hochlehnigen Schemelſtühlen, in die
ein Herz geſchnitten war, allerdings noch den
Krugcharakter, das andere aber mit Mullgardinen
und eingerahmten Kupferſtichen, darunter Schill
und der Erzherzog Karl, glich faſt in allem einer
Bürgerreſſourcenſtube und hatte ſogar einen Leſe—
tiſch, auf dem, neben dem Lebuſer Amtsblatt,
der Beobachter an der Spree und die Berliniſchen
Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen
ausgebreitet lagen. Alles verrieth Behagen und
Wohlhabenheit, und durfte es auch, denn über
Taten
Vor dem Sturm. 257
beides verfügten die Hohen-Vietzer Bauern, die
hier ihr Solo ſpielten, in ausgiebigſter Weiſe.
Ihre Hörigkeit, wenn ſie je vorhanden geweſen
war, hatte in dieſen Gegenden, wo dem herren—
loſen Bruch- und Sumpflande immer neue
Strecken fruchtbaren Ackers abgewonnen wurden,
ſeit lange glücklicheren Verhältniſſen Platz ge—
macht, und Berndt von Vitzewitz, weil er ſelbſt
frei fühlte, freute ſich nicht nur dieſer wachſenden
Selbſtändigkeit, ſondern kam ihr überall entgegen.
Ein Ereigniß aus ſeinen jüngeren Jahren her hatte
dazu beigetragen. Kurz vor dem zweiundneunziger
Feldzug, als er — noch von ſeiner Garniſon
aus — einen Beſuch in der Salzwedler Gegend
machte, hatte ein Schloß-Tylſener Kneſebeck, ein
ehemaliger Regimentskamerad, ihn vom Schloß
aus ins Dorf geführt und dabei die Worte zu
ihm geſprochen: „Seht Vitzewitz, hier werdet Ihr
etwas kennen lernen, was Ihr Euer Lebtag noch
nicht geſehen habt: freie Bauern.“ Und dieſe
Worte, dazu die Bauern ſelbſt, hatten eines
tiefen Eindrucks auf ihn nicht verfehlt. Das lag
nun zwanzig Jahre zurück, war aber unvergeſſen
geblieben und den Hohen-Vietzern mehr als ein-
mal zu Gute gekommen.
Auch heute, am Weihnachtstage 1812, hatten
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 119
258 Bor dem Sturm.
ſich einige bäuerliche Honoratioren, alles Männer
von Mitte fünfzig und darüber, in der Gaſt—
ſtube verſammelt. Es waren ihrer vier: Ganz⸗
bauer Kümmeritz, Anderthalbbauer Kallies, Ganz—
bauer Reetzke und Ganzbauer Krull, lauter echte
Hohen⸗Vietzer, die ſeit unvordenklichen Zeiten an
dieſer Stelle ſeſſig, mit den Vitzewitzen das alte
Höhendorf bewohnt und verlaſſen, dazu auch ge—
meinſchaftlich mit ihnen die guten und ſchlechten
Zeiten durchgemacht hatten. Alle waren feſt⸗
täglich gekleidet, trugen lange dunkelfarbige Röcke,
und ſaßen, mit Ausnahme eines von ihnen, grade
aufrecht in den breiten gartenſtuhlartigen Holz—
ſeſſeln, die zu acht oder zehn um einen großen
rothbraun geſtrichenen Rundtiſch herum ſtanden.
Als fünfter hatte ſich ihnen der Wirth ſelber,
der Krüger Scharwenka, zugeſellt, der durch Erb—
ſchaft von Frauensſeite her ein Doppelbauer und
überhaupt der reichſte Mann im Dorfe war, nichts
deſtoweniger aber, trotz ſeiner ſechshundert Morgen
Bruchacker unterm Pflug, nicht für voll und eben⸗
bürtig angeſehen wurde. Das hatte zwei gute
Bauerngründe. Der eine lief darauf hinaus, daß
erſt ſein Großvater, bei Urbarmachung des Oder—
bruchs, mit andern böhmiſchen Koloniſten ins
Dorf gekommen war; der andere wog ſchwerer
Bor dem Sturm. | 259
und gipfelte darin, daß er, allem Abmahnen zum
Trotz, von dem wenig angeſehenen Geſchäft des
„Krügerns“ nicht laſſen wollte. Scharwenka, ſo
oft dieſer heikle Punkt zur Sprache kam, pflegte
ſich auf ſeinen Großvater ſelig zu berufen, der
ihm von Kindesbeinen an beigebracht habe:
Dukaten ſeien nie deſpektirlich. Der eigentliche
Grund aber, warum er den Bierſchank und das
„Knechte bedienen“ nicht aufgeben wollte, lag
keineswegs bei den Dukaten. Es war dem
reichen Doppelbauer viel weniger um den hübſchen
Krugverdienſt, als um die tagtägliche Berührung
mit immer neuen Menſchen zu thun; das Plau⸗
dern, vor allem das Horchen, das Beſcheidwiſſen
in anderer Leute Taſchen, das war es, was ihn
bei der Gaſtwirthſchaft feſthielt. Er ſetzte ſeinen
Stolz darin, die Nachricht von einer bäuerlichen
durch die Verhältniſſe nothwendig gewordenen
Mesalliance vierundzwanzig Stunden früher zu
haben als jeder andere. Subhaſtationen konnte
er voraus berechnen wie die Kalendermacher das
Wetter; ſeine eigentliche Spezialität aber waren
die der Feuerlegung verdächtigen Windmüller.
Die Liſte, die er darüber führte, umfaßte ſo
ziemlich das ganze Gewerk.
So Krüger Scharwenka.
119*
260 Hor dem Sturm.
Seinen Platz hatte er gerade der Thüre
gegenüber genommen, um jeden Eintretenden
ſehen und begrüßen zu können. Unmittelbar neben
ihm ſaßen Reetzke und Krull, die ſchon ſeit einer
Stunde rauchten und ſchwiegen, ganz im Gegen—
ſatz zu Kümmeritz und Kallies, die beide von den
Geſprächigen waren. Auch von ihnen ein Wort.
Ganzbauer Kümmeritz trotz ſeiner Fünfzig,
hatte durchaus die Haltung und das Anſehen
eines alten Soldaten. Und beides kam ihm zu.
Er war erſt Grenadier, dann Gefreiter im Re—
giment Möllendorf geweſen, hatte die Rhein—
campagne mitgemacht und zweimal die Weißen⸗
burger Linien mit erſtiegen. War dann bei
Kaiſerslautern verwundet worden und hatte den
Abſchied genommen. Er vertrat in dieſem Kreiſe,
neben dem Schulzen Kniehaſe, der heute zufällig
ausgeblieben war, die Traditionen der preußiſchen
Armee, kontrolirte den Kaiſer Napoleon, malte
ſeine Schlachten auf den Tiſch, und hielt die
Anſicht aufrecht, daß Jena, „wo wir den Sieg
ja ſchon in Händen hatten“, nur durch einen
Schabernack verloren gegangen ſei.
Das volle Gegentheil von Kümmeritz war
Anderthalbbauer Kallies, ein ſchmalſchultriger,
langaufgeſchoſſener Mann. Geiſtig regſam, aber
Bor dem Sturm. 261
ſchwach und widerſtandslos von Charakter, mußte
er es ſich gefallen laſſen, geneckt und gehänſelt
zu werden, wozu ſchon, alles andere unerwogen,
ſein Beiname herauszufordern ſchien. Er war
nämlich, als er kaum laufen konnte, in eine große
Rahmbutte oder Sahnenſchüſſe gefallen und hieß
ſeitdem in ſehr bezeichnender Weiſe „Sahnepott“.
Denn es war ihm ſein Lebelang etwas Milchernes
geblieben.
Alle fünf dampften jetzt aus langen hollän-
diſchen Pfeifen; neben jedem lag Zündſpan.
Kallies hatte das Wort. Aus allem ging her—
vor, daß eben ein anderer Gaſt, ein Reiſender,
ein Kaufmann wie es ſchien, das Zimmer ver-
laſſen haben mußte. |
„Immer wenn ich ihn jo Stehen ſehe,“ jagte
Kallies mit Wichtigkeit, „fällt mir ſein Vater,
der alte Tiegel-Schultze ein; der ſtand auch
immer ſo da, mit beiden Händen in die Hoſen—
taſchen, und war auch ſo ein ſchnackſcher Kerl,
und ſah aus, als hätt' er den Gottſeibeiuns beim
Dreikart betrogen. Scharwenka, Du mußt ja
den alten Tiegel⸗Schultze auch noch gekannt haben.“
Scharwenka nickte; Kümmeritz aber, der eben
eine neugeſtopfte Pfeife anrauchte, ſprach in kurzen
Pauſen vor ſich hin: „Tiegel-Schultze? Soll mich
262 Bor dem Sturm.
das Wetter, wenn ich den Namen all' mein Leb⸗
tag gehört habe. Und bin doch auch ein Hohen-
Vietzer Kind.“
„Das war, als Du bei den Soldaten warſt,
Kümmeritz. So um die achtziger Jahre. Nach⸗
her war Tiegel⸗Schultze todt, wenn er überhaupt
geſtorben iſt.“
Kümmeritz, der wenigſtens einen Theil ſeines
wendiſchen Aberglaubens bei den Soldaten ge—
laſſen hatte, ſchmunzelte vor ſich hin und ſagte
dann: Sahnepott, keine Dummheiten. Immer
raiſonnabel. Wer todt iſt, iſt todt. Spuken kann
er; aber fterben muß er. Warum hieß er Tiegel⸗
Schultze?“
„Er hieß Schultze. Aber alle Welt nannt'
ihn Tiegel⸗Schultze. Ich bin oft bei ihm geweſen,
wenn ich ihm den Rübſen brachte. Immer baar
Geld. Die Schwedter ſagten: „Der hat gut be—
zahlen.“ Er ſtand dann hinterm Tiſch, immer
die Hände in den Hoſen, und ſah einen ſo ver—
flirt an, daß man ganz irre wurde. Aber nie
kein Handel. Scharwenka, das mußt Du ja
wiſſen.“
Scharwenka nickte wieder. Sahnepott fuhr
fort: „Die Comptoirſtube ſah aus wie ein Ge—
fängniß, hoch, weiß, und Eiſenſtangen am Fenſter.
Bor dem Sturm. 263
Nichts war drin als drei Wandbretter, und auf
den Brettern ſtanden viele hundert Tiegel, große
und kleine, irdene und thönerne, darum hieß er
Tiegel⸗Schultze. Ein paar ſahen ſchwarz aus und
waren aus Kohle geſchnitten.“
„War er denn ein Schmelzer, ein Gold—
macher?“
„Das war er, und für den Schwedter Mark—
grafen hat er manchen blanken Klumpen aus⸗
geſchmolzen. Als aber der Markgraf dachte, er
könnt' es nun ſelber und hätte Schultzen alles
abgeſehen, da wollt' er ihn bei Seite ſchaffen,
lud ihn auf's Schloß, ſuchte Streit mit ihm und
feuerte die beiden Läufe ſeines Suhler Doppel⸗
gewehrs auf ihn ab, die mit zwei goldenen Zwickeln
geladen waren. Es waren ſolche, wie die pohl-
ſchen Edelleute an ihren Röcken tragen. Tiegel-
Schultze aber lachte, fing die beiden Zwickel mit
ſeiner Linken auf, denn er war ein Linkepoot,
zeigte ſie dem Markgrafen und ſagte: „Die trag'
ich nun zum Andenken an meinen gnädigen
Herrn.“
Es war erſichtlich, daß Kallies, der jetzt
volles Fahrwaſſer unterm Kiel hatte, den Zeit⸗
punkt für gekommen hielt, ſich über das Geſchlecht
der Tiegel⸗Schultzen, über Raps, Goldmachen und
264 Vor dem Sturm.
die Undankbarkeit des Schwedter Markgrafen des
weiteren verbreiten zu dürfen. Aber ehe es ge—
ſchehen konnte, trat ein neuer Gaſt ein, der nun
der Unterhaltung eine andere Wendung gab.
Der Neueintretende war der Müller Miekley,
dem die Oel- und Schneidemühle am Südende des
Dorfes zugehörte. Er war unter Mittelſtatur,
trug einen hellgrauen Rock und hatte in ſeinem
Geſicht jenen eigenthümlichen Ausdruck, den man
bei faſt allen Landleuten findet, die innerhalb der
religiöſen Kontroverſe ſtehen, Sektirer ſind oder
es werden wollen. Wo geiſtige Arbeit von Jugend
auf ihre Züge in das Antlitz ſchreibt, da iſt der
Sektirerzug nur ein Zug unter anderen Zügen,
einer unter vielen, in deren Geſammtheit er wie
verloren gehen oder doch überſehen werden kann;
bei Landleuten aber tritt er ganz unverkennbar
hervor, und um ſo mehr, je weniger er die Herr—
ſchaft zu theilen hat. Dieſer Sektirerzug, in dem
ſich Sinnlichkeit und Entſagung, Hochmuth und
Demuth miſchen, lag auch in Müller Miekley
ausgeſprochen, der im übrigen ein gewiſſenhafter
Mann war, auf Hausehre hielt und ſich der be—
ſonderen Protektion Tante Schorlemmers zu er—
freuen hatte. Es konnte dies geſchehen, ohne
nach irgend einer Seite hin Anſtoß zu geben, da
—
Bor dem Sturm. 265
Miekley nicht eigentlich aus der Landeskirche aus—
getreten war, vielmehr regelmäßig die Predigten
Seidentopfs hörte und nur alle Vierteljahr ein⸗
mal aus dem „tieferen Quell“ des Kandidaten
Uhlenhorſt ſchöpfte, wenn dieſer, das Bruch und
die Neumark bereiſend, in Hohen-Sathen alle
Konventikler von dieſſeits und jenſeits der Oder
um ſich verſammelte. Das war denn freilich ein
Feſt⸗ und Ehrentag. Alles ruhte, das beſte Ge—
ſpann kam aus dem Stall, und wenn die Wege
grundlos geweſen wären, unſer altlutheriſcher
Müller hätte ſich's zur ewigen Sünde gerechnet,
das Manna verſäumt zu haben.
Miekley ſetzte ſich links neben Kümmeritz.
Dieſer, wohl wiſſend, daß jetzt ein geiſtlicher
Diskurs unvermeidlich geworden ſei, kam ihm
zuvor und fragte: „Nun, Miekley, wie hat Euch
heute die Predigt gefallen?“
„Gut, Kümmeritz, von Herzen gut, trotzdem
er nichts davon geſagt hat, daß uns an dieſem
Tage zu Bethlehem im judäiſchen Lande das Heil
geboren wurde. Noch weniger hat er von dem
„eingeborenen Sohne Gottes“ geſprochen. Uhlen—
horſt würde den Kopf geſchüttelt haben. Aber
er hat geſprochen wie ein braver Mann. Ich
kenn' ihn wohl, er hat ein preußiſches Herz.“
266 Bor dem Sturm.
„Und ein chriſtliches dazu,“ riefen die an⸗
deren alle wie aus einem Munde.
„Er zetert nicht,“ nahm Kallies das Wort,
„er verdammt nicht; er iſt kein Phariſäer. Er
hat die Demuth, Miekley, und das iſt die Haupt⸗
ſache.“
„Sahnepott hat recht,“ bekräftigte Kümmeritz.
„Da iſt kein zweiter hier herum, der ſich mit
unſerm Seidentopf meſſen könnte. Er hat nur
einen Fehler, er iſt zu gut und zu leichtgläubig,
und ſieht alles wie er es wünſcht. Ueber der
Aegypter Heer, ſo ſagte er, ſeien die großen
Waſſer zuſammen geſchlagen, aber König Pharao
ſitzt wieder in ſeiner Hauptſtadt und ſpinnt die
alten Fäden. Noch ſind wir im Bündniß mit
ihm, und der Himmel mag wiſſen, ob wir gnädig
von ihm los kommen. Geb' uns Gott einen
ehrlichen Krieg.“
| „Den wirſt Du haben, Kümmeritz,“ warf
hier Miekley ein, der ſich trotz ſeines Luther—
thums einen ſtarken Glauben an Spuf- und
Geſpenſtergeſchichten bewahrt hatte, „den wirſt
Du haben und wir alle mit Dir. Die Alt⸗
Landsberger Mäher haben wieder gemäht, und
jeder von Euch weiß, was das bedeutet. Sie
haben ſieben Tage gemäht, ehe der alte Fritz in
Bor dem Sturm. 267
den Krieg zog, und die Stoppeln waren damals
ſo roth, als ob es Blut geregnet hätte. In
dieſem November haben ſie wieder gemäht auf
kahlem Felde.“
„Und von Sonnenuntergang her,“ rief
Scharwenka dazwiſchen, „das will ſagen, daß der
Feind von Weſten kommt. Wir werden die
Franzoſen wieder im Lande haben, neues,
friſches Volk, mit all ſeinen alten Kniffen und
Pfiffen, und wer eine Tochter im Hauſe hat, der
mag ſich vorſehen. Sie haben eine freche Art
und die Weiber laufen ihnen nach.“
„Das ſollen ſie nicht,“ verſicherte Miekley,
„und wo ſie's thun, da falle die Schande auf
uns. Wo böſe Luſt über Nacht in die Halme
ſchießt, da lag von Anfang an eine ſchlechte
Saat in den Herzen; wo aber Zucht iſt und
Sitte und Gebet, da hat der Böſe keine Macht,
auch wenn er ſich in einen ſchlechten Franzoſen
verkleidet.“
Alle nickten zuſtimmend. „Aber,“ fuhr Müller
Miekley fort, „ſie ſind doch ein Greuel, nicht weil
ſie leichtfertig ſind, nein weil ſie ein unheiliges
Volk ſind. Sie haben ſich vermeſſen, den ewigen
Gott des Himmels und der Erde von Thron
und Herrſchaft abzuſetzen, und beinahe ſchlimmer
268 Bor dem Sturm.
noch, ſie haben ſich vermeſſen, ihn wieder ein—
zuſetzen. Nun haben ſie wieder einen Gott, aber
er iſt auch danach; es tft kein rechter Chriſten—
gott, es iſt blos ein franzöſiſcher Gott, ein ab—
und eingeſetzter. Sie kennen nur den Götzen—
dienſt ihres Kaiſers, aber keinen Gottesdienſt,
und ſo oft ich all' die Jahre über einen Franzoſen
in unſeren Kirchen geſehen habe, ſo war es nur,
um Unheil anzurichten.“
„Sie haben die Franſen von der Altardecke
getrennt; ſie haben die goldenen Stickereien aus⸗
geſchnitten; ſie haben die Leuchter eingeſchmolzen,“
riefen mehrere dazwiſchen.
„O, Sie haben Schlimmeres gethan, nicht
hier, aber in unſerer Nachbarſchaft. Den Görls—
dorfer Paſtor, der das Kirchengut verſteckt hatte,
haben ſie bis unter die Achſelhöhlen eingegraben
und ſind erſt in ſich gegangen, als er ſie bat,
ihn todt zu ſchlagen, anſtatt ihn zu martern. In
Hohen⸗Finow haben ſie den Abendmahlswein ge—
trunken und ſchlechte Lieder geſungen; dann haben
ſie den Altartiſch aus der Kirche auf den Kirchhof
getragen, haben ihre Teufelsknöchel in den Abend—
mahlskelch gethan und haben gewürfelt. In die
Gruft ſind ſie hinabgeſtiegen und haben der jung—
verſtorbenen Frau die ſeidenen Kleider abgeriſſen.“
\ Bor dem Sturm. 269
„Das haben ſie gethan,“ fiel jetzt Sahnepott
mit Wichtigkeit ein, der wie alle ſchwachen
Naturen eine Neigung zum Uebertrumpfen hatte,
„aber in Haſelberg haben ſie es büßen müſſen,
wenigſtens einer. Die Haſelberger Gruft iſt,
was ſie eine Mumiengruft nennen, es ſoll ihrer
mehrere auf dem Hohen-Barnim geben. Die
Franzoſen nun, als ſie die Särge aufbrachen,
da ſahen ſie, daß die Todten unverweſt waren.
Das gab ein Lachen. Da trugen ſie den einen
Sarg aus der Gruft in die Kirche, nahmen den
Todten heraus, und da ſeine Arme beweglich
waren, beſchloſſen ſie ihn zu kreuzigen. Sie
ſtellten ihn an die Altarwand und ſchlugen zwei
Nägel durch ſeine Hände. Die eine Hand aber
löſte ſich wieder ab und gab im Niederfallen dem
einen der Miſſethäter einen Backenſtreich. Das
entſetzte ihn, daß er todt zu Boden ſtürzte.“
„Den hat Gott gerichtet,“ rief Miekley.
„Und ſolch Schlag wird ſie alle treffen, und
müßten die Todten auferſtehen.“
„Ehe aber Gott ſeine Wunder thut,“ jo
ſchloß Kümmeritz das Geſpräch, „ſollen wir uns
ſeiner Wunder würdig machen. Nicht wahr,
Miekley? Wir ſollen die Hände nicht in den
Schoß legen. Die Alt-Landsberger Mäher haben
270 Bor dem Sturm.
gemäht; wenn der König ruft, wer von uns noch
Kraft hat zu mähen, der mähe mit. Ich bin's
entſchloſſen. Das letzte für Preußen und den
König.“
Die Bauern ſtanden auf und gingen nach
entgegengeſetzten Richtungen hin die Dorfgaſſe
entlang. Nach Norden hin glühte ein rother
Schein am Himmel auf.
„Iſt das Feuer?“ fragte Krull.
„Nein,“ ſagte Miekley, „es iſt ein Nord—
licht, der Himmel gibt ſeine Zeichen.“
VIII.
Hoppenmarieken.
Hoppenmarieken wohnte auf dem „Forſtacker“,
an deſſen Rande ſich ſeit hundert Jahren und
länger eine aus bloßen Lehmkathen beſtehende
Straße gebildet hatte. Dieſe Straße, von den
Hohen-Vietzern immer als etwas Fremdes ange—
ſehen, ſtand rechtwinklich zu dem eigentlichen Dorf,
nahm hundert Schritt hinter dem Mühlengehöft
ihren Anfang und ſtieg hügelan, in Parallellinie
mit der mehr erwähnten, die Auffahrt zum
Herrenhauſe fortſetzenden Nußbaumallee. Es
war das Armenviertel von Hohen-⸗Vietz, zugleich
Bor dem Sturm. 371
die Unterkunftsſtätte für alle Verkommenen und
Ausgeſtoßenen, eine Art ſtabil gewordenes
Zigeunerlager, das Abgang und Zuzug erfuhr,
ohne daß ſich die Dorfobrigkeit im Einzelnen
darum gekümmert hätte. Der „Forſtacker war
immer ſo.“ So ließ man es gehen, und griff
nur ein, wenn grober Unfug eine Beſtrafung
durchaus erforderte.
Wie der moraliſche Stand des Forſtackers,
ſo war auch ſeine Erſcheinung. Die Hütten
ſeiner Bewohner unterſchieden ſich von den in
Front und Rücken derſelben ſtehenden Kofen in
nichts als in dem Herdrauch, der aus ihren
Dächern aufwirbelte. Der Schnee, der jetzt alles
überdeckte, ſtellte vollends eine Gleichheit her.
In der letzten, ſchon auf halber Höhe des
Hügels gelegenen Lehmkathe, wohnte, womit wir
unſer Kapitel begannen, Hoppenmarieken. Die
Kofen fehlten; ſtatt deſſen faßte ein Heckenzaun
das Häuschen ein, welches letztere nach vorn hin
eine Thür und ein Fenſter, ſonſt aber nirgends
einen Eingang oder eine Lichtöffnung hatte. Ein
Würfel mit blos zwei Augen. Das Innere be⸗
ſtand aus wenig Räumen. Der Flur, der nach
hinten zu zugleich die Kochgelegenheit hatte, war
eben ſo ſchmal wie tief, dazu völlig dunkel; in
272 Vor dem Slurm.
Sommerszeit aber erhielt er Licht durch die
offen ſtehende Thür, während im Winter das auf
dem Herd brennende Feuer aushelfen mußte.
Neben dem Flur lag die Stube; hinter dieſer
der Alkoven.
So war Hoppenmariekens Haus. Wer aber
war Hoppenmarieken?
N Hoppenmarieken war eine Zwergin. Wo
ſie eigentlich herſtammte, wußte niemand mit
Beſtimmtheit zu ſagen. Die älteren Hohen—
Vietzer erzählten, daß ſie vor etwa dreißig Jahren
ins Dorf gekommen und als eine halbe Land—
ſtreicherin, wie manche andere vor ihr und nach
ihr, mit wenig günſtigen Augen angeſehen wor—
den ſei.] Der damals lebende Gutsherr aber,
Berndt von Vitzewitz's Vater, habe Mitleid mit
ihr gehabt und die entgegenſtehenden Bedenken
mit der halb ſcherzhaften Bemerkung niederge—
| lagen: „Dafür haben wir den Forſtacker.“
| Sen damals, ſo hieß es, habe ſie ſo ausge—
ſehen wie jetzt, ebenſo alt, ebenſo häßlich, habe
dieſelben hohen Waſſerſtiefel, daſſelbe Kopftuch
getragen, und ſei, damals wie heute, ſchon auf
weithin kennbar geweſen durch den rothen Fries—
rock, die Kiepe auf ihrem Rücken und den manns—
hohen, krummſtabartigen Stock in ene
A e
N ² . ea
Hor dem Sturm. | 273
Hoppenmarieken, ſo viel ſtand feſt, hatte ſich
ſeitdem auf dem Forſtacker eingebürgert, und
war in der ganzen Südhälfte des Oderbruchs
die allergekannteſte Perſon. Dafür ſorgte neben
ihrer Erſcheinung auch ihr Geſchäft. Sie hatte
deren mehere. Zunächſt war ſie Botenläuferin.
Dreimal die Woche, wie immer auch Weg und
Wetter ſein mochte, brach ſie, je nach dem Poſten—
gange, früh morgens oder ſpät abends auf, em—
pfing Briefe, Zeitungen, Pakete und kehrte zwölf
Stunden ſpäter, es ſei von Frankfurt oder von
Küſtrin, nach Hohen-Vietz zurück. Und dieſer
Botendienſt, wie er ſie überall bekannt gemacht
hatte, machte ſich ſchließlich, trotz allem was dann
und wann gegen ſie laut wurde, auch wohlgelitten.
Jedes freute ſich, Hoppenmarieken über den Hof
kommen und durch eine eigenthümliche Bewegung
ihres Stockes, die etwas Tambourmajorhaftes
hatte, angedeutet zu ſehen: „Ich bringe Neuig-
keiten.“ Alle Landpoſten ſind wohlgelitten.
Dieſe Botendienſte bildeten aber nur die
Baſis ihrer Exiſtenz; wichtiger für ſie oder doch
wenigſtens einträglicher war das Kommiſſions—
geſchäft, das ſie nebenbei betrieb. Der Eier—
handel aller Dörfer anderthalb Meilen um Hohen-
Vietz herum lag eigentlich in ihrer Hand, wobei
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 120
24 Bor dem Sturm.
ſie ſich doppelter Proviſionen zu verſichern wußte.
Dies ermöglichte ſich dadurch, daß das ganze
Geſchäft auf Tauſch beruhte. Eine Bauerfrau
in Zechin oder Wuſchewier, die ſich ein neues
Kopftuch wünſchte, ſetzte ſich, wenn Hoppen⸗
marieken des Weges kam, mit dieſer in Ver⸗
bindung, packte ihr einen bereit gehaltenen Hahn
ſammt ein paar Stiegen Eier in die Kiepe und
überließ es nun ebenſo ihrem Genius wie ihrer
Diskretion, das Kopftuch zu beſchaffen. Es kam
vor, daß in dieſem oder jenem Artikel Hoppen⸗
marieken den ganzen Markt beſtimmte. Man
ſah in dieſen Vortheilen, die ihr zufielen, einen
ehrlichen Verdienſt, und hatte recht darin. Aber
nicht all ihr Verdienſt war ſo ehrlicher Natur.
Auf dem Forſtacker wohnten Leute, die, ſelbſt
übel beleumdet, ihr böſe Dinge nachſagten. Aber
auch im Dorfe ſelbſt wußte man davon zu er-
zählen. Die liederlichen Dirnen ſchlichen ſich
abends in ihr Haus; ſie wahrſagte, ſie legte
Karten. Sonntags war ſie immer in der Kirche
und ſang mit ihrer rauhen Stimme die Geſang—
buchlieder mit, von denen ſie die bekannteſten
auswendig wußte; aber niemand glaubte, daß
ſie eine ehrliche Chriſtin ſei. Man hielt ſie für
einen Miſchling von Zwerg und Hexe. Selbſt
Bor dem Sturm. 275
im Herrenhauſe, wo man ihr als einer Dorf—
kurioſität, zum Theil aber auch um ihrer Brauch⸗
barkeit willen manches nachſah, dachte man im
Ganzen genommen wenig günftiger über fie.
Nur Lewin ſtand ihr mit einer gewiſſen poetiſchen
Zuneigung zur Seite. Er liebte ſcherzhaft über
ſie zu phantaſiren. Ihr Alter ſei unbeſtimmbar
ſie ſei ein geheimnißvolles Ueberbleibſel der alten
wendiſchen Welt, ein Bodenprodukt dieſer
Gegenden, wie die Krüppelkiefern, deren einige
noch auf dem Höhenrücken ſtänden. Bei anderen
Gelegenheiten wieder, wenn ihm vorgehalten
wurde, daß die Wenden ſehr wahrſcheinlich ſchöne
Leute geweſen ſeien, begnügte er ſich, ſie als ein
Götzenbild auszugeben, das, als der letzte Czerne⸗
bogtempel fiel, plötzlich lebendig geworden ſei
und nun die früher beherrſchten Gebiete durch⸗
ſchreite. Er fügte auch wohl hinzu: Hoppen⸗
marieken werde nie ſterben, denn ſie lebe nicht.
Sie ſei nur ein 9 Darin verſah er es nun
aber ganz und gar; ſie lebte nicht nur, ſie lebte
auch gern und gut und dabei ganz mit jener
ſinnlichen Luſt, wie ſie den Zwergen immer und
den Geizigen in der Regel eigen iſt. Und ſie
war beides, zwergig und geizig.
Die Bauern hatten ſich nach ihrem Diskurs
120*
276 Bor dem Sturm.
im Scharwenkaſchen Kruge kaum getrennt, als
Hoppenmarieken in dem ſchweren Schritt ihrer
Waſſerſtiefel die Dorfgaſſe herauffam. Sie ging
raſch wie immer, nüſterte und ſprach unverſtänd⸗
liche Worte vor ſich hin. Ihr langer Hakenſtock
bewegte ſich dabei taktmäßig auf und ab und ihr
rother Friesrock leuchtete.
Als ſie das Mühlengehöft paſſirt hatte,
ſchwenkte ſie links und ſchritt nun die verſchneite
Lehmkathen⸗ und Kofenſtraße hinauf auf ihr
Häuschen zu. Die Thür deſſelben war nur ein-
geklinkt und mit Recht, denn alles, was ſich
drinnen befand, ſtand im Schutze ſeiner eigenen
Unheimlichkeit. Völliges Dunkel empfing ſie; ſie
tappte ſich mit dem Stocke fühlend bis in die
Mitte des Flurs, ſtellte hier Stock und Kiepe
bei Seite und fuhr dann mit ihrer Hand, die
eine Hornhaut hatte, in der Herdaſche umher,
bis ein paar glühende Kohlen zum Vorſchein
kamen. Sie blies nun, nahm einen Schwefel-
faden und zündete mit Hilfe deſſelben eine Blech—
lampe an, ohne übrigens von dem beſcheidenen
Lichte, das dieſelbe gab, zunächſt Gebrauch zu
machen. Sie kroch vielmehr in ein großes, un—
mittelbar neben dem Herd befindliches Ofenloch
hinein, rührte auch hier mit einem langen, halb
Bor dem Sturm. 277
verkohlten Scheit in der tief nach hinten liegenden
Glut, warf Reiſig, Tannenäpfel und ein paar
Stücke ſteinharten Torfes auf und trat nun erſt
in die Stube.
Dieſe war geräumig. Hoppenmarieken leuch—
tete darin umher, ſah in alle Winkel, that einen
Blick in den nach hinten zu gelegenen Alkoven
und drückte zuletzt, beſtändig vor ſich hinſprechend,
ihre Zufriedenheit mit dem Sachbefunde aus.
Die Lampe gab gerade Licht genug, um alles in
der Stube befindliche erkennen zu können. Neben
dem Fenſter, dicht an die Ecke geſchoben, ſtand
ein Wandſchapp mit Taſſen und Tellern; der
eichene Tiſch war blank geſcheuert; an der
Alkoventhür hing ein großer, mitten durch—
geborſtener Rundſpiegel, von dem es zweifelhaft
bleiben mochte, ob er um Eitelkeits oder Geſchäfts
willen an dieſer Stelle hing. Denn er ſah aus,
als ob er beim Wahrſagen und Kartenſchlagen
nothwendig eine Rolle ſpielen müſſe. Im übrigen
war eine gewiſſe weihnachtsfeſtliche Herrichtung,
für die Hoppenmarieken ſelber am Tage vorher
geſorgt zu haben ſchien, unverkennbar. Das
Himmelbett hatte friſche Vorhänge, die Dielen
waren mit Tannenzweigen beſtreut und an den
Deckenhaken hing ein Ebreſchenzpeig, deſſen
278 Bor dem Sturm.
Beeren, trotz vorgeſchrittener Winterzeit, noch
ihre ſchöne rothe Farbe zeigten. Alles dies hätte
faſt einen gemüthlichen Eindruck machen müſſen,
wenn nicht dreierlei geweſen wäre: erſtens
Hoppenmarieken in Perſon, dann ihre Vogelkäfige
und drittens und letztens der Alkoven. Hoppen⸗
marieken ſelbſt kennen wir; aber von den beiden
anderen noch ein Wort.
An allen vier Wänden hin, dicht unter der
Decke, lief eine Reihe von Vogelbauern. Wohl
zwanzig an der Zahl. Nur wo Bett und Ofen
ſtanden, war die Reihe unterbrochen. Was
eigentlich in den Bauern drin ſteckte, war nicht
klar zu erkennen geweſen, als Hoppenmarieken
mit der Lampe daran hingeleuchtet hatte. Nur
allerhand dunkle Vogelaugen hatten groß und
ſchläfrig in das Licht geſtarrt. Es mußte ſich
einem aufdrängen, das ſeien wohl die Augen, die
bei Abweſenheit der Herrin hier Wache hielten.
Dieſer ſeltſame Fries von Vogelbauern, in
denen blos ſchweigſames Volk zu Hauſe zu ſein
ſchien, war unheimlich genug, aber unheimlicher
war der Alkoven. Schon der Rundſpiegel, der
an der Thüre hing, bedeutete nichts Gutes.
Drinnen war alles leer. Nur Kräuterbüſchel
zogen ſich hier in ähnlicher Weiſe um die Wände
Hor dem Sturm. 279
herum, wie nebenan die Vogelkäfige. Es waren
gute und ſchlechte Kräuter: Meliſſe, Schafgarbe,
Wohlverleih, aber auch Allermannsharniſch, Sumpf⸗
porſt und Kloſterwachholder. Dazwiſchen Bündel
von Roggenhalmen, deren geſunde Körner längſt
ausgefallen waren, während das giftige blaue
Mutterkorn noch an den Aehren haftete; der
Geruch im Ganzen war betäubend. Was einem
ſchärferen Beobachter vielleicht mehr als alles
andere aufgefallen wäre, war, daß ſämmtliches
Kräuterwerk, ſtatt an einfachen Nägeln, an dicken
Holzpflöcken hing, deren mehrere Zoll betragender
Durchmeſſer in gar keinem Verhältniß zu der
winzigen, von ihnen zu tragenden Laſt ſtand.
Hoppenmarieken, die es ſich mittlerweile
bequem gemacht und die hohen Waſſerſtiefel mit
ein paar aus Filztuch genähten Schuhen ver-
tauſcht hatte, holte jetzt die Kiepe vom Flur
herein und ſchien, ihrem ganzen Hantieren nach
gewillt, einen Schmaus für ſich ſelber vor—
zubereiten. Sie wühlte behaglich in ihrer Kiepe,
bis ſie die Gegenſtände, die ſie ſuchte, gefunden
hatte. Was zuerſt aus der Tiefe heraufitieg,
war eine blaue Spitztüte, dann kamen zwei
Eier, die fie prüfend gegen das Licht hielt, zu=
letzt ein altes bedrucktes Sacktuch, in das aber
280 Bor dem Sturm.
etwas Wichtigeres eingefchlagen war. Wenigſtens
hielt ſie das Packet mit beiden Händen ans Ohr
und ſchüttelte. Der Ton, den es gab, beruhigte
ſie. Sie legte nun alles auf den Tiſch, eines
neben das andere, und holte vom Schapp her
einen alten Fayencetopf mit abgebrochenem Henkel,
dazu einen Quirl und einen Blechlöffel. Jetzt
war alles beiſammen. Sie that aus der blauen
Tüte einen Löffel Zucker in den Topf, ſchlug die
beiden Eier hinein, wickelte aus dem Sacktuch
eine Rumflaſche heraus, liebäugelte mit ihr, goß
ein und quirlte. Nur etwas fehlte noch: das
ſiedende Waſſer. Aber auch dafür war geſorgt.
Sie trat in den Flur, kroch abermals in das
Ofenloch und kam mit einem rußigen Theekeſſel
zurück, deſſen Inhalt ziſchend und ſprudelnd in
dem großen Fayencetopf verſchwand.
Hiermit waren die Vorbereitungen als ge—
ſchloſſen anzuſehen. Das eigentliche Feſt konnte
beginnen. Sie machte den Tiſch wieder klar,
baute ſich einen großen, braunen Napfkuchen auf,
und ſah, während ſie den Kopf in beide Arme
ſtützte, mit ſinnlicher Zufriedenheit auf das her—
gerichtete Mahl. Auch jetzt noch war ſie befliſſen
nichts zu übereilen. War es nun, daß ſie in
der Hinausſchiebung des Genuſſes eine Steigerung
Bor dem Sturm. 281
ſah, oder hatte fie jo ihre eigenen Hoppenmarieke⸗
ſchen Vorſtellungen davon, wie nun einmal ein
erſter Weihnachtstag gefeiert werden müſſe, gleich-
viel fie begnügte ſich vorläufig damit, den auf-
ſteigenden Dampf von der Seite her einzuſaugen
und zog dabei den Tiſchkaſten weit auf, in dem,
durch eine Scheidewand getrennt, links das Geſang—
buch, rechts die Karten lagen. Sie nahm das
Geſangbuch, ſchlug das Chriſtlied auf: „Vom
Himmel hoch da komm' ich her”, las in recitativiſcher
Weiſe, die ſie ſelber für Geſang halten mochte,
die drei erſten, dann die letzte Strophe, klappte
wieder zu und that einen erſten tüchtigen Zug.
Gleich darauf ging ſie zu einem allerenergiſchſten
Angriff auf den Napfkuchen über, der nun inner⸗
halb zehn Minuten von der Tiſchfläche ver—
ſchwunden war. Sie ſtrich die Krümel in ihre
linke Handfläche zuſammen und ſchüttete alles
ſorgfältig in den Mund.
Jetzt, wo der Fayencetopf keinen Neben⸗
buhler mehr hatte, war ſie erſt in der Lage, ihm
zu zeigen, was er ihr war. Sie legte ſtreichelnd
und patſchelnd ihre Hände um ihn herum, unter⸗
ſuchte mit den Knöcheln alle Stellen, die einen
kleinen Sprung hatten, bog ſich über ihn und
nippte, ſchlürfte und that dann wieder volle Züge.
282 Bor dem Sturm.
Nachdem ſie ſo den ganzen Kurſus des Behagens
durchſchmarutzt hatte, zog ſie den Schubkaſten
zum zweiten Male auf, nahm jetzt aber, ſtatt
des Geſangbuches, das Kartenſpiel heraus. Es
waren deutſche Karten: Schippen, Herzen, Eichel;
ſie lagen in Form einer Mulde feſt auf ein⸗
ander, was jedoch für Hoppemariekens Hände
keine Schwierigkeiten bot. Als ſie wohl eine
halbe Stunde lang aufgelegt, gemiſcht und wieder
aufgelegt hatte, ohne daß die Karten kommen
wollten, wie ſie ſollten, ſtieg ihr das Blut zu
Kopf.
Der Schippenbube wich ihr nicht von der
Seite. Das mißfiel ihr; ſie wußte ganz genau,
wer der Schippenbube war. Was? Da lag er
wieder neben ihr. Sie ſtand unruhig auf, nahm
die Lampe, leuchtete hinter den Ofen, ſah zwei-,
dreimal in den Alkoven hinein und ſetzte ſich
dann wieder. Aber die Beklemmung wollte nicht
weichen. Sie ſchnürte deshalb das großgeblumte
Kattunmieder auf, das ſie trug, neſtelte, zerrte,
zupfte und fühlte nach einem Täſchchen, das ſie
an einem Lederſtreifen auf der Bruſt trug. Es
war da. Sie nahm es ab, zählte ſeinen Inhalt
und fand alles, wie es ſein mußte.
Dies gab ihr ihre Ruhe wieder. Sie wollte
Bor dem Sturm, 283
es noch einmal verſuchen und begann abermals
die Karten zu legen. Diesmal traf es; der
Schippenbube lag weit ab. Ein häßliches Lachen
zog über ihr Geſicht; dann that ſie den letzten
Zug, ſchob einen großen Holzriegel vor die Thüre
und löſchte das Licht.
Als eine Stunde ſpäter der Mond ins
Fenſter ſchien, ſchien er auch auf das verwitterte
Anlitz der Zwergin, das jetzt, wo ſich das fchwarze
Kopftuch verſchoben und die weißen Haarſträhnen
blosgelegt hatte, noch häßlicher war als zuvor.
Der Mond zog vorüber; das Bild gefiel ihm
nicht. Hoppenmarieken ſelbſt aber träumte, daß
Schippenbube ſie am Halſe gepackt habe und an
dem Lederriemen zerre, um ihr die Taſche ab-
zureißen. Sie rang mit ihm; der Angſtſchweiß
trat ihr auf die Stirn; dabei aber rief ſie:
„Wart, ich ſag's: Diebe, Diebe!“
Durch das öde Haus hin klangen dieſe Rufe.
Die Vögel ſtiegen langſam von ihren Sproſſen
und ſtarrten durch ihre Gitter auf das Bett, von
wo die Rufe kamen.
284 Hor dem Sturm.
IX.
Schulze Kniehaſe.
Dem Kruge gegenüber lag der Schulzenhof.
Er beſtand aus einem Ziegeldachhaus, an das
ſich nach rückwärts zwei lange ſchmale Stall⸗
gebäude anlehnten, die durch eine Scheune mit
einander verbunden waren. Ein hinter dieſer
Scheune gelegenes, mit Obſtbäumen und Himbeer⸗
ſträuchern beſetztes Ackerſtück, ſtreckte wieder zwei
ſchmale Blumenſtreifen bis dicht an die Dorf—
ſtraße vor, ſo daß in Sommerszeit, wenn man
vom Kirchhügel aus auf das Schulzengehöft her-
nieder ſah, alles einem großen Garten glich, der
Haus und Hof wie zwiſchen zwei ausgebreiteten
Armen hielt. Selbſt Miekleys Mühle war dann
nicht freundlicher. Bis unter das Dach blühten
die Malven, die Bienen ſummten um den Stock,
die Trauben hingen am Spalier, während ſich
von dem alten, rechts an der Hofthür wache—
ſtehenden Birnbaum von Zeit zu Zeit die ſchweren
Früchte löſten und mit Geklatſch auf die Schwell-
ſteine niederfielen. Von den Inſaſſen des Hauſes
achtete niemand dieſes Tones; nur ein Mädchen,
das auf der vorgebauten Steintreppe des Hauſes
unter einem Gerank von Flieder und Geisblatt
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Bor dem Sturm. 285
ſaß, ſah einen Augenblick horchend auf, ehe es
fortfuhr das Garn zu wickeln oder die Naht zu
ſäumen. 5
So war es im Spätſommer. Aber auch im
Winter bot der Schulzenhof ein freundliches
Bild, auch heute am zweiten Weinachtsfeiertage.
Auf dem Hofe war der Schnee zuſammengeſchippt,
jo daß er eine Mauer bildete; die Stallthüren
ſtanden auf, aus denen die warme Luft wie ein
Nebel ins Freie zog. An der Schwelle ſaßen
Sperlinge und pickten einzelne Körner auf. Sonſt
alles ſtill; auch der Hofhund feierte. In einer
der Ecken zwiſchen Stall und Scheune ſtand ſeine
Hütte; etwas von ſeinem Lagerſtroh hatte er
vor die Oeffnung geſchoben, und auf dieſem Kiſſen
lag nun ſein ſpitzer Wolfskopf und ſah behaglich
in den Morgen hinein.
Und ſtill und feſttäglich wie draußen auf
dem Hofe, ſo war auch das Haus. Schon ſeine
Treppe war mit Sand beſtreut; in den Ecken
der Vordiele ſtanden junge Kiefern und füllten
die Luft mit ihrem Harzgeruch; an einem Haken
in der Mitte des Flurs aber hing ein Miſtel⸗
buſch. Die Wohnſtuben waren ſchon geheizt und
die Kaminthüren geſchloſſen; nur zur Rechten,
wo das große Beſuchszimmer lag, kniſterte noch
286 Bor dem Sturm.
ein Feuer und warf feinen Schein. Eine Katze
ſtrich ihre Flanken an den warmen Ecken,
ſchnurrend mit gekrümmtem Rücken, zum Zeichen
ihres beſonderen Behagens.
In dem vorderſten Wohnzimmer, um einen
ſchweren Eichentiſch herum, befanden ſich drei
Perſonen. Dem Fenſter zunächſt, und dieſem
den Rücken zukehrend, ſaß ein breitſchultriger
Mann, ein Fünfziger. Sein Geſicht drückte
Kraft, Feſtigkeit und Wohlwollen aus. Spär⸗
liches blondes Haar legte ſich an ſeine Scheitel,
er war ſonntäglich gekleidet und trug einen langen
ſchwarzbraunen Rock. Die Frau zu ſeiner Linken,
trotz ihrer vierzig, war noch hübſch, von dunklem
Teint und wendiſch gekleidet. Ein breiter Kragen
fiel über ihr Mieder von ſchwarzem Tuch, und
der kurze Friesrock war in hundert Falten
gelegt. Unter der engen Tüllmütze verſteckte ſich
nur halb das glänzend ſchwarze Haar. Aller
Schmuck war ſilbern. Um den Hals ſchlang ſich
eine ſtarke, vorn auf der Bruſt durch einen
Schieber zuſammengehaltene Kette; die Ohr—
gehänge glichen großen ſilbernen Tropfen.
Dies war das Schulze Kniehaſeſche Paar.
Dem Alten gegenüber, im vollen Fenſterlicht,
ſaß die Tochter des Hauſes, Maria, ebenſo auf—
Bor dem Sturm. 287
recht wie Tages zuvor am Kamin des Herren⸗
hauſes. Sie trug daſſelbe Taftkleid, daſſelbe
rothe Band im Haar; und mit derſelben Auf-
merkſamkeit, mit der ſie geſtern den Erzählungen
Lewins gefolgt war, folgte ſie heute der Vor⸗
leſung ihres Vaters, der zuerſt das Weihnachts—
evangelium, dann das 8. Kapitel aus dem
Propheten Daniel las. Der alte Kniehaſe hatte
dies Kapitel mit gutem Vorbedachte gewählt.
Mariens Hände lagen ſtill in ihrem Schooß.
Und als die Stelle kam: „Und nach dieſem wird
aufkommen ein frecher und tückiſcher König, der
wird mächtig ſein, doch nicht durch ſeine Kraft,
und nur durch ſeine Liſt wird ihm der Betrug
gerathen und er wird ſich auflehnen wider den
Fürſten aller Fürſten; aber er wird ohne
Hand zerbrochen werden“ — da wurden
ihre Augen größer, wie ſie es bei der Er—
zählung von dem Feuerſchein im Schloſſe zu
Stockholm geworden waren, denn, erregbaren
Sinnes, nahm jegliches, wovon ſie hörte, lebendige
Geſtalt an. Sonſt blieb alles in gleichem
Schlag. Das Rothkehlchen, mit leiſem Gezirp,
hüpfte aus dem Ring auf die Sproſſen und
wieder von den Sproſſen in den Ring; in
gleichmäßigem Takt ging der Pendel der Gehäuſe—
288 Bor dem Sturm.
uhr. Und jo ging auch des Schulzen Knie—
haſe Herz.
Kniehaſe war ein „Pfälzer.“ Wie kam er
in dieſes Wendendorf? Und wie war er der
Schulze dieſes Dorfes geworden?
Um dieſelbe Zeit, als die Scharwenkas mit
anderen czechiſchen Familien von Böhmen her
überſiedelten, wanderten die Kniehaſes mit
rheiniſchen Familien ein. Das war um 1750,
als Friedrich der Große zur Trockenlegung der
Sumpfſtrecken des Oderbruches und zu ihrer
Koloniſirung ſchritt. Die czechiſchen Familien,
weil ihrer nur wenig waren, fanden in den alt⸗
wendiſchen Dörfern ein Unterkommen und ſo
kamen die Scharwenkas nach Hohen-Vietz. Die
rheiniſchen Koloniſtenfamilien aber, die, ohne
Rückſicht darauf, ob ſie aus dem Cleveſchen oder
Siegenſchen, aus Naſſau oder der Pfalz ſtammten,
ſämmtlich „Pfälzer“ genannt wurden, (etwa wie
in Irland alle Herübergekommenen „Sachſen“
heißen) gründeten eigene Dörfer, unter denen
Neu⸗Barnim das größte war. In dieſem Dorfe
wurde unſer Kniehaſe geboren und zwar am
Tage des Hubertusburger Friedens. Der Vater
ſchloß daraus, daß der Sohn ein Prediger werden
müſſe und ließ ihn nach den beſcheidenen Mitteln,
Hor dem Sturm. 289
die ſich darboten, etwas Tüchtiges lernen. Aber
der junge Kniehaſe war weitab davon, ein Mann
des Friedens werden zu wollen; nur das
Soldatiſche hatte Reiz für ihn und mit zwanzig
Jahren ſchon, nachdem er den Widerſtand des
Vaters unſchwer beſiegt, trat er in die Grenadier⸗
kompagnie des Regiments Möllendorf ein, das
damals zu Berlin in Garniſon ſtand. Der
Dienſt, trotz aller Strenge, gefiel ihm wohl, und
ſchon 1792, bei Ausbruch der Rheinkampagne,
war er unter den Fahnenunteroffizieren des
Regiments. Bei Valmy erhielt er ein Ehren⸗
zeichen, bei Kaiſerslautern ein zweites. Das
kam ſo. Die Kompagnie von Thadden ſah ſich
gezwungen, eine Hügelſtellung zu räumen, auf
der ſie ſich ſeit Beginn des Kampfes behauptet
hatte; feindliche Artillerie fuhr auf und beherrſchte
jetzt das abgeſchrägte wohl 1500 Schritt breite
Terrain, auf dem die zurückgehende Kompagnie,
zum Theil in bloße Trupps aufgelöſt, ihren
Rückzug bewerkſtelligte. In Mittelhöhe des Ab-
hanges lag ein durch einen Schenkelſchuß ver—
wundeter Gefreiter und beſchwor ſeine Kameraden,
ihn nicht liegen zu laſſen. Einige hielten inne;
aber das Kartätſchenfeuer brach wieder den guten
Willen; auch den Tapferſten verſagte der Muth.
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 121
290 Bor dem Sturm.
Da ſprang Unteroffizier Kniehaſe vor, lief eine
Strecke zurück, lud den Verwundeten auf die
Schulter und trug ihn aus dem Feuer. Stabs-
kapitän von Thadden, als die Kompagnie ſich
wieder ſammelte, trat an Kniehaſe heran und
ſchüttelte ihm die Hand; die Grenadiere aber
brachen in Jubel aus und nahmen eine halbe
Stunde ſpäter die verloren gegangene Höhen—
ſtellung wieder. d
Dieſer Tag führte unſeren Kniehaſe, wenn
nicht gleich, ſo doch im regelrechten Lauf der
Ereigniſſe, nach dem alten Wendendorfe, deſſen
Obrigkeit er jetzt bildete. Denn der Gefreite,
den er ſo muthig aus dem feindlichen Feuer ge—
tragen hatte, war niemand anderes als unſer
Freund aus dem Hohen-Vietzer Kruge her: Peter
Kümmeritz. Invalide geworden, erhielt er ſeinen
Abſchied; zwei Jahre ſpäter aber kam der Frieden
und die ganze Rheinarmee kehrte in ihre Garniſonen
zurück. Mit ihr das Regiment Möllendorf.
Es war nach der Ernte, Anno 95; die
Sommerfäden flogen ſchon durch die Luft, als an
einem jener klaren Tage, wie ſie der September
bringt, an Miekleys Mühle vorbei, ein breit—
ſchultriger Mann in ſeines Königs Rock in die
Hohen-Vietzer Dorfſtraße einbog. Auf ſeiner
Nor dem Siurcm. 291
Bruſt blitzten ein paar Medaillen, und wer ſich
auf Litzen und Rabatten verſtand, der ſah, daß
es ein Chargirter vom Regiment Möllendorf
war. Es war aber kein anderer als unſer Unter⸗
offizier Kniehaſe. Als er, gefolgt von der halben
Dorfjugend, die ſcheubefliſſen auf ſeine Fragen
Antwort gab, in das Gehöft ſeines ehemaligen
Gefreiten eintreten wollte, trat ihm an der
Schwelle des Hauſes nicht Peter Kümmeritz in
Perſon, wohl aber Trude Kümmeritz, ſeine
Schweſter, entgegen. Nach allem, was folgte
muß angenommen werden, daß dieſe Stellver-
tretung den Wünſchen unſeres Kniehaſe nicht zu—
wider lief, denn ehe er nach Wochenfriſt den
gaſtlichen Kümmeritzſchen Hof verließ, um zu
ſeinem Regiment zurückzukehren, hatte er nicht
nur mit Peter die Kriegskameradſchaft erneuert,
ſondern auch mit Trude ſich zu ehelicher Kamerad⸗
ſchaft verſprochen. Er ging überhaupt nur in
ſeine Garniſon zurück, um aus dem Urlaub einen
Abſchied zu machen, demnächſt aber einen Neu⸗
barnimſchen Hof zu kaufen und ſeine Trude aus
dem Wendendorf in das Pfälzerdorf hinüber zu
ziehen. Es kam aber umgekehrt. Eine Hohen—
Vietzer Stelle wurde unerwartet frei, die Truhen
der Häuſer Kümmeritz und Kniehaſe ſteuerten
121*
292 = Bor dem Sturm.
zuſammen, und als im Sommer 96 der Raps
blühte, und ſein Duft auf allen Feldern lag, da
ſtieg ein Hochzeitszug den Kirchenhügel hinan,
die Glocken läuteten und die Muſikanten blieſen,
bis das Brautpaar über die Schwelle war.
Kniehaſe trug ſeine Uniform, Trude die reiche
wendiſche Tracht, und Alt und Jung waren einig,
daß Hohen-Vietz ein ſolches Brautpaar ſeit
Menſchengedenken nicht geſehen habe. Seit
Menſchengedenken kein ſtattlicheres, aber auch
kein glücklicheres Paar. Vor allen Dingen kein
beſſeres. Neid und üble Nachrede ſchwiegen, und
wenn anfangs dieſer und jener klagte, „daß nun
ein Pfälzer ins Dorf gekommen ſei,“ jo ver-
ſtummte dieſe Klage doch bald, als ſie den
Pfälzer kennen lernten. Wo es einen Rath galt,
da war er da, und wo es eine That galt, da
war er zweimal da. Er verſtand ſich aufs
Schreiben und Eingabenmachen, aufs Rechnen
und Regiſtriren, und als Anno 1800 der alte
Schulze Wendelin Pyterke ſtarb, der ſeit dem
ſiebenjahrigen Krieg volle vierundvierzig Jahre
im Amte, und nach der Kunersdorfer Schlacht,
als die Ruſſen kamen, die Rettung des Dorfes
geweſen war, da wählten ſie den Kniehaſe zu
ihrem Schulzen, ohne ſich ums Herkommen zu
Bor dem Sturm. 0 293
kümmern, das nur zwei oder drei unter ihnen
gewahrt wiſſen wollten. Berndt von Vitzewitz
aber ſagte: „Meine Bauern waren immer geſcheidt,
doch für ſo geſcheidt hab' ich ſie all mein Lebtag
nicht gehalten.“
Kniehaſe hatte keinen Feind; ſelbſt die Forſt⸗
ackers Leute ſprachen gut von ihm. Im Herren⸗
hauſe hieß es: „Er iſt ein tüchtiger Mann,“ in
der Mühle hieß es: „Er iſt ein frommer Mann,“
Peter Kümmeritz aber mit immer wachſendem
Reſpekt ſah zu ſeinem Schwager auf, als ob er
den Tag von Kaiſerslautern durch eigenes Ein⸗
greifen entſchieden habe. Er ſchloß dann wohl
ab: „Ich ſchulde ihm mein Leben und meine
Schweſter ſchuldet ihm ihr Glück.“
Die Kniehaſes waren ein glückliches Paar;
aber kein Glück iſt vollkommen: ſie blieben kinder⸗
los. Da traf es ſich, daß auch eine Tochter ins
Haus kam, kein eigenes Kind und doch geliebt
wie ein ſolches.
Es war um Weihnachten 1804, zwei Jahre
früher, als die Frau von Vitzewitz ſtarb, da kam
ein „ſtarker Mann“ ins Dorf, einer von jenen
fahrenden Künſtlern, die zunächſt in rothem
Trikot mit fünf großen Kugeln ſpielen und hinter—
her ein Taubenpaar aus einem Schubfach auf-
294 Nor dem Sturm.
fliegen laſſen, in das ſie vorher eine Uhr oder
ein Taſchentuch gelegt haben. Der ſtarke Mann
ſchien beſſere Tage geſehen zu haben; ſeine ganze
Haltung deutete darauf hin, daß er nicht immer
in einem Planwagen von Dorf zu Dorf gefahren
war. Er hielt jetzt vor dem Scharwenkaſchen
Kruge, führte das magere Pferd in den Stall,
und am Abend war Vorſtellung. Ein kleines
Mädchen, das zehn Jahre ſein mochte, wechſelte
mit ihm ab, fang Lieder und deklamirte; zuletzt
erſchien ſie in einem kurzen Gazekleid, das mit
Sternchen von Goldpapier beſetzt war, und führte
den Shawltanz auf. Die Hohen-Vietzer Bauern,
ganz beſonders die alten, waren wie benommen
und ſtreichelten das Kind mit ihren großen
Händen. Es ſollte ihnen bald Gelegenheit werden,
ihr gutes Herz noch weiter zu zeigen.
Der „ſtarke Mann“ war längſt kein ſtarker
Mann mehr; er war ſiech und krank. Er legte
ſich und es ging raſch bergab. Paſtor Seidentopf
ſaß an ſeinem Bett und ſprach ihm Troſt zu;
der Sterbende aber, der wohl wußte, wie es mit
ihm ſtand, ſchüttelte den Kopf, zog den Paſtor
näher an ſich heran und ſagte feſt: „Ich bin
froh, daß es zu Ende geht.“ Dann wies er mit
einer leiſen Seitwärtsbewegung des Kopfes auf
—
rc
Hor dem Sturm. 295
die Kleine, die am Fenſter ſaß, preßte beide
Hände aufs Herz und ſetzte mit halberſtickter
Stimme hinzu: „Wenn nur das Kind nicht wäre.“
Dabei brach er, alle Kraft über ſich verlierend,
in ein krampfhaftes Schluchzen aus. Die Kleine,
als ſie das Weinen hörte, kam herzu geſprungen
und küßte in leidenſchaftlicher Liebe die Hand des
Sterbenden. Dieſer ſtreichelte ihr das Haar,
ſah ſie an und lächelte. Es war, als ob er in
eine lichte Zukunft geblickt hätte. So ſtarb er.
Auf dem Tiſche neben ihm ſtand die kleine
Zauberkommode, aus der immer die Tauben auf—
flogen. Paſtor Seidentopf war tief erſchüttert.
An die Hohen-⸗Vietzer aber traten jetzt zwei
Fragen heran, von denen es ſchwer zu ſagen, welche
die Gemüther mehr beſchäftigte. Die erſte Frage
war: „Was machen wir mit dem Todten?“
Die alten Wendenbauern waren gutmüthig,
aber ſie dachten doch ernſt in ſolchen Sachen.
Den ſtarken Mann blos einzuſcharren, erſchien
ihnen als unthunliche Härte, ihn aber auf ihrem
chriſtlichen Kirchhofe zu begraben, als noch un—
thunlichere Entweihung. War er überhaupt ein
Chriſt? Die Mehrzahl zweifelte. Da fand Paſtor
Seidentopf unter dem Kopfkiſſen des Todten eine
Taſche mit allerhand Papieren, auch Tauf- und
296 Bor dem Sturm.
Trauſchein. Die Briefe gaben weiteren Auf—
ſchluß. Es zeigte ſich, daß er Schauſpieler ge—
weſen war, daß er eine Tochter aus gutem Hauſe
wider den Willen der Eltern geheirathet hatte, und
daß die Frau ſchließlich hingeſtorben war in Gram
und Elend, aber ohne Vorwurf und ohne Reue.
Die letzten Briefe, viel durchleſene, waren aus
einem ſchleſiſchen Kloſterſpitale datirt. Ein ge-
ſcheitertes Leben ſprach aus allen, aber kein un⸗
glückliches, denn was ſie zuſammengeführt, hatte
Noth und Tod überdauert.
Paſtor Seidentopf, als er die Briefe geleſen,
trat wieder unter ſeine Bauern, die unten im
Krug ſeiner harrten, und am dritten Tage hatte
der ſtarke Mann ein chriſtliches Begräbniß, als
ob er ein Kümmeritz oder ein Miekley geweſen
wäre. Die Schulkinder ſangen ihn hügelan,
trotzdem ein großes Schneetreiben war, Frau
von Vitzewitz, gütig wie immer, ſtand mit am
Grabe und warf dem Todten die erſte Hand voll
Erde nach, Berndt von Vitzewitz aber ließ ihm
ein Kreuz errichten, darauf folgender vom alten
Küſter Jeſerich Kubalke gedichteter Spruch zu
leſen war:
Ein Stärk'rer zwang den ſtarken Mann,
Nimm ihn Gott in Gnaden an.
Hor dem Sturm. 297
So erledigte ſich die erſte Frage. — Die
zweite Frage war: „Was machen wir mit dem
Kinde?“ Paſtor Seidentopf erwog die Frage
hin und her, hundert Pläne gingen ihm durch
den Kopf, aber keiner wollte paſſen. Die Bauern
waren ſcheu und ſchwierig. Da trat Schulze
Kniehaſe dazwiſchen, und das weinende Kind vom
Krug aus in ſein Haus hinüber führend, ſagte
er: „Mutter, die ſchickt uns Gott.“
Und am anderen Tage, weil es dicht vor
dem Chriſtfeſt war, begann er ihr einen Baum
zu putzen, und nannte ſie ſeine Weihnachtspuppe
und ſein Zauberkind.
Die Bauern ſahen anfangs ängſtlich zu;
„ſie wird ihm wegfliegen,“ meinten die einen,
„und das wäre noch das beſte,“ verſicherten die
anderen. Aber ſie flog nicht fort, und Paſtor
Seidentopf ſagte: „Sie wird ihm Segen bringen,
wie die Schwalben am Sims.“
X.
Marie.
„Sie wird dem Hauſe Segen bringen, wie
die Schwalben am Sims,“ ſo hatte Prediger
Seidentopf geſprochen, und ſeine Worte ſollten
298 Bor dem Sturm.
in Erfüllung gehen. Das Kopfſchütteln der
Bauern nahm bald ein Ende. Es geſchah das,
was unter ähnlichen Verhältniſſen immer geſchieht:
dunkle Geburt, ſeltſame Lebenswege, wie ſie den
Argwohn wecken, wecken auch das Mitgefühl, und
ein ſchöner Trieb kommt über die Menfchen,
ein unverſchuldetes Schickſal auszugleichen. Der
Zauber des Geheimnißvollen unterſtützt die wach—
gewordene Theilnahme.
Das erfuhr auch Marie. Ehe noch der erſte
Winter um war, war ſie der Liebling des Dorfes;
keiner ſpöttelte mehr über das Gazekleid mit den
Goldpapierſternchen, in dem ſie zuerſt vor ihnen
aufgetreten war. Vielmehr erſchien ihnen jetzt
dieſer bloße Hauch einer Kleidung als ihr natür—
liches Koſtüm, und wenn Schulze Kniehaſe, der
das Kind von Anfang an über die Maßen liebte,
drüben im Kruge ſaß und halb ernſthaft, halb
ſcherzhaft verſicherte, „ſie ſei ein Feenkind,“ ſo
widerredete niemand, weil er nur ausſprach, was
alle längſt ſchon an ſich ſelbſt erfahren hatten.
Daß ſie fortfliegen würde, daran glaubte freilich
niemand mehr, mit alleiniger Ausnahme der
Mädchen in den Spinnſtuben, die voll Spuk⸗
und Gejpenfterbedürfnig immer Neues und
Wunderbares von ihr zu erzählen wußten. Und
ö
Hor dem Sturm. 299
nicht alles war Erfindung. So hatte ſie wirklich
eine unbezwingbare Vorliebe für den Schnee.
Wenn die Flocken ſtill vom Himmel fielen, oder
tanzten und ſtöberten, als würden Betten aus⸗
geſchüttet, dann entfernte ſie ſich aus dem Vorder⸗
hauſe, kletterte die lange Schrägleiter hinauf, die
bis auf den Firſt des Scheunendaches führte,
und ſtand dort oben ſchneeumwirbelt. Die
Mädchen verſicherten auch, ſie hätten ſie ſingen
hören. Es bedarf keiner Ausführung, welche
phantaſtiſch weitgehenden Schlüſſe daraus gezogen
wurden.
So war es im Winter. Als der Sommer
kam, der eine freiere Bewegung gönnte, gewann
ſie vollends alle Herzen. Sie beſuchte nicht nur
die einzelnen Bauerhöfe, ſondern auch die aus—
gebauten Looſe, die weiter ins Bruch hinein⸗
lagen, ſpielte mit den Kindern und erzählte
Geſchichten. Das Fremde und Geheimnißvolle,
das ſie von Anfang an gehabt hatte, blieb ihr,
aber niemand wunderte ſich mehr darüber. Auch
die Dorfmädchen nicht. Einmal verirrte ſie ſich;
im Kniehaſeſchen Hauſe war große Aufregung;
alles lief und ſuchte bis an die Oder hin. End-
lich fand man ſie, keine tauſend Schritt vom
Dorfe. Sie lag ſchlafend im Korn, ein paar
300 Nor dem Sturm.
Mohnblumen in der Hand; ein kleiner Vogel
ſaß ihr zu Füßen. Niemand kannte den Vogel,
als er aufflog und aller Augen ihn verfolgten.
„Der hat fie beſchützt!“ ſagten die Hohen-Vietzer.
In der Regel ſpielte ſie auf dem Abhange
zwiſchen der Kirche und dem Dorfe, am liebſten
auf dem Kirchhofe ſelbſt. Sie las die Inſchriften,
umarmte den Raſen von ihres Vaters Grabe,
kletterte auf die hohe Feldſteinmauer und ſah
auf die Segel der Oderkähne nieder, die, an—
geglüht von der ſich neigenden Sonne, unten
auf dem Strome vorüberzogen. Kam dann des
alten Küſters Kubalke Magd, um zu Abend zu
läuten, ſo folgte ſie dieſer, zog ein paar mal mit
an dem Glockenſtrang und huſchte dann in die
ſchon halbdunkle Kirche hinein. Hier ſetzte ſie
ſich mit halbem Körper auf das äußerſte Ende
der Frontbank, auf der am Tage nach der Kuners—
dorfer Schlacht der Major vom Regiment Itzen—
plitz verblutet war, blickte ſeitwärts ſcheu nach
dem dunkeln Fleck, den alles Putzen nicht hatte
wegſchaffen können, und ſah dann, um das ſelbſt—
gewollte Grauen wieder von ſich zu bannen, nach
dem großen Vitzewitzſchen Marmorbilde hinüber,
das die Inſchrift trug: „ſo Du bei mir biſt,
wer will wider mich ſein.“ So blieb ſie, bis
Nor dem Sturm. 301
der Glockenton verklang. Dann trat ſie wieder
auf den Kirchhof hinaus, ſah der Magd nach,
die den Schlängelpfad ins Dorf herniederſtieg
und umkreiſte bang aber immer enger und enger
die alte Buche, deren zweigetheilter Stamm, der
Sage nach, an den Bruderzwiſt der Vitzewitze
gemahnte. Fiel dann ein Blatt, oder flog ein
Vogel auf, ſo fuhr ſie zuſammen.
Es waren ſchöne Tage, dieſer erſte Sommer
in Hohen⸗Vietz; aber dieſe ſchönen Tage konnten
nicht dauern. Die Schulzenleute, Mann wie
Frau, hatten längſt ihre Sorge darüber. All
dies Umherſtreifen währte ſchon zu lange; Arbeit,
Ordnung, Schule mußten an ſeine Stelle treten.
Aber wie? Beide Kniehaſes waren weitab davon,
ein Prinzeßchen aus ihrem Pflegekind machen zu
wollen, aber eben ſo beſtimmt fühlten ſie auch,
daß die Dorfſchule kein Platz für ſie ſei. Sie
paßte nicht unter die Holzpantoffelkinder, ganz
abgeſehen davon, daß fie, ohne je eine Schul:
ſtunde gehabt zu haben, um ein Beträchtliches
beſſer leſen konnte, als der alte Jeſerich Kubalke,
zumal wenn er ſeine Hornbrille vergeſſen hatte.
In dieſer Noth half die gute Frau von Vitze⸗
witz. Sie hatte längſt daran gedacht, das ſonder⸗
bare Kind, von deſſen phantaſtiſchem Weſen ſie
302 Vor dem Hturm,
jo manches gehört hatte, als Spiel- und Schul:
genoſſin Renatens in ihr Haus zu ziehen, aller-
hand Erwägungen aber, die dagegen ſprachen,
hatten es damals nicht dazu kommen laſſen. Der
Kniehaſeſche Pflegling, ſo gewinnend er ſein
mochte, war doch immer eines Taſchenſpielers,
im günſtigſten Falle eines verarmten Schau⸗
ſpielers Kind, und ſo wenig ſie perſönlich einen
Anſtoß daran nahm, ſo glaubte ſie dennoch in
Erziehungsfragen weniger ihr eigenes, durchaus
freies und vornehmes Empfinden, als vielmehr
allgemeine, aus Pflicht und Erfahrung her—
geleitete Anſchauungen zu Rathe ziehen zu müſſen.
So zerſchlug es ſich denn wieder. Paſtor Seiden-
topf hätte es freilich wohl ſchon damals in der
Hand gehabt, einen andern Ausgang herbei—
zuführen; er wollte jedoch, in einer jo verant—
wortungsvollen Angelegenheit, nicht ungefragt
eingreifen und zog es vor, ſich die Dinge ſelber
machen zu laſſen.
Und ſie machten ſich auch, und zwar in ſehr
eigenthümlicher Weiſe. Am Rande des Vitze—
witzſchen Parks, ſchon in einiger Erhöhung, ſtand
eine Floraſtatue und ſah einen breiten Kiesweg
hinunter auf die Gartenfront des Herrenhauſes.
Zu Füßen der Statue waren fünf dreieckige
Bor dem Sturm. 303
Blumenbeete angelegt, die in ihrer Geſammtheit
einen einfaſſenden Halbkreis bildeten. An dieſer
Stelle hatte Marie, bei ihren täglichen Streifereien
häufig ein paar Blumen gepflückt, Balſaminen
oder Reſeda, und war dabei niemals einem Ver—
bot begegnet. Im Gegentheil. Der Gärtner,
des zierlichen und fremdartigen Kindes ſich
freuend, hatte ihr zugenickt und einmal ſogar ihr
ein paar Fuchſia-Knospen über das linke Ohr
gehängt. Nun war es September geworden;
die rothen Verbenen blühten und dazwiſchen,
aus eingegrabenen Töpfen, wuchſen ein paar
unſcheinbare Blumen auf, die dem ſpielenden
Kinde als dunkle Vergißmeinnicht erſchienen.
Sie pflückte fie ab. Es war aber Heliotrop, da-
mals noch etwas ſeltenes, und Frau von Vitzewitz
wollte wiſſen, wer ihr das angethan und ſie um
den Anblick ihrer Lieblingsblume gebracht habe.
Als Marie davon hörte, faßte ſie raſch einen
Entſchluß. Sie ſetzte ſich auf eine Bank, in un⸗
mittelbarer Nähe der Statue, und als Frau
von Vitzewitz auf ihrem Spaziergang den breiten
Kiesweg hinaufſchritt, ſprang ſie auf, eilte der
Herankommenden entgegen, küßte ihr die Hand
und ſagte: „Ich habe es gethan.“ Sie war
dabei hochroth und zitterte, aber ſie weinte nicht.
304 Vor dem Sturm.
Von dieſem Augenblick an war die Freundſchaft
geſchloſſen. Frau von Vitzewitz ſtreichelte ihr
das Haar und ſah ſie feſt und freundlich an;
dann führte ſie ſie zu der Bank zurück, von der
ſie aufgeſtanden war, ſtellte Fragen und ließ ſich
erzählen. Alles beſtätigte ihr den erſten Ein⸗
druck. So trennten ſie ſich. Noch am ſelben
Nachmittage aber ſagte Frau von Vitzewitz zu
Seidentopf: „Das iſt ein ſeltenes Kind,“ und
ehe acht Tage um waren, war ſie die Spiel- und
Schulgenoſſin Renatens.
Sie war anfangs zurück; alles was ſie
konnte, war eben leſen und deklamiren. Aber
ihre ſchnelle Faſſungsgabe, durch Gedächtniß und
glühenden Eifer unterſtützt, geſtattete ihr das
Verſäumte wie im Fluge nachzuholen, und ehe
noch ein halbes Jahr um war, war ſie in den
meiſten Disziplinen Renaten gleich. Und wie
ſie den von Frau von Vitzewitz an ihre Fähig⸗
keiten geknüpften Erwartungen entſprach, ſo auch
denen, die ſich auf ihren Charakter bezogen.
Sie war ohne Laune und Eigenſinn; etwas
Heftiges, das ſie hatte, wich jedem freundlichen
Worte. Die beiden Mädchen liebten ſich wie
Schweſtern.
Nichts war mißglückt, über Erwarten hinaus
Vor dem Sturm. 305
hatten ſich die Wünſche der Frau von Vitzewitz
erfüllt, dennoch ſtellten ſich immer wieder Be⸗
denken bei ihr ein, die freilich jetzt nicht mehr
das Glück Renatens, ſondern umgekehrt das
Glück Mariens betrafen. Es galt nicht nur den
Augenblick, ſondern auch die Zukunft befragen.
Wie ſollte ſich dieſe geſtalten? War es recht,
dem Schulzenkinde die Erziehung eines adeligen
Hauſes zu geben? Wurde Marie nicht in einen
Widerſpruch geſtellt, an dem ihr Leben ſcheitern
konnte? Sie theilte dieſe Bedenken ihrem Gatten
mit, der, von Anfang an dieſelben Skrupel
hegend, ſofort entſchloſſen war, mit Schulze
Kniehaſe, zu deſſen Verſtändigkeit er ein hohes
Vertrauen hatte, die Sache durchzuſprechen.
Berndt ging in den Schulzenhof, traf Knie—
haſe mitten in Rechnungsabſchlüſſen, die das nach
Küſtrin hin gelieferte Stroh- und Hafer⸗Quantum
betrafen, rückte mit ihm in die Fenſterniſche und
ſtellte ihm alles vor, wie er es mit der Frau
von Vitzewitz beſprochen hatte.
Schulze Kniehaſe hörte aufmerkſam zu, bung
ſagte er, als ſein Gutsherr ſchwieg: er habe
ſich's, als von der Sache zuerſt geſprochen
wurde, auch überlegt, ob er dem Kinde nicht die
Ruhe nehme, die doch mehr ſei als alles Lernen
Th. Fontane, Geſ. Romane u. Novellen. 122
306 Bor dem Sturm.
und Wiſſen. All ſein Ueberlegen aber habe doch
immer wieder dahin geführt, daß es das Beſte
ſein würde, die gnädige Frau, die es ſo gut
meine, ruhig gewähren zu laſſen. So ſei es ein
halbes Jahr gegangen. Es jetzt nun nach der
entgegengeſetzten Seite hin zu ändern, ſei nur
rathſam, wenn es der ausgeſprochene Wille der
gnädigen Frau ſei. Sein eigener Wunſch und
Wille ſei es ſchon ſeit Monaten nicht mehr; die
Bedenken, die er anfangs gehabt, ſeien mehr und
mehr von ihm abgefallen. Er wiſſe auch wohl
warum. Das Kind, das ihm die Hand Gottes
faſt auf die Schwelle ſeines Hauſes gelegt habe,
ſei kein bäuerlich Kind; es ſei nicht bäuerlich von
Geburt und nicht bäuerlich von Erſcheinung. Er
ſäße ſo mitunter in der Dämmerſtunde und
mache ſich Bilder, wie auch wohl andere Leute
thäten, aber wie vielerlei auch an ihm vorüber
zöge, nie ſähe er ſeine Marie mit geſchürztem
Rock und zwei Milcheimern, unter dem Zurufe
lachender Knechte über den Hof gehen. Er liebe
das Kind, als ob es ſein eigen wäre; aber er
betrachte es doch als ein fremdes, das eines
Tages ihm wieder abgefordert werden würde.
Nicht von den Menſchen, wohl aber von der
Natur. Es wird ſo ſein, wie mit den Enten im
Bor dem Sturm. 307
Hühnerhof, die eines Tages fortſchwimmen,
während die Henne am Ufer ſteht.
Als Kniehaſe ſo geſprochen, hatte ihm Berndt
von Vitzewitz die Hand gereicht, und im Herren⸗
hauſe ſchwiegen von jenem Tage an alle Be⸗
denken.
Auch der Tod der Frau von Vitzewitz,
ſchmerzlich wie er von Marie empfunden wurde,
änderte nichts in ihrem Verhältniß zu den
Zurückgebliebenen. Tante Schorlemmer kam ins
Haus und frei von jener Liebedienerei, die ſich
in Bevorzugung Renatens hätte gefallen können,
betrachtete ſie vielmehr beide Mädchen wie
Geſchwiſter und umfaßte fie mit gleicher Herz-
lichkeit. |
Nach der Einſegnung hörten die Unterrichts-
ſtunden auf, aber die beiden Mädchen waren zu
innig an einander gekettet, als daß der Wegfall
dieſes äußerlichen Bandes das Geringſte an
ihrer Verkehrs⸗ und Lebensweiſe hätte ändern
können. Der Geburts- und Standesunterſchied
wurde von Renate nicht geltend gemacht, von
Marie nicht empfunden. Sie ſah in die Welt
wie in einem Traum und ſchritt ſelber traumhaft
darin umher. Ohne ſich Rechenſchaft davon zu
geben, ſtellten ſich ihr die hohen und niederen
122 *
308 Bor dem Sturm.
Geſellſchaftsgtade als bloße Rollen dar, die wohl
dem Namen nach verſchieden, ihrem Weſen nach
aber gleichwerthig waren. Es war im Zuſammen⸗
hange damit, daß unter allen Bildern, die ſich im
Vitzewitzeſchen Hauſe befanden, eine Nachbildung
des „Lübecker Todtentanzes,“ bei allem Er⸗
ſchütternden, doch zugleich den erhebendſten Ein⸗
druck auf ſie gemacht hatte. Die Predigt von
einer letzten Gleichheit aller irdiſchen Dinge
ſprach das aus, was dunkel in ihr ſelber lebte.
Dabei war ſie ohne Anſpruch und ohne Begehr.
Alles Schöne zog ſie an; aber es drängte ſie nur
daran Theil zu nehmen, nicht es zu beſttzen.
Es war ihr wie der Sternenhimmel; ſie freute
ſich ſeines Glanzes, aber ſie ſtreckte nicht die
Hände danach aus.
Dieſe Unbegehrlichkeit hatte ſich auch an
ihrem ſechszehnter Geburtstage gezeigt. Bei
dieſer Gelegenheit erhielt ſie als großes Geſchenk
des Tages ihr eigenes Zimmer. Beide Knie⸗
haſes führten ſie, mit einer gewiſſen Feierlichkeit,
in die nördliche Giebelſtube, die geradeaus den
Blick auf den Park, nach rechts hin auf die
Kirche hatte und ſagten: „Marie, das iſt nun
Dein; ſchalte und walte hier; erfülle Dir jeden
kleinen Wunſch; uns ſoll es eine Freude ſein.“
r
Bor dem Sturm. 309
Marie, im erſten Sturm des Glückes, hatte
ein Hin⸗ und Herſchieben mit Schrank und Näh⸗
tiſch, mit Bücherbord und Kleidertruhe begonnen,
aber dabei war es geblieben. Es kam ihr nicht
in den Sinn, ihrem alten, ihr lieb gewordenen
Beſitz etwas Neues hinzuzufügen. Was ſie hatte,
freute ſie, was ſie nicht hatte, entbehrte ſie nicht.
„Sie hat Muth und ſie iſt demüthig,“
hatte nach jener erſten Begegnung im Park Frau
von Vitzewitz zu Paſtor Seidentopf geſagt. Sie
hätte hinzuſetzen dürfen: „vor allem iſt ſie wahr.“
Jenes Wunder, das Gott oft in ſeiner Gnade
thut, es hatte ſich auch hier vollzogen: innerhalb
einer Welt des Scheins war ein Menſchenherz
erblüht, über das die Lüge nie Macht gewonnen
hatte. Noch weniger das Unlautere. Tante
Schorlemmer ſagte: „Unſere Marie ſieht nur,
was ihr frommt, für das, was ſchädigt, iſt ſie
blind.“ Und jo war es. Phantaſie und Leiden-
ſchaft, weil ſie ſie ganz erfüllten, ſchützten ſie
auch. Weil ſie ſtark fühlte, fühlte ſie rein.
Im Hohen-Bieger Herrenhauſe — es war
im Winter vor Beginn unſerer Erzählung —
ſang Renate ein Lied, deſſen Refrain lautete:
Sie iſt- am Wege geboren,
Am Weg, wo die Roſen blühn ...
310 Bor dem Sturm.
Sie begleitete den Text am Klavier.
„Weißt Du, an wen ich denken muß, ſo oft
ich dieſe Strophen ſinge,“ fragte Renate den
hinter ihrem Stuhl ſtehenden Lewin.
„Ja,“ antwortete dieſer, „Du giebſt keine
ſchweren Räthſel auf.“ |
„Nun?“
„An Marie.“
Renate nickte und ſchloß das Klavier.
XI.
Prediger Seidentopf.
In der Mitte des Dorfes, neben dem
Schulzenhof, lag die Pfarre, ein über hundert
Jahre altes, etwas zurück gebautes Giebelhaus,
das an Stattlichkeit weit hinter den meiſten
Bauerhöfen zurückblieb. Es war das einzige
größere Haus im Dorfe, das noch ein Strohdach
hatte. Zu verſchiedenen Malen war davon die
Rede geweſen, dieſes der Dorfgemeinde ſowohl
um ihres Paſtors wie um ihrer ſelbſt willen
deſpektirlich erſcheinende Strohdach durch ein
Ziegeldach zu erſetzen; unſer Freund Seidentopf
aber, der in dieſem Punkte wenigſtens ein
gewiſſes Stilgefühl hatte, hatte beſtändig gegen
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Hor dem Sturm. 311
ſolche Moderniſirung proteſtirt. „Es ſei gut ſo,
wie es ſei.“ Und darin hatte er vollkommen
Recht. Es war eben ein Dorfidyll, das durch
jede Aenderung nur verlieren konnte. Der Giebel
des Hauſes ſtand nach vorn; dicht unter dem
Strohdach hin lief eine Reihe kleiner, überaus
freundlich blickender Fenſter, während die Fach⸗
werkwände bis hoch hinauf mit Brettern be—
kleidet und den ganzen Sommer über mit Wein,
Pfeifenkraut und Spalierobſt überdeckt waren.
Neben der Hausthüre ſtand ein Roſenbaum, der,
bis an den Firſt hinauf wachſend, im ganzen
Oderbruche berühmt war wegen ſeines Alters
Rund ſeiner Schönheit. Auch das winterliche Bild,
das die Pfarre bot, war nicht ohne Reiz. Eine
mächtige Schneehaube ſaß auf ſeinem Dache,
während die niedergelegten, mit Stroh um—
wundenen Weinranken, dazu die Matten, die ſich
ſchützend über dem Spalierobſt ausbreiteten, dem
Ganzen ein ſorgliches und in ſeiner Sorglichkeit
wohnlich anheimelndes Anſehen gaben.
Dem entſprach auch das Innere. Die Haus⸗
thür, wie oft in den märkiſchen Pfarrhäuſern,
hatte eine Klingel, keine von den großen, lärmenden,
die den Bewohnern zurufen: „Rettet Euch, es
kommt wer,“ ſondern eine von den kleinen ſtill
312 Hor dem Sturm.
geſtimmten, die dem Eintretenden zu ſagen
ſcheinen: „Bitte ſchön, ich habe Sie ſchon ge—
meldet.“ Der Thür gegenüber, an der ent⸗
gegengeſetzten Seite des langen, faſt durch das
ganze Haus hinlaufenden Flurs, befand ſich die
Küche, deren aufſtehende Thüre immer einen
Blick auf blanke Keſſel und flackerndes Herdfeuer
gönnte. Die Zimmer lagen nach rechts hin. An
der linken Flurwand, die zugleich die Wetter⸗
wand des Hauſes war, ſtanden allerhand Schränke,
breite und ſchmale, alte und neue, deren Simſe
mit zerbrochenen Urnen garnirt waren; da⸗
zwiſchen in den zahlreichen Ecken hatten aus⸗
gegrabene Pfähle von verſteinertem Holz, Wall-
fiſchrippen und halbverwitterte Grabſteine ihren
Platz gefunden, während an den Querbalken des
Flurs verſchiedene ausgeſtopfte Thiere hingen,
darunter ein junger Alligator mit bemerkens⸗
werthem Gebiß, der, ſo oft der Wind auf die
Hausthür ſtand, immer unheimlich zu ſchaukeln
begann, als flöge er durch die Luft. Alles in
allem eine Ausſtaffirung, die keinen Zweifel
darüber laſſen konnte, daß das Hohen Vietzer
Predigerhaus zugleich auch das Haus eines
leidenſchaftlichen Sammlers ſei.
Machte ſchon der Flur dieſen Eindruck, ſo
Bor dem Sturm. 313
ſteigerte ſich derſelbe beim Eintritt in das nächſt⸗
gelegene Zimmer, das einem Antikenkabinet un⸗
gleich ähnlicher ſah, als einer chriſtlichen Prediger⸗
ſtube. Zwar war der Bewohner deſſelben erſicht⸗
lich bemüht geweſen, Amt und Neigung in ein
gewiſſes Gleichgewicht zu bringen, war aber
damit geſcheitert. Es ſei geſtattet, einen Augen⸗
blick bei dieſem Punkte zu verweilen. |
Die Studirftube bejaß zwei nach dem Garten
hinaus ſehende Fenſter, zwiſchen denen unſer
Freund eine bis in die Mitte des Zimmers
gehende Scheidewand gezogen hatte. So waren
zwei große, faſt kabinetartige Fenſterniſchen
gewonnen, von denen die eine dem Prediger
Seidentopf, die andere dem Sammler und
Alterthumsforſcher gleichen Namens angehörte.
Innerhalb dieſer Niſchen war das Balancir⸗
ſyſtem, das ſich ſchon in ihrer äußeren Anlage
zu erkennen gab, ebenfalls feſtgehalten, indem
auf dem Arbeitstiſche in der Camera archaeologica
„Bekmanns hiſtoriſche Beſchreibung der Kurmark
Brandenburg, Berlin 1751 bis 53,“ auf dem
Arbeitstiſch in der Camera theologica „Dr. Martin
Luthers Bibelüberſetzung, Augsburg 1613“ auf⸗
geſchlagen lag. Beides Prachtbücher, wie ſie
nur ein Sammler hat, groß, dick, in feſtem
314 Hor dem Sturm.
Leder, mit hundert Bildern. Ueber eine Aeuße⸗
rung des Kandidaten Uhlenhorſt, der auf einer
Verſammlung in Hohen-Sathen gejagt haben
ſollte: „Prediger Seidentopf greife mitunter
fehl und ſchlage in Bekmann ſtatt in der Bibel
nach“ gehen wir wie billig an dieſer Stelle hin.
Es war dies ein rechter Uhlenhorſtſcher—
Sarkasmus, wie ihn die Konventikler wohl zu
haben pflegen; aber darin hatten ſie Recht, daß
nicht nur der in der archäologiſchen Abtheilung
ſtehende Lehnſtuhl viel tiefer eingeſeſſen, ſondern
daß auch der ganze, diesſeits der Fenſterniſchen
verbliebene Reſt des Zimmers ein heidniſches
Muſeum, eine bloße Fortſetzung alles deſſen
war, was ſchon der Flur geboten hatte. Nur
die Wallfiſchrippe und der Alligator fehlten.
Zwei mächtige, rechts und links neben der Thür
ſtehende, über den Sims hin durch einen Mittelbau
verbundene Glasſchränke bildeten eine Art Arcus
triumphalis, durch den man in die Studirſtube
eintrat; und alles, von dem Steinmeſſer und
dem Aſchenkrug an, was die märkiſche Erde nur
je an Alterthumsfunden herausgegeben hat, das
fand ſich hier zuſammen. Daneben konnte freilich
die theologiſche Bibliothek des Zimmers nicht
beſtehen, die, ihrer äußerſten Verſtaubung ganz
Bor dem Sturm. 315
zu geſchweigen, auf einem ſchmalen zweibrettrigen
Real zwiſchen Wandvorſprung und Ofen ihre
Unterkunft gefunden hatte.
Unſer Seidentopf war ein archäologiſcher
Enthuſiaſt trotz einem, und ausgerüſtet mit all
den Schwächen, die von dieſem Enthuſiasmus ſo
unzertrennlich ſind wie die Eiferſucht von der
Liebe. Er phantaſirte, er ließ ſich hinters Licht
führen; aber in einem unterſchied er ſich von der
großen Armee ſeiner Genoſſen: er ſammelte nicht,
um zu ſammeln, ſondern um einer Idee willen.
Er war Tendenzſammler.
Innerhalb der Kirche, wie Uhlenhorſt ſagte,
ein Halber, ein Lauwarmer, hatte er, ſobald es
ſich um Urnen und Todtenköpfe handelte, die
Dogmenſtrenge eines Großinquiſitors. Er duldete
keine Kompromiſſe, und als erſtes und letztes
Reſultat aller ſeiner Forſchungen ſtand für ihn
unwandelbar feſt, daß die Mark Brandenburg
nicht nur von Uranfang an ein deutſches Land
geweſen, ſondern auch durch alle Jahrhunderte
hin geblieben ſei. Die wendiſche Invaſion
habe nur den Charakter einer Sturzwelle gehabt,
durch die oberflächlich das eine oder andere
geändert, dieſer oder jener Name ſlaviſirt worden
ſei. Aber nichts weiter. In der Bevölkerung,
2 Bor dem Sturm.
wie durch die Sagen von Fricke und Wotan
bewieſen werde, habe deutſche Sitte und Sage
fortgelebt, am wenigſten ſeien die Wenden, wie
ſo oft behauptet werde, in die Tiefen der Erde
eingedrungen. Ihre ſogenannten „Wendenkirch—
höfe,“ ihre Todtentöpfe niedrigen Grades, wolle
er ihnen zugeſtehen, alles andere aber, was ſich
mit inſtinktiver Vermeidung des Oberflächlichen,
eingebohrt und eingegraben habe, alles was zu—
gleich Kultur und Kultus ausdrücke, ſei ſo gewiß
germaniſch, wie Teut ſelber ein Deutſcher geweſen
ſei. Um dieſe Sätze drehte ſich für ihn jede
Debatte von Bedeutung. Er war ſich bewußt,
in ſeinem archäologiſchen Muſeum durchaus un⸗
anfechtbare Belege für ſein Syſtem in Händen
zu haben, unterſchied aber doch zwiſchen einem
kleinen und einem großen Beweis. Der kleine
war ihm perſönlich der liebere, weil er der
feinere war; er kannte jedoch die Welt genugſam,
um dem blöden Sinn der Maſſe gegenüber je
nach einem andern als nach dem großen Beweis
zu greifen. Die Stücke, die dieſen bildeten,
befanden ſich ſämmtlich in den zwei großen
Glasſchränken des Arcus triumphalis, waren
jedoch ſelbſt wieder in unwiderlegliche und ganz
unwiderlegliche getheilt, von denen nur die
Bor dem Sturm. 317
letzteren die Inſchrift führten: „ultima ratio
Semnonum.“ Es waren zehn oder zwölf Sachen,
alle numerirt, zugleich mit Zetteln beklebt, die
Citate aus Tacitus enthielten. Gleich Nr. 1
war ein Hauptſtück, ein bronzenes Wildſchweins⸗
bild, auf deſſen Zettel die Worte ſtanden:
Insigne superstitionis formas aprorum gestant,
„ihren Götzenbildern gaben ſie (die alten
Germanen) die Geſtalt wilder Schweine.“ Die
anderen Nummern wieſen Spangen, Ringe,
Bruſtnadeln, Schwerter auf, woran ſich als die
Sanspareils und eigentlichen Prachtbeweisſtücke
der Sammlung drei Münzen aus der Kaiſerzeit
ſchloſſen, mit den Bildniſſen von Nero, Titus
und Trajan. Die Trajansmünze trug um das
lorbeergekrönte Haupt die Umſchrift: „Imp.
Caes. Trajano Optimo, auf dem daneben
liegenden Zettel aber hieß es: „gefunden zu
Reitwein, Land Lebus, in einem Todtenkopf.“
Das „in einem Todtenkopf“ war dick unter⸗
ſtrichen. Und vom Standpunkte unſeres Freundes
aus mit vollkommenem Recht. Denn es führte
den Beweis, oder ſollte ihn wenigſtens führen,
daß nicht alle Todtenköpfe wendiſch, vielmehr
die „Todtenköpfe höherer Ordnung“ ebenfalls
deutſch⸗ſemnoniſchen Urſprungs ſeien.
318 Bor dem Sturm.
Auflehnung gegen ſo beredte Zeugen erſchien
unſerem Seidentopf unmöglich, und dennoch hatte
er ſie zu befahren, wobei es ſich ſo glücklich oder
ſo unglücklich traf, daß ſein heftigſter Angreifer
und ſein älteſter Freund ein und dieſelbe Perſon
waren. Es ſprach für beide, daß ihre Freund—
ſchaft unter dieſen Kämpfen nicht nur nicht litt,
ſondern immer wurzelfeſter wurde; allerdings
weniger ein Verdienſt unſeres Paſtors, als ſeines
gut gelaunten Antagoniſten, der weltmänniſch
über der Sache ſtehend, nicht gewillt war, die
Semnonen- und Lutizenfrage unter Drangebung
vieljähriger herzlicher Beziehungen durchzufechten.
In Wahrheit intereſſirte ihn die „Urne“ erſt
dann, wenn ſie anfing, die moderne Geſtalt einer
Bowle anzunehmen.
Dieſer alte Freund und Gegner war der
Juſtizrath Turgany aus Frankfurt a. O., der,
ein Feind aller Prozeßverhandlungen bei trockenem
Munde, ſpeziell in dem Prozeß „Lutizii contra
Semnones“ manche liebe Flaſche ausgeſtochen
hatte, gelegentlich im Pfarrhauſe zu Hohen-Vietz
am liebſten aber im eigenen Hauſe, nach dem
Grundſatze, daß er über ſeinen eigenen Wein—
keller am unterrichtetſten ſei. Schon die
Studentenzeit hatte beide Freunde, Mitte der
or dem Sturm. 319
ſiebziger Jahre, in Göttingen zuſammen geführt,
wo ſie unter der „deutſchen Eiche“ Schwüre ge⸗
tauſcht und Klopſtockſche Bardengeſänge recitirend
ſich dem Vaterlande Hermanns und Thusneldas
auf ewig geweiht hatten. Seidentopf war ſeinem
Schwure treu geblieben. Wie damals in den
Tagen jugendlicher Begeiſterung erſchien ihm auch
heute noch der Reſt der Welt als bloßer Roh—
ſtoff für die Durchführung germaniſch-ſittlicher
Miſſion; Turgany aber hatte ſeine bei Punſch
und Klopſtock geleiſteten Schwüre längſt vergeſſen,
ſchob alles auf den erſteren und gefiel ſich darin
wenigſtens ſcheinbar, den Apoſtel des Panſlavismus
zu machen. Die Möglichkeit europäiſcher
Regeneration lag ihm zwiſchen Don und Dnjepr
und noch weiter oſtwärts. „Immer,“ ſo hatte
er bei ſeiner letzten Anweſenheit in Hohen Vietz
verſichert, „kam die Verjüngung von den Ufern
der Wolga, und wieder ſtehen wir vor ſolchem
Auffriſchungsprozeß;“ halb ſcherz⸗, halb ernſthaft
vorgetragene Paradoxien, die von Seidentopf
einfach als politiſche Ketzereien ſeines Freundes
bezeichnet wurden.
Aber dieſer Freund war nicht halb ſo ſchwarz,
wie er ſich ſelber malte. Er debattirte nur nach
dem Prinzip von Stahl und Stein, hart gegen
320 Bor dem Aturm.
hart; das gab dann die Funken, die ihm wichtiger
waren als die Sache ſelbſt. Zudem wußte der
panſlaviſtiſche Juſtizrath, daß Streit und immer
wieder in Frage geſtellter Sieg längſt ein Lebens⸗
bedürfniß Seidentopfs geworden waren und
gefiel ſich deshalb in ſeiner Oppoſitionsrolle
mehr nach aus Rückſicht gegen dieſen, als aus
Rückſicht gegen ſich ſelbſt.
(Fortſetzung im ſiebenten Bande.)
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Inhalt des ſechsten Bandes.
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W. Moeſer Hofbuchdruckerei, Berlin, Stallſchreiberſtr. 34. 35.
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