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Full text of "Gesammelte Schriften"

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GESAMMELTE SCHRIFTEN 



VON 



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FRANZ LISZT 

VOLKSAUSGABE 
IN VIER BÄNDEN * 



I. FRIEDRICH CHOPIN 
IL RICHARD WAGNER 



III. DIE ZIGEUNER UND IHRE 
MUSIK IN UNGARN 

IV. AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN 




LEIPZIG 

DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF 'S) HÄRTEL 

1910 



GESAMMELTE SCHRIFTEN 



VON 



FRANZ LISZT 



^ 



I. 



FRIEDRICH CHOPIN 



ÜBERSETZT VON 



LAMARA 



NEU DURCHGESEHENE AUSGABE 




LEIPZIG 

DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF ^ HARTEL 

1910 



Music 

H-lö 
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V. i 



COPYRIGHT 1910 By BREITKOPF «> HARTEL -LEIPZIG 



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Inhalt 

Seite 

I. Chopins Werke im allgemeinen 1 

II. Polonaisen 19 

III. Mazurken . 39 

IV. Chopins Virtuosität 57 

V. Chopins Individualität 83 

VI. Chopins Jugend 118 

VII. Leiia 139 

VIII. Letzte Zeiten und Stunden 158 



Vorwort. 

Wer das französische Originalwerk kennt, dessen Übertragung 
ich auf Wunsch des Autors übernahm, wird zu beurteilen vermögen, 
daß es sich hierbei nicht um eine Übersetzung im gewöhnlichen 
Sinne des Wortes handeln konnte. Die bilderreiche, poetisch ge- 
steigerte Ausdrucksweise, der eigenartige Satzbau forderten, dem 
Wesen unserer Sprache angemessen, eine den Geist des Ganzen 
vielmehr als den Wortsinn im einzelnen wiedergebende Behand- 
lung, machten häufig eine Vereinfachung und Umgestaltung, eine 
knappere Darstellung notwendig. Wie das Buch selbst aus einem 
dichterischen Geiste hervorgegangen war, schien es mir auch die 
Aufgabe des Übersetzers, dasselbe mehr nachzudichten, frei nach- 
zuschaffen, als sklavisch nachzuahmen. Den Versuch einer solchen 
Nachdichtung übergebe ich der Gunst des Publikums. 

Mit diesen Worten geleitete ich meine Verdeutschung im Fe- 
bruar 1880 bei ihrem ersten Erscheinen in die Öffentlichkeit. Sie 
hatte das Glück, sich als besten Lohn Liszts uneingeschränkte 
Zustimmung zu gewinnen. Daß ich mir damit aber nicht genug- 
getan, sondern mich nach Kräften bemüht habe, meine Arbeit zu 
Ehren des großen Meisters zu vervollkommnen, davon gab die 
zweite, gibt gegenwärtig die dritte Auflage ein Zeugnis. 

Zusätze, welche Liszts ungenannte Mitarbeiterin aus der Zeit 
der Weimarer Altenburg, die ihm für Darstellung der polnischen 
Charaktere und Verhältnisse als Quelle diente, bei Korrektur der 
zweiten französischen Auflage allzu freigebig eingefügt hatte, wurden, 
insoweit sie die Harmonie des Ganzen beeinträchtigten, hier ge- 
tilgt und letzteres im wesentlichen auf seine ursprüngliche Fassung 
zurückgeführt. ' An den Berichtigungen, die einige, nicht sonderlich 



VIII Vorwort 



ins Gewicht fallende Angaben Liszts betreffs äußerer Lebens- 
umstände Chopins in den späteren Biographien von Karasowski 
und Niecks erfuhren, ging ich — von einer kurzen Anmerkung ab- 
gesehen — vorüber, wie Liszt selber in der zweiten Auflage des 
französischen Originals, dessen Datierung vom Jahre 1850 bei- 
behaltend, an den Mitteilungen Karasowskis (Niecks' Buch er- 
schien erst später) vorübergegangen war. Nicht eine Biographie 
im üblichen Sinn, sondern ein Charakterbild Chopins als Künstler 
und Mensch zu geben lag ja in Liszts Absicht. Möge die vorliegende 
Neugestalt seinem berühmten Werk zu den zahlreichen alten Freun- 
den noch viele neue zuführen! 

Leipzig, Februar 1910. 

La Mara. 



G ^ ^ o ) 



I. 

Weimar 1850. 

Chopin 1 sanfter, harmonischer Genius 1 Wen, dem er vertraut, 
dessen Herzen er teuer war, überkäme nicht beim Nennen 
seines Namens ein geheimer Schauer, wie in der Erinnerung an ein 
höheres Wesen, das zu Icennen ihm vom Glück beschieden war? 
Doch wie sehr auch all seine Kunstgenossen, all seine zahlreichen 
Freunde seinen vorzeitigen Hingang beklagen, wir gestatten uns 
dennoch den Zweifel zu äußern, ob bereits jetzt der Augenblick 
gekommen sei, wo man ihn, dessen Verlust wir als einen ganz be- 
sonders schmerzlichen empfinden, nach seinem vollen Werte wür- 
dige und er in der allgemeinen Schätzung den hohen Rang einnehme, 
den ihm die Zukunft vorbehalten. 

Wenn die Erfahrung lehrt, daß keiner seinem Vaterlande als 
Prophet gilt, bestätigt sie es nicht gleicherweise, daß die seherischen 
Geister, denen es gegeben, die Zukunft vorauszuempfinden und ihr 
in ihren Werken voranzuschreiten, von ihrer Zeit nicht als Pro- 
pheten erkannt werden? . . . Und in Wahrheit, könnte es anders 
sein? Ohne uns in jene Gebiete zu verlieren, wo Verstandesgründe 
der Erfahrung bis zu einem gewissen Punkte als Bürgschaft dienen 
dürften, wagen wir zu behaupten, daß im Reiche der Kunst jedes 
neuschöpferische Genie, jeder Meister, der die Ideale, Typen und 
Formen, an denen sich die Geister seiner Zeit nährten und ent- 
zückten, verläßt, um ein neues Ideal anzurufen und neue, unbe- 
kannte Typen und Formen zu schaffen, die mitlebende Generation 
verletzen wird. Erst das kommende Geschlecht wird seinem Denken 
und Empfinden das rechte Verständnis entgegenbringen. Mögen 
die jungen Künstler, die sich um einen solchen Neuerer scharen, 

LJszt, Oesammelte Schriften. I. V.A. 1 



I. Chopins Werke im allgemeinen. 



sich so viel sie wollen gegen die Zaudernden verwahren, deren 
unverbesserliche Gewohnheit es ist, die Lebenden mit den Toten 
umzubringen, gerade in der Musik mehr noch als in jeder anderen 
Kunst bleibt es oftmals der Zeit allein vorbehalten, die ganze Schön- 
heit und Bedeutung schöpferischer Eingebungen und neuer Formen 
zu offenbaren. 

Die mannigfaltigen Formen der Kunst gleichen nur einer Art 
Beschwörung, deren äußerst verschiedenartige Formeln dazu be- 
stimmt sind, die Empfindungen und Leidenschaften, die der Künst- 
ler fühlbar, sichtbar, hörbar, ja in gewisser Beziehung, um die innere 
Bewegung mitzuteilen, greifbar machen will, in seinem magischen 
Kreise erscheinen zu lassen. So bezeugt sich das Genie durch die 
Erfindung neuer Formen, die zuweilen in Empfindungen ihren 
Ursprung haben, die bis dahin noch niemals in jenem Zauberkreise 
auftauchten. In der Musik wie in der Architektur vollziehen sich 
Eindruck und Gemütserregung ohne Vermittelung des Gedankens 
und der Vernunft, wie sie Rhetorik, Poesie, Skulptur, Malerei, 
dramatische Kunst bedingen, die mit der Forderung an uns heran- 
treten, daß wir uns mit ihrem Gegenstand vorerst auf vertrauten 
Fuß gesetzt haben; ihn muß der Verstand zuvörderst begriffen 
haben, ehe er das Herz zu ergreifen vermag. Wie müßte demnach 
nicht schon die bloße Einführung ungewöhnlicher Formen und 
Arten in dieser Kunst ein Hindernis für das unmittelbare Verständ- 
nis eines Werkes sein? . . . Die neue Weise des Gedanken- und 
Gefühlsausdruckes, des Fortschreitens, deren Wesen, Reiz und 
Geheimnis man noch nicht versteht, ruft fremdartige, ungekannte 
Eindrücke hervor, welche überraschend und ermüdend wirken und 
die unter so unvermuteten Bedingungen geschaffenen Werke der 
großen Menge in einer Sprache geschrieben erscheinen lassen, die 
man, eben weil man sie nicht kennt, für eine barbarische hält. 

Schon die Mühe, das Ohr daran zu gewöhnen, sich Rechenschaft 
über das a + b der Beweggründe abzulegen, aus denen die alten 
Regeln anders angewandt und gedeutet, allmählich umgebildet 
wurden, um Bedürfnissen zu entsprechen, die, als jene ins Leben 
traten, eben noch nicht vorhanden waren, genügt, um viele ab- 
zustoßen. Sie wehren sich hartnäckig dagegen, die neuen Werke 



Erfindung neuer Formen. 



zu studieren und somit zu begreifen, was diese sagen wollten und 
gleichwohl nicht zu sagen imstande waren, ohne die künstlerischen 
Traditionen umzugestalten. Sie weigern sich in dem frommen 
Glauben, aus dem reinen Bereich der geweihten Kunst solchergestalt 
eine der erhabenen Meister, welche diese verherrlichten, unwürdige 
Sprachweise ausgewiesen zu haben. Lebhafter wird diese Abwehr 
bei den gewissenhaften Naturen, die, nachdem sie ihr Wissen mit 
schweren Mühen erkauft, sich starr an die Dogmen anklammern, 
„außerhalb deren es kein Heil'' für sie gibt; und sie äußert sich 
stärker, gebieterischer noch, wenn ein schöpferischer Genius unter 
neuen Formen Gefühle und Gedanken in die Kunst einführt, die 
bisher noch niemals durch sie ausgesprochen wurden. Dann be- 
schuldigt man ihn der Unwissenheit, nicht allein bezüglich dessen, 
was die Kunst zum Ausdruck zu bringen vermag, sondern auch 
bezüglich der Weise, in der es zum Ausdruck kommen soll. 

Die Musiker dürfen nicht einmal jene vorübergehende Steigerung 
des Wertes ihrer Arbeiten nach ihrem Tode hoffen, wie sie den 
Werken der Maler zuteil wird. Keiner von ihnen könnte daher 
zum Besten seiner Manuskripte die List eines der großen nieder- 
ländischen Meister anwenden, der bei seinen Lebzeiten schon seinen 
zukünftigen Ruhm ausbeuten wollte und durch seine Frau das Ge- 
rücht seines Todes verbreiten ließ, um den Preis der Bilder zu 
steigern, mit denen er sein Atelier sorglich geschmückt hatte. Die 
Streitfragen der Schule können auch in den bildenden Künsten die 
richtige Würdigung gewisser Meister bei ihren Lebzeiten verzögern. 
Wer weiß es nicht, daß die leidenschaftlichen Bewunderer Raphaels 
einst gegen Michel Angelo eiferten, daß man in unsern Tagen in 
Frankreich lange Zeit die Verdienste Ingres' mißkannte, dessen 
Parteigänger wieder diejenigen Delacroix' herabsetzten, während 
in Deutschland die Anhänger von Cornelius und Kaulbach sich 
gegenseitig in den Bann taten. Aber in der Malerei kommen der- 
artige Schulstreitigkeiten rascher zum Abschluß. Ist ein Gemälde, 
eine Statue einmal ausgestellt, so können ja alle sie sehen; die 
Menge gewöhnt ihre Augen daran, indes der Denker, der unpartei- 
ische Kritiker (dafern es einen solchen gibt) imstande ist, sie ge- 
wissenhaft zu prüfen und den wirklichen Wert der Idee und der 

1* 



I. Chopins Werke im allgemeinen. 



noch ungebräuchlichen Formen in ihnen zu entdecken. Es ist 
ihm ermöglicht, sie wieder und wieder zu betrachten und, sobald 
er den guten Willen hat, in gerechter Weise zu entscheiden, ob 
sich Übereinstimmung zwischen Inhalt und Form darin vorfindet 
oder nicht. 

Anders ist es in der Musik. Die exklusiven Fahnenträger der 
alten Meister und ihrer Schreibweise gestatten' es andern. Un- 
parteiischen nicht, sich mit den Erzeugnissen einer erst erstehenden 
Schule vertraut zu machen. Sie lassen es sich vielmehr angelegen 
sein, diese der Kenntnis des Publikums gänzlich zu entziehen* 
Soll aus Versehen ein neues, in einem neuen Stil geschriebenes 
Werk zur Aufführung kommen, so geben sie sich nicht damit zu- 
frieden, dasselbe durch alle ihnen zu Gebote stehenden Organe der 
Presse bekämpfen zu lassen, sie verhindern auch, daß man es auf- 
führt, und namentlich, daß man es wiederholt. Sie nehmen die 
Orchester und Konservatorien, die Konzertsäle und Salons in Be- 
schlag, indem sie gegen jedweden Autor, der kein bloßer Nachahmer 
ist, ein Verbotssystem einführen, das sich von den Schulen, in denen 
Virtuosen und Kapellmeister ihre Geschmacksbildung empfangen, 
auf den Unterricht, den Lehrgang, die öffentlichen und privaten, 
ja die im engsten Kreise stattfindenden Aufführungen erstreckt, 
in denen der Geschmack der Zuhörer sich bildet. 

Maler und Bildhauer dürfen billigerweise hoffen, diejenigen ihrer 
Zeitgenossen, welche Neid, Groll, Voreingenommenheit nicht dauernd 
einer besseren Einsicht unzugänglich machen, allmählich zum 
Glauben an sie zu bekehren, da sie durch das Bekanntwerden ihres 
Werkes selbst des Beifalls aller Aufrichtigen, wie aller derer gewiß 
sind, die über die kleinen Gehässigkeiten von Atelier zu Atelier 
erhaben sind. Der Tonkünstler, sobald er neue Bahnen betritt, 
ist dagegen verurteilt, erst eine kommende Generation abzuwarten, 
um überhaupt gehört und darnach verstanden zu werden. Außer- 
halb des Theaters, das seine eigenen Bedingungen, Gesetze und 
Regeln hat, mit denen wir uns hier nicht beschäftigen, bleibt ihm 
wenig Hoffnung, das Publikum bei seinen Lebzeiten zu gewinnen; 
das heißt, das Gefühl, das ihn begeisterte, die Absicht, die er ver- 
lebendigte, den Gedanken, der ihn leitete, allgemein verstanden 



Schwierigkeit des Verständnisses von Neuerungen. 5 

und von jedem richtig erfaßt zu sehen, der seine Werlce liest oder 
aufführt. Er muß im voraus mutig darauf verzichten, vor Ver- 
lauf eines Vierteljahrhunderts, oder besser gesagt, vor seinem Tode 
die Bedeutung und Schönheit der Form, in die er sein Denken und 
Empfinden kleidete, allgemein gewürdigt und von seinen Kunst- 
genossen erkannt zu sehen. Der Tod bringt zwar eine bemerkens- 
werte Wandlung des Urteils hervor; sei es auch nur insofern er all 
den niederen, kleinlichen Empfindlichkeiten lokaler Nebenbuhler- 
schaft Gelegenheit gibt, den Ruf des Künstlers zu bemängeln, an- 
zugreifen und zu untergraben, indem man den Werken dessen, der 
nicht mehr ist, die eigenen seichten Erzeugnisse gegenüberstellt. 
Aber wie weit entfernt ist jene nachträgliche Beachtung, die der 
Neid von der Gerechtigkeit borgt, von dem sympathischen, wohl- 
wollenden, liebevollen und bewundernden Verständnis, das wir dem 
wahren Genius oder dem Talente schulden! 

Nichtsdestoweniger sind gerade die auf musikalischem Gebiet 
Zurückbleibenden vielleicht minder schuldig als jene meinen, deren 
Anstrengungen sie ihrer Erfolge berauben, deren Ruhmesernte sie 
vertagen. Muß man nicht in der Tat die Schwierigkeit in Anschlag 
bringen, die es kostet, das von ihnen mißkannte Schöne zu ver- 
stehen, die von ihnen mit solcher Hartnäckigkeit verneinten Ver- 
dienste zu schätzen? Das Gehör ist ein viel empfindlicherer, ner- 
vöserer, feinerer Sinn als das Gesicht. In dem Augenblick, wo les 
aufhört, den einfachen Bedürfnissen des Lebens zu dienen, und die 
an die sinnliche Wahrnehmung gebundene Erregung, den durch 
Melodie, Rhythmus und Harmonie (vermitteis Aufeinanderfolge, 
Gruppierung und Zusammenklang der Töne) formulierten Ge- 
danken dem Gehirn zuführt, ist es unvergleichlich schwieriger, 
sich an seine neuen Formen zu gewöhnen, als an die, weiche das 
Auge aufnimmt. Dies letztere gewöhnt sich ziemlich rasch an 
dürftige oder üppige Umrisse, an eckige odei* runde Linien, an eine 
grelle oder matte Farbengebung und erfaßt darin, ungeachtet der 
„Manier" eines Meisters, den Ernst und das Pathos seiner Inten- 
tionen. Dagegen befreundet sich das Ohr schwieriger mit Disso- 
nanzen, die ihm um so abscheulicher erscheinen, als es ihre Moti- 
vierung nicht versteht, mit Modulationen, deren Kühnheit ihm um 



I. Chopins Werke im allgemeinen. 



so schwindelerregender dünkt, als es das geheime Band nicht heraus- 
fühlt, das nicht minder logisch und ästhetisch ist als die Übergänge 
eines Stils in der Architektur, die in diesem einen bestimmten Stil 
gesetzmäßig, in einem andern aber unmöglich sind. Überdem be- 
dürfen die Musiker, die sich nicht an den herkömmlichen Schlendrian 
binden, mehr als andereKünstler der Hilfe der Zeit ; denn da ihreKunst 
sich an die zartesten Fibern des Menschenherzens wendet, verletzt sie 
dasselbe und schafft ihm Leiden, wenn sie es nicht mit Entzücken füllt. 

In erster Linie sind es die jüngsten und lebhaftesten Naturen, 
die, durch den Reiz der Gewohnheit — einen gewiß achtenswerten 
Reiz, selbst wenn er zum Tyrannen wird — am wenigsten gefesselt, 
sich zunächst aus Neugier, in der Folge aber mit leidenschaftlicher 
Verehrung der neuen Sprachweise zuwenden, die naturgemäß durch 
das, was sie sagt, wie durch die Weise, wie sie es sagt, dem neuen 
Ideal einer neuen Epoche, den neu aufkeimenden Typen einer Pe- 
riode entspricht, welche einer andern eben entschwindenden folgt. 
Dank dieser jungen Phalanx, die sich für das begeistert, was ihre 
eigenen Eindrücke schildert, ihren Ahnungen Leben verleiht, durch- 
dringt die neue Sprache die widerstrebenden Kreise des Publikums; 
dank ihr erfaßt dieses letztere endlich Sinn, Tragweite und Kon- 
struktion derselben und entschließt sich, ihrem Wesen und Gehalt 
Gerechtigkeit angedeihen zu lassen. 

So populär auch bereits ein Teil der Schöpfungen des Meisters 
sein mag, von dem wir sprechen wollen, und dessen Kraft schwere 
Leiden schon lange Zeit vor seinem Ende gebrochen hatten, wir 
dürfen voraussetzen, daß man in fünfundzwanzig oder dreißig 
Jahren seinen Arbeiten eine minder oberflächliche und leicht- 
wiegende Würdigung schenken wird als gegenwärtig. Wer sich in 
Zukunft mit der Geschichte der Musik beschäftigt, wird ihm darin 
den Platz anweisen, der dem gebührt, der sich durch ein so seltenes 
melodisches Genie, durch so wundersame rhythmische Inspirationen, 
durch so glückliche und wesentliche Erweiterungen des harmo- 
nischen Gewebes hervortat, und dessen Schöpfungen man mit 
Recht manchem Werk größeren Umfangs voranstellen wird, das 
die großen Orchester spielen und wieder spielen,'das zahllose Prima- 
donnen singen und wieder singen. 



Würdigung Chopins. 



Chopins Genie war tief und erhaben, war vor allem reich genug, 
um von dem weiten Gebiet orchestraler Kunst Besitz ergreifen 
zu können. Seine musikalischen Gedanken waren groß, bestimmt, 
fruchtbar genug, um sich über die volle Breite des instrumentalen 
Rahmens zu erstrecken. Hätten ihm die Pedanten den Mangel 
an Polyphonie zum Vorwurf gemacht, so hätte er, billig ihrer 
spottend, ihnen beweisen können, daß die Polyphonie, obwohl 
eines der überraschendsten, mächtigsten, ausdruckvollsten Hilfs- 
mittel des musikalischen Genies, doch eben nichts weiter als ein 
Hilfsmittel ist, eine Ausdrucks- und Stilform, deren sich dieser 
Autor, diese Epoche, dieses Land je in dem Maße bedient, als sie 
dem Empfinden eben dieses Autors, dieser Epoche, dieses Landes 
bedürfnisgemäß ist oder war. Da aber die Kunst nicht dazu da ist, 
um ihre Mittel nur um der Mittel selber willen, ihre Formen um 
der Formen selber willen zur Geltung zu bringen, liegt es auf der 
Hand, daß der Künstler sie nur anzuwenden braucht, wenn diese 
Formen und Mittel dem Ausdruck seiner Idee oder seines Gefühls 
förderlich oder notwendig sind. Fordert die Natur seines Genies, 
60 wie die des von ihm erwählten Gegenstandes dieselben jedoch 
nicht, so läßt er sie beiseite, wie er die Pfeife oder Baßklarinette, 
die große Trommel oder die Viola d'amour beiseite läßt, wenn er 
mit ihnen nichts zu tun hat. 

Sicherlich nicht durch Anwendung bestimmter, besonders schwie- 
riger Effekte bezeugt sich der künstlerische Genius. Er offenbart 
sich durch das Gefühl, das er singen und erklingen läßt, durch die 
Noblesse der Gestaltung, durch eine so völlige Einheit von Idee 
und Form, daß man die eine nicht ohne die andre zu denken ver- 
mag, da die eine eben als das natürliche Gewand, die freiwillige 
Ausstrahlung der andern erscheint. Der beste Beweis dafür, daß 
Chopin seine Gedanken sehr wohl dem Orchester hätte anvertrauen 
können, ist die Leichtigkeit, mit der sich die schönsten und be- 
deutendsten für dasselbe übertragen lassen. Gebrauchte er also zur 
Kundgebung seines Innern niemals die symphonische Form, so 
geschah dies, weil ihn nicht darnach verlangte. Weder falsche Be- 
scheidenheit noch übel angebrachte Geringschätzung leiteten ihn 
hierbei, sondern das klare und sichere Bewußtsein, daß die von ihm 



8 I. Chopins Werke im allgemeinen. 

gewählten Formen seinem Empfinden am eigentlichsten entsprachen. 
Dieses Bewußtsein aber ist eins der wesentlichsten Kennzeichen 
des Genies in allen Künsten und zumal in der Musik. 

Indem Chopin sich ausschließlich auf das Bereich des Klaviers 
beschränkte, betätigte er eine der wertvollsten Eigenschaften des 
Komponisten: die richtige Erkenntnis der Form, in der er berufen 
ist, Hervorragendes zu leisten. Gleichwohl schädigte das, was wir 
ihm als Verdienst anrechnen, die Bedeutung seines Rufs. Wohl 
schwerlich hätte ein anderer, im Besitz gleich hoher melodischer 
und harmonischer Fähigkeiten, der Versuchung widerstanden, alle 
Kräfte des Orchesters zu entfesseln, vom Gesang des Bogens, dem 
schmachtenden Laut der Flöte bis zum Schmettern der Trompete, 
in der wir beharrlich das Attribut der alten Gottheit erblicken, deren 
rasch gewährte Gunst wir anrufen. Welcher Gereiftheit der Er- 
kenntnis bedurfte er nicht, um sich auf einen dem Anschein nach 
unfruchtbareren Kreis zu begrenzen, den er gleichwohl durch sein 
Genie und seine Kraft mit Erzeugnissen schmückte, die, oberfläch« 
lieh betrachtet, einen anderen Boden zu fordern schienen, um da- 
selbst ihre ganze Blütenpracht zu entfalten! Welchen Scharf- 
blick verrät er nicht in dieser Ausschließlichkeit, indem er gewisse 
Orchestereffekte ihrer eigentlichen Domäne entriß und sie in eine 
eng umgrenztere aber idealere Sphäre übertrug! Welch zuversicht- 
liches Bewußtsein der künftigen Gewalt seines Instrumentes mußte 
nicht dem freiwilligen Verzicht auf eine Behandlungsweise voraus^ 
gegangen sein, die dergestalt verbreitet ist, daß andere es wahr- 
scheinlich als Widersinn betrachtet hätten, so bedeutende Ge- 
danken ihren gewohnten Interpreten zu entziehen! Wir müssen 
in Wahrheit diese seltene Hingabe an das Schöne um seiner selbst 
willen an Chopin bewundern, die ihn der herkömmlichen Neigung, 
jedes Körnchen Melodie zwischen hundert Orchesterpulte zu ver- 
teilen, entsagen ließ und ihm gestattete, die Mittel seiner Kunst 
zu bereichern, indem er lehrte, dieselben auf den geringsten Raum 
zu konzentrieren. 

Weit entfernt, den geräuschvollen Lärm des Orchesters anzu- 
streben, begnügte sich Chopin, seine Gedanken voll und ganz durch 
die Tasten des Klaviers wiederzugeben. Und er erreichte seinen 



Chopins Selbstbeschränkung auf Klavierkompositionen. 9 

Zweck. Der Gedanke verlor nichts an Energie, ohne doch die 
Massenwirkungen und den Pinsel des Dekorateurs zu beanspruchen. 
Nicht ernst und nachdrücklich genug hat man bisher noch den Wert 
der Zeichnung dieses äußerst feinen Griffels anerkannt. Hat man 
sich doch in unseren Tagen gewöhnt, nur diejenigen als große 
Komponisten zu betrachten, die mindestens ein halb Dutzend 
Opern, ebensoviel Oratorien und einige Symphonien hinterlassen 
haben; verlangt man doch von jedem Musiker nicht weniger als 
alles, ja womöglich noch etwas mehr! Mag die Manier, das Genie, 
das seinem Wesen nach eigentlich eine unmeßbare Größe ist, nach 
der Zahl und Ausdehnung seiner Werke abzuschätzen, noch so 
verbreitet sein, sie ist nichtsdestoweniger von sehr zweifelhafter 
Berechtigung. 

Niemand wird den Epikern, deren schöpferische Tätigkeit weitere 
Kreise umschreibt, den schwerer zu erlangenden Ruhm und ihre 
tatsächliche Übermacht bestreiten wollen. Wir wünschten jedoch, 
daß man den äußeren Proportionen in der Musik die gleiche Be- 
deutung beimäße, wie in allen andern Zweigen der schönen Künste. 
Wer z. B. stellte in der Malerei eine Leinwand von zwanzig Qua- 
dratzoll, wie die „Vision Ezechiels", oder den „Kirchhof" von 
Ruysdael, die zu den geschätztesten Meisterwerken zählen, nicht 
höher als dieses oder jenes Gemälde weit größeren Umfangs, habe 
es selbst einen Rubens oder Tintoretto zum Urheber? Gilt in der 
Literatur Larochefoucauld etwa darum nicht als Schriftsteller 
ersten Ranges, weil er seine „Gedanken" in solch kleinen Rahmen 
einschloß? Raubt es Uhland und Petöfi etwas von ihrer Bedeutung 
als nationale Dichter, daß sie über die lyrische Poesie und die Bal- 
lade nicht hinausgekommen sind? Verdankt Petrarca seinen Ruhm 
nicht seinen Sonetten, und wie viele von denen, die ihre lieblichen 
Reime immer von neuem lasen, wissen von der Existenz seiner Dich<» 
tung „Afrika"? 

Wir sind überzeugt, daß die Vorurteile bald schwinden werden, 
welche dem Künstler, der, wie Franz Schubert oder Robert Franz, 
fast ausschließlich in Liedern zu uns gesprochen, seinen Vorrang 
vor anderen streitig machen, die die seichten Melodien zahlreicher 
Opern, die wir hier nicht aufzählen wollen, in Partitur setzten. 



10 I. Chopins Werke im allgemeinen. 

Auch in der Musik wird man endlich dahin gelangen, bei Beur- 
teilung der verschiedenen Kompositionen hauptsächlich die Meister- 
schaft und das Talent in Anschlag zu bringen, mit denen die Ge- 
danken und Empfindungen des Tondichters zum Ausdruck kamen, 
welchen Raum und welche Mittel er im übrigen auch zu ihrer 
Kundgebung wählte. 

Man kann die Schöpfungen Chopins nicht mit Aufmerksamkeit 
studieren und analysieren, ohne Schönheiten sehr erhabener Art, 
Empfindungen von vollständig neuem Charakter, Formen von eben- 
so originellem als tiefsinnigem harmonischen Gewebe darin zu ge- 
wahren. Die Kühnheit ist bei ihm stets eine gerechtfertigte, der 
Reichtum, ja Überfluß schließt die Klarheit nicht aus, die Eigen- 
tümlichkeit artet nicht aus in Bizarrerie, die Feinheit der Aus- 
arbeitung ist allenthalbefc eine wohlgeordnete, nirgend überwuchert 
der Luxus der Omamentation die Eleganz der Hauptlinien. Seine 
besten Werke enthalten zahlreiche Kombinationen, die man in der 
Behandlung des musikalischen Stils geradezu als epochemachend 
bezeichnen darf. Kühn, glänzend, berückend, verbergen sie ihre 
Tiefe hinter so viel Anmut, ihre Gelehrsamkeit hinter so viel Reiz, 
daß man sich nur mit Mühe ihrem hinreißenden Zauber zu ent- 
ziehen vermag, um sie kalten Blutes nach dem Maß ihres theore- 
tischen Wertes zu beurteilen. Dies ward von selten der Kunst- 
gelehrten schon mannigfach empfunden; aber es wird zu immer all- 
gemeinerer Erkenntnis kommen, wenn man den künstlerischen 
Errungenschaften der von Chopin durchlebten Periode eine ein- 
gehende Betrachtung schenken wird. 

Ihm danken wir die Erweiterung der voll angeschlagenen so- 
wohl als der gebrochenen und figurierten Akkorde, die chroma- 
tischen und enharmonischen Wendungen, von denen seine Werke 
so überraschende Beispiele bieten ; die kleinen Gruppen von Zwischen- 
noten, die wie bunt schimmernde Tautröpfchen über die melo- 
dische Figur fallen. Er verlieh dieser Art Schmuck, deren Vorbild 
man bisher nur in den Fiorituren der großen alten italienischen 
Gesangschule gefunden, das Unerwartete und Wechselreiche, das 
die menschliche Stimme nicht erlaubte, die bis dahin in den stereo- 
typ und monoton gewordenen Verzierungen durch das Pianoforte 



Chopins Errungenschaften, 11 

nur sklavisch nachgeahmt worden war. Er erfand jene bewunderns- 
würdigen harmonischen Fortschreitungen, mittels deren er selbst 
den Musikstücken einen ernsten Charakter aufprägte, deren minder 
gewichtiger Vorwurf irgend welche tiefere Bedeutung nicht be- 
anspruchen zu dürfen schien. 

Aber was bedeutet der Vorwurf? Ist es nicht vielmehr die aus 
ihm hervorgehende Idee, die ihn durchzitternde Empfindung, die 
jenen in eine höhere Sphäre erhebt, ihn adelt und ihm Größe ver- 
leiht? Welche Melancholie, welche Feinheit, welcher Scharfsinn 
und insbesondere welche Kunst herrscht in den Meisterwerken 
Lafontaines, und doch wie alltäglich sind die darin behandelten 
Gegenstände, wie bescheiden ihre Titel! Die Namen: Etüden und 
Präludien sind es gleicherweise. Dessenungeachtet bleiben die 
also bezeichneten Stücke Chopins nicht minder Typen der Voll- 
kommenheit in einem Genre, das er erst geschaffen, und das er wie 
alle seine Werke mit seinem poetischen Geist beseelt hat. Seinen 
fast der ersten Zeit seines Schaffens entstammenden Etüden ist 
ein jugendlicher Schwung eigen, der in einigen seiner späteren 
kunstreicheren, mehr kombinierten Arbeiten zurücktritt, um sich 
in seinen letzten Erzeugnissen zu verlieren, deren verfeinerte Emp- 
findsamkeit man lange Zeit der Überreiztheit und dadurch der 
Künstelei beschuldigte. Man kommt jedoch zu der Überzeugung, 
daß diese Zartheit in Behandlung der Nuancen, diese unendliche 
Feinheit in Anwendung der leisesten Tinten und flüchtigsten 
Kontraste nur eine scheinbare Ähnlichkeit mit den Gesuchtheiten 
ermattender Schaffenskraft hat. Bei näherer Prüfung gelangt 
man hier, gleichsam hellsehend, zur Erkenntnis der Übergänge, 
die zwischen Gefühlen und Gedanken bestehen, die aber die große 
Menge ebensowenig bemerkt, als ihr beschränkter Blick all die 
Farbenübergänge, all die Abstufungen der Tinten erfaßt, welche 
die unaussprechliche Schönheit und Harmonie der Natur aus- 
machen. 

Hätten wir hier in Schulausdrücken über die Entwickeiung der 
Klaviermusik zu reden, wir würden die wunderbaren Werke, die 
der Beobachtung ein so reiches Feld darbieten, im einzelnen zer- 
gliedern. Wir würden in erster. Linie die Nocturnes, Balladen, 



12 I. Chopins Werke im allgemeinen. 

Impromptus, Scherzi untersuchen, die sämtlich eine Fülle 
ebenso unerhörter als ungehörter harmonischer Raffinements ent- 
halten. Wir würden gleicherweise in seinen Polonaisen, Ma- 
zurken, Walzern, Boleros Umschau halten. Doch ist hier 
weder Zeit noch Ort für ein solches Unternehmen, das nur den 
Adepten des Kontrapunktes und bezifferten Basses Interesse ge- 
währen würde. Es ist das allen seinen Werken innewohnende 
überquellende Gefühl, das diesen ihre Ausbreitung und Popu- 
larität gewann; ein Gefühl, das, seiner Natur nach romantisch, 
eminent individuell, dem Autor spezifisch eigen ist und gleichwohl 
nicht nur dem Land, das ihm eine Berühmtheit mehr verdankt, 
sondern allen denen tief sympathisch erscheint, die das Unglück 
der Verbannung und das Leid der Liebe jemals zu rühren vermögen. 

Chopin begnügte sich indes nicht allein mit den Rahmen, inner- 
halb deren er seine Umrisse mit voller Freiheit entwerfen konnte; 
es gefiel ihm zuweilen auch, seine Gedanken in klassische Formen 
zu bannen. Er schrieb schöne Konzerte und Sonaten; doch 
fühlen wir aus denselben leicht mehr Absicht als Inspiration heraus. 
Seine Eingebungen waren mächtig, phantastisch, impulsiv; seine 
Formen konnten keine andern als freie sein. Er mußte, so glauben 
wir, seinem Genie Gewalt antun, sooft er versuchte, es Regeln 
und Anordnungen zu unterwerfen, die nicht die s6tnigen waren 
und mit den Anforderungen seines Geistes nicht übereinstimmten. 
Gehörte er doch zu jenen, deren Anmut sich vornehmlich dann ent- 
faltet, wenn sie von den gewohnten Wegen abweichen. 

Solch doppelten Erfolg zu erstreben mag Chopin durch das 
Beispiel seines Freundes Mickiewicz veranlaßt worden sein. Nach- 
dem dieser zuerst seiner Heimatsprache eine romantische Dichtung 
geschenkt hatte und seit 1818 durch „Dziady" und seine phan- 
tastischen Balladen in der polnischen Literatur Schule bildete, 
bewies er in der Folge durch seine Werke „Graiyna" und „Wallen- 
rod", daß er auch über die Schwierigkeiten triumphiere, welche die 
Schranken der klassischen Form der Inspiration entgegenstellen, 
und er sich auch auf der Lyra der Alten als Meister behaupte. Cho- 
pins analoge Versuche gelangen nach unserer Meinung nicht ebenso 
vollkommen. Er konnte der engen, starren Form das Schwebende, 



Verschiedene Kompositionsgattungen Chopins. 13 

Unbestimmte der Umrisse nicht anpassen, was den Reiz seiner Weise 
ausmacht. Er vermochte nicht, die ihm eigene gewisse nebelhafte Ver- 
schwommenheit in dieselbe einzuschließen, die, alle Grenzen fester Ge- 
staltung zerstörend, sie mit langem Faltenwurf umhüllt, den Flocken 
gleich, wie sie Ossians Schönheiten umgaben, wenn sie den Sterblichen 
inmitten wechselnden Gewölks ein holdes Antlitz erscheinen ließen. 

Dessenungeachtet glänzen die klassischen Versuche Chopins 
durch eine seltene Vornehmheit des Stils; sie umschließen Passagen 
von hohem Interesse, Teile von überraschender Größe. Wir er- 
innern nur an das Adagio des zweiten Konzertes, für das er selbst 
eine sichtliche Vorliebe bezeigte, und das er häufig zu spielen pflegte. 
Das figurative Nebenwerk vergegenwärtigt aufs schönste die Weise 
des Meisters. Die Hauptphrase ist von bewundernswerter Ge- 
sangesfülle. Sie wechselt mit einem Rezitativ in Moli ab, das ge- 
wissermaßen als Gegenstrophe auftritt. Das ganze Stück ist von 
idealer Vollendung. Sein bald strahlender, bald rührender Inhalt 
versetzt uns in eine herrliche, lichtgetränkte Landschaft, in irgend 
ein glückliches Tempe-Tal, das zum Schauplatz einer traurigen 
Erzählung, einer betrübenden Szene auserwählt ist. Wir sehen 
angesichts einer unvergleichlichen Natur das menschliche Herz 
von einem schweren Unglück betroffen. Dieser Kontrast ist durch 
eine Verschmelzung der Töne, ein Verschwimmen der zartesten 
Tinten getragen, welche verhüten, daß irgend etwas Verletzendes oder 
Rauhes den rührenden Eindruck störe, den er hervorruft, und der 
gleichzeitig die Freude melancholisch, den Schmerz weicher stimmt. 

Wie könnten wir femer unterlassen, von dem seiner ersten 
Sonate eingefügten Trauermarsch zu sprechen, der gelegentlich 
seiner eigenen Totenfeier orchestriert und aufgeführt wurde? Man 
hätte fürwahr keine herzergreifenderen Akzente finden können, um 
der Trauer und den Tränen Ausdruck zu geben, die den zu seiner letzten 
Ruhe geleiteten, der tiefes Leid in so erhabener Klage austönte. 

„Das konnte nur ein Pole schreiben!" hörten wir einmal einen 
seiner jungen Landsleute sagen. In der Tat, alles, was der Leichen- 
zug eines seinen eigenen Tod beweinenden Volkes Feierliches und 
Herzzerreißendes haben kann, klingt aus dem dumpfen Glocken- 
klang heraus, der ihm hier das letzte Geleite zu geben scheint. Das 



14 L Chopins Werke im allgemeinen. 

ganze Gefühl mystischer Hoffnung, frommen Anrufs einer himm- 
lischen Barmherzigkeit, eines unendlichen Friedens, das ganze 
verzückte Leid, das mit märtyrergleichem Heroismus getragene 
Mißgeschick hallt wider in diesem Gesänge, dessen Flehen Trost- 
losigkeit atmet. Was es Reinstes und Entsagungsvollstes, Gläubig- 
stes und Hoffnungsreichstes im Herzen der Frauen, der Kinder 
und Priester gibt, das ertönt und erzittert darin mit unaussprech- 
licher Erregung. Man empfindet, daß man hier nicht den Tod 
eines einzelnen Helden beweint, den zu rächen noch andere Helden 
zurückblieben, sondern vielmehr den Untergang einer ganzen Gene- 
ration, die nur noch Frauen, Kinder und Priester überleben. 

Die antike Auffassung des Schmerzes ist dabei gänzlich aus- 
geschlossen. Hier erinnert nichts an Kassandras Zorn, an die 
Demütigung des Priamus, an das Rasen Hecubas, an die Ver- 
zweiflung der gefangenen Trojanerinnen. Kein greller Schmer- 
zensschrei, kein heiseres Schluchzen, keine Gotteslästerung noch 
wütende Verwünschung stört einen Augenblick die Totenklage, 
die man für seraphische Seufzer zu halten versucht wäre. Ein 
stolzer Glaube tilgt in den Überlebenden dieses christlichen llium 
die Bitterkeit des Leidens, wie die Zaghaftigkeit des Kleinmuts; 
keine irdische Schwäche haftet mehr an ihrem Schmerz. Er reißt 
sich los von dieser mit Blut und Tränen gedüngten Erde, er schwingt 
sich himmelan und wendet sich dem höchsten Richter zu, um ihn 
in so inbrünstigem Gebete anzuflehen, daß das Herz dessen, der es 
vernimmt, in Mitgefühl erbebt. Dieser Trauergesang ist, ob auch 
klagend, von so hehrer Sanftmut, daß er nicht von dieser Erde zu 
stammen scheint. Klänge, wie aus verklärter Feme kommend, flößen 
heilige Andacht ein, wie wenn sie, von den Engeln selber gesungen, 
schon droben in den Regionen des göttlichen Thrones schwebten. 

Man würde indessen mit Unrecht glauben, daß alle Kompo- 
sitionen Chopins der Erregtheit entbehren, deren er sich hier ent- 
äußerte. Ist doch der Mensch nicht wohl fähig, einen so erhabenen 
Aufschwung mit so energischer Selbstverleugnung und entschlosse- 
ner Sanftmut dauernd festzuhalten. Heimlicher Wut, unterdrückter 
Leidenschaft begegnen wir in manchen Stellen seiner Werke. Einige 
seiner Etüden sowohl als seiner Scherzi atmen eine bald ironische, 



Chopin in Darstellung des Schmerzes. 15 

bald stolze Verzweiflung. Diese düsteren Auslassungen seiner JVluse 
sind ungekannter und unverstandener geblieben als seine Dich- 
tungen von ruhigerem Kolprit. In den Gefühlskreis, dem sie ent- 
sprangen, sind eben wenige eingedrungen, wenige nur kennen diese 
Gebilde von tadelloser Schönheit, denen er das Dasein gab. Der 
persönliche Charakter Chopins trug hierzu das seine bei. Wohl- 
wollend, freundlich, anmutig im persönlichen Verkehr, von gleich- 
mäßiger und heiterer Stimmung, ließ er die geheimen Zuckungen, 
die sein Inneres erregten, wenig ahnen. 

Nicht leicht war dieser Charakter zu ergründen. Er war aus 
tausend Nuancen zusammengesetzt, die, indem sie sich kreuzten, 
sich gegenseitig auf eine für den ersten Blick unentzifferbare Weise 
verhüllten. Man konnte sich leicht über seine eigentlichen Ge- 
danken täuschen, wie im allgemeinen bei den Slawen, bei denen 
die Offenheit und Mitteilsamkeit, die Zutraulichkeit und bestechende 
Ungezwungenheit der Manieren keineswegs doch wahres Vertrauen 
und Hingebung bedingen. Ihre Empfindungen offenbaren und 
verbergen sich gleich den Windungen einer sich um sich selbst 
zusammenringelnden Schlange. Nur bei sehr aufmerksamer Be- 
trachtung erkennen wir die Verschlingung ihrer Ringe. Es wäre 
Naivität, die höflichen Komplimente der Slawen, ihre vermeint- 
liche Bescheidenheit beim Wort zu nehmen. Die äußeren Formen 
dieser Höflichkeit und Bescheidenheit gehören zu ihren Sitten, 
die sich eigentümlicherweise auf ihre alten Beziehungen zum Orient 
zurückführen. Ohne von der Schweigsamkeit des Muselmannes 
das Geringste anzunehmen, lernten die Slawen von ihm die miß- 
trauische Zurückhaltung über alles, was die zarteren und innersten 
Saiten des Gemüts berührt. Man kann ziemlich sicher sein, daß, 
sprechen sie von sich selbst, sie sich dem Fragenden gegenüber 
stets in absichtliches Schweigen hüllen, das ihnen über diesen nach 
Seiten des Verstandes wie des Gefühls ein Übergewicht einräumt. 
Sie lassen ihn über dieses oder jenes Geheimnis, diesen oder jenen 
Umstand, mag ihnen derselbe nun Bewunderung oder Gering- 
schätzung eintragen, in Unwissenheit; es gefällt ihnen, unter einem 
feinen Lächeln einen unmerklichen Spott zu verstecken. Unter 
allen Umständen an Mystifikationen, seien es die geistreichsten 



16 I. Chopins Werke im allgemeinen. 

oder die komischsten, die bittersten oder traurigsten, Geschmack 
findend, sehen sie — so möchte man behaupten — in einer der- 
artigen Überlistung den verächtlichen Ausdruck einer Überlegen- 
heit, welche sie sich im Innern zuerkennen, aber mit der Sorgfalt 
und Schlauheit der Unterdrückten verbergen. 

Da die zarte und schwächliche Organisation Chopins ihm nicht 
den energischen Ausdruck seiner Leidenschaft gestattete, gab er 
seinen Freunden nur das preis, was von Sanftmut und Wohlwollen 
in ihm war. In der schneilebenden, vielbeschäftigten Welt unserer 
großen Städte, wo keiner Muße hat, über das Rätsel des Daseins 
anderer nachzudenken, wo jeder nur nach seiner äußeren Stellung 
beurteilt wird, nehmen sich gar wenige die Mühe, auf andere einen 
Blick zu werfen, der mehr als die bloße Oberfläche des Charakters 
streift. Diejenigen aber, die ein inniger und häufiger Verkehr dem 
polnischen Tonkünstler nahe brachte, hatten des öfteren Gelegen- 
heit, seine Ungeduld und Langeweile zu bemerken, wenn man seine 
Worte allzu genau nahm. Der Künstler, ach leider! konnte den 
Menschen nicht rächen! Von zu schwacher Gesundheit, um diese 
Ungeduld durch das Ungestüm seines Spiels zu verraten, suchte 
er sich dadurch zu entschädigen, daß er anderen zuhörte, wenn sie 
mit der Kraft, die ihm selbst gebrach, diejenigen seiner Kompo- 
sitionen spielten, in denen der leidenschaftliche Groll des Mannes, 
den gewisse Wunden tiefer getroffen, als er es eingestehen möchte, 
immer von neuem auftaucht, wie bei einer im Untergang begriffenen 
Fregatte die Fetzen ihrer Flagge, die ihr die Wogen entrissen, 
noch auftauchen aus den Fluten. 

Eines Nachmittags waren wir nur zu Dreien beisammen. Cho- 
pin hatte lange gespielt. Eine der vornehmsten Frauen von Paris 
fühlte sich mehr und mehr von einer frommen Andacht überwältigt, 
wie sie uns etwa beim Anblick der Leichensteine ergreift, welche 
jene Fluren in der Türkei bedecken, deren schattige Bäume und 
Blumenbeete dem erstaunten Wanderer von fem einen lachenden 
Garten verheißen. Sie fragte ihn, von diesem Gefühl bewegt, 
warum sich sein Herz wohl mit so unwillkürlicher Verehrung vor 
Denkmälern neige, die dem Blick nur liebliche und anmutige 
Gegenstände zeigen? Mit welchem Namen er die außergewöhnliche 



Chopins körperliche Organisation. , 17 

Empfindung benenne, die er in seinen Kompositionen, gleich un» 
bekannter Asche in kostbarer Alabaster-Urne, verschließe? . . . 
Die schönen Tränen, die so schöne Augen benetzten, besiegten 
Chopin, und er, der sonst die geheimen Regungen seines Innern 
mißtrauisch in den glänzenden Schrein seiner Werke verschloß, 
erwiderte mit seltener Aufrichtigkeit, daß ihr Herz sich nicht Qber 
seine Schwermut täusche; denn ob er auch vorübergehend heiter 
erscheine, er sei doch nie von einem Gefühle frei, das gewisser- 
maßen den Grund seines Empfindens bilde, und für welches er nur 
in seiner eigenen Sprache Ausdruck finde, da keine andere ein ana- 
loges Wort besitze für das polnische »Zal!« Er wiederholte es 
in der Tat häufig, wie wenn sein Ohr gierig diesem Klange lausche, 
der für ihn die ganze von einer herben Wehklage erzeugte Skala 
der Gefühle von der Reue bis zum Haß — gesegnete oder giftige 
Früchte derselben bitteren Wurzel — umschloß. 

Zalf Seltsames Wort von seltsamer Vieldeutigkeit und noch 
seltsamerer Philosophie! Verschiedenen Sinnes, umfaßt es alle 
Rührung und demütige Ergebung eines resignierten und klaglosen 
Schmerzes, wenn es direkt auf Tatsachen und Dinge angewandt 
wird. Sich sozusagen mit Sanftmut dem Gesetz einer göttlichen 
Schickung beugend, läßt es sich in diesem Fall als „untröstlicher 
Schmerz nach einem unwiederbringlichen Verlust" übersetzen. 
Sobald es jedoch auf den Menschen angewandt und seine Beziehung 
indirekt wird, es zugleich auch die Bedeutung einer Präposition 
annimmt, die sich gegen diesen oder diese richtet, ändert sich als- 
bald sein Ausdruck, und weder in den romanischen noch in den 
germanischen Sprachen findet sich ein Synonym für dasselbe. 
Von erhabenerem, edlerem, umfassenderem Sinn als das Wort 
»grief«, bedeutet es das Gären des Hasses, der Vorwürfe, den 
Vorsatz der Rache, die Drohung, die unversöhnlich im Innern 
grollt, sei es auf Wiedervergeltung lauernd, oder sich von unfrucht- 
barer Bitterkeit nährend. In Wahrheit, dies ial färbt alle 
Arbeiten Chopins mit einem bald milden, bald glühenden Wider- 
schein. Es spricht selbst aus seinen süßesten Träumereien. 

Diese Eindrücke waren für Chopins Leben von um so größerer 
Wichtigkeit, als sie sich deutlich in seinen letzten Werken kund- 

Liszt, Gesammelte Schriften I. V.A. 2 



20 II. Polonaisen. 



schönen Untertaninnen, für die man den Thron wagte und verlor, 
— ähnlich, wie es bei einer grausamen Sforza, einer intriganten 
d'Arquien, einer koketten Gonzaga geschehen — einen unver- 
gänglichen Ruhm. 

Einer mäinlichen Entschlossenheit vereint sich bei den Polen 
vergangener Zeit jene glühende Hingabe an den Gegenstand ihrer 
Liebe, wie sie Sobieski erfüllte, der, angesichts der Standarten des 
Halbmondes, die ihn „so zahlreich wie die Ähren eines Feldes'' 
umringten, allmorgendlich die zärtlichsten Briefe an sein Weib 
schrieb. Ihr Auftreten hatte einen eigentümlich imposanten An- 
strich, ihre Haltung war vornehm bis zu einer leichten Emphase. 
Die gewisse Feierlichkeit des Gebahrens nahmen sie von den An- 
hängern des Islam an, die ihnen hierin als Vorbild dienten, und deren 
Eigenschaften sie schätzen und sich aneignen lernten, während sie 
ihre kriegerischen Einfälle bekämpften. Gleich diesen pflegten sie 
ihren Taten eine reifliche Überlegung voranzuschicken. Der Wahl- 
spruch des Fürsten Boleslav von Pommern: „Erst wäg's, dann 
wag*s!" schien einem jeden von ihnen geläufig. Gern verliehen 
sie ihren Bewegungen eine gewisse anmutige Würde, einen ge- 
wissen pomphaften Stolz, der sie doch keineswegs der Leichtigkeit 
der Formen und Freiheit des Geistes beraubte, welche den leisesten 
Sorgen ihrer Zärtlichkeit, den flüchtigsten Bekümmernissen ihres 
Herzens, den geringfügigsten Interessen ihres Lebens zugänglich 
blieb. Wie sie ihre Ehre darein setzten, ihr Leben teuer zu ver- 
kaufen, so liebten sie auch dasselbe zu verschönern; ja mehr noch, 
sie verstanden zu lieben, was dies Leben verschönte, und zu ver- 
ehren, was es wertvoll machte. 

Ihr Heldengeist wurde durch stolze Würde und überlegtes Wesen 
getragen. Vielseitiger Verstandestätigkeit festen Willen verbindend, 
sahen sie sich von jung und alt, von ihren Gegnern sogar bewundert. 
Eine Art tollkühner Klugheit, verwegner Vorsicht, fanatischer 
Prahlerei war ihnen eigen. Als berühmteste historische Mani- 
festation ihrer Tapferkeit erscheint Sobieskis Heereszug, der, Wien 
errettend, der ottomanischen Herrschaft den Todesstoß versetzte 
und somit diesem langen, mit so viel Glanz und gegenseitiger Ach- 
tung geführten Kampf zwischen zwei im Streite ebenso unver- 



Heldengeist der alten Polen. 21 

söhniichen als im Waffenstillstand großmütigen Feinden ein Ende 
machte. 

Lange Jahrhunderte hindurch bildete Polen einen Staat, dessen 
eingeborene hohe Zivilisation keiner andern glich und einzig in 
ihrer Art bleiben sollte. Gleicherweise verschieden von der feu- 
dalen Organisation des ihm im Westen benachbarten Deutschlands 
als von dem despotischen, eroberungssüchtigen Sinn der Türken, 
die ohne Unterlaß seine östlichen Grenzen bedrohten, näherte es 
sich einesteils Europa durch sein ritterliches Christentum, seinen 
Eifer in Bekämpfung der Ungläubigen, während es andernteils 
von den neuen Herren von Byzanz bezüglich ihrer schlauen Po- 
litik, ihrer kriegerischen Taktik und sentenziösen Redeweise Be- 
lehrung schöpfte. Diese verschiedenartigen Elemente führte es 
einer Gesellschaft zu, die, indem sie sich die heroischen Eigenschaften 
muselmännischen Fanatismusses und die erhabenen Tugenden 
christlicher Frömmigkeit assimilierte, den Keim zu ihrem Nieder- 
gange legtet. Die allgemein verbreitete Pflege der lateinischen 
Sprache, die Kenntnis und Vorliebe für italienische und franzö- 
sische Literatur überdeckten diese wunderlichen Kontraste mit 
einem glänzenden klassischen Firnis. Eine solche Zivilisation 
mußte notwendig auch der geringsten ihrer Kundgebungen ein 
unterscheidendes Gepräge aufdrücken. Den Romanen der irrenden 
Ritterschaft, Turnieren und Waffenspielen wenig günstig, wie es 
bei einem fortwährend in Kriege verwickelten Volke, das seine 
Heldentaten für den Feind aufsparte, natürlich erscheint, ersetzte 
sie die prunkhaften Freuden derartiger Lanzenspiele vielmehr durch 
Feste, deren hauptsächlichste Zier in prächtigen Aufzügen bestand. 

Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich in den Nationaltänzen 
eine wesentliche Seite des Volkscharakters abspiegelt. Doch meinen 

^ Es ist bekannt, mit wie vielen ruhmreichen Namen Polen den Kalender 
und die Märtyrergeschichte der Kirche bereicherte. Dem Orden der Trinl- 
tarier (Redemptoristen-Brüder), welcher die Christen aus der Sklaverei der 
Ungläubigen loszukaufen bestimmt war, erteilte Rom das ausschließliche 
Vorrecht für dieses Land, über dem weißen Gewand einen roten Gürtel zu 
tragen, in Erinnerung an die zahlreichen Märtyrer, die namentlich in den den 
Grenzen nächstgelegenen Orten, wie Kamieniec-Podolskl, aus ihm hervor- 
gegangen waren. 



22 II. Polonaisen. 



wir, daß es wenige solcher Tänze gibt, in denen, wie bei der Polo- 
naise, bei solcher Einfachheit der Umrisse, die Trieblcräfte, die 
sie ins Leben riefen, in ihrer Gesamtheit so vollständig zum Aus- 
druck kommen und sich zugleich so mannigfaltig in den einzelnen 
Episoden verraten, welche innerhalb des allgemeinen Rahmens 
der Improvisation eines jeden vorbehalten sind. Seit diese Epi- 
soden verschwanden, seit der Sinn dafür abhanden gekommen 
und man nicht mehr die Phantasie bei Gestaltung dieser kurzen 
Intermezzi walten läßt, sondern sich damit begnügt, die übliche 
Promenade durch den Salon maschinenmäßig auszuführen, blieb 
nur noch das Skelett des ehemaligen Pompes übrig. 

Der ursprüngliche Charakter dieses spezifisch polnischen Tanzes 
ist heutzutage schwer genug zu erraten, so völlig entartete er nach 
dem Zeugnis derer, die ihn noch zu Anfang vorigen Jahrhunderts 
aufführen ^ahen. Man begreift, wie abgeblaßt er ihnen erscheinen 
muß, wenn man bedenkt, daß die Mehrzahl der Nationaltänze 
ihr&*4trsprüngliche Originalität kaum zu behaupten vermag, nach- 
dem die ihnen angepaßte Tracht außer Brauch gekommen ist. 
Zumal die Polonaise, die der raschen Bewegungen, der eigent- 
lichen Pas im choreographischen Sinne, der schwierigen und gleich- 
förmigen Stellungen gänzlich entbehrt, der ein mehr ostentativer 
als verführerischer Charakter innewohnt, und die als bezeichnende 
Ausnahme vorzugsweise bestimmt war, die Männer in den Vorder- 
grund treten zu lassen, ihre Schönheit, ihr edles Ansehen, ihre zu- 
gleich kriegerische und ritterliche Haltung ins rechte Licht zu setzen. 
Selbst der Name des Tanzes (Polsky) ist in der Ursprache männ- 
lichen Geschlechts. Nur durch ein offenbares Mißverständnis hat 
man ihn ins weibliche übertragen. Notwendigerweise mußte die 
Polonaise von ihrer stolzen Selbstgefälligkeit ein gut Teil einbüßen, 
um sich in eine wenig interessante Rujidpromenade umzugestalten, 
sobald die Tänzer sich des erforderlichen Zubehörs beraubt sahen, 
vermittels dessen ihr Gebärdenspiel die an sich so einfache, heu- 
tigestages entschieden monoton gewordene Form zu beleben 
vermochte. 

Hören wir einige der Polonaisen Chopins, so glauben wir den 
gewichtigen Schritt kühner Männer zu vernehmen. Zuweilen meint 



Ursprünglicher Charakter der Polonaise. 23 

man prächtige Gruppen, wie Paul Veronese sie gemalt, vorüber- 
schreiten zu sehen. Die Einbildungskraft bekleidet sie mit der 
reichen Tracht vergangener Jahrhunderte: schwerem Goldbrokat, 
venetianischem Samt, Atlasdamast, weichen Zobelpelzen, die Ärmel 
gefällig über die Schulter zurückgeworfen; damaszierten Säbeln, 
blendenden Juwelen, arabeskenverzierten Türkisen, blutroter oder 
goldgelber Fußbekleidung — oder mit züchtigen Busenschleiem, 
flandrischen Spitzen, rauschenden Schleppen, wallenden Federn, 
edelsteingeschmücktem Kopfputz, kleinen, mit Bernstein gestickten 
Schuhen, Handschuhen, die nach den Wohlgerüchen des Serails 
duften. Diese Gruppen lösen sich los vom farblosen Hintergrund 
entschwundener Zeiten, umgeben von köstlichen persischen Tep- 
pichen, von Smymaer Perlmutter-Möbeln, von konstantinopoli- 
tanischen Goldschmied-Arbeiten, von all der prunkvollen Ver- 
schwendung jener Magnaten, die mit kostbaren Silberbechern den 
Tokaier aus künstlichen Fontänen schöpften, die beim Einzug 
in fremde Städte ihre arabischen Renner mit Silber beschlugen, 
damit, wenn sie die Hufeisen längs des Weges verloren, sie ihre 
fürstliche Freigebigkeit den erstaunten Völkern bezeugten. Ver- 
ächtlich blickten die Stolzesten unter ihnen auf die andern herab, 
und ihre Wappenschilder zierten sie mit der gleichen Krone, die, 
traf sie die Wahl, zu einer königlichen werden konnte. Sie führten 
sie nur als Zeichen ihrer glorreichen Gleichberechtigung über ihrem 
Wappen, das sie das „Familienjuwer' nannten; denn die Ehre 
jedes einzelnen Gliedes war für die Unbeflecktheit desselben ver- 
antwortlich. Auch hatte — eine in ihrer Art einzige Eigentüm- 
lichkeit der polnischen Wappen — jedes seinen Namen, der sich 
gewöhnlich auf irgend welchen anekdotischen Ursprung zurück- 
führen ließ, und den andere ähnliche, ja selbst gleiche, aber einem 
andern Geschlecht angehörige Wappen anzunehmen nicht das 
Recht hatten. 

Von der Mannigfaltigkeit der Nuancen und der ausdrucks- 
vollen Mimik, welche der mehr gespielten als getanzteh Polonaise 
einst eigen waren, könnte man sich ohne die Berichte und leben- 
digen Beispiele einiger Greise, die bis auf diesen Tag die alte Na- 
tionaltracht tragen, keine Vorstellung machen. Der ehemalige 



24 11. Polonaisen. 



Kontusz war eine Art K^ftan, der bis zu den Knien verlcürzt ist. 
Er erinnert an das Kleid der Orientalen, wie es durch die Gewohn- 
heiten eines tätigen, der fatalistischen Entsagung abgewandten 
Lebens seine veränderte Gestalt erhielt. Bei feierlichen Gelegen- 
heiten von ebenso reichem Stoff als blendender Farbe, ließen seine 
offenen Ärmel das darunter getragene Gewand, den Zupan, her- 
vorsehen. Derselbe bestand aus einfarbigem Atlas, wenn der 
Kontusz gemustert, aus geblümtem oder durchwirktem Stoff, wenn 
jener einfarbig war. Oft mit kostbarem Pelz, dem Lieblingsluxus 
jener Zeit, garniert, verdankte letzterer einen Teil seiner Ori- 
ginalität dem Umstand, daß er zu einer häufigen, der Grazie und 
Koketterie dienenden Gebärde Anlaß bot. Warf man nämlich 
die Scheinärmel hinter sich zurück, so konnte man die mehr oder 
weniger glückliche, zuweilen symbolische Zusammenstellung der 
beiden Farben besser enthüllen, aus denen die Toilette des Tages 
bestand. 

Wer niemals diese ebenso glänzende als prunkvolle Tracht ge- 
tragen, vermag sich kaum die Haltung, das gemessene Verbeugen 
und rasche Wiederaufrichten, alle die Feinheiten des stummen 
Mienenspiels zu vergegenwärtigen, wie sie den Ahnen der Polen 
geläufig waren, während sie in der Polonaise wie bei einer mili- 
tärischen Parade defilierten; wobei auch ihre Hände nie müßig 
blieben, sei es, daß sie ihre langen Schnurrbarte strichen oder mit dem 
Griff ihres Säbels spielten. Beides war ein wesentlicher Bestandteil 
ihrer Tracht, ein Gegenstand der Eitelkeit für jedes Alter, mochte 
der Bart nun blond oder weiß, der Säbel noch unberührt und ver- 
heißungsvoll, oder bereits schartig und vom Blute der Schlachten 
gerötet sein. Karfunkel, Hyazinthe und Saphire schimmerten oft 
an der vom Gürtel herabhängenden Waffe. Dieser Gürtel aus 
befranstem Kaschmir oder golddurchwirkter Seide oder Silber- 
schuppen, von Spangen mit dem Bildnis der Jungfrau, des Königs 
oder dem Nationalwappen geschlossen, hob die fast immer ein 
wenig korpulente Taille. Den Effekt der seltensten Edelsteine 
aber übertraf oft eine Narbe, die der Bart verhüllte, ohne sie ganz 
zu verbergen. Die Pracht der Stoffe, der Juwelen, der lebhaften 
Farben wurde von den Männern nicht weniger weit getrieben als. 



Nationale Tracht der alten Polen. 25 

von den Frauen. Wie in der Tracht der Ungarn^ fanden sich die 
kostbaren Steine auf den Knöpfen des Kontusz und Zupan, den 
Hals-Agraffen, den zur Gala gehörenden Ringen, den Reiherfedern 
der Baretts, die in allen Farben prangten, unter denen das Amarant, 
das dem weißen Adler Polens, und das Dunkelblau, das dem Pogon, 
dem litauischen Reiter > als Wappengrund diente, vorherrschten. 
Das Barett, in dessen Samtfalten sich diamantene Schnallen ver- 
steckten, während der Polonaise zu halten, es mit einem eigen- 
tümlich pikanten Qebärdenspiel in die Hand zu nehmen und zu 
schwenken, war eine besondere Kunst, die vorzugsweise bei dem 
Kavalier des ersten Paares, der als Vordermann der ganzen Tanz- 
reihe die Losung erteilte, zur Geltung kam. 

Mit diesem Tanz eröffnete der Herr des Hauses jeden Ball, nicht 
mit der jüngsten, noch der schönsten, sondern mit der geehrtesten, 
oft der bejahrtesten der anwesenden Frauen. Hatte man doch nicht 
allein die Jugend zur Phalanx herbeigerufen, deren Bewegungen 
das Fest einleiten sollten, und wollte man doch als erstes Vergnügen 
eine Revue der versammelten Gesellschaft in ihrem ganzen Glänze 
darbieten. Dem Hausherrn zunächst folgten die angesehensten 
Männer, welche teils die von ihnen Bevorzugten, teils die Einfluß- 
reichsten wählten. Der Wirt hatte eine minder leichte Aufgabe 
zu erfüllen als heutigestages. Es lag ihm ob, die gesamte Tänzer- 
schar in tausend, kapriziösen Verschlingungen durch sämtliche 
Räume hindurchzuleiten, in denen die übrigen später hinzukom- 
menden Gäste sich beeilten, an dem glänzenden Zuge teilzunehmen. 
Man wußte es ihm Dank, wenn er bis zu den entferntesten Galerien, 
bis zu den von erleuchteten Bosketts begrenzten Blumenbeeten 
des Gartens vordrang, wo nur ein leises Echo der Musik noch das 
Ohr erreichte. Mit verdoppelter Stimme empfingen ihn dann hei 
seiner Rückkehr in den Hauptsaal die Fanfaren. Indessen solcher» 



1 In England erinnert man sich noch der ungarischen Nationaltracht, 
die Fürst Nikolaus Esterhazy bei der Krönung Georgs IV. trug, und deren 
Wert auf einige Millionen Gulden geschätzt wurde. 

> Als die Mörder des heiligen Stanislaus, Bischofs von Krakau, verurteilt 
wurden, verbot man ihren Nachkommen, durch mehrere Generationen hindurch 
in ihrer Kleidung das Amarant, die polnische Nationalfarbe, zu tragen. 



26 IL Polonaisen. 



gestalt fortwährend die Zuschauer wechselten, die, in Reihe und 
Glied aufgestellt, seinen Zug unablässig beobachteten — denn die- 
jenigen, welche nicht zu demselben gehörten, folgten ihm unver- 
wandten Blickes, wie der Bahn eines strahlenden Kometen — ver- 
säumte der Hausherr, der Führer des ersten Paares, nicht, seiner 
Haltung und seinem Ansehen die mit Mutwillen vermischte Würde 
zu geben, die die Frauen zu bewundem, die Männer zu beneiden 
pflegen. Eitel und lustig zugleich, hätte er gegen seine Gäste etwas 
zu versäumen geglaubt, wenn er nicht mit einer gewissen spöttischen 
Naivität den Stolz zur Schau getragen hätte, mit dem es ihn er- 
füllte, so berühmte Freunde, so angesehene Genossen bei sich zu 
sehen, die alle sich beeilten, ihn zu besuchen und sich zur Ehre seines 
Hauses reich zu schmücken. 

Von ihm geführt, genoß man während dieser ersten Wanderung 
bei unvermuteten Wendungen den Anblick allerlei architektonischer 
oder dekorativer Überraschungen, deren Ornamente, Transparente, 
verschlungene Schrift- und Namenszüge den Vergnügungen des 
Tages angepaßt waren. Enthielten diese irgend eine Gelegenheits- 
anspielung, irgend eine Huldigung, die den „Tapfersten'' oder die 
„Schönste" feierte, so machte der Schlofiherr damit die Honneurs 
in liebenswürdigster Weise. Je mehr Unerwartetes diese kleinen 
Exkursionen darboten, je mehr Phantasie und glückliche Erfindung 
sie bekundeten, um so lebhafter wurde der Beifall des jugendlichen 
Teils der Gesellschaft, um so lauter klangen Jubelrufe und Gelächter 
an das Ohr des Anführers, welcher damit an Ansehen gewann und 
ein bevorzugter und gesuchter Partner wurde. Hatte er bereits 
ein gewisses Alter erreicht, so empfing er häufig bei der Rückkehr 
von derlei Entdeckungszügen Deputationen von jungen Mädchen, 
die ihm in aller Namen Dank und Beifall aussprachen. Ihre Er- 
zählungen gaben der Neugier der Gäste neue Nahrung und er- 
höhten die Lebhaftigkeit der Teilnahme an den nächstfolgenden 
Polonaisen. 

Es war in diesem Land aristokratischer Demokratie, stür- 
mischer Wahlen keineswegs gleichgültig, die Bewunderung des 
Tribünen-Publikums des Ballsaals zu gewinnen. Dort stellten sich 
die zahlreichen Untergebenen der großen Herrenhäuser auf, die 



Phantastische Mannigfaltigkeit der Polonaise. 27 

alle von Adel, oft selbst von älterem als ihre Herren, aber nur zu 
arm waren, um Kastellan oder Wojewode, Kanzler oder Hetman, 
Hof- oder Staatsmann zu werden. Diejenigen unter ihnen, die 
an ihrem eigenen Herd blieben, riefen, kehrten sie vom Felde in 
ihre htittenähnlichen Häuser zurück, voll Stolz aus: „Jeder Edle 
hinter seiner Hecke ist ebenbürtig seinem Palatin!" Szlachciö 
na zagrodzie, röwien wojewodzie. .Viele dagegen zogen es vor, 
dem Glücke nachzujagen und sich selbst oder ihre Familie, Söhne, 
Schwestern, Töchter bei den reichen Herren und ihren Frauen in 
Dienst zu geben. Nur der Mangel an festlichem Putz, ihr frei- 
williges Verzichten schlössen sie bei großen Festtagen von dem 
Vorrecht aus, sich dem Tanze zu einen. Die Herren vom Hause 
verschmähten es nicht, vor ihnen zu prunken, wenn sie die bunte, 
regenbogenfarbige Pracht des Zuges vorüberftihrten an ihren 
begierigen Blicken, aus denen neben der Bewunderung zuweilen 
auch der Neid hindurchsah, ob auch hinter schmeichlerischem 
Beifall und dem äußeren Schein der Ehrerbietung und Anhäng- 
lichkeit verborgen. 

Den schillernden Ringen einer langen Schlange gleich, ent- 
faltete die lachende Gesellschaft, die über die Parketts dahinglitt, 
bald ihre ganze Ausdehnung, bald zog sie sich zusammen, um in 
ihren Windungen das mannigfaltigste Farbenspiel schimmern zu 
lassen. Dazu rauschten in dumpfem Getön die goldenen Ketten, 
die Schleppsäbel, die schweren perlengestickten, diamantenbe- 
säeten, mit Schleifen und Bändern besetzten Damaststoffe, der 
alle Augen auf sich lenkende Flittertand. Von weitem schon kün- 
digte sich das Gemurmel der Stimmen an, dem Wogengebraus 
eines bewegten Stromes nicht unähnlich. 

Der Geist der Gastfreundschaft, der in Polen ebensosehr von 
dem durch die Zivilisation entwickelten Feingefühl als von der 
Einfachheit der angestammten, wohlanständigen Sitten hervor- 
gerufen schien, mußte er nicht auch in den Einzelheiten ihres Tanzes 
par excellence eine Stelle finden? Nachdem der Wirt seinen Gästen 
die gebührende Ehre erwiesen, indem er mit der edelsten, gefeiert- 
sten, hervorragendsten der anwesenden Frauen das Fest eröffnete, 
hatte jeder seiner Gäste das Recht, in seine Stelle bei seiner Dame 



28 IL Polonaisen. 



einzutreten und sich somit an die Spitze des Zuges zu stellen. Vor- 
erst in die Hände klatschend, um diesen einen Augenblick anzu- 
halten, verneigte er sich vor der, welche er vor sich hatte, und er- 
suchte sie, ihn anzunehmen, während der, dem er sie entführte, 
das Gleiche bei dem nächstkommenden Paare tat, ein Beispiel, 
dem alle folgten. So wechselten die Frauen ihre Tänzer so oft, 
als ein neuer von der ersten derselben die Ehre erbat, sie zu führen; 
sie blieben indes in der gleichen Reihenfolge, wogegen die Männer 
sich beständig ablösten, so daß es vorkam, daß der, welcher den 
Tanz begonnen hatte, sich gegen Ende desselben als der letzte, 
wenn nicht völlig ausgeschlossen fand. 

Der Kavalier, der sich an die Spitze der Kolonne stellte, be- 
mühte sich, seinen Vorgänger durch ungewöhnliche Kombinationen 
und Verschlingungen noch zu überbieten, die, wenn auf einen ein- 
zigen Saal beschränkt, sich durch Zeichnung graziöser Arabesken 
und sogar Namenszeichen hervortun konnten. Er bezeugte seine 
Kunst und sein Anrecht auf die erwählte Rolle, indem er die kom- 
pliziertesten, anscheinend unentwirrbarsten Touren ersann, die- 
selben aber mit so viel Genauigkeit und Sicherheit durchführte, 
daß das lebendige Band, das sich nach allen Richtungen hin ver- 
schlang und kreuzte, doch nie zerriß, daß keine Verwirrung, kein 
Anstoß dabei vorkam. Den Frauen und denen, die nur die Be- 
wegung der übrigen fortzusetzen brauchten, war es jedoch keines- 
wegs gestattet, dabei nachlässig über das Parkett zu schlendern. 
Ihr Schritt mußte vielmehr ein rhythmischer, wogender sein, er 
mußte dem ganzen Körper ein harmonisches Gleichgewicht auf- 
prägen. Nicht in Hast und Eile schritt man vor oder wechselte 
den Platz; man hütete sich, in der Bewegung einem scheinbaren 
Zwange zu folgen. Wie die Schwäne abwärts der Flut glitt man 
dahin,, als ob unsichtbare Wogen die schmiegsamen Gestalten 
trügen» 

Bald bot der Herr seiner Dame die eine, bald die andere Hand, 
bisweilen streifte er nur die Spitzen ihrer Finger, um sie dann 
wieder fest zu umfassen; jetzt war er ihr zur Linken, dann zur 
Rechten, ohne sie zu verlassen, und diese Bewegungen durchliefen, 
von jedem Paare nachgeahmt, wie ein Fieberschauer die volle Aus- 



Prunkhaftes der Polonaise. 29 

dehnung der gigantischen Schlange. Während dieser kurzen Minute 
hörte man das Gespräch verstummen, die Stiefelabsätze, den Takt 
bezeichnend, aufstoßen, die Seide knistern, die Ketten, wie sacht 
berührte Glöckchen, klingen. Darauf ward das unterbrochene Ge- 
plauder wieder laut, die leichten und schweren Schritte begannen 
von neuem, Armbänder und Ringe stießen klirrend aneinander, 
die Fächer streiften die Blumen, das heitere Gelächter setzte sich 
wieder fort, und der Widerhall der Musik verschlang alles Geflüster. 
Obwohl durch die mannigfaltigen Manöver, die er ersinnen oder 
nachahmen mußte, scheinbar gänzlich in Anspruch genommen, 
fand der Tänzer doch noch Zeit, sich zu seiner Dame zu neigen 
und, jeden günstigen Augenblick nützend, ihr; war sie jung, ein 
süßes Wort, war sie es nicht mehr, eine vertrauliche Mitteilung, 
eine Bitte oder interessante Neuigkeit ins Ohr zu flüstern. Stolz 
sich wieder aufrichtend, ließ er dann das Gold seiner Sporen, den 
Stahl seiner Waffe klirren, liebkoste seinen Schnurrbart und wußte 
seinen ganzen Gebärden einen Ausdruck zu geben, der seine Dame 
nötigte, ihm durch eine geist- und verständnisvolle Haltung zu 
entsprechen. 

So war es keine banale, sinnlose Promenade, die man ausführte, 
sondern eher ein Defil^, in dem die gesamte Gesellschaft sich pfauen- 
gleich daran ergötzte, daß sie sich zu ihrer eigenen Bewunderung 
so schön, so vornehm, so prunkreich und höflich sah. Es war eine 
beständige Inszenesetzung ihres Glanzes und ihrer Berühmtheiten. 
Bischöfe, hohe Prälaten und Geistliche^, Männer, die im Feldlager 

^ Ehemals beteiligten sich die Primaten, die Bischöfe, die Prälaten an 
der Polonaise und nahmen darin während der ersten Touren den obersten 
Rang ein. Die Schicklichkeit gestattete nicht, daß man sie ablöste und ihnen 
ihre Dame entführte; man erwartete daher, daß sie, nachdem sie die Tour 
durch den Saal beendet, dieselbe an ihren Platz zurückgeleiteten, bevor sie sich 
von ihr trennten. Die Würdenträger der Kirche blieben dann einfache Zu- 
schauer, indes sich die Promenade vor ihren Augen fortsetzte. In neuerer Zeit, 
wo die diesen Sitten ganz besonders eigene Feinheit der Lebensart unter dem 
Einfluß der lebendigeren sozialen Berührung mit andern Völkern verschwand, 
wo dem Klerus in allen Ländern eine größere Zurückgezogenheit auferlegt 
ward, enthalten sich die geistlichen Herren der Teilnahme an dem National- 
tanz, ja selbst des Erscheinens auf Bällen, die mit diesem eröffnet zu werden 
pflegten. 



30 II. Polonaisen. 



oder im Kampfspiel der Beredsamkeit ergraut waren, Krieger, die 
öfter den Küraß als das Friedenskleid getragen, Großwürdenträger 
des Staats, bejahrte Senatoren, streitbare Palatine, ehrgeizige 
Kastellane waren die begehrtesten Tänzer, um welche die Jüngsten, 
Glänzendsten, Ausgelassensten sich stritten; denn bei solch ephe- 
merem Band behaupteten Ehren und Würden vor der Jugend, 
ja selbst oft vor der Liebe den Vorrang. Aus dem, was uns jene 
Alten, die den 2upan und Kontusz niemals ablegten, und die, wie 
ihre Voreltern, das Haupthaar bis zu den Schläfen geschoren trugen, 
über die in Vergessenheit geratenen Evolutionen und verschwunde- 
nen Intermezzi dieses majestätischen Tanzes berichteten, lernten 
wir verstehen, welch lebhafter Instinkt für Repräsentation diesem 
selbstbewußten Volke angeboren war, wie sehr ihm letztere zum 
Bedürfnis wurde, und wie es, dank der ihm von Natur verliehenen 
Grazie, diese prunksüchtige Neigung durch edle Empfindungen 
und feine Intentionen poetisch verklärte. 

Während unseres Aufenthaltes im Vaterlande Chopins, dessen 
Andenken uns, wie ein unsere Teilnahme beständig anregender 
Führer, geleitete, war es uns vergönnt, einigen dieser traditionellen 
historischen Persönlichkeiten zu begegnen, die wie allerwärts von 
Tag zu Tag seltner werden, da die europäische Zivilisation, wenn 
sie nicht den Nationalcharakter von Grund aus verändert, min- 
destens die Rauheiten seiner Außenseiten verwischt und abfeilt. 
Wir hatten das Glück, einigen dieser Männer näherzutreten, denen 
ein überlegener, gebildeter, durch ein tatenreiches Leben geübter 
Verstand zu eigen war, deren Horizont aber sich nicht über die 
Grenzen ihres Landes, ihrer Gesellschaft, ihrer Literatur, ihrer 
Traditionen hinaus erstreckte. Während unserer durch einen Dol- 
metscher mit ihnen vermittelten Unterhaltung hat uns ihre Art, 
über Wesen und Formen neuerer Sitten zu urteilen, einen Einblick 
in die vergangene Zeit und das, was ihre Größe, ihren Reiz und 
ihre Schwäche bedingte, eröffnet. Interessant ist es, diese unnach- 
ahmliche Originalität eines völlig exklusiven Gesichtspunktes zu 
betrachten. Schwächt sie auch nach vielen Richtungen hin den 
Wert der Meinung ab, so verleiht sie dem Geiste doch eine eigen- 
tümliche Kraft, einen verschärften Sinn in betreff ihm teurer 



Ursprüngliche Polonaisenmusik. 31 

Interessen, eine Energie, die nichts von ihrem Ziele abzulenken 
vermag, da alles, was außerhalb desselben liegt, ihr fremd bleibt. 
Nur die, welche eine solche Originalität bewahrten, können wie 
ein treuer Spiegel das genaue Bild der Vergangenheit vergegen- 
wärtigen, indem sie ihr richtiges Licht, ihr Kolorit, ihren malerischen 
Rahmen festhalten. Sie allein spiegeln gleichzeitig mit dem Ritual 
der verschwindenden Gebräuche auch den Geist wider, der diese 
einst ins Leben rief. 

Chopin war zu spät geboren und hatte zu früh den heimischen 
Boden verlassen, um eine solche Exklusivität des Gesichtspunktes 
zu besitzen; doch hatte er zahlreiche Beispiele derselben gekannt, 
und durch die Erinnerungen seiner Kindheit nicht minder als durch 
die Geschichte und Poesie seines Vaterlandes fand er vermittels 
Induktion das Geheimnis seiner alten Zauber, so daß er sie der 
Vergessenheit entreißen und in seinen Gesängen mit ewiger Jugend 
schmücken konnte. Wie aber jeder Dichter von denen besser ver- 
standen und gewürdigt wird, welche die Stätten, die ihn begeisterten, 
durchwanderten und daselbst den Spuren seiner Visionen nach- 
gingen, wie Pindar und Ossian von denen tiefer begriffen werden, 
welche die sonnendurchleuchteten Reste des Parthenon, die nebel- 
umschleierten Landschaften Schottlands besuchten, so offenbaren 
sich die begeisterten Eingebungen Chopins nur denjenigen völlig, 
die sein Vaterland kennen und den Schatten wahrgenommen haben, 
den verflossene Jahrhunderte daselbst zurückgelassen, den Schatten 
einstigen Ruhmes, der, wie ein ruhelos Gespenst, umgeht auf seinem 
väterlichen Erbe. Wenn man es am wenigsten erwartet, erscheint 
er, um die Herzen mit Schreck und Betrübnis zu erfüllen, und 
verbreitet, sooft er in den Sagen und Erinnerungen der Vorzeit 
auftaucht, Grausen, wie die schöne Jungfrau Mara, die, totenbleich 
und von roter Schärpe umgürtet, den Landleuten der Ukraine 
erscheint und mit einem Blutfleck die Türen der Dörfer zeichnet, 
die der Zerstörung anheimfallen. 

Sicherlich hätten wir Anstand genommen, nach den schönen 
Versen, die Mickiewicz der Polonaise gewidmet, und der bewun- 
dernswürdigen Schilderung, die er im letzten Gesang des Pan 
Tadeusz von ihr entworfen, von diesem Tanze zu reden, fände sich 



32 II. Polonaisen. 



jene Episode nicht in einem Werke verschlossen, das bis jetzt 
unübersetzt geblieben und nur den Landsleuten des Dichters be- 
kannt geworden ist^. Es müßte ein Wagnis erscheinen, selbst unter 
veränderter Form einen Gegenstand zu behandeln, dem ein solcher 
Pinsel bereits in diesem epischen Roman Gestalt und Farbe lieh. 
Sind daselbst doch Schönheiten erhabenster Art in einer Landschaft 
eingerahmt, wie sie Ruysdael malte, als er zwischen Gewitter- 
wolken hindurch einen Sonnenstrahl auf eine vom Blitz zerschmet- 
terte Birke fallen ließ, deren klaffende Wunde die weiße Rinde 
mit Blut zu röten scheint. Ohne Zweifel ließ Chopin sich vielfach 
durch Pan Tadeusz inspirieren, der einer Stimmungsmalerei, wie 
Chopin sie liebte, mannigfaltige Anregung bot. Die Handlung 
spielt zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, zu einer Zeit, wo 
man noch vielen, welche die Empfindungsweise und die feierlichen 
Manieren der alten Polen bewahrten, neben andern moderneren 
Typen begegnete, die unter der Napoleonischen Herrschaft einer 
feurigen aber flüchtigen Leidenschaft huldigten; zwischen zwei 
Feldzügen flammte sie auf, um während des dritten, nach fran- 
zösischer Art, zu erlöschen, öfters noch gewahrte man während 
der in Rede stehenden Epoche den Gegensatz, den die an der Sonne 
des Südens gebräunten und nach fabelhaften Siegen etwas groß- 
sprecherisch gewordenen Krieger zu den gemessenen und stolzen 
Männern der alten Schule bildeten, die unter dem Einfluß kon- 
ventioneller Rücksichten, welche die vornehme Gesellschaft aller 
Länder beherrschen und modeln, gegenwärtig ganz verschwinden. 
In dem Maße, als jene, die das nationale Gepräge noch aufrecht 
erhielten, seltener wurden, verlor sich der Geschmack an Schilde- 
rung der ehemaligen Sitten, der einstigen Empfindungs-, Hand- 
lungs-, Sprech- und Lebensweise. Doch würde man dies mit 
Unrecht als Gleichgültigkeit deuten. Dieses Zurückdrängen oder 
Verblassen noch frischer, aber schmerzlicher Erinnerungen gemahnt 
an den Jammer der Mutter, die nichts von alledem, was einem ihr 
durch den Tod entrissenen Kinde einst angehörte, — nicht einmal 

1 Inzwischen ist 1882 (2. Auflage im Jahre 1898) eine deutsche Übersetzung 
des Pan Tadeusz von Siegfried Lipiner im Verlage von Breitkopf & Hflrtel 
in Leipzig erschienen. [Anmerkung des ObersJ 



Nationalgepräge der Polonaise. 33 

ein Kleid, oder ein Juwel — mehr zu betrachten imstande ist. 
Heutigestages begegnen die Romane von Czaykowski — diesem 
podolischen Walter Scott, den die Literaturkundigen, der Bedeu- 
tung und dem nationalen Charakter seines Talentes wie der Menge 
der von ihm behandelten Themen nach, dem fruchtbaren schotti- 
schen Schriftsteller fast an die Seite stellen — : Owruczanin, 
Wernyhora, Powiesci Kozackie, nicht mehr vielen Leserinnen und 
Lesern. Nicht mehr zu Tränen gerührt werden sie durch Land- 
schaftsschilderungen, deren tiefempfundene Poesie an leuchten« 
der Frische nichts einbüßt neben den köstlichsten Bildern der 
berühmtesten Maler, von Hobbema bis zu Dupr^, von Berghem 
bis zu Morgenstern. Wenn aber der Tag der Auferstehung 
kommt, wenn der geliebte Tote sein Leichentuch abwirft, wenn 
das Leben den Tod besiegt, dann wird man alsbald die ganze be- 
grabene, aber nicht vergessene Vergangenheit schauen und wider- 
gestrahlt sehen in Herzen und Phantasie, durch die Feder der 
Dichter und Musiker, wie sie schon der Pinsel der Maler wider- 
strahlte! . 

Die ursprüngliche Polonaisen-Musik, von der uns keine Probe 
erhalten blieb, die über ein Jahrhundert zurückreicht, hat für die 
Kunst nur geringen Wert. Die Kompositionen, die keinen Autor- 
namen tragen, deren Entstehungszeit uns jedoch die Namen der 
Helden verraten, zu deren Verherrlichung sie ein günstiges Geschick 
berufen, sind der Mehrzahl nach ernst und anmutig. Die soge- 
nannte Kosciuszko- Polonaise ist hiervon das verbreitetste Beispiel. 
Sie ist so eng verknüpft mit dem Gedächtnis ihrer Epoche, daß es 
Frauen gab, die sie nicht hören konnten, ohne, um der wachge- 
rufenen Erinnerungen willen, in Schluchzen auszubrechen. Die 
Fürstin F. L., die von Kosciuszko einst geliebt wurde, war in ihren 
letzten Tagen, als das Alter schon alle ihre Sinne geschwächt hatte, 
nur noch für den Eindruck dieser Akkorde empfänglich, die ihre 
zitternden Hände auf dem Klavier fanden, obgleich ihre Augen 
nicht mehr die Tasten zu unterscheiden vermochten. Einige 
andere jener Zeit entstammende Tanzweisen sind von so trau- 
rigem Charakter, daß man sie für eine Leichenmusik zu halten 
versucht wäre. 

Li szt, Gesammelte Schriften. I. V.A. 3 



34 II. Polonaisen. 



Die Polonaisen des Fürsten Oginski^, letzten Großschatz- 
meisters des Großherzogtums von Litauen, die zunächst folgten 
und dem düsteren Gepräge jener noch einen schmachtenden Zug 
beimischten, erlangten bald eine große Popularität. Die dunkle 
Färbung jener früheren teilend, sänftigen sie dieselbe durch einen 
naiv zärtlichen und melancholischen Reiz. Rhythmus und Modu- 
lation werden ruhiger, wie wenn ein Festzug, dessen bunte Lust man 
eben vernahm, sich stillschweigend sammelt, kommt er an Gräbern 
vorüber, in deren Nachbarschaft Hochmut und Lachen verstum- 
men. Die Liebe allein überlebt den Tod; sie irrt umher an Grabes- 
hügeln und wiederholt, was der irische Barde den Lüften seiner 
Insel ablauschte: 

Love born of sorrow, like sorrow, is truel 

[Liebe, die der Schmerz gebar, ist, dem Schmerze gleich, auch wahrl] 

In den bekannten Motiven Oginskis glaubt man ein Distichon 
verwandten Sinnes zu hören, wie es zwischen dem Odem zweier 
Liebenden schwebt, oder sich erraten läßt aus tränenerfüllten Augen. 

Später weichen die Gräber zurück; nur von weitem noch erblickt 
man sie. Leben und Lebensmut fordern wieder ihr Recht, die 
schmerzensvollen Eindrücke verwandeln sich in Erinnerungen und 
kehren nur noch als Echo wieder. Keine Schatten mehr ruft die 
Phantasie herbei; leise gleitet sie dahin, als möchte sie die Toten 
nicht wecken in ihrem Schlummer. Schon in Lipinskis Polonaisen 
fühlt man das Herz freudig, sorglos schlagen ... so, wie es vor der 
Niederlage schlug! Die Melodie entfaltet sich mehr und mehr, 
sie verbreitet einen Duft von Jugend und Lenzesglück, sie blüht 
auf in einem ausdrucksvollen, zuweilen träumerischen Gesang. 
Sie ist nicht mehr bestimmt, die Schritte hoher und ernster Per- 
sönlichkeiten zu regeln, die nur noch wenig Anteil an den Tänzen 
nehmen, für welche diese Musik geschrieben ward; sie spricht nur 
mehr zu den jungen Herzen, um ihnen poetische Vorstellungen 



^ Eine derselben in F-Dur ist besonders berühmt geworden. Sie wurde 
mit einem Titelbild veröffentlicht, das den Autor darstellt, wie er sich mit 
einem Pistolenschuß das Gehirn zerschmettert — ein romantischer Kommentar, 
den man lange Zeit mit Unrecht für eine wirkliche Tatsache. nahm. 



Oginskis, Lipinskis, Webers Polonaisen. 35 

und Träume zuzuflüstern. Sie wendet sich an eine romantische, 
lebendige, mehr auf Lust als auf Pomp bedachte Einbildungs- 
kraft. Mayseder folgte, durch kein nationales Band zurückge- 
halten, dieser Bahn; er gelangte am Ende zur mutwilligen Ko- 
ketterie, zur reizvollsten Konzertmusik. Seine Nachahmer tiber- 
fluteten uns mit Musikstücken, die sie Polonaisen nannten, deren 
Charakter jedoch ihren Namen nirgend rechtfertigt. 

Da gab ein Mann von Genie ihr mit einem Mal ihren ritter- 
lichen Glanz zurück. Weber machte die Polonaise zur Dithyrambe, 
in der sich ihre ganze verschwundene Herflichkeit wiederfand und 
zu blendender Entfaltung kam. Um die Vergangenheit in einer 
Formel widerzustrahlen, deren Sinn sich so wesentlich verändert 
hatte, vereinigte er die verschiedenen Hilfsmittel seiner Kunst. 
Nicht die alte Musik wollte er aufs neue ins Leben rufen, sondern 
das alte Polen, so wie es einst gewesen war, widerspiegeln in seiner 
Musik. Er betont den Rhythmus, behandelt die Melodie mehr 
rezitierend und verleiht ihr vermittels der Modulation eine ver- 
schwenderische Farbenpracht, welche der Gegenstand nicht allein 
zuläßt, sondern gebieterisch heischt. Mit Leben, Wärme, Leiden- 
schaft erfüllt er die Polonaise, ohne sie der stolzen Art, der zere- 
moniösen Würde, der zugleich natürlichen und gemachten Majestät 
zu berauben, die von ihrem Wesen unzertrennlich scheinen. Die 
Kadenzen sind durch Akkorde markiert, die an das Geklirr von 
Säbeln erinnern. Das Murmeln der Stimmen läßt statt lauer 
Liebesgespräche Baßtöne hören, so voll und tief, wie sie der Brust 
entströmen, die zu befehlen gewohnt ist. Ihnen antwortet das 
entfernte Wiehern der edlen Steppenrosse, die, ungeduldig tänzelnd, 
sich mit klugen und feurigen Augen umsehen und mit Grazie die 
von Türkisen oder Rubinen besetzten Schabracken tragen, mit 
denen die vornehmen polnischen Herren sie bedeckten i. Kannte 



^ Im Hausschatze der Fürsten Radzlwill im Ordinat von Nieswirz sah 
man zu ihrer Glanzzeit zwölf mit Edelsteinen besetzte Roßdecken, deren jede 
von anderer Farbe war. Auch zeigte man dort die zwölf Apostel in Lebens- 
größe, von massivem Silber ausgeführt. Dieser Luxus setzt nicht in Erstaunen, 
wenn man bedenkt, daß diese Familie, vom letzten Pontifex Litauens ab- 
stammend (dem bei seiner Bekehrung zum Christentum sämtliche Wälder und 

3* 



36 II. Polonaisen. 



Weber das Polen von ehemals? Beschwor er ein schon geschautes 
Bild herauf, um dessen Gruppierung zu entlehnen? Müßige 
Fragen! Sieht das Genie nicht mit den Augen des Hellsehenden, 
und offenbart die Poesie ihm nicht, was zu ihrem Bereiche gehört? 
Sobald Webers feurige und nervöse Einbildungskraft sich auf 
einen Gegenstand warf, gewann sie ihm seinen ganzen poetischen 
Gehalt ab. Sie bemächtigte sich seiner in so unumschränkter 
Weise, daß es schwierig war, sich nach ihm dem gleichen Thema 
mit der Hoffnung auf ähnliche Erfolge zuzuwenden: Und den- 
noch, was Wunder! übertraf ihn Chopin gleicherweise durch die 
Menge und Mannigfaltigkeit seiner Erzeugnisse dieser Gattung 
wie durch seine leidenschaftlichere Schreibart und seine harmo- 
nischen Neuerungen. Seine Polonaisen in A- und As-Dur nähern 
sich an Schwung und Form der E-Dur Webers. Bei anderen ver- 
ließ er diese breite Manier, er behandelte dieselbe Aufgabe ver- 
schieden. Fragen wir, ob immer mit größerem Glücke? Ein Urteil 
in derlei Dingen ist bedenklich. Wie wollte man das Recht des 
Dichters, seinen Stoff auf verschiedene Weise aufzufassen, ein- 
schränken? Soll es ihm verwehrt bleiben, trübe und niedergedrückt 
zu sein selbst inmitten der Lust, vom Schmerz zu singen, nachdem 
er vom Ruhme sang, das Mißgeschick der Besiegten, Trauernden 
zu beweinen, nachdem er zuvor dem Glücke Ausdruck geliehen? 



Fluren, welche dem Kultus der heidnischen Gottheiten geweiht gewesen waren, 
zum Eigentum gegeben wurden), noch gegen Ende des vergangenen Jahrhun- 
derts 800 000 Leibeigene besaß, obgleich ihre Reichtümer sich bereits ansehn- 
lich vermindert hatten. Ein nicht weniger merkwürdiges Stück des in Rede 
stehenden Schatzes existiert noch in einem Gemälde, das Johannes den Täufer 
darstellt, von einem Bandstreifen umgeben, der in lateinischen Worten die 
Inschrift trägt: „Im Namen des Herrn, Johannes, wirst du siegen!'* Es wurde 
durch Johann Sobieski nach dem unter den Mauern Wiens von ihm erfoch- 
tenen Siege im Zelte des Großveziers Kara-Mustapha gefunden und nach 
seinem Tode von seiner Witwe, Marie d'Arquien, einem Fürsten RadziwUl, 
mit einer eigenhändigen Widmung, welche zugleich seines Ursprungs erwähnt, 
geschenkt. Die mit dem königlichen Siegel versehene Handschrift befindet 
sich auf der Rückseite der Leinwand. Dieselbe war 1843 noch in Werki bei 
Wilna in den Händen des Fürsten Louis Wittgenstein, der die Tochter des 
Fürsten Dominik RadziwUl, die einzige Erbin seiner ungeheueren Güter, ge- 
heiratet hatte. 



Chopins Polonaisen in A, As-Dur und Fis-Moll. 87 

Chopins Überlegenheit bezeugt sich fürwahr nicht zum gering- 
sten Teile darin, daß er dieses Thema in allen Beleuchtungen dar- 
stellte, deren es fähig ist. In seinem ganzen schimmernden Glanz, 
wie in seinem ganzen erhabenen Pathos führte er es uns vor. Die 
von ihm selbst durchlebten Phasen trugen dazu bei, ihm diese 
Vielseitigkeit der Gesichtspunkte zu eröffnen. Man kann ihre Um- 
wandlung, ihre häufige Verdüsterung in der Reihe seiner Polonaisen 
nicht beobachten, ohne die Fruchtbarkeit seiner tondichterischen 
Begeisterung selbst da zu bewundern, wo sie nicht mehr von den 
Lichtseiten seiner Inspiration getragen und gehoben wird. Nicht 
immer ließ er den Gesamteindruck der Bilder auf sich wirken, die 
Phantasie und Erinnerung ihm darboten. Oft auch fühlte er sich, 
wenn er die Gruppen der glänzenden, sich vor seinen Augen ver- 
lierenden Menge betrachtete, von einer vereinzelten Erscheinung 
angezogen; sie fesselte ihn durch den Zauber ihres Blickes, und es 
gefiel ihm, dessen geheimnisvolle Enthüllungen zu erraten. Nur 
für sie allein erklangen dann seine Weisen. 

Zu seinen energievollsten Schöpfungen kann man die große 
Fis-MoU- Polonaise zählen. Ihr findet sich eine Mazurka eingefügt; 
eine Neuerung, die zu einer geistreichen Tanz-Kaprice führen konnte, 
hätte er die frivole Mode nicht gleichsam dadurch erschreckt, daß er 
sie in so finster bizarrer Weise in dieses phantastische Tonbild ver- 
webte. Man könnte es der Erzählung eines Traumes nach schlaf- 
loser Nacht, bei den ersten Strahlen einer trüben grauen Winter- 
Morgendämmerung vergleichen, einem Traumgedicht, wo Ein- 
drücke und Gegenstände mit seltsamer Zusammenhanglosigkeit 
und fremdartigen Übergängen einander folgen, gleich denen, die 
Byron schildert: 

Die Träume, die vom Schlaf gebomen, haben Odem 

Und Leid und Tränen und der Freude Antlitz; 

Schwer lasten sie noch auf dem wachen Geist . . . 

Und Boten gleichen sie der Ewigkeit ^. (Ein Traum.) 

1 „Dreams in their development have breath. 
And tears, and tortures, and the touch of joy; 
They have a weight upon our waking thoughts. 



And look like heralds of etemity." (A Dream.) 



38 II. Polonaisen. 



Das Hauptmotiv ist stürmisch, unheildrohend, wie die Stunde, 
die einem ausbrechenden Orkan vorangeht. Das Ohr glaubt er- 
bitterte Ausrufe zu vernehmen, eine trotzige Herausforderung 
aller Elemente. Die Wiederkehr des Grundtons beim Beginn jedes 
Taktes mahnt an immer sich wiederholende Kanonendonner, die 
aus fernem Schlachtgetümmel zu uns herüberklingen. Im Gefolge 
dieser Note entwickeln sich Takt für Takt wundersame Akkorde. 
Wir kennen in den Werken der größten Meister nichts, was der 
ergreifenden Wirkung dieser Stelle gleichkäme, die eine ländliche 
Szene, eine Mazurka idyllischen Stils, welche den Duft der Menthe 
und des Majorans auszuhauchen scheint, jäh unterbricht. Aber 
weit entfernt, die Erinnerung an die tief unglückliche Empfindung 
zu verwischen, die uns zuvor ergriff, erhöht sie vielmehr durch ihren 
bitter ironischen Kontrast die peinliche Erregung des Hörers. So 
fühlt er sich fast erleichtert, wenn das erste Motiv und mit ihm das 
imposante und traurige Schauspiel eines verhängnisvollen Kampfes 
wiederkehrt, da er sich mindestens von dem störenden Gegensatz 
eines naiven und ruhmlosen Glückes befreit sieht. Wie ein Traum 
verklingt diese Improvisation ohne andern Schluß als ein schwer- 
mütiges Erzittern, das die Seele unter der Herrschaft dunkler 
Trostlosigkeit zurückläßt. 

In der Polonaise- Phantasie, die schon der letzten Periode 
Chopins und den Werken angehört, in denen eine fieberhafte Un- 
ruhe das Übergewicht gewinnt, findet man keine Spur von kühnen, 
lichtvollen Bildern. Man vernimmt nicht mehr den heiteren Schritt 
einer sieggewohnten Reiterschar, nicht mehr Gesänge, die keine 
Ahnung einer möglichen Niederlage aufkommen lassen, nicht mehr 
Worte , welche die Kühnheit bekunden, die dem Sieger wohl ansteht. 
Elegische Traurigkeit herrscht darin vor, nur unterbrochen von 
ungestümen Bewegungen, von bangem Erzittern, wie die es emp- 
finden, die, von einem Überfall überrascht, auf allen Seiten ein- 
geschlossen, keinen Hoffnungsschein anbrechen sehen am weiten 
Horizonte, und denen die Verzweiflung zu Kopfe gestiegen ist, wie 
ein übervoller Zug zyprischen Weines, der zu einer fast an Wahn- 
sinn grenzenden Erregtheit führt. 

Es sind dies Bilder^^ die der Kunst wenig günstig sind, wie die 



Polonaise-Phantasie. 39 



Schilderung aller extremen Momente, der Agonie, wo die Muskeln 
jede Spannkraft verlieren und die Nerven, nicht mehr Werkzeuge 
des Willens, den Menschen zur passiven Beute des Schmerzes 
werden lassen. Ein beklagenswerter Anblick fürwahr, den der 
Künstler nur mit äußerster Vorsicht aufnehmen sollte in sein 
Bereich! 

III. 

Die Mazürken Chopins unterscheiden sich in betreff des Aus- 
drucks beträchtlich von seinen Polonaisen. Ihr Charakter ist ein 
wesentlich anderer. Sie bewegen sich in einem anderen Empfin- 
dungskreis, in dem zarte, matte, wechselnde Schattierungen an die 
Stelle eines reichen und kräftigen Kolorits treten. Statt vom ein- 
mütigen Geist eines ganzen Volkes erfüllt zu sein, danken sie indi- 
viduellen, mannigfaltigen Eindrücken ihr Dasein. Das weibliche 
und weichere Element tritt hier nicht in ein geheimnisvolles Halb- 
dunkel zurück, es macht sich vielmehr in erster Linie geltend. 
Es gewinnt vom ersten Augenblick an so große Bedeutung, daß 
die anderen Elemente verschwinden, um ihm Platz zu machen, 
oder ihm wenigstens nur als Begleitung dienen. 

Vorüber sind die Zeiten, wo man, um ein Weib als reizend zu 
bezeichnen, dasselbe dankbar (wdzi§czna) nannte, wo das Wort 
Reiz selbst von dem Wort Dankbarkeit (wdzi^ki) abstammte. 
Die Frau erscheint nicht mehr als die Beschützte, sondern als 
Königin; sie scheint nicht mehr nur der bessere Teil des Lebens, 
sie schafft jetzt das ganze Leben selbst. Der Mann ist aufbrausend, 
stolz, anmaßend, dem Schwindel des Lebensgenusses hingegeben. 
Immer jedoch durchzieht diesen Genuß eine Ader von Melancholie; 
denn seine Existenz hat nicht mehr in dem unerschütterlichen 
Boden der Sicherheit, der Kraft und Ruhe ihre Stütze. Er hat 
kein Vaterland mehr! . . . Fürder sind alle Geschicke nur noch die 
nach einem ungeheueren Schiffbruch umhertreibenden Trümmer. 
Die Arme des Mannes gleichen einem Floß, das auf seinem schwachen 
Holzgerüst eine wehklagende Familie trägt. Dies Floß wurde 
hinausgeschleudert ins weite, unruhige Meer, dessen Wogen es 
zu verschlingen drohen. Ein Hafen zwar ist immer vorhanden, 



40 11 1. Mazurken. 



immer offen. Aber dieser Hafen ist der Abgrund der Schande, 
der kalte Zufluchtsort der Ehrlosigkeit. Manch müdes und er- 
mattetes Menschenherz hat vielleicht gemeint, dort die ersehnte 
Ruhe zu finden. Doch vergebens! Kaum wendet sich der irrende 
Blick ihm zu, so halten ihn die Schreckensrufe von Mutter oder 
Weib, Schwester oder Tochter, Freundin oder Braut, Enkelin 
oder Ahne zurück. Lieber als dem Hafen der Schmach zu nahen, 
soll er sich zurückwerfen lassen in die hohe See, in der sichern 
Voraussicht, dort zu verderben, verschlungen zu werdefi von schwar- 
zer Nacht, ohne einen Stern am Himmel, ohne eine Klage auf der 
Erde, zwischen Fluten, finster wie der Erebus, um beseligt im Tode, 
weil er Glauben und Vaterland Treue gehalten, aus tiefster Seele 
auszurufen: Jeszcze Polska nie zginelä! [Noch ist Polen nicht 
verloren I] . . . 

Während der Mazurka entscheidet sich in Polen häufig das 
Schicksal eines ganzen Lebens. Die Herzen prüfen einander, ewige 
Gelübde werden ausgesprochen, das Vaterland wirbt hier seine 
Märtyrer und Heldinnen. In ihrer Heimat ist die Mazurka eben 
nicht nur ein Tanz, sie ist ein Volksgedicht und, wie alle Dich- 
tungen besiegter Völker, geschaffen, die lodernde Flamme patrio- 
tischer Gefühle unter dem durchsichtigen Schleier einer populären 
Melodie hindurchschimmern zu lassen. Auch erscheint es be- 
greiflich, daß die Mehrzahl derselben, musikalisch sowohl wie in 
den beigegebenen Strophen, in den zwei Haupttonarten moduliert, 
die im Herzen des modernen Polen vorherrschen: Liebeslust und 
Schwermut, wie sie die Gefahr erzeugt. Viele dieser Weisen tragen 
den Namen eines Kriegers, eines Helden. Die Kosciuszko- Polo- 
naise ist historisch minder berühmt als die Dombrowski-Mazurka, 
die zufolge der begleitenden Worte zum Volkslied ward, so wie 
die Chtopicki-Mazurka, dank ihrem Rhythmus und ihrer Ent- 
stehungszeit, 1830, dreißig Jahre lang populär war. Einer neuen 
Sintflut von Tränen, einer neuen Bevölkerung Sibiriens bedurfte 
es, um das letzte Echo ihrer Töne, den letzten Widerschein ihrer 
Erinnerung zu ersticken. 

Seit dieser letzten Katastrophe — der schwersten von allen, 
laut den Versicherungen der Zeitgenossen, ob sie auch nichtsdesto- 



Das Symbolische der Mazurka. 41 

weniger, wie jedes Herz bestätigt, jede Stimme murmelt, keine ver- 
nichtende war — verhielt sich Polen schweigsam, oder besser ge- 
sagt, stumm. Keine nationalen Polonaisen, keine volkstümlichen 
Mazurken gab es mehr. Um von ihnen zu reden, muß man über 
die gegenwärtige Epoche zurückgreifen in die damalige, wo Musik 
und Text gleicherweise den Widerspruch zwischen einem heroischen 
und anmutigen Eindruck, zwischen Liebeslust und ahnungsvoller 
Schwermut darstellen, aus dem das Bedürfnis hervorgeht, sich 
„des Elendes "ZU erfreuen'' (cieszyc bide), so daß man Betäubung 
sucht in den Grazien des Tanzes und seinen geheimen Deutungen. 
Die Verse, die man zu den Melodien der Mazurka singt, geben ihr 
überdies den Vorzug, sich inniger als andere Tanzweisen der Er- 
innerung anzuschmiegen. Frische, wohlklingende Stimmen wieder- 
holten sie oftmals in der Einsamkeit, zur Morgenstunde, in fröh- 
licher Mußezeit. Man trällerte sie auf Reisen, im Walde, auf dem 
Kahn, in Momenten plötzlicher Rührung, wie sie das Herz über- 
kommt, wenn eine Begegnung, ein Bild, ein unverhofftes Wort 
mit unvergänglichem Glänze Stunden erhellen, die noch in fernen 
Jahren, im Dunkel der Zukunft leuchtend im Gedächtnis fortleben. 

Chopin bemächtigte sich dieser Inspirationen mit einem seltenen 
Glück, um ihnen den vollen Wert seiner Arbeit und seines Stils 
zu verleihen. Sie in tausend Facetten schleifend, förderte er alles 
in diesen Diamanten verborgene Feuer ans Licht, und kein Stäub- 
chen von ihnen verloren gehen lassend, faßte er sie zu einem klin- 
genden Geschmeide. In welchem anderen Rahmen auch als in 
dem dieser Tänze, darin so viele Anspielungen, so viel schwung- 
volle Begeisterung und stumme Gebete Raum finden, hätten seine 
persönlichen Erinnerungen besser vermocht Dichtungen zu schaffen, 
Szenen und Stimmungen festzuhalten, die nun, dank seinem 
Genius, weit hinausklingen über die Grenzen ihrer Heimat und für 
alle Zeit zu den Idealgebilden zählen, welche die Kunst mit ihrem 
Strahlenglanze weiht? 

Um zu begreifen, wie sehr dieser Rahmen den Gefühlstinten 
angepaßt war, die Chopins irisfarbiger Pinsel darin wiedergab, 
muß man die Mazurka in Polen tanzen gesehen haben. Nur dort 
lernt man verstehen, welch stolzes, zartes, herausforderndes Wesen 



42 III. Mazurken. 



diesem Tanze eignet. Während Walzer und Galopp die Tänzer 
isolieren und dem Zuschauer nur ein verworrenes Bild darbieten; 
während der Contretanz als eine Art harmlosen Waffenspiels er- 
scheint, wo man sich mit derselben Gleichgültigkeit angreift und 
ausweicht, wo man eine nachlässige Anmut zur Schau trägt, der 
ein nicht minder nachlässiges Entgegenkommen entspricht; während 
die Lebhaftigkeit der Polka leicht ins Zweideutige ausartet, während 
Menuett, Fandango, Tarantella kleine Liebesdramen verschiedenen 
Charakters vergegenwärtigen, die .nur die Ausführenden inter- 
essieren, und darin dem Manne nur die Aufgabe zufällt, die Dame 
zur Geltung zu bringen, indes das Publikum gelangweilt den 
Koketterien folgt, deren Gebärdensprache sich nicht an seine 
Adresse wendet — tritt in der Mazurka die Rolle des Tänzers weder 
an Bedeutung noch an Anmut hinter der seiner Tänzerin zurück, 
und auch das Publikum geht nicht leer dabei aus. 

Die langen Pausen zwischen Beteiligung der einzelnen Paare 
am Tanze sind deren Geplauder vorbehalten; trifft sie aber die 
Reihe, so spielt sich die Szene nicht mehr zwischen ihnen allein, 
sondern zwischen ihnen und dem Publikum ab. Vor diesem letzteren 
zeigt der Mann sich stolz auf die Dame, deren Bevorzugung er zu 
erringen gewußt, vor ihm soll die Erwählte ihm zur Ehre gereichen, 
bestrebt auch sie sich zu gefallen ; denn der Beifall, den sie erwirbt, 
fällt auf ihren Tänzer zurück und wird für ihn zur schmeichelnd- 
sten Koketterie. Am Ende scheint sie den Beifall förmlich auf 
ihn zu übertragen : sie schwingt sich zu ihm hin und ruht auf seinem 
Arme, eine Bewegung, die mehr als jede andere der verschieden- 
sten Nuancen — vom leidenschaftlichen Aufschwung bis zur zer- 
streutesten Hingebung — fähig ist. 

Zum Beginn reichen sich alle Paare die Hand und formen eine 
große lebendige'^und bewegte Kette. Indem sie sich in einen Kreis 
ordnen, dessen rasche Umdrehung das Auge blendet, bilden sie 
einen Kranz, darin jede Dame eine in ihrer Art einzige Blume ist, 
während die gleichförmige Tracht der Männer, gleich schwarzer 
Blätterfolie, die verschiedenen Farben hervorhebt. Darauf setzen 
sich alle Paare, eins nach dem andern dem ersten, dem Ehren- 
paare, folgend, in Bewegung und bieten voll sprühender Lebendig- 



Eigenart der Mazurka. 43 

keit und eifersüchtiger Rivalität dem Zuschauer eine interessante 
Revue dar. Nach Verlauf einer oder zweier Stunden bildet sich 
derselbe Kreis von neuem, um den Tanz mit einer Runde von 
schwindelnder Schnelligkeit zu beschließen, während welcher, 
fühlt man sich nur irgend unter sich, der erregteste und enthu- 
siastischste der jungen Leute oftmals den Gesang der Melodie an- 
stimmt, die das Orchester spielt. Tänzer und Tänzerinnen ver- 
einigen sich ihm alsbald im Chor und wiederholen den gleichzeitig 
Liebe und Vaterlandsbegeisterung atmenden Refrain. An Tagen, 
wo sich die Lust bis zur exaltierten Heiterkeit steigert, die wie 
Rebenholzfeuer in den leicht entzündlichen Gemütern sprudelt 
und blitzt, wird die allgemeine Promenade wieder aufgenommen. 
Ihr beschleunigter Schritt läßt nicht die leiseste Ermüdung bei 
den Frauen ahnen, die bei aller Zartheit doch eine Ausdauer 
zeigen, als ob ihre Glieder die Biegsamkeit des Stahls besäßen. 

Es gibt kaum ein entzückenderes Schauspiel als das eines Balles 
in Polen, wenn nach Beginn der Mazurka und nach Beendigung 
der allgemeinen Runde und des großen Defil^s die Aufmerksamkeit 
des ganzen Saales — statt wie im übrigen Europa durch eine Menge 
nach allen Seiten sich drängender und stoßender Personen zer- 
streut zu werden — sich nur einem einzigen Paare zuwendet, das, 
von gleichmäßiger Schönheit, den weiten Raum durchfliegt. Wie 
viel verschiedene Momente auch bieten sich während der einzelnen 
Touren im Ballsaal dar! Schüchtern und zögernd zuerst vor- 
schreitend, bewegt sich die Dame anfangs in leisem Wiegen, wie 
der Vogel, wenn er seinen Flug beginnt. Lange Zeit auf einem 
Fuße gleitend, streift sie, wie die Schlittschuhläuferin das Eis, die 
Spiegelfläche des Parketts. Dann gibt sie sich, impulsiv wie ein 
Kind, einen plötzlichen Schwung, von den Flügeln eines langen 
pas de basque getragen. Ihre Augenlider heben sich, und Dianen 
gleich, mit hocherhobener Stirn, schwellendem Busen, elastischen 
Sprüngen, teilt sie die Luft, wie die Barke die Welle teilt, und 
scheint mit dem Räume zu spielen. Alsbald nimmt sie ihr kokettes 
Dahingleiten wiederum auf, spendet den Umherstehenden ein 
Lächeln, den Begünstigtsten ein Wort und reicht ihre Hand den^ 
Kavalier, der sich ihr vereint, um ihre nervösen Schritte von neuem 



44 III. Mazurken. 



zu beginnen und mit zaubergleicher Geschwindiglceit von einem 
Ende des Saales zum andern zu fliegen. Sie gleitet, sie läuft, sie 
fliegt; die Anstrengung färbt ihre Wange, leuchtet aus ihrem Blick, 
verzögert ihren Schritt, bis sie ermattet und atemlos in die Arme 
ihres Tänzers sinkt, der, sie mit starker Hand umfassend, sie einen 
Augenblick noch emporhebt, bevor er den trunkenen Wirbel mit 
ihr beendet. 

Der Mann dagegen, den eine Dame zum Tänzer annahm, be- 
mächtigt sich derselben wie einer Eroberung, auf die er stolz ist. 
Er läßt sie von seinen Rivalen erst bewundem, bevor er sie sich in 
jener kurzen wirbelnden Umarmung aneignet, durch welche hin- 
durch man noch den trotzigen Ausdruck des Siegers, die errötende 
Eitelkeit der Dame bemerkt, deren Schönheit seinen Triumph 
ausmacht. Der Tänzer akzentuiert zuvörderst in herausfordernder 
Weise seinen Schritt, verläßt seine Tänzerin einen Augenblick, als 
wolle er sie besser betrachten, und dreht sich, wie freudeberauscht 
und von Schwindel erfaßt, um sich selbst, um sich alsbald mit 
leidenschaftlicher Hast wieder mit ihr zu vereinigen. Die ver- 
schiedenartigsten und zufälligsten Figuren variieren diesen Sieges- 
lauf, der uns manche Atalante schöner zeigt, als Ovid sie träumte. 
Zuweilen treten zwei Paare gleichzeitig vor, die Herren tauschen 
ihre Dame, ein Dritter gesellt sich, unversehens in die Hände klat- 
schend, dazu und entführt eine derselben ihrem Partner, als sei er 
unwiderstehlich hingerissen von ihrer Schönheit und Anmut. Ist 
es eine der Königinnen des Festes, die also begehrt ward, so be- 
werben sich die hervorragendsten jungen Leute der Reihe nach um 
die Ehre, ihr die Hand zu reichen. 

Allen Polinnen ist die magische Kunst dieses Tanzes angeboren. 
Selbst die wenigst glücklich begabten vermögen hier neue Reize 
zu gewinnen. Schüchternheit und Bescheidenheit werden da 
ebensowohl zu Vorzügen als die Majestät derer, die sich bewußt 
sind, zu den Beneidetsten zu zählen. Erklärt sich dies vielleicht 
dadurch, daß dieser Tanz mehr als irgend einer die keuscheste 
Liebe ausspricht? Daß die Tanzenden sich nicht gleichgültig 
gegen das Publikum verhalten, sondern sich im Gegenteil an das- 
selbe wenden, macht ihn zu einem Gemisch von Zärtlichkeit und 



Das Dramatische der Mazurka. 45 

gegenseitiger Eitelkeit, dem ebensoviel Zurückhaltung als hin- 
reißende Gewalt innewohnt. . 

Kann überdies nicht jede Polin anbetenswert sein, sobald man 
sie nur anzubeten versteht? Heiße, unauslöschliche Liebe flößten 
selbst die minder schönen ein; die schönsten aber haben durch 
einen Aufschlag ihrer Augenwimpern, durch einen Seufzer ihrer 
Lippen, die sich dem Flehen neigten, nachdem sie ein hochmütiges 
Schweigen versiegelt, ganze Lebensschicksale entschieden. Welch 
fieberhafte Worte, welch unbestimmte Hoffnungen, welch süßer 
Glückesrausch, welche Täuschungen und Verzweiflung mußten 
nicht da, wo solche Frauen herrschen, während der Kadenzen 
dieser Mazurken einander folgen! Hallen sie nicht noch im Ge- 
dächtnis der Polinnen wieder, wie das Echo einer entschwundenen 
Leidenschaft, einer schwärmerischen Liebeserklärung? Und wo 
wäre die Polin, deren Wangen nach Beendigung einer Mazurka 
nicht mehr von Erregung als von Ermüdung glühten? 

Wie viele unerwartete Bündnisse wurden während dieser langen 
t&te-ä-t§te's, inmitten einer glänzenden Menge, beim Klang einer 
Musik geschlossen, die meist irgend einen kriegerischen Namen, 
irgend eine historische Erinnerung, welche sich den Worten ver- 
knüpfte und in der Melodie Gestalt gewonnen hatte, wieder auf- 
leben ließ! Wie viele Gelübde wurden da getauscht, deren letztes 
Wort, den Himmel zum Zeugen anrufend, nimmermehr vergessen 
ward von dem Herzen, das getreu auf den Himmel wartete, um 
droben ein Glück wiederzufinden, das das Verhängnis hienieden 
vertagte! Wieviel schmerzliche Lebewohls wurden da gewechselt 
zwischen einem Paar, das füreinander geschaffen schien, hätte das 
gleiche Blut in beider Adern gerollt, und müßte der liebestrunkene 
Anbeter von heute sich nicht schon morgen in einen Feind, ja in 
einen Verfolger verwandeln! Wie oftmals gaben sich Liebende dort 
das Versprechen eines baldigen Wiedersehens; aber der Herbst 
ihres Lebens folgte dem Frühling, bevor sie ihr Versprechen ein- 
lösen konnten, da sie eher an ihre Treue durch alle Stürme des 
Daseins, als an die Möglichkeit eines Glückes glaubten, dem der 
väterliche Segen gebrach! Wie viele unglückliche, heimlich ge- 
nährte Neigungen zwischen Herzen, die die unüberschreitbare 



46 III. Mazurken. 



Kluft des Reichtums und Ranges trennte, offenbarten sich nicht 
während jener flüchtigen Augenblicke, wo die Welt mehr als den 
Reichtum die Schönheit, mehr als den Rang den Reiz der Erschei- 
nung bewundert! Wie viele Schicksale, die Geburt und die Schuld 
ihrer Väter auseinanderrissen, näherten sich zu kurzem Glücke 
nur in diesen vorübergehenden Begegnungen, deren bleicher, ferner 
Widerschein das einzige Licht blieb, das ihnen eine lange Reihe 
dunkler Jahre erhellte! Denn, wie der Dichter sagt: „Trennung* 
ist eine Welt ohne Sonnenschein." 

Wie viele kurze Liebesbande wurden da am gleichen Abend ge- 
knüpft und wieder gelöst zwischen solchen, die sich nie zuvor ge- 
sehen, auch niemals wiedersehen sollten, und die doch ahnten, 
daß sie einander nicht vergessen könnten! Wieviele Gespräche, 
die während der verwickelten Figuren und Pausen der Mazurka 
harmlos begonnen, spöttisch fortgeführt, aufgeregt unterbrochen 
und mit jenem erratenden Verständnis wieder aufgenommen wur- 
den, in dem sich die Zartheit und Feinheit der Slawen auszeichnet, 
haben zu tiefen Neigungen geführt! Wieviel Vertrauen wurde 
da verschwendet vom Freimut, der keine Grenzen kennt, wenn er 
sich von der Tyrannei erzwungener Vorsicht befreit fühlt! Aber 
auch wie viele trügerisch lächelnde Worte, wie viele Versprechun- 
gen, Wünsche, ungewisse Hoffnungen wurden da gleichgültig dem 
Lufthauch preisgegeben, wie das herabfallende Taschentuch der 
Tänzerin, das der Ungeschickte aufzunehmen verfehlte! 

Chopin entfesselte die unbekannte Poesie, die in den Original- 
themen der echt nationalen Mazurken nur angedeutet lag. Ihren 
Rhythmus beibehaltend, veredelte er die Melodie, erweiterte die 
Verhältnisse und führte ein harmonisches Helldunkel ein, das eben- 
so neu war als die Gegenstände, denen er es anpaßte; denn in diesen 
Schöpfungen, die er uns gern als „Staffeleibilder" i bezeichnen hörte, 
schilderte er die tausendfältigen Erregungen, welche das Herz hie- 
nieden bewegen, wie den Tanz selbst und zumal die langen Pausen, 
während welcher der Tänzer nicht von der Seite seiner Dame weicht. 



^ »Tableaux de chevalets.« (Chevalet bedeutet zugleich den Steg der 
Musikinstrumente.) 



Chopin, Vollender der nationalen Mazurka. 47 

Koketterie, Eitelkeit, Phantasien, Elegien, Leidenschaften, erste 
Liebesregungen, Eroberungen, von denen Wohl oder Wehe eines 
andern abhängen kann, alles das drängt sich da bunt durchein- 
ander. Wie schwer aber ist es, sich einen vollständigen Begriff 
von den unendlichen Abstufungen der Gefühlsregungen in diesen 
Ländern zu bilden, wo man vom Palast bis zur Hütte die Mazurka 
mit derselben leidenschaftlichen Hingebung, demselben zugleich 
verliebten \md patriotischen Interesse tanzt; wo die der Nation 
eigenen Vorzüge und Fehler so eigentümlich verteilt sind, daß sie 
sich zwar ihrem Wesen nach fast bei allen gleichartig finden, aber 
doch in ihrer Mischung bis zur Unkennbarkeit verschieden zum 
Ausdruck kommen. Hieraus entspringt eine außerordentliche 
Mannigfaltigkeit der launisch zusammengesetzten Charaktere, die 
der Neugier einen ihr anderwärts mangelnden Sporn gibt, aus jeder 
neuen Beziehung eine pikante Forschung macht und selbst dem 
geringsten Vorfall Bedeutung verleiht. 

Hier ist nichts gleichgültig, nichts unbemerkt, nichts banal. 
Die Gegensätze vervielfältigen sich unter diesen Naturen von be- 
ständiger Beweglichkeit in ihren Eindrücken, von feinem, durch- 
dringendem Geist, von einer Reizbarkeit, die das Unglück nährt. 
Indem es unerwartete Schlaglichter in das Gemüt wirft, wie der 
Widerschein einer Feuersbrunst in das nächtige Dunkel. 

Hier kann der nichtigste Zufall diejenigen einander eng ver- 
binden, die gestern sich noch völlig fremd gewesen, wie eine Minute 
nur, ein Wort dort oft lang verbundene Seelen trennt. Hier öffnen 
sich die Herzen in raschem Vertrauen, und unheilbares Mißtrauen 
wird im geheimen genährt. Man spielt nach dem Ausspruch einer 
geistreichen Frau „häufig Komödie, um die Tragödie zu vermeiden". 
Man läßt gern das ahnen, was man nicht auszusprechen wünscht. 
Die Allgemeinheiten dienen dazu, die Frage zu verschärfen, indem 
sie sie verstecken. 

Ihre wahre Poesie, ihren eigentlichen Zauber entfaltet die Ma- 
zurka nur zwischen Polen und Polinnen. Sie allein wissen, was 
es bedeutet, eine Tänzerin ihrem Partner zu entführen, noch bevor 
er seine erste Tour durch den Saal zur Hälfte beendet, um sie als- 
bald zu einer Mazurka von zwanzig Paaren, das ist von zweistün- 



48 III. Mazurken. 



diger Dauer, aufzufordern. Sie allein wissen, was es bedeutet, 
wenn er einen Platz in der Nähe des Orchesters einnimmt, dessen 
Lärm alle Worte zu einem leisen, mehr verstandenen als ausge- 
sprochenen Geflüster herabstimmt; oder wenn sie befiehlt, ihren 
Sessel zu dem Ruhesitz der alten Damen zu rücken, die jedes Spiel 
der Physiognomie erraten. Nur Pole und Polin wissen, daß man 
in der Mazurka die Achtung des andern verlieren, oder sich seine 
Zuneigung erwerben kann. Aber der Pole weiß auch* daß nicht 
er es ist, der in diesem öffentlichen t^te-ä-t^te die Situation be- 
herrscht. Will er gefallen, so fürchtet, liebt er, so zittert er. In 
dem einen oder andern Fall, ob er nun zu blenden oder zu rühren, 
den Geist zu berücken oder das Herz zu bewegen hofft, immer 
stürzt er sich in ein Labyrinth von Reden, deren Wärme verrät, 
was sie sich auszusprechen hüten, die heimlich forschen, ohne je- 
mals zu fragen, die leidenschaftliche Eifersucht atmen, ohne sie zu 
bekunden, die, um das Richtige zu erfahren, das Falsche verteidigen, 
oder das Richtige enthüllen, um sich gegen das Falsche zu sichern, 
ohne doch dabei die blumigen Pfade eines Ballgesprächs zu ver- 
lassen. Er sagte alles, legte zuweilen die ganze Seele und ihre 
Wunden bloß, ohne daß die Tänzerin, sei sie hochmütig oder kalt, 
zuvorkommend oder gleichgültig, sich rühmen dürfte, ihm ein Ge- 
heimnis entrissen oder Stillschweigen auferlegt zu haben. 

Bei einem derartigen geistigen Versteckensspiel sind die Ge- 
danken, wie die beweglichen Sandbänke mancher Meere, selten an 
derselben Stelle wieder zu finden, wo man sie verließ. Das allein 
würde genügen, auch dem unbedeutendsten Geplauder ein eigen- 
tümliches Relief zu geben, wie wir denn mehrere Männer dieser 
Nation kannten, welche die Pariser Gesellschaft durch ihr Talent 
zu paradoxen Wortgefechten in Staunen setzten. Jeder Pole be- 
sitzt diese Gabe in höherem oder geringerem Grade, je nachdem er 
an Ausbildung derselben Interesse oder Vergnügen findet« Diese 
unnachahmliche geistige Beweglichkeit, die ihn treibt, Wahrheit 
und Dichtung beständig ihr Kostüm vertauschen und wechselnd 
sprechen zu lassen, die beim geringsten Anlaß ein Übermaß von 
Geist vergeudet — wie Gil Blas, um einen Tag zu leben, ebensoviel 
Intelligenz verbrauchte als der König von Spanien zur Regierung 



Pole und Polin in der Mazurlca. '49 

seiner Lande — , diese Beweglichkeit wirkt peinlich wie jene Spiele, 
in denen die unerhörte Geschicklichkeit der berühmten indischen 
Gaukler eine Menge spitziger und schneidiger Waffen in die Luft 
wirft, die beim mindesten Versehen zu Mordinstrumenten werden. 
Sie verbirgt und verursacht wechselweise Angst und Schrecken, 
wenn inmitten der drohenden Gefahren der Denunziation, der Ver- 
folgung, des Hasses oder persönlichen Grolles, zu denen noch der 
Nationalhaß und die politische Gegnerschaft hinzukommen, schon 
an sich verwickelte Positionen durch jegliche Unvorsichtigkeit 
und Inkonsequenz ins Verderben geraten, oder aber in einem un^- 
beachteten, vergessenen Individuum eine mächtige Hilfe finden 
können. 

' Ein dramatisches Interesse kann dann plötzlich aus den gleich- 
gültigsten Begegnungen hervorgehen und jede Beziehung in einem 
unvorhergesehenen Lichte erscheinen lassen. Selbst auf den un* 
bedeutendsten derselben schwebt daher eine nebelhafte Ungewiße 
heit, die nicht gestattet, ihre Umrisse, Linien und Tragweite Ztt 
erkennen, da sie zu verwickelt, zu unfaßbar erscheinen. Purdit; 
Schmeichelei und Sympathie zugleich bewegen die Herzen; eine 
dreifache Triebfeder, die sie mit einer Wirrnis patriotischer, eitler 
und verliebter Gefühle erfüllt. 

Was Wunder, wenn Aufregungen ohne Zahl sich in den durch 
die Mazurka herbeigeführten zufälligen Annäherungen konztx^ 
frieren, da sie, die leisesten Anwandlungen des Herzens mit dem 
Reiz der Toilette, des nächtigen Lichterglanzes, der BallatmosphSre 
umgebend, selbst die flüchtigsten, entferntesten Begegnungen zur 
Einbildungskraft reden läßt? Könnte es wohl anders sein in Gegend 
wart von Frauen, welche der Mazurka eine Bedeutung geben, die 
zu verstehen oder nur zu erraten man sich in andern Ländern ver-^ 
gebHch mühen würde? Sind sie nicht eben unvergleichlich, diese 
polnischen Frauen? Es gibt unter ihnen manche, deren absolute 
Vorzüge und Tugenden sie den besten aller Zeiten und Völker ver«i 
wandt zeigen. Doch derartige Erscheinungen sind selten, immer 
und allerwärts. Der Mehrzahl nach zeichnet sie eine abwechslungs«* 
reiche Originalität aus. Halb Alm^en, halb Pariserinnen, von 
Muttfir. auf Tocht^ wohl das in den Harems bewahrte Geheimnis 

L i s z t , Qesammelte Schriften. I. V. A. 4 



50 III. Mazurken. 



der Liebestränke vererbend, sind sie verführerisch durch ihr asia- 
tisches Schmachten, die Hurif lammen ihrer Augen, die orientalische 
Indolenz, die blitzähnliche Kundgebung unsagbarer Zärtlichkeit, 
durch schmeichelnde und doch nicht ermutigende Gebärden, durch 
in ihrer Gemessenheit entzückende Bewegungen, durch ihre sich 
gehen lassende Haltung, welche magnetisch wirken. Sie sind ver- 
führerisch durch die Geschmeidigkeit ihres Wuchses, die nichts 
vom Zwang, nicht-s von der Unnatur der Etikette weiß, durch die 
Biegsamkeit ihrer Stimme, durch die plötzlichen Impulse, die an 
die Spontaneität der Gazelle erinnern. Sie sind abergläubisch, 
genußsüchtig, kindisch, leicht zu unterhalten und zu interessieren, 
wie die schönen und unwissenden Geschöpfe, die den arabischen 
Propheten anbeten; gleichzeitig aber intelligent, unterrichtet. 
Schnell und leicht erfassen sie, was sich nicht sehen, sondern nur 
erraten läßt; klug bedienen sie sich ihres Wissens, klüger noch 
verstehen sie auf lange, ja auf immer zu schweigen. Seltsam geübt 
sind sie in Erkenntnis der Charaktere, die ein einziger Zug ihnen 
enthüllt, ein Wort ihnen erhellt, eine Stunde ihnen überliefert. 

Großmütig, unerschrocken, enthusiastisch, von exaltierter 
Frömmigkeit, Gefahr und Liebe liebend, von welcher letzteren 
sie viel fordern, ohne viel zu geben, schwärmen sie hauptsächlich 
für Glanz und Ruhm. Heldenmut erregt ihr Wohlgefallen, und 
eine große Tat fürchtet wohl keine zu teuer zu bezahlen. Gleich- 
wohl — wir bekennen es mit schuldiger Ehrerbietung — üben viele 
von ihnen ihre schönsten Opfer, ihre heiligsten Tugenden im ver- 
borgenen. Und wie musterhaft auch ihr häusliches Leben sei, 
nimmer, so lang ihre Jugend währt (und sie ist von ebenso langer 
Dauer als früher Reife), vermögen weder die Leiden des inneren 
Lebens, noch die geheimen Schmerzen, welche ihr feuriges, nur zu 
leicht verwundbares Gemüt zerreißen, die wunderbare Elastizität 
ihrer patriotischen Hoffnungen, die jugendliche Reinheit ihrer oft 
getäuschten Begeisterung, die Lebhaftigkeit ihrer Empfindungen, 
die sie mit der Unfehlbarkeit des elektrischen Funkens mitzuteilen 
verstehen, zu vermindern. 

Ihrer Natur, wie ihrer Lage zufolge verschwiegen, handhaben 
sie mit unglaublicher Gewandtheit die Waffe der Verstellung. Sie 



Charakter der Polin. 61 



sondieren die Seelen anderer und hüten ihre eigenen Geheimnisse 
so gut, daß niemand überhaupt Geheimnisse bei ihnen mutmaßt. 
Gerade die edelsten derselben verschweigen sie oft mit einem Stolz, 
der es verschmäht, sich zu offenbaren. Die innere Geringschätzung, 
die sie für diejenigen empfinden, welche sie nicht erraten, sichert 
ihnen Überlegenheit über alle, die sie zu berücken und zu beherr- 
schen verstehen, bis sie sich eines Tages für einen Einzigen ent- 
flammen, mit dem sie dann treu, zärtüch, ergeben Verbannung, 
Gefängnis und Tod teilen. 

Die Huldigungen, die man den Polinnen darbrachte, waren 
stets um so eifriger, je weniger sie selbst darnach trachteten. Sie 
nehmen sie hin als pis-aller, als bloßes Vorspiel, als bedeutungs- 
losen Zeitvertreib. Was sie wollen, ist Anhänglichkeit, was sie 
hoffen, Hingebung, was sie verlangen, ist Vaterlandsliebe. Sie alle 
erfüllt ein poetisches Ideal, das sich infallen ihren Gesprächen 
widerspiegelt. Das fade, wohlfeile Vergnügen, zu gefallen, ver- 
schmähen sie. Sie begehren das edlere Glück, die, welche sie lieben, 
bewundern zu dürfen, durch sie einen Traum von Heldenmut und 
Ruhm verwirklicht zu sehen, der aus jedem ihrer Brüder, Geliebten, 
Freunde, Söhne einen neuen Vaterlandshelden macht, dessen Name 
vWderhallt in allen Herzen, die bei den ersten Klängen der sein 
Gedächtnis zurückrufenden Mazurka erbeben. Diese romantische 
Nahrung ihrer Wünsche behauptet in der Existenz der Mehrzahl 
von ihnen eine Bedeutung, die sie sicher weder bei den Frauen des 
Morgen-, noch bei denen des Abendlandes hat. 

Ein polnisches Sprichwort charakterisiert die Verschmelzung 
des Welt- und des Glaubenslebens mit drei Worten besser, als alle 
Beschreibungen vermöchten, wenn es, um ein weibliches Tugend- 
muster zu schildern, sagt: „Sie tanzt ebenso vortrefflich als sie 
betet." Man kann einem jungen Mädchen, einer jungen Frau 
kein höheres Lob spenden, als wenn man die kurze Phrase auf sie 
anwendet: I do tanca, i do rozanca! [Sie taugt zum Tanzen wie 
zum Rosenkranz.] Dem echten Polen gilt die fromme, aber un- 
wissende und anmutlose Frau, deren Reden nicht Funken sprühen, 
deren Bewegungen nicht wie von einem süßen Duft durchhaucht 
sind, nicht als magnetisch anziehendes Wesen, mag sie nun in 

4* 



52 III. Mazurken. 



vergoldeten Gemächern, unterm Strohdach, oder hinterm Kloster« 
gitter weilen. 

Zu Chopins Zeit liebte der Mann, um zu Heben; er war bereit, 
für eine Schöne, die er zweimal gesehen hatte, sein Leben zu wagen, 
eingedenk dessen, daß die nie gepflückten, nie entblätterten Blumen 
am lieblichsten duften. Damals liebte der IVlann, wo er sich zum 
Güten angespornt und durch Frömmigkeit gesegnet fand; seinen 
höchsten Stolz setzte er darein, Opfer zu bringen; zu großen Hoff- 
nungen fühlte er sich begeistert durch das JVlitgefühl der Frauen. 
Denn jegliche Zärtlichkeit der Polin durchzittert das Mitgefühl. 
Dem hat sie nichts zu sagen, den sie nicht zu bemitleiden vermag. 
Daher kommt es, daß Empfindungen, die sich anderwärts nur 
als Eitelkeit und Sinnlichkeit herausstellen, sich bei ihr in an- 
derem Lichte zeigen: im Lichte einer Tugend, die, zu sicher ihrer 
selbst, um sich hinter Vie künstlichen Barrikaden ihrer Prüderie 
zu verstecken, es verschmäht, eine rauhe Außenseite zu zeigen, und 
für den Enthusiasmus, den sie einflößt, empfänglich bleibt, wie für 
alle Gefühle, welche sie vor Gott und den Menschen kundgeben kann. 

Fürwahr, ein unwiderstehlich anziehendes, verehrungswür- 
diges Wesen! Balzac verherrlichte es in der antithesenreichen 
Schilderung: „Tochter einer fremden Welt, Engel an Liebe, Dämon 
an Phantasie, Kind an Glauben, Greis an Erfahrung, Mann an 
Verstand, Weib an Gemüt, Riesin an Hoffnung, Mutter an Schmerz, 
Dichterin in ihren Träumen I"i 

Berlioz, dies Shakespearesche Genie, das alle Extreme erfaßte, 
mußte natürlich aus Chopins Spiel und Musik alle die darin ver- 
schlossenen poetischen Zauber herausfühlen. Er nannte sie die 
„göttüchen Katzenschmeicheleien''' dieser halbasiatischen Frauen, 
welche die des Okzidentes nicht ahnen. Sie sind ja zu glücklich, 
um das schmerzliche Geheimnis derselben zu erraten. „Göttliche 
Katzenschmeicheleien'' in Wahrheit, großmütig und geizig zu 
gleicher Zeit, geben sie das liebende Herz dem unsicheren Schwan- 
ken eines rüder- und steuerlosen Nachens preis. Mit ihnen werden 



1 Widmung von »Modeste Mignon«. 
* »DWines cbatteries«. 



Grazie der Polin. 63 



die Männer von ihren Müttern getiätsclielt, von iliren Scliwestern 
gelieblcost, von ihren Freundinnen, Bräuten und Göttinnen be* 
striclct. Durch diese ,,göttiichen Katzenschmeicheleien'' gewinnen 
die Heiligen sie zum Martyrium für ihr Vaterland. Man begreift 
wohl, daß im Vergleich zu ihnen die Koketterie anderer Frauen plump 
oder geschmacklos erscheint, und daß die Polen mit gerechtem 
Stolz ausrufen: Nien\a iak polki [Nichts gleicht der Polin 1]^ 

Das Geheimnis dieser „göttlichen Katzenschmeicheleien'' macht 
diese Frauen unantastbar, teurer als das Leben. Aus ihnen schuf 
die dichterische Phantasie Chateaubriands während der schlaf- 
losen Nächte seiner Jugend die Gestalt eines Dämons und einer 
Zauberin, als er in einer sechzehnjährigen Polin eine plötzliche 
Ähnlichkeit mit seiner unmöglichen Vision „einer unschuldigen 
und gefallenen Eva, die nichts und alles weiß, Jungfrau und Ge- 
liebte zugleich ist", entdeckte*. „Ein Gemisch von Odaliske und 
Walküre, verschieden an Alter und Schönheit, eine wiederbelebte 
Sylphide . . . eine neue, vom Joch der Jahreszeiten befreite Flora»." 

— Der Dichter bekennt, daß er, verfolgt von seinen Träumen, 
berauscht von der Erinnerung an diese Erscheinung, sie nicht 
wiederzusehen wagte. Er fühlte unbestimmt aber zweifellos, daß 
er in ihrer Gegenwart aufhöre, ein trauriger R6n6 zu sein, um nach 
ihrem Willen von ihr gemodelt und emporgehoben zu werden. 
Er war töricht genug, sich vor dieser schwindelnden Höhe zu fürch- 
ten; denn die Chateaubriands machen zwar Schule in der Literatur, 
aber eine Nation machen sie nicht. Der Pole scheut keineswegs 
die Zauberin, seine Schwester, die „neue, vom Joch der Jahres- 
zeiten befreite Flora". Er liebt und achtet sie, er stirbt für sie 

— und diese einem unvergänglichen Duft vergleichbare Liebe 
verhütet, daß der Schlaf der Nation zu einem ewigen werde. Um 
dieser Liebe willen erhält er sein Leben und bereitet somit die glor- 
reiche Wiederauferstehung des Vaterlandes vor. 



i Die ehemalige Gewohnheit, die Gesundheit der Frau, die man feierte, 
aus ihrem eigenen Schuh zu trinken, ist eine der originellsten Überlieferungen 
der enthusiastischen Galanterie der Polen. 

> M6moires d'outre-tombe. H'vol. — Incantation. 

* Idem. III« vol. — Atala. 



54 III. Mazurken. 



Die Polin von ehedem war, als die edle Gefährtin des sieg- 
haften Helden, eine andere, als die Polin von heute, der Trostengel 
des besiegten Heiden, es ist. Der gegenwärtige Pole ist nicht ver- 
schiedener vom ehemaligen Polen als die moderne Polin von der 
der Vergangenheit. Die angesehene Patrizierin von einst glich 
der christlich gewordenen römischen Matrone. Jede Polin, mochte 
sie' reich oder arm sein, am Hof oder in der Stadt leben, in Palästen 
oder auf dem Felde herrschen, war vornehme Frau. Sie war es 
mehr noch durch die Stellung, die ihr die Gesellschaft zuerkannte, 
als durch den Adel ihres Blutes und ihres Wappenschildes. Zwar 
hielten die Gesetze das ganze schwache Geschlecht (das infoige 
harter Lebenserfahrungen so häufig das starke wird) unter strenger 
Vormundschaft; selbst die „hohen und mächtigen Schloßherrinnen" 
mitinbegriffen, die man bialogiowe [Weißkopf] nannte; denn die 
verheirateten Frauen trugen das Haupt bedeckt und die Wangen 
von weißen, duftigen Spitzen eingerahmt — eine zivilisierte, keusche 
und christliche Nachahmung des barbarischen muselmännischen 
Schleiers. Aber ihre gesetzliche Gebundenheit und Ohnmacht, 
der Sitten und Empfindungen ein Gegengewicht gaben, hob sie, 
anstatt sie herabzusetzen, vielmehr empor, indem sie die Ruhe 
ihrer Seele bewahrte, die sie vom herben Kampf der Interessen 
unberührt ließ. 

Sie konnten nicht selbständig über ihr Vermögen, ihren Willen 
verfügen; aber sie liefen auch keine Gefahr, sich in dieser Beziehung 
fortreißen und täuschen zu lassen. Das war für sie ein Vorteil 
von unschätzbarem Wert, dessen Ausflüchte und Hilfsmittel sie 
sehr wohl kannten. Hatten sie nicht die Macht, Übeles zu tun, 
so entschädigten sie sich für diesen durch die Verhältnisse ge- 
botenen Zustand beständiger Überwachung durch die fast unbe- 
grenzte Macht, welche sie im Privatleben behaupteten. Hier ent- 
falteten sie all ihre trefflichen Eigenschaften. Die ganze Würde 
des Familien-, die ganze Annehmlichkeit des häuslichen Lebens 
war ihnen anvertraut. Hier herrschten sie unumschränkt und ver- 
breiteten aus diesem engen Kreise heraus ihren frommen und 
friedlichen Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten. Von 
frühester Jugend an waren sie ja die Gefährtinnen ihres Vaters, 



Die unselbständige und doch herrschende Polin. 55 

der sie in seine Bestrebungen und Sorgen, in die Schwierigkeiten 
und Glorie der res publica einweihte; sie waren die ersten Ver- 
trauten ihrer Brüder, oft lebenslang deren beste Freundinnen. 
Sie wurden für ihren Gatten, für ihre Söhne verschwiegene, treue, 
scharfsinnige, entschlossene Berater. Die Geschichte Polens und 
seiner alten Sitten stellt uns den Typus dieser mutigen und klugen 
Frauen dar, von denen uns England im Jahre 1683 ein glänzendes 
Beispiel lieferte, als Lord Russe! in einem Prozeß, wo sein Kopf 
auf dem Spiele stand, keinen andern Anwalt als seine Gattin be- 
gehrte. 

Ohne diesen antiken Typus, der ernst und sanft, doch nie trocken 
und eckig, innig fromm, doch niemals bigott und langweilig, frei- 
denkend und großsinnig, aber nie krankhaft eitel ist, wäre die echte 
moderne Polin nicht das geworden, was sie ist. Sie fügte dem 
feierlich gemessenen Ideal des Großvaters noch die französische 
Anmut und Lebhaftigkeit hinzu, die sie bereitwillig angenommen 
hatte, als das unwiderstehlich Anziehende der Versaiiler Sitten, 
nachdem es in Deutschland Eingang gefunden, auch an die Weich« 
sei kam. Wahrlich, eine verhängnisvolle Errungenschaft; denn 
man kann sagen: Voltaires Lehren untergruben Polen und wurden 
die Urheber seines Untergangs. Als sie ihre männlichen Tugenden 
verloren, die, wie Montesquieu sagt, die Stütze der freien Staaten 
sind, und die tatsächlich acht Jahrhunderte lang die Stütze Polens 
gewesen waren, verloren die Polen ihr Vaterland. 

Die Polinnen dagegen, fester im Glauben, minder des Geldes 
bedürftig, dessen Wert sie nicht kannten, da sie nicht damit um- 
zugehen gewohnt waren, durch einen angeborenen instinktiven 
Abscheu vor allem Unreinen weniger der Unsittlichkeit zugäng- 
lich, widerstanden besser der tödlichen Ansteckung des achtzehnten 
Jahrhunderts. 

Polens Dichter haben nicht andern die Ehre überlassen, das 
Ideal ihrer Landsmänninnen in leuchtenden Farben hinzustellen. 
Alle haben es besungen und gefeiert; alle kannten die Geheimnisse 
ihrer Herzen und bebten in stiller Seligkeit vor ihren Freuden, 
sammelten pietätvoll ihre Tränen. Begegnet man in der Geschichte 
und Literatur der „vergangenen Tage" (Zygmuntowskie czasy) 



56 MI. Mazuiicem 



■■■■ 



auf Schritt und Tritt der antiken Matrone dieses kriegerischen 
Adels, wie dem Abdruck einer schönen Kamee im Goldsand eines 
Flusses, iiber den die Fluten der Zeit dahinrauschen, so malt die 
moderne Dichtung die gegenwärtige Polin rührender. In erster 
Reihe treten die epische, königliche Figur Grazynas, das edle 
Profil der einsamen heimlichen Braut Wallenrods, die Rose der 
Dziady, die Sophie des Pan Tadeusz hervor. Von welch reizenden 
und rührenden Köpfen sehen wir sie umgeben! Wir begegnen 
ihnen auf jedem Schritt inmitten rosenumsäumter Pfade, wie sie 
die polnischen Schriftsteller schildern, ia deren Sprache das Wort 
wieszcz Dichter und Seher zugleich bedeutet. 

Man muß, wir sagten es schon, die Landsleute Chopins wohl 
näher kennen, um die Empfindungen zu verstehen, von denen seine 
Mazurken und viele andere seiner Kompositionen durchtränkt 
sind. Sie alle fast sind erfüllt von dem gleichen poetischen Liebes- 
duft, der über seinen »Pr^ludes«, seinen »Nocturnes«, seinen »Im- 
promptus« schwebt. In denselben spiegein sich alle Phasen der 
Leidenschaft reiner und vergeistigter Seelen wider: das reizende 
Spiel unbewußter Koketterie, heimliche, kaum bemerkbare Liebes- 
regungen, launische Phantasiegebilde, kurze, kaum geboren, schon 
ersterbende Wonnen, schwarze Trauerrosen, oder Winterrosen, 
weiß wie der sie umgebende Schnee, deren Duft selbst traurig 
stimmt, da der leiseste Lufthauch sie entblättert; Funken ohne 
Widerschein, durch weltliche Eitelkeit entzündet, gleich dem 
Glanz faulen Holzes, das nur in der Dunkelheit leuchtet; Freuden 
ohne Vergangenheit und Zukunft, nur einer Zufallsbegegnung, 
wie der glücklichen Vereinigung zwei entfernter Gestirne, ent- 
sprungen; Täuschungen, abenteuerliche Neigungen, seltsam wie 
der Geschmack halbreifer Früchte, die uns behagen, während sie 
die Zähne stumpf machen — Gefühlsregungen, deren Stufenleiter 
unendlich ist, und die durch die angeborene Erhabenheit, Schönheit 
und Vornehmheit derer, die sie empfinden, sich zu wahrer Poesie 
entfalten, wenn einer der in raschen Arpeggien nur hingehauchten 
Akkorde plötzlich sich zu einem feierlichen Thema gestaltet, dessen 
feurige und kühne Modulationen von einer ewig währenden Leiden- 
schaft zu reden scheinen. 



Charakter der Mazurka Chopins, 57 

In den zahlreichen Mazurken Chopins herrscht eine außer- 
ordentliche Mannigfaltigkeit der Motive und Eindrücke. In ein* 
zelnen glauben wir das Rasseln der Sporen zu vernehmen; in der 
Mehrzahl aber unterscheiden wir das leise Rauschen von Tüll und 
Gaze unter dem leichten Wehen des Tanzes, das Geräusch der 
Fächer, das Geklirr von Gold und Steinen. Einige scheinen das 
mit Bangigkeit gemischte Vergnügen eines Balles am Vorabend 
eines Angriffs zu malen. Aus dem Rhythmus des Tanzes hört man 
die Trennungsseufzer heraus, die sich hinter der Lust verbergen. 
Andere scheinen die Angst und geheimen Sorgen zu offenbaren, 
die selbst das heitere Festgeräusch nicht zu betäuben vermag. 
Zuweilen tönen unterdrückte Schrecken wieder, Befürchtungen 
und Ahnungen kämpfender und überdauernder Liebe, die, von 
Eifersucht verzehrt, sich besiegt sieht, doch nur bemitleidet, wo 
sie zu fluchen verschmäht. Dann ist es ein Wirbel, ein Delirium, 
das eine atemlose Melodie durchzieht, unterbrochen, wie der Schlag 
eines übervollen und vor Liebe brechenden Herzens. Weiterhin 
klingen ferne Fanfaren, wie Erinnerungen einer ruhmreichen Ver- 
gangenheit wider. Anderwärts ist der Rhythmus so unbestimmt, 
so schwebend, wie das Gefühl, mit welchem zwei Liebende einen 
Stern betrachten, der einsam aufging droben am Firmament. 

IV. 

Wir sprachen zunächst vom Tondichter und seinen Werken. 
Unsterbliche Gefühle klingen in ihnen wider. Bald siegend, bald 
besiegt rang hier sein Genius im Kampf mit dem Schmerze — 
diesem furchtbaren Element der Wirklichkeit, dessen Versöhnung 
mit dem Himmel eine Mission der Kunst ist. Alle Erinnerungen 
seiner Jugend, alle Entzückungen seines Herzens, alle Aufwallungen 
seiner stillen Leidenschaftlichkeit erscheinen hier gesammelt wie 
Tränen in einem Tränenkrug, und die Schranken unsrer, im Ver- 
gleich zu den seinen matteren Empfindungen und Wahrnehmun- 
gen überschreitend, drang er ins Bereich der Dryaden, Oreaden, 
Nymphen und Okeaniden ein. Noch bliebe uns nun übrig, Chopin 
als ausübenden Künstler zu betrachten, besäßen wir den traurigen 



58 rv. Chopins Virtuosität. 

Mut dazu, vermöcliten wir es, Empfindungen, die mit unseren 
innersten Erinnerungen verwoben sind, aus der Tiefe unsres Herzens 
hervorzurufen, um sie mit den geziemenden Farben zu schmücken. 

Wir fühlen nicht die müßige Neigung hierzu, dehn welches 
könnte der Erfolg unserer Bemühungen sein? Gelänge es wohl, 
denen, die ihn nicht gehört, den Zauber einer unaussprechüchen 
Poesie begreiflich zu machen? Einen Zauber, fein und durch- 
dringend wie der exotische Duft der Verbena und Calla aethiopica, 
der sich nur in menschenleeren Räumen verbreitet, als schrecke 
er zusammen vor der lauten Menge, inmitten deren die verdichtete 
Luft nur noch den lebhaften Geruch vollblühender Tuberosen 
oder brennender Harze bewahrt. 

Chopin hatte in seiner Einbildungskraft und in seinem Talent 
etwas, was, durch die Reinheit seiner Ausdrucksweise, durch seinen 
vertrauten Umgang mit der »f^e aux miettes« und dem »lutin 
d'Argail«, durch seine Begegnungen mit „Seraphine'' und „Diana'', 
die ihm ihre vertraulichsten Klagen, ihre unausgesprochensten 
Träume ins Ohr raunten, an den Stil Nodiers erinnerte, dessen Werke 
man oftmals auf seinem Schreibtisch liegen sah. In der Mehr- 
zahl seiner Walzer, Balladen, Scherzos ruht die Erinnerung 
an irgend welches flüchtige Gedicht festgebannt, zu der ihn eine 
dieser flüchtigen Erscheinungen begeisterte. Er idealisiert sie 
bisweilen derart, leiht ihnen eine so zarte, zerbrechliche Gestalt, 
daß sie nicht mehr unsrer Natur anzugehören, sondern sich viel- 
mehr der Feenwelt anzunähern scheinen und uns die Geheimnisse 
der Undinen, der Titanias, der Ariels, der Königinnen Mab, der 
mächtigen und launischen Oberone, aller Genien der Luft, des 
Wassers und des Feuers enthüllen, die kaum minder als die Sterb- 
lichen bitteren Täuschungen und unerträglichen Sorgen unter- 
worfen sind. 

Fühlte sich Chopin von derartigen Eingebungen erfaßt, so nahm 
sein Spiel einen eigentümlichen Charakter an, welchem Genre im 
übrigen auch das von ihm ausgeführte Musikstück angehören 
mochte, ob der Tanzmusik oder der träumerischen, ob den Ma- 
zurken oder Nocturnes, Präludien oder Scherzos, Walzern oder 
Tarantellen, Etüden oder Balladen. Allem gab er eine eigenartige 



Chopins dichterisches Kiavierspiel. 69 

Farbe, ein nicht zu beschreibendes Gepräge, einen mehr vibrieren- 
den Pulsschlag, der das Materielle nahezu abgestreift hatte und 
mehr auf das Innerste des Hörers denn auf seine Sinne zu wirken 
schien. Bald^ glaubt man das Getrippel einer neckisch verliebten 
Peri zu vernehmen, bald hört man samtartige, in ihrem Farben- 
schiilern an das Kleid des Salamanders erinnernde Modulationen; 
bald wiederum Töne tiefer Entmutigung, wie wenn die armen Seelen 
umsonst auf barmherzige Gebete hoffen, deren sie zu ihrer end- 
lichen Erlösung bedürfen. Zu andern Malen hauchten seine 
Finger eine so düstere Trostlosigkeit aus, daß man meinte, Byrons 
Jacopo Foscari wieder aufleben und die Verzweiflung dessen vor 
sich zu sehen, der, aus Liebe zum Vaterland sterbend, den Tod 
der Verbannung vorzog, da er es nicht zu ertragen vermochte, 
Venezia la bella zu verlassen. 

Bisweilen überließ sich Chopin auch burlesken Phantasien. 
Er beschwor gern eine Szene ä la Jaques Caliot herauf, voll phan- 
tastisch umherspringender, lachender und gesichterschneidender 
Figuren und musikalischer Spaße, die von Geist und englischem 
humour sprühten wie ein Feuer von grünem Reisig. In der fünften 
Etüde wurde uns eine dieser pikanten Improvisationen aufbewahrt, 
wo ausschließlich die schwarzen Tasten des Klaviers berührt 
werden, wie die Heiterkeit Chopins nur die obersten Tasten des 
Geistes berührte. Stets dem feinsten Geschmack huldigend, schrak 
er zurück vor gemeiner Lustigkeit, grobem Gelächter, gleichwie 
gewisse sensitive Naturen vor dem Anblick garstiger Tiere scheu 
und widerwillig zurückweichen. 

In seinem Spiel gab der große Künstler in entzückender Weise 
jenes bewegte, schüchterne oder atemlose Erbeben wieder, welches 
das Herz überkommt, wenn man sich in der Nähe übernatür- 
licher Wesen glaubt, die man nicht zu erraten, nicht zu erfassen, 
nicht festzuhalten weiß. Wie ein auf mächtiger Welle getragenes 
Boot ließ er die Melodie auf- und abwogen, oder er gab ihr eine 
unbestimmte Bewegung, als ob eine luftige Erscheinung unver- 
sehens einträte in diese greifbare und fühlbare Welt. Er zuerst 
führte in seinen Kompositionen jene Weise ein, die seiner Virtuo- 
sität ein so besonderes Gepräge gab, und die er Tempo rubato 



60 IV. Chopins Virtuosität. 

benannte: ein geraubtes, regellos unterbrochenes Zeitmaß, geschmei- 
(iig> abgerissen und schmachtend zugleich, flackernd wie die Flamme 
unter dem sie bewegenden Hauch, schwankend wie die Ähre des 
Feldes unter dem weichen Druck der Luft, wie der Wipfel des 
Baumes, den die willkürliche Bewegung des Windes bald dahin, 
bald dorthin neigt. * 

Da indes diese Bezeichnung dem, der sie kannte, nichts lehrte 
und dem, der sie nicht kannte, ihren Sinn nicht verstand und her- 
ausfühlte, nichts sagte, unterließ Chopin später, sie seiner Musik 
beizufügen, überzeugt, daß, wer überhaupt Verständnis dafür habe, 
nicht umhin könne, das Gesetz dieser Regellosigkeit zu erraten. 
Alle seine Kompositionen aber müssen in dieser schwebenden, 
eigentümlich betonten und prosodischen Weise, mit jener mor- 
bidezza wiedergegeben werden, deren Geheimnis man schwer bei- 
kommt, wenn man ihn nicht oftmals selber zu hören Gelegenheit 
hatte. Er schien bedacht, diese Vortragsart auf seine zahlreichen 
Schüler und namentlich auf seine Landsleute zu übertragen, denen 
er vor andern den Hauch seiner Begeisterung mitzuteilen wünschte. 
Diese und zumal seine Landsmänninnen erfaßten sie mit der Ge« 
wandtheit, die ihnen für alle Gegenstände poetischer Empfindung 
eigen ist. Ein ihnen angebomes Verständnis für seine Gedanken 
befähigte sie, allen Schwankungen im Wogenspiel seiner Stim« 
mungen zu folgen. 

Chopin wußte nur zu wohl, daß er nicht auf die Menge wirkte, 
daß sein Spiel die Massen nicht traf, die, gleich einem Meer von 
Blei, nur im Feuer zu schmelzen und nicht minder schwer zu be^ 
wegen sind. Sie verlangen den mächtigen Arm einer athletischen 
Kraft, um in eine Form gegossen zu werden, in der das flüssige 
Metall plötzlich zu dem ihm vorgeschriebenen Ausdruck einer Idee, 
einer Empfindung wird. Chopin war sich bewußt, daß er nur in 
jenen leider wenig zahlreichen Kreisen vollkommen gewürdigt 
werden konnte, wo alle darauf vorbereitet waren, ihm überallhin 
zu folgen, wohin er sie führte, sich mit ihm in jene Sphären zu er- 
heben, in die man nach der Vorstellung der Alten nur durch das 
Elfenbeintor der glücklichen Träume gelangt, das diamantene, in 
tausend buntfarbigen Feuern strahlende Pfeiler umgeben. Es ge- 



Chopins Rhythmik, Tempo rubato. 61 

währte ihm Vergnügen, diese» Tor zu übersteigen, zu dem der Ge- 
nius den geheimen Schlüssel bewahrt, und über dem sich eine 
Kuppel wölbt, in der alle Strahlen des Prismas mit einem jener 
täuschenden Lichter spielen wie das des mexikanischen Opals, 
dessen kaleidoskopische Lichtzentren sich in einem Nebel ver- 
stecken, der sie wechselnd verhüllt und entschleiert. Durch dieses 
Tor öffnete er den Zugang in eine Welt, wo alles holdes Wunder, 
ungeahnteste Überraschung, lebendig gewordener Traum erscheint. 
Aber man muß zu den Eingeweihten gehören, um diese Schwelle 
überschreiten zu können. 

Chopin flüchtete sich gern in diese Traumregionen, in die er 
nur auserlesene Freunde einführte. Ihm galten sie mehr als die 
rauhen Schlachtfelder seiner Kunst, wo man zuweilen in die Hände 
eines unvermuteten Siegers, eines törichten und prahlerischen Er- 
oberers fällt, dessen Herrschaft zwar nur einen Tag lang währt, 
für den aber dieser eine Tag hinreicht, um ein Beet von Lilien 
und Asphodelien niederzumähen, um den Zugang zum geheiligten 
Hain Apollos zu verhindern. Während dieses Tages fühlt sich 
der „glückliche Soldat" zwar den Königen ebenbürtig; aber nur 
den Königen der Erde — und genügte dies wohl der Einbildungs- 
kraft, die mit den Gottheiten der Lüfte verkehrt und mit dea 
Geistern, die in Wipfeln und Gipfeln wohnen? 

Auf diesem Boden ist man überdies den Launen der Reklame, 
der Kameraderie, einer zweideutigen Mode von zweifelhafter Ge- 
burt anheimgegeben. Ist aber schon die Mode als ehrlich Ge- 
borenCj als Standesperson immer eine törichte Göttin, wie vielmehr 
eine Mode ohne anerkannte Eltern I Fein organisierte Künstler- 
naturen werden sicherlich einen nur zu natürlichen Widerwillen 
dagegen empfinden, sich mit einem jener als Kunstprinzen ver- 
kleideten Jahrmarktsherkulesse zu messen, welche dem Virtuosen 
von Geblüt auf seinem Wege auflauern, wie ein Dorftölpel, der den 
auf edle Abenteuer ausgehenden bewaffneten Kavalier mit Stock- 
schlägen zu überfallen bereit ist. Gleichwohl würden sie sich im 
Kampfe gegen einm so armseligen Gegner vielleicht weniger er** 
iiiedrigt finden als durch die Nadelstiche einer feilen, handel- 
treibenden, industriellen Mode, der frechen Courtisane, die sich. 



62 !V. Chopins Virtuosität. 

erdreistet, den Olymp mit den Sitten des Salons belehren zu wollen. 
Sie möchte, die Wahnwitzige, sich selbst aus der Schale der Hebe 
sättigen, die, bei ihrer Annäherung errötend, bald Venus, bald 
Minerva um Hilfe anruft, um sie mit ihrem Blitzstrahl zu treffen. 
Doch vergebens! Weder streift ihr die höchste Schönheit die markt- 
schreierische Schminke ab, noch entreißt ihr die mit voller Rüstung 
geschmückte Weisheit den Narrenstab, aus dem sie sich ein ge- 
teertes Strohzepter gemacht. In dieser Not bleibt der Göttin 
der Unsterblichkeit kein anderer Ausweg als sich von dem Einr 
dringling aus niederer Sphäre unwillig abzukehren. Und das tut 
sie. Da sieht man die Schönheitsmittel sich denn alsbald ablösen 
von den aufgeblasenen, gemeinen Wangen, die Runzeln hervor- 
treten, und — verjagt ist die zahnlose Alte, noch ehe sie Zeit hatte, 
sich verlassen zu finden. 

Chopin genoß fast täglich das zwar nicht sonderlich dramatische, 
aber zuweilen bis zum Possenhaften komische Schauspiel des Miß- 
geschickes irgend eines Schützlings dieser schleichhändlerischen 
Mode, obwohl zu seiner Zeit die Dreistigkeit der „Unternehmer 
künstlerischer Reputationen", der Elefantenführer mehr oder minder 
merkwürdiger oder künstlicher Tiere — wie „des einzigen Pro- 
duktes von Karpfen und Kaninchen" — noch weit entfernt war 
von der schamlosen Frechheit und der unglaublichen Verbreitung, 
die sie mittlerweile angenommen hat. Doch mochte auch die Kunst 
noch in der Kindheit liegen , die Spekulation wagte sich schon so 
weit heraus auf das den Musen vorbehaltene Gebiet, daß er, der 
ausschließlich mit ihnen verkehrte, der nächst dem verlorenen 
Vaterland nur sie liebte, sich nur bei ihnen über den Verlust dieses 
Vaterlandes tröstete, gleichsam von Furcht vor dieser gewaltigen 
Teufelin erfaßt wurde. Unter dem Eindruck des Widerwillens, den 
sie ihm einflößte, äußerte der Tondichter eines Tages zu einem ihm 
befreundeten Künstler, den man seitdem oftmals hörte: „Ich 
eigene mich nicht dazu, Konzerte zu geben; die Menge schüchtert 
mich ein, ihr rascher Atem erstickt, ihre neugierigen Blicke lähmen 
mich, ich verstumme vor den fremden Gesichtern. Ab^r du bist 
dazu berufen; denn wenn du dein Publikum nicht gewinnst, bist 
du imstande, es dir zu unterwerfen." 



Chopins Reizbarkeit. 63 



Indes auch abgesehen von der Konkurrenz mit Künstlern, die 
keine Künstler sind, mit Virtuosen, die auf den Saiten ihrer Violine, 
ihrer Harfe oder ihres Pianos tanzen, fühlte Chopin sich unbehag- 
lich vor dem „großen Publikum", diesem Publikum von Unbe- 
kannten, von dem man nicht zehn Minuten vorher weiß, ob man 
es gewinnen oder unterwerfen muß; ob man es, kraft dem unwider- 
stehlichen Magnet der Kunst, emporreißen soll in Höhen, deren 
verdünnte Luft die gesunde und reine Lunge erweitert, oder ob 
man vielmehr die Zuhörer, die voll kleinlichen Tadelbedürfnisses 
herbeikamen, durch seine gigantischen, frohlockenden Offenbarungen 
betäuben soll. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Konzert- 
tätigkeit weniger Chopins physische Organisation ermüdete, als 
vielmehr seine Reizbarkeit als Künstler herausforderte. Hinter 
seinem freiwilligen Verzicht auf rauschende Erfolge verbarg sich 
ein inneres Verletztsein. Ungeachtet eines sehr entschiedenen Be- 
wußtseins seiner angeborenen Überlegenheit (wie es allen zu eigen 
ist, welche dieselbe aufs höchste entwickeln und zur Geltung bringen), 
entbehrte der polnische Pianist doch zu sehr des entsprechenden 
verständnisvollen Echos von außen, um sich dem sicheren Gefühl 
überlassen zu können, daß er nach seinem vollen Wert gewürdigt 
werde. Er hatte vom Beifall der Menge genug gesehen, um dieses 
zuweilen intuitive, zuweilen offen und edel empfindende, öfter noch 
launische, starrsinnige, halb wilde und dumme vielköpfige Unge- 
heuer zu kennen, das sich an dem ihm zugeworfenen bunten Glas- 
werk ergötzt und die kostbarsten Kleinodien nicht beachtet, das sich 
über Kleinigkeiten ereifert und sich durch die fadesten Schmeiche- 
leien betören läßt. Doch seltsam getiugl Chopin kannte es nur 
zu gut, er verabscheute es und bedurfte nichtsdestoweniger doch 
seiner! Er vergaß das ihm innewohnende wilde Element über den 
ihm sympathischen naiven Regungen, nach Art eines Kindes, das 
bei der Erzählung von erdichtetem Leiden. und Entzücken weint 
und sich von ganzer Seele begeistert. 

Je mehr „dieser Feinfühlige", dieser Epikuräer des Spiritualis- 
mus, der Gewohnheit entsagte, das „große Publikum" zu bändigen 
und ihm Trotz zu bieten, desto mehr Furcht flößte ihm dasselbe 
ein. Nicht um die Welt hätte er vor ihm eine Niederlage erleben. 



64: IV. Chopins Virtuosität 

mögen bei einem jener Kämpfe, wo der Künstler, gleich einem 
tapfern Kämpen im Turnier, Herausforderung und Handschuh 
jedwedem zuwirft, der ihm die Schönheit und den Vorrang seiner 
Dame — das ist seiner Kunst — streitig macht. Er sagte sich 
vermutlich und sicher mit Recht, daß er auch als ein in weitesten 
Kreisen bewunderter Sieger nicht mehr geliebt und gewürdigt 
werden konnte, als er es bereits in jenem engen Kreise war, der 
sein „kleines Publikum'' bildete. Und er fragte sich vielleicht 
nicht mit Unrecht — denn so unsicher sind eben die Meinungen, 
so wankelmütig die Neigungen der Menschen — ob er, erführe er 
eine Niederlage, nicht an der Liebe und Schätzung seiner eifrigsten 
Bewunderer Einbuße erleiden würde? La Fontaine sagt sehr richtig: 
„Die Feinfühligen sind unglücklich!'' 

Sich somit der Bedürfnisse bewußt, die die Natur seiner Be- 
gabung mit sich brachte, spielte er nur selten öffentlich. Außer 
einigen Erstlingskonzerten im Jahre 1831, in denen er sich in Wien 
und München hören ließ, gab er nur noch einige wenige in Paris 
und London. Schon aus Rücksicht auf seine Gesundheit vermochte 
er nicht viel zu reisen. Wiederholt erlitt er sehr gefährliche Krank- 
heitsanfälie, in deren Folge er schwächlich blieb und der größten 
Vorsicht bedurfte; doch ward ihm dessenungeachtet noch manches 
Jahr der Frist und wieder erstarkender relativer Kraft geschenkt. 
Allerdings gestattete ihm seine Gesundheit nicht, sich an allen 
Höfen, in allen Hauptstädten Europas, von Lissabon bis St. Peters- 
burg, bekannt zu machen. Doch würde sein Befinden ihn wenig- 
stens nicht verhindert haben, sich da, wo er sich aufhielt, öfter 
hören zu lassen. Seine zarte Konstitution war eben weniger ein 
Grund als ein Vorwand zur Verzichtleistung, um immer erneuten 
Fragen und Aufforderungen aus dem Weg zu gehen. 

Warum sollten wir es nicht bekennen? Bekümmerte es Chopin, 
daß er an jenen öffentlichen und feierlichen Künstlerwettkämpfen 
nicht teilnahm, wo des Volkes JubehrUf den Triumphator grüßt; 
bedrückte es ihn, daß er sich von ihnen ausgeschlossen sah, so ge- 
schah dies darum, weil er das, was er besaß, nicht hoch genug 
anschlug, um über das, was er nicht besaß, heiter hinwegzugehen. 
Obgleich durch das „große Publikum" «ingeschüchtert,. bemerkte 



Chopins seltenes Auftreten. 65 

er wohl, daß dieses, indem es sein eigenes Urteil ernsthaft nahm, 
auch andere zwang, es also zu nehmen; während das „kleine 
Publikum'', die Salonwelt, sich als ein Richter bezeugt, der damit 
anfängt, seine eigene Autorität nicht anzuerkennen,.der heute seinen 
Göttern Weihrauch streut und sie morgen verleugnet. Die Ex- 
zentrizitäten des Genies fürchtet es, vor den Kühnheiten einer 
großen, überlegenen Individualität, einer großen Seele zieht es sich 
zurück, da es sich nicht sicher genug fühlt, um diejenigen heraus-* 
zuerkennen, welche hierzu durch das innere Gebot einer Inspira- 
tion berechtigt sind, die ihren eigenen Weg geht und dabei ohne 
Zögern alle zurückstößt, die nur kleinen Leidenschaften frönen 
und unter dem leeren Anschein der Außerordentlichkeit kein 
höheres Ziel anstreben als Gelderwerb und eine behäbige Ver-^ 
sorgung für die Zukunft. 

Die Salonwelt unterscheidet diese so verschiedenen, einander 
völlig antipodisch gegenüberstehenden Persönlichkeiten nicht, weil 
sie sich nicht die Mühe nimmt, selbständig zu urteilen, ohne die 
Vormundschaft des Feuilletonisten, der, wie der Gewissensrat die 
religiösen Meinungen, die künstlerischen Meinungen dirigiert. Sie 
unterscheidet die mächtige Bewegung, den Sturm und Drang der 
Gefühle, mit dem jene den Ossa auf den Pelion türmen, um zu den 
Sternen emporzusteigen, nicht von den Äußerungen niedriger 
Eigenliebe, egoistischer Selbstgefälligkeit und verächtlicher Wohl- 
dienerei, die dem vornehmen Laster der unmoralischen Mode, der 
herrschenden Sittenlosigkeit huldigt. Sie unterscheidet die Ein- 
fachheit großer Gedanken, die keiner gesuchten „Effekte'' be- 
dürfen, nicht von den verjährten Konventionalitäten eines Stils, 
der seine Zeit erfüllt hat, und über den nun die alten Weiber das 
Wächteramt führen, in Ermangelung eines verständnisvollen 
Auges, das den unaufhörüchen Wandlungen der Kunst zu folgen 
versteht. 

Um sich die Sorge zu sparen, die Gedanken und Empfindungen 
des Künstlers, dessen Stern am Firmament der Kunst aufzugehen 
scheint, mit Sachkenntnis zu würdigen; um der Mühe zu entgehen, 
es mit der Kunst ernst zu nehmen, damit man die Versprechungen, 
welche die jungen Leute mit sich bringen, und die Eigenschaften, 

Liszt, Qesammelte Schriften. I. V.A. 5 



66 IV. Chopins Virtuosität 

welche sie zur Verwirklichung derselben befähigen, mit einigem 
Verständnis zu beurteilen vermöge, unterstützt, oder vielmdir 
protegiert man in den Salons hartnäckig nur die schmeichlerische 
Mittelmäßigkeit. Von ihr hat man ja keine in V^legenheit setzende 
Neuerung, kdne Genialität zu gewärtigen; sie darf man von oben 
herab behandeln, sie nach Belieben auch mißhandeln, da man hier 
weder einen lästigen Fehler noch einen unauslöschlichen Glanz zu 
fürchten braucht. 

Dies vielgepriesene „kleine Publikum'^ hat wohl die Macht, 
einen Ruf in Umlauf zu setzen; doch ein solcher Ruf von vielleicht 
berauschendem Zauber hat nicht mehr Realität denn eine Stunde 
des Rausches, wie ihn der moussierende Trank erzeugt, welchen 
man in Kaschmir aus Rosen- und Neikenblättem bereitet Ein 
solcher Ruf ist ein ephemeres, armseliges Ding, ohne Dauer, ohne 
wirkliches Leben, immer bereit, sich zu verflüchtigen, da er den 
Grund seines Daseins nicht kennt und oft auch tatsächlich eines 
solchen entbehrt. Das „große Publikum'' dagegen, das liäufig 
auch nicht weiß, wie und warum es sich ergriffen, durchschauert, 
elektrisiert, „gepackt" — wie der entzückte Plebejer sagt — fülilt, 
schließt wenigstens die „Leute vom Handwerk" ein, welche wissen, 
was sie sagen und warum sie es sagen, solange die Tarantel des 
Neides sie nicht gestochen hat und sie, wie die böse Fee in Per- 
raults Märchen, nicht bei jedem Worte die Schlangen und Kröten 
der Lüge ausspucken, statt der feinen Perlen und duftenden Blomen 
der Wahrheit, wie dies die edle Frau Justitia gebieten würde. 

Nicht ohne geheime Betrübnis schien Chopin sich oftmals zu 
fragen, bis zu welchem Grad die Elite der Gesellschaft iiim durch 
ihre dislaeten Beifallsbezeigungen die Menge und Massen ersetzte, 
von denen er sich freiwillig abkehrte? Wer in seinem Antlitz zu 
lesen wußte, konnte erraten, wie häufig er bemerkte, daß taiter 
all den schönen, wohlfrisierten Herren, unter all den schöne» und 
geschmückten Damen ihn keines verstand. Und war er nicht noch 
viel weniger dessen sicher, ob die geringe Zahl derer, die ihn ver- 
standen, ihn auch recht verstand? Ein Mißbehagen bemächtigte 
sich infolgedessen seiner, das ihm selbst, mindestens nach seiner 
wahren Quelle, vielleicht unklar blieb, aber heimlich an ihm nagte. 



Das grofie und tlas kleine Ptiblikum. 67 

Fast verletzt sah man ihn durch Lobpreisungen, die hohl oder 
falsch an sein Olir klangen. Da die, welche er mit Recht bean- 
spruchen durfte, ihm nicht in reicher Fülle zuströmten, war er 
geneigt, vereinzelte Huldigungen beleidigend zu finden, wenn sie, 
nidit vom rechten Verständnis getragen, den wesentlichen Punkt 
nur durch Zufall berührten — was der feine Blick des Künstlers 
selbst unter den Spitzen des feuchten Taschentuches und unter 
den koketten rhythmischen Bewegungen des Fächers zu unter- 
scheiden wußte. 

Aus den höflichen Phrasen, mit denen er, gleich vergoldetem 
aber lästigem Staub, häufig die Komplimente abschüttelte, die ihm 
80 unnatürlich erschienen wie die auf Draht gebundenen Blumen 
der Buketts, welche die hübschen Hände nur mühsam umfaßten, 
konnte man mit geringem Scharfsinn erkennen, daß ihn weder 
Quantität noch Qualität des empfangenen Beifalls befriedigten. 
Er zog demgemäß vor, In der Einsamkeit seiner inneren Betrach- 
tungen, seiner poetischen Phantasien und Träume ungestört zu 
sein. Viel zu bewandert in witzigen Ausfällen, selbst ein zu geist- 
reicher Spötter, um dem Sarkasmus eine Blöße zu bieten, gab er 
sich nicht etwa als verkanntes Genie. Unter scheinbarer Befrie- 
dung und liebenswürdiger FreundlichlMit verbarg er die Wunde, 
die seinem berechtigten Stolze geschlagen worden war, so völlig, 
daß man deren Existenz kaum bemerkte. Nicht mit Unrecht 
dürfte man }edoch die sich allmählich ste^;emde Seltenheit der 
Gelegenheiten, bei denen er sich zum Spielen bewegen ließ, mehr 
noch dem Wunsche beimessen, Huldigungen zu fliehen, die ihm 
nicht den schuldigen Tribut eintrugen, als seiner zunehmenden 
Köq^erschwäche, die ja durch sein andauerndes häusliches Spiel, 
wie durch die Unterrichtsstunden, die er beständig erteilte, auf 
nicht mhider harte Proben gestellt wurde. 

Zu bedauern Ist es, wenn die zweifellosen Vorteile, die für den 
Künstler darauf erwachsen sollten, daß er nur ein gewähltes Pu- 
blikum kultiviert, solchergestalt durch den zu sparsamen Ausdruck 
der Sympathien des letzteren und den vollständigen Mangel eines 
w^ren Verständnisses für das Wesen des Schönen an sich, wie 
fOr die Mittel, die dasselbe offenbaren und somit die Kunst aus- 

5« 



68 IV. Chopins Virtuosität 

machen, vermindert werden. Die Wertschätzung des Salons ist nur 
ein ,,ewiges Ungefähr", wie Sainte-Beuve in einem seiner von 
witzigen Einfällen übersprudelnden Feuilletons sagt, die an jedem 
Montag seine Leser ergötzten. Die feine Welt sucht, da sie keine 
Wurzel in vorhergegangener Erkenntnis, keinen Halt und keine 
Zukunft in einer aufrichtigen und dauernden Teilnahme hat, nur 
oberflächliche Eindrücke, so flüchtiger Natur, daß man sie mehr 
physische als moralische nennen kann. Zu beschäftigt mit den 
kleinen Tagesinteressen, mit politischen Vorkommnissen, den Er- 
folgen hübscher Frauen, den Bonmots auf Wartegeld gesetzter 
Minister oder müßiger Mißvergnügter, mit einer eleganten Heirat, 
mit Kinderkrankheiten oder zarten Liaisons, mit Lästereien, die 
man als Verleumdung, oder Verleumdungen, die man als Lästeret 
behandelt, begehrt die große Welt in der Tat von Poesie und Kunst 
nichts weiter als Aufregungen, die wenige Minuten währen, die 
sich im Laufe eines Abends erschöpfen und am andern Morgen 
vergessen sind. 

So hat die große Welt am Ende nur Künstler zu beständigen 
Tafelgenossen, die um so eingebildeter und unterwürfiger sind, als 
sie des Stolzes und der Geduld ermangeln. Sich an ihnen den Ge- 
schmack verderbend, verliert sie allmählich die Originalität und 
ursprüngliche Natürlichkeit ihres Empfindens und infolgedessen 
auch das rechte Auffassungsvermögen für das Was? und Wie? 
echt künstlerisch-poetischen Ausdruckes. Welch hohen Rang sie 
daher auch behaupte, die hohe Poesie, die hohe Kunst thronen 
doch über ihr! In den mit rotem Damast behangenen Gemächern 
friert die Kunst,- sie schwindet dahin in den goldgelb oder bläulich 
schimmmernden Salons. Das empfand wohl jeder wahre Künstler, 
obgleich nicht alle sich davon Rechenschaft zu. geben wußten. 
Ein Virtuos von einigem Ruf, der, mit den Veränderungen des 
geistigen Thermometers je nach den verschiedenen gesellschaft- 
lichen Kreisen mehr als andere vertraut, diese immer frische, zu- 
weilen eisige, ja den Gefrierpunkt erreichende Temperatur wohl 
kannte, sagte öfters: „Bei Hofe muß man kurz sein.'' [A la cour 
il faut 6tre court.] Und unter Freunden fügte er hinzu: „Es han- 
delt sich ja gar nicht darum, uns zu hören, sondern nur darum^ 



Das Unverständnis der Hörer. 69 

uns gehört zu haben! . . Was wir sagen ist gleichgültig, wenn 
nur der Rhythmus bis in die Fußspitzen dringt und die ange- 
nehme Vorstellung eines vergangenen oder zukünftigen Walzers 
hervorruft." 

Ist der Künstler seiner einsamen Inspiration einmal entrissen, 
so kann er sie nur durch den mehr als aufmerksamen, lebendigen 
und belebenden Anteil wiedergewinnen , den seine Zuhörer dem 
Edeln, was er empfindet, dem Weihevollen, was er erstrebt, dem 
Erhabenen, was er träumt, dem Göttlichen, was er erkennt, ent- 
gegenbringen. Soll er ganz auf der Höhe sein, soll er sich über sich 
selbst erheben, soll er seine Zuhörer, begeistert und erleuchtet 
durch das göttliche Feuer, Testro poetico, mit sich emportragen, 
so muß er fühlen, daß er die, die ihn hören, bewegt und erschüttert, 
daß seine Empfindungen verwandte Saiten in ihnen berühren, 
daß er sie auf seinem Wanderfluge ins Unendliche mit sich fort- 
reißt, wie der Führer geflügelter Scharen, dem, wenn er zum Auf- 
bruch mahnt, die Seinigen alle nach schöneren Gestaden folgen. 

Ein richtiges Vorgefühl leitete den Grafen Joseph de Maistre, 
als er den „aufgeklärten Patrizier" als geeigneten Richter im Reiche 
des Schönen bezeichnete. Nur ließ er seinen Gedanken unvoll- 
ständig. Die Aristokratie als solche hat keineswegs die soziale 
Aufgabe, nach englischer Weise Glossen über Homer, Monogra- 
phien über diesen vergessenen arabischen Dichter oder jenen wieder- 
aufgefundenen Troubadour zu verfassen; oder gründliche Studien 
über Phidias, Apelles, Michel Angelo, Raphael, eingehende Nach- 
forschungen über Josquin des Pr^s, Orlando di Lasso, Monteverde, 
Feo usw. anzustellen. Ihr Vorrecht besteht vielmehr darin, die 
ihre Zeit erfüllende Begeisterung, die dem gegenwärtigen Ge- 
schlecht eigenen Bestrebungen, Schmerzen und Empfindungen, 
welche ihren eindringlichsten und weitesttragenden Ausdruck in 
den Akzenten des Musikers oder Dramatikers, den Visionen des 
Malers und Bildhauers finden, eigenhändig zu leiten. Sie vermag 
sich diese Leitung freilich nur zu erhalten, wenn sie zur wahren 
Vorsehung von Poesie und Kunst wird. Eben darum aber auch 
dürfte sie die Protektion, die sie dem Künstler und Dichter schuldet, 
nicht dem zufälligen Geschmack eines jeden überlassen. Sie müßte 



70 IV. Chopins Virtuosität. 

Männer in ihrer Mitte haben, die nicht minder als mit der Qe» 
schichte ihres Landes, ihrer Familie und verschiedener Wissen- 
schaften mit der der schönen Künste, mit ihren Epodien und 
Stilen, ihren Umwandlungen und Kämpfen vertraut wären, damit 
dem vomdimen Mann bei der kürzesten Unterhaltung nnt einem 
Künstler nicht allerhand artistisch-orthographische Fehler, naive, 
gegen Syntax und Grammatik schlimm verstoßende Betrach- 
tungen entschlüpfen; — eine Gefahr, der er gewöhnlich nur dadurch 
entgeht, daß er sich hinter eine Unbedeutendheit verschanzt, die 
den Künstler nur noch mehr reizt. 

Eine geheiligte Tradition auch müßte es dem Patriziat zum 
Gesetz machen, all die kleinen, wohlfeilen künstlerischen Erzeug- 
nisse, welche in Form banaler Lieder, seichter Klavierkomposi- 
tionen, bunter Photographien, schlechter Bilder und Skulpturen, 
gemaHer, steinerner, gesungener und gespielter Splel^eien zur 
Unehre der Künstler selber fabriziert werden, zu verachten und, sie 
in niedrigere Sphären verweisend, aus seinen Häusern zu verbannen, 
deren Portal ein hundertjähriges Wappen schmückt. Eine ver- 
ständige Tradition müßte es ihm zur Pflicht machen, sich nur in 
der edelsten Kunstrichtung zu gefallen; nur die Oichter und 
Künstler zu beschützen, welche die heldenmütigsten und zartesten, 
die reinsten und selbstlosesten Empfindungen, kurz alles das zum 
Ausdruck bringen, was die Seele in jene höheren, durchgeistigteren 
Regionen emporträgt, die über den eigennützigen und epikurä- 
ischen Vorurteilen erhaben sind, welche die Pflege materieller oder 
spezieller Interessen in anderen Gesellschaftsklassen erweckt und 
nährt. Ja sogar in denen der Wissenschaft, wo die Leidenschaften 
nicht immer die Ungerechtigkeiten der Reizbarkeit und die Ge- 
lüste ungezügelter Eitelkeit genügend zurückweisen, um zu den 
erhabeneren und reinen Sphären der hohen Poesie und Kunst zu 
gelangen. 

Femer müßte das Patriziat sich von dem törichten Joch der 
Mode frei machen, deren unedle Abkunft es nicht zu kennen vor- 
gibt, und deren unnatürlichen Despotismus es in seinen extrava- 
ganten „Kostümen'', seinen trivialen Belustigungen, seinen jeder 
Vornehmheit b^en Manieren, die keinen Unterschied mehr zwischen 



Künstlerische Pflichten der bevorzugten Stände. 71 

denen der „guten Bürger von Paris" erlcennen lassen, ohne Murren, 
ja mit Bereitwilligkeit erträgt. Es müßte endlich, sich zu der 
ihm zukommenden Höhe erhebend, sein angeborenes Recht, ,,den 
Ton anzugeben", wieder aufnehmen, um in der Tat den „guten 
Ton'' dnzuiführen, dessen Wesen es ist, Achtung und Ehrerbietung 
vor denjenigen einzuflößen, die zu denken und zu urteilen ver- 
stehen; gleichzeitig aber Panurgs großer Schafherde von Salon- 
Nullen, denen bereitwillige Bewunderer und einträgliche Renten 
zu Gebote stehen, eine Richtschnur zu geben. 

Doch wäre es bei Chopin auch anders gewesen, als es tatsächlich 
^ Fall war, hätte er in jenen berühmten Salons, wo nur der gatt 
Qesdimack herrschen soll, in jenen höchsten Kreisen, deren Glieder 
sich einbilden, aus anderem Ton als die übrigen Sterblichen ge- 
formt zu sein, das ihm gebührende volle Maß von Huldigungen 
und Bewunderung empfangen; hätte er, wie so viele andere, vor 
allen Nationen, in allen Zonen seme glänzenden Triumphe ge- 
feiert; wäre er von Tausenden gerührter Zuhörer statt nur von 
Hunderten gekannt und anerkannt worden: wir würden uns doch 
nidit bei diesem Teil seiner Laufbahn aufhalten, um deren Erfolge 
aufzuzählen. 

Was gelten Bhmien dem, dessen Stirn nach unsterblichem 
Lorbeer verlangt? Vorübergehende Sympathien, gelegentliche 
Ijobspenden sind kaum des Nennens wert angesichts eines Grjd)es, 
das reicheren Ruhm heischt. Chopins Schöpfungen sind berufen, 
fernen Völkern und Zeiten die Freudoi und Tröstungen, all die 
w^ltuenden und erhebenden Empfindungen zuzuführen, welche 
die Werke der Kunst in den leidenden und kranken oder gläubig 
ausharrenden Gemütern erwecken, denen sie gewidmet sind. Sie 
bilden solchergestalt ein stetes Band zwischen den höher angelegten 
Naturen, die, in welcher Epoche oder in welchem Erdenwinkei sie 
auch lebten, von ihren Zeitgenossen in ihrem Schweigen wie in 
ihrem Reden n^ßverstanden wurden. 

„Es gibt verschiedene Kränze'', sagt Goethe; „es gibt selbst 
solche, die man bequem während eines Spazierganges pflücken kann!'' 
CHese können wohl für einige kurze Augenblicke durch ihre bal- 
samische Frische entzücken; doch dürfen wir sie nicht mit denen 



72 IV. Chopins Virtuosität 

vergleichen, die Chopin durch unablässige Arbeit, durch ernste 
Kunstliebe und schmerzliches Durchleben der so schön von ihm 
dargestellten Gemütsbewegungen sich mit schweren Mühen er- 
worben hat. Nicht mit kleinlicher Gier trachtete er nach jenen 
billigen Kränzen, mit denen mancher von uns sich bescheiden 
genug brüstet. Als ein reiner, großsinniger, guter und mitfühlen- 
der Mensch, den die edelste aller irdischen Empfindungen: die 
Vaterlandsliebe, beseelte, hat er gelebt; als ein geweihter Schatten 
alles dessen, was Polen an Poesie besitzt, wandelte er unter uns; 
— darum hüten wir uns, seinem Gedächtnis die gebührende Ehr- 
erbietung schuldig zu bleiben ! Nicht Gewinde künstlicher Blumen 
laßt uns ihm flechten! Nicht vergängliche Kränze niederlegen 
auf sein Grab! Erheben wir unsere Gefühle angesichts dieses 
Sarges! 

Wir alle, die wir zum Künstlertum „von Gottes Gnaden" be- 
rufen, zu Verkündem des ewig Schönen von der Natur auserwählt 
wurden, die wir durch Eroberungs- wie durch Geburtsrecht unsres 
geweihten Amtes walten, sei es, daß unsere Hand den Marmor 
oder die Bronze gestaltet, daß sie den glänzenden Pinsel oder den 
schwarzen Stichel führt, der langsam seine Linien für die Nach- 
welt eingräbt, sei es, daß sie über die Tasten gleitet oder mit dem 
Dirigentenstab den Orchestermassen gebietet, daß sie den Urania 
entliehenen Kompas des Architekten, oder Melpomenes blutge- 
tränkte Feder, oder Polyhymniens tränenfeuchte Rolle, oder die 
von Wahrheit und Gerechtigkeit gestimmte Leier Klios hält: lernen 
wir von ihm, den wir verloren, alles von uns zu weisen, was nicht 
den höchsten Bestrebungen der Kunst gilt, und unsere ganze 
Kraft auf Ziele zu richten, die die Woge des Tages nicht spurlos 
hinwegspült! Entsagen wir in der traurigen Zeit künstlerischer 
Seichtheit und Verderbtheit, in der wir leben, auch für uns selber 
allem, was der Kunst unwürdig ist, was nicht die Bedingungen 
der Dauer, nichts vom Wesen der ewigen idealen Schönheit in sich 
trägt, deren leuchtenden Glanz die Kunst zu verbreiten hat, da- 
mit sie selber leuchte und glänze! 

Gedenken wir des alten Gebetes der Dorier, dessen einfache 
Formel von so frommer Poesie erfüllt war, wenn sie die Götter 



Chopin von seinen Kunstgenossen bewundert. 73 

anflehten» ihnen „das Gute durch das Schöne" zu spenden! Anstatt 
uns so sehr zu mühen, die Menge anzuziehen und ihr um jeden 
Preis zu gefallen, bestreben wir uns lieber gleich Chopin, ein himm- 
lisches Echo dessen, was wir empfunden, geliebt und gelitten, 
zurückzulassen! Lernen wir endlich von ihm und seinem Beispiel, 
uns das abzufordern, was der Kunst und uns selber in ihrem 
mystischen Reich zur Ehre gereicht; nicht aber, ohne Achtung 
vor der Zukunft, um die wohlfeilen Kränze der Gegenwart zu 
werben, die, kaum gesammelt, schon verwelkt und vergessen 
sind! . . . 

Statt ihrer wurden die schönsten Palmen, die der Künstler bei 
Lebzeiten empfangen kann, durch gefeierte Kunstgenossen in Cho- 
pins Hände gelegt. Enthusiastische Bewunderung ward ihm von 
einem noch ausschließlicheren Publikum als dem der musikalischen 
Aristokratie, deren Salons er besuchte, dargebracht. Es bestand 
aus einer Gruppe berühmter Namen, die sich vor ihm neigten, wie 
Könige verschiedener Reiche, welche sich versammeln, um einen 
ihresgleichen zu feiern, um in die Geheimnisse seiner Macht ein- 
geweiht zu werden und die Herrlichkeit seiner Schätze und Lande, 
die Werke seiner Schöpfung zu betrachten. Sie zollten ihm voll 
und ganz den schuldigen Tribut. Wie konnte es auch anders in 
Frankreich sein, dessen Gastfreundschaft mit so feinem Takt den 
Rang seiner Gäste unterscheidet? 

Die hervorragendsten Geister von Paris begegneten sich häufig 
in Chopins Salon. Wenn auch nicht in jenen periodisch wieder- 
kehrenden phantastischen Künstlervereinigungen, wie sie die müßige 
Einbildungskraft gewisser zeremoniös gelangweilter Zirkel sich vor- 
stellt, und wie sie doch nie existierten, da Frohsinn, Aufgelegtheit 
und Begeisterung niemandem und wohl am wenigsten dem wahren 
Künstler zu festgesetzter Stunde kommen. Alle leiden sie ja mehr 
oder weniger an der „heiligen Krankheit", verletztem Ehrgeiz, 
oder menschlicher Ohnmacht, deren Betäubung und Lähmung sie 
erst abschütteln, deren Schmerzen sie vergessen müssen, um sich an 
jenen Feuerwerkspielen zu zerstreuen, durch die sie sich auszeichnen, 
und die das Staunen der gaffenden Menge erregen, wenn sie von 
weitem ein buntes bengalisches Licht, eine Flammenkaskade, 



74 IV, Chopins Virtuosität 

einen harmlosen feurigen Drachen erblickt, ohne doch den Oetst 
zu verstehen, der sie hervorrief. 

Leider sind Frohsinn und Aufgelegtheit auch bei Dichter und 
Künstler dem Zufall unterworfen. Einige Bevorzugte unter ihnen 
haben allerdings die glückliche Gabe, ihr inneres Mißbefa^s^en zu 
überwinden, sei es, um ihre Last leichter zu tragen und mit ihren 
Reisegefährten über die Beschwerden des Weges zu scherzen, oder 
sei es, um eine milde Heiterkeit zu bewahren, die als Pfand der 
Hoffnung und des Trostes die Traurigsten belebt, die JVlutlosesten 
aufrichtet und ihnen, solange sie in dieser linden Atmosphäre ver- 
weilen, eine Freiheit des Geistes verleiht, die um so leichter über- 
schäumt, je mehr sie mit ihrer gewohnten Bekümmernis und Übel- 
launigkeit kontrastiert. Doch die allzeit offenen und heiteren 
Naturen sind Ausnahmen, sie bilden die schwache iMinderheit 
Die große Überzahl der mit Einbildungskraft B^abten, der allen 
Eindrücken leicht Zugänglichen und dieselben künstlerisch Ge- 
staltenden bleibt unberechenbar in allen Dingen, zumal bezüglich 
der Heiterkeit. 

Chopin gehörte im Grunde weder zu denen, cfie beständig auf- 
gelegt sind, noch zu denen, die die Aufgelegtheit anderer beständig 
anzuregen wissen. Aber er besaß jene angeborene Grazie des pol- 
nischen Bewillkommnens; die den, der Besuche empfängt, nicht 
allein den Gesetzen und Pflichten der Gastfreundschaft unter- 
wirft, sondern ihn auch nötigt, allen Rücksichten auf die eigene 
Person zu entsagen, um sich den Wünschen und Neigungen seiner 
Gäste anzupassen. Man kam gern zu ihm, weil man sich bei ihm 
überaus wohl und behaglich fühlte. Man fühlte sich aber so wohl, 
weil er seine Gäste gleichsam zu Herreti seines Hauses madite, 
sich selbst und alles, was er besaß, zu ihren Diensten stellte. Er 
tat dies mit jener rückhaltlosen Freigebigkeit, die selbst der ein- 
fache Bauer slawischer Rasse nicht verleugnet, wenn er, eifriger 
noch als der Araber unter seinem Zelt, Gäste in seiner Hütte be- 
wirtet und das, was seinem Empfang an Glanz abgeht, durch einen 
Sinnspruch ersetzt, den auch der Reiche nach dem üppigsten Gast- 
mahl nicht zu wiederholen versäumt: »Cz3nm bohat, tym radle 
Vier Worte, deren Sinn dahin lautet: „Mein ganzer beschetdentr 



Chopins Zurückgezogenheit, seine Gastfreundschaft. 75 

Besitz gehört Euchl^". Dieser Spruch wird mit der eigenen natio- 
nalen Anmut und Würde von jedem Hausherrn, der die umständ- 
lichen aber romantischen Gewohnheiten der alten pohlischen Sitten 
beibehält, zu seinen Gästen gesprochen. 

Kennt man die gastfreundlichen Gebräuche seines Vaterlandes, 
so gibt man sich besser von alledem Rechenschaft, was unseren 
Zusammenkünften bei Chopin die Ungezwungenheit und reizvolle 
Belebtheit gab, die keinen faden oder bitteren Nachgeschmack 
hinterläßt und keine Reaktion übler Laune hervorruft. Obgleich 
er sich schwer von der Welt heranziehen ließ und noch weniger 
geneigt war, sie zu empfangen, legte er eine liebenswürdige Zuvor- 
kommenheit an den Tag, wenn man ihn in seinem Hause aufsuchte. 
Während er sich scheinbar um niemanden bekümmerte, gelang es 
ihm, }eden auf die ihm angenehmste Weise zu beschäftigen und 
ihm einen Beweis seiner Höflichkeit und Dienstfertigkeit zu geben. 

Es galt eine fast misanthropische Abneigung zu überwinden, 
bevor man Chopin dahin vermochte, sein Haus und sein Klavier 
wenigstens seinen näheren Freunden zu öffnen, die ihn dringend 
darum angingen. Mehr als einer der Beteiligten erinnert sich ohne 
Zweifel noch der ersten, trotz seines Sträubens bei ihm improvi- 
sierten Abendgesellschaft, als er noch in der Chaussde-d'Antin 
wohnte. Sein Zimmer, darin man ihn plötzlich überfiel, war nur 
von einigen Kerzen erleuchtet, die an einem Pleyelschen Flügel 
brannten, welche Instrumente er wegen ihres silbernen, ein wenig 
verschleierten Klanges und leichten Anschlags besonders liebte. 
Ihm entlockte er Töne, die einer jener Harmonikas anzugehören 
schienen, welche die alten Meister durch Vermählung von Kristall 
und Wasser so sinnreich konstruierten, und deren poetisches Monopol 
das romantische Deutschland bewahrt. 



^ Der Pole behält in seinem Höflichkeitsformular die Übertreibungen 
der orientalischen Sprache bei. Der Titel „sehr mächtiger" und „sehr er- 
leuchteter Herr" (Jasnie Wielmozny, Jasnie Oswiecony Fan) sind noch jetzt 
gebräuchlich. Im Gespräch redet man einander mit „Wohltäter" (Dobrodzlj) 
an, und der übliche Gruß zwischen Männern oder Mann und Frau lautet: 
„Ich lege mich Ihnen zu Füßen" (padam de nög). Dagegen ist der des Volkes 
von antiker Feierlichkeit und Einfachheit: „Ehre sei Qottl" (Slawa Bohu.) 



76 IV. Chopins Virtuosität ^^^ 

Die dunkel gelassenen Ecken schienen den Raum bis ins Grenzen- 
lose auszudehnen; es war, als ob er in der Finsternis zerflösse. Im 
Halbdunkel nahmen die lichten Möbel gespenstische Formen an. 
Das um den Flügel konzentrierte Licht fiel auf das Parkett. Gleich 
einer sich ergießenden Welle glitt es darüber hin und vereinigte sich 
dem unruhigen Leuchten des Kaminfeuers, das zuweilen in rot- 
gelben Flammen aufflackerte und sich zur Gestalt neugieriger 
Gnomen zu verdichten schien, die die Laute ihrer Sprache herbei- 
lockten. Nur ein einziges Porträt, das eines Pianisten, eines ihm 
sympathischen und ihn bewundernden Freundes, der diesmal 
gegenwärtig war, schien eingeladen, der beständige Zuhörer der auf- 
und abflutenden Töne zu sein, die singend und träumend, seufzend 
und grollend auf den Tasten des Instrumentes erstarben, neben 
dem es seinen Platz hatte. Durch ein geistreiches Spiel des Zufalls 
strahlte der Spiegel, um es vor unsem Augen zu verdoppeln, nur 
das schöne Oval und die blonden Seidenlocken der Gräfin d*Agoult 
wider, die so viele Maler abbildeten, und die auch der Kupferstich 
für die Verehrer ihrer eleganten Feder vervielfältigte. 

In dem Lichtkreise rings um den Flügel unterschied man mehrere 
Köpfe von außergewöhnlicher Bedeutung. Heine, der trübsinnigste 
der Humoristen, lauschte mit dem Anteil eines Landsmannes 
Chopins Erzählungen über das geheimnisvolle Land, in dem auch 
seine ätherische Phantasie gern verweilte, und dessen liebliche 
Gefilde sie durchstreift hatte. Chopin und er verstanden sich schon 
mit halb ausgesprochenen Worten und Tönen. Der Musiker be- 
antwortete in seiner Sprache die leise gestellten Fragen des Dich- 
ters nach den unbekannten Regionen, von denen er Kunde be- 
gehrte; nach der „lächelnden Nymphe" i, von der er hören wollte, 
ob sie „noch immer ihr grünliches Haar so reizvoll kokett mit dem 
Silberschleier umhülle?" Vertraut mit dem Geplauder und der 
galanten Chronik jenes Reichs, verlangte er zu wissen, „ob der 
Meergott mit langem weißen Bart die widerspenstige Najade noch 
immer mit seiner lächerlichen Liebe verfolge?" Bekannt mit all 
der feenhaften Herrlichkeit, die man „da unten" schaut, fragte 



^ Heine, Salon. Chopin. 



Eine Soiree bei Chopin: Gräfin d'Agoult, Liszt. 77 

er: „ob die Rosen dort noch immer in so stolzem Feuer erglühten, 
ob die Bäume im Mondenschein noch immer so harmonisch 
rauschten?" 

Chopin antwortete. Nachdem sie sich lange und vertraulich 
von den Reizen dieses luftigen Reichs unterhalten, versanken sie 
in trübeis Schweigen, vom Heimweh übermannt, das Heine heim- 
suchte, als er sich dem holländischen Kapitän des „Geisterschiffes" 
verglich, das mit seiner Mannschaft ewig umhertreiben muß auf 
den kalten Wogen. „Vergebens nach den Gewürzen, den Tulpen, 
Hyazinthen, Meerschaumpfeifen und holländischen Porzellantassen 
sich sehnend, ruft er aus: „„Amsterdam, Amsterdam l Wann sehen 
wir dich wieder?"" während der Sturm im Takelwerk heult und 
ihn bald dahin, bald dorthin wirft über dem wässerigen Höilen- 
schlund." — „Ich begreife", fügt Heine hinzu, „die Verzweiflung, 
mit der der unglückliche Kapitän eines Tages in die Worte aus- 
brach: „„0, sollte ich je nach Amsterdam zurückkehren, so will 
ich lieber ein Prellstein an einer seiner Straßenecken werden, als 
diese Straßen jemals wieder verlassen!"" Armer van der Decken I 
Sein Ideal war Amsterdam I" ... 

Heine glaubte auf Haaresbreite die Leiden und Erfahrungen 
des „armen van der Decken" während seiner end- und rastlosen 
Fahrt über den Ozean zu kennen, der seine Krallen in das unver- 
wüstliche Gewände seines Schiffes hineingrub und es festgebannt 
hielt an seinen schwankenden Grund mit unsichtbarem Anker, 
dessen Kette der kühne Seemann nicht zu finden und zu zerbrechen 
vermochte. War der satirische Dichter aufgelegt, so erzählte er 
uns von den Schmerzen und Hoffnungen, den verzweifelten Qualen 
der Unglücklichen, die dies unselige Schiff bewphnten. Er selbst 
hatte ja seine fluchbeladenen Planken unter Führerschaft einer 
verliebten Undine betreten, die an Tagen, wo der Gast ihres 
Korallenhains und Perlmutterpalastes sich noch mürrischer und 
beißender als gewöhnlich vom Lager erhob, ihm zur Erheiterung 
irgend ein Schauspiel bot, das dessen würdig war, der reichere 
Wunder noch zu träumen verstand, als ihr Königreich umschloß. 

Von solch gefeitem Kiele getragen, durchschifften Heine und 
Chopin gemeinsam die Polarkreise, wo das Nordlicht, die strahlende 



78 IV. Chopins Virtuosität 

Leuchte der langen Nächte, seinen weiten Lichtkreis in den riesigen 
Stalaktiten des ewigen Eises spiegelt; die Tropen, wo während 
der kurzen Dunkelheit des Zodiakallichts wundersamer Glanz den 
brennenden Sonnenschein ersetzt. Sie durchzogen im Fluge die 
Breiten, wo das Leben verkümmert und wo es sich rasch verzehrt, 
und lernten unterwegs all die Himmelswunder kennen, welche die 
Bahn der Seefahrer bezeichnen, die kein Hafen erwartet. Von 
ihrem steuerlosen Schiffe aus betrachteten sie die zahllosen Stern- 
bilder, von den beiden Bären, die den nördlichen Himmel be- 
herrschen, bis zu dem prächtigen Kreuz des Südens, wonach sich 
zu Häupten und Füßen die Wüste des Südpols zu dehnen begannt, 
die dem Auge nur noch einen öden, lichtlosen Himmel über ufer- 
losen Meeresfluten zeigt. Zuweilen verfolgten sie die flüchtigen 
Spuren der Sternschnuppen, dieser Leuchtkäfer des Himmels, 
am azurnen Gewölbe; oder die Kometen mit ihrer unberechenbaren 
Bahn, deren fremdartigen Glanz man fürchtet, und deren einsamer 
Irrwandel doch so traurig und harmlos ist. Sie schauten Alde- 
baran, dies ferne Gestirn, das, wie ein feindselig funkelndes Auge, 
unserem Erdball aufzulauern scheint, aber ihm doch nicht zu naiwn 
wi^ und wiederum die strahlenden Plejadai, die dem fragenden 
Blick einen freundlich tröstenden Lichtgruß wie eine rätselhafte 
Verheißung hemiedersenden. 

Alles das hatte Heine in wechselnder Mannigfaltigkeit geschaut. 
Und dazu noch vieles andere, wovon er uns in dunklen Gleichnissen 
berichtete. Der rasenden Kavalkade der Herodias hatte er bel^ 
gewohnt und an Erlkönigs Hofe Zutritt gehabt; er hatte manch 
goldnen Apfel im Garten der Hesperiden gepflückt und verkehrte 
vertraulich an alt den Orten, die dem SterbMchen nur zugänglich 
sind, wenn ihm eine Fee zur Patin geworden, welche es sich zur 
Lebensaufgabe macht, die bösen Mächte in Schach zu halten und 
die Kleinodien ihres Zauberschreitis über ihn auszustreuen. Da 
er Chopin häufig von seinen Streifereien im übernatürüchen Reich 
der Poesie unterhielt, wiederholte uns dieser in Tdnen seine Ge- 
spräche und Schilderungen, offenbarte uns das Vernommene, und 
Heine ließ ihn gewähren und vergaß unsere Gegenwart, während 
er ihm lauschte. 



Heine, Meyerbeer, Nourrit, Hiller. 79 

An jenem Abend, von dem wir sprechen, saß an Heines Seite 
Meyerbeer, für den alle Ausdrücke der Bewunderung längst er- 
sehet sind. Er, der Urheber harmonischer Zyklopenbauten, 
konnte stundenlang mit Wohlgefallen dem leichten Spiel der Ara- 
besken folgen, die Chopins Gedanken wie mit einem durchsichtigen 
Gewebe umhüllten. 

Etwas entfernter saß Adolf Nourrit, der edle, enthusiastische 
und doch so strenge Künstler. Ein aufrichtiger, ja fast asketischer 
Katholik, träumte er mit der Inbrunst eines mittelalterlichen 
Meisters von einer Zukunft der Kunst, die das Schöne in all seiner 
Reinheit wiedergestalten und verherrlichen sollte. Während seiner 
letzten Lebensjahre verweigerte er bei allen seichteren Opern seine 
Mitwirkung, um in keuscher und begeisterter Andacht der Kunst 
zu dienen, deren mannigfache Manifestationen er stets wie ein 
heiliges Tabernakel betrachtete, „dessen Schönheit in der Wahrheit 
berobt''. Heimlich unterwühlt von einer melancholischen Leiden- 
schaft für das Schöne, schien auf seiner marmorbleichen Stirn schon 
der verhängnisvolle Schatten zu lagern, über den die ausbrechende 
Verzweiflung leider immer zu spät erst die Menschen aufklärt, die 
so neugierig nach den Geheimnissen des Herzens forschen und sie 
doch so wenig zu erraten vermögen. 

Auch Hiller war zugegen. Seine Begabung war der der da- 
maligen Neuerer, insbesondere Mendelssohn verwandt. Wir kamen 
'läufig bei ihm zusammen. Indes er seine später veröffentlichten 
großen Kompositionen, als erste derselben sein bemerkenswertes 
Oratorium „Die Zerstörung Jerusalems" vorbereitete, schrieb er 
die Klavierstücke: »Fantömes«, »R^veries« und seine Meyerbeer 
gewidmeten vierundzwanzig Etüden. In ihrem kraftvollen Ent- 
warf und ihrer vollendeten Zeichnung erinnern diese letzteren an 
jene Baumschlagstudien, in denen die Landschaftsmaler oft in 
einem einzigen Baum, einem Haidekraut, einem Büschel Wald* 
blumen oder Moose, einem einzigen glücklich behandelten Motiv 
ein ganzes kleines Gedicht von Licht und Schatten hinwerfen. 

Eugene Delacroix, der Rubens der damaligen romantischen 
Schule, stand verwundert und in sich gekehrt vor den Erschei- 
nungen, weicht die Luft ringsum erfüllten, und deren leise Be* 



^ IV. Chopins Virtuosität 

rührung man zu spüren vermeinte. Fragte er sich, welche Palette, 
welche Pinsel und Leinwand er wählen müsse, um ihnen das Leben 
seiner Kunst zu leihen? Ob er dazu wohl einer von Arachne ge- 
webten Leinwand, eines aus den Augenwimpern einer Fee ge- 
fertigten Pinsels, einer mit dem Farbenduft des Regenbogens 
bedeckten Palette bedürfe? Lächelte er über sich selbst bei solchen 
Gedanken, oder gefiel es ihm, sich ganz dem Eindruck, der sie her- 
vorrief, hinzugeben, da auch er, gleich andern großen Talenten, 
sich gerade durch die mit ihm kontrastierenden Erscheinungen 
angezogen fühlte? 

Mit finster schweigendem Ernst und marmorner Bewegungs- 
losigkeit hörte der bejahrte Niemcewicz, der unter uns allen dem 
Grab am nächsten zu stehen schien, seinen eigenen „historischen 
Gesängen'' zu, die Chopin für ihn, den zurückgebliebenen Zeugen 
einer vergangenen Zeit, mit dramatischem Leben beseelte. In den 
volkstümlichen Versen des polnischen Barden hallen Waffenlärm; 
Siegeslieder, festliche Hymnen, Wehklagen erlauchter Gefangenen, 
Preisgesänge gefallener Helden wider. Sie rufen vereint eine lange 
Reihe von Ruhmestaten und Siegen, von Königen, Königinnen, 
Hetmans in die Erinnerung zurück — und vor dem Geiste des Greises 
entschwand die Gegenwart wie ein Trugbild, er glaubte die Ver- 
gangenheit wieder auferstanden, so belebt erschienen ihre Schatten 
unter Chopins Händen 1 — 

Von den andern getrennt, düster und stumm, hob sich Mickie- 
wicz' unbewegliche Silhouette ab. Dem Dante des Nordens dünkte 
stets „bitter das Salz der Fremde und ihre Stufen schwer zu er- 
klimmen". Umsonst mochte ihn Chopin an »Grazyna« und » Wallen- 
rodft mahnen — dieser „Konrad'' blieb anscheinend taub für seine 
schönen Melodien; seine Gegenwart allein bezeugte, daß er sie ver- 
stand. Mehr, so meinte er mit Recht, dürfe niemand von ihm 
verlangen. 

Mit aufgestütztem Arm in einen Sessel zurückgelehnt, sah man 
Frau George Sand, in regster Aufmerksamkeit gefesselt. Auf alles, 
was sie hörte, verbreitete sich der Widerschein ihres feurigen Genius, 
dem die nur wenigen Auserwählten verliehene Fähigkeit gegeben 
war, in allen Gestaltungen der Kunst und Natur das Schöne heraus- 



Delacroix, Niemcewicz, Mickiewicz, O. Sand. 81 

zuerkennen. War dies vielleicht jenes Hellsehen, dessen höhere 
Kräfte primitive Nationen in ihren Priesterinnen erkannten? 
Jener Zauberblick des geistigen Auges, vor dem alle Hüllen herab- 
fallen, um die darin inkamierte Seele des Dichters, das Ideal, das 
der Künstler in Tönen oder Farben, in Marmor oder Stein, inLiedern 
oder Dramen heraufbeschwor, in seiner innersten Wesenheit zur 
Anschauung zu bringen? Die meisten von denen, die sie besitzen, 
ahnen diese Gabe kaum, deren höchste Offenbarung sich durch 
eine Art divinatorischen Orakels bezeugt, das, der Vergangenheit 
bewußt, die Zukunft prophetisch kündet. Weit weniger verbreitet, 
als man annehmen möchte, enthebt sie die von ihr Erleuchteten 
der lästigen Bürde technischen Wissens, mit der andere mühselig 
zu den geheimen Regionen empordringen, die sie im ersten An- 
lauf erreichen. Weniger dem Studium der Geheimnisse wissen- 
schaftlicher Analyse als dem vertrauten Verkehr mit den wunder- 
reichen Synthesen der Natur und Kunst dankt diese Fähigkeit 
ihren Aufschwung. 

Im intimen Umgang mit der Schöpfung, der den eigentlichsten 
Reiz des Landlebens bildet, gewinnt man der Natur und zugleich 
der Kunst die Lösung der Rätsel ab, die sie in der unendlichen 
Harmonie ihrer Linien, Töne und Lichter, ihres Donners und 
Säuseins, ihrer Lust und ihrer Schrecken birgt. Unternimmt es 
der Mut, der vor keinem Geheimnis, keiner Schwierigkeit zurück- 
bebt, der Fülle dieser Erscheinungen nachzuforschen, so gelingt es 
zuweilen, diesen Verwandtschaften und Gleichförmigkeiten, den 
Wechselbeziehungen zwischen unseren Sinnen und Empfindungen 
auf die Spur zu kommen und gleichzeitig mit dem verborgenen 
Band, welches das Verwandte und doch Unähnliche, das Gleiche 
und doch Widersprechende miteinander verknüpft, auch die Ab- 
gründe zu erkennen, die durch eine schmale aber unüberschreit- 
bare Kluft voneinander trennen, was sich nahen, aber nicht ver- 
einen, gleichen, aber nicht vermischen soll. Frühzeitig die leisen 
Stimmen der Natur zu vernehmen, durch welche sie ihre Lieblinge 
in ihre Mysterien einweiht, ist des Dichters beneidetes Vorrecht. 
Von ihr aber gelernt zu haben, auch in die Träume des Menschen 
einzudringen, wenn er auf seine Weise den Schöpfer spielt und 

LUzt, Gesammelte Schriften, l. V,Ar 6 



82 IV. Chopins Individualität 

ihr in seinen Werlcen die T<^e des Schrecicens und der Lust ab- 
lauscht, ist eine noch subtilere Gabe, weldte die Diditerin, ver- 
möge eines zwiefachen Rechts: der Intuition ihres Herzens und 
ihres Genius, besitzt. 

Nachdem vnr diejenige genannt, deren energische Persönlich- 
keit und zaubermächtiges Wesen der schwachen und zarten Natur 
Chopins eine Bewunderung einflößte, die ihn verzehrte — gleich- 
wie zu feuriger Wein das zerbrechliche Gefäß zersprengt, darin er 
aufbewahrt wird — wollen wir keine anderen Namen mehr aus dem 
Schattenreich der Vergangenheit heraufrufen. Ach! wie viele von 
all den Interessen, Bestrebungen und Wünschen, Neigungen und 
Leidenschaften, die eine Epoche erfüllen, während welcher der Zu- 
fall mehrere hochgeartete Geister zusammenführte, tragen ge- 
nügende Lebenskraft in sich, um die mannigfachen Vernichtungs- 
gefahren siegreich zu überwinden, wie sie die Wiege einer jeden Idee, 
eines jeden Gefühls, eines }eden Individuums umstehen? Wie 
viele sind ihrer denn, auf die nicht zu irgend einer Zeit ihres längeren 
oder kürzeren Daseins das traurige Wort Anwendung gefunden 
hätte: „Wohl ihm, wenn er tot, und mehr noch, wenn er nie ge- 
boren wäre!" Wie viele von all den Empfindungen, die ein edles 
Herz höher schlagen ließen, verfielen denn nicht diesem grau- 
samen Fluche? Es gibt vielleicht keinen einzigen, der, wenn er 
emporstiege aus seinem Grabe, um, wie der als Selbstmörder ge- 
fallene Liebhaber im Gedicht von Mickiewicz, am Allerseelentage 
sein Leben von neuem zu beginnen und seine Leiden noch einmal 
zu erdulden, ohne Wundenmale und Verstümmelungen erscheinen 
würde, die seine ursprüngliche Schönheit und Reinheit entstellten 
und befleckten. 

Wie viele aber fänden sich wohl unter diesen wiederkehrenden 
Schatten, deren Schönheit und Reinheit bei ihren Lebzeiten solch 
mächtigen Zauber und himmlischen Glanz ausstrahlten, daß sie 
nicht fürchten müßten, nach ihrem Tode von d^^n verletzet 
zu werden, deren Freude und Qual sie gewesen? Welch unabseh- 
barer Leichenschau bedürfte es nicht, um alle einzeln aufzurufen 
und ihnen Rechenschaft abzufordern über das Gute und Böse, was 
sie an den sie bereitwillig aufnehmenden Herzen anderer und an 



^ Das OöttHche im Genius. 88 

deren Welt getan, die sie verschönten oder verunstalteten, ver- 
heniiditen oder verwüsteten, jt nach ihrer Laune Spiel! 

Wenn aber unter den Menschen, die diese Gruppen bildeten, 
von denen jeder einzelne die Aufmerksamkeit vieler auf sich zog 
und in seinem Gewissen den Sporn großer Verantwortlichkeit trug, 
einer ist, der diese Ausstrahlungen vereinter Geister vor Vergessen- 
heit bewahrte, der, alles Unreine aus seinem Gedächtnis verban- 
nend, der Kunst nur das unberiUirte Erbteil seiner heiligsten Emp- 
findungen hinterließ, so erkennen wir in ihm einen jener Auser- 
wählten, deren Existenz die Volkspoesie durch den Glauben an 
,,gute Geister'' bestätigt. Wird, wenn sie solchen den Menschen 
zugetanen Wesen eine höhere Natur als den gewöhnlichen zuschreibt, 
dies nicht durch einen Ausspruch des großen italienischen Dichters 
M^oizoni bekräftigt, der in dem Genius einen „stärker ausge- 
prägten Stempel der Göttlichkeit'* erblickt? Beugen wir uns so- 
mit vor allen^ die mit dem mystischen Siegel gezeichnet sind; 
aber bringen wir vornehmlich denen unsere Liebe und Verehrung 
dar, lue wie Chopin ihre Überlegenheit nur dazu anwandten, den 
schönsten Empfindung^ Leben und Ausdruck zu verleihen I 

V. 

Eine natürlidie Neugier wendet sich dem äußeren Leben her- 
vorragender Menschen zu, deren Denken und Empfinden in Werken 
der Kunst Gestalt gewann, in denen es meteorengldch vor den 
Augen einer erstaunten und entzückten Menge glänzt. 

Gern überträgt diese letztere die von ihnen erregten bewundern- 
den und sympathischen Eindrücke auf ihre Namen , die sie alsbald 
vergöttra-t und zum Symbol der Vornehmheit und Größe machen 
möchte, zu dem Glauben geneigt, daß die, welche so reine, schöne 
Gefühle ausgesprochen, überhaupt keiner anderen fähig seien. 
Diesem wohlwollenden Vorurteil aber verbindet sich notwendig 
das Bedürfnis, es durch das Leben derer, auf welche es «ich bezieht, 
gerechtfertigt zu sehen. Wenn man in den Werken des EHchters 
seinen sedenvollen Schilderungen der zartesten und verschwiegen- 
sten Cmpänduttgen folgt, wenn man seinen Genius belauscht, wie 

6* 



84 V. Chopins Individualität. 

er, große Situationen beherrschend, sich ruhig über der Menschen 
Schicksale erhebt, die Verschlingungen der scheinbar unentwirr- 
barsten Knoten löst und über alle Größen und Katastrophen der 
Welt sich zu höchsten Höhen emporschwingt, wenn man ihn mit 
dem Geheimnis der ganzen Gefühlsskala und ihren Modulationen 
vertraut sieht: so liegt die Frage wohl nahe, ob diese staunenswerte 
Divination das Wunder des aufrichtigen Glaubens an diese Ge- 
fühle, oder vielmehr eine geschickte Abstraktion des Gedankens, 
ein Spiel des Geistes sei? 

Man fragt und forscht unwillkürlich, worin das Dasein dieser 
in den Dienst des Schönen gebannten Menschen sich von dem des 
gemeinen Haufens unterschied? Wie sich der dichterische Stolz 
in ihnen bewährte, sobald er mit der Prosa des Lebens und den 
positiven Interessen in Widerstreit geriet? Ob die Liebesgefühle, 
von denen der Dichter singt, sich in Wahrheit rein erhielten von 
Bitterkeit und Eigensucht, die sie gemeinhin vergiften? Ob sie 
nichts von Flüchtigkeit und Unbestand gewußt, die sie im alltäg- 
lichen Leben so häufig des Wertes berauben? Man begehrt zu 
wissen, ob sie, die so gerechte Entrüstung empfanden, selbst allzeit 
gerecht gedacht? Ob sie, die die Unbestechlichkeit priesen, niemals 
ihr eigenes Gewissen verkauften? Ob sie, die die Ehre feierten, 
sich nie verzagt gezeigt? Ob sie, die die Tapferkeit so bewunderns- 
wert schilderten, sich nicht mit ihren eigenen Schwächen abzu- 
finden hatten? 

Viele haben ein Interesse daran, die Verträge zu kennen, die 
auf Kosten von Ehre, Redlichkeit und Zartgefühl, zugunsten ehr- 
geiziger Bestrebungen und materiellen Gewinns von denen ge- 
schlossen wurden, welchen die schöne Aufgabe zufiel, unseren Glau- 
ben an edle und große Gefühle aufrecht zu erhalten, indem sie 
diesen, auch wenn ihnen anderwärts keine Zuflucht mehr bliebe, 
in der Kunst eine dauernde Stätte bereiten. Denn vielen dienen 
ja jene traurigen Verträge, denen sich Geister unterwerfen, die 
das Erhabene so hehr darzustellen, das Niederträchtige so zu brand- 
marken wissen, als unwiderlegUcher Beweis dafür, daß es Unmög- 
lichkeit oder Torheit wäre, dieselben von sich zu weisen. Sie machen 
diesen Beweis zur willkommenen Grundlage ihrer Behauptung, 



Widerstreit des Künstlers mit der Lebensprosa. 86 

daß derlei Übereinkünfte zwisclien dem Edlen und Unedlen, 
zwischen dem Großen und Armseligen, dem Häßlichen und dem 
sittlich Schönen von der Schwachheit unseres Wesens und der 
zwingenden Macht der Dinge unzertrennlich seien, da sie zugleich 
aus der Natur der Menschen und der Dinge hervorgingen. 

Bieten nun unselige Beispiele den „Realisten" in der Moral 
eine beklagenswerte Stütze für ihre lächerlichen Behauptungen, 
wie schnell sind sie dann damit fertig, die schönsten Eingebungen 
des Dichters als eitle Truggebilde zu bezeichnen! Wie überweise 
dünken sie sich, wenn sie die Lehre von einer honigsüßen und doch 
rohen Heuchelei, von einem beständigen geheimen Zwiespalt 
zwischen Worten und Taten predigen! Mit welch grausamer 
Freude führen sie diese Beispiele den Schwachen und Schwanken- 
den vor, deren jugendliche Bestrebungen oder abnehmende Be- 
deutung sich, dank einer bessern Überzeugung, noch solchem 
Vertrag zu entziehen suchen! Wie tief entmutigend aber wiÄt 
es auf letztere, wenn sie bei jeder durch eine Wendung des Lebens- 
wegs bedingten Entscheidung oder Lockung daran gemahnt wer- 
den, daß die, welche dem Schönen, Guten und Wahren so ganz hin- 
gegeben schienen, doch in ihren Taten den Gegenstand ihres Kultus 
und ihrer künstlerischen Begeisterung verleugneten! Müssen sie 
angesichts solch schreiender Widersprüche nicht peinvolle Zweifel 
ergreifen? 

Am schmerzlichsten freilich wohl berührt der bittere Spott, der 
sich über ihre Qualen ergießt, wenn jene anderen, die Kunst lästernd 
und verneinend, sagen: „Poesie ist etwas, was sein könnte, aber 
nicht ist!** Und doch! Die Gottheit bezeugt, jedes Gewissen wieder- 
holt es, die Gerechten erkennen, alle fühlenden Herzen empfinden 
es, alle Helden und Heiligen tun es kund: die Poesie ist nicht nur 
ein Schatten, den unsere Einbildungskraft in ungemessener Ver- 
größerung auf den luftigen Grund des Unmöglichen wirft. Poesie 
und Wirklichkeit, „Dichtung und Wahrheit" sind nimmermehr 
zwei unvereinbare Elemente, die nur nebeneinander hergehen, aber 
sich niemals durchdringen können! Zeugt doch selbst Goethes 
Wort dafür, wenn er von einem zeitgenössischen Dichter sagt: 
„Er lebte dichtend und dichtete lebend." Goethe selbst war viel 



86 V. Chopins Individualität 

zu sehr Dichter, um nicht zu wissen, daß die Poesie ihren Daseins- 
grund und ihre ewige Wahrheit in den schönsten Trieben des mensch- 
lichen Herzens findet. Das eben ist das Geheimnis, das der y,olym- 
pische Greis'* in seinen alten Tagen „hineingeheimniste*' in sein 
mächtiges Faus^edicht, dessen letzte Szene uns zeigt, wie die Poesie, 
durch die Phantasie emporgetragen, sich den Erdball gewinnt, alle 
Gebiete der Geschichte beherrscht und in himmlische Sphären 
zurückkehrt, von Buße und Fürbitte geleitet. 

Wir haben früher einmal an anderer SteUe ausgesprochen: 
„Nicht minder als der Adel verpflichtet das Genieß." Heute möch- 
ten wir sagen: „Mehr noch als der Adel verpflichtet das Genie." 
Denn der Adel ist wie alles, was von Menschen kommt, seiner 
Natur nach unvollkommen; das Genie dagegen würde wie alles 
von Gott Kommende naturgemäß vollkommen sein, wenn nicht 
eben der Mensch es unvollkommen machte. Er allein entstellt es 
und würdigt es herab, seinen Leidenschaften und Illusionen zu Ge- 
fallen. Der Genius hat seine Mission; schon sein Name besagt es, 
der an die himmlischen Wesen gemahnt, die zu Boten der Vor- 
sehung ausersehen sind. Es ist nicht -die Aufgabe des dem Künst- 
ler und Dichter verliehenen Genies, das Wahre zu lehren, das Gute 
zu gebieten. Einer göttlichen Offenbarung allein steht eine s(^che 
Macht zu, und eine edle Philosophie bringt sie dem menschlichen 
Verstand und Gewissen näher. Der Genius der Poesie und Kunst 
hat vielmehr die Mission, die Schönheit der Wahrheit vor der ent- 
zückten und erhobenen Einbildungskraft leuchten zu lassen; durch 
das Schöne zum Guten alle anzuregen, die sich zu jenen hohen Re- 
gionen des sittlichen Lebens hingezogen fühlen, wo die Großmut 
zur Freude, das Opfer zur Lust, der Heldenmut zum Bedürfnis 
wird, wo das Mitleiden an die Stelle der Leidenschaft tritt tmcl die 
Liebe nichts fordert, da sie in sich selbst genug zum Geben findet. 
Kunst und Poesie sind eben die Bundesgenossen der Philosophie, 
und sie sind ihr geradeso unentbehrlich, als der Glanz der Farben 
und die Harmonie der Töne es der vollkommenen Einheit der 
Natur sind. 



^ Über Paganiiii, nach seinem Tode. 



Das Genie ven>fSfchtei 87 

Gleich dem Verkünder des Wahren und göttlich Guten, dem 
Dolmetscher des menschlichen Verstandes und Gewissens, soll auch 
der Vermittler des Schönen in Poesie und Kunst nicht allein durch 
die Werke seines Verstandes und seiner Einbildungskraft, sondern 
auch durch die Taten seines Lebens handein; er soll sein Singen 
und Sagen, sein Denken und Tun in Übereinstimmung bringen. 
Das schuldet er sich selbst, schuldet er seiner Kunst und Muse, 
dafem man seine Poesie nicht eine Truggestalt, seine Kunst nicht 
ein kindisches Spiel heißen soll. Ohne das Beispiel des Künstlers 
und Diehters wird die Majestät der Kunst erniedrigt und verhöhnt, 
die Wahrtfcit der Poesie angezweifelt und verleugnet 

Die kalte Erhabenheit oder Uneigennützigkeit einiger strenger 
Charaktere mag der Bewunderung ruhiger und überlegter Naturen 
gentigen. Leidenschaftlichere, beweglichere Organisationen jedoch, 
denen jedes laue Mittelmaß abgeschmackt dünkt, die die Freuden 
der Ehre oder die um jeden Preis erkaufte Lust eifrig erstreben, 
lassen es nicht bei Beispielen bewenden, deren steifer Form der 
Reiz des rätselhaft Anziehenden so ganz gebricht. Zu jenen anderen 
vielmehr wenden sie den fragenden Blick, die vom siedend heißen 
Quell des Schmerzes getrunken, der am Fuße der Klippen hervor- 
sprudelt, auf denen sich die Seele ihren Horst erbaut. Sie sagen 
sich gern los von den greisenhaften Autoritäten und bestreiten 
deren Kompetenz. Sie klagen sie an, daß sie zugunsten ihrer ver- 
trockneten Ansichten die Welt an sich reißen, daß sie über Wir- 
kungen gebieten wollen, deren Ursachen sie nicht kennen, daß 
sie Gesetze ausrufen in Sphären, die ihnen doch unzugänglich 
sind» Und an denen g^hen sie vorüber, die mit schweijgsamer 
Würde das Gute üben, aber der Begeisterung für das Schöne nicht 
fähig sind. Nimmt sich die heißblütige Jugend wohl Zeit, ihr 
Schweigen zu deuten, ihre Probleme zu lösen? Zu rasch ist der 
Schlag ihres Herzens, um ihr einen tieferen Einblick in die geheim«, 
nisvölten Kämpfe und Leiden, das einsame Ringen zu verstatten, 
die sich zuweilen hinter dem ruhigen BKck des Gerechten verbergen. 
Seme stille Einfalt, sein stoisches Lächeln verstehen diese erregten 
Gemüter kaum. Exaltation, Aufregungen sind ihn^ Bedürfnis. 
E^ Bild überredet, Gleichnisse überzeugen sie, Tränen gelten 



88 V. Chopins Individualität 

ihnen als Beweise. Lieber als ermüdenden Gründen geben sie der 
Sprache der Begeisterung Gehör. So wie sich aber der Sinn für 
Recht und Unrecht nur langsam bei ihnen abstumpft, gehen sie 
auch nicht ungestüm vom einen zum andern über. Sie richten 
ihren neugierigen Blick auf die Dichter und Künstler, deren Bilder- 
reichtum sie hinriß, deren Gestalten und Gedankenschwung sie be- 
wegte und entzückte. Von ihnen begehren sie Aufschluß über die 
Kräfte, die in ihnen wirken. 

In Stunden der Verzweiflung versäumt wohl keiner, die Schatten 
ruhmreicher Verstorbenen anzurufen, um von ihnen zu erfahren, 
ob ihre Bestrebungen immer aufrichtig und dauernd gewesen, um 
zu unterscheiden, was bei ihnen nur Spekulation des Geistes, oder 
was eine stete Gewohnheit ihrer Empfindungen war? Zu solchen 
Stunden taucht auch die Verleumdung, die zu anderen Zeiten 
zurückgewiesen wurde, wieder auf. Gierig bemächtigt sie sich 
der Schwächen, der Fehler und Versäumnisse derer, welche die 
Fehler und Schwächen geißelten — und nicht eine einzige entgeht 
ihrem Scharfblick. Sie reißt ihre Beute an sich und spürt den 
Handlungen nach, um mit scheinbarem Recht die Begeisterung 
verachten zu dürfen, der sie keinen anderen Zweck zugesteht, 
als uns eine angenehme Unterhaltung, eine Zerstreuung für Fein- 
schmecker zu gewähren, wie sie sich die Vornehmen aller Länder 
zu Zeiten einer erhöhten Zivilisation verschaffen. Hartnäckig be- 
streitet sie der Inspiration des Dichters und Künstlers die Macht, 
unser Handeln und Entschließen, unser Wollen und Versagen zu 
beeinflussen. 

Die höhnische, schamlose Verleumdung versteht es trefflich, 
der Geschichte Ernte zu sichten! Das gute Korn läßt sie fallen, 
indes sie die Spreu sorglich sammelt, um sie über die glanzvolle 
Schöpfung des Dichters auszustreuen, aus der das reinste Herzens- 
. verlangen, die edelsten Phantasiegebilde sprechen. Dann fragt 
sie in spöttischer Siegesgewißheit: „Was nützen diese Abschwei- 
fungen in ein Gebiet, auf dem man keine Frucht erntet? Welchen 
Wert haben diese Aufregung, diese Begeisterung, die nur auf Be- 
rechnung des Vorteils hinauslaufen, während sie die eigennützige 
Absicht verdecken? Was ist's um diese reine Saat, der nur die 



Einheit zwischen Denken und Tun des Künstlers. 89 

Hungersnot entkeimt? Was ist's um diese schönen Worte, die nur 
unfruchtbare Gefühle erzeugen? Ein Zeitvertreib für Paläste, 
den Bürgerstand und Hütte teilen, wenngleich nur naive Gemüter 
das Erdichtete für Ernst Aehmen, im gutmütigen Glauben, daß 
Pc^ie zur Wirklichkeit werden könne l" 

Mit welch anmaßendem Spott weiß die Verleumdung dann 
wieder den edlen Aufschwung und die unwürdige Herablassung 
des Dichters, den schönen Gesang und die strafbare Leichtfertig- 
keit des Künstlers hervorzuheben! Wie überlegen blickt sie herab 
auf den löblichen Fleiß der „guten Leute'', die sie wie Schaltiere 
betrachtet, die über die Unbeweglichkeit einer dürftigen Organi- 
sation nicht hinauskommen; nicht minder auf den Stolz der Stoiker, 
die es noch weniger als jene ersten über sich gewinnen, der atem- 
losen Jagd nach dem Glücke mit seinen eitlen Freuden und Augen- 
blicksgenüssen zu entsagen I Wie bevorzugt fühlt sich die Ver- 
leumdung in der logischen Übereinstimmung ihres Strebens und 
Vemeinens! Wie rasch triumphiert sie über das Zaudern, die Un- 
entschiedenheit derer, welche die Gaben der Phantasie, des Geistes 
und Herzens für vereinbar mit einem unbescholtenen Charakter 
und einem Wandel halten, der in seiner makellosen Reinheit nie 
das poetische Ideal verleugnet! 

Wie müßte uns demnach nicht tiefe Traurigkeit überkommen, 
sooft wir den Dichter widerstreben sehen gegen die Eingebungen 
der Musen, die ihm doch so gut lehren könnten, aus seinem Leben 
das schönste seiner Gedichte zi) gestalten? Welch unglückselige 
Zweifelsucht, welche Entmutigung und Glaubensuntreue haben oft 
die Schwächen des Künstlers zur Folge! Wie viele, die an der 
göttlichen Offenbarung, die sie nicht kennen, zweifeln, belächeln 
voll bittrer Verachtung die menschliche Philosophie und wissen 
nicht mehr, woran sie sich halten, an was sie glauben sollen, wenn 
nicht an die Macht des Schönen, nicht an den Genius! 

Und dennoch wäre es Gotteslästerung, wollte man gegen der- 
artige Verirrungen den gleichen Bannstrahl schleudern, der die 
Sklavendemut der Gemeinheit oder die prahlerische Schamlosig- 
keit trifft. Es wäre Gotteslästerung; denn wenn die Tat des Dich- 
ters zuweilen auch seinen Gesang Lügen strafte, hat sein Gesang 



90 V. Chopins Indtvtdualitat 

nicht mehr noch seine Tat beschämt? Vermag sein Werk nicht 
viel entschiedener noch heilsam und tugendförderlich zu wirken 
als seine Handlung vielleicht nachteilig wirkt? Es ist wahr, das 
Böse ist ansteckend; das Gute aber ist fruchtbar! Und wenn audi 
die Zeitgenossen das frevelnde Genie, den durch unrechtmäßig 
erworbenen Luxus befleckten Dichter, den durch seine Taten sein 
Ideal beschimpfenden Künstler verurteilen) die Nachwett vergißt 
diese bösen Könige im Reiche des Gedankens, wie sie den Namen 
des bösen Königs vergaß, der in Uhiands Ballade die geweihte 
Person des Sängers mißkannte. Sie überantwortet ihr Gedächtnis 
dem Hochgericht des Nicht-Seins. Ihre Erlebnisse kennt keiner 
mehr, während ihre erhabenen Werke von Jahrhundert zu Jahr- 
hundert die Seelen erquicken, die nach dem Schönen dürsten. 

Der seinem Glauben abtrünnige Dichter und Künstler ist dem- 
gemäß nimmermehr mit denen zu vergleichen, deren Tod nur die 
schlimme Spur ihrer Laster, nur die Trümmer hinterläßt, die sie 
aufhäuften, als sie, die „den Wind gesäet, den Sturm ernteten''. 
Sie sühnen nicht das vergängliche Unrecht, das sie getan, durch 
einen bleibenden Segen, den sie gestiftet. Ungerecht wäre es also. 
Dichter und Künstler zu schmähen, ohne zuvor auf die schwere 
Schuld derer hinzuweisen, die ihnen erst den Weg dazu bahnten. 
Selbst wenn der Dichter, statt seinen Adlerflug zur Sonne zu 
nehmen, seine Überzeugungen unwürdigen Leidenschaften und 
Vorteilen unterordnet, hat er darum doch nichtsdestoweniger Ge- 
sinnungen verherrlicht, die, auch wenn sie nicht im Einklang mit 
seinem Leben stehen, diesem doch einen ungleich weitertragenden 
Einfluß als seinem Privatleben verleihen. Selbst wenn der Künst- 
ler den Versuchungen einer unreinen oder strafbaren Liei>e tmter- 
liegt, wenn er Wohltaten und Gunstbezeigungen annimmt, die ihn 
beschämen und demütigen, hat er doch nichtsdestoweniger das 
Ideal der Liebe, entsagungsvoller Tugend und unschuldiger Reinheit 
mit einem unsterblichen Glorienschein geschmückt. Seine Schöp- 
fungen überleben ihn. Sie werden die Liebe zum Wahren, das Stre- 
ben zum Guten noch in Tausenden von Seelen verbreiten, nachdem 
die seine anderwärts die hier begangenen Sünden abgebüßt hat 
und sich im Lichte des Guten sonnt^ das sie geträumt, bi Wahrheit, 



Die Kunst ist mächtiger als der Künstler. 91 

mehr Trost und Erhebung haben des Dichters und Künstlers Werke 
gespendet als die SchwaMkungen ihres äußeren Daseins Unheil zu 
wirken vermochten. 

Die Kunst ist mächtiger als der Künstler. Seine Gestalten 
und Helden haben ein von seinem unsteten Willen unabhängiges 
Leben; denn sie sind eine Offenbarung des unwandelbar Schiinen. 
Minder vergänglich als er, gehen sie in unverwelklicher Jugend 
von Geschledit zu Geschlecht über, eine erlösende Kraft für ihren 
Urheber in sich tragend. Wie man jede gute Tat auch eine schöne 
nennen kann, kann man jedes schöne Werk ebensowohl als ein 
gutes bezeichnen. 

Wenn nun leider manche von denen, welche die Taten ihrer 
künstlerischen Begeisterung unsterblich machten, gleichwohl ihre 
Begeisterung erstickten und ihr Ideal mit Füßen traten, so daß ihr 
trauriges Beispiel vielen verderblich ward, so haben sie dagegen 
vielen anderen durch ihr Genie Kräftigung und Ermutigung, 
Stärkung im Wahren und Guten geboten. Nachsicht wäre darum 
ihnen gegenüber wohl nur Gerechtigkeit. Wie schwer aber ist es, 
Gerechtigkeit zu fordern! Wie mißlich ist es, verteidigen zu sollen, 
wo man nur bewtmdem, entschuldigen, wo man nur verehren 
möchte! 

Welche Genugtuung gewährt es daher dem Freund, ein Leben 
ins Gedächtnis zurückzurufen, in dem man keinen verletzenden 
Mißlaut, keinen Nachsicht erheischenden Widerspruch, keinen 
schwer entschuldbaren Irrtum, keine störenden Extreme zu be- 
klagen hat! Wie stolz nennt der Künstler den Namen dessen, 
des Leben bezeugt, daß nicht nur die apathischen Naturen — 
die, keiner Verführung wie keiner Täuschung fähig, sich leicht 
auf die strenge Beobachtung ehrbarer Gesetze beschränken — 
eine Seelengröße zu behaupten imstande sind, welche keinem 
Schicksalsschlage unterliegt und sich in keinem Augenblick des 
Lebens verleugnet! Das eben macht Chopins Andenken nicht 
aHein den Freunden und Künstlern, denen er auf seinem Lebens« 
weg begegnete, doppelt teuer, sondern auch den unbekannten 
Freunden seines Schaffens, wie den Künstlern, die seiner Nachfolge 
Yftrt zu sein trachten. 



92 V. Chopins Individualität 

Nicht in der verstecktesten Falte seines Herzens barg Chopin 
eine Regung, einen Gedanken, die nicht ly^om zartesten Ehrgefühl, 
von der edelsten Harmonie der Empfindungen eingegeben gewesen 
wären. Und doch schien nie eine Natur mehr berufen, sich wunder- 
liche 'Einfälle, plötzliche Sonderbarkeiten, verzeihliche aber uner- 
trägliche Schwächen vergeben zu lassen. Seine Einbildungskraft 
war glühend, sein Empfinden steigerte sich bis zur Heftigkeit — 
seine körperliche Organisation war schwach und kränklich. Wer 
mag die aus solchem Gegensatz entspringenden Leiden ergründen? 
Sie waren sicherlich peinvoll genug, und dennoch trug er sie nie 
zur Schau. Wie ein Heiligtum hütete er sein eigenes Geheimnis 
und verbarg seine Leiden vor aller Blicken unter der undurch- 
dringlichen Heiterkeit einer stolzen Resignation. 

Die Zartheit seines Körpers wie seiner Seele legte ihm das 
weibliche Märtyrertum nie eingestandener Qualen auf und gab 
seinem Schicksal einige weibliche Züge. Durch seine schwache 
Gesundheit vom Kampfplatz gewöhnlicher Tätigkeit ausgeschlossen, 
ohne Neigung, sich dem unnützen Schwärm summender Hornissen 
und Bienen zu einen, die den Überfluß ihrer Kraft vergeuden, 
schuf er sich eine Zelle abseits der gebahnten und betretenen Wege. 
Er vereinfachte sein Leben nach Kräften, so wenig günstig sich 
ihm hierbei die Umstände erwiesen. Seine Empfindungen und 
Eindrücke bildeten für ihn die Ereignisse, die ihm wichtiger und 
bedeutsamer erschienen als die Wechselfälle der Außenwelt. Mit 
den Stunden, die er regelmäßig und beharrlich erteilte, erfüllte 
er gleichsam seine tägliche häusliche Aufgabe, der er mit Gewissen- 
haftigkeit und Befriedigung oblag. Er ergoß sein ganzes Herz 
in seine Tongedichte, wie andere es im Gebet ergießen. Da strömte 
er die zurückgedrängten Gefühle, die unaussprechliche Traurigkeit 
und Bekümmernis aus, die fromme Seelen im stillen Zwiegespräch 
mit ihrem Gotte laut werden lassen. Was jene nur stammeln, 
das künden uns seine Werke: die Geheimnisse der Leidenschaft 
und des Schmerzes, die der Mensch ohne Worte versteht, da es 
ihm nicht gegeben ward, sie mit Worten zu benennen. 

Die Sorgfalt, mit der Chopin das unruhige (den Deutschen 
wohl als unästhetisch geltende) Hin und Her des Lebens, jede über* 



Chopins vornehme, doch widerspruchsvolle Natur. 93 

flüssige Abschweifung und Zersplitterung vermied, hat es mit sich 
gebracht, daß das seine arm an äußeren Ereignissen blieb. In 
unbestimmten Linien erscheint sein Bild, wie von einem Duft um- 
flossen, der sich verflüchtigt, wenn ihn eine indiskrete Hand zu 
fassen vermeint. An keiner hervorragenden Tat, an keiner Knoten- 
schürzung und -lösung hat er sich beteiligt. Auf keine Existenz 
hat er entscheidenden Einfluß geübt. Seine Leidenschaft griff 
nie in anderer Wünsche ein, seines Geistes Herrschaft schädigte 
und unterdrückte niemanden. Den Despotismus des Herzens hat 
er nie geübt, nie die erobernde Hand an ein fremdes Schicksal ge- 
legt: er begehrte nichts, und etwas zu fordern hätte er verschmäht. 
Wie von Tasso konnte man von ihm sagen: 

Brama assai, poco spera, nulla chiede. 
[Viel ersehnt er, wenig hofft er, nichts verlangt er.] 

Aber er entschlüpfte auch allen Verbindungen, allen Freund- 
schaftsverhältnissen und Fesseln, die ihn mit fortzureißen und in 
unruhvollere Kreise zu ziehen drohten. Bereit, alles zu geben, 
gab er sich selbst doch nicht. Vielleicht war er sich bewußt, welch 
rückhaltlose Hingebung und Liebe er verdiene und zu teilen fähig 
sei. Vielleicht dachte er, wie manche hochstrebende Seele, daß Liebe 
und Freundschaft nichts sind, wenn sie nicht alles sind. Wer weiß, 
ob es ihm nicht mehr kostete, sich mit solcher Teilung zu begnügen, 
als es ihm gekostet haben würde, an diesen Gefühlen vorüber- 
zugehen und sie nur in unrealisierbarem Ideale zu kennen 1 War 
dem also, so hat doch keiner sicher darum gewußt; denn er sprach 
kaum von Liebe und Freundschaft. Er war nicht anspruchsvoll, 
gleich jemandem, dessen Rechte und begründete Anforderungen 
alles weit übersteigen würden, was man ihm zu bieten vermöchte. 
In das Allerheiligste seines Herzens drangen selbst seine nächsten 
Bekannten nicht ein und, dem äußeren Leben abgekehrt, verschloß 
er es sorglich vor aller Blicken. 

Im geselligen Verkehr und Gespräch schien er sich nur für das 
zu interessieren, was die anderen beschäftigte; er hütete sich, sie aus 
dem eigenen Kreis in den seinigen hinüberzuziehen. Opferte er 
wenig von seiner Zeit, so gab er die, weiche er opferte, auch ganz 



94 V. Chopins IndividuaHtät. 

und ohne Vorbehalt. Was er geträumt und gewünscht, erstrebt 
und errungen hätte, wenn seine schlanke weiße Hand den goldenen 
Saiten seiner Leier eherne zu vermählen vermocht hätte, darnach 
fragte ihn niemand, niemand behielt ja in seiner Gegenwart Muße, 
daran zu denken. Seine Unterhaltung wandte sich selten auf- 
regenden Gegenständen zu. Et glitt über dieselben hinweg, und 
da er haushälterisch mit seinen Minuten umging, war das GespräcJ» 
leicht durch die Ereignisse des Tages ausgefüllt. Sorglich wehrte 
er namentlich jede Redewendung ab, die ihn zum Gegenstand nehmen 
konnte. Doch forderte seine Individualität die fraglustige oder 
grübelnde Neugier keineswegs heraus. Das Wohlgefallen an ihm 
war ein zu unwillkürliches, als daß es zur Überlegung Zeit ließ. 

Seine ganze persönliche Erscheinung schien in ihrer Harmonie 
keines Kommentars zu bedürfen. Sein blaues Auge war mehr 
geistvoll als träumerisch, sein Lächeln fein und mild, nie bitter. 
Sein Teint war zart und durchsichtig, sein blondes Haar seiden- 
artig, seine gebogene Nase ausdrucksvoll, seine Gestalt von mittlerer 
Größe, sein Gliederbau schwach. Er war von anmutiger Beweg- 
lichkeit. Seine Stimme klang ein wenig gedämpft, oft fast erstickt. 
Seine Haltung trug ein so vornehmes Gepräge, daß man ihn unwill- 
kürlich wie einen Fürsten behandelte. Seine ganze Erscheinung er- 
innerte an die Winde, deren auf zartem Stiel sich wiegender Kekh 
von wunderbarer Farbenpracht, aber von so duftigem Gewebe ist, 
daß es bei der leisesten Berührung zerreißt. 

Im Verkehr mit der Welt bewahrte er eine Gleichmäßigkeit der 
Stimmung, die sich durch keinen Verdruß stören läßt, da sie sich 
auf keinen Wunsch, keine Erwartung stützt. Meist war er heiter. 
Rasch entdeckte sein scharfer Verstand das Lächerliche, auch wo 
es keineswegs allen Augen sichtbar auf der Oberfläche lag. Im 
Gebärdenspiel entfaltete er eine nicht leicht zu erschöpfende spaß- 
hafte Laune. Er vergnügte sich oft damit, in scherzhaften Im- 
provisationen die musikalischen Formeln und eigentümlichen Ge- 
wohnheiten gewisser Virtuosen wiederzugeben, ihre Bewegungen 
und Gebärden, wie ihren Gesichtsausdruck mit einer Geschicküdi- 
keit nachzuahmen, die at^enblicklich die ganze Persönlichkeit 
vergegenwärtigte. Seine Züge wurden dann völlig unkenntlich, 



Chopins persönliche Ersäfiefaiung, seine Verkehrsweise. 95 

$0 fremdartig wu&te er sie umzuwandeln. Aber selbst wenn er 
das HäfiJiche und Oroteske darstellte, verlor er nicht seine natür- 
liche Anmut; selbst der Grimasse gelang es nicht, ihn unschön er- 
scheinen zu lassen. Seine Heiterkeit war um so pikanter, als er sie 
stets innerhalb der maß- und taktvollsten Grenzen hielt. Ein un- 
passendes Wort, eine T^Uctlosigkeit erachtete er selbst im ver- 
trauten Kreis für anstößig. 

Schon in seiner Eigenschaft als Pole war Chopin nicht ohne 
Malice. Sein beständiger Umgang mit Berlioz, Hiller und anderen 
nicht weniger schlagfertigen und sarkastischen Berühmtheiten der 
Zeit verfehlte nicht, seine schneidenden Bemerkungen, seine iro- 
nischen und dopf^lsinnigen Antworten noch mehr zu verschärfen. 
Beißende Entgegnungen hatte er unter anderem für solche bereit, 
die sein Talent in indiskreter Weise auszubeuten suchten. So er- 
zählte sich ganz Paris eines Tages die Abfertigung, die er einem 
übelberatenen Gastgeber zuteil werden ließ, als dieser ihm, nach- 
dem man den Speisesaal verlassen, ein geöffnetes Klavier zeigte. 
Für sein voreiliges Versfprechen, seinen Gästen das seltene Dessert 
einiger von Chopin ausgeführter Musikstücke vorzusetzen, mußte 
er erfahren, daß er die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatte. 
CMspin schlug es erst ab; des unbescheidenen Drängens müde 
aber sagte er endlich mit fast erstickter Stimme, wie um die Wir- 
\amg seiner Worte noch zu verstärken: „Ach, mein Herr, ich habe 
ja kaum etwas gegessenl'' — Gleichwohl war diese Art Schlag- 
fertigkeit bei ihm mehr angeeignet als angeboren. Er verstand 
das Rappier und den Degen zu führen, anzugreifen und zu parieren. 
Hatte er seinem Gegner aber die Waffe entwunden, so warf er Hand- 
schuh und Visier hinweg und dachte nicht weiter daran. 

Dadurch, daß er das Gespräch von seiner eigenen Person ein 
für allemal abwandte und über sein Empfinden unverbrüchliches 
Schweigen beobachtete, gelang es ihm stets, den der vornehmen 
Meoige 80 willkommenen Eindruck einer Persönlichkeit zu hinter- 
lassen, die uns unwiderstehlich anzi^t, ohne daß wir hinter ihren 
Lichtseiten dunkle Schatten, im Gefolge ihrer liebenswürdigen 
Heiterkeit unbequeme Schmerzensausbrüche befürchten müßten 
-* eme Reaktion, wie sie bei jenen Naturen unvermeidlich ist. 



96 V. Chopins Individualität 



von denen das Wort gilt: Ubi mel, ibi fei [Wo Honig ist, ist Galle]. 
Obgleich die Welt dem eine derartige Reaktion verursachenden 
Schmerz eine gewisse Ehrerbietung nicht versagen kann, obgleich 
er sogar den Reiz des Unbekannten auf sie übt und ihr eine Art 
Bewunderung abfordert, hält sie sich ihn doch lieber fem. Sie 
flieht seine ruhefeindliche Nähe und legt zwar bei seiner Erwähnung 
tiefe Rührung an den Tag, kehrt aber seinem Anblick den Rücken. 
Chopins Gegenwart war daher jederzeit hochwillkommen. In dem 
Wunsch, unerraten zu bleiben, jede Mitteilung über sein Jch 
verschmähend, beschäftigte er die Gesellschaft mit allem, nur nicht 
mit sich selbst; so daß seine innere Persönlichkeit unberührt und 
unter ihrer glatten Außenseite, die bei aller Höflichkeit keine An- 
näherung gestattete, unzugänglich blieb. 

Ob auch selten, gab es doch Augenblicke, wo wir ihn in tiefer 
Bewegung überraschten. Wir sahen, wie er sich bis zur Leichen- 
blässe entfärbte. Selbst in der tiefsten Erregtheit blieb er jedoch 
gefaßt. Mit keinem Wort, wie es seine Gewohnheit war, verriet 
er, was in ihm stürmte. Rasch gesammelt, verbarg er sofort das 
verratene Geheimnis des ersten Eindruckes. Seine unmittelbar 
darauf folgenden Bewegungen schon — eine so anmutige Natür- 
lichkeit er denselben auch zu geben verstand — waren das Ergebnis 
einer Reflexion, deren energischer Wille den Widerstreit zwischen 
moralischer Gewalt und physischer Schwäche beherrschte. Diese 
seiner inneren Heftigkeit beständig gebietende Herrschaft er- 
innerte an die melancholische Überlegenheit mancher Frauen, 
die ihre Kraft in der Zurückhaltung und Isolierung suchen, da 
sie die Unfruchtbarkeit ihrer Zomesausbrüche kennen und das 
Geheimnis ihrer Leidenschaft zu eifersüchtig hüten, um es ohne 
Not preiszugeben. 

Chopin war großmütig im Verzeihen. Kein Groll gegen den, 
der ihn beleidigt hatte, blieb in seinem Herzen zurück. Wie aber 
derartige Kränkimgen ihm tief in die Seele schnitten, gärten sie in 
unbestimmten Schmerzen und Qualen in ihm fort, so daß, auch 
wenn er des Anlasses längst nicht mehr gedachte, er noch die ver- 
borgene Wunde fühlte. Dessenungeachtet gelangte er, kraft des 
Zwanges, den er seinem Empfinden in strenger Pflichtübung auf- 



Chopins Selbstbeherrschung, seine Religiosität. 97 

erlegte, selbst dahin, für die Dienste einer mehr wohlwollenden 
als feinfühligen Freundschaft dankbar zu sein, auch wenn dieselbe 
ihn im stillen verletzte. Gerade die Kränkungen der Taktlosigkeit 
sind am schwersten für nervöse Naturen zu ertragen, die durch be- 
ständige Unterdrückung ihrer Gefühlsregungen einer Reizbarkeit 
verfallen, welche, obgleich sie sich nie gegen die wahren Motive 
richtet, doch mit Unrecht für eine unmotivierte gelten würde. Die 
Linie der feinen Sitte nur um eines Schrittes Breite zu überschreiten, 
war eine Versuchung, die Chopin, wie es scheint, nicht kannte, 
und sorglich hütete er sich, gegenüber stärkeren, barscheren Na- 
turen als die seine, das Mißbehagen spüren zu lassen, das ihm die 
Berührung mit ihnen verursachte. 

Seine Zurückhaltung im Gespräch erstreckte sich auf alle Gegen- 
stände, an die sich der Fanatismus der Meinungen heftet. Einzig 
daraus, daß er sie nicht in den engen Kreis seiner Wirksamkeit 
zog, konnte man seine Ansicht über eine Sache folgern. Auf- 
richtig religiös und dem Katholizismus ergeben, berührte Chopin 
doch nie diese Dinge; er behielt seinen Glauben für sich, ohne ihn 
nach außen zur Schau zu tragen. Man konnte lange mit ihm be- 
kannt sein und doch von seinen Ansichten in dieser Beziehung 
keine genaue Vorstellung haben. Es ist selbstredend, daß er in 
den Kreisen, in die er durch seine näheren Bekannten allmählich 
hineingezogen wurde, darauf verzichten mußte, die Kirche zu be- 
suchen, mit der Geistlichkeit zu verkehren, kurz seinem religiösen 
Drange zu genügen, wie dies in seinem Vaterlande üblich ist, wo 
jeder anständige Mensch erröten und es als ärgste Beleidigung be- 
trachten würde, wenn man ihn für einen schlechten Katholiken 
hielte oder von ihm sagte, daß er nicht als guter Christ handle. 
Andererseits ist es natürlich, daß, wenn man sich häufig und lange 
der religiösen Gebräuche enthält, man denselben notwendig endlich 
mehr oder weniger entfremdet. Obgleich er nun, um seinen neuen 
Bekannten durch Begegnung mit einer Soutane in seinem Hause 
kein Ärgernis zu bereiten, seinen Verkehr mit den in Paris lebenden 
polnischen Geistlichen einstellte, hörten diese doch nie auf, in ihm 
einen ihrer edelsten Landsleute zu verehren und durch ihre ge- 
meinsamen Freunde Kunde von ihm zu empfangen. 

Liszt, Gesammelte Schriften L VA 7 



98 V. Chopins Individualität. 

Sein Patriotismus bezeugte sich in der Richtung seines Talentes, 
in der Wahl seiner Freunde, der Vorliebe für seine polnischen 
Schüler, in den häufigen und wichtigen Diensten, die er seinen Lands- 
leuten erwies. Wir erinnern uns jedoch nicht, daß er je Vergnügen 
daran gefunden hätte, seine patriotischen Gefühle auszusprechen, 
von Polen, seiner Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft des 
längeren zu reden oder historische Fragen, die sich daran knüpften, 
zu berühren. 

Unterhielt er sich ja zuweilen über die in Frankreich so viel- 
fach erörterten Ereignisse, über die ebenso lebhaft angegriffenen 
als warm verteidigten Meinungen und Ideen, so geschah dies mehr, 
um das ihm daran falsch und irrig Erscheinende zu bezeichnen, 
als um eine eigene Ansicht geltend zu machen. Zu mehreren der 
hervorragendsten Fortschrittsmänner unserer Tage in fortgesetzte 
Beziehung gebracht, ging er im Verkehr mit denselben, trotz der 
Übereinstimmung ihrer Ideen, nicht über eine wohlwollende Gleich- 
gültigkeit hinaus. Oft genug ließ er sie stundenlang untereinander 
das Wort führen und sich erhitzen, indes er dabei im Zimmer auf 
und ab spazierte, ohne nur die Lippen zu öffnen. Manchmal wur- 
den seine Schritte ungleichmäßig; doch achtete niemand darauf 
als die minder vertrauten Gäste dieses Kreises. Sie beobachteten 
auch, wie er beim Anhören gewisser Ungeheuerlichkeiten nervös 
zusammenzuckte. Seine Freunde aber erstaunten, wenn man ihnen 
davon sprach. Sie bemerkten nicht, daß er nur neben, aber nicht 
mit ihnen lebte und ihnen weder etwas von seinem „besseren Ich'* 
gab, noch auch immer das annahm, was man ihm gegeben zu haben 
meinte. 

Wir sahen ihn oft inmitten der lebhaftesten Gespräche in Schwei- 
gen versunken. Die Aufregung der Redenden ließ diese seine An- 
wesenheit vergessen. Wir aber verloren häufig den Faden ihrer 
Auseinandersetzungen, um unsere Aufmerksamkeit seinem Antlitz 
zuzuwenden. Unmerkbar verzog und umdüsterte es sich, wenn 
Gegenstände, welche die ersten Bedingungen der sozialen Existenz 
betreffen, vor ihm mit einem energischen Eifer verhandelt wurden, 
als hinge die augenblickliche Entscheidung unseres Schicksals, Tod 
und Leben davon ab. Hörte er Unvernünftiges so ernsthaft 



Chopins Vaterlandsliebe, seine politische Haltung. 99 

besprechen, leere und falsche Argumente so unerschütterlich vor- 
bringen, so schien er körperlich zu leiden, als habe er eine Folge 
von Dissonanzen, eine musikalische Kakophonie gehört. Zu andern 
Malen auch ward er traurig und träumerisch. Dann erschien er 
wohl wie ein Reisender am Bord eines Schiffes, das der Sturm 
auf hoher See dahintreibt. Horizont und Sterne betrachtend, 
vom fernen Vaterlande träumend, folgt er den Bewegungen der 
Matrosen; er gewahrt ihre Fehlgriffe, aber er schweigt, da ihm 
die Kraft gebricht, mit eigner Hand in die Taue des Segelwerks 
einzugreifen. 

Sein feiner Verstand hatte ihn bald von der Unfruchtbarkeit 
der meisten politischen, philosophischen und religiösen Reden und 
Erörterungen überzeugt. So gelangte er frühzeitig dahin, die 
Lieblingsmaxime eines ausgezeichneten Mannes auszuüben, die 
wir, als Ergebnis der misanthropischen Weisheit seines Alters, 
häufig von ihm aussprechen hörten, und die, während sie damals 
unsere Unerfahrenheit in Staunen setzte, uns späterhin durch ihre 
traurige Wahrheit überrascht hat. „Sie werden sich eines Tages 
gleich mir überzeugen, daß es kaum möglich ist, über irgend etwas 
mit irgend jemandem zu reden'', pflegte der Marquis Jules de 
Noailles den jungen Leuten, die er mit seinem Wohlwollen beehrte, 
zuzurufen, wenn sie sich in naiven Meinungskämpfen zu allzu- 
großem Eifer hinreißen ließen. II mondo va da se! [Die Welt 
geht von selbst] schien Chopin zu sich selber zu sagen, sooft er die 
vorübergehende Neigung, ein Wort in den Streit hineinzuwerfen, 
unterdrückte. 

Die Demokratie stellte sich seinen Augen als ein Gemisch zu 
verschiedenartiger, unruhiger und wilder Elemente dar, um ihm 
sympathisch zu sein. Zwei Jahrzehnte früher bereits hatte man 
das Auftauchen der sozialen Fragen einem neuen Barbareneinfall 
verglichen. Chopin ward besonders peinlich von diesem ihn er- 
schreckenden Vergleich getroffen. Er sah von den modernen Hun- 
nen und ihren Attilas nicht das Heil Roms und das mit diesem 
zusammenhängende Heil Europas kommen. Er gab sich nicht der 
Hoffnung hin, daß unter ihren Zerstörungen und Verwüstungen 
die zur europäischen gewordene christliche Zivilisation erhalten- 

7* 



100 V. Chopins Individualität. 

bleiben werde. Er verzweifelte daran, daß vor ihren Verheerungen 
die Kunst mit ihren Denkmälern, die Möglichkeit Jenes verfeinerten 
Lebens zu retten sei, das Horaz besingt. Aus der Feme verfolgte 
er die Ereignisse, und eine Schärfe des Blicks, die man ihm kaum 
zugetraut hätte, ließ ihn oftmals Dinge voraussagen, die selbst 
Besserunterrichteten unerwartet kamen. Entschlüpften ihm Be- 
merkungen dieser Art, so pflegte er dieselben doch nicht weiter 
auszuführen. Erst nachdem sie ihre tatsächliche Bestätigung er- 
fahren, ward man auf sie aufmerksam. 

In einem einzigen Falle nur wich Chopin von seiner vorsätzlichen 
Schweigsamkeit und Neutralität ab. In Sachen der Kunst ent- 
sagte er der gewohnten Zurückhaltung; hier gab er unter allen 
Umständen sein Urteil klar und bündig kund, machte er seinen 
Einfluß und seine Überzeugung geltend. Es war gleichsam ein 
stummes Zeugnis seiner großen Künstlerautorität, deren er sich 
in diesen Fragen vollbewußt war. Indem er den letzteren durch 
seine Kompetenz zu erhöhtem Ansehen verhalf, ließ er über seine 
Auffassungsweise derselben niemals in Zweifel. Mehrere Jahre 
hindurch legte er bei Verteidigung seiner Sache einen leidenschaft- 
lichen Eifer an den Tag. Es war dies zur Zeit des auf beiden Seiten 
mit gleicher Lebhaftigkeit geführten Kampfes zwischen der roman- 
tischen und klassischen Richtung. Offen gesellte er sich den Ver- 
tretern der ersteren bei, ob er auch nichtsdestoweniger den Namen 
Mozarts auf seine Fahne schrieb. Gewohnt, sich mehr an den 
Grund der Dinge als an Worte und Namen zu halten, genügte es 
ihm, in dem unsterblichen Schöpfer des Requiem, der Jupiter* 
Symphonie und anderer großer Werke die Grundlagen, Keime und 
Anfänge aller der von ihm selbst reichlich gebrauchten Freiheiten 
zu erkennen, um in ihm einen der ersten zu ehren, die seiner Kunst 
neue Gesichtskreise eröffneten. Erweiterte er dieselben doch selbst 
durch Entdeckungen, die die alte Welt mit einer neuen bereicherten. 

Im Jahre 1832, kurz nach seiner Ankunft in Paris, bildete sich 
in der Musik wie in der Literatur eine neue Schule, und junge 
Talente traten hervor, die in aufsehenerregender Weise das Joch 
der alten Formen abschüttelten. Kaum war die politische Gärung 
der ersten Jahre nach der Julirevolution gedämpft, als sie sich 



Chopin und die Romantik. 101 

mit all£r Macht auf die Fragen der Literatur und Kunst übertrug, 
die sich der Aufmerksamkeit und Teilnahme aller bemächtigten. 
Die Romantik war an der Tagesordnung, und mit Erbitterung 
wurde der Kampf für oder wider dieselbe geführt. Da gab es keinen 
Waffenstillstand zwischen denen, die keine andere Schaffensweise 
als die bisher übliche zulässig fanden, und jenen anderen, die be- 
züglich der Wahl der seiner Idee anzupassenden Form volle Frei- 
heit für den Künstler forderten, von der Meinung ausgehend, 
daß, wenn das Gesetz der Form in deren Übereinstimmung mit 
dem auszudrückenden Gefühl zu finden sei, jede verschiedene 
Oefühlsweise auch notwendig eine verschiedene Ausdrucksweise 
bedinge. 

Die einen, die an die Existenz einer unwandelbaren Form, die 
in ihrer Vollkommenheit das absolut Schöne repräsentiert, glaubten, 
beurteilten jedes Werk aus diesem voreingenommenen Gesichts- 
punkt. Mit der Behauptung, daß die großen Meister bereits die 
äußersten Grenzen der Kunst und deren höchste Vollendung erreicht 
hätten, ließen sie den ihnen nachfolgenden Künstlern keine andere 
Ruhmesaussicht übrig, als sich durch Nachahmung jenen mehr 
oder minder zu nähern. Selbst um die Hoffnung, ihnen ebenbürtig 
zu werden, betrog man sie; da die Vervollkommnung eines Stils 
doch nimmer dem Verdienst der Erfindung gleichkommen kann. 
Die anderen dagegen stellten in Abrede, daß dem Schönen eine 
feste und absolute Form beizumessen sei. Die verschiedenen in 
der Geschichte der Kunst auftretenden Stile erschienen ihnen wie 
Zelte, die man auf dem Weg zum Ideal errichtete: zeitweilige 
Ruhepunkte, die das Genie von Epoche zu Epoche erreicht, und 
die seine Erben bis zur letzten Konsequenz ausnutzen, die aber 
seine rechtmäßigen Nachkommen zu überspringen berufen sind. 
Die einen wollten die Erzeugnisse der verschiedensten Zeiten und 
Naturen in den gleichen symmetrischen Raum einzwängen. Die 
anderen begehrten für jede derselben das Recht, sich ihre eigene 
Sprache und Ausdrucksweise zu schaffen. Einzig nur der Regel 
mochten sie sich unterwerfen, die sich aus der unmittelbaren Wech- 
selbeziehung zwischen Idee und Form ergibt und die Gemäßheit 
bdder gebietet. 



102 V. Chopins Individualität 

So bewundernswert die vorhandenen Muster auch sind und 
sein mögen, den hellsehenden Augen Chopins schien es doch, als 
ob in ihnen weder alle Empfindungen, denen die Kunst ihr ver- 
klärendes Leben zu verleihen vermag, noch alle Formen, über die 
sie verfügt, erschöpft seien. Nicht bei der Vortrefflichkeit der Form 
an sich verweilte er. Er erstrebte sie nur insoweit, als ihre tadel- 
lose Gestaltung für die vollkommene Offenbarung des Gefühls- 
inhaltes unentbehrlich ist; denn er wußte, daß dieser letztere 
nur mangelhaft zum Ausdruck gelangt, wenn eine unvollkommene 
Form, gleich undurchsichtigem Schleier, seine Ausstrahlung auf- 
fängt. Der poetischen Inspiration ordnete er die Arbeit des Hand- 
werks unter, indem er dem Genie die mühereiche Aufgabe stellte, 
selbstschöpferisch eine Form zu bilden, die den Erfordernissen 
des auszusprechenden Gefühls genügt. Seinen klassischen Gegnern 
aber machte er den Vorwurf, daß sie die Begeisterung in ein Pro- 
krustesbett zwängen, wenn sie nicht zugestehen, daß gewisse Ge-> 
danken und Empfindungen innerhalb gewisser vorausbestimmter 
Formen unausdrückbar sind. Er klagte sie an, daß sie die Kunst 
somit von vornherein aller der Werke berauben, welche ihr neue 
Ideen in Gestalt neuer Formen zugeführt haben würden, wie solche 
sich aus der immer fortschreitenden Entwickelung des Menschen- 
geistes, der seinen Gedanken verbreitenden Mittel, der materiellen 
Hilfsquellen der Kunst ergeben. 

Chopin wollte ebensowenig, daß man mit dem griechischen 
Giebel auch den gotischen Turm niederreiße, oder zugunsten der 
phantastischen maurischen Bauten die reine Grazie italienischer 
Architektur zerstöre, als er an Stelle der Birke die Palme, statt der 
tropischen Agave die nordische Lärche zu setzen wünschte. Er 
behauptete, den „Ilyssus" des Phidias und Michel Angelos „Pen- 
sieroso", ein „Sakrament" Poussins und den „Danteskischen Nachen" 
von Delacroix, Palestrinas „ Improperien" und die „Königin Mab" 
von Berlioz unbeeinträchtigt nebeneinander genießen zu können. 
Für alles Schöne forderte er das Daseinsrecht, und den Reichtum 
der Mannigfaltigkeit bewunderte er nicht minder als die Vollkommen- 
heit der Einheit. Von Sophokles und Shakespeare, Homer und 
Firdusi, Racine und Goethe verlangte er gleicherweise die Moti- 



Chopin als Fortschrittler. 103 

Vierung ihres Daseins aus der Schönheit ihrer Form, der Erhaben- 
heit ihrer Idee. 

Diejenigen, die das alte, wurmstichige Formengerüst von den 
Flammen des Talents unmerklich verzehrt sahen, schlössen sich der 
musikalischen Schule an, deren begabtester und kühnster Reprä- 
sentant Berlioz war. Chopin verband sich derselben rückhaltlos 
und zählte zu denen, die sich am beharrlichsten der sklavischen 
Herrschaft des konventionellen Stils, wie dem Charlatanismus 
entzogen, der an Stelle der alten Mißbräuche nur neue, noch lästigere 
setzt; — oder wäre die Extravaganz nicht unerträglicher noch als 
die Monotonie? Fields Nocturnes, Dusseks Sonaten, Kalkbrenners 
lärmende und äußerliche Virtuosenstücke dünkten ihm unzu- 
länglich und antipathisch; er konnte sich weder von der blumigen, 
zierlichen Weise der einen angezogen finden, noch die wirre Art 
der anderen gutheißen. 

Solange der sich über mehrere Jahre erstreckende Feldzug 
des Romantismus währte, aus dem statt bloßer Versuche Meister- 
taten hervorgingen, blieb Chopin in seiner Vorliebe wie in seiner 
Abneigung unveränderlich. Ohne Verlangen, die Kunst zugunsten 
des Handwerks auszubeuten, ohne Streben nach billigen, der Über- 
raschung der Zuhörer abgewonnenen Effekten und Erfolgen, be- 
zeigte er sich unnachsichtig gegen die, die seiner Ansicht nach den 
Fortschritt nicht genügend vertraten, ihm nicht aufrichtig genug 
anhingen. Er zerriß selbst ihm werte Bande, wenn er sich durch 
sie in seiner Bewegung behindert fühlte und sie als alt und morsch 
geworden erkannte. Andrerseits weigerte er sich entschieden, 
mit jungen Leuten Beziehungen anzuknüpfen, deren nach seiner 
Meinung übertriebener Erfolg ihr zweifelhaftes Verdienst zu sehr 
in den Vordergrund stellte. Nicht das leiseste Lob brachte er über 
die Lippen, wenn er sich nicht einer wirklichen Errungenschaft 
für die Kunst, einem ernsten Erfassen der Aufgabe des Künstlers 
gegenüber sah. 

In seiner Uneigennützigkeit lag seine Stärke; sie bildete eine 
Art von Festung um ihn. Denn da er die Kunst nur um der Kunst 
willen wollte, wie man das Gute um des Guten willen erstrebt, 
war er unverwundbar und somit unerschütterlich. Weder von den 



104 V. Chopins Individualitat. 

einen noch von den anderen mochte er gepriesen sein oder jene 
heimlichen Rücksichten und Konzessionen geübt sehen, weiche die 
verschiedenen Schulen sich in ihren leitenden Persönlichkeiten an- 
gedeihen zu lassen pflegen. Führen dieselben doch, inmitten der 
Rivalitäten, der Ein- und Übergriffe der verschiedenen Stile in 
den verschiedenen Kunstzweigen, Unterhandlungen und Vergleiche 
herbei, die, ebenso wie die davon unzertrennlichen Kunstgriffe 
und Überlistungen, an die Art der Diplomaten erinnern. Indem 
er es verschmähte, für die günstige Aufnahme seiner Schöpfungen 
irgend welche äußere Hilfe in Anspruch zu nehmen, gab er deutlich 
kund, daß er ihrem Werte hinlänglich vertraue, um sicher zu sein, 
daß sie sich selbständig Geltung verschaffen würden. Es lag ihm 
wenig daran, ihre unmittelbare Anerkennung zu erleichtem und zu 
beschleunigen. 

Gleichwohl war Chopin so innerst und ganz von den Empfin- 
dungen durchdrungen, die er ausschließlich der Kunst anzuver- 
trauen liebte, und deren verehrungswürdigste Typen er in seiner 
Jugend gekannt zu haben glaubte; er betrachtete die Kunst so un- 
veränderlich aus einem und demselben Gesichtspunkte, daß seine 
künstlerischen Neigungen notwendig davon beeinflußt werden 
mußten. In den großen Vorbildern und Meisterwerken der Kunst 
fragte er einzig nach dem, was seiner Natur entsprach. Was sich 
derselben näherte, gefiel ihm; dem aber, was ihr ferner lag, ließ er 
kaum Gerechtigkeit widerfahren. Die oft unvereinbaren Gegen- 
sätze von Leidenschaft und Anmut in seiner Person wie in seinem 
Schaffen vereinend, besaß er eine große Sicherheit des Urteils und 
hütete sich vor kleinlicher Parteilichkeit. Doch selbst die größten 
Schönheiten und Verdienste fesselten ihn nicht, sobald. sie die eine 
oder andere Seite seiner poetischen Auffassung verletzten. So 
große Bewunderung er auch für Beethovens Werke hegte, einzelne 
Teile derselben dünkten ihm zu massig gestaltet. Ihr Bau war 
zu athletisch, ihr Donnergrollen zu elementar für seinen Geschmack. 
Die Leidenschaft schien ihm eine zu aufwühlende, alles überflutende. 
Die Löwenklaue, die jede seiner musikalischen Phrasen kenn- 
zeichnet, war ihm zu wuchtig, und die seraphischen Töne, die in- 
mitten der mächtigen Schöpfungen dieses Genies auftauchen, 



Chopins Urteil über Beethoven, Schubert. 105 

berührten ihn zufolge des schneidenden Kontrastes zeitweise nahe- 
zu peinlich. 

Ungeachtet des Zaubers, den er einigen Schubertschen Gesängen 
zuerkannte, hörte er doch jene nicht gern, deren Umrisse seinem 
Ohr zu scharf dünkten, wo das Gefühl sich gleichsam entblößt 
zeigt und man sozusagen den körperlichen Ausdruck des Schmerzes 
fühlt. Alles Harte, Wilde flößte ihm Abneigung ein. In der Musik, 
wie in der Literatur und im Leben, war ihm alles, was an das Melo- 
drama erinnert, ein Greuel. Die wahnwitzigen Ausschreitungen 
des Romantismus waren ihm zuwider; Überraschungen durch 
sinnlose Effekte und Exzesse däuchten ihm unerträglich. „Er liebte 
Shakespeare nur mit starken Einschränkungen» Seine Charaktere 
fand er zu sehr dem Leben abgelauscht, die Sprache, die sie redeten, 
zu wahr; er zog die epischen und lyrischen Synthesen vor, die die 
armseligen Kleinlichkeiten der Menschheit im Schatten lassen. 
Darum auch sprach er wenig und hörte selten aufmerksam zu, da 
er nur dann seine Gedanken in Worte fassen oder die anderer auf- 
nehmen mochte, wenn sie auf eine gewisse Bedeutung Anspruch 
erheben konnten i." 

Diese sich selbst so vollkommen bemeisternde, so zart zurück- 
haltende Natur, die für den poetischen Reiz des nur halb Ausge- 
sprochenen so empfänglich war, konnte gegenüber einer gewissen 
Unkeuschheit des Empfindens, die nichts zu erraten, nichts zu er- 
gänzen übrigläßt, nur Mißbehagen fühlen. Hätte er sich in diesem 
Punkte geäußert, so würde er, glauben wir, bekannt haben, daß 
nach seinem Dafürhalten Gefühle nur so weit zum Ausdruck kommen 
dürfen, daß ihr bester Teil zu erraten bleibt. Wenn das, was man 
in der Kunst als „klassisch'* zu bezeichnen pflegt, ihm zu metho- 
dische Beschränkungen aufzuerlegen schien, wenn er sich weigerte, 
sich durch Fesseln binden und sein Empfinden durch ein konven- 
tionelles System gleichsam vereisen zu lassen, wenn er nicht in einen 
symmetrischen Käfig eingesperrt sein mochte, so geschah es, weil 
er sich aufwärts zu den Wolken schwang, um dort, dem Himmel 
näher, wie die Lerche aus votler Brust zu singen und nie aus reineren 



^George Sand, Lucrczia Ftoriani» 



106 V. Chopins Individualität. 

Höhen hemiedersteigen zu müssen. Dem Paradiesvogel gleich, 
von dem man ehemals behauptete, daß er nur mit ausgebreiteten 
Flügeln, vom Hauch der Lüfte gewiegt, im blauen Äthermeer 
schlummere, wollte auch er nur in höheren Regionen schwebend 
der Ruhe genießen. Weder in die von tierischen Lauten erfüllten 
Höhlen des Waldes begehrte er einzudringen, noch die schreckens- 
reichen Wüsten zu durchforschen und Wege daselbst zu bahnen, 
die ein treuloser Wind hinter den Schritten des verwegenen Pfad- 
finders spottend verweht. 

Alles, was in der italienischen Musik so natürlich und lichtvoll, 
so frei von künstlicher Mache und gelehrtem Apparat erscheint, 
alles, was in der deutschen Kunst den Stempel einer populären, 
wenn auch mächtigen Energie trägt, behagte ihm gleich wenig. 
In bezug auf Schubert äußerte er eines Tages: „das Erhabene werde 
verdunkelt, wenn das Gemeine oder Triviale ihm folge". Unter 
den Klavierkomponisten gehörte Hummel zu denen, mit deren 
Werken er sich am liebsten beschäftigte. Sein Ideal, der Dichter 
par excellence, war ihm Mozart; denn seltener als irgend einer ließ 
er sich herab, die Linie zu überschreiten, welche die Vornehmheit 
von der Flachheit trennt. Gerade das liebte er an Mozart, was die- 
sem nach einer Vorstellung des „Idomeneo" den Tadel seines Vaters 
zuzog: „Du hast unrecht, daß du nichts für die Langohren hinein- 
gebracht!" An der Heiterkeit Papagenos entzündete sich die seine; 
Taminos Liebe und die geheimnisvollen Proben, auf die sie gestellt 
wird, schienen ihm seiner Teilnahme würdig; Zerline und Masetto 
vergnügten ihn durch ihre raffinierte Naivität. Donna Annas 
Rache war ihm verständlich, da sie ihre Trauer mit noch dich- 
terem Schleier umhüllt. Daneben ging sein Purismus, seine Emp- 
findlichkeit gegen Gemeinplätze so weit, daß er selbst im „Don 
Juan", diesem unsterblichen Meisterwerk, Stellen entdeckte, deren 
Vorhandensein er uns gegenüber beklagte. Seine Verehrung für 
Moeart wurde dadurch nicht vermindert, sie erschien nur gleich- 
sam getrübt. Er konnte, was ihn abstieß, wohl vergessen; sich 
damit auszusöhnen aber war ihm unmöglich. Unterlag er hierin 
nicht der unversöhnlichen Macht eines Instinktes, der keine Über- 
redung, keine Beweisführung, jemals auch nur die Nachsicht der 



Chopin über die Italiener, über Hummel, Mozart 107 

Gleichgültiglceit für etwas abzugewinnen vermochte, was ihm 
antipathisch war und eine an Idiosynl^rasie grenzende Abneigung 
in ihm erregte? 

c. Unseren Versuchen, unseren damals noch unsicheren, an Irrungen 
und Übertreibungen reichen Kämpfen, die mehr „kopfschütteln- 
den Weisen'' als ruhmvollen Gegnern begegneten, gab Chopin die 
Stütze einer seltenen Überzeugungsfestigkeit, eines unerschütter- 
lich ruhigen Verhaltens, einer gegen Lässigkeit wie gegen Ver«- 
lockung gleicherweise gewappneten Charakterstärke, wie den wirk- 
samen Nachdruck seiner unsere Sache vertretenden hochbedeuten- 
den Werke. Die Kühnheiten Chopins traten mit so viel Reiz, 
Maß und Wissen auf, daß das Vertrauen auf sein einziges Genie 
durch die unmittelbare Bewunderung, die er erregte, gerechtfertigt 
schien. Die soliden Studien und ernsten Gewohnheiten seiner 
Jugend, der Kultus für das klassisch Schöne, in dem er erzogen 
worden, bewahrten ihn davor, seine Kraft an unglücklichen und 
halben Versuchen zu vergeuden, wie sich deren mehr als ein Ver- 
treter der neuen Ideen schuldig gemacht hat. 

Der ausdauernde Fleiß, den er auf Ausarbeitung und Voll- 
endung seiner Kompositionen verwandte, schützte ihn vor einer 
unbilligen Kritik, die die Meinungsverschiedenheit böswillig ver- 
schärft, indem sie kleine Nachlässigkeits- und Unterlassungssünden 
2u ihrem Vorteil ausnutzt und damit leichte Siege erringt. Früh- 
zeitig an Gesetz und Regel gewöhnt, sich selbst in mancher seiner 
schönen Schöpfungen streng an dieselben bindend, streifte er sie 
doch zur rechten Zeit mit weise erwogener Berechtigung ab. Seinen 
Prinzipien getreu schritt er immer vorwärts, ohne sich zu Über- 
treibungen hinreißen, noch zu Verträgen verlocken zu lassen; die 
theoretischen Formeln gab er gern preis, um einzig ihre Resultate 
au verfolgen. Sich weniger mit den Streitigkeiten der Schule 
und ihren Schlagwörtern als vielmehr mit der praktischen Beweis- 
führung durch seine Werke befassend, hatte er das Glück, persön- 
liche Feindseligkeiten und verdrießliche Verhandlungen zu ver- 
meiden. 

Später, nachdem der Sieg seiner Ideen das Interesse an seiner 
Führerrolle vermindert hatte, suchte er nie wieder Gelegenheit, 



108 V. Chopins Individualittt 

sich an die Spitze irgend einer Partei zu stellen. In jenem einzigen 
Faiie aber, wo er sich selbst tätig am Kampfe beteiligte, gab er 
Beweise absoluter, unbeugsam fester Oberzeugungen, wie alle lel>- 
haft Empfindenden, die sich selten Luft zu machen pflegen. So- 
bald er sah, daß seine Ansicht hinreichende Anhänger gefunden 
hatte, um Gegenwart und Zukunft zu beherrschen, zog er sich 
aus dem Gedränge zurück und überließ es seinen Mitkämpfern, 
sich in Scharmützeln zu ergehen, die weniger der Sache nützten, 
als vielmehr denen angenehm waren, die sich gern um jeden Preis 
schlugen, selbst auf die Gefahr hin, geschlagen zu werden. Als 
echter grand seigneur und echter Parteiführer hütete er sich, 
einen im Rückzug begriffenen Feind zu überfallen und zu ver- 
folgen; er verhielt sich wie ein siegreicher Fürst, dem es genügt, 
seine Sache außer Gefahr zu wissen, um sich nicht weiter unter die 
Kämpfenden zu mischen. 

In modernerer, einfacherer, minder ekstatischer Form weiht 
Chopin seiner Kunst den Kultus, den ihr die ersten Meister des 
Mittelalters zollten. Wie diesen galt auch ihm die Kunst als schöner, 
heiliger Beruf. Wie sie war auch er stolz darauf, zu ihm erwählt 
zu sein , und mit frommer Andacht gab er sich ihrem Dienste hin. 
In seiner Todesstunde noch offenbarte sich dies in einer Anord- 
nung, über deren volle Bedeutung uns die polnischen Sitten Auf- 
klärung geben. Einem in unseren Tagen wenig verbreiteten, aber 
doch noch hin und wieder vorkommenden Brauch zufolge wählten 
Sterbende häufig die Kleider, in denen sie begraben zu werden 
wünschten, und die man oft lange im voraus hergerichtet hatte K 
Ihre liebsten, tiefinnersten Gedanken verrieten sich da zum letzten 
Male. Weltliche Personen wählten oftmals Klostergewänder; die 
Männer begehrten oder verbaten sich ihre Amtstracht, je nach- 
dem sich ruhmvoUe oder unfrohe Erinnerungen daran knüpften. 



^ Der Verfasser von »Julie et Adolphe« (einem der „Neuen Heloise'* 
nachgebildeten Roman, der bei seinem Erscheinen viel Aufsehen erregte), 
General Km der, über achtzig Jahre alt, zur Zeit unseres Aufenthaltes in jener 
Gegend auf einem Qut im Gouvernement Wolhynien lebte, hatte sich nach 
oben erwähntem Brauch seinen Sarg anfertigen lassen, der schon seit dreißig 
Jahren neben der TQr seines Schlafgemachs stand. 



Chopin in Beziehung zur Gesellschaft, zu seiner Familie. 109 

Chopin, der, zu den ersten Künstlern seiner Zeit gehörend, doch 
die wenigsten Konzerte gab, wollte gleichwohl in den Kleidern, 
die er bei denselben getragen hatte, ins Grab gelegt sein. Ein 
natürliches, dem unversieglichen Quell seiner Kunstbegeisterung 
entstammendes Gefühl gab ihm ohne Zweifel diesen letzten Wunsch 
ein, als er, die letzten Pflichten des Christen fromm erfüllend, von 
allem Irdischen Abschied nahm. Lange schon, bevor der Tod 
ihm nahte, hatten seine Liebe zur Kunst, sein Glaube an dieselbe 
ihn unsterblich gemacht« Nun wollte er noch einmal, als er sich 
zur letzten Ruhe niederlegte, durch ein stummes Symbol Zeugnis 
geben von der Begeisterung, die er rein erhalten hatte sein ganzes 
Leben hindurch. Er starb sich selber treu , in inbrünstiger Ver- 
ehrung der mystischen Größe der Kunst und ihrer noch mystischeren 
Offenbarungen. 

Indem Chopin sich, wie bereits erwähnt, aus dem Strudel der 
Gesellschaft zurückzog, übertrug er seine ganze Sorge und Zärt- 
h'chkeit auf den Kreis seiner Familie, seiner Jugendfreunde und 
Landsleute. Mit ihnen unterhielt er einen ununterbrochenen, 
eifrigen Verkehr. Vor allen war ihn seine Schwester Louise teuer; 
eine gewisse Ähnlichkeit ihrer Geistes- und Gefühlsart brachte 
sie einander besonders nahe. Zu wiederholten Malen unternahm 
sie die Reise von Warschau nach Paris, um ihn zu sehen, und 
während der drei letzten Monate seines Lebens umgab ihn ihre 
treue Fürsorge. 

In den Beziehungen zu den Seinigen legte Chopin eine gewin- 
nende Liebenswürdigkeit an den Tag. Nicht nur, daß er mit ihnen 
einen lebhaften Briefwechsel unterhielt, er benutzte auch seinen 
Pariser Aufenthalt, um ihnen durch allerhand Neuheiten und zier- 
liche Kleinigkeiten tausenderlei Überraschungen zu bereiten. Er 
suchte alles heraus, was, wie er glaubte, in Warschau erfreuen 
werde, und schickte fortwährend bald dieses, bald jenes neue Nichts, 
irgend ein Putzstück oder eine Spielerei. Er hielt darauf, daß 
man diese Dinge, so geringfügig sie sein mochten, aufbewahrte, 
als sollten sie ihn selber dem Kreise derer vergegenwärtigen, denen 
sie zugedacht waren. Aber auch er seinerseits legte auf Jeden Be- 
weis von Zuneigung, den er von seinen Angehörigen empfing, 



110 V. Chopins Individualität. 



großen Wert. Eine Nachricht, ein Erinnerungszeichen von ihnen 
bereitete ihm eine wahre Festfreude. Teilte er dieselbe auch mit 
niemandem, so verriet sie sich doch durch die Sorgfalt, mit der 
er alle ihm von dieser Seite kommenden Gegenstände bewahrte. 
Selbst die unbedeutendsten derselben waren ihm kostbar, ja er 
wehrte nicht nur anderen, sich ihrer zu bedienen, die bloße Be- 
rührung derselben schon war ihm sichtlich unangenehm. 

Wer immer aus Polen kam, bei ihm war er willkommen. Ob 
mit oder ohne Empfehlungsbrief, er ward mit offenen Armen auf- 
genommen, als ob er zur Familie gehöre. Selbst Unbekannten, 
wenn sie aus seiner Heimat kamen, gestattete Chopin, was er 
keinem unter uns gewährt haben würde: das Recht, ihn in seinen 
Gewohnheiten zu stören. Er tat sich um ihretwillen Zwang an, 
führte sie spazieren, besuchte zwanzigmal hintereinander dieselben 
Orte, um ihnen die Sehenswürdigkeiten von Paris zu zeigen, ohne 
in seinem Amt als Cicerone oder müßiger Zuschauer jemals Er- 
müdung oder Langeweile zu bekunden. Landsleute, von deren 
Existenz er tags zuvor noch nichts gewußt, lud er zum Speisen ein; 
er sparte ihnen alle kleinen Ausgaben und lieh ihnen Geld. Und 
mehr noch als das. Man sah ihm an, wie gern er es tat, wie glück- 
lich er war, seine Muttersprache zu sprechen, sich unter den Sei- 
nigen zu wissen und durch sie in die heimatliche Atmosphäre zurück- 
versetzt zu fühlen, die er an ihrer Seite noch zu atmen vermeinte. 
Man sah, mit welcher Teilnahme er ihren traurigen Berichten 
lauschte, welche Freude es ihm gewährte, sie in ihrem Schmerz 
zu zerstreuen und von ihren blutigen Erinnerungen abzulenken, 
indem er ihren Kummer durch die Verheißungen beredter Hoff- 
nung tröstete. 

Seinen Angehörigen schrieb Chopin regelmäßig, aber auch nur 
ihnen. Eine seiner Sonderbarkeiten bestand darin, sich im übrigen 
jedes Brief- oder Billettwechsels zu enthalten. Man hätte glauben 
mögen, er habe ein Gelübde getan, nie eine Zeile an Fremde zu 
richten. Zu allen erdenklichen Auskunftsmitteln nahm er seine 
Zuflucht, nur um der Nötigung zu entgehen, einige Worte auf das 
Papier zu werfen. Oftmals durchmaß er lieber Paris von einem 
Ende zum anderen, um eine Einladung zum Mittagessen abzulehnen 



Chopin und seine Landsleute. 111 

oder irgend eine unwesentliche Nachricht mitzuteilen, statt sich 
mittelst eines schriftlichen Wortes diese Mühe zu ersparen. Der 
Mehrzahl seiner Freunde blieben seine Schriftzüge fast unbekannt. 
Nur zugunsten seiner schönen in Paris ansässigen Landsmänninnen, 
in deren Besitz sich mehrere polnische Autographen von ihm finden, 
wich er, so sagt man, von seiner Gewohnheit ab. Diese Ausnahme 
von der Regel erklärt sich durch seine Vorliebe für seine Mutter- 
sprache, die er besonders gern gebrauchte, und deren ausdrucks- 
vollste Redensarten er anderen gern verdolmetschte. Wie die Slawen 
im allgemeinen, war er des Französischen vollkommen mächtig; 
in Betracht seiner französischen Abkunft hatte man ihn darin 
überdies mit besonderer Sorgfalt unterrichtet. Aber die Sprache 
sagte ihm nicht zu, und er warf ihr vor, daß sie frostigen Geistes 
und geringen Wohlklangs sei. 

Dies Urteil über die französische Sprache ist übrigens unter 
den Polen ziemlich verbreitet. Sie bedienen sich derselben zwar 
mit großer Leichtigkeit, sprechen sie viel untereinander, ja oft 
besser als ihre eigene, hören aber gleichwohl nie auf, denen, welche 
nicht Polnisch verstehen^ zu versichern, daß sie ihr Denken und 
Fühlen in keinem anderen Idiom als dem ihren wiederzugeben ver- 
mögen. Bald ist es die Majestät, bald die Leidenschaft, bald die 
Anmut, die nach ihrer Ansicht den französischen Ausdrücken 
mangelt. Fragt man sie nach dem Sinn eines von ihnen zitierten 
polnischen Wortes oder Verses, so lautet die erste, dem Fremden 
zuteil werdende Antwort unausbleiblich: „0, das ist unübersetzbar!" 
Zur Erläuterung derselben folgen dann Kommentare, weichet alle 
Feinheiten, versteckten Andeutungen und Gegensätze, die in den 
„unübersetzbaren" Worten enthalten sind, erklären. Wir nannten 
bereits einige Beispiele, die in Verbindung mit anderen uns zu der 
Annahme verleiten, daß diese Sprache den Vorzug hat, die ab- 
strakten Hauptwörter zu versinnlichen, und daß sie es im Laufe 
ihrer Entwickelung dem poetischen Geist der Nation verdankt, 
wenn sich durch Ableitungen und Synonyme eine überraschend 
richtige Wechselbeziehung der Ideen bildete. So fällt, wie Licht 
oder Schatten, auf jeden Ausdruck gleichsam ein farbiger Wider- 
schein. 



112 V. Chopins Individualität 

Man könnte demnach behaupten, daß die Worte dieser Sprache 
notwendig einen ungeahnten enharmonischen Ton, oder vielmehr 
den korrespondierenden Ton einer Terz, der sofort den Dur- oder 
Mollcharakter des Gedankens bestimmt, im Geiste in Schwingung 
versetzen. Ihr Reichtum an Worten läßt die Wahl des Tones frei ; 
doch dieser Reichtum gerade bringt seine Schwierigkeiten mit sich, 
und nicht mit Unrecht dürfte dem in Polen so verbreiteten Ge- 
brauch fremder Sprachen die Trägheit des Geistes zuzuschreiben 
sein, die dem mühsamen Gebrauch einer Ausdrucksgewandtheit 
entrinnen möchte, welche gleichwohl unentbehrlich ist in einer 
Sprache, deren Tiefe und energischer Lakonismus dem Ungefähr 
und der Banalität wenig oder keinen Raum läßt. Die unbe- 
stimmten Anklänge unklarer Gefühle lassen sich nicht dem starken 
Gefüge ihrer Grammatik einordnen. Der Gedanke kommt über 
eine eigentümliche Armut und Blöße nicht hinaus, solange er 
diesseits der Grenzen des Gemeinplatzes bleibt; hinwiederum er- 
heischt er eine seltene Bestimmtheit des Ausdruckes, um nicht, 
sobald diese Grenzen überschritten sind, barock zu erscheinen. 
Die polnische Literatur hat weniger klassische Autoren aufzuweisen 
als andere; fast jeder einzelne derselben jedoch beschenkte sie mit 
einem Werke unvergänglichen Wertes. Dem stolzen, anspruchs- 
vollen Charakter ihres Idioms mag sie es verdanken, daß die Zahl 
ihrer Meisterwerke im Verhältnis zu der ihrer Schriftsteller sich 
größer als anderwärts herausstellt. Man fühlt sich als Meister, 
sobald man diese schöne und reiche Sprache zu beherrschen wagt^. 

' Mangel an Harmonie und musikalischem Reiz läßt sich dem Polnischen 
nicht zum Vorwurf machen. Die Härte einer Sprache wird keineswegs immer 
und unbedingt durch die Überzahl der Konsonanten, sondern vielmehr durch 
deren Verbindungsweise bewirkt; man könnte sogar behaupten, daß das man- 
chem Idiom eigene matte, kalte Kolorit auf den Mangel an bestimmten und 
stark markierten Lauten zurückzuführen ist. Nur die unharmonische Ver- 
bindung ungleichartiger Konsonanten verletzt ein feines und gebildetes Ohr 
in empfindlicher Weise. Die öftere Wiederkehr gewisser, wohl aneinander 
gefügter Konsonanten gibt der Sprache Schattierung, Rhythmus, Kraft; wäh- 
rend das Vorwiegen der Vokale einö gewisse bleiche Färbung erzeugt, die durch 
dunklere Tinten gehoben zu werden verlangt. Die slawischen Sprachen ver- 
wenden allerdings viel Konsonanten, jedoch im allgemeinen mit wohlklingen- 
der Zusammenstellung, die dem Ohr zuweilen schmeichelt und, selbst wo sie 



Die polnische Sprache. 113 

Die äußerliche Eleganz war Chopin nicht minder natürlich als 
die geistige. Sie verriet sich ebensowohl in den ihm angehörenden 
Gegenständen als in seinem vornehmen Auftreten. In der Ein- 
richtung seiner Zimmer entfaltete er eine gewisse Koketterie. 
Immer waren dieselben mit Blumen, die er sehr liebte, geschmückt. 
Doch trieb er diesen Luxus nicht so weit wie einige Pariser Be- 
rühmtheiten jener Zeit; auch in dieser Beziehung wie in der Lieb- 
haberei für kostbare Stöcke, Nadeln, Knöpfe, damals modische 



mehr überraschend als melodisch wirkt, ffist nirgend entschieden mißtönend 
auftritt. Ihre Laute sind reich, voll, sehr nuanciert. Sie bewegen sich nicht 
innerhalb der Grenzen einer engen Tonlage, sondern breiten sich mit der Man- 
nigfaltigkeit bald höherer, bald tieferer Intonationen über einen weiten Umfang 
aus. Je mehr man sich dem Orient nähert, um so auffälliger wird dieser philo- 
logische Zug. Man begegnet ihm in den semitischen Sprachen; im Chine- 
sischen z. B. nimmt dasselbe Wort, je nach dem höheren oder tieferen Ton, 
in dem man es ausspricht, einen völlig verschiedenen Sinn an. Das slawische L, 
dieser für alle, die ihn nicht von Kindheit an erlernten, kaum auszusprechende 
Buchstabe, hat nichts Trockenes. Es übt auf das Ohr einen Eindruck, wie 
ihn die Berührung rauhen und doch geschmeidigen Wollensamts auf unseren 
Pinger übt. Da die Verbindung rasselnder Konsonanten im Polnischen selten, 
die Assonanz dagegen sehr vielfältig vorkommt, dürfte sich dieser Vergleich, 
auf den Oesamteindruck, den es auf den Fremden hervorbringt, anwenden 
lassen. Wir begegnen hier vielen Worten, die das eigentümliche Geräusch 
der von ihnen bezeichneten Gegenstände nachahmen. Die häufigen Wieder- 
holungen des ch (unser deutsches h), des sz (unser seh), des rz, cz, die dem 
uneingeweihten Auge so fürchterlich dfinken, und deren Klang doch meist 
nichts Barbarisches an sich hat (sie werden ungefähr wie das französische g 
vor e und i und tche ausgesprochen), erleichtern diese Nachahmung. Das 
Wort dzwi^k, Ton (man lese dzwienque), bietet hierzu ein charakteristisches 
Beispiel. Schwerlich vermöchte man die Empfindung, die das Anschlagen 
der Stimmgabel dem Ohre erregt, treffender durch den Klang eines Wortes 
zu bezeichnen. Zwischen die Konsonanten-Gruppen, die sehr verschieden- 
artige, bald metaUische, bald summende, brummende oder pfeifende Töne 
eizeugen, mischen sich zahlreiche Diphthonge sowie oft etwas nasal klingende 
Vokale, indem das von einer c6dille begleitete a und e, s( und q, wie das fran- 
zösische on und in ausgesprochen werden. Neben dem sehr welch gesproche- 
nen c (tse), zuweilen auch 6 (tsle) hat das akzentuierte s, k etwas Zwitscherndes. 
Das z ist, dem Dreiklange eines Tones vergleichbar, dreifach verschiedenen 
Lautes: z (franz. jals), z (franz. zed) und i (franz. zled). Das y ist ein Vokal 
von eigentümlich ersticktem Laut (franz. eu), der ebensowenig als das } in an- 
derer Sprache wiedergegeben werden kann, der aber ebensowohl wie dieses 
dem Polnischen ein nicht auszudrückendes Schillern verleUit. — Diese feinen, 

Liszt, Gesammelte Schriften L V.A. 8 



Il4 V. Chopins Individualität. 

Schmuckgegenstände, hielt er zwischen dem Zuviel und Zuwenig 
die rechte Mitte, die feine Grenze des comme il faut ein. 

Gewöhnt, seine Zeit, seine Gedanken, seine Wege von denen 
anderer abzuschließen, war ihm der Umgang mit Frauen oft be- 
quemer, insofern er ihn weniger zu fortgesetzten Beziehungen ver- 
pflichtete. Wie er den Adel seiner Seele in den Stürmen des Lebens 
unbefleckt erhielt, wie der Sinn für das Edle, der Glaube an das 
Heilige nie von ihm wichen, so verlor Chopin auch nie die jugend- 



ungebundenen Elemente gestatten den Frauen, im Gespräch einen singenden 
oder gedehnten Akzent anzunehmen, den sie gewöhnlich auch auf andere 
Sprachen übertragen, wobei aber der Reiz, zum Fehler werdend, weniger an- 
ziehend als ungünstig wirkt. Wie viele Menschen und Dinge vertragen es eben 
nicht, aus ihrem natürlichen Boden in einen fremden versetzt zu werden! 
Was zuvor gewinnend, ja unwiderstehlich an ihnen war, wird nun reizlos und 
befremdend, einzig der veränderten Beleuchtung zufolge, in der die Schatten 
an Tiefe, die Lichtreflexe an Glanz und Klarheit Einbuße erleiden. Sprechen 
die Polinnen ihre Sprache, so pflegen sie — war der sie beschäftigende Gegen- 
stand ernst und melancholisch — einer Art improvisierter Rezitative und 
Threnodien ein dem Geschwätz der Kinder nicht unähnliches, lispelndes, un- 
artikuliertes Geplauder folgen zu lassen. Wollen sie vielleicht im selben Augen- 
blick, wo sie sich dazu verstehen, ernst wie ein Senator, weise wie ein Staats- 
minister, tiefsinnig wie ein Gottesgelahrter, spitzfindig wie ein deutscher 
Philosoph zu sein, die Privilegien ihrer weiblichen Oberherrlichkeit beweisen 
und bewahren? Ist aber die Polin nur einigermaßen heiter gelaunt und ge- 
stimmt, den Duft ihres Geistes ausströmen zu lassen — wie die Blume, die 
ihren Kelch dem Strahl der Frühlingssonne neigt, um die Luft mit ihrem 
Wohlgeruch, man möchte sagen mit ihrer Seele zu erfüllen, die der Sterb- 
liche gern wie einen Glückshauch aus paradiesischen Gefilden einatmen möchte 
— so scheint sie sich nicht mehr die Mühe zu nehmen, ihre Worte deutlich 
auszusprechen, wie andere demütige Bewohner dieses Jammertals. Der Nach- 
tigall gleich beginnt sie zu flöten; die Phrasen werden zu Läufen, die zur höch- 
sten Höhe eines wunderbaren Soprans emporsteigen ; oder vielmehr die Perioden 
wiegen sich auf Trillern, die man dem Zittern eines Tautropfens vergleichen 
möchte. Welch reizende Triumphe und noch reizendere Unterbrechungen! 
Dazwischen kurze Ausrufe und perlendes Gelächter. Dann folgen iji den 
höchsten Tönen der Stimmlage kleine Kadenzen, die plötzlich, man weiß 
nicht in welcher chromatischen Folge von Halb- und Viertelstönen, herab- 
gleiten, um auf einer gehaltenen Note zu verweilen und sich in endlosen, ori- 
ginellen Modulationen zu ergehen, welche das an solches Gezwitscher nicht 
gewöhnte Ohr durch einen dem Gesang der Spottvögel abgelauschten Ausdruck 
irreleiten. Wie die Venezianerinnen zwitschern die Polinnen gern, und pikante 
Intervalle, undeutliche Laute, reizvolle Tonübergänge mischen sich völlig 



Chopins Eleganz, sein Umgang mit Frauen. 115 

liehe Naivität, die sich in Kreisen wohl fühlt, die Tugend und 
Rechtschaffenheit als beste Reize zieren. Das harmlose Geplauder 
von Leuten, die er achtete, mochte er gern; er vergnügte sich an 
den kindlichen Freuden der Jugend. Ganze Abende brachte er 
damit hin, mit jungen Mädchen Blindekuh zu spielen, ihnen kurz- 
weilige, drollige Geschichten zu erzählen und ihnen jenes aus- 
gelassene Lachen zu entlocken, dem man noch lieber als dem Ge- 
sang der Grasmücke lauscht. 

Alles das vereint bewirkte, daß Chopin, obgleich mehreren der 
hervorragendsten Persönlichkeiten der damaligen künstlerischen 
und literarischen Bewegung so nahe verbunden, daß er mit ihnen 
eins zu sein schien, nichtsdestoweniger inmitten derselben ein 
Fremdling blieb. Mit keiner anderen Individualität verschmolz 

naturgemäß ihrem lieblichen Geplauder, das ihren Lippen Worte entgleiten 
läßt, die bald wie Perlen, die man auf silbernem Becken ausstreut, bald wie 
Funken »-scheinen, deren Aufleuchten und Erlöschen man neugierigen Blickes 
folgt Immer aber, in welcher Weise sie sich ihrer auch bedienen mögen, 
klingt die polnische Sprache im Munde der Frauen ungleich süßer und ein- 
schmeichelnder als in dem der Männer. Bemühen sich diese letzteren, mit 
Eleganz zu reden, so verleihen sie ihr einen männlichen Wohlklang, der sich 
der vormals in Polen so gepflegten Kunst der Beredsamkeit energisch anpaßt. 
Die Poesie schöpft aus diesem reichen und vielgestaltigen Material eine Mannig- 
faltigkeit des Rhythmus und der Prosodie, einen Überfluß an Reimen und 
Qleichklängen, die es ihr ermöglichen, gewissermaßen musikalisch dem Kolorit 
der von ihr geschilderten Empfindungen und Szenen nicht nur in kurzen 
Klangnachahmungen, sondern selbst in langen Reden zu folgen. — Mit Recht 
hat man das Verhältnis der polnischen zur russischen Sprache mit dem der 
lateinischen zur italienischen verglichen. Die russische hat in der Tat etwas 
Melismatischeres, Schmachtenderes. Ihr Tonfall eignet sich so vorzugsweise 
zum Gesang, daß ihre schönen Dichtungen — wie beispielsweise diejenigen 
Joukowskis und Puschkins — eine durch das Metrum der Verse bereits vor- 
gezeichnete Melodie zu enthalten scheinen. Von manchen Stanzen, wie „der 
schwarze Schal", der „Talisman" und vielen anderen, meint man ein Arioso 
oder ein liebliches Kantabile einfach ablösen zu können. — Wesentlich ver- 
schiedenen Charakters ist das alte Slawonisch, die Sprache der griechisch- 
katholischen Kirche. Majestät ist ihr Gepräge. Reicher an Gutturallauten 
als die anderen von ihr abstammenden Idiome, ist sie streng und von erhabener 
Monotonie, wie die byzantinischen Gemälde, die der mit ihr verwachsene 
Kultus aufbewahrt. Sie trägt die Physiognomie einer heiligen Sprache, die 
nur einem einzigen Gefühl diente und nicht durch profane Leidenschaften 
gemodelt und entnervt, nicht durch gemeine Bedürfnisse herabgewürdigt wurde. 

8* 



116 V. Chopins Individualität. 

sich die seine. Niemand unter den Parisern war imstande, die in 
den höchsten Regionen des Seins vollzogene Einigung zwischen 
den Bestrebungen des Genies und der Reinheit der Wünsche zu 
begreifen, wie sie ihm vorschwebte. Und noch weniger vermochte 
man den Reiz dieser angeborenenVornehmheit und männlichen 
Keuschheit zu verstehen, die um so größer war, je weniger sie selbst 
sich ihrer Verachtung der gemeinen Sinnenlust da bewußt ward, 
wo doch alle ringsum glaubten, daß die Einbildungskraft sich nur 
in die Formen eines Meisterwerkes ergießen könne, wenn sie zuvor 
in den Schmelzöfen der Sinnlichkeit in Glut gebracht worden sei. 

Aber wie es eins der köstlichsten Vorrechte innerer Lauterkeit 
ist, das Raffinement nicht zu erraten, am Zynismus der Scham- 
losigkeit achtlos vorüberzugehen, so fühlte sich Chopin zwar wohl 
bedrückt durch die Nähe gewisser Menschen, deren Blick stumpf, 
deren Atem unrein war, deren Lippen sich satyrartig kräuselten; 
aber er war weit entfernt zu mutmaßen, daß Handlungen, die er 
als Verirrungen des Genies bezeichnete, auf den Schild erhoben 
wurden und dem Kultus der Göttin Materie zur Verherrlichung 
dienten. Hätte man es ihm tausendmal gesagt, man hätte ihn doch 
nimmer überzeugt, daß die Roheit der Manieren, der ungezügelte 
Ausdruck unwürdiger Gelüste, die mißgünstige Beurteilung der 
Reichen und Vornehmen etwas anderes seien, als Mangel an Er- 
ziehung, wie er sich in unteren Klassen äußert. Nie hätte er ge- 
glaubt, daß jeder schlüpfrige Gedanke, jeder habsüchtige Wunsch, 
jedes mörderische Gelübde der diesem gemeinen Götzen darge- 
brachte Weihrauch sei, und daß jeder seiner übelriechenden Dämpfe 
in den scheingoldenen Rauchgefäßen einer lügnerischen Poesie als 
Huldigung der gotteslästerlichen Apotheose aufgenommen ward. 

Das Leben auf dem Lande sagte ihm derart zu, daß er, um das- 
selbe zu genießen, auch eine Gesellschaft, die ihm nicht behagte, 
in den Kauf nahm. Man könnte daraus schließen, daß es ihm 
leichter fiel, seinen Geist von den ihn umgebenden Menschen und 
ihrem geräuschvollen Geschwätz, als seine Sinne von der drücken- 
den Luft, dem trüben Licht, den prosaischen Bildern der Stadt 
abzulenken, wo die Leidenschaften auf jedem Schritt gereizt und 
tiberreizt werden und dem Sinn wenig Erfreuliches begegnet. 



Chopins Lauterkeit, seine Liebe zum Landleben. 117 

Was man hier sieht, hört und fühlt, regt auf, statt zu beruhigen; 
bringt uns außer uns, statt uns zu uns selber kommen zu lassen. 
Chopin litt darunter, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben, 
solange man in befreundeten Kreisen seiner harrte und der lite- 
rarische und artistische Meinungskampf ihn lebhaft beschäftigte. 
Die Kunst konnte ihn zeitweise die Natur vergessen machen. 
Die Schönheit menschlicher Schöpfungen konnte ihm vorübergehend 
für die Schönheit der Schöpfungen Gottes Ersatz bieten; auch liebte 
er Paris. Und dennoch war er glücklich, sooft er dasselbe weit 
hinter sich zurücklassen konnte. 

Kaum war er auf dem Lande angekommen, kaum sah er sich 
von Gärten, Bäumen, Gräsern und Blumen umgeben, so schien er 
verwandelt, eine anderer Mensch. Der Appetit kam ihm zurück, 
seine Heiterkeit, sein Witz sprudelten über. Er vergnügte sich an 
allem mit allen und war erfinderisch in neuer Kurzweil und 
wechselvoller Ausschmückung eines Aufenthaltes, den er, im Ge- 
nuß frischer Luft und der Freiheit des Landlebens, als einen wohl- 
tätig belebenden empfand. Spaziergänge unterhielten ihn; er 
konnte viel gehen, auch fuhr er gem. Selten äußerte er sich über 
ländliche Gegenden; doch konnte man leicht bemerken, welch 
tiefen Eindruck sie auf ihn machten. Aus wenigen Worten, die 
ihm entschlüpften, hörte man heraus, daß er sich inmitten von 
Feld und Wiese, Hecke und Wald, die ja überall den gleichen Duft 
aushauchen, seiner Heimat näher fühlte. Lieber sah er sich unter 
Landleuten, Mähern und Schnittern, die in allen Ländern eine ge- 
wisse Ähnlichkeit haben, als zwischen den Straßen und Häusern, 
den Gossen und der Straßenjugend von Paris, die sicherlich nirgend 
ihresgleichen finden und keine Erinnerung ins Gedächtnis zurück- 
rufen; so erdrückend wirkt das riesige, oft unharmonische Ganze 
der „Weltstadt" auf sensitive Naturen. 

Überdem liebte Chopin, auf dem Lande zu arbeiten. Sein Or- 
ganismus, der in der Dunst- und Staubatmosphäre der Stadt ver- 
kümmerte, kräftigte sich in der reinen, gesunden Luft. Mehrere 
seiner besten Werke, die während solch sommerlichen Aufenthaltes 
geschaffen wurden, umschließen wohl das Andenken an seine glück- 
lichsten Tage damaliger Zeit. 



118 VI. Chopins Jugend. 



VI. 

Chopin wurde im Jahre 1810 zu 2eIazowa-Wola bei Warschau 
geboren. Durch einen bei Kindern seltenen Zufall war er sich 
während seiner ersten Lebensjahre seines Alters nicht bewußt, 
und lediglich durch eine Uhr, die ihm die berühmte Catalani im 
Jahre 1820 mit der Inschrift: ,, Madame Catalani dem zehnjährigen 
FrM^ric Chopin" zum Geschenk machte, wurde, wie es scheint, 
das Datum seiner Geburt in seinem Gedächtnis festgehalten. Das 
Vorgefühl der großen Künstlerin gab dem schüchternen Kinde 
vielleicht die erste Ahnung seiner Zukunft. Nichts Außergewöhn- 
liches bezeichnete im übrigen den Verlauf seiner Kindheit. Seine 
Innere Entwickelung durchlief wahrscheinlich nur wenig Phasen, 
tat sich nur in wenig Äußerungen kund. Da er zart und kränk- 
lich war, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit seiner Familie 
auf seine Gesundheit. Schon damals ohne Zweifel eignete er sich 
jene Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit des Wesens, jene Ver- 
schwiegenheit über alles, was ihm Schmerzen verursachte, an, 
die in dem Wunsche, anderen Sorgen zu ersparen, ihren Ursprung 
fanden. 

Keine frühzeitige Reife der Befähigung, kein Vorzeichen einer 
auffallenden Entfaltung stellte in seiner ersten Jugend eine künftige 
Überlegenheit der Seele, des Geistes oder des Talentes in Aussicht. 
Sah man dies kleine leidende und lächelnde, immer geduldige und 
heitere Wesen, so wußte man es ihm dermaßen Dank, daß es nie 
übellaunig, noch eigensinnig ward, daß man sich wohl damit be- 
gnügte, diese seine Vorzüge zu lieben, ohne darnach zu fragen, ob 
es sein Herz auch ohne Rückhalt öffne und das Geheimnis aller 
seiner Gedanken offenbare. Es gibt Seelen, die beim Eintritt in 
das Leben reichen Wanderern gleichen, welche das Schicksal zu 
einfachen Hirten führt, die außerstande sind, den hohen Rang 
ihrer Gäste zu erkennen. Solange diese höher gearteten Wesen 
bei ihnen weilen, überhäufen dieselben sie mit Gaben, die zwar 
im Verhältnis zu ihrem eigenen Überfluß wenig bedeuten, dennoch 
aber die Bewunderung unschuldiger Herzen erregen und über ihr 
stilles Leben Glück verbreiten. Diese Bevorzugten geben an Liebe 



Chopins Kindheit, seine Musik- und Gymnasialstudien. 119 

m 

ungleich mehr als die anderen, die ihre Umgebung bilden; man 
empfängt es darum dankbar und glücklich, man hält sie für groß- 
mütig, während sie doch in Wahrheit wenig verschwenderisch 
mit ihren Schätzen sind. 

In den Gewohnheiten eines ruhigen, tätigen Familienlebens 
wuchs Chopin, wie von sicherer Wiege umfangen, auf, und die 
Vorbilder der Einfachheit, der Frömmigkeit und Vornehmheit, die 
ihm als Kind voranleuchteten, blieben ihm sein Leben lang über 
alles lieb und teuer. Häusliche Tugenden, religiöse Gebräuche, 
werktätige Liebe, strenge Bescheidenheit bildeten die reine Lebens- 
luft, in der seine Einbildungskraft die sammetartige Zartheit der 
Pflanzen gewann, die nie dem Staub der großen Heerstraße aus- 
gesetzt wurden. 

Frühzeitig unterrichtete man ihn in der Musik. Mit neun 
Jahren begann er sie zu erlernen und wurde alsbald einem be- 
geisterten Anhänger Sebastian Bachs, Zywna mit Namen, anver- 
traut, der seine Studien jahrelang nach den Grundsätzen einer streng 
klassischen Schule leitete. Als seine Familie in Obereinstimmung 
mit seinem eigenen Wunsch und Beruf ihn zur Laufbahn eines 
Musikers bestimmte, blendete vermutlich kein phantastisches 
Traumbild einer ruhmreichen Zukunft ihre Augen und Hoffnungen. 
Man hielt ihn zu ernster, gewissenhafter Arbeit an, damit er einst 
ein tüchtiger und erfahrener Meister werde; aber man sorgte sich 
nicht übermäßig um den mehr oder minder lauten Erfolg, den die 
Früchte dieses Unterrichts und dieser pflichttreuen Arbeit einst 
ernten würden. 

Ziemlich jung ward er, dank der edlen und verständnisvollen 
Protektion, die Fürst Anton Radziwill stets den Künsten und 
jungen Talenten gewährte, deren Tragweite er mit dem Scharf- 
blick eines ausgezeichneten Menschen und Künstlers erkannte, 
einem der ersten Gymnasien Warschaus übergeben. Fürst Radzi- 
will betrieb die Musik nicht nur als Dilettant; er war ein bemerkens- 
werter Komponist. Seine vor vielen Jahren veröffentlichte schöne 
Musik zum „Faust" wird noch allwinterlich von der Berliner Sing- 
akademie aufgeführt. Durch die innige Art, mit der sie sich der 
Qefühlsweise der Epoche anpaßt, welcher der erste Teil der 



120 VI. Chopins Jugend. 



Dichtung entstammt, scheint sie uns anderen ähnlichen Versuchen 
ihrer Zeit überlegen. 

Indem er den ziemlich beschränkten Verhältnissen der Familie 
Chopins zu Hilfe kam, verlieh der Fürst diesem den unschätzbaren 
Segen einer guten, nach keiner Richtung hin vernachlässigten Er- 
ziehung. Denn er, dessen hochherziger Sinn ihn in den Stand 
setzte, alle Erfordernisse der Laufbahn eines Künstlers zu ermessen, 
war es, der vom Eintritt seines Schützlings ins Lyzeum an bis zur 
gänzlichen Vollendung seiner Studien die Kosten der Pension 
durch Vermittlung eines Freundes, Anton Korzuchowski, der in 
dauernden herzlichen Beziehungen zu Chopin blieb, bestritt^. Oft 
auch zog der Fürst den letzteren zu den von ihm veranstalteten 
Landpartien und Festlichkeiten zu, und manche Anekdote ver- 
knüpfte sich im Gedächtnis des Jungen Mannes jenen reizvollen 
Stunden, die das ganze Feuer polnischer Heiterkeit belebte. Er 
spielte durch seinen Geist wie sein Talent dort oftmals eine pikante 
Rolle und nahm die Erinnerung an mehr als eine flüchtig an ihm 
vorüberschwebende Schönheit mit sich hinweg. Unter ihnen die 
junge Prinzessin Elise, die Tochter des Fürsten, die, in erster Jugend- 
blüte sterbend, ihm das liebliche Bild eines Engels, der nur für kurze 
Zeit auf diese Welt verbannt war, zurückließ. 

Der liebenswürdige, verträgliche Charakter, den Chopin «in die 
Schule mitbrachte, gewann ihm rasch die Liebe seiner Kameraden, 
insbesondere die des Fürsten Calixt Czetwertynski und seiner Brü- 
der. Mit ihnen gemeinsam verlebte er oft die Fest- und Ferienzeit 
bei ihrer Mutter, der Fürstin Idalie Czetwertynska, die die Musik 
mit feinem Verständnis pflegte und in dem Musiker gar bald den 
Poeten zu entdecken wußte. Sie auch war es wohl, die Chopin 
zuerst den Reiz kennen lehrte, zu gleicher Zeit gehört und verstanden 
zu werden. Die Fürstin war noch immer schön, und ihren hohen 



1 Seitens der Verwandten und der Biographen Chopins wurde dem wider- 
sprochen, insofern Fr6d6rics Eltern in der Lage gewesen seien, aus eigenen 
Mitteln für Erziehung ihres Sohnes zu sorgen. Andernseits erscheint die von 
Liszt angeführte Quelle verläßlich, da Korzuchowski, ein polnischer Edel- 
mann, lange Jahre der geschäftiiche Berater der russischen Linie Radziwill 
war. [A. d, 0.] 



Chopin in der Warschauer Aristokratie. 121 

Tugenden und reizvollen Eigenschaften verband sich ein sympa- 
thischer Geist. Ihr Salon war einer der glänzendsten und gesuch- 
testen Warschaus. Chopin begegnete daselbst den vornehmsten 
Frauen der Hauptstadt. Dort lernte er die verführerischen Schön- 
heiten kennen, die dazumal, als man Warschau noch um die Pracht, 
die Eleganz und Anmut seiner Gesellschaft beneidete, einer euro- 
päischen Berühmtheit genossen. Durch Vermittelung der Fürstin 
Czetwertynska ward er bei der Fürstin von Lowicz eingeführt, 
wie er auch der Gräfin Zamoyska, der Fürstin Micheline Radziwill, 
der Fürstin Therese Jablonowska, all jenen Zauberinnen näher- 
trat, die von so vielen anderen, minder berühmten Schönheiten 
umgeben waren. 

Sehr jung noch gab er mit seinem Klavierspiel ihren Schritten 
den Takt an. Während dieser festlichen Vereinigungen, die der 
Versammlung von Feen glichen, enthüllten sich ihm im Wirbel 
des Tanzes rasch die süßesten Herzensgeheimnisse. Mühelos konnte 
er in den Seelen derer lesen, die sich freundschaftlich und ver- 
lockend zu seiner Jugend herabneigten. Hier erfuhr er, aus welch 
bittersüßer Mischung sich das poetische Ideal der Frauen seines 
Volkes zusammensetzt. Wenn seine Finger zerstreut über die 
Tasten glitten und ihnen plötzlich ein paar rührende Akkorde ent- 
lockten, ward er der Zeuge verstohlener Tränen, die die Augen 
liebeglühender junger Mädchen, vernachlässigter junger Frauen, 
verliebter und ruhmdurstiger junger Männer benetzten. Stahl 
sich nicht aus den zahlreichen Gruppen manchmal ein holdes Kind 
in seine Nähe, um ihn um ein einfaches Präludium zu bitten? Auf 
den Flügel gelehnt, ihr träumerisches Antlitz mit ihrer schönen 
Hand stützend, deren feine Durchsichtigkeit durch die Juwelen 
ihrer Ringe und Armbänder noch gehoben ward, ließ sie unbewußt 
in einem tränenfeuchten Blick oder dem begeistert funkelnden Auge 
das Sehnen ihres Herzens erraten. Geschah es nicht auch oft, daß, 
um einen Walzer von schwindelnder Geschwindigkeit von ihm zu 
erlangen, eine ganze Schar, mutwilligen Nymphen gleich, ihn lächelnd 
umringte, als wolle sie an ihrer Heiterkeit die seine entzünden? 

Als Chopin in den späteren Jahren seines kurzen Lebens eines 
Tages eine seiner Mazurken einem befreundeten Musiker vorspielte. 



122 Vi. Chopins Jugend. 



der das magnetische Hellsehen, das sich aus seiner Erinnerung 
loslöste und auf seinem Klavier Gestalt gewann, mehr fühlte 
als begriff, unterbrach er sich plötzlich und flüsterte die Verse 
Soumets, des damals beliebten Dichters: 

Ich liebe dich, 
Semida, und mein Herz folgt deinen Wegen, 
Bald fliegt's auf Weihrauchs-, bald auf Sturmesschwingen dir entgegen M 

Sein Blick schien durch eine Vision aus vergangenen Tagen 
gefesselt, die keiner sieht, als der Eine, der sie wieder erkennt, 
weil er sie sich während ihrer kurzen Dauer einst unvergeßlich 
in die Seele prägte. Es war leicht zu erraten, daß Chopin irgend 
eine Schönheit in hellem Gewände, schlank und graziös, mit weißem 
Arm und gesenkten Lidern vor sich sah, deren blaue Augensterne 
ihr Licht verstohlen über den vor ihr knienden Tänzer ergossen, 
dessen halbgeöffneten Lippen sich ein Seufzer zu entringen schien: 

„Bald fliegt's auf Weihrauchs-, bald auf Sturmesschwingen dir entgegen!'' 

Gern erzählte Chopin später, wenn auch in scheinbarem Oleich- 
mut, so doch mit der unwillkürlichen inneren Erregtheit, die das 
Andenken an unsere frühesten Schwärmereien begleitet, daß er 
den ganzen in den Melodien und Rhythmen der Nationaltänze 
zum Ausdruck komfnenden Gefühlsreichtum zuerst in jenen Tagen 
erfaßte, wo er bei irgend einem prächtigen Fest die vornehme 
weibliche Welt Warschaus mit all ihrem blendenden Glänze, all 
der Koketterie geschmückt sah, deren Feuer das Herz versengt und 
die Liebe entzündet, aber auch blind und unglücklich macht. Statt 
der duftigen Rosen und Kamelien, die ihre Treibhäuser zeitigten, 
zierte sie schimmerndes Geschmeide. Der bescheidenere durch- 
sichtige Stoff, den die Griechen als „Luftgewebe'' bezeichneten, 
war durch den Prunk golddurchwirkter Gaze, silbergestickten 
Crepes, durch Brabanter und Alengoner Spitzen verdrängt. Und 
dennoch schien es Chopin, als ob sie beim Klang des Orchesters, 
mochte es auch noch so vortrefflich sein, minder rasch das Parkett 

* Je t'alme, j 

Semida, et mon couer vole vers ton Image, 
Tantöt comme un encens, tantöt comme un oraget 



Chopins Jugendeindrücke. 123 

streiften, als ob ihr Lachen minder hell, ihr Blick minder strahlend 
sei, als ob sie schneller ermüdeten denn an Abenden, wo der Tanz 
improvisiert worden war, wo er, sich an das Klavier setzend, die 
Zuhörer unversehens elektrisierte. Übte er solch elektrisierende 
Wirkung, so geschah es, weil er in den seinem Volke eigenen mysti- 
schen Tönen^ in den dem vaterländischen Boden entsprossenen 
Tanzweisen, leicht verständlich für die Eingeweihten, das wieder- 
zugeben verstand, was sein Ohr aus der heimlichen leidenschaft- 
lichen Sprache dieser Herzen herausgehört hatte. 

Täuschende Phantasiebilder, wundersame Visionen schaute er 
in diesem ätherischen Lichtkreise. Er erriet, welch ein Schwärm 
von Leidenschaften hier ohne Unterlaß umherschwirrt und auf 
und nieder flutet in den Seelen. Mit erregtem Blick verfolgte er 
diese Leidenschaften, die immer bereit sind, sich miteinander zu 
messen, einander zu verstehen, zu verwunden, zu veredeln und zu 
beseligen, ohne daß ihre geheime Glut und ihr zitternder Herzschlag 
nur einen Augenblick das schöne Gleichmaß der äußeren Anmut, 
die imposante Ruhe der äußeren Erscheinung störten. So lernte 
er den Wert edlen und maßvollen Benehmens schätzen, sobald 
es sich mit einer Kraft des Empfindens paart, welche verhütet, 
daß das Feingefühl in Fadheit, die Zuvorkommenheit in Zudring- 
lichkeit, die Konvenienz in Tyrannei, der gute Geschmack in Steif- 
heit ausarte und das Gemütsleben nicht, wie dies häufig geschieht, 
jenen harten, kalkigen Pflanzenarten gleiche, die man unter dem 
symbolischen Namen „Eisenblumen" — flos ferri — kennt. 

Die strenge Beobachtung des Schicklichen in diesen Kreisen 
diente nicht dazu, ein hohles oder mißgestaltetes Innere dahinter 
zu verbergen ; sie brachte im Gegenteil die Nötigung mit sich, alle 
Berührungen und Beziehungen zu vergeistigen und zu erhöhen, 
alle Eindrücke zu adeln. Was Wunder demnach, wenn seine 
frühesten, in so vornehmer Umgebung angenommenen Gewohn- 
heiten Chopin zu dem Glauben führten, daß die gesellschaftliche 
Sitte, anstatt eine einförmige Maske zu sein, die unter der Sym- 
metrie der gleichen Linien den Charakter aller Eigenart beraubt, 
vielmehr dazu dient, die Leidenschaften in Zaum zu halten, ohne 
sie zu unterdrücken, und sie vor Ausschreitungen zu bewahren, 



124 VI. Chopins Jugend. 



indem sie „den Schwärmern für das Unmögliche'' lehrte alle die 
Tugenden, welche die Erkenntnis des Übels erzeugt, denen zu 
vereinen, die „sein* Dasein in der Liebe vergessen lassen*' ^ und 
somit die unmögliche Verwirklichung einer „Eva", die „unschul- 
dig und gefallen. Jungfrau und Geliebte zugleich" ist, nahezu zu 
ermöglichen. 

In dem Maße, als jene ersten Jugendeindrücke Chopins in seiner 
Erinnerung zurücktraten, gewannen sie in seinen Augen noch an 
Anmut und Zauber und hielten ihn nur um so mehr in Fesseln, 
als keine damit in Widerspruch stehende Wirklichkeit diesen heim- 
lich in seiner Einbildungskraft verborgenen Zauber zu brechen 
versuchte. Je mehr diese Epoche der Vergangenheit angehörte, 
je mehr er sich zeitlich von ihr entfernte, um so mehr begeisterte 
er sich für die Gestalten, die er aus seinem Gedächtnis heraufbe- 
schwor. Es waren prachtvolle lebensgroße Porträts oder lächelnde 
Pastellköpfe, umflorte Medaillons oder Kameen-Profile, Wasser- 
farbenbilder dunklen Kolorits neben blassen, zarten Bleistift- 
skizzen. Diese Galerie von Schönheiten verschiedenster Art war 
seinem Geiste fort und fort gegenwärtig und yermehrte seinen 
Widerwillen gegen die Freiheit des Wesens, die brutale Herrschaft 
der Laune, die Gier, den Becher der Phantasie bis zur Hefe zu 
leeren und sich von jeglichem Zufall des Lebens abenteuernd um- 
hertreiben zu lassen, denen man in dem fremdartigen, stets be- 
weglichen Kreise begegnet, welcher als die Pariser Boheme be- 
zeichnet wird. 

Indem wir von dieser, inmitten des Glanzes der damaligen 
vornehmen Gesellschaft Warschaus verbrachten Periode seines 
Lebens sprechen, wollen wir es uns nicht versagen, einige Zeilen 
anzuführen, die Chopins Weise treffender als andere schildern, 
in welchen letzteren wir nur das Zerrbild einer auf elastischen 
Stoff gezeichneten und nun vielfach verzogenen Silhouette zu er- 
kennen vermögen. 

„Sanften, feinfühligen, in jeder Hinsicht ausgezeichneten We- 
sens, verband er mit fünfzehn Jahren die Anmut der Jugend mit 



1 Sand, Lucrezia Florian!. 



Chopins Wesen. 126 



der Würde des reiferen Alters. An Körper und Geist blieb er 
zart. Für die mangelnde Muskelkraft aber entschädigte ihn Schön- 
heit, eine außergewöhnliche Physiognomie, die sozusagen weder 
Alter noch Geschlecht hatte. Nicht das männliche kühne Äußere 
eines Abkömmlings der alten Magnaten, die nur zu trinken, zu 
jagen und Krieg zu führen verstanden, noch die weibliche Lieb- 
lichkeit eines rosigen Cherubs war ihm eigen. Etwas den idealen 
Geschöpfen, welche die mittelaiterliphe Poesie zur Ausschmückung 
der christlichen Gotteshäuser schuf. Verwandtes haftete ihm an. 
Ein Engel schön von Angesicht, wie ein erhabenes, schmerzerfülltes 
Weib, edel und schlank an Gestalt wie ein junger, olympischer 
Gott — so sehen wir ihn vor uns, und diese Erscheinung krönte 
ein Ausdruck, der zärtlich und streng, keusch und leidenschaft- 
lich zugleich war. 

„Und dies war der Grund seines Wesens. Es gab nichts Reineres 
und dabei doch Exaltierteres als seine Gedanken, nichts Beharr- 
licheres, Ausschließlicheres, Ergebeneres als seine Zuneigungen. . • 
Aber nur das ihm Gleichgeartete begriff er; alles übrige existierte 
für ihn nur wie eine Art lästigen Traums, dem er sich, obwohl in- 
mitten der Welt lebend, zu entziehen trachtete. Allezeit in seine 
Träumereien verloren, blieb er der Wirklichkeit abhold. Als Kind 
konnte er kein schneidiges Instrument berühren, ohne sich zu ver- 
wunden; als Mann vermochte er nicht einem anders gearteten Men- 
schen gegenüberzustehen, ohne sich durch diesen lebendigen Wider- 
spruch verletzt ztf fühlen. . . . 

„Vor einem fortwährenden Antagonismus bewahrte ihn nur 
die freiwillige und bald festgewurzelte Gewohnheit, nichts von 
alledem zu sehen und zu hören, was ihm im allgemeinen und ohne 
seine persönlichen Neigungen zu berühren mißfiel. Die Menschen, 
die anders als er dachten, stellten sich seinen Augen wie eine Art 
Phantom dar; da ihm aber eine liebenswürdige Artigkeit eignete, 
konnte man für höfliches Wohlwollen nehmen, was bei ihm nur 
kalte Geringschätzung, ja selbst unüberwindliche Abneigung 
war, . , • 

„Nie gestattete er sich eine Stunde der Mitteilsamkeit, ohne 
sie durch mehrere Stunden der Zurückhaltung zurückzukaufen. 



126 VI. Chopins Jugend. 



Die moralischen Ursachen dessen waren kaum erkennbar. Es 
hätte eines Mikroskops bedurft, um in seiner Seele zu lesen, in 
deren Tiefe so wenig vom Lichte der Lebendigen drang. . . . 

„Befremdend erscheint es, daß er bei einem derartigen Cha- 
rakter Freunde haben konnte. Und dennoch besaß er deren, und 
zwar nicht nur die Freunde seiner Mutter, die in ihm den würdigen 
Sohn einer edlen Frau schätzten, sondern auch junge Leute seines 
Alters, deren feurige Liebe er mit Liebe vergalt. . . . Von der 
Freundschaft hatte er eine ideale Vorstellung, und gern gab er 
sich in den Jahren der ersten Illusionen dem Glauben hin, daß er 
und seine Freunde, die in der gleichen Weise fast und in denselben 
Grundsätzen erzogen worden waren, niemals ihre Ansichten ändern 
und in Widerspruch miteinander geraten könnten. . . . 

„Sein Äußeres war zufolge seiner guten Erziehung und seiner 
natürlichen Anmut so einnehmend, daß er selbst denen, die ihn 
nicht kannten, gefallen mußte. Sein liebliches Antlitz stimmte 
von vornherein für ihn günstig. Die Zartheit seiner Konstitution 
machte ihn in den Augen der Frauen interessant; die reiche Bildung 
seines Geistes, die ruhige und einschmeichelnde Originalität seiner 
Gesprächsweise wendete ihm die Aufmerksamkeit unterrichteter 
Männer zu. Leute minder feinen Schlags gewann er durch seine 
ausgesuchte Höflichkeit, für die sie um so empfänglicher waren, 
als sie in ihrer arglosen Gutmütigkeit nicht begriffen, daß sie ledig- 
lich die Ausübung einer Pflicht für ihn war, an der die Sympathie 
keinen Anteil hatte. 

„Hätten sie ihn durchschauen können, so würden sie ihn mehr 
liebenswürdig als liebevoll gefunden haben und hätten von ihrem 
Standpunkte aus recht gehabt. Doch wie konnten sie auf solche 
Gedanken kommen, da in den seltenen Fällen, wo er sich an andere 
anschloß, seine Zuneigung so lebhaft und tief war. . . . 

„Bei den kleinen Vorkommnissen des Lebens betätigte er die 
gewinnendsten Umgangsformen. Der Ausdruck des Wohlwollens 
nahm bei ihm eine ungewöhnliche Grazie an, und wenn er seiner 
Dankbarkeit Worte verlieh, geschah dies mit einer inneren Be- 
wegtheit, welche die empfangene Freundschaft mit Wucherzinsen 
zurückzahlte. 



Chopins Äußeres, seine Erstlingsliebe. 127 

,,Er lebte in der Einbildung seines tagtäglich zu erwartenden 
Todes. Darum ließ er sich die Fürsorge eines Freundes gefallen, 
ob er ihm auch verhehlte, wie kurze Zeit er derselben zu bedürfen 
meinte. Ein starker Mut war ihm nach außen hin eigen, und wenn 
er den Gedanken eines nahen Todes nicht mit der heroischen Sorg- 
losigkeit der Jugend pflegte, so hegte er doch die Erwartung des- 
selben mit einer Art bitterer Wollust*" 

••••••••••••••••»•••••••••••••••••••••• 

In diese erste Zeit seiner Jugend fällt seine Neigung für ein 
junges Mädchen, das ihn lebenslang mit frommer Pietät im Herzen 
trug. Der Sturm, der Chopin, gleich einem auf dem Gezweig eines 
fremden Baumes überraschten Vogel, auf seinen Schwingen in 
weite Ferne führte, trennte diese erste Liebe und beraubte den Ver- 
bannten zu gleicher Zeit der Heimat wie der künftigen treuen Ge- 
fährtin seines Lebens. Nie fand er das Glück, das er mit ihr geträumt, 
wohl aber den Ruhm, an den er vielleicht nicht einmal gedacht 
hatte. Sie war schön und lieblich, wie die Madonnen Luinis mit 
den ernsten und doch so zärtlich blickenden Augen. Ruhig, doch 
voll Trauer trug sie ihr Geschick, zumal als sie gewahrte, daß keine 
andere Neigung das Dasein dessen versüßen sollte, den sie mit 
jener naiv erhabenen Hingebung verehrte, die das Weib in einen 
Engel verwandelt. 

Diejenigen Frauen, welche die Natur mit den schwer zu tragen- 
den Gaben des Genies — einer ungewöhnlichen Verantwortlichkeit 
und steten Versuchung, dieselbe doch zu vergessen — belastet, 
haben wohl, auch wenn sie die Sorgen um ihren Ruhm denen ihrer 
Liebe nicht opfern dürfen, das Recht, ihrer Selbstverleugnung 
Schranken zu setzen. Gleichwohl kann es geschehen, daß man selbst 
angesichts der glänzendsten Genialität die aus rückhaltloser Hingabe 
entspringenden göttlichen Gefühlsregungen vermißt; denn allein 
die volle Liebeshingebung, welche das Weib mit seinem ganzen 
Dasein, seinem Willen und Namen in dem des geliebten Mannes 
aufgehen läßt, berechtigt den Mann, wenn er aus dem Leben scheidet, 
zu dem Bewußtsein, daß er dasselbe mit der Frau geteilt, und daß 



^ Lucrezia Floriani. 



128 VI. Chopins Jugend. 

seine Liebe ihr besser als jedwede zufällige oder vorübergehende 
Verbindung die Ehre ihres Namens und den Frieden ihres Herzens 
zu sichern vermochte. 

Unvermutet von Chopin getrennt, blieb das junge Mädchen, 
das ihm zur Braut bestimmt war und ihm doch niemals angehören 
sollte, seinem Andenken und allem, was ihr von ihm zurückblieb, 
treu. Mit kindlicher Freundschaft umgab sie seine Eltern, und 
Chopins Vater duldete nicht, daß ein in jenen hoffnungsvollen Tagen 
von ihr gezeichnetes Porträt seines Sohnes jemals durch ein an- 
deres vollendeteres bei ihm ersetzt werde. Viele Jahre später 
noch sahen wir die bleichen Wangen dieses trauernden Weibes 
sich leise röten, wie den Alabaster ein plötzlicher Lichtschein färbt, 
als beim Anschauen dieses Bildes sein Blick dem eines aus Paris 
angekommenen Freundes begegnete. 

Nach Ablauf der Gymnasialjahre begann Chopin seine Har- 
moniestudien bei Professor Joseph Eisner. Bei ihm lernte er, was 
am schwersten zu erlernen ist und am seltensten ausgeübt wird: 
streng in den Anforderungen gegen sich selbst zu sein und Geduld 
und Fleiß bei der Arbeit zu bewähren. Als er dann auch seinen 
musikalischen Kursus zu glänzendem Abschlüsse gebracht hatte, 
sollte er auf Wunsch der Eltern reisen, um berühmte Künstler 
sowohl als gute Aufführungen der Meisterwerke der Tonkunst 
kennen zu lernen. Zu diesem Zweck nahm er in verschiedenen 
Städten Deutschlands einen kurzen Aufenthalt. Im Jahre 1830 
hatte er, um solch flüchtigen Ausflugs willen, Warschau verlassen, 
als die Revolution vom 29. November zum Ausbruch kam. 

In Wien zu bleiben genötigt, ließ er sich daselbst in mehreren 
Konzerten hören. Gerade in diesem Winter aber war das sonst 
so verständnisvolle, von allen Feinheiten des Gedankens und der 
Ausführung rasch entzündete Wiener Publikum zerstreut. Nicht 
in dem Maße, als er es mit Recht erwarten durfte, erregte der junge 
Künstler Aufsehen. Er verließ Wien, um sich nach London zu be- 
geben, ging zuvor aber nach Paris, in der Absicht, nur kurze Zeit 
dort zu verweilen. Seinem nach England visierten Passe hatte er 
beifügen lassen: »passant par Paris«. Dieses Wort umschloß 
seine Zukunft. Viele Jahre später, als er in Frankreich nicht nur 



Chopin in Wien, in Paris. 129 

akklimatisiert, sondern naturalisiert schien, sagte er noch lächelnd: 
,,Ich bin nur en passant hier." 

Nach seiner Ankunft in Paris gab er zwei Konzerte, in denen 
er sofort die lebhafte Bewunderung der eleganten Gesellschaft wie 
der jungen Künstler auf sich zog. Wir erinnern uns noch seines 
ersten Auftretens bei Pleyel, wo der rauschendste Beifall gegenüber 
diesem Talente, das nach der ideellen wie der formellen Seite seiner 
Kunst hin eine neue Richtung offenbarte, unserer Begeisterung 
kaum genugtat. Im Gegensatz zur Mehrzahl junger Debütanten, 
zeigte er sich keinen Augenblick durch seinen Triumph berauscht 
oder geblendet. Ohne Stolz und ohne falsche Bescheidenheit nahm 
er ihn hin, frei vom Kitzel knabenhafter Eitelkeit, wie sie die Em- 
porkömmlinge des Erfolgs an den Tag legen. 

Alle seine Landsleute, die sich zu jener Zeit in Paris befanden, 
bereiteten ihm den entgegenkommendsten Empfang. Kaum an- 
gelangt, zählte er zu den vertrauten Freunden des Hotel Lambert, 
wo der alte Fürst Adam Czartoryski mit Frau und Tochter die 
Trümmer der polnischen Gesellschaft, die der letzte Krieg weit 
umher geworfen hatte, um sich vereinigte. Mehr noch zog ihn die 
Fürstin Marcelline Czartoryska in ihr Haus. Sie gehörte zu seinen 
liebsten Schülerinnen, ja sie war, wie man sagt, die Bevorzugte, 
der er die Geheimnisse seines Spiels als rechtmäßiger Erbin seiner 
Erinnerungen und Hoffnungen zurückließ. 

Häufig besuchte er die Gräfin Louis Plater, geborene Gräfin 
Brzostowska, „Pani Kasztelanowa" genannt. Bei ihr hörte man 
viel gute Musik; verstand sie es doch, alle die Talente, welche 
damals ihren Aufschwung zu nehmen und als glänzende Stern- 
bilder zu leuchten versprachen, in ermutigender Weise um sich 
zu versammeln. Da fühlte sich der Künstler nie unedler, ja zu- 
weilen barbarischer Neugier oder Indiskretion preisgegeben, die 
im stillen überrechnet, wie viele Besuche, Diners und Soupers jede 
Berühmtheit repräsentiert, um ja nicht zu verfehlen, eine solche, 
falls sie gerade in der Mode ist, „bei sich zu haben*', ohne an einen 
weniger bekannten Namen ihre Großmut zu verschwenden. Als 
echte grande dame im alten Sinne des Worts, demzufolge sie sich 
als die Beschützerin eines jeden betrachtete, der ia ihren auser- 

Liszt, Qesammelte Schriften. I. V.A. 9 



130 VI. Chopins Jugend. 



wählten Kreis eintrat, empfing Gräfin Plater die Gäste ihres Hauses. 
Bald Fee, bald Muse, Schutzengel, zarte Wohltäterin, jede Gefahr 
erkennend, stets das rechte Auskunftsmittel erratend, war sie jeg- 
lichem von uns eine ebenso geliebte als verehrte liebenswürdige 
Protektorin, die unser Streben erwärmte uiid erhob und unserem 
Leben fehlte, als sie nicht mehr war. 

Viel verkehrte Chopin auch mit Frau von Komar und ihren 
Töchtern, Fürstin Ludmilla von Beauveau und Gräfin Delphine 
Potocka. Der letzteren Schönheit und unbeschreibliche Geistes- 
anmut erhoben sie zu einer der gefeiertsten Königinnen des Salons. 
Ihr widmete er sein zweites Konzert, mit dem von uns bereits an 
anderer Stelle erwähnten Adagio. Bei der Schönheit ihrer reinen 
Linien glich sie noch auf ihrem Totenbett einer ruhenden Statue. 
Immer von Schleiern, Schals, Wolken durchsichtiger Gaze um- 
hüUt, die ihr ein eigentümlich ätherisches Ansehen gaben, war die 
Gräfin von einer gewissen Affektiertheit nicht frei; was sie aber 
affektierte, war so ausgesucht fein, sie affektierte es in so vornehmer 
Weise, war in der Wahl ihrer ihre angeborene Überlegenheit noch 
erhöhenden Anziehungsmittel eine so raffinierte Aristokratin, daß 
man nicht wußte, sollte man an ihr mehr die Natur oder die Kunst 
bewundern. Ihr Talent, ihre unvergleichliche Stimme übten auf 
Chopin einen Zauber, dessen holder Macht er sich leidenschaftlich 
hingab. Diese Stimme aber sollte noch in seinen letzten Stunden 
an sein Ohr klingen und für ihn die süßesten Töne der Erde mit 
den ersten Akkorden himmlischer Musik verschmelzen. 

Auch mit vielen jungen Polen stand er in Beziehung: Fontana, 
Orda, dem eine große Zukunft zu winken schien, und der doch mit 
zwanzig Jahren in Algier fiel; die Grafen Plater, Grzymala, Os- 
trowski, Szembeck, Fürst Casimir Lubomirski u. a. Da auch 
die später in Paris eintreffenden polnischen Familien sich beeilten, 
seine Bekanntschaft zu machen, so verkehrte er fortdauernd vor- 
zugsweise mit einem Kreis, der zum größten Teil aus seinen Lands- 
leuten bestand. Durch ihre Vermittelung ward er nicht nur von 
allen Vorkommnissen in seinem Vaterland unterrichtet, er blieb 
auch in einer Art musikalischer Verbindung mit demselben. Gern 
ließ er sich die neuen. Dichtungen und Gesänge zeigen, die die Neu- 



Chopin und die polnische Aristokratie in Paris. 131 

ankommenden nach Frankreich mitbrachten. Gefielen ihm die 
Worte derselben, so unterlegte er ihnen oftmals eine eigene Melodie, 
die sich rasch in seiner Heimat verbreitete, ohne daß der Name 
ihres Urhebers immer bekannt geworden wäre. Nachdem diese 
nur der Eingebung seines Herzens entsprungenen Melodien all- 
mählich zu beträchtlicher Anzahl angewachsen waren, dachte 
Chopin in seiner letzten Lebenszeit daran, sie zur Veröffentlichung 
zusammenzustellen. Leider gebrach ihm die nötige Muße dazu, 
und so bleiben sie nun verloren und verstreut, wie der Duft von 
Blumen, die an unbewohnten Orten blühen und nur den einsamen 
Pfad des vom Zufall dahin geführten Wanderers mit Wohlgeruch 
erfüllen. Wir hörten in Polen mehrere solcher ihm zugeschriebener 
Melodien, die in der Tat auch seiner würdig wären. Wer aber 
wollte es gegenwärtig wagen, unter den Eingebungen des Dichters 
und seines Volkes eine unsichere Auslese zu halten? 

Polen darf sich vieler Sänger rühmen, selbst solcher, die neben 
den ersten Dichtern der Welt zu nennen sind. Mehr denn je lassen 
es sich seine Schriftsteller angelegen sein, die merkwürdigsten und 
ruhmreichsten Blätter seiner Geschichte, die ergreifendsten und 
malerischsten Charakterzüge des Landes und seiner Sitten hervor-* 
zuheben. Chopin aber, der nicht wie sie planmäßig vorging. Über- 
ragte sie alle an Originalität. Er hat dies Resultat nicht gesucht 
und gewollt; nicht von vornherein schuf er sich ein solches Ideal. 
Seine Kunst schien sich zuvörderst für eine „nationale Poesie*' 
nicht zu eignen ; auch forderte er ihr nicht mehr ab, als sie zu leisten 
vermochte. Nur was er singen konnte, sollte sie schildern. Ab- 
sichtslos, ohne in die Vergangenheit zurückzugreifen, gedachte 
er der vaterländischen Ruhmestaten; ohne sie im voraus zu ana- 
lysieren, verstand er seiner Zeitgenossen Liebe und Tränen. Nicht 
das Resultat langen Sinnens und Grübelns war seine polnische 
Musik; er wäre vielleicht erstaunt gewesen, sich einen polnischen 
Musiker neanen zu hören. Und dennoch war er ein nationaler 
Musiker par excellence! 

Sehen wir nicht zuweilen einen Dichter oder Künstler auf- 
tauchen, der den poetischen Sinn und Gehalt einer Gesellschaft 
und E|>oche in sich zusammenfaßt und samt den Typen, die sie 

9* 



132 VI. Chopins Jugend. 



umschloß oder zu verwirklichen trachtete, in seinen Schöpfungen 
darstellt? Was man durch Homers Epen, durch Horaz* Satiren, 
Calderons Dramen, Terburgs Bilder, Latours Pastelle bestätigt 
findet, könnte es sich, nur in anderer Weise, nicht auch in der 
Musik wiederholen? Warum vermöchte nicht auch der Tonktinstler 
in seinem Stil und Kunstwerk Geist und Empfinden, Leben und 
Ideal einer Gesellschaft widerzuspiegeln, die innerhalb einer be- 
stimmten Zeit und eines bestimmten Landes eine besondere cha- 
rakteristische Gruppe bildete? Chopin war der Dichter des Landes 
und der Zeit, die ihn geboren. Das seinem Volk ureigene und unter 
allen seinen Zeitgenossen verbreitete poetische Empfinden faßte 
er in seiner Phantasie zusammen und brachte es durch sein Talent 
zu künstlerischem Ausdruck. 

Wie alle echten Nationaldichter sang Chopin wähl- und ab- 
sichtslos, was die Gunst des Augenblicks ihm freiwillig gewährte. 
So wurden in natürlichster Weise und idealisiertester Form die 
Empfindungen, die seine Kindheit belebt, sein Jünglingsalter be- 
wegt, senie Jugend verschönt hatten, in seinen Gesängen wieder 
lebendig. So auch gewann das „wirkliche Ideal'* der Seinen, 
wenn man so sagen darf, das einst in Wahrheit existierende Ideal, 
dem alle im allgemeinen und jeder im besonderen sich in irgend 
einer Weise näherten, unter seiner Feder Gestalt. Anspruchslos 
vereinigte er die in seinem Vaterland allenthalben unklar emp- 
fundenen und fragmentarisch zerstreuten Gefühle zu einer glänzenden 
Strahlengarbe. Erkennt man den nationalen Künstler nicht eben 
an der Gabe, die seinem Volke eigenen, wenn auch vielfältig zer- 
streuten und unbestimmten Bestrebungen in eine allen Völkern 
verständliche poetische Formel zusammenzufassen? 

Ist man gegenwärtig nicht ohne Grund bemüht, die in den ver- 
schiedenen Ländern heimischen Melodien sorgfältig zu sammeln, 
so möchte es uns noch interessanter dünken, dem Charakter, der 
auf das Talent der ganz besonders durch das Nationalgefühl in- 
spirierten Virtuosen und Komponisten bestimmend wirkt, einige 
Aufmerksamkeit zu schenken. Nur wenige sind es bisher, deren 
hervorragende Werke sich der allgemeinen Einteilung in italienische, 
französische, deutsche Musik nicht einordnen lassen. Dessen- 



Chopiq als rtationaler Tondichter. 133 

ungeachtet läßt sich vermuten, daß bei der erstaunlichen Ent- 
wickelung, die dieser Kunst in unserem Jahrhundert bestimmt zu 
sein scheint (und die vielleicht die glorreiche Ära der Malerei des 
cinque cento für uns erneuert), Künstler hervortreten werden, 
deren Individualität eine feinere, verzweigtere Klassifizierung be- 
dingt; deren Werke den Stempel einer aus der Verschiedenheit 
der Wesenheiten geschöpften Originalität tragen, wie sie die Ver- 
schiedenheit der Rassen, des Kümas und der Sitten in jedem Lande 
hervorbringt. Die Zeit wird kommen, wo ein amerikanischer Pia- 
nist sich von einem deutschen, ein russischer Symphoniker von 
einem italienischen wesentlich unterscheiden wird. Es ist voraus- 
zusehen, daß, wie in allen Künsten so auch in der Musik, die Ein- 
wirkungen des Vaterlandes auf große und kleine Meister, dii mi- 
nores, erkennbar werden; daß man in den Produktionen aller den 
Volksgeist vollständiger, poetisch wahrer und interessanter für 
das Studium abgespiegelt finden wird, als in dem abgeleierten, un- 
künstlerischen populären Klingklang, so rührend derselbe auch den 
Zeitgenossen erscheinen möge. 

Chopin wird dann den ersten Musikern beigezählt werden, die 
in dieser Weise, unabhängig vom Einfluß einer Schule, den poeti- 
schen Gehalt einer ganzen Nation in sich individualisierten. Und 
zwar nicht nur, weil er sich des Rhythmus der „Polonaisen", der 
„Mazurken" oder „Krakowiaks" bediente und mit ihrem Namen 
viele seiner Arbeiten benannte. Hätte er sich darauf beschränkt, 
sie zu vermehren, so würde er stets nur dasselbe Bild, die Erinne- 
rung an denselben Gegenstand, an dieselbe Tatsache dargestellt 
haben — eine Reproduktion, die bald langweilig geworden wäre, 
da sie nur der Verbreitung einer einzigen, leicht mehr oder minder 
monoton werdenden Form gedient hätte. Sein Name wird als der 
eines wesentlich polnischen Dichters fortdauern, weil er alle die 
von ihm benutzten Formen als Ausdruck einer seinem Volke eigenen,- 
anderwärts nahezu unbekannten Empfindungsweise anwandte; 
weil der Ausdruck der gleichen Empfindungen sich unter allen 
Formen und allen Namen wiederfindet, die er seinen Werken gab. 
Seine „Präludien", seine „Etüden", seine „Nocturnes" zumal, 
seine „Scherzi", selbst seine „Sonaten" und „Konzerte" — seine 



134 VI. Chopins Jugend. 



kürzesten, wie seine umfangreichsten Kompositionen — atmen 
die gleiche Empftndungsweise, die, in verschiedenen Steigerungen 
dargestellt, tausendfach umgestaltet und variiert, doch immer eine 
und dieselbe bleibt. Als ein im höchsten Grade subjektiver Künst- 
ler beseelte Chopin alle seine Schöpfungen mit dem gleichen Leben, 
nämlich mit dem ureigenen Leben ihres Schöpfers selbst. Durch 
die Einheit des Gegenstandes sind demnach alle seine Werke mit- 
einander verbunden. Ihre Schönheiten wie ihre Fehler sind die 
Folge einer immer gleichen und zwar einer exklusiven Gefühlsweise. 
Diese aber ist die erste Bedingung für den Dichter, wenn seine 
Gesänge einen Widerhall finden sollen in den Herzen seines Volkes^. 



1 Wir führen hier einige Zeilen des Grafen Zaluskl, des Enkels jenes 
Fürsten Oginski an, dessen wir als Autors der erwähnten, mit der seltsamen 
Vignette versehenen Polonaise gedachten. Besser wohl als viele Landsleute 
Chopins wußte Graf Zaluski, ein vortrefflicher Musiker, Sinn, Geist und Seele 
seiner Werke zu erfassen. In einem interessanten Aufsatz über Chopin, den 
eine Wiener Zeitschrift „Die Dioskuren", II. Band, veröffentlichte, äußert 
der als Dichter wie als Orientalist sich auszeichnende Diplomat sich folgender- 
maßen: 

„Kein Werk des Meisters ist aber geeigneter, einen Einblick in den er- 
staunlichen Reichtum seiner Gedanken zu gewähren, als seine Präludien. 
Diese zarten, oft ganz kleinen Stücke sind so stimmungsvoll, daß es kaum mög- 
lich ist, beim Anhören derselt>en sich der herandringenden poetischen Anre- 
gungen zu erwehren. An und für sich bestimmt, musikalische Intentionen 
mehr anzudeuten als auszuführen, zaubern sie lebhafte Bilder hervor, oder 
sozusagen von selbst entstandene Gedichte, die dem Herzensdrang entsprechen- 
den Gefühlen Ausdruck zu geben suchen. Bewegt, leidenschaftlich, zuletzt 
so wehmütig ruhig ist das Pr61ude in Fis-MoII, daß man unwillkürlich daran 
einen deutlichen Gedanlcen IcfiUpft, indem man sagt: 

Es rauschen die Föhren in heri)stlicher Nacht, 
Am Meer die Wogen erbrausen. 
Doch wildere Stürme mit böserer Macht 
Im Herzen der Sterblichen hausen. 

Denn ruht wohl die See bald und seufzet kein Ast, 
Das Herz, ach! muß grollen und klagen, 
Bis daß ein Glöcklein es mahnet zur Rast 
Und jetzo es aufhört zu schlagen! 

„Zwei reizende Gegenstücke erinnern an eine Theokrittsche Landschaft, 
an einen rieselnden Bach und Hirtenflötentöne. Der Absicht, die Rollen 



. Chopins Subjektivität. 185 

Nichtsdestoweniger darf man fragen, ob diese eminent nationale, 
ausschließlich polnische Musik bei ihrem Erscheinen seitens derer, 
die sie besang und verherrlichte, einer gleich verständnisvollen und 
eifrigen Aufnahme begegnete als Mickiewicz', Slowackis, Krasinskis 
Dichtungen? Ach! die Kunst trägt einen so rätselhaften Zauber 
in sich, ihre Wirkung auf die Herzen ist eine so geheimnisvolle, 
daß selbst die, welche am meisten von ihr beherrscht werden, das, 
was sie singt und sagt, nicht allsogleich in Worten oder Bildern 
wiederzugeben vermögen. Ganze Generationen müssen diese Poesie 
erst in sich aufzunehmen, ihren Duft einzuatmen gelernt haben, 
um endlich ihren ganzen lokalen Reiz zu erfassen und daraus ihre 
Abkunft zu erraten. 

Chopins Landsleute umdrängten ihn. Sie nahmen Anteil an 
seinen Erfolgen, freuten sich seiner Berühmtheit, rühmten sich 
seines Namens als eines ihnen Angehörenden. Wußten sie aber, 
inwieweit seine Musik ihnen angehörte? Gewiß, sie ließ ihre Herzen 
höher schlagen, entlockte ihren Augen Tränen; aber wußten sie 
wohl immer warum? Vielleicht ist einer, der viel mit ihnen ver- 
kehrt, sie besonders geliebt und bewundert hat, zu der Annahme 
berechtigt, daß sie nicht Künstler und Musiker genug, nicht ge- 
nügend scharfsinnige Beurteiler der künstlerischen Intentionen 



unter beide Hände zweifach zu verteilen, entsprang die doppelte Darstellung 
deren Analogien und Kontraste in fast mikroskopischen Verhältnissen wunder- 
bar erscheinen. Sie erinnern an jene wundervollen Gebilde der Natur, die 
im kleinsten Raum eine so erstaunliche Zahlenmenge aufweisen. Man zähle 
nur die Noten des zuerst erwähnten Präludiums, ihre Zahl beträgt gegen fünf- 
zehnhundert, die kaum eine Minute ausfüllen. — Anderswo rollen Orgeltöne 
im weiten Domesraum, oder es erzittern im fahlen Mondlichte Friedhofsklage- 
töne, während Irrlichter geisterhaft vorbeihuschen. Dort wandelt der Sänger 
am Meeresufer, und der Atemzug des bewegten Elementes umweht ihn wie 
mit unbekannten Stimmungen aus fernen Welten. 

„Es fehlt nicht an traditionellen Auslegungen mancher Schöpfungen 
Chopins. Wer denkt da nicht gleich an das Pr61ude in Des-Dur, das an einem 
stürmischen Tage auf den Balearen entstand? Gleichmäßig und immer wieder- 
kehrend fallen bei Sonnenschein Regentropfen herab; dann verfinstert sich 
der Himmel, und ein Gewitter durchbraust die Natur. Nun ist es vorüber- 
gezogen,, und wieder lacht die Sonne; doch die Regentropfen fallen noch 
immer I ..." 



136 VI. Chopins Jugend. 



waren, um sich über den letzten Grund ihrer tiefen Bewegung beim 
Anhören ihres Barden Rechenschaft zu geben. Aus der Weise, 
wie einige seine Kompositionen spielten, sah man, daß sie zwar stolz 
auf Chopin als ihren Stammesgenossen waren, aber keine Ahnung 
davon hatten, daß seine Musik ausdrücklich von ihnen sprach, 
sie in Szene setzte und dichterisch verklärte. 

Eine andere Zeit, ein anderes Geschlecht freilich war mittler- 
weile herbeigekommen. Das Polen, das Chopin gekannt, hatte, 
tapfer und ritterlich, seine ersten europäischen Lorbeeren auf den 
sagenhaften Schlachtfeldern des ersten Napoleon gepflückt. Es 
hatte mit dem schönen unglücklichen Fürsten Joseph Poniatowski, 
der sich in die Fluten der Elster stürzte, einen heroischen Glanz 
um sich verbreitet, und noch immer scheinen jene Fluten erstaunt 
über die Kühnheit, mit der sie ihn verschlungen, wie über den Welt- 
ruf, der sich an ihre prosaischen Ufer knüpft, seit eine mächtige 
Trauerweide die berühmten Manen überschattet. Das Polen 
Chopins war noch das von Ruhm und Lustbarkeit, Tanz und Liebe 
berauschte Polen, das heldenmütig auf den Wiener Kongreß gehofft 
hatte und töricht genug auch unter Alexander L noch hoffte. — 
Inzwischen* war Kaiser Nikolaus zur Regierung gekommen! — 
Wer freilich unter den Eindrücken einer so düsteren Wirklichkeit 
dem Vaterland entflohen war, vermochte, in Paris anlangend, den 
Faden der Erinnerungen Chopins nicht leicht da wieder aufzu- 
nehmen, wo er abgerissen worden war. 

Gern hätten wir hier durch Analogie von Wort und Bild die 
inneren Eindrücke verständlich gemacht, die einer so auserlesenen 
Feinfühligkeit und Reizbarkeit entsprechen, wie sie feurigen und 
leicht beweglichen, in ihrem Stolz tief verwundeten Naturen eigen 
ist. Doch schmeicheln wir uns nicht, daß es uns gelungen wäre, 
eine so ätherische Flamme in den engen Raum des Wortes zu 
bannen. Wäre die Lösung dieser Aufgabe überhaupt möglich? 
Wird neben den machtvollen oder lieblichen Eindrücken, wie andere 
Künste sie hervorrufen, das Wort nicht immer matt, kalt und dürftig 
erscheinen? Äußerte eine Frau, deren Feder viel gesagt, gemalt, 
gemeißelt und gesungen hat, nicht oft mit Recht: „daß von allen 
Arten, ein Gefühl zum Ausdruck zu bringen, das Wort die unzu- 



Chopin will ausdauernd studiert sein. 137 

länglichste sei?'' Wir bilden uns nicht ein, in diesen Blättern die 
Weichheit der Pinselführung erreicht zu haben, die erforderlich 
wäre, um die mit unnachahmlicher Leichtigkeit entworfenen Ton- 
bilder Chopins wiederzugeben. 

Da ist alles zart und fein, bis hinauf zur Quelle des Zorns und 
der Leidenschaft. Da verschwinden die freien, raschen Impulse. 
Bevor sie ans Licht treten, mußten sie alle die strenge Musterung 
einer fruchtbaren, geist- und anspruchsvollen Phantasie bestehen, 
die sie zusammenstellte und ihre Gestalt bestimmte. Sie alle wollen 
mit Scharfsinn erfaßt, mit Feingefühl künstlerisch verlebendigt 
werden. Das eben, daß er sie mit ausgesucht wählerischer Hand 
erfaßte und mit wunderbarer Kunst verlebendigte, hat Chopin zum 
Künstler ersten Ranges gemacht. Nur wenn man ihn lange und 
ausdauernd studiert, seinen Gedanken durch ihre vielfältigen Ver- 
zweigungen nachgeht, lernt man vollkommen verstehen und wür- 
digen, wie er sie förmlich sichtbar und greifbar zu machen wußte, 
ohne daß sie je schwerfällig oder kalt erschienen. 

Zu jener Zeit brachte ein befreundeter Musiker, ein entzückter 
und begeisterter Zuhörer, ihm täglich eine sozusagen intuitive 
Bewunderung dar; denn erst viel später erschloß sich ihm das ganze 
Verständnis dessen, was Chopin gesehen und geliebt, was ihn in 
seinem Vaterlande erregt und entflammt hatte. Er hätte ohne 
Chopin, selbst wenn er Polen und die Polinnen gekannt hätte, 
wohl nie erraten, was Polen war, und was die Polinnen und ihr Ideal 
sind. Hinwiederum hätte er Chopins Ideal: Polen und die Polinnen, 
wohl nicht so zu verstehen vermocht, hätte er nicht seine Heimat 
aufgesucht und dort der Fülle von Hingebung, Großmut und 
Heldenmut, die das Frauenherz umschließt, bis auf den Grund 
geschaut. Alsbald begriff er, daß der polnische Künstler seine 
Verehrung des Genies dadurch kundgab, daß er es als Vorrecht 
der Geburt betrachtete. . . . 

Als Chopins Aufenthalt in Paris sich verlängerte, wurde er in 
Kreise hineingezogen, die sich antipodisch zu denen verhielten, 
in deren Mitte er aufgewachsen war. Sicherlich dachte er nie 
daran, den Umgang mit den schönen und geistvollen Beschütze- 
rinnen seiner Jugend aufzugeben, und dennoch — er wußte nicht, 



138 VI. Lelila. 



wie es geschah? — kam eine Zeit, wo seine Besuche bei ihnen sel- 
tener wurden. Dem Kreise, in den er nun eingetreten war, war 
das polnische Ideal und vollends das Ideal irgend welchen Geburts- 
vorrechtes gänzlich fremd. Wohl begegnete er daselbst der könig- 
lichen Erscheinung des Genies, die ihn angezogen hatte. Aber sie 
versammelte keinen Adel, keine Aristokratie um sich, die imstande 
gewesen wären, sie auf den Schild zu erheben und' mit grünem 
Lorbeer oder funkelndem Diadem zu krönen. Wandelte ihn ein- 
mal die Lust an, sich selber Musik zu machen, so redeten die Liebes- 
lieder seines Klaviers eine Sprache, die keiner ringsumher verstand. 

Berührte ihn vielleicht der Kontrast zwischen dem Salon, in 
dem er gegenwärtig war, und jenen anderen, wo man ihn vergeb- 
lich erwartete, zu peinlich, als daß er der bösen Macht zu ent- 
rinnen vermochte, die ihn in einer seiner vornehmen Natur so 
fremdartigen Umgebung festhielt? Oder dünkte ihm im Gegen- 
teil dieser Kontrast nicht stark genug, um ihn dem Genuß unseliger 
Liebeslust zu entreißen, nun sein Vaterland ihm inmitten seiner 
verbannten oder unglücklichen Töchter nicht mehr jene magischen 
Feste zu bieten vermochte, wie er sie in seinen Jugendjahren ge- 
schaut? Wer von den Seinen hätte es denn gewagt, sich in jener 
Zeit an einem Feste zu beteiligen? Wer also von denen, die seine 
Landsleute nicht kannten, wußte und ahnte etwas von der Welt, 
die diese polnischen Sylphiden und Peris belebten und als züchtig 
fromme Zauberinnen beherrschten? Und hätte man auch wirklich 
ihre duftigen Schattenrisse mit staunendem Auge geschaut, was 
würden die, deren Haar und Bart so wenig von Pflege als ihre Hände 
von Handschuhen wissen, davon verstanden haben? Rasch hätten 
sie sich abgekehrt, wie wenn der zerstreut emporgerichtete Blick 
weißen oder purpurnen Wolken begegnet, die mit ihren wech- 
selnden Farbentönen ^ine Landschaft am luftigen Himmelsge- 
wölbe malen, die freilich den wütenden Politiker sehr gleichgültig 
läßt. 

Mit welch geheimer Angst mag Chopins Blick sich aus der 
unschönen, ihn bedrückenden Wirklichkeit der Gegenwart oftmals 
in die Poesie der Vergangenheit zurückgeflüchtet haben, wo er nur 
Leidenschaft und Anmut um sich sah, die die Seele befriedigen und 



George Sands Kreise. 139 



den Willen stählen, aber sie nie verweichlichen lassen! Beredter 
als alte menschlichen Worte wirkt die Zurückhaltung in einer Luft, 
wo man Feuer, aber ein belebendes, durch Tugend, Ehre, Geschmack, 
Noblesse der Wesen und der Dinge geläutertes Feuer einatmet. 
Gleich van Dyck vermochte auch Chopin seiner Natur nach nur 
ein einer höheren Sphäre angehörendes Weib zu lieben. Doch 
minder glücklich als der Lieblingsmaler des vornehmsten Adels 
der Welt, verfiel er den Fesseln einer Macht, die den Anforderungen 
seines Wesens nicht entsprach. Er begegnete nicht dem edeln 
jungen Mädchen, das glücklich war, sich in einem von Jahrhunder- 
ten bewunderten Meisterwerk verewigt zu sehen, wie van Dyck 
die blonde Hebliche Engländerin verewigte, deren schöne Seele in 
ihm erkannte, daß der Adel des Genies noch über dem des Stamm- 
baumes steht. 

Lange Zeit hielt Chopin sich von den gefeiertsten Berühmt- 
heiten der französischen Hauptstadt fern; der laute Schwärm ihrer 
Anhänger war ihm lästig. Er seinerseits forderte weniger als sie 
ilie Neugier heraus, da sein Charakter und seine Gewohnheiten 
mehr wahre Originalität als augenfällige Exzentrizität bekundeten. 
Da wollte es das Unglück, daß er eines Tages vom Zauberbann 
eines Blickes getroffen ward, der, als er ihn seinen Flug zu den 
Wolken nehmen sah, sich ihm zuwandte und ihn in seine Netze 
fallen ließ. Man wähnte diese Netze wohl anfangs vom feinsten 
Golde und mit Perlen übersät; aber jede ihrer Maschen ward für 
ihn zur Fessel. Vermochte diese auch seinen Genius nicht zu 
schädigen, sie zehrte doch an seinem Leben und entrückte ihn 
vor der Zeit der Welt, seinem Vaterlande, der Kunst! 



VIL 

Im Jahre 1836 hatte Frau George Sand nicht nur »Indiana«, 
»Valentine« und »Jacques«, sondern auch »L61ia« veröffentlicht 
— eine Dichtung, von der sie später sagte: „Wenn ich bedauere, 
sie geschrieben zu haben, so ist es, weil ich sie nicht noch einmal 
schreiben kann. In einer ähnlichen Geistesverfassung wie damals, 
würde es mir heute eine große Erleichterung gewähren, sie wieder 



140 VIL Lelila. 



anfangen zu können^/' In der Tat, die Aquarellmalerei des Romans 
mußte George Sand fad erscheinen, nachdem sie Meißel und Hammer 
des Bildhauers geführt und diese gewaltige Statue modelliert hatte, 
der in ihrer monumentalen Unbeweglichkeit ein verführerischer 
Reiz' innewohnt, und die bei längerer Betrachtung uns schmerz- 
lich bewegt, wie wenn, durch ein dem des Pygmalion entgegen- 
gesetztes Wunder, eine lebendige Galathea durch den von Liebe 
erfaßten Künstler in Stein verwandelt worden wäre, um ihre Schön- 
heit und Vergänglichkeit zu schützen. Statt daß wir aber an- 
gesichts der zum Kunstwerk verwandelten Natur die Liebe sich 
der Bewunderung gesellen sehen, verstimmt uns vielmehr die Wahr- 
nehmung, daß Liebe in Bewunderung übergehen kann. 

Bleiche Lelia! Einsame Gegenden hat dein Fuß durchwandert, 
düster wie Lara, zerrissenen Gemütes wie Manfred, rebellisch wie 
Kain, so warst du; doch wilder, unbarmherziger, trostärmer noch 
als jene. Denn kein Männerherz fand sich, das weiblich genug 
fühlte, um dich zu lieben, wie sie geliebt wurden, um deinen herben 
Reizen den Tribut blind vertrauender Unterwerfung, stummer und 
heißer Hingebung zu zollen, um seine Fügsamkeit unter den Schutz 
deiner Amazonenkraft zu stellen! Heldenweib, wie jenes kriege- 
rische Geschlecht warst auch du tapfer und kampfbegierig und 
scheutest dich nicht, dein sammetweiches Antlitz durch Sonne 
und Sturm bräunen zu lassen, deine mehr geschmeidigen als kräf- 
tigen Glieder an Beschwerden zu gewöhnen und ihnen so die Macht 
ihrer Schwachheit zu rauben! Wie jene Heldinnen mußtest auch 
du mit einem dich blutig verletzenden Panzer die Brust bedecken, 
die, hold wie das Leben, verschwiegen wie das Grab, dem Manne 
heilig ist, wenn sein Herz den ausschließlichen undurchdringlichen 
Schild derselben bildet! 

Nachdem sie mit stumpferem Meißel dies Antlitz geglättet, 
dessen Hoheit und Stolz, dessen düster umschatteter Blick und 
flutendes Haar an die griechischen Marmorbilder der Gorgone 
erinnern, deren herrliche Züge und schöne, verhängniskündende 
Stirn wir bewundern, ob auch ihr sardonisches Lächeln das Blut 



* Lettres d'un voyageur. 



G. Sand auf der Höhe des Ruhms. 141 

erstarren macht — suchte George Sand vergebens nach einer anderen 
Form für das Gefühl, das ihre unbefriedigte Brust durchwühlte. 
Nachdem ihre hohe Kunst diese Gestalt geschaffen, welche alle 
männlichen Tugenden in sich vereinte, um die einzig von ihr ver- 
schmähte: die Selbstaufopferung in der Liebe, zu ersetzen, die der 
Dichter als „das ewig Weibliche" unter allen Tugenden am höchsten 
feiert; nachdem sie Don Juan verdammen und doch eine Hymne 
auf das Genußverlangen von dem Weibe singen ließ, das gleich 
Don Juan die einzige Lust, welche das Verlangen stillen kann: 
die Entsagung, verschmähte; nachdem sie, indem sie Stenio schuf, 
Elvira gerächt und, mehr als Don Juan die Frauen erniedrigt, 
die Männer verachtet hatte — schilderte George Sand in den „Briefen 
eines Reisenden'* die Abspannung und Betäubung, die den Künstler 
ergreifen, wenn, obwohl er die ihn beunruhigende Empfindung 
in einem Werke verkörperte, seine Phantasie doch fortdauernd 
in ihrem Banne bleibt, ohne daß er sie in anderer Form zu ideali- 
sieren vermöchte. Es sind dies Dichter quälen, die Byron wohL 
verstand, als er den von ihm wieder auferweckten Tasso heiße Tränen 
weinen ließ, nicht über Kerker und Ketten, die ihn fesselten, noch 
über seine körperlichen Schmerzen oder die Schmach der Mensch- 
heit: sondern darüber, daß sein Epos beendigt und er nun seiner 
Traumwelt entrückt, der grausamen Wirklichkeit zurückgegeben sei. 
Durch einen Chopin befreundeten Musiker, einen von denen, 
die ihn bei seiner Ankunft in Paris aufs freudigste begrüßt hatten, 
hörte George Sand zu jener Zeit häufig von diesem exzeptionellen 
Künstler sprechen. Mehr noch als sein Talent wurde ihr sein 
poetisches Genie gepriesen. Sie lernte seine Werke kennen und 
bewunderte ihre süße Schwärmerei. Sie erstaunte über den Ge- 
fühlsreichtum, der diese Dichtungen und Herzensergüsse lauterster 
Edelart erfüllte. Dazu kam, daß einige Landsleute Chopins ihr von 
den Frauen ihrer Nation mit einem Enthusiasmus sprachen, der 
ihnen bei diesem Thema eigen ist und durch die frische Erinnerung 
an die im letzten Kriege von ihnen bewiesene Opferfähigkeit noch 
erhöht ward; Aus ihren Erzählungen und den poetischen Einge- 
bungen des Künstlers erkannte sie ein Ideal der Liebe, das sich 
zum Kultus der Frau gestaltet. Sie glaubte, daß das Weib, vor 



142 VII. Lelila. 



jeglicher Abhängigkeit und Unterordnung geschützt» sich in Polen 
zur Macht eines höheren, dem Mann befreundeten Wesens erhebe. 
Freilich ahnte sie sicherlich nicht, welch eine Kette verschwiegener 
Leiden und Entsagung, Langmut, Nachsicht und mutvoUer Aus- 
dauer dies Ideal geschaffen hatte, das, stolz und resigniert, neben 
der Bewunderung die Wehmut des Betrachters weckt, wie |ene 
rotblühenden Blumen, deren Stiele, sich zu einem Netz langen grünen 
Geäders verschlingend, den Ruinen Leben leihen. Aus dem bröckeln- 
den Kitt morschen Gesteins läßt sie Natur hervorsprießen, und 
über den Verfall menschlicher Werke breitet ihr unerschöpflich 
sinniger Reichtum den Schleier der Schönheit. 

Als sie sah, daß der polnische Künstler, statt seine Phantasie 
in Porphyr und Marmor zu verkörpern und wuchtige, weithin 
leuchtende Gestalten hinzustellen, seinen Schöpfungen vielmehr 
alle Schwere benahm, ihre Konturen verwischte und nötigenfalls 
sie selbst ihrem Boden entrückt hätte, um ^e gleich den Luft- 
schlössern der Fata morgana in die Wolken zu versetzen, fühlte 
sich George Sand von der unfaßbaren Leichtigkeit dieser Gebilde 
nur noch mehr zu dem Ideal hingezogen, das sie darin zu erblicken 
meinte. Obgleich die Kraft ihres Arms wohl ausgereicht hätte, 
um Gestalten in voller K^perlichkeit zu schaffen, war ihre Hand 
doch zart genug, um jene kaum sichtbaren Reliefs zu formen, in 
denen der Künstler dem Stein nur den Schatten einer unverwisch- 
baren Silhouette anzuvertrauen scheint. Sie war der übernatür- 
lichen Welt nicht fremd; schien die Natur doch vor ihr, wie vor 
einer Lieblingstochter, ihren Gürtel gelöst zu haben, um ihr alle 
die Launen und Reize zu enthüllen, die sie der Schönheit verleiht: 

Selbst die oft kaum wahrzunehmende Anmut blieb ihr nicht 
verborgen. Sie, deren Blick unabsehbare Weiten zu umfassen 
liebte, verschmähte es nicht, die Farbenpracht des Schmetterlings- 
flügels zu beobachten, das wunderbar symmetrische Netzgewebe 
zu studieren, welches das Farnkraut als Baldachin über die Wald- 
erdbeere spannt; dem Rieseln des Bachs im feuchten Rasen zu 
lauschen, wo sich das Zischen der ,,verliebten Viper" vernehmen 
läßt. Dem Tanze der Irrlichter am Saum von Sümpfen und Wiesen 
hatte sie zugesehen und die chimärischen Ziele erraten, zu deaeh 



G. Sands Phantasiewelt. 143 

ihr verräterisches Hüpfen den verspäteten Wanderer lockt. Sie 
hatte dem Konzert, das die Grille und ihre Genossinnen in den 
Stoppeln des Brachfeldes anstimmen, ihr Ohr geliehen,, und die 
Bewohner der geflügelten Waldrepublik waren ihr ebensowohl 
dem Namen als ihrem Federkleid und Gesang oder Klageruf nach 
bekannt. Sie wußte, wie weich das Fleisch der Lilie, wie blendend 
ihr Teint ist, und verstand die Verzweiflung Genovevas, des ija die 
Blumen verliebten Kindes, dem es nicht gelingen wollte, ihrer 
holden Pracht zu gleichen^. 

In ihren Träumen besuchten sie ]ene „unbekannten Freunde", 
die, „wenn sie angsterfüllt an verlassenem Ufer saß; ein reißender 
Strom auf mächtiger Barke herbeiführte. Dahinein schwang sie 
sich, um nach den unbekannten Ufern des Traumlandes zu schiffen, 
welches das wirkliche Leben nur wie ein Nebelbild an denen vor- 
überführt, die von Kindheit an die Zaubermuscheln kennen, die 
zu den glücklichen Inseln geleiten, wo alle schön und jung sind, 
wo Männer und Frauen im lang herabwallenden Haar Blumen- 
kränze tragen, seltsam geformte Becher und Harfen in der Hand; 
wo sie in Stimmen und Gesängen reden, die nicht von dieser Welt 
sind, und alle die gleiche, himmlische Liebe erfüllt; wo silberne 
Becken die duftenden Wasserstrahlen auffangen, in chinesischen 
Vasen blaue Rosen wachsen, wo zauberische Fernsichten winken, 
wo man nackten Fußes auf samtnen Moosteppichen wandelt und 
sich singend im balsamischen Grün des Hains verliert" >. 

So wohlbekannt waren ihr diese „unbekannten Freunde", daß, 
wenn sie dieselben wiedergesehen hatte, „sie den ganzen Tag nicht 
ohne Herzklopfen an sie zurückdenken konnte". In Hoffmanns 
Geisterwelt war sie eingeweiht. Hatte sie doch die Bilder der Toten 
lächeln 8 und manches Haupt von einem Glorienschein umflossen 
gesehen, wenn Sonnenstrahlen, wie ein Arm Gottes, leuchtend 
und unfaßbar, von wirbelnden Atomen umgeben, sich aus der Höhe 
eines gotischen Fensters herniedersenken. Hatte sie nicht im 



* Andr^. 

* Lettres d*un voyageur. 
3 Spiridfon. 



144 VII. Lelila. 



Gold- und Purpurglanz der untergehenden Sonne die hehrsten 
Erscheinungen erblickt? Keinen Mythus gab es im Reich des 
Phantastischen, dessen Geheimnis ihr nicht vertraut war. 

So verlangte sie denn darnach, den Mann kennen zu lernen, 
den seine Flügel zu „jenen Gefilden trugen, die sich unmöglich 
beschreiben lassen, und die doch irgendwo auf Erden oder auf 
einem der Planeten existieren müssen, deren Licht wir beim Nieder- 
gang des Mondes so gern im Waidesdunkel betrachten" i. Mit 
eigenen Augen wollte sie den sehen, der, nachdem er gleich ihr 
dies schönere Land entdeckt hatte, es nie wieder verlassen, nie 
wieder Herz und Phantasie zu dieser wirklichen Welt zurück- 
wenden wollte, die den finnländischen Küsten vergleichbar ist, 
wo man den schlammigen Morästen und Sümpfen nur entgehen 
kann, wenn man zum nackten Granit einsamer Felsen emporklimmt. 
Müde vom schweren Traum, den sie Lelia genannt, müde, einem 
gewaltigen, aus irdischem Stoff gebildeten , »Unmöglichen" nach- 
zusinnen, war sie begierig, dem Künstler zu begegnen, der einem 
unkörperlichen, wolkenverhüllten, an das Überirdische grenzenden 
„Unmöglichen" schwärmend nachjagte. 

Doch ach! bleiben diese Regionen auch von den Miasmen unserer 
Atmosphäre befreit, unser Leid, unsere Verzweiflung dringen auch 
in ihre Ferne. Wer sich zu ihnen aufschwingt, schaut aufgehende, 
aber auch erlöschende Sonnen. Eins nach dem andern schwindet 
von den glänzendsten Gestirnen. Gleich leuchtenden Tautropfen 
sinken die Sterne herab in das Nichts, dessen gähnenden Abgrund 
wir nicht ermessen, und während sie die Weiten des Äthers, die 
Sahara mit ihren wandernden Oasen betrachtet, gewöhnt sich die 
Einbildungskraft an eine Schwermut, die keine Begeisterung noch 
Bewunderung fortan zu bannen vermag. Die Seele versenkt sich 
in diese Bilder, sie nimmt sie in sich auf, ohne doch selbst von ihnen 
bewegt zu werden, wie die schlummernden Wasser eines Sees 
Rahmen und Bewegung der Ufer auf ihrer Oberfläche widerspiegeln, 
ohne aus ihrer tiefen Ruhe zu erwachen. „Diese Schwermut schwächt 
selbst die freudigen Aufwallungen des Glückes durch die Ermattung 



1 Lettres d'un voyageur. 



G. Sand lernt Chopin durch Liszt kennen. 145 

ab, welche die Anspannung der sich über ihre natürliche Sphäre 
erhebenden Seele nach sich zieht. Sie bringt die Unzulänglichkeit 
der menschlichen Sprache zuerst denen zur Empfindung, die sie 
erforschen und beherrschen. Sie führt weit abseits von allen tätigen 
und kämpfenden Neigungen, um im unendlichen Raum umher- 
zuschweifen und sich auf abenteuerlichem Flug weit über die Wolken 
hinaus ins Unermeßliche zu verlieren, wo man von der Schönheit 
der Erde nichts mehr gewahrt, da man nur den Himmel schaut, 
wo die Wirklichkeit nicht mehr mit der poetischen Empfindung 
des Verfassers von „Waverley" betrachtet wird, sondern wo man, 
die Poesie selbst idealisierend, das Unendliche, wie Manfred, mit 
seinen eigenen Geschöpfen bevölkert^." 

Fühlte George Sand wohl die unsagbare Melancholie, den starren 
Willen, die unabweisliche Ausschließlichkeit voraus, die den Hinter- 
grund solch beschaulicher Gewohnheiten bilden und sich der Phan- 
tasie bemächtigen, welche sich in Träumen zu ergehen liebt, deren 
Urbilder weit außerhalb ihres natürlichen Lebenskreises liegen? 
Ahnte sie wohl, welche Gestalt für solche Naturen die Zuneigung 
des Herzens annimmt, und daß nur das gänzliche Aufgehen im 
anderen ihnen gleichbedeutend mit Liebe ist? Man muß, in gewisser 
Beziehung wenigstens, sich unwillkürlich nach ihrer Weise ver- 
stellen, um von Anbeginn das Geheimnis dieser verschlossenen 
Charaktere zu ergründen, die sich — wie manche Pflanzen, die 
ihre Blätter beim leisesten Windzug schließen und sie nur im Sonnen- 
schein wieder öffnen — plötzlich in sich selbst zurückziehen. Man 
hat diese Charaktere, im Gegensatz zu denen, die „reich durch 
Oberfülle" sind, „reich durch Ausschließlichkeit" genannt. „Be- 
gegnen und nähern sie sich einander", sagt die von uns angeführte 
Romandichterin, „so können sie sich doch nie miteinander ver- 
schmelzen; eins von beiden muß notwendig das andere vernichten 
uiid nur die Asche von ihm übrig lassen." Sensitive Naturen, wie 
die des Meisters, dessen Leben wir uns vergegenwärtigen, gehen 
sich selbst verzehrend zugrunde, da sie einzig dem Verlangen 
ihres Ideals gemäß leben können und wollen. 



^ Lucrezia Floriani. 
Liszt, Gesammelte Schriften. I. VA 10 



146 VII. Lelia. 



Chopin schien eine'gewisse Scheu vor der Frau zu empfinden, 
die sich anderen ihres Geschlechts so überlegen zeigte und wie eine 
delphische Priesterin Dinge aussprach, von denen jene nichts 
wußten. Lange vermied er eine Begegnung mit ihr. George Sand 
wußte und ahnte — dank der reizenden Einfalt, die zu den liebens- 
würdigsten Zügen ihres Wesens gehörte — nichts von dieser Geister- 
furcht. Sie kam ihm entgegen, und bald zerstreute ihr Anblick 
die Vorurteile, die er bis dahin hartnäckig gegen die schriftstellern- 
den Frauen gehegt hatte. 

Im Herbst des Jahres 1838 ward Chopin von den beängstigen- 
den Anfällen eines Übels heimgesucht, das ihn fast der Hälfte 
seiner Lebenskräfte beraubte. Besorgniserregende Symptome 
zwangen ihn, um der Strenge des Winters zu entgehen, zu einer 
Keise nach dem Süden. George Sand, die sich den Leiden ihrer 
Freunde gegenüber immer aufmerksam und teilnehmend bezeigte, 
wollte ihn in einem Zustand, der die sorglichste Pflege erheischte, 
nicht allein reisen lassen. Sie entschloß sich, ihn zu begleiten. Als 
Ziel wählten sie die balearischen Inseln, deren gleichmäßig mildes 
Klima in Verbindung mit der Seeluft sich namentlich für Brust- 
kranke heilbringend erweist. Als Chopin abreiste, war sein Be- 
finden ein so beunruhigendes, daß man in den Hotels, in denen er 
nur ein paar Nächte zugebracht hatte^ mehr als einmal die Be- 
zahlung des von ihm benutzten Bettes verlangte, um es sofort zu 
verbrennen, da man ihn in dem Stadium der Brustkrankheit 
glaubte, wo dieselbe leicht ansteckend wirkt.. Auch seine Freunde 
wagten kaum, als sie ihn bei der Abreise so entkräftet sahen, der 
Hoffnung auf seine Rückkehr Raum zu geben. Und dennoch! 
Obgleich er auf der Insel Majorca, wo er sechs Monate, vom Herbst 
bis zum Frühjahr, verweilte, eine lange und schmerzhafte Krank- 
heit bestehen mußte, ward seine Gesundheit dort doch so weit 
wieder hergestellt, daß sie mehrere Jahre hindurch eine leidliche 
schien. 

War es das KHma allein, was ihn dem Leben zurückgab? Hielt 
ihn nicht vielmehr der höchste Reiz des Lebens fest? Vielleicht 
blieb er nur leben, weil er leben wollte; denn wer mag sagen, wie 
weit sich die Macht des Willens über unseren Körper erstreckt? Wer 



Chopins Erkrankung, Reise nach Majorca mit G. Sand. 147 

weiß, welch inneres Arom sie entfesseln kann, um diesen vor Verfall 
zu schützen, welche Kraft sie den erschlafften Organen einzu- 
hauchen vermag? Wer weiß, wo die Herrschaft des Geistes über 
die Materie ihr Ende findet? Wer will bestimmen, inwieweit unsere 
Einbildungskraft unseren Sinnen gebietet, deren Kräfte verdoppelt 
oder ihr Erlöschen beschleunigt, je nachdem sie ihre Herrschaft 
durch lange und strenge Übung ausdehnt, um sie in einem einzigen 
Augenblick zu konzentrieren? Wenn die Spitze eines Kristalls 
die Strahlen der Sonne auffängt, entzündet dann dieser zerbrech- 
liche Brennpunkt nicht eine Flamme himmlischen Ursprungs? 

Alle Strahlen des Glückes vereinigten sich in dieser Lebens- 
epoche Chopins. War es ein Wunder, wenn sie die Flamme seines 
Lebens wieder anfachten und zu jener Zeit in ihrem lichtesten 
Glänze leuchten ließen? Die von den blauen Fluten des Mittel- 
meers umspülte, von Lorbeeren, Orangen- und Myrtenbäumen um- 
schattete Einsamkeit schien schon durch ihre Lage dem Verlangen 
der Jugend zu entsprechen, die voll naiver Illusionen und Hoffnungen 
von dem „Glück auf einer wüsten Insel" schwärmt. Dort atmete 
er die Luft, nach der die auf Erden heimatlosen Naturen so bitteres 
Heimweh empfinden, und die man, je nach Art derer, die sie mit 
uns teilen, überall und nirgends finden kann: die Luft jenes Traum- 
landes, das man, der Wirklichkeit und ihren Hemmnissen zum 
Trotz, so leicht entdeckt, wenn man es zu zweien sucht; jenes 
Heimatlandes des Ideals, zu dem man mit dem Geliebten des 
Herzens flüchten möchte, mit Mignon ausrufend: „Dahin, dahin 
laß uns ziehn!'' 

Während der Dauer seiner Krankheit wich George Sand keinen 
Augenblick vom Lager des Freundes, der sie mit einer Hingebung 
liebte, die, selbst als sie ihre Freuden einbüßte, nichts an Innig- 
keit verlor. Er blieb ihr treu, auch als seine Liebe nur noch Schmer- 
zen für ihn hatte; „schien es doch, als ob dieses zarte Wesen sich 
im Feuer der Bewunderung verzehrte. . . . Andere suchen das Glück 
im Liebesgenuß. Finden sie es da nicht mehr, so erstirbt allmäh- 
lich auch die Liebe, Darin gleichen sie eben der großen Menge» 
Er aber liebte um zu lieben. Kein Leid schreckte ihn zurück. 
Wohl konnte er, nachdem er die Phase berauschenden Glückes 

10* 



148 VIL Lelia. 



erschöpft hatte, in eine neue, die des Schmerzes, treten; die des 
Erkaltens aber konnte nie für ihn kommen. Es wäre denn die 
des physischen Todeskampfes gewesen. Denn seine Liebe war sein 
Leben, und ob süß, ob bitter, es war ihm nicht gegeben, sich ihr 
nur einen Augenblick lang zu entziehen^.** Seit jener Zeit hörte 
George Sand in der Tat nie auf, für Chopin die Zauberin zu sein, 
die die Schatten des Todes von ihm hinweggebannt und seine Leiden 
in ein nie gekanntes Glück verwandelt hatte. 

Um ihn zu retten und einem vorzeitigen Ende zu entreißen, 
kämpfte sie mutig gegen seine Krankheit. Sie umgab ihn mit 
einer zart erfinderischen Fürsorge, die oft heilsamer als die Mittel 
der Wissenschaft wirkt. Tag und Nacht über ihn wachend, kannte 
sie weder Müdigkeit, noch Abspannung oder Langeweile. Weder 
Kraft noch Laune versagten ihr bei Erfüllung ihrer Aufgabe. Sie 
glich einer starken Mutter, die ihrem schwachen Liebling, der ihrem 
Herzen um so teuerer ist, }e mehr er ihre Sorge beansprucht, einen 
Teil der eigenen Kraft magnetisch zu übertragen scheint. Endlich 
wich das Übel. „Der tiefe Trübsinn, der am Geist des Kranken 
nagte und keine ruhig befriedigte Stimmung in ihm aufkommen 
ließ, schwand nach und nach. So blieb es dem leichtlebigen, liebens- 
würdig heiteren Charakter seiner Freundin überlassen, seine finsteren 
Gedanken und Ahnungen zu verscheuchen, um sein geistiges Wohl- 
befinden aufrecht zu erhalten«." 

Der dtistern Sorge folgte das Glück, wie der Tag, der nach 
dunkler, schreckensreicher Nacht in siegreichem Glänze empor- 
steigt. So undurchdringlich wölbt sich zuvor die Finsternis über 
den Häuptern, daß man sich auf ein nahes Ende vorbereitet und 
auf keine Rettung zu hoffen wagt. Da erspäht das geängstete 
Auge plötzlich einen Punkt, wo das Dunkel sich wie unter der 
Macht einer unsichtbaren Hand zu lichten beginnt. Der erste 
Hoffnungsstrahl dringt in die Seele. Man atmet freier, wie wenn 
man, in dunkler Höhle gefangen, endlich einen Lichtschimmer, 
sei er auch noch so unbestimmt, wahrnimmt. Dieser Lichtschein 



^ Lucrezia Floriani. 
« Lucrezia Floriani. 



^ G. Sand, Chopins treue Pflegerin. 149 

ist der erste Anbruch des Tages, der so farblose Tinten um sich 
verbreitet, daß man vielmehr das Sinken der Nacht, das Erlöschen 
der ersterbenden Dämmerung zu schauen vermeint. Doch die 
Morgenröte kündigt sich durch die kühlen Lüfte an, die, als ge- 
segnete Vorläufer, die Botschaft des Heils in ihrem reinen Odem 
tragen. Balsamischer Blumenduft erfüllt die Luft wie mit neuem 
Hoffnungsleben. Ein früh erwachter Vogel läßt sein muntres 
Morgen lied ertönen, das tröstlich verheißungsvoll im Herzen wider- 
klingt. Kaum wahrnehmbare, doch untrügliche, sich immer meh- 
rende Anzeichen dienen als Gewähr, daß im Kampf zwischen 
Finsternis und Licht, Tod und Leben doch die Nacht am Ende 
unterliegen muß. Die Beklemmung mindert sich. Hebt man den 
Blick zur bleiernen Himmelskuppel empor, so glaubt man sie minder 
schwer und drückend; es ist, als habe sie ihre furchtbare Unbe- 
weglichkeit verloren. Nun mehren und verlängern sich nach und 
nach die schmalen grauen Lichtstreifen am Horizonte. Unauf- 
haltsam wächst ihre Ausdehnung; sie durchbrechen das Dunkel. 
Scharf abgegrenzte Gegensätze bilden sich. Wolkenmassen häufet^ 
sich gleich Sandbänken an, als wollten sie den vordringenden Tag 
eindämmen und zurückhalten. Aber mit elementarer Gewalt durch- 
bricht sie das Licht, es tilgt und verschlingt sie und rötet sie, je 
weiter es emporsteigt, mit purpurnem Schimmer. Dies Licht, 
jetzt strahlt es in überwältigender und doch schüchterner Anmut, 
vor deren keuscher Schönheit wir in stummer Dankbarkeit das 
Knie beugen. Der letzte Schreck ist überwunden, der Mensch 
fühlt sich neu geboren. 

Als ob sie aus dem Nichts erstanden, gewahrt nun das Auge 
plötzlich die Gegenstände. Ein rosiger Schleier scheint sie alle 
gleichmäßig zu überdecken, bis das Licht ihn tiefer färbt, hier und 
dort fast hochrote Schatten bildet, indes es auf andere Stellen 
einen weiß strahlenden Widerschein wirft. Mit einem Mal über- 
flutet der weite Lichtkreis das Firmament. Je weiter er sich aus- 
breitet, um so glanzreicher erscheint sein Mittelpunkt. Die Dünste 
verdichten und teilen sich, wie Vorhänge, nach rechts und links. 
Alles gewinnt Atem, Leben und Bewegung, alles singt und klingt; 
die Töne mischen und kreuzen sich und klingen zu einem viel- 



150 VII. Lelia. 



stimmigen Geräusch zusammen. Die starre Ruhe weicht der Be- 
wegung, die sich in schnellem Kreislauf verbreitet. Wie Tränen der 
Rührung perlen die Tränen des Taus zitternd hervor; eine nach 
der anderen sieht man sie funkeln im feuchten Grase: diamanten, 
die des belebenden Sonnenfeuers harren. Immer höher und weiter 
aber öffnet sich im Osten des Lichtes riesiger Fächer. Goldstreifen, 
Silberflimmer, violette Fransen, Scharlachschnüre bedecken ihn 
mit reicher Stickerei. Braunrote Reflexe übersprenkeln seine Falten. 
Inmitten leuchtet in rubinartiger Durchsichtigkeit das glühendste 
Karmin, das, wie Kohlenfeuer, in Orange übergeht, sich zu einer 
Fackel und endlich einem Flammenkranz erweitert, der höher und 
höher, von Glut zu Glut emporsteigt. 

Und nun erscheint er, der Gott des Tages! Die leuchtende Stirn 
von Strahlen umflossen, steigt er langsam empor. Kaum aber 
zeigt er sich in seiner vollen Herrlichkeit, so schwingt er sich auf, 
löst sich los von seiner Umgebung und nimmt den Himmel in Besitz, 
die Erde weit hinter sich zurücklassend. 
• .*.....•««.«•.■...•.•«•...*....*..••.*' 

Die Erinnerung an die auf der Insel Majorca verlebten Tage 
wurzelte fest in Chopins Herzen, wie das Andenken an ein seliges 
Glück, das das Schicksal seinen Lieblingen nur einmal gewährt. 
„Er war nicht mehr auf Erden. Er schwebte in einem Himmel 
von goldenen Wolken und zauberischen Düften. Im Gespräch mit 
Gott schien seine reine Phantasie zu schwelgen, und wenn an der 
Lichtwelt, in der er sich selbst vergaß, der Zufall zuweilen die 
kleine laterna magica der Erdenwelt vorübergleiten ließ, überkam 
ihn ein tiefes Mißbehagen, wie wenn sich einem erhabenen Konzert 
der schrille Klang einer alten Leier mischte, und ein gemeines 
musikalisches Motiv die göttlichen Gedanken der großen Meister 
unterbräche^." Sooft er später jener Zeit gedachte, geschah es 
mit solch dankbarer Rührung, als spräche er von einer jener Wohl- 
taten, die genügen, das Glück eines ganzen Lebens zu begründen. 
Es schien ihm unmöglich, je anderwärts eine Seligkeit wieder- 
zufinden, in der die Liebe des Weibes und die Geistesblitze des 



^ Lucrezia Floriani. 



Chopins" Liebesglück. 161 



Genies wechselnd die Zeit bestimmen, wie jene ^on Linn^ in seinen 
Glashäusern zu Upsala aufgestellte Blumenuhr, die durch das 
aufeinanderfolgende Erwachen der einzelnen Blumen — deren 
jede einen andern Duft aushauchte und andere Farben entfaltete 
— die Stunden bezeichnete. 

Die herrlichen Gegenden, die Dichterin und Musiker gemeinsam 
durchstreiften, ließen in der Einbildungskraft der ersteren den leb- 
hafteren Eindruck zurück. Auf Chopin wirkten die Schönheiten 
der Natur, wenn auch nicht minder stark, so doch minder offen- 
kundig. Sein Gemüt ward von denselben ergriffen und durch ihre 
erhabenen oder sanften Reize unmittelbar harmonisch gestimmt, 
ohne daß sein Geist sie zu zergliedern und zu bestimmen brauchte. 
Seine Seele fühlte sich im Einklang mit den bewunderten Land- 
schaftsbildern, ohne daß er sich vom letzten Grunde jeden Ein- 
drucks sofort Rechenschaft geben mochte. Als echter Musiker be- 
gnügte er sich damit, den den geschauten Bildern innewohnenden 
Gefühls- oder Stimmungsgehalt sozusagen herauszulösen; wo- 
gegen er die plastische Seite, das Malerische, das sich der Form seiner 
einer geistigeren Sphäre angehörenden Kunst nicht assimilierte, an- 
scheinend unbeachtet ließ. Je mehr er sich indessen (wir können an 
ihm verwandten Naturen häufig dieselbe Wirkung beobachten) 
zeitlich und räumlich. von jenen Bildern und Szenen entfernte, bei 
deren lebendigem Anblick ihm innere Erregung die Sinne verdunkelt 
hatte — wie Weihrauchwolken das Opfergefäß umhüllen — , desto 
klarer und bestimmter traten ihre Umrisse vor seine Augen. Wäh- 
rend der folgenden Jahre sprach er von dieser Reise, dem Aufent- 
halt in Majorca, den Ereignissen, die sich daran knüpften, mit der 
Begeisterung einer glücklichen Erinnerung. Damals jedoch, als 
er im Vollgenusse seines Glückes war, gab er dies Glück nicht in 
trockenen Aufzeichnungen kund. 

! Warum auch sollte Chopin den Gegenden Spaniens, die zu seinem 
poetischen Glück den Rahmen bildeten, eine eingehendere Beob- 
achtung schenken? Fand er sie nicht in den begeisterten Schilde- 
rungen seiner Reisegefährtin verschönert wieder? Wie durch rotes 
Glas gesehen alle Gegenstände, ja die Atmosphäre selbst in flam- 
menden Farben erglühen, so sah er, vom Widerschein ihrer feurigen 



152 VII. Lelia. 



Phantasie verRTftrl^ das Geschaute von neuem an sich vor- 
überziehen. Denn war die so aufopfernd« Krankenpflegerin nicht 
zugleich eine große Künstlerin? Fürwahr, eine seltene Ver- 
einigung! Wenn die Natur, um ein Weib zu schmücken, den 
glänzendsten Geistesgaben die Gefühlsinnigkeit und Hingebung, 
gesellt, in der seine eigentliche unwiderstehliche Macht beruht — 
eine Macht, ohne welche das Weib ein ungelöstes Rätsel bliebe — , 
so erneut sich durch die Vermählung von Phantasieglut und Her- 
zenswärme bei ihm gleichsam das wunderbare Schauspiel der grie- 
chischen Feuer, deren Leuchtflammen ehemals über der Untiefe 
des Meeres schwebten, ohne in den Fluten zu versinken. 

Aber vermag das Genie immerdar sich zur Seelengröße der 
Demut, zu einer Opferfreudigkeit aufzuschwingen, die Vergangen- 
heit und Zukunft, ja sich selber in zeitloser Treue zum Opfer 
darbringt, und die der Liebe erst ein Anrecht auf den Namen „Hin- 
gebung" verleiht? Glaubt das Genie, selbst wenn es sich seiner 
göttlichen Kräfte begibt, nicht auch seine gerechten Ansprüche 
geltend machen zu dürfen, wogegen die Macht des Weibes doch 
gerade darin besteht, jeder persönlichen und egoistischen Forderung 
zu entsagen? Kann der Königspurpur und die Flammenkrone 
des Genies unverletzt über einem Frauendasein schweben, das nur 
mit den Freuden dieser Erde rechnet und auf keine höheren hofft, 
das, vom Glauben an sich selber erfüllt, nicht an die Liebe glaubt, 
die „stärker als der Tod" ist? Muß man, um die Forderungen des 
Genius mit den Entbehrungen der Liebe zu einem nahezu über- 
irdischen Ganzen zu vereinen, nicht in kämpf- und kummervollen 
Tagen und Nächten dem Chor der Engel manch übermensch- 
liches Geheimnis abgelauscht haben? 

Unter seinen köstlichsten Gaben verlieh Gott dem^Menschen die 
Macht, nach seiner Weise — nämlich nicht wie er als Schöpfer und 
Urheber alles Guten, des Urstoffs und der Substanz, sondern wie 
er als Bildner und Urheber alles Schönen — Gestalten und Harmo- 
nien aus dem Nichts hervorzubringen, um in denselben seinen 
Gedanken darzustellen und ein unkörperliches Gefühl in körper- 
lichen Umrissen zu verlebendigen, welche seine Einbildungskraft 
schafft, und die entweder durch das Gesicht oder durch das Gehör 



Egoismus des Genies. 153 



erfaßt werden. Es ist dies die wahre Sciiöpf ung in der schönsten 
Bedeutung des Wortes, insofern die Kunst Ausdruck und Mit- 
teilung einer Empfindung mittelst eines Eindruclces, ohne Ver- 
mittelung des zur Darlegung von Tatsachen und Beweisgründen 
notwendigen Wortes ist. Weiter verlieh Oott dem Künstler eine 
andere Gabe: die der Verklärung; die Gabe, eine unvollkom- 
mene, schmerzzerrissene Vergangenheit in eine Zukunft unver- 
gänglicher Herrlichkeit zu verwandeln, die so lange währt als die 
Menschheit selber. 

Wohl darf die ihm verliehene göttliche Macht den Menschen 
wie den Künstler mit Stolz erfüllen! Beruht doch in ihr das Ge- 
heimnis der angebornen Herrschergewalt des schwachen Menschen 
über die unermeßliche Natur, wie der berechtigten Überlegenheit 
des Künstlers über seinesgleichen. Aber der Mensch übt seine 
Herrschergewalt nur wahrhaft aus, wenn er das Gute innerhalb 
der Grenzen des Wahren erstrebt. Der Künstler rechtfertigt seine 
Überlegenheit nur dann, wenn er in die Form des Schönen das 
Gute einschließt. 

Gleich der Mehrzahl der Künstler gefiel sich Chopin nicht in 
allgemeinen Abstraktionen. Mit der Philosophie des Schönen be- 
faßte er sich nicht, er hatte nicht einmal viel davon reden hören. 
Wie alle echten und großen Künstler erreichte er das Ziel des Guten, 
zu dem der Denker nur Schritt für Schritt auf dem rauhen Pfad 
der Wahrheit emporklimmt, im raschen Flug durch das Strahlen- 
reich des Schönen. 

Der ihm völlig neuen Situation, die sich ihm auf Majorca er- 
öffnete, gab Chopin sich mit einer Unkenntnis und mangelnden 
Voraussicht zukünftigen, schon im Keime vorbereiteten Herze- 
leids hin, wie wir sie alle mehr oder weniger aus unseren Kinder- 
jahren kennen, wo Mutterliebe uns blind vergötterte und unser 
Herz mit Glückseligkeit erfüllte, indes sie den Keim zu seinem 
künftigen Unglück legte. Der Einwirkung unserer Umgebung sind 
wir alle unterworfen, ohne uns davon Rechenschaft zu geben, und 
erst in viel späterer Zeit finden wir in unserem Gedächtnis das 
traute Bild jeder Minute und jedes Gegenstandes wieder. Für 
einen im höchsten Grade subjektiven Künstler wie Chopin aber 



154 VII. Leiia. 



kommt der Moment, wo sein Herz ein gebieterisches Bedürfnis 
fühlt; das Glück, das die Flut des Lebens hinweggespült, wieder 
zu empfinden, seine Freuden von neuem zu genießen und ihren 
Zauberrahmen wiederzusehen, indem man sie zwingt, aus dem 
dunklen Schatten der Vergangenheit, darin ihr farbenreiches Bild 
versunken, herauszutreten, um sie endlich durch den geheimnis- 
vollen Prozeß, weichen der Magnetismus des Herzens der Elektri- 
zität der Inspiration vermittelt, und den die Muse ihren Auser- 
wählten lehrt, der lichten Unsterblichkeit der Kunst zuzuführen. 
Da wird jede Auferstehung zur Verklärung. Da kehrt alles, 
was zweifelhaft, gebrechlich, makelhaft, mehr empfunden als ver- 
wirklicht war, was fast auf der Höhe seines Glanzes verdunkelt, 
auf dem Gipfel seiner Entfaltung verunstaltet ward, in glorreicher, 
unvergänglicher Schönheit zurück. Nicht mehr an Zeit und Ort 
seiner einstigen Existenz gebunden, lebt das solchergestalt Ver- 
klärte fortan auf immerdar ein übernatürliches, unzerstörbares 
Leben, das Geschlechter und Zeitalter überdauert und, kraft der 
ihm eigenen Gabe der Allgegenwart, überall erscheint und in alle 
Herzen dringt. 

fr. Bemerkenswert gewiß erscheint es, daß Chopin die Zeit des 
höchsten Glückes, die der Aufenthalt auf Majorca in seinem Leben 
bezeichnet, nie künstlerisch auferweckt und verklärt hat. Er ent- 
hielt sich dessen, ohne weiter darüber nachgedacht oder vor dem 
Tribunal seines Urteils den Grund dafür angeführt, ja ohne sich 
selbst darnach gefragt und erforscht zu haben. Instinktiv unter- 
ließ er es. Der angeborenen Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit seiner 
Seele, die unwürdige Paradoxen nie zu verführen vermochten, 
widerstrebte die Verherrlichung eines Etwas, „was hätte sein können, 
aber nicht war". Chopin erzählte uns nichts von seinem fremd- 
artigen Glück auf jener Zauberinsel, das er so gern in die Sterne ver- 
setzt hätte, und das doch so bald sein Ende fandl Doch nein! 
Einmal, ein einziges Mal während seines Aufenthaltes auf jener 
seligen Insel versetzte er sich, durch Liebe, Bewunderung und Dank- 
barkeit hingerissen und überwältigt, mittelst seines Zauberstabes 
in die reinen Höhen der Kunst — aber es war eine Stunde der 
Herzensangst und Trübsall George Sand erzählt davon in ihren 



Des-Dur- Präludium. 155 



Berichten über diese Reise, nicht ohne die Ungeduld zu verraten, 
die ihr bereits eine allzu ausschließliche Zuneigung erregte, welche 
es wagte, sich soweit mit ihr zu identifizieren, daß sie bei dem Ge- 
danken, sie zu verlieren, außer sich geriet; während sie selber doch 
sich das ungeschmälerte Eigentumsrecht über ihre Person vor- 
behielt und ihr Leben durch die Lust an Abenteuern rücksichtslos 
in Gefahr brachte. — Chopin konnte sein Zimmer noch nicht ver- 
lassen, indes Frau Sand viel in der Umgegend umherstreifte. In 
seiner Wohnung eingeschlossen, um vor lästigen Besuchen sicher 
zu sein, blieb er dann einsam zurück. Eines Tages hatte sie ihn 
verlassen, um in einem unbewohnten Teil der Insel auf Entdeckun- 
gen auszugehen. Ein fürchterliches Ungewitter brach los, eins 
jener südlichen Unwetter, die alles zerstören und die Grundfesten 
der Natur zu erschüttern scheinen. Chopin, der seine geliebte 
Gefährtin inmitten der entfesselten Gießbäche wußte, fühlte eine 
Unruhe, die sich bis zur heftigsten nervösen Krise steigerte. Als 
jedoch die Elektrizität^ welche die Luft tiberfüllte, sich verzog, 
ging die Ktisis vorüber^ und er erholte sich noch vor Wiederkehr 
der unerschrockenen Spaziergängerin. Da er nichts Besseres zu 
tun wußte, setzte er sich wieder ans Klavier und improvisierte 
das wundervolle Präludium in Des-Dur i. Bei Rückkehr der 
geliebten Frau fiel er in Ohnmacht. Sie war mehr gereizt als ge- 
rührt durch diesen Beweis einer Anhänglichkeit, welche die Freiheit 
ihres Handelns, ihr zügelloses Verlangen nach neuen, gleichviel 
wo oder wie gefundenen Eindrücken einschränken, ihr Leben 
binden, ihre Bewegungen durch die Rechte der Liebe fesseln zu 
wollen schien. 

Tags darauf spielte ihr Chopin sein Des-Dur- Präludium vor. 
Sie aber begriff nichts von der darin geschilderten Herzensangst. 
Er spielte es seitdem oftmals in ihrer Gegenwart; doch sie verstand 
nicht, welch eine Welt von Liebe sich in diesen Tönen kundgab. 
Alles Unvereinbare, Entgegengesetzte zweier Naturen, die sich nur 
durch eine plötzliche Anziehungskraft vereinigt zu haben schienen, 

1 Statt dieses von Liszt als Regenpräludium bezeichneten Stückes wurde 
durch seine Mitarbeiterin in der Ausgabe von 1880 versehentlich das Fis-Moll- 
Präludium genannt. lA. d. Ü.l 



156 VIL Lelia. 



um sich nach langen Anstrengungen mit der ganzen Gewalt heftigen 
Schmerzes und Überdrusses abzustoßen, spricht sich in diesem 
Ereignis aus. Ihm brach der Gedanke, daß er sie, die ihn dem 
Leben zurückgegeben, verlieren könne, das Herz. Sie sah in einer 
abenteuerlichen Fahrt, deren Gefahr nicht den Reiz der Neuheit 
aufwog, nur einen unterhaltenden Zeitvertreib. Was Wunder, 
wenn diese Episode die einzige aus Chopins französischer Periode 
blieb, deren Eindruck sich in seinen Werken wiederfindet? Hinfort 
teilte er sein Dasein in zwei Hälften. Noch lange Zeit litt er unter 
der allzu realistischen, wenig zartfühlenden Umgebung, in die sich 
sein sensitives Naturell verirrt hatte; aber er flüchtete sich aus der 
Gegenwart in das Gebiet der Kunst, zu den Erinnerungen seiner 
Jugend, zu seinem geliebten Polen, das seine Gesänge allein nun 
unsterblich machten. 

Trotz alledem ist es dem unter seinesgleichen lebenden Men- 
schen nicht gegeben, sich dergestalt von den ihn umgebenden Ein- 
drücken loszureißen und über seine täglichen schmerzvollen Leiden 
zu erheben, daß er in seinen Werken alles, was er empfindet, vergißt, 
um nur von dem, was er einst empfunden hat, zu singen. Darum 
möchten wir annehmen, daß Chopin in seinen letzten Jahren einer 
Art rastloser Tätigkeit oder vielmehr einer verzehrenden Unruhe 
anheimfiel, deren er sich selber nicht bewußt war; obgleich ihm 
nicht verborgen blieb, daß der Genius mehr als eines großen 
Dichters und Künstlers durch ähnliche Leiden zerstört worden war. 
Große Seelen leben, um der Qual ihrer irdischen Hölle zu entrinnen, 
in einer selbstgeschaffenen Welt. Wir sehen es an Milton, Tasse, 
CamoSns, Michel Angelo u. a. Ist aber ihre Einbildungskraft auch 
mächtig genug, sie über das Irdische emporzutragen, so vermag sie 
doch nicht, sie von dem Pfeil zu befreien, der ihre Brust durchbohrt. 
Weit ihre Flügel ausbreitend, schweben sie empor; aber selbst im 
Fluge fühlen sie die Schmerzen der vergifteten Wunde, die sie verzehrt. 
Daher hören wir das Weh verkannter Liebe aus Miltons Paradies, 
hören wir Liebesklagen aus Sophronias und Olindos Scheiterhaufen, 
schmerzliche Empörung aus der Florentinischen Nacht heraus. 

Nicht mit den Leiden jener anderen großen Meister verglich 
Chopin das seinige. Der außergewöhnliche Glanz des Geistes- 



Gegensätze zwischen Chopin und G. Sand. 157 

quells, wo er es geschöpft, ließ ihn glauben, daß es eben mit nichts 
zu vergleichen sei. Allein mit seinem Leid, hoffte er, es genugsam 
zu beherrschen, um seinen bleichen Widerschein und Gespenster- 
blick von den luftigen, in Frühlings-Morgenfrische strahlenden 
Regionen fem zu halten, wo er seiner Muse zu begegnen pflegte. 
Indessen so fest er entschlossen war, nur das reine Ideal seiner 
Jugendbegeisterung in der Kunst zu suchen, vermischte er ihm 
doch unwissentlich Schmerzenslaute, die nichts mit jenem Ideal 
zu schaffen hatten. Er quälte seine Muse, um komplizierte, raffi- 
nierte, unfruchtbare Leiden zum Ausdruck zu bringen, die sich 
in einer dramatischen, elegisch-tragischen Lyrik selbst verzehrten, 
welche außerhalb der Natur des Gegenstandes und seines Geftihls- 
kreises lag. 

Wir sagten es bereits: alle die seltsamen Formen, die in seinen 
letzten Werken so lange Zeit die Verwunderung der Künstler er- 
regten, stimmen mit seinen Inspirationen im allgemeinen nicht 
überein. Dem Liebesgeflüster, den Heldenklagen, den Jubel- 
hymnen und Triumphgesängen, die der polnische Meister in ver- 
gangenen Tagen vernommen hatte, mischen sie die Seufzer eines 
kranken Herzens, den Aufruhr einer aus dem Gleichgewicht ge- 
brachten Seele, die Eifersuchtsqualen, die ihn in der Gegenwart 
bedrückten. Dennoch verstand er es so gut, ihnen seine Gesetze 
vorzuschreiben, sie zu bemeistem und als sieggewohnter Herrscher 
zu behandeln, daß es ihm, im Gegensatz zu manchem Koryphäen 
der zeitgenössischen romantischen Literatur, im Gegensatz auch 
zu dem auf musikalischem Gebiet durch einen großen Künstler 
gegebenen Beispiel, gelang, die Vorbilder und die geheiligten For- 
men des Schönen nie zu verletzen, welches auch die Gemütsbe- 
wegungen waren, die er in ihnen niederlegte. 

Er war fern davon. In dem unbewußten Drange, Eindrücke 
wiederzugeben, die des Idealisierens unwert waren, und dem Vor- 
satz, die Muse nie zur Sprache der Leidenschaften des Lebens 
herabzuwürdigen, mit denen er seinem Herzen Berührung ver- 
stattet hatte, erweiterte er die Mittel und Grenzen seiner Kunst 
derart, daß keine seiner Errungenschaften von einem seiner recht- 
mäßigen Nachfolger verleugnet und zurückgewiesen werden wird. 



158 VII!. Letzte Zeiten und Stunden. 

Denn so unsagbar er auch gelitten, niemals opfert er das Schöne 
in der Kunst dem Bedürfnis, seinen Schmerz frei ausströmen zu 
lassen; niemals wird sein Gesang zum Weheschrei; niemals erlaubt 
er sich, die brutale Wirklichkeit in die Kunst — die ausschließliche 
Domäne des Ideals — zu übertragen, ohne sie zuvor ihrer Bruta- 
lität entkleidet und zu der Höhe emporgehoben zu haben, wo sie 
sich zur Wahrheit verklärt. Möge er allen, die die Natur mit einer 
gleich schönen Seele, einem gleich edlen Genius begabte, als Bei- 
spiel voranleuchten, wenn sie, wie er, vom Schicksal ausersehen 
sind, einem Glücke zu begegnen, das ihnen lehrt, das Leben zu 
verwünschen! 

So kurz auch die Lebensfrist schien, die Chopin bei der Schwäche 
seiner Konstitution gegeben war, sie hätte nicht noch durch seelische 
Leiden verkürzt zu werden brauchen. Zärtlich und feurig zugleich, 
voll feinsten, weiblich keuschen Zartgefühls, waren ihm unbesieg- 
bare Abneigungen eigen, die zwar die Leidenschaft ihn überwinden 
ließ, die aber zurückgedrängt sich rächten, indem sie die zarten 
Fibern seines Herzens wie glühende Eisendornen zerrissen. Sich 
Täuschungen und Hoffnungen hingebend, die sich nicht zu ver- 
wirklichen vermochten, blieb er beim Erwachen aus trügerischem 
Traume gebrochen und verblutend zurück. 

VIIL 

Seit dem Jahre 1840 schwand Chopins Gesundheit unter be- 
ständigen Schwankungen mehr und mehr dahin. Am wohlsten 
fühlte er sich während der Wochen, die er mehrere Jahre hindurch 
allsommerlich bei George Sand auf ihrem Landgut Nohant zu- 
brachte, trotz der traurigen Eindrücke, die für ihn auf die aus- 
nehmend glückliche Zeit ihrer spanischen Reise folgten. 

Die Berührung der Schriftstellerin mit den Vertretern der 
Öffentlichkeit, den ausführenden Bühnenkräften, wie mit denen, 
die sie, ihren Verdiensten oder ihrer Vorliebe zufolge, auszeichnete, 
das Durcheinander der Einwürfe und Meinungen mit seinen unver- 
meidlichen Reibungen war freilich seiner Natur innerst zuwider. 
Lange versuchte er, die Augen davor zu schließen und nichts von 



Chopins Bruch mit G. Sand. 159 

alledem zu sehen. Doch kam es am Ende'^zu Ereignissen, die, da 
sie sein moralisches und gesellschaftliches Schicklichkeits- und Zart- 
gefühl allzusehr beleidigten, schließlich seine Gegenwart in Nohant 
unmöglich machten, obwohl es anfangs schien, als ob er dort mehr 
Erholung als irgendwo genieße. Da er daselbst, sobald er sich 
von seiner Umgebung zu isolieren vermochte, gern arbeitete, brachte 
er alljährlich mehrere Kompositionen mit sich heim. Der Winter 
aber hatte regelmäßig eine Steigerung seiner Leiden zur Folge. 
Mit immer größerer Anstrengung nur war er imstande, sich zu be- 
wegen. Von 1846 zu 1847 ging er fast gar nicht mehr aus, da er 
keine Treppe steigen konnte, ohne es mit den ärgsten Beklemmun- 
gen zu büßen. Fortan erhielt ihn nur die sorglichste Vorsicht und 
Pflege noch am Leben. 

Gegen das Frühjahr 1847 verschlimmerte sich sein Zustand 
von Tag zu Tag, und er verfiel in eine Krankheit, von der man 
kaum glaubte, daß er sie überstehen werde. Noch einmal ward 
er gerettet; doch lebte er, durch ein ihn vernichtendes Ereignis 
im Innersten getroffen, nur noch mit dem Tod im Herzen weiter. 
Nicht lange überlebte er den in diese Zeit fallenden Bruch seiner 
Beziehungen zu George Sand. 

Frau von Stagl, die edle, gemüt- und geistvolle Frau, die nur 
den Fehler hatte, die Grazie ihrer Empfindung häufig durch die 
Schwerfälligkeit ihres Ausdrucks zu beeinträchtigen, äußerte ein- 
mal, als sie über der Lebhaftigkeit ihres Empfindens ihre Genfer 
Steifheit und Feierlichkeit vergaß; „In der Liebe gibt es nur An- 
fänge!" — ein Ausspruch, in dem sich bittere Erfahrung über die 
Unzulänglichkeit des menschlichen Herzens, den Träumen der 
Einbildungskraft zu entsprechen, Luft machte. 

Zwischen dem polnischen Künstler und der französischen Dich- 
terin hatten sich die „Anfänge", von denen Frau von Stagl sprach, 
längst erschöpft. Sie hatten sich, bei dem einen kraft der Achtung 
für das einst in goldnem Glänze strahlende Ideal, bei der andern 
vermöge einer falschen Scham, welche Beständigkeit ohne Treue 
bewahren zu können meinte, selbst überlebt. Genug, es kam der 
Moment, wo das unnatürliche Verhältnis, dessen Lebenskraft kein 
künstliches Mittel mehr aufzufrischen vermochte, dem Künstler 



160 VI IL Letzte Zeiten und Stunden. 

die Grenze dessen zu überschreiten schien, was er in Rücksicht 
auf seine Ehre unbemerkt lassen durfte. Niemand wußte, was 
den Anlaß oder Vorwand zu dem plötzlichen Bruche gegeben hatte; 
man sah nur Chopin, nachdem er gegen die Heirat der Tochter 
des Hauses heftigen Einspruch getan, Nohant ungestüm verlassen, 
um nie mehr dahin zurückzukehren. 

Dessenungeachtet sprach er häufig und beharrlich von Frau 
Sand, ohne Bitterkeit und ohne Vorwürfe. Er erzählte nicht von 
ihr, er rief sie gleichsam zurück. Unaufhörlich erwähnte er, was 
sie tat, wie sie es tat, was sie gesagt hatte, was sie zu wiederholen 
pflegte. Die Tränen traten ihm oftmals in die Augen, wenn er 
ihrer gedachte, die er verlassen mußte, und von der er sich doch 
nicht trennen konnte. 

Trotz der Ausflüchte, die seine Freunde anwandten, um den 
aufregenden Gegenstand seinem Gedächtnis fernzuhalten, kam er 
doch immer wieder darauf zurück, als wolle er sein Leben durch 
die gleichen Gefühle zerstören, die es einst neu belebt hatten. Mit 
einer Art bittersüßer Selbstpein gab er sich der Erinnerung ai\ ver- 
gangene Zeiten hin, ob sie jetzt auch ihres Glanzes beraubt waren, 
Es war ihm ein letzter Genuß, seine nahe Auflösung zu fühlen, 
während er die Vereitelung seiner letzten Hoffnungen betrachtete. 
Vergebens suchte man seine Gedanken von der geliebten Frau 
abzulenken. Immer und immer wieder sprach er von ihr; und 
wenn auch seine Lippen sie nicht nannten, waren seine Träume 
nicht bei ihr? Es schien, als schlürfe er das Gift mit gierigen Zügen, 
um es um so kürzer einatmen zu müssen. 

Chopin fühlte es und sprach es oftmals aus, daß mit diesem 
Liebesband zugleich der schwache Faden seines Lebens zerriß. 
Während seiner Krankheit im Jahre 1847 verzweifelte man mehrere 
Tage an seinem Wiederaufkommen. Gutmann, einer seiner hervor- 
ragendsten Schüler und der vertrauteste Freund seiner letzten 
Lebensjahre, überschüttete ihn mit Beweisen seiner Anhänglich- 
keit; seine Fürsorge und Aufmerksamkeit waren unvergleichlich. 
„Ist Gutmann auch nicht zu ermüdet?'' fragte Chopin mit dem 
ihm eigenen Zartgefühl die Fürstin Marcelline Czartoryska, die 
ihn täglich besuchte utid mehr als einmal fürchtete, ihn am nächiten 



Chopin erkrankt schwer. 161 

Morgen nicht mehr lebend zu finden. Er zog seine Gegenwart 
jeder anderen vor; aber so sehr ihm davor bangte, ihn zu verlieren, 
lieber wollte er ihn entbehren, als seine Kräfte mißbrauchen. Äußerst 
langsam nur schritt Chopins Genesung vor, und nur einem schwachen 
Hauch glich sein Lebensodem. Bis zur Unkenntlichkeit fast hatte 
sich sein Aussehen zu jener Zeit verwandelt. Der darauffolgende 
Sommer brachte ihm die scheinbare Besserung, die die schöne 
Jahreszeit den Dahinsterbenden häufig gewährt. Um nicht nach 
Nohant zu gehen oder, dafern er sich einen anderen Aufenthalt 
wählte, nicht die greifbare Gewißheit vor Augen zu haben, daß 
Nohant ihm kraft seines eigenen unerbittlichen Entschlusses ver- 
schlossen sei, wollte er Paris nicht verlassen. So beraubte er sich 
selbst der wohltätigen Wirkung der Landluft. 

Der Winter von 1847 zu 1848 war eine fortwährende traurige 
Wechselfolge von kurzer Besserung und erneuten Rückfällen« 
Gleichwohl beschloß er, im Frühjahr seinen alten Plan: eine Reise 
nach London, zur Ausführung zu bringen. Unter den Nebeln des 
nordischen Klimas hoffte er Befreiung von den ihn ohne Unter- 
laß umdrängenden Erinnerungen an den sonnigen Süden zu finden. 
Als die Februar- Revolution ausbrach, war er noch bettlägerig; 
doch schien er sich gewaltsam für die Tagesereignisse interessieren 
zu wollen und sprach mehr als gewöhnlich über dieselben. In 
Wahrheit jedoch behauptete nur die Kunst noch ihre unum- 
schränkte Macht über ihn. In den immer kargeren Augenblicken, 
wo es ihm noch möglich war, sich mit ihr zu beschäftigen, erfüllte 
die Musik sein ganzes Wesen so völlig, wie einst, da er noch voll 
Leben und Hoffnung war. Sein intimster, treuester Gesellschafter 
blieb Gutmann, dessen sorglicher Pflege er sich bis an sein Ende 
am liebsten überließ. 

Im Monat April hatte sich sein Befinden so weit gebessert, daß 
er ernstlich den Gedanken faßte, die beabsichtigte Reise zu unter- 
nehmen, um das Land kennen zu lernen, das er einstmals zu be- 
suchen gedachte, als noch Jugend und Leben ihm ihr lächelndes 
Angesicht zeigten. Bevor er Paris verließ, gab er noch ein Konzert 
bei Pleyel, einem seiner ältesten und liebsten Freunde, der gegen- 
wärtig durch den Eifer, mit dem er die Ausführung eines Grab« 
Liszt, Gesammelte Schriften. I. V.A. 11 



162 VIII. Letzte Zeiten und Stunden. 

denkmals für Chopin betreibt, seinem Gedächtnis eine pietätvolle 
Huldigung darbringt. In diesem Konzert hörte ihn sein ebenso 
gewähltd^ als treu ergebenes Publikum zum letzten Male. Fast 
ohne das Echo seiner letzten Töne abzuwarten, reiste er darauf 
schleunigst nach England ab. Es war, als wolle er sich nicht durch 
den Gedanken an ein letztes Lebewohl weich machen lassen oder 
dem, was er verließ, durch unnütze Schmerzen nur noch fester 
verbinden. 

In London hatten sich seine Werke bereits einen verständnis- 
vollen Kreis gewonnen. Sie waren dort allgemein bekannt und 
bewundert^. Er verließ Frankreich in einer Geistesverfassung, die 



1 Seit mehreren Jahren schon waren Chopins Kompositionen in England 
sehr verbreitet und beliebt. Die besten Virtuosen brachten sie häufig zur 
Aufführung. In einer zu dieser Zeit unter dem Titel: »An Essay on the works 
of F. Chopin« bei Wessel und Stappleton in London erschienenen Broschüre 
finden wir einige treffende Urteile. Das Motto der kleinen Schrift ist sinn- 
reich gewählt; denn auf niemand besser als auf Chopin lassen sich Shelleys 
Verse aus Peter Bell III. anwenden: 

He was a mighty poet and 
A subtle-souled psychologist. 
[Er war ein großer Dichter 
Und feiner Seelenkenner.] 

Mit Begeisterung spricht der Verfasser der Broschüre von diesem ;,durch 
keine Konventionalitäten gehemmten, durch keine Pedanterie gefesselten» 
originellen Genius"; von den „Ergüssen einer der Welt abgekehrten, schwer- 
mutsvoUen Seele, von den musikalischen Tränenfluten und Sonnenstrahlen, 
der unvergleichlichen Verkörperung flüchtiger Gedanken, der minutiösen Zart- 
heit", die den kleinsten Skizzen Chopins so großen Wert geben. „Eins", sagt 
er, „ist gewiß. Um Chopins , Präludien' und , Etüden Vmit^der erforderlichen 
Empfindung und in der richtigen technischen Ausführung wiederzugeben, 
ist ein vollendeter Pianist vonnöten. Um sie aber völlig zu verstehen und 
ihren zahllosen, überaus beredten Ausdrucksfeinheifen Leben und Sprache 
zu verleihen, bedarf es eines Pianisten, der in nicht geringerem Maße zugleich 
Dichter, Denker und Musiker ist. Gemeinplätze sind in den Werken Chopins 
instinktiv^vermieden. Vergebens würde man ein langweiliges Thema oder eine 
verbrauchte Sequenz, eine veraltete Kadenz oder Fortschreitung, eine ge- 
wöhnliche Melodiephrase oder Passage, eine magere Harmonie oder eine kon- 
trapunktische Ungeschicklichkeit in der Reihe derselben suchen, deren'cha- 
rakteristische Kennzeichen eine ebenso ungewöhnliche als edle Empfindung, 
eine so originelle wie glückliche Behandlung und eine in ihrer Neuheit und 



Chopin in London und Edinburg. 163 

man in England als low spirits bezeichnet. Das zeitweise Interesse 
an den politischen Umwandlungen, das er sich abgezwungen hatte, 
war gänzlich geschwunden. Er war schweigsamer denn jemals 
geworden; entschlüpften ihm aber ein paar Worte, so war es ein 
Ausruf der Klage. Bei seiner Abreise nahm seine Liebe für die 
wenigen Freunde, mit denen er noch verkehrte, den rührenden Aus- 
druck an, der sich mit dem Vorgefühl des letzten Abschiedes ver- 
bindet. Allem übrigen gegenüber zeigte er sich immer gleichgültiger. 

In London angekommen, wurde er mit einer Begeisterung emp- 
fangen, die ihn elektrisierte und eine Zeitlang über seine Schwermut 
Herr werden ließ. Man begann fast zu hoffen, seine Mutlosigkeit 
könne sich heben. Er selbst glaubte vielleicht oder stellte sich 
doch, als ob er es glaube, daß er sie zu überwinden vermöge, wenn 
er alles, was hinter ihm lag, selbst seine alten Gewohnheiten, ver- 
gäße und die ärztlichen Vorschriften und Vorsichtsmaßregeln, die 
ihn an seinen krankhaften Zustand erinnerten, vernachlässige. 
Zweimal spielte er öffentlich und mehrmals in Privat-Soireen. 
Bei der Herzogin von Sutherland ward er der Königin vorgestellt, 
und um so eifriger begehrte man fortan in den erlesensten Kreisen 
den Vorzug seiner Gegenwart. Er ging viel in Gesellschaft, begab 
sich spät zur Ruhe und setzte sich ohne Rücksicht auf seine Gesund- 
heit allen Anstrengungen aus. Suchte er auf diese Weise unbemerkt 
sein Ende herbeizuführen? Wollte er sterben, ohne durch seinen 
Tod ein anderes Herz mit Vorwürfen zu erfüllen? 

Auch nach Edinburg reiste er noch, dessen Klima sich ihm als 
besonders nachteilig erwies. Bei der Rückkehr von Schottland 



Frische zugleich kraftvolle und wirksame Melodik und Harmonik sind. Wir 
sehen uns in Chopins Werken ein Zauberreich erschlossen, das bisher noch 
keines Menschen Fuß, außer dem großen Komponisten selber, betreten. Gläu- 
bige Hingebung, der ernste Wille, sie zu verstehen und zu würdigen, sind un- 
bedingt erforderlich, um dieser Musik Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. . . . 
Seinen Polonaisen und Mazurken gab Chopin die charakteristischen Züge, 
welche die Nationalmusik seines Vaterlandes von der aller anderen Länder 
merklich unterscheidet: jene seltsame Idiosynkrasie, jene phantastische Wild- 
heit, jene anziehende Mischung von Schmerz und Lust, die der Musik der nor- 
dischen Volksstamme, deren Sprache sich in Konsonantenverbindungen ge- 
fiUt, ihr Gepräge geben.** 



164 VIII. Letzte Zeiten und Stunden. 

fühlte er sich sehr geschwächt. Die Arzte rieten ihm, England so 
bald als möglich zu verlassen; doch verzögerte er seine Abreise 
noch längere Zeit, Er spielte noch in einem zum Besten der Polen 
veranstalteten Konzert, und dies war das letzte Liebeszeichen, 
das er seinem Vaterland sandte. Mit Ehren- und Beifallsbezeigungen 
umringten ihn seine Landsleute. Er sagte ihnen allen Lebewohl; 
aber sie glaubten noch nicht, daß es ein ewiges sein sollte. 

Welche Gedanken ihn wohl geleiten mochten, als er wieder übers 
Meer dahin, nach Paris zurückfuhr, das jetzt so wenig mehr dem 
Paris glich, das er vor siebzehn Jahren gefunden hatte, ohne es 
zu suchen? . . . 

Bei der Rückkehr harrte seiner eine traurige Überraschung. 
Dr. Molin, dessen geschickter Behandlung er nicht nur seine Rettung 
im Winter 1847, sondern die Erhaltung seines Lebens seit einer 
Reihe von Jahren allein zu danken glaubte, starb plötzlich. Tief 
schmerzlich ward Chopin von diesem Verlust berührt, und eine 
Entmutigung überkam ihn schließlich, die bei dem Einfluß, den die 
Gemütsstimmung auf das Fortschreiten dieser Krankheit übt, um 
so gefährlicher wirkte. Er behauptete, daß er zu keinem. anderen 
Arzt wieder Vertrauen fassen und keiner ihm Molin ersetzen könne. 
Fortwährend wechselte er von nun an seine Ärzte, mit jedem un- 
zufrieden und auf keines Wissenschaft mehr bauend. Ein Zustand 
vollkommener Erschlaffung bemächtigte sich seiner. Es war, als 
sähe er nun sein Ziel erreicht; als habe er auch die letzten Lebens- 
kräfte erschöpft, da kein Band, das stärker als das Leben war, 
keine Liebe, die den Tod besiegte, gegen diese bittere Apathie mehr 
ankämpfte. 

Seit dem Winter 1848 war Chopin nicht mehr fähig, anhaltend 
zu arbeiten. Er legte wohl von Zeit zu Zeit an einige Skizzen die 
nachbessernde Hand, doch gelang es ihm nicht, seine Gedanken 
zu sammeln. Damit sie nicht in verstümmelter oder unfertiger 
Gestalt als seiner unwürdige nachgelassene Werke an die Öffent- 
lichkeit gelangten, ließ die Sorge um seinen Ruhm ihn das Ver- 
brennungsurteil über sie sprechen. Nur ein letztes Nocturne und 
ein gan; kurzer Walzer wurden als vollendete Manuskripte von 
ihm hinterlassen. 



Rückkehr nach Paris. 165 



In letzter Zeit beschäftigte ihn der Plan, eine Klavierschule 
zu schreiben, in der er seine Gedanken über die Theorie und Tech- 
nik seiner Kunst, das Ergebnis seiner langjährigen Arbeiten, seiner 
glücklichen Neuerungen und Erfahrungen niederzulegen gedachte. 
Die Aufgabe war ernst und erforderte doppelte Anstrengung, selbst 
für einen so emsigen Arbeiter als Chopin. Wollte er, als er sich 
diesem trockneren Gebiet zuwandte, vielleicht selbst den Auf- 
regungen der Kunst entfliehen, die so mannigfaltig sind wie die 
Gefühle und Dramen des Herzens, die sich in ihnen spiegeln? Nur 
noch eine gleichförmige, ihn abziehende Beschäftigung suchte er 
und verlangte von ihr nichts weiter, als was Manfred von den 
Kräften der Magie vergebens begehrte: „Vergessen!" — jenes Ver- 
gessen, das weder Zerstreuung noch Betäubung zu gewähren ver- 
mögen, welche vielmehr, was sie dem Schmerz an Zeit rauben, 
arglistig durch Intensität zu ersetzen scheinen. In der täglichen 
Arbeit, die „der Seele Sturm beschwört", indem sie das Gedächt- 
nis zwar nicht vernichtet, aber doch einschläfert, wollte er Ver- 
gessenheit suchen. Suchte doch auch Schiller, der wie Chopin 
trostloser Schwermut und einem vorzeitigen Tod zur Beute ward, 
Beruhigung in der Arbeit, die er, als letzte Zuflucht in der Bitternis 
des Lebens, am Ende seiner Dichtung „Die Ideale" anruft: 

„Beschäftigung, die nie ermattet, 
Die langsam schafft, doch nie zerstört, 
Die zu dem Bau der Ewigkeiten 
Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht, 
Doch von der großen Schuld der Zeiten 
Minuten, Tage, Jahre streicht." 

Zur Ausführung seines Planes reichten gleichwohl Chopins 
Kräfte nicht mehr aus: die Beschäftigung war ihm zu abstrakt, 
zu ermüdend. Er gestaltete im Geiste die Hauptzüge des Ganzen, 
sprach auch zu wiederholten Malen davon; doch die Verwirk- 
lichung seines Gedankens wurde ihm unmöglich. Wenige Seiten 
nur wurden niedergeschrieben, um das Vemichtungsschicksal der 
übrigen Skizzen zu teilen. 

Endlich verschlimmerte sich das Übel so sichtlich, daß seinen 
Freunden alle Hoffnung zu schwinden begann. Er vermochte das 



166 VIII. Letzte Zeiten und Stunden. 

Bett nicht mehr zu verlassen und sprach fast gar nicht mehr. Seine 
Schwester, die auf Kunde dessen von Warschau herbeigeeilt war, 
wich nicht mehr von seinem Krankenlager. Er gewahrte die Angst, 
die schmerzlichen Befürchtungen um ihn her, ohne den Eindruck, 
den sie ihm selbst erregten, zu verraten. Mit männlicher Ruhe 
und Ergebung unterhielt er sich von seinem Ende, indes er vor allen 
und vielleicht vor sich selber zu verbergen trachtete, daß er das- 
selbe selbst herbeigeführt oder doch beschleunigt hatte. Auch traf 
er noch immer Veranstaltungen für die Zukunft. Wie er von je 
gern öfters die Wohnung wechselte, so wählte er auch jetzt wieder 
eine andere, um, wie er sagte, den Unbequemlichkeiten der gegen- 
wärtigen zu entgehen. Er ordnete ihre neue Möblierung an und 
beschäftigte sich auf das eingehendste mit der betreffenden Ein- 
richtung. Obwohl er schwer krank war und sich sicherlich keiner 
Täuschung über seinen Zustand hingab, bestand er doch darauf, 
die getroffenen Veranstaltungen nicht abzubestellen. In der Tat 
begann man bereits mehrere Gegenstände zu räumen, ja es fügte 
sich, daß man selbst an seinem Todestage verschiedene Möbel nach 
den Zimmern schaffte, die er nicht mehr beziehen sollte. 

Fürchtete er, daß der Tod sein Versprechen nicht halten, daß, 
nachdem ihn seine Hand berührt hatte, er ihn noch einmal auf 
der Erde zurücklassen und das Leben ihm noch grausamer erscheinen 
würde, wenn er es wieder aufnehmen müsse, nun alle ihn dem- 
selben verknüpfenden Fäden zerrissen waren? Empfand er jene 
doppelte Einwirkung, welche manche höhergeartete Naturen am 
Vorabend von Ereignissen fühlten, die über ihr Los entschieden: 
jenen Widerspruch zwischen dem Herzen, das das Geheimnis der 
Zukunft ahnt, und dem Verstand, der es nicht vorauszusehen wagt, 
so daß Worte und Handlungen einander Lügen zu strafen scheinen, 
während sie doch der gleichen Überzeugung entspringen? Wir 
glauben vielmehr, daß, nachdem er sich von dem unwidersteh- 
lichen Wunsch, dies Leben zu verlassen, überwältigen ließ, nach- 
dem er in England alles getan hatte, um seine letzten Tage abzu- 
kürzen, er nun alles fernhalten wollte, was diese seine Schwäche ver- 
raten konnte, die seine eigene Lebensanschauung an jedem anderen 
als romantisch, theatralisch, lächerlich verurteilt haben würde. 



Dem Ende entgegen. 167 



Er wäre errötet, wie einer der ihm verhaßten Melodramenheiden, 
wie ein Bocage auf der Bühne^ oder eine der ihm so verächtlichen 
Romanfiguren zu handeln. Konnte er nun trotz alledem der ver- 
führerischen Lockung des Todes, dem letzten Rausch der durch 
den bittern Trank der Verzweiflung Vergifteten nicht widerstehen, 
so suchte er doch sorgsam eine Schwäche zu verhehlen, die allen 
gemeinsam ist, denen Frauenhand eine Wunde schlug, von der man 
nur sterbend genest. 

In Abwesenheit eines polnischen Geistlichen, der früher Chopins 
Beichtvater gewesen, sprach Abb6 Alexander Jelowicki, einer der 
angesehensten Emigranten, auf die Nachricht seiner schweren Er- 
krankung bei ihm vor, obgleich ihre Beziehungen sich während der 
letzten Jahre gelockert hatten. Durch die Umgebung des Kranken 
dreimal zurückgewiesen, kannte er denselben doch zu gut, um sich 
abschrecken zu lassen und nicht sicher zu sein, daß er ihn, sobald 
er von seiner Nähe wisse, vorlassen werde. Er wurde in der Tat, 
nachdem er Mittel und Wege gefunden, ihn von seiner Gegenwart 
zu unterrichten, unverzüglich angenommen. Zuerst war im Emp- 
fang des armen sterbenden, des Lebensodems wie des Lebensmutes 
beraubten Freundes eine gewisse Kühle, oder vielmehr eine aus 
innerer Erregung hervorgehende Verlegenheit bemerkbar, wie man 
sie immer empfindet, wenn man, sich ehedem zu Gott bekennend, 
sich ihm entfremdete und nun mit einem seiner Diener in Berührung 
kommt, dessen Anblick schon uns an seine väterliche Liebe und 
an unser undankbares Vergessen mahnt. 

Tags darauf kam Abb^ Jelowicki wieder und so alle Tage zur 
selben Stunde; er tat, als sei nie irgend welche Unterbrechung in 
ihren Beziehungen eingetreten. In polnischer Sprache unterhielt 
er sich mit ihm, als hätten sie sich tags zuvor gesehen, als wäre 
nichts in der Zwischenzeit vorgefallen, als lebten sie in Warschau 
statt in Paris. Er erzählte ihm von all den kleinen Begebenheiten 
im Kreise der emigrierten Geistlichen, von den neuen Religions- 
verfolgungen in Polen, von den ihrem Kultus entzogenen Kirchen. 

* Bocage, einer der hervorragendsten Schauspieler aus der Zeit von 
Mme Dorval, war einer der berilhmtesten Repräsentanten der ausschweifenden 
Romantik und als solcher eine Zeitlang in Nohant sehr gern gesehen. 



168 VIII. Letzte Zeiten und Stunden. 

Es läßt sich denken, wie sehr sich diese Erzählungen ausdehnen 
ließen. 

Täglich wurden die Besuche des Pater Jelowicki dem armen 
an das Lager gebannten Kranken interessanter. Sie versetzten ihn 
auf die natürlichste Weise, ohne Anstrengung und Erschütterung, 
in seine heimatliche Atmosphäre. Sie verknüpften ihm Gegenwart 
und Vergangenheit und führten ihn gewissermaßen in sein Vater- 
land, sein geliebtes Polen, zurück, das er trauriger denn jemals 
wiedersah. Eines Tages teilte Chopin seinem Freunde ohne Um- 
schweif mit, daß er seit langer Zeit nicht gebeichtet habe und es 
zu tun wünsche. Es geschah auch sofort, da Beichtiger und Beicht- 
kind, ohne sich darüber zu äußern, schon längst auf diesen großen 
und feierlichen Augenblick vorbereitet waren. 

Kaum hatte der Priester <Ias letzte Wort der Absolution ge- 
sprochen, als Chopin, wie befreit, tief aufseufzend und zugleich 
lächelnd, ihn nach polnischer Art mit beiden Armen umschlang 
und ausrief: „Dank, Dank, mein Lieber! Dank Ihnen werde ich 
nicht wie ein Schwein sterben (iak swinia)!" Wir erfuhren die 
genaueren Umstände durch den Abb6 Jelowicki selbst, der sie 
später auch in einem seiner »Lettres spirituelles« veröffentlichte. 
Er sagte uns, wie tief ihn der Gebrauch dieses gemein energischen 
Ausdrucks im Munde eines Mannes erschüttert habe, der durch 
die Gewähltheit und Eleganz seiner Redeweise bekannt war. Mit 
diesem auf seinen Lippen so seltsam klingenden Wort schien er 
seine Seele von dem ganzen, unermeßlichen Ekel zu entlasten, 
der sie erfüllte. 

Von Woche zu Woche, von Tag zu Tag lagerten sich die Schatten 
des Todes dichter über ihm. Die Krankheit näherte sich ihrem 
Ende. Immer heftiger wurden die Leiden, immer häufiger die 
Krisen, die einen letzten Kampf in nahe Aussicht stellten. Sobald 
sie ihm Ruhe ließen, fand Chopin seine Geistesgegenwart und 
Willenskraft wieder. Die Klarheit des Bewußtseins und der Ge- 
danken verließ ihn nicht bis zuletzt. Die Wünsche, die er in schmer- 
zensfreieren Augenblicken aussprach, bezeugen den ruhigen Ernst, 
mit dem er dem Tod ins Angesicht schaute. Zur Seite Bellinis, 
mit dem er, während dessen Pariser Aufenthaltes, in intimem Ver- 



Abb6 Jelowicki. Chopins Pfleger. 169 

kehr gestanden, begehrte er zur Ruhe bestattet zu werden. Bellinis 
Grab ist auf dem Friedhof P^re-Lachaise neben dem Cherubinis 
gelegen; der Wunsch aber, diesen letzteren, von früh an von ihm 
bewunderten großen Meister kennen zu lernen, war einer der Be- 
weggründe, die Chopin, als er 1831 Wien verließ, um sich nach 
London zu begeben, bestimmten, über Paris zu reisen, wo ihn sein 
Schicksal, ohne daß er es ahnte, festhielt. Nun ruht er zwischen 
Bellini 1 und Cherubini, jenen beiden so verschieden gearteten 
Tongenien, denen Chopin sich doch gleicherweise näherte, indem 
er die Gelehrsamkeit des einen nicht minder schätzte, als er sich 
dem natürlich fortreißenden Zug und Feuer des anderen zuneigte. 
Ihn verlangte, das poetisch Duftige des eigenen spontanen Emp- 
findens in großer, erhabener Weise den Verdiensten der vollendeten 
Meister: dem melodischen Gefühl des Autors der „Norma'S wie 
der harmonischen Bedeutung des gelehrten Greises, der „Medea'' 
schuf, zu vereinen. 

Mit der ihm bis zuletzt eigenen Zurückhaltung wünschte er 
keinen seiner Freunde zum letzten Male zu sehen; aber er bezeigte 
denen, die ihn besuchten, seine Dankbarkeit in der ergreifendsten 
Weise. Die ersten Tage des Oktober ließen keine Hoffnung übrig. 
Der verhängnisvolle Augenblick nahte; der nächste Tag, die nächste 
Stunde schon konnte ihn bringen. Chopins Schwester und Gut- 
mann standen dem Kranken beharrlich bei und wichen keinen 
Moment mehr von seiner Seite. Die Gräfin Delphine Potocka, 
die von Paris abwesend war, kehrte auf die Nachricht von der 
drohenden Gefahr sofort zurück. Wer an das Sterbebett trat, 
konnte sich von dem Anblick dieser schönen, in der Weihe des Augen- 
blicks doppelt großen Seele nicht trennen. 

Welche heftige oder frivole Leidenschaften auch das Menschen- 
herz erregen, welche Stärke oder Gleichgültigkeit es auch angesichts 
plötzlicher Zufälle, die als die ergreifendsten erscheinen müßten, 
entfalte, im Anblick eines langsam herannahenden Todes liegt 

^ Bellinis Asche wurde 1876 nach seinem Qeburtsort Catania überführt 
und im Dom daselbst beigesetzt. Chopins Herz wurde am 6. März 1880 dem 
ihm in der Heillgengelst-Kirche zu Warschau errichteten, kurz zuvor, an 
seinem Geburtstag, dem 22. Februar, eingeweihten Denkmal eingefügt. [A. d. Ü.] 



170 VÜI. Letzte Zeiten und Stunden. 

eine imposante Majestät, die selbst die zu solch heiliger Andacht 
am wenigsten gestimmten Gemüter rührt und erhebt. Der all- 
mähliche Heimgang eines der Unsrigen in das unbekannte Jenseits, 
der geheimnisvolle Ernst semer Ahnungen und Offenbarungen, 
seiner Rückschau auf sein Denken und Tun auf der schmalen 
Schwelle, die Vergangenheit und Zukunft, Zeit und Ewigkeit 
trennt, bewegt uns tiefer als irgend etwas auf dieser Welt. Die 
Katastrophen, die Abgründe, welche die Erde unter unseren Füßen 
öffnet, die Feuersbrünste, die ganze Städte mit ihrem Flammenband 
umschlingen, die elementaren Gewalten, denen das dem Sturm 
zum Spielzeug dienende zerbrechliche Schiff unterliegt, das Blut, 
das Armeen auf dem dampfenden Schiachtfeld vergießen, das 
schreckliche Beinhaus selbst, in das eine ansteckende Krankheit 
die Wohnungen der Menschen verwandelt: alles das entfernt uns 
weniger von allen den unwürdigen irdischen Banden, „die ver- 
gehen, schwinden und brechen*' i, als der Anblick einer klar be- 
wußten Seele, die schweigend die vielgestaltigen Bilder der Zeit 
und die stumme Pforte der Ewigkeit überschaut. Der Mut, die 
Ergebung und Erhebung, die sie mit der unserem Wesen so wider- 
strebenden unvermeidlichen Auflösung vertraut machen, üben 
auf die Umstehenden eine tiefere Wirkung als das plötzlichste, 
gewaltsamste Ende, dem dieser Ausdruck des Schmerzes und der 
stillen Sammlung fehlt. 

In dem Salon neben Chopins Schlafgemach waren fortwährend 
mehrere seiner Freunde versammelt; sie kamen abwechselnd, um, 
nachdem seine Sprache schon fast erloschen, einen Blick, einen 
stummen Gruß noch von ihm zu empfangen. Die unermüdlichste 
unter ihnen war die Fürstin Marcelline Czartoryska, die, als die 
Lieblingsschülerin des Tondichters und Vertraute seiner Kunstge- 
heimnisse, täglich einige Stunden bei dem Sterbenden zubrachte. 
In seiner letzten Stunde verließ sie ihn erst, nachdem sie lange 
an der Seite dessen gebetet hatte, der nun aus dieser Welt der 
Täuschungen und Schmerzen in eine Welt des Lichtes und der 
Seligkeit entfloh. 



^ »Qui passent, qui lassent, qui cassent.« 



Letzte Klänge. 171 



Sonntag, den 15. Oktober hatte er schmerzvollere und andauern- 
dere Zufälle denn je zuvor zu erdulden. Er ertrug sie mit Geduld 
und großer Seelenstärke. Die anwesende Gräfin Delphine Potocka 
war tief ergriffen, ihre Tränen strömten. Er sah sie am Fuß seines 
Lagers stehen. Groß, schlank, weiß gekleidet, den schönsten 
Engelsgestalten gleichend, die je ein frommer Maler ersann, durfte 
er sie wohl für eine himmlische Erscheinung halten. Als ihm die 
Schmerzen einen Augenblick der Ruhe gönnten, bat er sie zu singen« 
Man glaubte anfangs, er phantasiere; aber er wiederholte seine 
Bitte dringlicher. Wer hätte gewagt, sich ihm zu widersetzen? 
Das im Salon stehende Klavier wurde an die Tür seines Schlaf- 
zimmers gerollt, und die Gräfin sang mit schluchzender Stimme. 
Tränen überfluteten ihre Wangen, und niemals sicherlich hörte man 
diese vielbewunderte Stimme voll pathetischeren Ausdruckes singen. 

Chopin schien weniger zu leiden, während er ihr lauschte. Sie 
sang die berühmte Hymne an die Jungfrau, die Stradella das Leben 
gerettet haben soll. „Wie schön das ist! Mein Gott, wie schön 
das ist!" sagte er. „Noch einmal . . . noch einmal!" Obwohl von 
Rührung überwältigt, hatte die Gräfin dennoch die Kraft, dem 
letzten Wunsch ihres Freundes zu willfahren. Sie setzte sich 
noch einmal an das Klavier und sang einen Psalm von Marcello. 
Chopin befand sich indessen schlechter. Alle wurden von Schreck 
ergriffen und warfen sich, einer unwillkürlichen Regung folgend, 
auf die Knie. Niemand wagte zu sprechen; man vernahm nur die 
Stimme der Gräfin, die wie eine himmlische Melodie über dem 
Seufzen und Schluchzen schwebte, das ihre düstere Begleitung 
bildete. Und die Nacht brach herein, und ein Halbdunkel breitete 
seine geheimnisvollen Schatten über dieses traurige Bild. Chopins 
Schwester kniete, in Gebet und Tränen versunken, an seinem Bett; 
sie verließ diese Stellung kaum mehr, so lange ihr geliebter Bruder 
lebte ... 

Während der Nacht verschlimmerte sich der Zustand des Kran- 
ken; am Montag früh aber befand er sich etwas besser. Als ob 
er im voraus den günstigsten Augenblick erkannt hätte, verlangte 
er ungesäumt nach Empfang der Sterbesakramente. In Abwesen- 
heit des priesterlichen Freundes, der ihm seit ihrer gemeinsamen 



172 VI IL Letzte Zeiten und Stunden. 

Verbannung verbunden war, wurde natürlich Abb6 Jelowicki ge- 
rufen. Mit tiefer Andacht empfing er das heilige Abendmahl und 
die letzte Ölung in Gegenwart aller seiner Freunde. Dann winkte 
er einen nach dem andern derselben an sein Bett, um einem jeden 
ein letztes Lebewohl zu sagen und Gottes Segen auf seine Wünsche 
und Hoffnungen herabzuflehen. Alle senkten die Knie und neigten 
das Haupt mit tränenfeuchtem Auge, die Herzen schmerzgepreßt 
und doch erhoben. 

Immer peinvoller traten die Beklemmungen auf und währten 
den ganzen Tag über. In der Nacht vom Montag zum Dienstag 
sprach er kein Wort mehr, auch schien er die ihn umgebenden 
Personen nicht mehr zu erkennen. Erst gegen elf Uhr abends 
fühlte er zum letzten Mal ein wenig Erleichterung. Abb6 Jelo- 
wicki hatte ihn nicht verlassen. Kaum war Chopin der Sprache 
wieder mächtig, so wünschte er mit ihm die Litaneien und Sterbe- 
gebete herzusagen. Er tat dies in lateinischer Sprache, mit voll- 
kommen vernehmlicher Stimme. Dann ließ er sein Haupt auf der 
Schulter Gutmanns ruhen, der ihm im ganzen Verlauf der Krank- 
heit seine Tage und Nächte gewidmet hatte. 

Eine krampfhafte Schlafsucht währte bis zum 17. Oktober. 
Gegen zwei Uhr begann der Todeskampf; kalter Schweiß entströmte 
seiner Stirn. Nach kurzem Schlummer fragte er mit kaum hörbarer 
Stimme: „Wer ist bei mir?" Darauf neigte er sein Haupt, um 
Gutmanns Hand, die es gestützt hatte, zu küssen, und hauchte 
mit diesem letzten Beweis von Freundschaft und Dankbarkeit 
seine Seele aus. Wie sein Leben Liebe gewesen, so war es auch sein 
Sterben! 

Als die Türen des Salons geöffnet wurden, drängten sich alle 
um die entseelte Hülle, und lange Zeit flössen die Tränen, die man 
über ihn weinte. 

Da seine Liebe zu den Blumen allgemein bekannt war, wurden 
dieselben am anderen Tag in solcher Fülle herbeigebracht, daß das 
Bett, auf dem er lag, und das ganze Zimmer unter der bunten 
Blütenpracht verschwanden. In einem Garten schien er zu 
ruhen. Sein Antlitz hatte eine ungewohnte Jugend, Reinheit, 
Ruhe zurückgewonnen; seine. durch langes Leiden entstellte Jugend- 



Tod und Bestattung. 173 

liehe Schönheit trat wieder hervor. Der Bildhauer Cl^singer hielt 
diese Züge, denen der Tod ihre ursprüngliche Anmut wiedergegeben, 
in einer Skizze fest, die später modelliert und für Chopins Grab in 
Marmor ausgeführt wurde. 

In seiner hohen Verehrung für Mozarts Genius hatte der Ver- 
blichene die Aufführung seines Requiems bei seiner Bestattung 
erbeten. Sein Wunsch ward erfüllt. Die Leichenfeier fand in der 
Kirche la Madeleine am 30. Oktober 1849 statt, da sie, um eine 
des Meisters wie des Jüngers würdige Aufführung des großen Werkes 
zu veranstalten, bis zu diesem Tag verschoben worden war. Die 
ersten Pariser Künstler verlangten an derselben teilzunehmen. 
Mit dem Trauermarsch des Verklärten, der von Reber zu diesem 
Zweck instrumentiert worden war, ward die Feier eröffnet. So 
geleitete die Erinnerung an das Vaterland, die er demselben ein- 
gehaucht hatte, den edlen polnischen Sänger zu seiner letzten Ruhe. 
Zum Offertorium trug Lefebure-V61y Chopins bewundernswürdige 
Präludien in H- und E-Moll auf der Orgel vor. Die Solopartien 
im Requiem hatten sich die Damen Viardot und Castellan erbeten; 
Lablache, der im Jahre 1827 bei Beethovens Beerdigung das Tuba 
mirum desselben Werkes gesungen hatte, sang es auch diesmal 
wieder. Meyerbeer, der damals die Paukenpartie spielte, führte 
jetzt mit dem Fürsten Adam Czartoryski den Trauerzug. Die 
Zipfel des Bahrtuches trugen Fürst Alexander Czartoryski, der 
Maler Delacroix und die Musiker Franchomme und Gutmann. 

So unzulänglich die vorliegenden Blätter auch erscheinen mögen, 
um unseren Wünschen entsprechend von Chopin zu reden, wir 
hoffen doch, daß der Reiz, den sein Name mit Recht ausübt, das 
ihnen Mangelnde ersetzen wird. Nur die Aufrichtigkeit des 
Schmerzes, der Hochachtung und Begeisterung, die wir für ihn 
empfinden, kann diesen dem Andenken seiner Werke und allem, 
was ihm teuer war, gewidmeten Zeilen eine überzeugende und 
sympathische Wirkung verleihen. Sollen wir nun, zur Einkehr 
in uns selber gedrängt, zu der jeder Todesfall uns veranlaßt, welcher 
uns eines Genossen unserer Jugend beraubt und die ersten vom 
vertrauenden Herzen geschlossenen, aber diese Jugend überlebenden 



174 VIII. Letzte Zeiten und Stunden. 

Bande zerreißt, noch einige Worte hinzufügen, so möchten wir 
dessen gedenken, daß wir im Laufe ein und desselben Jahres die 
beiden liebsten Freunde verloren, denen wir während unserer 
künstlerischen Wander jähre begegneten. 

Der eine fiel als Opfer des Bürgerkriegs! Als tapferer, aber 
unglücklicher Held erlag er einem grauenvollen Tod, dessen ent- 
setzliche Qualen gleichwohl seinen heißen Mut, seine unerschrockene 
Kaltblütigkeit und ritterliche Kühnheit keinen Augenblick zu beugen 
vermochten. Als jugendlicher Fürst voll überschäumenden Lebens, 
vpn seltenem Verstand und außerordentlicher Tätigkeit, mit hervor- 
ragenden Gaben ausgestattet, hatte er durch seine unermüdliche 
Energie bereits alle Hindernisse besiegt, um sich einen Wirkungs- 
kreis zu schaffen, wo seine Fähigkeiten sich im Wortgefecht und 
Staatsgeschäft mit gleichem Erfolg entfalten konnten, wie er seinen 
glänzenden Waffentaten schon zuteil geworden war. — Der andere 
verzehrte sich langsam in seinen eigenen Flammengluten. Sein 
außerhalb der öffentlichen Ereignisse stehendes Leben war gleich- 
sam ein körperloses Etwas, das sich uns nur durch die Spuren seiner 
uns hinterlassenen Tondichtungen offenbart. In fremdem Lande 
beschloß er seine Tage: ein Dichter mit schmerzenreicher, tief in 
sich verschlossener Seele. 

Mit dem Tod des Fürsten Felix Lichnowsky ging uns das un- 
mittelbare Interesse an der Bewegung der Parteien verloren, zu 
denen er in Beziehung stand. Chopins Tod hingegen beraubte 
uns eines verständnisvollen Freundes und Kunstgenossen. Die 
warme Sympathie für unsere Empfindung und Kunstanschauung, 
von der uns der überaus exklusive Künstler so viel unverkennbare 
Beweise gab, würde, wie sie unsere ersten Bestrebungen und Ver- 
suche ermutigte und kräftigte, uns auch in Zukunft manche herbe 
und ermüdende Erfahrung versüßt haben. 

Da es uns beschieden ward, jene Freunde zu überleben, drängte 
es uns wenigstens, Zeugnis abzulegen von dem Schmerz, der uns 
erfüllt, und dies Zeugnis als gebührende Huldigung am Grabe des 
edlen Meisters niederzulegen, der unter uns lebte und dahin ging. 
Heutigentages, wo die Musik zu solch allgemeiner und großartiger 
EntWickelung gelangt, scheint er uns in mancher Beziehung jenen 



Chopin — Fürst Felix Lichnowsky. 175 

Malern des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts vergleichbar, 
die die Erzeugnisse ihres Genies auf den Raum eines Pergament- 
randes beschränkten, aber in ihren Miniaturen Züge einer so glück- 
lichen Eingebung entfalteten, daß sie, die byzantinische Steifheit 
zuerst durchbrechend, die Vorbilder hinterließen, die ein Francia, 
Perugino, Raphael später auf ihre Staffelei- und Wandgemälde 
übertrugen* 



Es gab Völker, bei denen man, großen Männern und Taten zum 
Gedächtnis, Pyramiden aus Steinen errichtete, zu denen Jeder Vor- 
übergehende den seinen beitrüg, so daß dieselben unmerkbar, als 
das namenlose und gemeinsame Werk aller, zu unerwarteter Höhe 
anwuchsen. Auch in unseren Tagen noch werden mittelst eines 
ähnlichen Verfahrens Denkmäler geschaffen; nur daß man sich, 
statt an Erbauung eines unförmigen Steinhaufens, vielmehr an 
Ausführung eines Kunstwerks beteiligt, das nicht allein das stumme 
Andenken, welches man ehren wollte, verewigen, sondern zugleich, 
mit Hilfe der Poesie des Meißels, die Empfindungen der Zeitge- 
nossen in zukünftigen Geschlechtern wach erhalten soll. Die Sub- 
skriptionen, welche eröffnet werden, um Menschen, die ihrem Land 
und ihrer Zeit zum Ruhm gelebt, Statuen oder reiche Grabmäler 
zu widmen, erzielen ein solches Resultat. 

Alsbald nach Chopins Hingang faßte Camillo Pleyel einen der- 
artigen Plan und veranstaltete, um ihm auf dem Pöre-Lachaise 
ein Marmor-Monument von Cl^singer ausführen zu lassen, eine 
Subskription, die, der Erwartung gemäß, binnen kurzem eine an- 
sehnliche Summe ergab. 

Wir unsererseits aber gedachten unserer langjährigen Freund- 
schaft für Chopin und der außerordentlichen Bewunderung, die 
wir ihm seit seinem Erscheinen in der musikalischen Welt entgegen- 
gebracht; wir gedachten dessen, daß wir, Künstler wie er, ein häu- 
figer, von ihm geliebter und bevorzugter Interpret seiner Schöpfun- 
gen waren; daß wir öfter als andere die Prinzipien seiner Methode 
aus seinem Munde vernommen und uns mit seinen Ansichten über 
die Kunst und seinen in ihr verlebendigten Empfindungen durch 



176 Ein Denkstein. 



die Assimilation, wie sie zwischen Schriftsteller und Übersetzer 
besteht, gewissermaßen identifiziert hatten. Darum fühlten wir 
uns verpflichtet, zu der ihm bereiteten Huldigung nicht nur einen 
rohen Stein als namenlose Spende beizutragen. Es dünkte uns, 
daß die Rücksicht der Freundschaft und Kollegialität ein be- 
sonderes Zeichen unserer Trauer und Bewunderung erheischte, ja 
wir glaubten, uns einer Versäumnis gegen uns selber schuldig zu 
machen, wollten wir auf die Ehre verzichten, unseren Namen seinem 
Grabstein als Trauerzeichen einzugraben, wie es denen gestattet 
ist, welche die Leere, die ein unersetzlicher Verlust in ihrem Herzen 
zurückließ, nie wieder ausgefüllt zu sehen hoffen! . . . 



F. Liszt 



GESAMMELTE SCHRIFTEN 



VON 



FRANZ LISZT 

VOLKSAUSGABE 
IN VIER BÄNDEN 



I. FRIEDRICH CHOPIN 
IL RICHARD WAGNER 



III. DIE ZIGEUNER UND IHRE 
MUSIK IN UNGARN 

IV. AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN 




LEIPZIG 
DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF ® HARTEL 

1910 



GESAMMELTE SCHRIFTEN 



VON 



FRANZ LISZT 



II. 



RICHARD WAGNER 



ÜBERSETZT VON 



L. RAMANN 



NEU DURCHGESEHENE AUSGABE 




LEIPZIG 

DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF ® HARTEL 

1910 



CX>PyRIGHT 1910 BV BREITKOPF 'S) HARTBL -LBIPEIO 



Inhaltsverzeichnis. 

Seite 
Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg 1849 3—59 

I. AUgemeineBemerkungen UberWagnersDoppelgenie 3 
und die sicti tiieran Icnüpfenden Folgen für seinen Operntext und 
die musilcalische Wiedergabe. Die ttiüringer Fürsten als Be- 
schützer der Künste. Die Großherzogin Maria Paulowna. Die 
Prinzessin Wilhelm. Weimar. — Die Tannhäusersage. Die 
Göttinnen Venus und Holda. Erzählung der Opemdichtung 
„Tannhäuser" von Wagner. 

II. Musikalisch-ästhetische Analyse der Ouvertüre. — 14 
Der Pilger- und Sirenenchor als Hauptgegensätze und als ideelle 
Träger derselben. Die dramatische Gewalt und Schärfe der Charak- 
teristik dieser Gegensätze.Die instrumentale Zeichnung derSirenen, 
der Venusgrotte. Wagner und Rubens als Maler der Göttin der 
Schönheit. Das religiöse Thema und seine Entwickelung in der 
Tannhäuser-Ouvertüre. Über das Bedenkliche poetischer Inter- 
pretationen instrumentaler Werke. Der Künstler als fühlender 
Kritiker. Notenbeispiele aus dem Pügerchor. Das AUegro der 
Ouvertüre und die Entwickelung des Lustmotivs. Notenbei- 
spiele. Die Coda. Der Sieg des religiösen Motivs über das Lust- 
motiv. — Die Tannhäuser-Ouvertüre als solche. Ihre Selb- 
ständigkeit als Kunstwerk gegenüber der Oper. 

III. Musikalisch-ästhetische Analyse der Oper „Tann- 
häuser" 33 

I. Akt. — Der Bacchantenchor. Tannhäusers Loblied auf 
die Venus. Sirenengesang. Der Pilgerchor. Das Schluß-Septett. 

II. Akt. — Das Duo zwischen Tannhäuser und Elisabeth. 37 
Die Märsche in H- und G-dur. Der Sängerkrieg. „Ein Engel 
stieg aus lichtem Äther", Schlußchor. 

I IL Akt. — Elisabeths Gebet. Das Lied an den Abendstem. 41 
Die Erzählung Tannhäusers. Die Erlösung. 

IV. Bemerkungen über Wert, Studium und Aufführung des „Tann- 46 
häuser". Seine dramatische Anlage. Die musikalische Charak- 
teristik der Personen. Das Phantastische des Stoffes. Die 



V I Inhaltsverzeichnis. 



Seite 
Behandlung des Guten und des Bösen von selten Wagners. Die 
Nebenpersonen. Die Venusmythe in der germanischen Phan- 
tasie. Die sinnliche Leidenschaft in Wagners Oper. Die dra- 
matische Charakteristik Wagners durch Leitmotive. Ihre Be- 
deutung für das musikalische Drama. Drei Abgrün^ie des Men- 
schen und ihre Formen. Die Musik als bevorzugte Darstellerin 
der leidenschaftlichen Liebe. „Tannhäuser" ihr Repräsentant 
Das religiöse Prinzip und seine Macht im ,,Tannhäuser' 



p« 



Lohengriti, große romantische Oper von R. Wagner und ihre 
erste Aufführung in Weimar bei Gelegenheit der Herder- 
und Goethe-Feste 1850 61—142 

Historische Notizen zu obigen Festen 63 

L DasHerder-undGoethe-Fest. — Die Genies und ihre Auf- 64 
f assung in der Geschichte. Ihre Verherrlichung durch Statuen und 
die hieraus entspringende Au^abe für den Bildhauer. Das Herder- 
Monument in Weimar modelliert von Schaller. Die Inaugu- 
ration desselben. ,,Der befreite Prometheus" gedichtet von 
Herder, komponiert von Liszt. Die Dichtung. Die Aufführung. 
Anwesende Gäste. Die Herder-Zimmer In Weimar. Reliquien. 
,,Licht, Leben, Liebe." Dingelstedts Prolog zur Aufführung des 
;,Lohengrin" am Goethetag, dem 28. August 1850. 

n. DieOper„Lohengrin". — Die Drama- Idee Wagners. Drama- 80 
tische Sänger als Vorläufer. Das Zusammenwirken aller Künste 
zur Idee Wagners. Der Text zum „Lohengrin". Wolfram von 
Eschenbach. Der heilige Gral. Die Verschiedenheit der „Tann- 
häuser-Ouvertüre" und der Einleitung zum „Lohengrin". Das 
Leitmotiv des heiligen Gral und seine Entwickelung. Die Rolle 
des Marcei („Hugenotten") als Voriäufer zu Wagners Leitmotiv- 
system. 

I. Akt des „Lohengri n". — Das Elsamotiv. Elsas 93 
Vision. Das Gottesurteilmotiv. Das Lohengrinmotiv. Die 
Chöre Wagners. Die musik. Darstellung der Ankunft Lohen- 
grins. Sein Gebet und dessen Motiv. Finale des ersten Aktes. 

II. Akt. — Instrumental-Einleitung und seine zwei Motive: 105 
das Ortrud- und Gottesurteilmotiv. Die Ortrud- und Friedrich- 
szene. Das Dämonische Ortruds. Die Balkonszene. Zug zum 
Münster. 

III. Akt. — Seine Instrumental-Einleitung. Brautgemach- 117 
szene. Psychologische Deutung des Wortbruches Elsas. Die 
weibliche Neugierde als Mittel dramatischer Knotenschürzung 

in unseren Epopöen. Wagner dichtet als Poet und nicht als 
Philosoph. Über das Wesen und die Intentionen des Poeten. 



Inhaltsverzeichnis. V 1 1 



Seite 
Der Glaube der Liebe. Das Finale des ,,Lohengrin'^. Vergleich 
zwischen der Erzählung Lohengrins und der Tannhäusers in den 
Schlußakten beider Opern. 

II I. Charakteristik der Gestalten Lohengrin, Elsa, Ortrud, Friedrich. 132 
Wagner als Dichter. Einheit der Konzeption und des Stils der 
Oper. Die Leitmotive. Wagner als Neuerer. Glucks Dedi- 
kation zur ,,Alceste". Wagners Stellung zu Gluck und Weber. 
Seine Instrumentation. Die Aufführung in Weimar. 

Der Fliegende Holländer von Richard Wagner. 1859 143—233 

I. Der ,,Fliegende Holländer^' als erster Repräsentant des drama- 145 
tischen Prinzips Wagners. Der Text. Die dramatisch-musika- 
lischen Motive (Leitmotive). Der „Fliegende Holländer" im Ver- 
gleich zum „Tannhäuser" und „Lohengrin". Parallele zwischen 
dem Holländer und Lohengrin. 

II. DieOuvertüre. — Musikalische und poetische Schilderung der- 150 
selben. Der Holländer, das Geisterschiff und ihre musikalischen 
Motive. Die zeitgenössische Kritik. Über ihre Verpflichtung, Wer- 
ken neuer Richtung Geltung zu verschaffen. Was die Menge liebt. 
Tiefe und Wahrheit des Ausdrucks im „Fliegenden Holländer". 
Das Erhaben-Nächtliche des Holländers. Die Haupttypen Wag- 
ners: Tannhäuser, Lohengrin, der Holländer. Das Übernatür- 
liche als ihre Eigenschaft. Typen der Kunst — Phidias* Jupiter, 
die Venus von Milo. Die Höhe der Idee bestimmt die Höhe der 
Typen. Wagners Werke als typische Monumente. Die ideale 
Einheit und Verschiedenheit der Typen: Tannhäuser, Lohengrin, 
Holländer. 
HL Der erste Akt derOper. — Die drei ersten Szenen als sichtbare 171 
Darstellung der Ouvertüre. Wagner als Marinemaler. Oulibi- 
cheff über Mozarts Sturm im „Idomeneo". Das Verdammungs- 
motiv. Der Monolog des Holländers. Der Dialog zwischen Hol- 
länder und Daland. Die Charakterzeichnung Dalands. Ver- 
gleich des Dialogs zwischen Holländer und Daland mit dem 
zwischen Manfred und dem Alpenjäger (Byron). Schluß. 

IV. Der zweite Akt. — Das Instrumental-Intermezzo als Anfang 188 
desselben und Wagners Behandlung. Die Ballade. Der Eintritt 

des Holländers. Die Veriobung. Wagners Orchesterbehand- 
lung. Das Duett. Dasselbe ein Seitenstück zu dem Duett des 
III. Aktes im „Lohengrin". Goethe und Wagner als Darsteller 
des Ewig-Weiblichen. Das Finale. 

V. D e r d r i 1 1 e A k t. — Die Orchester-Einleitung. Das Volksfestartige 207 
der Hafenszene. Das Geisterschiff mit seinen Matrosen und das 
Dämonische in der Zeichnung Wagners. Letzterer als musika- 
lischer Maler von Sturmszenen. Senta und Erik. Die hohe 



VIII Inhaltsverzeichnis. 



Seite 
Tragik und Ethik in der Entsagung des Holländers. Sentas 
Opfer. — Die großartige Architektonik in der durch alle Akte 
sich hindurchziehenden Steigerung bis zum Schluß der Oper. 
Der Holländer als Hauptcharakter ihrer Durchführung. Der 
Text Wagners zu dem ,,Vaisseau Fantöme" von Dietsch. — 
Über die von den Gestalten Wagners geforderte Bildung seitens 
der Darsteller. Die Entwicklung des deklamatorischen Gesang- 
stils als erste Bedingung dieser Bildung. Die historischen Modi- 
fikationen in der Methodik des Kunstgesanges. Mangel emer 
nationalen Gesangschule und eines nationalen Oesangstils in 
Deutschland. Wagner als Begründer der deutschen Oper und 
des musikalischen Dramas. Die den deutschen Sängern fehlende 
Begrenzung bezüglich der Wahl ihrer Rollen. Ihre unzureicheU' 
den Gesangsstudien. Die Anforderungen der altitalienischen 
Meister des Gesanges. Gegenwärtig (1855) hervorragende deut- 
sche dramatische Sänger und Sängerinnen als Interpreten der 
Hauptrollen Wagners. 

Das Rheingold. Zum 1. Januar 1855 235—242 

Erwartungen und Hoffnungen beim Beginn eines neuen Jahres. 
Hinweis auf das ,,Rheingold" und die „Nibelungen-Trilogie" 
Wagners. Das „Rheingold" und seine Gestalten. Wagner und 
Michel Angelo als Meister von Riesenmonumenten der Kunst. 
Die Wandlung der Kunststile. — ,,Steure, mutiger Segler". 
Zuruf an Wagner. 

Personenverzeichnis 243 




TANNHÄUSER 

UND DER SÄNGERKRIEG 

AUF WARTBURG 
o 

W GROSSE ROMANTISCHE OPER W 

f\ VON p 

R. WAGNER 
1849 




Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 1 



G ^^ ^ 



I. 

ES sind jetzt vier Jahre, daß R. Wagner , Kapellmeister des 
Königs von Sachsen, zum ersten Male seine Oper: ,,Tannhäuser 
und der Sängerkrieg auf Wartburg'' in Dresden zur Aufführung 
gebracht hat. 

Das Genie dieses Komponisten, eines Meisters verschiedener 
Kunstarten, gestattete ihm, den Text seiner Opern selbst zu ver- 
fassen und so zugleich der Dichter seiner Musik und der Musiker 
seiner Dichtung zu sein — ein für die harmonische Einheit seiner 
dramatischen Konzeptionen höchst wichtiger Punkt. Ähnlich, wie 
man sich einst auf dem Gebiet der Malerei nicht mehr mit dem Aus- 
druck begnügte, welchen die Bilder der Meister der ältesten Schulen 
aussprachen, sondern Wahrheit der Zeichnung, Wahrheit des Kolorits 
und der Perspektive verlangte, so begehrt man von der Oper unserer 
Zeit ein vollkommenes Zusammenwirken ihrer möglichst vollkomme- 
nen Einzelteile — eine Forderung, welche vor allem die Aufmerk- 
samkeit auf die Gestaltung des Textbuches lenkt. 

Aber nicht nur dieses, nein, alle Einzelteile scheinen bei Wagner 
hervorragend und von neuer Behandlung. Wie der Text des „Tann- 
häuser" mit tiefem poetischem Gefühle geschrieben ist und schon an 
und für sich ein ergreifendes Drama, voll der feinsten Stimmungs- 
Nuancen des Herzens und der Leidenschaft bildet, wie sein Plan 
originell und kühn erdacht, die Verse schön, oft sehr schön, voll von 
plötzlichem Aufblitzen erhabener und gewaltsamer Regungen sich 
zeigen, so ist die Musik ebenfalls in allem neu und verlangt beson- 
dere Beachtung. Auch erfordert die Aufführung dieses Werkes ein 
durch und durch geübtes Orchester, gute Sänger, gutgeübte Chöre 
und einen großen Aufwand szenischer Mittel, wobei jedoch zu 



Tannhäuser. 



bemerken ist, daß man seine Erfordernisse tibertrieben hat und sich 
darum mit Unrecht bis jetzt noch keine Bühne dazu verstand, die 
Oper zur Aufführung zu bringen. Die Schwierigkeiten, die sie dar- 
bietet, sind für Bühnen ersten Ranges leicht zu überwinden, was 
durch das erzielte Resultat des eben gemachten Versuches hin- 
reichend bewiesen ist 

Es gibt eine kleine, wenig bevölkerte und wenig belebte deutsche 
Residenz, welche aber reiche Erinnerungen an große Geister, die hier 
lebten, an hervorragende ausgezeichnete Fürsten, die hier regierten, 
besitzt und diese Erinnerungen mit Pietät hegt und pflegt. Diese 
kleine Residenzstadt, in der man leicht das stets dem Schönen und 
Erhabenen gastfreundliche Weimar erkennen wird, war die erste, 
welche den Enthusiasmus Deutschlands für dieses schöne Werk 
inaugurierte. Hier wurde es zum ersten Male am Geburtstage Ihrer 
K.K. Hoheit dei* Frau Großherzogin Marie Paulowna^ aufgeführt, 
den man dort alljährlich mit der aufrichtigsten Freude begeht. 
Diese Fürstin wird allgemein hoch verehrt, dank der vielen Wohl- 
taten, die sie dem Lande angedeihen läßt, wie wegen ihrer hohen und 
zarten Würdigung alles dessen, was hervorragend ist, und der könig- 
lichen Aufnahme, die sie jeder Größe der Seele und des Verstandes 
angedeihen läßt. 

Die Handlung des „Tannhäuser" spielt auf der Wartburg bei 
Eisenach, einer dem Gebiete des Großherzogs angehörenden und jetzt 
durch den Erb-Großherzog ^ mit dem vollkommensten Geschmacke 
restaurierten Burg. Diese Burg war im Mittelalter berühmt. Hier 
hatten die Landgrafen von Thüringen glänzenden Schutz den 
Sängern ihrer Zeit gewährt, hier herrschte einst die heilige Elisabeth, 
deren wunderkräftige Tugenden noch jüngst durch die dichterisch 
fromme Gelehrsamkeit Montalemberts in die Erinnerung der 
Gläubigen zurückgerufen worden sind. 

An dem Abend, von dem wir reden, dem der Aufführung des 
„Tannhäuser" zu Ehren einer edlen Fürstin, wurde es allen in die 



^ Die russische Großfürstin, zu deren Empfang in Weimar 1803 S c h i 1 1 e r 
die „Huldigung der Künste" dichtete. O: H. 

* Der spätere Großherzog KarlAlexander. D. H. 



Tannhäuser. 



Vergangenheit zurückblickenden Zuhörern klar, daß ihre Herrscher 
noch jetzt wie damals jener alten Tradition der Achtung und Liebe 
für Poesie und Kunst treu geblieben, wofür Dichter und Künstler 
ihnen den eigenen Ruhm alis Huldigung darbringen. Die Erinnerung 
an Wieland, an Goethe, Schiller, Jean Paul, Hummel lenkte 
die Blicke des Auditoriums voll Dankbarkeit gegen die Loge, in der 
sich um die Frau Großherzogin Prinzen und Prinzessinnen scharten, 
welche das Genie zu würdigen verstehen und seinen freien Auf- 
schwung begünstigen. Besonders ihre beiden Töchter, Prinzessinnen 
von Preußen, haben aus der heimischen Atmosphäre seit ihrer 
frühesten Jugend die sie auszeichnende edle Anmut geschöpft. 
Dichterische Weihe hat um die edle Stirn der Frau Prinzessin 
Wilhelm^ einen strahlenden Kranz gewoben ; denn ihr hoher Sinn 
bringt jedem edlen Streben Verständnis und Anerkennung entgegen. 

Den Stoff der Oper „Tannhäuser" ergab eine der alten Landes- 
sagen Thüringens. Aus einzelnen Tatsachen, die der Verfasser aus 
verschiedenen Chroniken zusammengesucht und verbunden hat, 
wußte er eine Episode voll poetischer, phantastischer und drama- 
tischer Elemente zu bilden. Im dreizehnten Jahrhundert hatte das 
noch nicht ganz verschwundene Heidentum seine Spuren in dem 
Aberglauben zurückgelassen, der den christlichen Kultus mit Er- 
innerungen an die griechische Mythologie vermengte und durch 
verwirrte Deutungen der Gelehrten hindurch selbst bis zum Volke 
gelangte. So geschah es, daß eine Göttin Hol da, die einst die 
Schönheit versinnbildlicht und über den Frühling, über die Blumen 
und die Wonne der Natur geherrscht hatte, sich allmählich in der 
Phantasie des Volkes mit der hellenischen Venus verschmolz und 
zuletzt die Verlockungen sündhafter Lust und die Reize der sinn- 
lichen Vergnügungen darstellte. 

Diese mythische Person, Frau Venus genannt, hatte ihre Wohn- 
sitze im Innern der Berge. Einer der berüchtigtsten befand sich im 
Hörseiberge, in der Nähe der Wartburg. Dort hielt sie in einem 
Feenpalaste offenen Hof, umgeben von ihren Nymphen, ihren 
Najaden und Sirenen, deren Gesang man bis in weite Ferne vernahm 



1 Später die deutsche KaiserinAugusta. D. H. 



Tannhäuser. 



— für die, welche ihn hörten, verhängnisvoll. Diese Unglücklichen, 
verführt vom Lockruf der Sirenen, gelangten auf unbekannten Wegen 
zu der Grotte, wo sich die Hölle unter umstrickenden Reizen barg 
und alle, die sich ihren Verlockungen und der unreinen Begierde 
hingaben, dem ewigen Verderben entgegen führte. 

Tannhäuser, Ritter und Sänger, hatte in einem Wettstreit um 
die Palme der Kunst einen glänzenden Sieg errungen. Die Tochter 
des regierenden Landgrafen, Elisabeth von Thüringen, liebte 
ihn, der aber ihre schüchterne Huldigung nicht zu verstehen ver- 
mochte. Bald darauf verschwand er, und niemand konnte sich seine 
Abwesenheit erklären. Da, eines Tages, als der Landgraf von der 
Jagd heimkehrte, umgeben von den Sängern, die Tannhäusers Neben- 
buhler gewesen und die hellschimmernden Sterne seines Hofes bil- 
deten, fanden sie ihn, den Vermißten, nicht fem vom Schlosse, 
kniend an der Heerstraße und sein inbrünstiges Gebet mit dem 
Gesänge, von Pilgern vereinend, die durch das Tai gen Rom zogen. 
Sogleich erkannt und befragt, antwortet er nur mit Mühe und Zurück- 
haltung. „Von ferne her komm' ich", entgegnet er ihnen, „von 
Landen, wo weder Friede noch Ruhe zu finden." Traurig und nieder- 
geschlagen weigert er sich, den Freunden zu folgen, um einsam seinen 
Weg fortzusetzen. 

Wolfram von Eschenbach, der berühmteste Sänger jenes 
Kreises, sucht ihn mit Gewalt zurückzuhalten und ruft, ihn an Elisa- 
beth erinnernd: 



i> 



Als du in kühnem Sänge uns bestrittest, 
Bald siegreich gegen unsre Lieder sangst, 
Durch unsre Kunst Besiegung bald erlittest: 
Ein Preis doch war's, den du allein errangst 
War's Zauber, war es reine Macht, 
Durch die solch' Wunder du vollbracht. 
An deinen Sang voll Wenn' und Leid 
Gebannt die tugendreichste Maid? 
Denn, achl als du uns stolz verlassen, 
Verschloß ihr Herz sich unsrem Lied; 
Wir sahen ihre Wang' erblassen, 
Für immer unsren Kreis sie mied. 
O kehr' zurück, du kühner Sänger, 
Dem unsren sei deiti Lied nicht fem, — 



Tannhäuser. 



Den Festen fehle s i e nicht länger, 
Aufs neue leuchte uns i h r Stern r* 

Tannhätiser wiederholt den Namen Elisabeth mit dem Aus- 
drucke unerwarteter Freude, und endlich besiegt in seinem Wider- 
stände, ruft er aus: „Zu ihr! zu ihr! O führet mich zu ihr!" 

Nach dieser ungehofften Rückkehr des Sängers wendet sich die 
Teilnahme der jungen Landgräfin wieder dem höfischen Leben zu. 
Ihr Vater aber faßt in seiner zärtlichen Liebe zu ihr die Idee eines 
neuen Sängerkampfes, zu dessen Königin er sie erklärt. Überzeugt, 
daß Tannhäuser abermals den Sieg davontragen werde, verspricht 
er keinen Preis dem Wunsche desjenigen zu verweigern, der den 
Sieg erringen würde, und wählt die Liebe als Thema der 
Lieder. 

Wolfram beginnt. Auch er liebt Elisabeth, aber mit jener innigen 
Liebe, die im Opfern genießt und nur das Glück des geliebten Wesens 
will, wäre es auch auf Kosten des eigenen : er hatte den vergessenden 
Geliebten zurückgeführt zu ihr, von der er selbst kein anderes Ge- 
ständnis zu erwarten hatte, als das in der Ballade Schillers Aus- 
gesprochene: 

„Ritter, treue Schwesterliebe 

Widmet euch dies Herz; 
Fordert keine andre Liebe, 

Denn es macht mir Schmerz. 
Ruhig mag ich euch erscheinen, 

Ruhig gehen seh'n, 
Eurer Augen stilles Weinen 

Kann ich nicht verstehen." 

Aber gleich dem Ritter Toggenburg hört er nicht «auf zu liebeii, 
ohne Gegenliebe zu verlangen. Sein reiner Sinn schwelgt in der 
Resignation, welche die verborgene Energie seiner edlen Seele zwar 
beugt, aber sein Lied verklärt. 

Nun erhebt sich Tannhäuser und singt: 

;,Auch ich darf mich so glücklich nennen 
Zu schau'n, was, Wolfram, du geschaut 1 
Wer sollte nicht den Bronnen kennen? 
Hör*, seine Tugend preis' ich laut! — 



8 Tannhäuser. 



Doch ohne Sehnsucht heiß zu fühlen. 
Ich seinem Quell nicht nahen kann: 
Des Durstes Brennen muß ich Icühlen; 
Getrost leg' ich die Lippen an — 
In vollen Zügen trink' ich Wonnen, 
In die kein Zagen je sich mischt: 
Denn unversiegbar ist der Bronnen, 
Wie mein Verlangen nie erlischt. 
So, daß mein Sehnen ewig brenne, 
Lab' an dem Quell ich ewig mich: 
Und wisse, Wolfram, so erkenne 
Der Liebe wahrstes Wesen ich!" 

Walther von der Vogelweide singt: 

„Den Bronnen, den uns Wolfram nannte, 

Ihn schaut auch meines Geistes Licht; 

Doch, der in Durst für ihn entbrannte, 

Du, Heinrich, kennst ihn wahrlich nicht. 

Laß dir denn sagen, laß dich lehren: 

Dem Bronnen ist die Tugend wahr; 

Du sollst in Inbrunst ihn verehren 

Und opfern seinem holden Klar. 

Legst du an seinen Quell die Lippen, 

Zu kühlen frevle Leidenschaft, 

Ja, wolltest du am Rand nur nippen. 

Wich' ewig ihm die Wunderkraft 1 

Willst du Erquickung aus dem Bronnen haben, 

iVlußt du dein Herz, nicht deinen Gaumen laben.". 

Tannhäuser, mit Heftigkeit auffahrend: 

;,0 Walther, der du also sangest, 
Du hast die Liebe arg entstellt 1 
Wenn du in solchem Schmachten bangest. 
Versiegte wahrlich wohl die Welt. 
Zu Gottes Preis in hoch erhab'ne Femen 
Blickt auf zum Himmel, blickt zu seinen Sternen! 
Anbetung solchen Wundern zollt. 
Da ihr sie nicht begreifen sollt! 
Doch, was sich der Berührung beuget. 
Euch Herz und Sinnen nahe liegt, 
Was sich, aus gleichem Stoff erzeuget. 
In weicher Formung an euch schmiegt, — 
Dem ziemt Genuß in freud'gem Triebe, 
Und im Genuß nur kenn' ich Liebe!" 



Tannhäuser. 



Biterolf unterbricht ihn lebhaft, und mit kriegerischem Un- 
gestüm, verächtlich und vielleicht eifersüchtig, fordert er ihn zu 
einem ernsteren Kampfe auf: 

„Heraus zum Kampfe mit uns allen I 
Wer bliebe ruhig, hört er dich? 
Wird deinem Hochmut es gefallen, 
So höre, Lästerer, nun auch mich! 
Wenn mich begeistert hohe Liebe, 
Stählt sie die Waffen mir mit Mut: 
Daß ewig ungeschmäht sie bliebe, 
Vergöss' ich stolz mein letztes Blut. 
Für Frauenehr' und hohe Tugend 
Als Ritter kämpf ich mit dem Schwert; 
Doch, was Genuß beut deiner Jugend, 
Ist wohlfeil, keines Streiches wert." 

Mit Beifallsturm wird Biterolf unterbrochen, wie alle Gegner 
Tannhäusers, der mit Bitterkeit erwidert: 

„Ha, tör'ger Prahler, Biterolf! 
Singst du von Liebe, grimmer Wolf? 
Gewißlich hast du nicht gemeint. 
Was mir genießenswert erscheint. 
Was hast du Ärmster wohl genossen? 
Dein Leben war nicht liebereich 
Und, was von Freuden dir entsprossen. 
Das galt wohl wahrlich keinen Streich! 



« 



Der Tumult mehrt sich. Das Klirren der Schwerter folgt den 
Akkorden der Harfen. Wolfram bemüht sich, den Frieden herzu- 
stellen, alle Störungen aus dem Saale, aus dieser geheiligten Nähe 
zu bannen, und ruft in höchster Begeisterung die Liebe an, diese 
„heilige Himmelsgabe, die allein uns emporzieht": 

„O Himmel, laß dich jetzt erflehen. 
Gib meinem Lied der Weihe Preis! 
Gebannt laß mich die Sünde sehen 
Aus diesem edlen, reinen Kreis! 
Dir, hohe Liebe, töne 
Begeistert mein Gesang, 
Die mir in Engels-Schöne 
Tief in die Seele drang! 



10 Tannhäuser. 



Du nahst als Qottgesandte, 
Ich folg' aus holder Fern' — 
So führst du in die Lande, 
Wo ewig strahlt dein Stern." 

Tannhäuser, außer sich durch den Spott, die Wut, die Bos- 
heit, deren Ziel er ist, hört ihm kaum zu und stimmt in entfesseltem 
Hohne ein Lied zum Lobe der heidnischen Göttin an: 

jiDir, Göttin der Liebe, soll mein Lied ertönen! 
Gesungen laut sei jetzt dein Preis von mir! 
Dein süßer Reiz ist Quelle alles Schönen, 
Und jedes holde Wunder stammt von dir. 
Wer dich mit Glut in seinen Arm geschlossen, 
Was Liebe ist, kennt er, nur er allein: — 
Armsel'ge, die ihr Liebe nie genossen. 
Zieht hin, zieht in den Berg der Venus ein!" 

Ein Schrei des Entsetzens entfährt jeder Brust. Die Edelfrauen, 
aufgescheucht durch den ihre Ehre beleidigenden Namen, fliehen 
davon — die Männer ziehen ihre Schwerter und stürzen sich alle auf 
den verwegenen Verbrecher, dessen lange Abwesenheit sich plötzlich 
erklärt. In diesem Augenblick wirft sich Elisabeth, die bei dieser 
grausamen Enthüllung anfangs zusammenzubrechen drohte, dann 
aber hoch aufgerichtet dasteht, zwischen die Schwerter, deckt ihn 
mit ihrem jungfräulichen Leib wie mit glänzendem Schilde und 
ruft, sie von ihrer blinden Wut zurückhaltend: 

;,Zurück! Des Todes achte ich sonst nicht! 
Was ist die Wunde eures Eisens gegen 
Den Todesstoß, den ich von ihm empfing?" 

Als alle staunen über den Mut, den zu verteidigen, der sie ver- 
raten, ruft sie: 

;,Was liegt an mir? Doch er — sein Hell! 
Wollt ihr sein ewig Heil ihm rauben?" 

Sie verlangt für ihn das Recht der Reue, die Wohltat des für die 
Sünden der Menschheit vergossenen göttlichen Blutes, unter Be- 
rufung auf die göttliche Barmherzigkeit, welche mehr vergibt, als 
der Mensch sündigen kann: 

„Seht mich, die Jungfrau, deren Blüte 
Mit einem jähen Schlag er brach, — 



Tannhäuser. 11 



Die ihn geliebt tief im Oemüte, 

Der jubelnd er das Herz zerstach: — 
Ich fleh' für ihn, ich flehe fflr sein Leben, 
Zur Buße lenk' er reuevoll den Schritt! 
Der Mut des Glaubens sei ihm neu gegeben, 
Daß auch für ihn einst der Erlöser litt!" 

Und die heldenstarke Jungfrau gewinnt das Leben des Geliebten. 
Welcher Zorn des Himmels und der Menschen hätte dieser über- 
redenden, in Liebe flehenden Tugend zu widerstehen vermocht? 
Bewegt, gerührt, bestürzt ziehen alle sich zurück. Und Tannhäuser, 
niedergeschmettert durch solche Liebe, deren reine Glut selbst aus 
dem Abgrunde der Verzweiflung die Hoffnung neu erstehen heißt, 
stürzt fort, um sich den Pilgern anzuschließen, die nach Rom wallen, 
dorthin, wo er auf Vergebung für sein Vergehen hofft. 

Während langer Tage und langer Nächte harrte Elisabeth 
seiner Rückkehr — betend, weinend, hoffend. Als sie eines Abends 
in demselben Tale, wo der Landgraf ihn wiedergefunden hatte, zu 
Füßen eines Muttergottesbildes betete, kamen die Pilger, mit denen 
er fortgezogen, desselben Weges in die Heimat zurück. Atemlos 
späht sie, ihn unter jenen zu entdecken. Sie findet ihn nicht ... Da 
sinkt sie vor der heiligen Jungfrau, der Trösterin der Betrübten, 
nieder und fleht in einem die Seele emportragenden Gebete um Tod 
für sich, um Heil für ihn: 

;;Allmacht'ge Jungfrau, hör' mein Flehen! 
Zu dir, Qepries'ne, rufe ichl 
Laß mich im Staub vor dir vergehen. 
O, nimm von dieser Erde mich! 
iVlach', daß ich rein und engelgleich 
Eingehe in dein selig Reich! — 

Wenn je, in tOr'gem Wahn befangen, 
iVlein Herz sich abgewandt von dir. 
Wenn je ein sündiges Verlangen, 
JEin weltlich Sehnen keimt' in mir: 
So rang ich unter tausend Schmerzen; 
Daß ich es tot' in meinem Herzen. 

Doch, könnt' ich jeden Fehl nicht büßen; 
So nimm dich gpädig meiner an, 



12 Tannhäuser. 



Daß ich mit demutvollem OrOßen 
Als würd'ge Magd dir nahen kann, 
Um deiner Gnaden reichste Huld 
Nur anzuflehen für s e i n e Schuld!" — 

Als sie sich erhob, um den Hügel des Schlosses hinanzuschreiten, 
und Wolfram sich erbat, sie begleiten zu dürfen, wies sie ihren Weg 
fortsetzend ihn stumm zurück — allein auf Erden will sie nur Ein- 
samkeit: kein Trost blüht von nun an mehr für sie. 

Jetzt wankt der unglückliche, der verfemte Schuldige daher. 
Doch wer würde in den zerfetzten Kleidern dieses Pilgers mit dem 
verstörten Blick und wankenden Schritt den glänzenden Sieger über 
so viele Nebenbuhler suchen! Nur mit Mühe erkennt Wolfram in 
der fahlen Blässe dieses Antlitzes die Züge seines ehemaligen Ge- 
nossen, und ihm in den Weg tretend fragt er nach seinem Geschick. 
Tannhäuser aber antwortet nur, ihn ironisch um den Weg zu der ver- 
wünschten Grotte fragend. 

Von Grauen ergriffen weicht Wolfram zurück; und dennoch 
gibt er den nicht auf, den Elisabeth liebt. Er fragt fort und fort, 
bis der entkräftete Pilger ihm in der bitteren Zerknirschung seines 
Herzens eine Schilderung seiner Wallfahrt macht: 

„Inbrunst im Herzen, wie kein Büßer noch 
Sie je gefühlt, sucht' ich den Weg nach Rom. 
Ein Engel hatte, ach! der Sünde Stolz 
Dem Übermütigen entwunden! — 

Für ihn wollt' ich in Demut büßen, 

Das Heil erfleh'n, das mir verneint. 

Um ihm die Träne zu versüßen. 

Die er mir Sünder einst geweint! 
Wie neben mir der schwerstbedrückte Pilger 
Die Straße wallt', erschien mir allzuleicht: 
Betrat sein Fuß den weichen Qrund der Wiesen, 
Der nackten Sohle sucht' ich Dom und Stein; — 
Ließ Labung er am Quell den iVlund genießen. 
Sog ich der Sonne heißes Glühen ein; — 
Wenn fromm zum Himmel er Gebete schickte. 
Vergoß mein Blut ich zu des Höchsten Preis; — 
Als das Hospiz die Wanderer erquickte, 
Die Glieder bettet' ich in Schnee und Eis: — 
Verschloss'nen Aug's, ihr Wunder nicht zu schauen. 
Durchzog ich blind Italiens holde Auen. — 



Tannhäuser. 13 



leb tat's •— denn in Zerknirschung wollt' ich büßen. 

Um meines Engels Tränen zu versüßen! 

Nach Rom gelangt' ich so zur heil'gen Stelle, 

Lag betend auf des Heiligtumes Schwelle. — 

Der Tag brach an: — da läuteten die Glocken, 

Hernieder tiHiten himmlische Gesänge; 

Da jauchzt' es auf in brünstigem Frohlocken, 

Denn Gnad' und Heil verhießen sie der Menge. 

Da sah ich ihn, durch den sich Gott verkündigt: 

Vor ihm all' Volk im Staub sich niederließ, 

Und Tausenden er Gnade gab, entsündigt 

Er Tausende sich froh erheben hieß. — 

Da naht' auch ich; das Haupt gebeugt zur Erde, 

Klagt' ich mich an mit jammernder Geberde 

Der bOsen Lust, die meine Sinn' empfanden. 

Des Sehnens, das kein Büßen noch gekühlt 1 

Und um Erlösung aus den heißen Banden 

Rief ich ihn an, von wildem Schmerz durchwühlt. — 

Und er, den so ich bat, hub an: 

„„Hast du so böse Lust geteilt, 

Dich an der Hölle Glut entflammt. 

Hast du im Venusberg geweilt: 

So bist nun ewig du verdammt! 

Wie dieser Stab in meiner Hand 

Nie mehr sich schmückt mit frischem Grün, 

Kann aus der Hölle heißem Brand 

Erlösung nimmer dir erblüh'n!"" 

Da sank ich in Vernichtung dumpf darnieder, 
Die Sinne schwanden mir. — Als ich erwacht, 
Auf ödem Platze lagerte die Nacht, — 
Von fern her tönten frohe Gnadenlieder: — 
Da ekelte mich an der holde Sang; 
Von der Verheißung lügnerischem Klang, 
Der eiseskait mir durch die Seele schnitt. 
Trieb Grauen mich hinweg mit wildem Schritt. — 
Dahin zog's mich, wo ich der Wonn' und Lust 
So viel genoß an ihrer warmen Brust! 

Zu dir, Frau Venus, kehr' ich wieder, 
' In deiner Zauber holde Nacht, 

Zu deinem Hof steig' ich darnieder. 

Wo nun dein Reiz mir ewig lacht !'* 

Die Pilgerfahrt — wie sie erzählt ist, — so voll Inbrünstiger Liebe, 
Reue und Zerknirschung» so voll zerstörter Hoffnungen, gehört zu 
den ergreifendsten. Sizeneq, die jemals geschriet^^n worden sind« 



14 Tannhäuser. 



Die den Ausspruch des Bischofes meldenden Chroniken fügen 
hinzu, daß, nachdem der mit so unerbittlicher Strenge zurüclcgewie- 
sene Ritter in sein Vaterland zurückgekehrt war, er sich seinen Ver- 
irrungen aufs neue hingegeben habe, daß aber eines Tages der 
Priester der Härte anstatt der Liebe seinen Hirtenstab aus Mandel- 
holz sprossend gefunden, zum Zeichen, daß, wie selbst totes Holz 
neu belebt werden könne, auch für ein reuevolles Herz Vergebung 
zu gewärtigen sei. 

Tannhäuser, von dem unerbittlichen Urteil zur Verzweiflung 
getrieben, dem Mitleid unzugänglich, sucht wieder die Grotte der 
Venus. Er will den geheimen Pfaden nachspüren . . . und der Gesang 
der Sirenen, die Stimme der Göttin lassen sich hören. Mit der Ver- 
zweiflung des mit dem Anathema Beladenen wendet er sich ihnen 
zu. Wolfram hält ihn mit aller Kraft zurück, kann aber den fluch- 
würdigen Zauber nur bannen, indem er den Namen: „Elisabeth" 
ausspricht. Noch übt dieser seine magische und heilbringende Gewalt 
— die unreine Vision verschwindet, die Melodien voll so verfüh- 
rerischer Anmut verklingen, und Tannhäusers Lippen entringt sich 
als letzter Laut in Liebe und überirdischer Hoffnung der heilige 
Name. 

In diesem Momente sieht man den Leichenzug sich nähern, der 
zu ihrer letzten Ruhestätte sie trägt, welche nur für ihn leben und 
sterben wollte. Am Sarge sinkt er nieder, in dem ein Opfer ruht, 
das alle Leiden erduldet, um seine Sünden zu sühnen. Er sinkt hin, 
er stirbt — gerettet! ... 



IL 

Die Ouvertüre dieser außerordentlichen Oper ist an und für 
sich nicht weniger bewunderungswert als diese selbst. Sie faßt den 
Gedanken des Dramas kurz zusammen. 

Der Pilger- und der Sirenenchor derselben sind wie zwei Sätze 
hingestellt, die zum Schluß ihre Gleichung finden. Wie der Natur- 
laut des schönsten und größten unserer Gefühle, so erscheint das 
religiöse Motiv erst ruhig, tief, mit langsamen Pulsschlägen. Doch 



Tannhäuser. 15 



nach und nach wird es von den einschmeichelnden Modulationen 
der Sirenenstimmen überflutet, welche voll entnervenden Schmach- 
tens und voll fieberischer und aufgeregter Verheißungen sind — 
eine verlockende Mischung von sinnlicher Lust und Unruhe. 
Über diesem zischenden, schäumenden, fortwährend steigenden 
Wogen erheben sich die Motive des Tannhäuser und der Venus. 
Der Ruf der Sirenen und Bacchanten wird lauter und gebieterischer. 
Die Aufregung erreicht ihren Höhepunkt und läßt keine Saite, keine 
Fiber unseres Seins unberührt. Bald zittern und zucken die Töne, 
bald stöhnen und gebieten sie in einer regellosen Wechselfolge, bis 
das überwältigende Sehnen nach dem Unendlichen — das religiöse 
Thema — nach und nach wieder eintritt, sich aller dieser Klänge 
bemächtigt, sie in eine erhabene Harmonie verschmilzt und die 
breiten Fittiche einer Triumph-Hymne entfaltet. 

Diese große Ouvertüre bildet für sich ein symphonisches Ganze, 
das als ein von der Oper, der sie vorangeht, unabhängiges Tonstück 
betrachtet werden kann. Die beiden Hauptgedanken, welche, ehe 
sie sich zusammen verschmelzen, sich hier entwickeln, sprechen 
ihren Charakter klar aus: der eine mit stürmischer Leidenschaft, 
der andere mit so unwiderstehlicher Gewalt, daß alles in seiner un- 
bezwinglichen Macht untergeht. 

Diese Motive sind so charakteristisch, daß sie den ganzen er- 
greifenden Sinn, welcher hier musikalisch nur den Instrumenten 
anvertraut ist, in sich fassen. Sie malen die von ihnen interpretierten 
Aufregungen so lebendig, daß es keines erklärenden Textes bedarf, 
um ihre Natur zu erkennen, ja es ist nicht einmal nötig, die Worte 
zu wissen, die sich später mit ihnen verbinden. Wollte man be- 
haupten, daß diese zum Verständnisse dieser Symphonie notwendig 
seien, so hieße das so viel als diejenigen nachahmen, von denen 
Shakespeare ausspricht, daß sie die „Lilien bleichen, die Veilchen 
malen und das Gold vergolden wollen", oder zum wenigsten jenen 
chinesischen Schriftstellern ähnlich sein, welche, um ihren Lesern 
die Intentionen ihres Stils klar zu machen, es für nützlich erachten, 
an den Rand ihrer Bücher zu schreiben: Tiefer Gedanke ... 
Metapher. .. Anspielung usw., sobald man deren in ihren 
Werken findet. In Europa dürfen Schriftsteller und Komponisten 



16 Tannhäuser. 



mehr von der Fassungsgabe ihres Publikums, von der Beredsam- 
keit ihrer Kunst und der Klarheit ihrer Diktion voraussetzen. Und 
man würde sich mit Skrupeln — der Gelehrten des himmlischen 
Reiches würdig — plagen, wenn man nicht bisweilen die Ouvertüre 
zum „Tannhäuser" von der Oper trennen wollte, aus Furcht, sie 
könnte unverstanden und ohne Interesse bleiben. Die Glut ihres 
Kolorits schildert die Leidenschaften zu verständlich, um einer ähn- 
lichen Besorgnis nur irgend Raum geben zu können. 

Affekte und Effekte — wie reich und neu treten sie uns entgegen ! 
Da sind rhythmische und harmonische Figuren, an Altvioten, 
Violinen (in durchdringenden Lagen und in mehrere Pulte getrennt) 
und Blasinstrumente (pianissimo) verteil!, durch leichte Pauken- 
schläge akzentuiert, geschieden in abgebrochene Perioden und 
schnelle, spiralartig steigende, in unentwirrbaren Verschlingungen 
sich bald verlierende, bald wiederfindende Notengruppen, die end- 
lich in einem beinahe ununterbrochenen Gewebe häufig und lebendig 
modulierter Tremoli und Triller sich lösen. Sie lassen uns durch eine 
neue Wirkung von so zärtlich schmachtendem Wohllaut die Zauber- 
künste der Sirenen vernehmen, daß wir trotz des reichen Repertoires 
dieser Musikgattung noch nie ein so kühnes Bild, einen so ergreifen- 
den Reflex, eine so erregende Anziehungskraft der Sinnlichkeit, 
ihrer schwindelerregenden Begeisterung und prismatischen Blen- 
dungen gehört zu haben meinen. Es huschen Töne am Ohre vorbei, 
wie gewisse Phantome vor dem Auge schillern . . . anhaltend, durch- 
dringend, — treulos! Unter ihrer künstlichen Sanftheit gewahrt 
man despotische Intonationen, fühlt man das Erhabene des Zornes. 
Hie und da erklingen Violintöne, schneidig blitzend wie phospho- 
rische Funken. Das Einfallen der Pauken macht uns erzittern, wie 
das ferne Echo einer in Raserei ausgearteten Orgie. Dazwischen 
treten Akkorde von tobender Trunkenheit hervor und erinnern uns 
daran, daß die Cleopatren ihre Festlichkeiten durch die Grausam- 
keit nicht entwürdigt fanden, daß sie in ihrem Liebesrausch sich 
die blutigsten Schauspiele nicht versagten, daß sie barbarische 
Vergnügungen mit dem Kultus der Schönheit zu verbinden wußten. 

Die Mänaden und ihre ungestümen Reigen in der Venusgrotte 
bestätigen alsbald diesen Eindruck. Gerade dadurch, daß sie den- 



Tannhäuser. 17 



selben hervorbringen, zeichnet sich diese bis zu ihrer höchsten 
Gewalt gesteigerte Entwickeiung der sinnlichen Lust in originellster 
Weise vor allen anderen musikalischen Kompositionen aus, die sie 
so oft schon zu schildern versucht haben. Einmal von diesen zaube- 
rischen, wild aufregenden Wirkungen hingerissen, überschreitet man 
die Sphäre gewöhnlicher Versuchungen. Wagner hat sich keines- 
wegs mit den leichten und freien Motiven begnügt, wie die meisten, 
deren Verve dem Geschmacke und den Neigungen folgt, welche in 
den Szenen eines Rubens, wenn diese die fesselnden und tyran- 
nischen Verführungen der Mutter und Königin der Liebe schildern 
wollten, zum Ausdruck kamen. Er erlauschte die unbeschreibliche 
Zartheit der anmutigen Töne, welche an Cytherens Hofe erklingen, 
die nur die kleine Zahl der von den Grazien Geweihten vernehmen 
kann. Die Freuden, die aus den von liebestrunkenen Nymphen 
dargebotenen Schalen geschöpft werden, üben einen zwar fremd- 
artig prickelnden, verhängnisvollen Reiz, berauschen aber nicht 
zu grober Sinnlichkeit. Ein Genie deutschen Ursprungs bedurfte 
etwas von der universellen Anschauung eines Shakespeare, um 
sich vom Blute des Altertums durchdringen und zu einer den 
düsteren Gärungen des Nordens so fremden Glut begeistern zu 
lassen. 

Die Sinneslust ist hier mit den ungestümen Genüssen und der 
verfeinerten Wollust dargestellt, welche kalte und schwerfällige 
Naturen nicht einmal sich vorzustellen befähigt sind, die aber ge- 
träumt und gesucht wird von energischen, niehr als alltägliche Ein- 
drücke verlangenden Wesen von hohen und zugleich zarten Organi- 
sationen, welche jedem Zufall die Überfülle quellender Lebenskraft 
preisgeben, ohne ihren stürmischen Leidenschaften einen Zügel 
anzulegen, bis sie ^in Strombett gefunden, breit und tief genug, um 
ihre brausenden, nie besänftigten Wogen zu fassen. Bei dieser 
Schöpfung Wagners ist nicht genug zu bewundern, daß die Gewalt 
der Behandlung nie ihre Zartheit vernichtet. Es war nicht leicht, 
diese beiden Momente aufrecht zu erhalten. Und doch konnte nur 
durch diese Art der Verbindung das wilde und zugleich schmachtende 
Entzücken ausgedrückt werden, dessen Geheimnis der Mensch gern 
der stürmischen Begierde entreißen möchte. 

Li szt, Gesammelte Schriften. II. V<A. 2 



18 Tannhäuscr. 



Aus dieser Harmonie, die betäubend, fein, unfaßbar und glühend, 
wie die Fäden und Schlingen verbotener Lust, dahinströmt uxid 
funkelt und allmählich zu immer blendenderer Spiegelung sich ent- 
faltet, reißt uns plötzlich ein dramatisches Interesse heraus: die 
bisher unbestimmten Töne formen sich zu zwei melodischen Sätzen, 
deren einer uns wie ein Triumphschrei, gemischt mit trotziger 
Herausforderung, entgegen klingt, während der andere uns einlullt, 
wie das Locken einer verführerischen Stimme nach stummem Um- 
fangen. 

Um diese in Lust und Freuden erglänzenden Gegensätze zu über- 
brücken, mußte sich der Tondichter zu einer nicht gewöhnlichen 
Höhe erheben. Schon einmal war das religiöse Thema dem, das 
Ohr wie glühender Atem streifenden, nervenverwirrenden Zauber- 
getön zum Opfer gefallen. Jetzt mußte es, so scheint es, abermals 
vor dem Delirium sinnlicher Halluzinationen stehend, noch mehr 
Gefahr laufen, düster und trocken, ja leer zu erscheinen, wie eine 
Negation angesichts lebendiger Seligkeit, nichtssagend wie ein grober 
Kontrast, nicht wie ein logischer Schluß. Doch dem ist nicht so. 
Das heilige Motiv erhebt sich nicht einem harten Meister gleich, 
der den jene fürchterliche Freudenhöhle durchzitternden Klängen 
mit Strenge Stillschweigen gebietet. Klar und sanft fließt es daher; 
aller Saiten, so verlockend sie erklangen, bemächtigt es sich trotz 
verzweifelter Abwehr. Weiter und weiter, alle entgegengesetzten 
Elemente umwandelnd und verschmelzend, dehnt es sich. |n 
Trümmer zerfallen die Massen der glühenden Töne, immer pein- 
licher, ja abstoßend werden ihre Dissonanzen. Doch endlich — vde 
befreit von tiefer Qual — sehen wir diese sich auflösen in der hehren 
Herrlichkeit heiligen Gesanges, der den ganzen vorangegangenen 
Zauber überflutet und sich gleich flüssigem Sonnenscheine aus^ 
breitet, glänzend wie ein ungeheurer Strom, der unsere ganze Seele, 
unser ganzes Sein an sich zieht — ein Ozean der Glorie! 

Wir wissen wohl, <Jaß es der Kritik nicht genügt, von den Ein- 
drücken zu sprechen, die gewisse Kunstwerke auf uns gemacht 
haben. Diese will sie beurteilt, geordnet, klassifiziert sehen. Doch 
sind wir weit entfernt, ihre Forderungen für unrichtig zu erklären; 
denn wir kennen die Nachteile, welche es mit sich bringt, Kunst- 



Tannhäusera 19 



werke mehr nach den Ideen, die sie hervorrufen, als nach denen, 
welche wirklich zum Ausdruck gekommen sind, zu beurteilen. Hier 
Hegt eine jener Klippen, denen ein Teil des gebildeten Publikums 
selten entgeht, und woraus sich erklärt, warum mittelmäßige Werke 
so leicht gelobt und Werke von hohem Werte, welche aber mehr 
Tiefe als Fläche besitzen und, um verstanden zu werden, gediegenere 
Kenntnisse und tieferes Eindringen in verschiedene Kunstformen 
verlangen, oft so gleichgültig behandelt werden. In unseren Tagen 
befindet sich unter dem Publikum eine große Anzahl Gebildeter, 
welche sich nicht damit begnügen, ein unbestimmtes Vergnügen zu 
empfinden und sich einem angenehmen Schauer zu überlassen, son- 
dern den Sinn jeder Musik durch analoge Gedanken und Bilder 
deuten wilK Einer lebendigen und empfindenden Phantasie wird e3 
infolgedessen ebenso leicht, denselben zu vervollständigen wie zi^ 
entstellen. Wird sie nicht durch ein solides Wissen und ein gesundes 
Verstehen der ersten Elementarbegriffe der Kunst geleitet und 
zurückgehalten, so ist sowohl die Richtigkeit, wie der Irrtum ihrer 
Konzeption nur eine Sache des Zufalls. Es liegt auf der Hand, daß, 
wenn man, anstatt die vom Komponisten meisterhaft beherrschte 
Form und die Vortrefflichkeit seines Verfahrens, sowie den Schwung 
oder die Anmut der von ihm entwickelten Gefühle zu beachten, aus- 
schließlich die Ideen, die er durch die Wahl seines Sujets anregt, 
genießt, es kaum zu vermeiden ist, zu den am wenigsten begründeten 
Urteilen hingerissen zu werden. 

Auch wir würden uns nicht erlauben, im Namen unserer eigenen 
Bewunderung, unserer persönlichen Anerkennung und innigsten 
Sympathien zu reden. Doch verzichten wir durchaus nicht auf das 
Recht, sie auch außerhalb der Regeln, welche der Kritik dienen, zu 
empfangen: denn der Künstler hört nie auf Mensch zu sein und in 
dieser Eigenschaft ebenfalls zu dem Publikum zu gehören, welches 
sich vom ersten Eindrück hinreißen läßt. Wir gestehen, daß wir sein 
Los als ein hartes und widerwärtiges betrachten müßten, wenn er 
dem Rechte, entzückt zu sein, ehe er Kritik geübt, hingerissen zu 
sein, ehe er seinen Beifall nach Grammen abgewogen, entsagen 
sollte; oder auch, wenn er gegenüber den Versuchen jugendlicher 
Phantasien seine eigenen Träume nicht mehr träumen und der 

2* 



20 Tannhäuser. 



Ursache dieser Träume erst in später Zukunft seinen Dank entrichten 
dürfte. Vergessen, wie man überrascht und meinungsios durch einen 
noch nicht analysierten Reiz gewonnen wird, wie man die unbewußten 
Schauer der Menge mit ihr teilt, dürfte selbst für denjenigen von 
ärgerlichem Resultat sein, der zu seinem eigenen Nachteil sich ihr 
nicht ganz entfremden kann, wiewohl er gezwungen ist, die Eindrücke 
noch einer strengen Prüfung zu unterziehen, was jene nicht tut. 
Aber wir wissen, daß diese gleichsam angesteckte Bewunderung 
nicht über das Gebiet der individuellen Psychologie hinaus darf, und 
daß es überflüssig wäre, das Publikum davon zu unterhalten, weil 
es überflüssig ist, die gerechterweise mit Beifall gekrönten Werke zu 
loben, und weil man dem Erfolge mittelmäßiger Schöpfungen, die 
sich seines augenblicklichen Beifalls erfreuen, nur Palliativmittel 
entgegenstellt. Man wirkt gegen das Symptom, nicht gegen das 
Übel. Überdrüssig einer Form, adoptiert das Publikum eine andere 
von gleichem oder noch geringerem Werte. 

Wenn wir uns so eingehend über die neue Oper Wagners aus- 
sprechen, so geschieht es, weil wir die Überzeugung hegen, daß dieses 
Werk ein Prinzip der Lebensfähigkeit und des Erfolges in sich birgt, 
welches dereinst allgemein anerkannt werden wird. Die Neuerungen, 
welche es enthält, sind aus der echten Kraft der Kunst geschöpft 
und rechtfertigen sich sämtlich als Errungenschaften des Genies. 
Um nochmals von der Ouvertüre zu sprechen, machen wir darauf 
aufmerksam, daß keine Symphonie in einer den Regeln klassischen 
Zuschnittes mehr entsprechenden Weise geschrieben sein und keine 
in der Exposition, in der Entwicklung und proportionalen Lösung 
eine vollkommenere Logik besitzen kann als sie. Ihre Anordnung 
ist, obwohl reicher, doch eben so klar, eben so präzis wie die der 
besten Vorbilder dieser Gattung. 

Die erste Hälfte des religiösen Themas — sechzehn Takte — . 
in E-dur ist den unteren Lagen der Klarinetten, Hörner und Fagotte 
übergeben und kadenziert auf der Dominante: 



Tannhäuser. 



21 



Nr. L Andante maestoso J = 50. 

Klarinett«. _^ _,^. I I 1 I . 



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22. 



Tannhäuser. 



Der zweite Teil desselben, welcher bewunderungswürdige Modu- 
lationen enthält, wird von den Violoncellen, denen sich beim neunten 
Takte die Violinen anschließen, weitergeführt: 



Nr. 2. 



Klarinette. 



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Das ganze Thema wird hierauf fortissimo von den Blechinstru- 
menten in derselben Tonart, aber mit viel bewegterem Rhythmus 
in Achtel-Triolen wiederholt und beständig von einer abwärts- 
gehenden diatonischen Figur in Sechzehntel-Triolen begleitet. Wäh- 
rend der sechzehn folgenden Takte wird die zweite Hälfte des 
Themas von den Blasinstrumenten mit demselben Triolen-Rhyth- 
mus mezzoforte, diminuendo und piano beendigt, wobei die Triolen- 
figur sich nur bei jedem zweiten Takte wiederholt, was zugleich 
eine Abnahme des Rhythmus hervorbringt, die der Abnahme der 
Kraft und Fülle entspricht. Die vollständige Wiederholung— bloß in 
den sechzehn ersten Takten gemäßigt — bildet mit einer Umkehrung 
des verminderten Septimen-Akkordes das Ende dieser Einleitung. 

Das Allegro beginnt mit der Andeutung des Lock- und Lust- 
motivs, über welches sich sofort ein Glied einer rhythmischen Phrase 
breitet, das ihm als Zusatz dient — das Motiv des folgenden Noten- 



24 



Tannhäuser. 



beispiels — , sich dann vollständig in der Ouvertüre entwickelt und 
erst bei dem als Finale wieder aufgenommenen religiösen Thema 
verschwindet. Das anfangs nur angedeutete Lockmotiv entwickelt 
sich vollkommen erst nach etwa dreißig Takten zugleich mit den 
Figuren, deren wir schon gedachten, als wir von dem Charakter 
sprachen, den Wagner der Verführungsszene der Sirenen gab; 



Nr. 3, Allegro 1 = 80. 

Flöten. 8va - 



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Tannhäuser. 



25 



Dieses Motiv ist unterhalb eines Tremolo der Violinen an die Alt- 
violen und Klarinetten verteilt und weicht — nachdem es sich völlig 
entwickelt hat — in einen Übergangssatz ab, dessen Crescendo 
einer kühn-entschlossenen Melodie, welche sich zur Dominante 
(H-dur) bewegt und fortissimo von dem ganzen Orchester begleitet 
wird, gleichsam als elektrischer Leiter dient: 



Nr. 4. Allegro. 



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Die Melodie dauert mehr als zwanzig Takte — Tannhäuser singt 
sie im ersten Akte zum Preise der Venus — und wird durch den 
Ausbruch der alimählich durch drei aufsteigende Akkorde gestei- 
gerten Zusatzphrase gekrönt, deren bacchischer Mißklang Ohr und 
Sinne betäubt: 



Tannhäuser. 



27 



Nr. 5. AUegro. 

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Tannhäuser. 



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Die vorhergehenden Figuren werden wieder pianissimo auf- 
genommen bis zur Erscheinung einer Melopoe in G-dur -r- später 
der Venus beigelegt — : 



Nr. 6. 

Yiolinen. 



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Violinen. 



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Violinen mit Dkmpfern. 



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Klarinette. 




Solo. 



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Tannhäuser. 



29 



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i^^y g g 1^^ ff J:gj^gg g 




Fagott 
kleine Flöte n. Violine. 

8ya - — — . 




Klarin. 



30 



Tannhäuser. 



8va — — — — 




Zuerst der Klarinette überlassen, wird diese Melopoe von einer 
Violine in dem Register der höchsten Flageolettöne fortgesetzt^ 
dann durch eine phantastische Arabesice des von einer Altviola aus- 
geführten Lustmotivs (Beispiel Nr. 3) weitergeführt, welches, von 
einem Tremolo der Violinen gleichsam in Halbschatten gehüllt, in 
Fis verhaucht. Sie macht der Übergangsphrase, welche die Melodie 
in H eingeleitet hatte, Platz — ein schreiender Klageruf, der dieses 
Mal auf dem Grundtone von Fis durch ein chromatisches Fort- 
schreiten bei der Rückkehr derselben Melodie auf der Tonika endigt. 

Die Coda der Ouvertüre nimmt die Hauptljnien des Anfangs 
des Allegro wieder auf und erreicht den höchsten Grad der Raserei 
durch ein chromatisches Abwärtsgehen auf den Grundton von H, 
operierend mit der letzten Wiederholung der Zusatzphrase. In die« 
sem Augenblicke kehrt auf einem dissonierenden Akkorde, den wir 
beim Einfallen des lebhafteren Tempos im Vier- Vierteltakte notierten 
(E, G, Ais, Cis, aber jetzt auf dem Grundtone H), die schon gehörte 



Tannhäuser. 31 



Figur in Sechzehntein mit dem religiösen Thema wieder, welches 
Jetzt mit zunehmender Beschleunigung durch verschiedene Um- 
kehrungen dieses Akkordes steigt und zwar ohne Einschnitte oder 
irgend eine Pause, um decrescendo durch eine absteigende chroma- 
tische Tonleiter zurückzugehen und auf dem Tone E zu kadenzieren. 
Darauf erscheint das religiöse Thema wieder in seiner Vollständig- 
keit, aber vergrößert durch einen Zusatz (zwei Vier-Vierteltakte 
gegen einen Drei-Vierteltakt) und getragen von der ganz besonders 
leidenschaftlichen Sechzehntelfigur, welche wie ein Feuerstrom 
dahinbraust. Nach sechzig Takten dieses Rhythmus beginnt das 
Thema von neuem, von neuem vergrößert (drei Vier-Vicrteltakte 
gegen einen Drei- Vierteltakt) und von allen Blech- und Blasinstru- 
menten fortissimo eingesetzt. Der Schluß steht also mit dem Ein- 
gang in einem vollständig symmetrischem Verhältnis. Während 
aber die Vergrößerung des Themas in so gigantischem Umriß, wie 
wir noch kein Beispiel in irgend einem analogen Werke besitzen, 
desgleichen die ungewohnte Beschleunigung des Rhythmus der Be- 
gleitung des Schlusses verglichen mit der Wirkung des Anfangs diese 
verhundertfältigt, erreicht der Schluß jene imposante Höhe des 
Gedankens und Gewalt der Kunst, durch welche Meisterwerke sich 
die Bewunderung der Jahrhunderte sichern i. 

Obwohl wir schon bemerkten, daß der Verfasser des „Tann- 
häuser" den in seinem Werke unter dem Namen „Venus" darge- 
stellten Leidenschaften einen Charakter gegeben hat, der mit diesem 
dem schönen Griechenlande so teuren Namen übereinstimmt, so 
wiederholen wir dennoch, daß es durchaus nicht der Kenntnis der 
Oper selbst noch der Abenteuer des Ritters Tannhäuser, noch des 
Mythus der so bizarr in das Mittelalter verpflanzten „Frau Venus" 
bedarf, um in dieser Ouvertüre das musikalische Drama erfassen zu 
können. Sie ist keineswegs nur eine Art breiten, die Seele zu den 
Aufregungen des nachfolgenden Dramas vorbereitenden Vorspiels, 
keineswegs nur eine notwendige Einleitung, ein feierlicher, kurzer 



1 In seiner Pariser Bearbeitung des „Tannhäuser" (1861) ließ Wagner 
die in Ihrer ersten Gestalt abgeschlossene Ouvertüre nach der Venusberg- 
musik, ohne Wiederaufnahme des Pilgerchors, gleich in die Anfangsszene 
übergehen und erweiterte diese In großartiger Weise. 



32 Tannhäuser. 



Prolog, der sich darauf beschränkt, den Geist des Auditoriums in 
die Region der Gefühle zu versetzen, die ihn ergreifen sollen. Sie hat 
nichts mit den Orchesterstücken gemein, die, ohne auch nur ein 
Motiv der angekündigten Oper zu enthalten oder, selbst wenn sie 
einige derselben aufnahmen, doch immer nur ein integrierender Teil 
des Ganzen sind und die Vorstellung des Hörers bald mitten in die 
Berge und in die von ihnen angeregten religiösen Betrachtungen 
oder in eine Alpennatur versetzen, deren Kräuterduft man einzu- 
atmen wähnt; dabei aber einen düsteren Schimmer verbreiten, der 
inmitten der vorüberfliehenden Heiterkeit die Seele in Bangen 
erhält. Nein, nicht in dieser Weise ist Wagners Ouvertüre ge- 
schrieben: sie ist ein Gedicht über denselben Gegenstand wie seine 
Oper, ebenso umfassend wie diese. 

Wagner hat mit einem und demselben Gedanken zwei ver- 
schiedene Werke geschaffen, jedes so faßlich, jedes so vollkommen 
wie das andere, beide unabhängig voneinander. Infolgedessen 
würden sie, selbst getrennt, gar nicht Gefahr laufen, etwas von ihrer 
Bedeutung einzubüßen. Sie sind durch die Identität ihres Gefühls- 
ausdrucks verbunden, aber eben dieser Identität wegen bedürfen 
und brauchen sie einander nicht zu ihrer gegenseitigen Erklärung. 
Sollten wir eine Tatsache und eine Erfahrung zur Begründung 
unserer Behauptung zitieren, so würden wir sagen, daß wir diese 
Ouvertüre als solche aufführen ließen und sie mit bewunderndem 
Enthusiasmus aufgenommen wurde, ohne daß jemand unter den 
Aufführenden noch unter dem ihr Beifall zollenden Publikum die 
geringste Kenntnis vom Sujet oder von der Partitur der Oper gehabt 
hatte. Auch sind wir der festen Überzeugung, daß es, um diese 
Ouvertüre den Tonwerken einzureihen, welche dem Repertoire aller 
großen musikalischen Anstalten einverleibt sind, in unseren Tagen 
keiner so langen Zeit bedarf, als die Quartette von Mozart bedurften, 
um nicht als unausführbar von ihren Exekutanten zerrissen, und 
Beethovens Meisterwerke, um nicht als barocke Neuerungen be- 
handelt zu werden. 

Eine Bestätigung unserer Meinung, daß Wagner trotz seiner 
eigenen Theorien sich mehr hingezogen fühlte, ein schönes sympho- 
nisches Werk zu komponieren, als daß er besorgt gewesen, seinem 



Tannhäuser. 33 



Drama einen. Prolog anzupassen, glauben wir in der Verletzung zu 
sehen, die er durch die breite Entfaltung des IVIotivs, das beim Auf- 
rollen des Vorhangs sogleich wieder aufgenommen werden mu6, 
gegenüber den Regeln der »^akustischen Perspektive*' — man ver- 
zeihe diesen Ausdruck — sich erlaubt hat. Die den szenischen Wir- 
kungen unumgänglichen Gesetze der Steigerung würden dadurch 
verletzt worden sein — denn welches rinforzando bliebe noch dem 
Sirenengesang übrig, wenn das Crescendo seine Höhe schon lange 
vor der Vorstellung erreicht hätte? — , wenn die offene Szene, der 
Tanz und die menschliche Stimme diese Schvderigkeit nicht ver- 
deckten, wenn sie nicht durch ihren Zauber, ihr Zusammenwirken 
die Neugierde reizten, nicht das wogende Ungestüm des Orchesters 
erhöhten, das Publikum nicht dem Bedürfnisse der Ruhe, das be- 
sonders die am meisten Erregten empfinden, entrissen und das bei- 
nahe erschöpfte Interesse wieder neu belebten, wenn — mit einem 
Wort — das Schlußwort der noch darzustellenden Tragödie schon 
in so mächtiger Weise ausgesprochen wäre« 



III. 

Die erste Szene führt uns in die geheime Grotte, welche nach der 
Sage sich im Hörseiberge befand. Wir sehen in einem rosigen Hell- 
dunkel die Nymphen, Dryaden, Bacchantinnen ihre Thyrsusstäbe 
und Weinranken zu dem Klange der Rhythmen schwingen, welche 
die fünfzig ersten Takte des Allegro der Ouvertüre bildeten. Sie 
umgeben die auf ihrem Lager hingegossene Göttin, bekleidet mit 
der griechischen Tunika, deren Faltenwurf ihre Gestalt umfließt, 
als wäre das leichte Gewebe nur die in noch rosigeren Duft getränkte 
Atmosphäre, welche die Grotte füllt. In den Vertiefungen der 
letzterjcn spiegeln die ruhigen Wasser der Seen die Schatten der 
Gebüsche wider, unter denen glückliche Paare wandeln — da auch 
erblickt man die verführerischen Sirenen. 

Zu den Füßen der Venus sitzt ihr Geliebter, traurig, düster, in 
seinen Händen zerstreut die Harfe haltend. Warum er so mißmutig? 
fragt sie. Da seufzt er tief auf, wie erwachend aus einem Traume, 

Liszt, Gesammelte Schriften. IL V.A. 3 



34 Tannhäuser. 



der ihn weit weg von seiner Umgebung entführt. Beunruhigt fährt 
sie dringender fort zu fragen. ,,Freiheit! . . .'' erwidert jetzt der 
Gefangene. Und rasch seine Harfe ergreifend stimmt er einen Sang 
an, in welchem er ihre Reize preist und ewig zu preisen gelobt, doch 
fügt er hinzu, daß Sehnsucht ihn verzehre — Sehnsucht nach der 
Oberwelt: 

„Doch ich aus diesen ros'gen Düften 

Verlange nach des Waldes Lüften, 

Nach unsres Himmels klarem Blau, 

Nach unsrem frischen Grün der Au, 

Nach unsrer Vöglein liebem Sänge, 

Nach unsrer Glocken trautem Klange: — 

Aus deinem Reiche muß ich flieh'n, 

O Königin, Göttin! Laß mich zieh'nt' 



I« 



Diesen Gesang, voll männlicher Energie, gibt die Melodie wieder, 
die wir bereits zweimal bei Besprechung der Ouvertüre angedeutet 
haben (Notenb^spiel Nr. 4), und deren Worte ein Lob der Venus 
sind. Dieser Strophe folgt jedoch sogleich eine Gegenstrophe, deren 
schmerzhafte, halb erschreckt klingende Modulation wie ein gellender 
Schrei der Brust entfährt — : der Schrei des gefangenen Adlers, der 
nach den Regionen der Stürme und der Sonne zurückverlangt, der 
Schrei der Seele, die, herniedergezogen, wieder emporstrebt zum 
Licht. 

Dreimal wird diese Strophe und Gegenstrophe, stets einen 
halben Ton höher, wiederholt, was ihren leidenschaftlichen Aus- 
druck steigerte 

Durch ein einziges Wort, aber durch eines der Worte, die hin- 
reichen, um der Poesie die Majestät ihrer Schwester, der Wahrheit, 
zu leihen, entschleiert Wagner die Größe der im Schöße der 
süßesten Untätigkeit unbefriedigten Seelen, indem er Tannhäuser 
ausrufen läßt: 

„ — sterblich, acht bin ich geblieben. 

Und übergroß ist mir dein Lieben: 

Wenn stets ein Gott genießen kann. 

Bin ich dem Wechsel Untertan; 

Nicht Lust allein liegt mir am Herzen, 

Aus Freuden sehn* ich mich nach Schmeirzen.'* 



Tannhäuser. 35 



Sich sehnen nach Schmerzen — heißt das nicht: sich 
sehnen nach dem Unendlichen? Denn woher entstehen diese Schmer- 
zen, als von den Verletzungen, welche die Seele davonträgt, wenn sie 
die Grenzen des Irdischen zu überschreiten sucht und doch ihrer 
menschlichen Wesenheit nicht entsagen will? 

Die beleidigte Zauberin springt auf, gleich einer verwundeten 
Tigerin. Seiner Hand die Harfe entreißend, unterbricht sie ihren Ge- 
fangenen, und der eiteln Reue des Wahnsinnigen spottend, ruft sie 
eine Wolke herauf, welche beide einschließen soll. Sie erinnert ihn 
daran, daß er verflucht sei . . . daß er durch alle Mächte ewiger Ver- 
dammnis ihr gehöre . . . daß er nicht mehr an eine Welt denken 
dürfe, die ihn mit Abscheu verstoßen würde, wenn er je wieder dahin 
zurückkehren sollte. Doch der stolze Ritter trotzt der Hochmütigen 
und erwidert: 

„Vom Bann werd' ich durch Büß' erlöst 1*' 

Ihr wechselseitiger Widerstand spricht sich in einem Duo aus, 
voll Erregung, Zorn, Haß, die ihre Flammen aneinander entzünden, 
bis Frau Venus plötzlich zu den Waffen zärtlicher Schmeichelei ihre 
Zuflucht nimmt. Sie läßt der Sirenen Gesänge ertönen, welche in 
der Entfernung nur noch schmachtender und verführerischer zu 
werden scheinen, und sich zu ihm neigend, scheint sie ihm tropfen- 
weise das unheilbare Gift in die Adern zu träufeln, jene Ohnmacht 
der Sinnlichkeit, die mit unauflöslichen Ketten die schwindenden 
Kräfte umschlingt. Der ziemlich lange Gesang der Venus nimmt, 
aber einen halben Ton tiefer, das Motiv der Ouvertüre, welches wir 
Melopoä nannten (Notenbeispiel Nr. 6), wieder auf. Er wird eben- 
falls pianissimo begleitet und durch das Tremolo der Violinen um- 
schleiert. 

Wer dem musikalischen Symbolismus huldigt, kann in dieser 
Szene die Schilderung eines jener inneren Kämpfe finden, welche 
die menschliche Brust zerreißen — Kämpfe, während welcher die 
Seele in inneren Zwiespalt mit sich selbst gerät. Er würde statt 
der verschiedenen Personen die verschiedenen Stimmen der Leiden- 
schaften zu hören vermeinen, die in heftigem Streit aneinander 
prallen, ohne daß ihr verhängnisvoller oder wundertätiger Ausgang 

3* 



36 Tannhäuser. 



vorauszusehen wäre. Tannhäuser entwindet sich mit Gewalt den 
Armen der Göttin und ruft in fieberhaftem Aufwallen: 

,,Mein Heil! Mein Heil ruht in Maria!" 

Kaum, daß er diesen Namen gerufen, verschwinden Göttin, 
Nymphen, Sirenen und Bacchantinnen. Alles verweht. . 

Statt der Grotte im Innern des Berges sehen wir den Berg von 
außen, in den die Volkssage jene versetzt hatte, mit ihm die land- 
schaftliche Umgebung der Wartburg und in deren Mitte den Ritter, 
der statt des rosigen Dämmerlichts einer Nacht der Wonne ohne 
Ende plötzlich einen frischen und reinen Frühlingsmorgen um sich 
schaut. * 

Dem betäubenden Geräusche der vorhergehenden Szenen folgt 
eine vollständige Stille des Orchesters, und nur das sanfte, träume- 
rische Lied eines Hirten, der auf einem benachbarten Felsen sitzt, 
tönt an unser Ohr. Der Refrain seiner Schalmei, den das englische 
Hörn glücklich nachahmt, bringt zu demselben einen wohltuenden 
Gegensatz. Bald hört man von weitem einen sich nähernden Chor 
. von Pilgern. Während seiner Pausen bildet die Stimme des sich ihrem 
Gebet empfehlenden Hirten einen neuen Kontrast; ihn führt die 
Wiederkehr des kontrapunktartig figurierten Refrains fort, der die 
Pastoralmelodie umspielt und den frommen, tief ernsten Gesang 
wie mit einem schlichten Gewinde von Feldblumen umschlingt. 

Die Pilger nähern sich, sie treten auf. Ihr Gesang, in welchen die 
zweite Hälfte des religiösen Themas der Ouvertüre eingeschaltet ist, 
trägt einen feierlich frommen Charakter. *Doch vibriert darin ein 
begeisterter Aufschwung, eine anhaltende Ekstase. Sie bleiben vor 
einem Madonnenbilde stehen, und Tannhäuser wirft sich bei ihrem 
Gesänge auf die Knie. Ebenso bestürzt über das Wunder des Er- 
barmens, das ihn gerettet, als betroffen, seinen kühnen Wunsch so 
plötzlich erhört und seine Befreiung so unversehens vollbracht zu 
sehen, wiederholt er die Worte der Pilger: 

„Ach, schwer drückt mich der Sünden Last, 
Kann länger sie nicht mehr ertragen; 
Darum will ich auch nicht Ruh' noch Rast 
Und wähle gern mir Müh' und Plagen.** 



Tannhäuser. 37 



Die Glocken der fernen Kirchen rufen die Gläubigen zum Morgen, 
gebete, und die Signale der aus verschiedenen Entfernungen er- 
tönenden Jagdhörner (abwechselnd zwischen F-dur und Es-moll) 
erhöhen den Eindruck dieser Stunde ländlicher Ruhe und Wald- 
einsamkeit. 

Bald darauf zieht der Landgraf mit seinem Jagdgefolge dieses 
Weges und, einen Ritter gewahrend» der demselben nicht angehört; 
nähert er sich ihm und erkennt Tannhäuser. — Es wurde bereits 
erzählt, daß Wolfram von Eschenbach, sein Nebenbuhler in Gesang 
und Liebe, darauf bestand, ihn zu Elisabeth, die ihn liebt, zu führen 
und ihn endlich bestimmt, seinen alten Platz unter den Sängern, 
die er so oft besiegt, und die dennoch seine Abwesenheit beklagten, 
wieder einzunehmen. Dieses reizend melodische, zarte und innige 
Rührung atmende Motiv wird in seinen ersten acht Takten wieder 
aufgenommen und in dem Andante eines durch die fünf Sänger und 
den Landgrafen gebildeten Sextetts dialogisiert, indem dieselben 
in Tannhäuser dringen, wieder zu ihnen zurückzukehren. Bei dem 
Namen Elisabeth ruft letzterer, wie von einem belebenden Strahle 
getroffen, aus: 

„Ha, jetzt erkenne ich sie wieder, 
Die schöne Welt, der ich entrückt! 
Der Himmel blickt auf mich hernieder, 
Die Fluren prangen reich geschmückt. 
Der Lenz mit tausend holden Klängen 
Zog jubelnd in die Seele mir; 
In süßem, ungestümem Drängen 
Ruft laut mein Herz: Zu ihrl Zu ihr!" 

Sobald seine Stimme sich mit den anderen vereinigt, setzt das 
Septett ein freudig bewegtes, hinreißendes Allegro ein, dessen Finale, 
von den Fanfaren der Jäger unterbrochen, den Schluß des ersten 
Aktes bildet. Die verschiedenen Klangfarben der Stimmen sind so 
meisterhaft gruppiert und ihre Partien in diesem Ensemble mit 
solcher Feinheit gezeichnet, daß man darin unmöglich die Auf- 
forderung edler Nebenbuhler zu edlem Kampfe verkennen kann. 
Dieses Finale ergreift auch die Hörer unwiderstehlich, und der 
vollste Beifall hallt im Saale wider. 



38 Tannhäuscr. 



Nichts natürlicher und keuscher, als die allem eifersüchtigen 
Grolle femstehende, aufjubelnde Freude, mit der Elisabeth den ihr 
von Wolfram zugeführten Ritter empfängt. Leichten Schrittes, mit 
dem glücklichen Lächeln erster Jugend, eilt sie in die Halle, wo sie 
die Gesänge vernommen, die sich so tief in ihr Herz gegraben, und 
deren Schwelle sie, seit dem Verschwinden ihres Sängers, nicht mehr 
überschritten hatte. Mit ausgebreiteten Armen tritt sie ein, als 
wolle sie über ihre ganze Umgebung den hellen Schein ihres Glückes, 
die Strahlen ihrer eigenen inneren Seligkeit verbreiten. Schon ge- 
schmückt zum bald beginnenden Feste zweifelt sie nicht daran, daß 
ihr Ritter-Sänger sie als Sangespreis erringen werde. Ein einfacher 
Goldreif, eher einem Heiligenscheine als einem Diademe gleichend, 
umgibt ihr blondes Haupt; ihre langen Flechten fallen unter einem 
leichten Schleier herab auf den Faltenwurf des weißen Atlas, von 
dem sich das silbergestickte, malerische Mieder abhebt, das die 
Frauen zu jener Zeit trugen. Ein auf den Schultern festgehaltener 
Mantel von blauem Sammet umwallt, wie Himmels Azur, diese 
Erscheinung verkörperter Unschuld. 

Entfaltete die Liebesgöttin, ihr schwarzes Gelock über dem sinn- 
lich sich senkenden Nacken mit Rosen umkränzt, unter den halb 
geschlossenen Lidern, hinter dem verführerisch blinkenden Gürtel 
verborgene Reize, schien sie dem lustberauschten Sänger die Schön- 
heit selbst, ja die absolute, unvergleichbare Schönheit, so mußte 
die jungfräuliche Elisabeth seine Seele durch ihre wunderbare Hoheit 
hinreißen, die, gleichsam aus himmlischen Regionen stammend, zu 
ihm niedersteigt, um ihn der streitig zu machen, die aus der Tiefe 
salziger Fluten zum Aufenthalt der Sterblichen gekommen war. 

Das Duo zwischen Tannhäuser und Elisabeth im zweiten Akte 
läßt sich, was Gefühl und musikalische Schönheit betrifft, mit dem 
Duo des Achilles und der Iphigenie von Gluck vergleichen. Dasselbe 
Einatmen gegenwärtigen Glückes, dasselbe keusche Hingeben, das- 
selbe einfache Geständnis einer tiefen Leidenschaft, dasselbe Wieder- 
aufnehmen des stets variierten, und sich doch stets gleichbleibenden 
Themas — des Themas einer so glücklichen Liebe, daß man glauben 
möchte, es könne, ein Echo himmlischer Wonne, nie unterbrochen, 
nie gestört werden! ... Es schließt mit einem AUegro, in dem der 



Tannhäuser. 39 



ganze Jubel der beglückten Seele wie ein hehres Hosianna der Liebe 
erschallt. 

Der Sängerkrieg, dessen Vorwurf wir schon andeuteten, und der, 
wenn auch ein wenig abstrakt und metaphysisch, doch innig mit 
dem Knoten des Dramas verbunden ist, erscheint als eine Episode, 
deren musikalische Partie Wagner mit ebenso großem Kraftauf- 
wand, wie mit bemerkenswerter Überlegenheit behandelt hat. 

Ihm geht ein Marsch voraus, während dessen die vornehmen 
Gäste des Landgrafen mit dem ganzen Zeremoniell der Etikette 
ihrer Zeit die Halle betreten, um sich je nach ihrem Range auf den 
ringsum angebrachten Sesseln niederzulassen, indes die Mitte der 
Halle der Sängergruppe vorbehalten bleibt. Da erscheinen die 
hohen Barone, ihre Mäntel sind mit ihren Wappenschildern bestickt. 
Die Edelfrauen, in die Farben ihrer Geschlechter gekleidet, lassen 
von Edelknaben ihre Schleppen tragen. Der hierbei ausgeführte 
Marsch ist von einem glücklich erfundenen Rhythmus — weder zu 
sehr akzentuiert, noch zu charakterlos. Er deutet bewunderungs- 
würdig die gemessene und emphatische Haltung dieser Edelherren 
an, für welche es ebenso glorreich war, die Harfe wie das Schwert zu 
handhaben. 

Dem Marsche in H-dur folgt ein zweiter in G-dur, dem Eintritt 
der Sänger bestimmt. Von feierlicherem Takte als jener, ist er von 
ernsterem, vornehmerem Charakter — eines jener fein durchdachten 
Details, wie sie Wagners Kompositionen so reich und gehaltvoll, 
ihr Studium so fesselnd machen. 

Sobald die zahlreichen Gäste und die ihnen folgenden Sänger 
sich geordnet haben, tritt tiefe StiUe ein. Wolfram erhebt sich vor 
den anderen; denn seinen Namen hatte Elisabeth aus der Urne ge-» 
zogen, da das Los den ersten zum Kampfe Berufenen bestimmen 
sollte. Gleich den übrigen Sängern hält er in seiner Hand die Harfe. 
Diese begleitet alle ihre Gesänge und spielt nicht allein in diesem 
Akte, sondern in der ganzen Partitur eine große Rolle, die einen 
tüchtigen Künstler fordert, um die ihr zugeteilten Icomplizierten 
Passagen — die zu sehr hervortreten, um abgekürzt werden zu 
können — auszuführen. 



40 Tannhäuser. 



Das Rezitativ Wolframs ist geistreich ausgeführt Es ist der 
Gesang einer Icontemplativen Seele, die weder von innerer Erre- 
gung noch von äußerem Sporn getrieben wird. In dem Moment, wo 
Tannhäuser sich vorbereitet, um ihm zu antworten, nimmt das 
Orchester die ersten Töne des der Ouvertüre entnommenen, Sinnes- 
lust atmenden Motivs wieder auf, welches den Bacchantentanz 
rhythmisierte, als er, von Venus die „Freiheit'' verlangend, ihr 
versprach, daß er trotzdem nie aufhören werde, ihre Reize zu preisen. 

Als ob das schwache Band dieses beim Scheiden hingeworfenen 
Versprechens genügte, um ihn in das Verderben zu ziehen, wird der 
Hörer, sowie das Motiv auftaucht, instinktiv von Schrecken er- 
griffen, der sich von Minute zu Minute steigert, gleich den Schauem, 
die einer Katastrophe vorhergehen. In dem Maße, als die Aufregung 
des Kampfes zunimmt und Widersprüche hervorruft, die mit der 
Erbitterung des schuldigen Ritters endigen, werden diese Töne 
deutlicher und höher. Immer schärfer trifft die verhängnisvolle 
Reminiszenz das Ohr, bis endlich Tannhäuser, auffahrend, außer 
sich, die Strophe des ersten Aktes vollständig wiederholt und der 
Liebesgöttin ohne Hehl sein Loblied singt. 

Der Bestürzung, der Verwirrung der jetzt eintretenden tragischen 
Situation wird durch Elisabeths sich der Gefahr entgegenwerfende 
Bewegung Einhalt getan. Sie verteidigt in rührender Weise die 
Sache ihres Ungetreuen und hält die Tränen nicht zurück, die ihr 
die Brust beklemmen. Bald erstirbt ihre Stimme in langgetragenen 
Tönen, als wollten ihre physischen Kräfte sie verlassen, bald erneuert 
sich ihre Seelenstärke, und in immer herzergreifenderen Akzenten 
ruft sie Himmel und Erde zu Zeugen dessen auf, daß Unbeugsamkeit 
hier ein Sakrilegium sei. Wie von einer höheren Macht inspiriert, 
gebietet sie im Namen des Erlösers den Kämpfenden, von der Un- 
gerechtigkeit eines voreiligen Urteilsspruches abzustehen. Bei der 
ersten Erwiderung, die Tannhäuser dem Wolfram gegeben, hatte 
ihr Herz in leidenschaftlicher Übereinstimmung gepocht» sie hatte« 
um ihm das zu gestehen, sich zu ihm geneigt, was von ihm unbemerkt 
geblieben war; doch niemand hatte sich ihr angeschlossen. Als sie 
aber erfuhr, daß der Vertobte ihrer Seele der Sünde anheimgefallen 
war, bemitleidete sie ihn wie einen Irrenden. Kein Zweifel, weder 



Tannhäuser. 41 



an seiner angeborenen Größe, noch an den Qnadenmitteln des Heiles, 
stieg in ihr auf. 

Nun Elisabeth die Schwerter zurück in ihre Scheiden gebannt 
hat, bricht die herausfordernde Haltung Tannhäusers in trostloser 
Niedergeschlagenheit zusammen, und er sinkt zu ihren Füßen hin. 
Indes ihre Stimme in Ermattung erstirbt, gipfelt sich ihr Flehen 
der höchsten Liebe und des höchsten Schmerzes. Alle senken in 
bewunderndem Staunen die Waffen und sprechen: 

,,Ein Engel stieg aus lichtem Äther, 
Zu künden Gottes heil'gen Rat!*' 

Diese Worte sind von einer Melodie getragen, die, mild sich er- 
hebend und einige Takte dahinschwebend, gleichsam ein engelhaftes 
Wesen veranschaulicht. Der beredte Gesang Elisabeths, der in den 
empörten Seelen der rauhen Ritter Milde erweckt, ist sehr lang und 
In einer sich dem Kirchenstil nähernden Weise geschrieben. Man 
begegnet hier dem außergewöhnlichen Rhythmus, der sich in dem 
folgenden Ensemblestück aus dem unregelmäßigen Pochen der er- 
griffenen, begeisterten und zugleich bestürzten Herzen zu bilden 
scheint, die sich einer so erhabenen Offenbarung selbstloser Liebe 
nicht zu widersetzen wagen. Dieses große Finale wiederholt gleich- 
falls das Hauptthema der Arie der Elisabeth und endigt mit Wieder- 
aufnahme der Melodie: „Ein Engel stieg aus lichtem Äther.'' 

Es hat Wagner gefallen, die melodische Entfaltung dieses 
Chores bis zu den äußersten Grenzen der musikalischen Wirkung zu 
führen. Nur für Männerstimmen und eine einzige Sopranstimme 
komponiert, welche jene mit sich fortreißt und emporzieht, ist der 
Chor von einem tiefen Ernste und verbreitet die fromme Sammlung, 
die man nur an heiligen Stätten zu finden gewohnt ist. Der Akt 
schließt mit einem Ausruf Tannhäusers, der mit den eben am 
Schlosse vorbeiwallenden und den Anfang ihres Morgengesanges 
wiederholenden Pilgern nach Rom zieht. — 

Beim Beginn des dritten Aktes, nach der Rückkehr der Pilger, 
die diesmal über die Szene schreitend das ganze religiöse Thema 
der Ouvertüre wiederholen, kniet Elisabeth vor dem Muttergottes«* 
bilde, das wir im ersten Akte schon gesehen haben, und betet ihr 



42 Tannhäuscr. 



letztes Gebet, in welchem sie ihre Seele für den auszuhauchen 
scheint, den sie so leidensvoll geliebt. 

Die langgehaltenen Töne der Blasinstrumente, verdüstert durch 
das halberstickte Stöhnen des Bassethorns, lassen uns ihre tödliche 
Ohnmacht fühlen. Man könnte sagen, Wagner habe keine Stufe 
dieses Todeskampfs der Hoffnung überspringen wollen, indem er 
Jeden Klageruf, alle Momente, die noch einmal in ihrer Erinnerung 
aufflackerten, gleichsam gesammelt und so, wie sie im Gedächtnisse 
der Sterbenden erstehen mußten, durch das Orchester wiedergibt. 
Wir vernehmen Reminiszenzen ihrer Begegnung mit Tannhäuser, 
ihres Zwiegesangs mit ihm im zweiten Akte, ihres Flehens, das sein 
Leben gerettet, sowie des Gesanges Wolframs, als er versucht, die 
Eintracht unter den Sängern wiederherzustellen und Tannhäuser 
seinem Wahnsinne zu entreißen. Wohl hätte manches Frauenherz 
in solcher Stunde noch einmal zurückgeschaut auf eine so selbstlose 
Hingebung. Aber die Liebe bleibt sich treu, und Elisabeth versagt 
dieser rührenden Neigung selbst das Mitleid. 

Wolfram, nachdem sie sich zurückgezogen, allein zurückbleibend, 
wendet sich an den Abendstern, daß er geheimnisvollen Trost ihr 
bringe, die ohne Tröstung bleiben will: 

„Wie Todesahnen Dämmerung deckt die Lande, 
Umhüllt das Tal mit schwärzlichem Gewände; 
Der Seele, die nach jenen Höh'n verlangt, 
Vor ihrem Flug durch Nacht und Grausen bangt: — 
Da scheinest du, o lieblichster der Sterne, 
Dein sanftes Licht entsendest du der Ferne: 
Die nächt'ge Dämmerung teilt dein lieber Strahl, 
Und freundlich zeigst den Weg du aus dem Tal. — 

O du, mein holder Abendstem, 

Wohl grüßt' ich immer dich so gern; 

Vom Herzen, das sie nie verriet, 

Grüß' sie, wenn sie vorbei dir zieht. 

Wenn sie entschwebt dem Tal der Erden, 

Ein sel'ger Engel dort zu werden! — " 

Dieses Lied für Bariton ist eine der melancholischsten Liebes- 
klagen, es gewährt uns einen jener Ruhemomente, wo die gehemmte 
und durch die Handlung des Dramas selbst zerstreute Aufmerk- 
samkeit sich ganz einem rein lyrischen Erguß hingeben kann. Dieser 



Tannhäuser. 43 



Ruhepunkt vor dem Schlüsse der Oper war unumgänglich und leitet 
eine der erstaunenswertesten Schöpfungen des Genies Wagners 
ein: nämlich die Szene, in der Tannhäuser von Wolfram erkannt 
wird und diesem von seiner Pilgerfahrt berichtet. 

Die Verse dieser Erzählung sind besonders schön; aber Wagner 
hat zugleich das seltene Geheimnis gefunden, sie dem Gesänge in 
einer so völlig adäquaten Weise anzuschmiegen und zu verschmelzen, 
daß, während es einerseits unmöglich ist, an ihnen, ohne sie zu be- 
achten, vorüberzugehen — so sehr ist ihre geistvolle Deklamation 
durch die musikalischen Intonationen hervorgehoben — man 
andererseits die Musik nicht als eine Nebensache betrachten kann, 
die nur dazu bestimmt ist, sie klarer hervortreten zu lassen. Wagner 
Ist weit davon entfernt, sich einer Verleumdung auszusetzen, wie 
man sich einer solchen Gluck gegenüber schuldig machte, indem 
man behauptete, der große Meister pflege vor dem Komponieren 
auszurufen: „Gott, laß mich vergessen, daß ich Musiker binT' 

Ganz Musiker, wie er ist, bleibt Wagner dennoch nicht weniger 
ein vornehmer Dichter und Prosaist; aber so sehr er Dichter ist, 
so findet er nur in der Musik den vollen Ausdruck seines Gefühles 
und zwar so vollkommen, daß auch nur er einzig imstande, ist uns 
zu sagen, ob er seine Worte seinen Melodien anpaßt, oder ob er 
Melodien zu seinen Worten sucht. Die Erzählung der Pilgerfahrt 
Tannhäusers besteht, von schmerzlichen Sarkasmen durchzogen, 
welche die Verzweiflung über die Lippen des unglücklichen Ex- 
kommunizierten treibt, aus einer Reihenfolge so herzzerreißender 
Aufschreie, daß mancher Theaterbesucher ihr nicht bis zu Ende 
folgen konnte. Sie kündet all die erlittenen Leiden : die getäuschten 
Hoffnungen, die nagenden Gewissensbisse, denen das ersehnte Mitleid 
hartnäckig verweigert wurde, die zurückgestoßenen inständigen 
Bitten, die verschmähte brennende Reue und endlich die Schrecken 
vor dem unwiderruflichen Verderben. 

In dieser Vielgestaltigkeit der von den grausamsten Qualen er- 
preßten Bekenntnisse folgen und vermischen sich Gesang, Rezitativ, 
Ausruf, Schrei, sardonisches Lachen mit einer solchen pathologischen 
Wahrheit, einem solchen Wechsel verzweifelter und empörter Er- 
regung, daß diese Erzählung selbst ein Drama im großen Drama 



44 Tannhduser. 



bildet. Durch ihre düsteren Farben, die geschilderte Todesangst, 
trennt sich diese Szene sowohl von dem, was vorhergegangen, wie* 
von dem, was folgt, scharf ab, wie eine Beschwörung, welche das 
Siegel des Abgrundes der Leiden bricht, um vor unseren starren 
Blicken die ganze Unendlichkeit des Schmerzes zu entschleiern. 

Die Schrecken dieser grauenhaften Nachtgebilde erreichen ihren 
Gipfel, als Tannhäuser des Aufenthaltes bei Frau Venus gedenkt, 
deren Berg sich in diesem Moment öffnet, um seine Beute zu ver- 
schlingen, und die Göttin selbst erscheint, um ihr Opfer an sich zu 
reißen. Das Bild der sinnlichen Freuden, welche unauslöschliche 
Gluten schüren, indem sie den konvulsivischen Klagen des Unglück- 
lichen hypnotische Lockungen entgegenstellen, treibt das Schauer- 
liche dieses Momentes auf seinen Höhepunkt und offenbart uns die 
ungeheuren Qualen, die der menschliche Geist mit dem B^iff der 
Hölle verbindet. 

Während des Zwischenspiels der Erscheinung der Venus, das 
unseren Sinnen nur anziehende Formen darbietet und nichtsdesto- 
weniger unseren Abscheu erregt, indem es dem Sabbat, an dem 
die Sterblichen mit den Dämonen verkehren, einen poetisch wahreren 
Charakter verleiht als die häßlichen, burlesken und widerlichen 
Malereien, die durch die verschiedensten Künste zur Darstellung 
kamen, wird das Allegro der Ouvertüre hinter der Szene aufgeführt, 
als wenn es aus dem Innern des Berges erklänge. Da nimmt Tann- 
häuser, im äußersten Paroxysmus der Verzweiflung Venus anrufend, 
die Phrase der Ouvertüre auf, welche dort die dominierende Melodie 
einführte und sich jetzt im Orchester durch ein schauderndes Tre- 
molo der Violinen verlängert. Dieses betäubende Ausströmen der 
Sinneslust wird durch eine absolute Stille unterbrochen, als Wolfram 
den Namen Elisabeth ausspricht, den Tannhäuser mit einer Art 
starrer Bestürzung wiederholt. Das schillernde Zwielicht erlöscht. 
Der Berg schließt sich, und der Zuschauer spricht aufatmend: „Die 
Erde hat ihn wiederT' . . . Die Erde hat ihn wenigstens noch 
einmal zurückerobert. 

Sobald der Leichenzug Elisabeths, die ausgestreckt auf ihrer 
Bahre liegt, erscheint, sinkt der Sünder sterbend an derselben 
nieder mit den Worten: „Heilige Elisabeth, bitte für mich!" — um 



Tannhäuser. 45 



im Tode sich mit ihr unlösbar zu vereinen. Sobald der lange Trauer- 
zug, an seiner Spitze der Landgraf, nach ihm Priester, Ritter und 
Edelfrauen, die ganze Bühne mit einer dichtgedrängten Menge füllt 
und der ganze Raum von Sterbegesängen und den düsteren Klängen 
der Glocken widerhallt, steigt die Sonne über dem in Trauer ver- 
senkten Tale empor. 

In demselben Augenblicke stimmen alle — gleichsam ein sicht- 
bares Zeichen, daß das ewige Licht den beiden Liebenden leuchte 
— einen mächtigen Chor nach den ersten acht Takten des religiösen 
Themas der Ouvertüre an: ein ^,Allelujal er ist erlöst! Allelujar' 
Ihm vereinen sich die Stimmen einer Gruppe von Pilgern, die eiben 
von Rom kommen und das Wunder des ergrünten Stabes des un- 
erbittlichen Bischofs als Zeichen der Gnade verkünden. Dieses 
Alleluja überströmt uns durch seine erhabene Feierlichkeit und 
seinen strahlenden Glanz wie mit himmlischer Erquickung. 

Die Liebenden, deren Geschick wir mit so ängstlicher Spannung 
verfolgten, haben aufgehört zu leben : das Übermaß des Schmerzes 
hat beide getötet. Doch sobald das große Drama vor unseren Augen 
vorübergezogen ist und nur noch in unserem Herzen nachzittert, 
ist unsere Seele getröstet. Beruhigt sind die Schmerzen, die es ver- 
ursachte. Wir glauben das duldende Paar, nun Elisabeths Gebet 
Erhörung fand, im Besitz einer unverlierbaren Glückseligkeit. Wir 
fühlen, beinahe greifbar, wie man sich rettet, indem man sich ver- 
liert: so überwältigend ist die Kraft des religiösen Aufschwungs im 
Finale der Oper. 

Auf diese Weise, mit Hilfe der gebieterischen Hoheit der Kunst, 
den Geist eines frivolen Publikums über die seiner Phantasie ge- 
wöhnlich gezogenen Grenzen hinauszuheben und in ihm kraft hin- 
reißender Ausdrucksgewalt aus Trauer Befreiung und Freude er- 
stehen zu lassen : ist das nicht einer der schönsten Siege, nach dessen 
Ruhm zu streben Dichtern und Künstlern verliehen ist? . . . 



46 Tannhäuser. 



IV. 

Die Verhältnisse der Oper sind sehr glücklich getroffen. Sie ist 
weder zu kurz für das Sujet, noch zu lang für das Publikum. Die 
Szenen sind gut eingeteilt, und obgleich weit ausgesponnen, ermüden 
sie keineswegs durch unnützes Ausdehnen der Situationen. Die 
Einzelteile sind im Interesse der Gesamtwirkung gruppiert, woraus 
ein harmonischer Eindruck hervorgeht. Eine derartige Struktur 
ist im aligemeinen nur das Vorrecht solcher Werke, deren verschie- 
dene Teile gleichzeitig mit der Grundidee, also unter der Gewalt der 
ersten Begeisterung ausgearbeitet und vollendet worden sind. 
Gerade hierdurch wurde ihnen die exakte Verbindung untereinander 
bewahrt, die eine der notwendigsten Eigenschaften ist, um großen 
Konzeptionen die Anziehungskraft zu sichern. Oft geht während zu 
langer Arbeit die Genauigkeit dieser Verbindung verloren; denn 
leicht gibt sich der Künstler an irgend eine der Nebensachen hin, 
die er auf Kosten der allgemeinen Harmonie vergrößert. Auch sind 
die Werke selten, die dem ersten Erguß des poetischen Gefühles ent- 
strömen und wie Minerva fertig, in Wehr und Waffen dem Geiste 
ihres Schöpfers entsprungen sind. Um dieselben hervorzubringen, 
bedarf es eines glücklichen Zusammenfreffens von tausenderlei 
ebenso unentbehrlichen als seltenen Umständen. Mit ihrem Schaffen 
ist es, wie mit dem Entstehen der Diamanten, das sich nach Be- 
dingungen vollzieht, welche sämtlich der Wissenschaft zwar bekannt, 
aber so außerordentlich schwer in Übereinstimmung zu bringen 
sind, daß der Zufall noch immer die Bildung dieses wunderbaren 
Edelsteines beeinflußt. 

Wer es vorzieht, Partituren vom rein technischen Standpunkte 
aus zu beurteilen, wird die des „Tannhäuser" mit besonderer Auf- 
merksamkeit lesen. Sie ist gelehrt geschrieben; iHr harmonisches 
Gewebe ist fest, kompakt; das Relief der Melodien ist ausgeprägt, 
die instrumentale Verteilung äußerst geschickt; tonmalende Effekte, 
sowie das haushälterische Benutzen einzelner Instrumente, sind mit 
Besonnenheit und gutem Geschmacke behandelt. Ihre Ausführung 
verlangt die äußerste Präzision, ein feines Zusammenstimmen der 
Nuancen, sowie ein gutgeschultes und schmiegsames Orchester, 



Tannhäuser. 47 



das von der leisesten Bewegung des Taktstockes seines Dirigenten 
beschleunigt oder zurückgehalten, schwächer oder stärker wird. Sie 
verlangt eine Begeisterung, die über der Tonmasse schwebt, wie 
der Hauch der Luft über großen Gewässern, deren Fläche er bald 
unmerklich leise erzittern, bald sich erheben läßt zu brandenden, 
donnernden Wogen. 

„Wie viele Noten!" sagte Kaiser Joseph II. zu Mozart, als er 
eine seiner Opern zum erstenmal hörte. „Wie viele Noten I" könnte 
man auch ausrufen beim Anhören der Oper Wagners. Aber wie 
Mozart, so hätte auch Wagnex das Recht zu antworten: „Nicht 
eine zu viel!"; denn er gestattet weder dem erregten Zuschauer, 
noch dem aufmerksamen Musiker, auch nur einen einzigen Augen- 
blick gleichgültig und ermüdet zu. sein. Nichtsdestoweniger ist 
dieses Werk von so erhabenem Charakter, daß es eine gewählte, die 
ernsten Schönheiten der Kunst würdigende Zuhörerschaft verlangt, 
die gewohnt und befähigt ist, ihnen die volle Aufmerksamkeit, die 
sie fordern, zu widmen. Wenn es erst bekannter sein wird, wird 
man das Skelett dieses schönen Werkes zerlegen und nicht verfehlen, 
alle seine Glieder zu zählen. Doch wird eis noch einigen Widerspruch 
zu überwinden haben, ehe es unwiderrufliche Anerkennung findet. 

Es läßt sich nicht verkennen, daß sein deklamatorischer Stil 
diejenigen, welche in der Kunst des Gesanges nur die Virtuosität 
der Kehle anerkennen, verletzen wird, und daß diese vortreffliche 
Gründe geltend machen werden, um gegen deren Verbannung von 
der Bühne zu protestieren. Aber man kann ihnen erwidern, daß, 
wenn auch Rouladen und Vokalisen hier keinen Platz finden, es in 
der Kunst verschiedene Manieren gibt, von denen jede ihre Ent- 
wickelung verfolgen kann, ohne dabei zu verlangen, daß eine gegen- 
seitige Verbannung oder Vernichtung damit verbunden sei. 

Die Freunde leichter Arien, Cabaletten, Ritornelle, die man so 
bequem beim Verlassen des Theaters nachträllern kann, werden 
nur eine magere Ernte im „Tannhäuser" finden. Mit Ausnahme 
des von Wolfram gesungenen Liedes an den Abendstern, das einen 
ebenso großen Erfolg wie die Lieder Schuberts erreichen kann, 
sowie des großen Marsches im zweiten Akte, der sich sehr für Militär- 
musik eignet, lassen sich vielleicht keine anderen Stücke vorteilhaft 



48 Tatinhäuser. 



aus der Partitur herausnehmen. Alles fügt und verkettet sich in 
dem dramatischen Knoten; alles strebt namentlich dahin, die 
Charaktere der Personen zu zeichnen. 

Und hierin scheint Wagner mit seiner individuellen Auffassung 
der Oper einen weit besseren Erfolg zu haben als seine Vorgänger. 
Er will, daß in der Musik geradeso wie in der TragOdie die Charaktere 
gewissenhaft studiert werden, daß die Gespräche und Handlungen 
der Personen wahr erscheinen, sich mit Konsequenz folgen und ein 
treues Bild des menschlichen Herzens darbieten. 

Um diese Treue zu erreichen, scheut er keine Arbeit, ja er ver- 
birgt sie zuweilen in so feinen Zügen, daß sich befürchten läßt, sie 
könnten manchem Auge unbemerkt bleiben. So beispielsweise nach 
der ersten Begegnung Elisabeths mit Tannhäuser. Hier nimmt in dem 
Augenblick, da dieser sie verläßt und sie, um ihm noch ein Liebefr- 
zeichen zu geben, sich dem Fenster nähert, das Orchester eine der 
anmutigsten Stellen ihres Duo kurz wieder auf, nämlich die, wo sie 
ihm freudig für seine Rückkehr dankt. Befriedigt in dem Bewußt- 
sein, daß ein Wunder ihn ihrer Liebe zurückgegeben, glaubt sie zu 
fest an ihn, um in sein Schweigen dringen, ja nur versuchen zu wollen, 
das Geheimnis zu lüften, das dieses Wunder bewirkt. 

Viele derartige Feinheiten würden sich anführen lassen, doch 
wollte man ihrer keine übergehen, so müßte eine Erklärung fast 
aller Gespräche folgen. Der Dichter hat es verstanden, dem Räume, 
über den er zu verfügen hat, selbst bei den engsten Grenzen jeglichen 
Vorteil abzugewinnen. Er hat es verstanden, die prosaischen Verse 
zu vermeiden, die häufig notgedrungen der Entwickelung der Hand- 
lung entspringen. Nirgends ermangeln die Verse in dieser Oper der 
erhabenen oder notwendigen Gedanken. Diejenigen, welche während 
der Musik den Text nachlesen, werden die exzeptionellen Eigen- 
schaften zu würdigen wissen, die hier nur angedeutet werden können, 
weil sie sich der Aufgabe eines einfachen Berichtes entziehen. 

Doch liegt es nahe zu fragen: „liegen diese so zarten Gefühls- 
wendungen im Bereich des Dramas?'' — Wir gestatten uns nicht, 
darüber zu entscheiden. Wer würde der entzückenden Feinheit der 
Blumen eines van Huysum oder dem Baumschlag eines Berghem 
seine Bewunderung versagen? Bedarf es auch einiger Mühe, sich 



Tannhäuser. 49 



ihnen hinreichend zu nähern, um sie in ihrem vollen Lichte be- 
trachten zu können: wer von denen, die das Schöne lieben, suchen 
und finden, würde sich dieser Mühe entziehen? 

Man kann nicht umhin zu bemerken, wie vorteilhaft für die 
Inszenierung dieser Oper das ihr zugrunde liegende Phantastische 
der Sage ist. Man möchte glauben, es sei für die Bühne erfunden. 
Ohne zu große Ansprüche an die Wunder des Maschinisten zu stellen 
oder die Dekoration einem so häufigen Wechsel zu unterwerfen, 
daß die Augen schließlich mehr als die Ohren beschäftigt sind, eignet 
es sich dennoch zu vielen optischen Effekten. Das Innere der Venus* 
grotte, die ihr folgende FrühUngs- und Morgenlandschaft, die in 
derselben Gegend spielende Nachtszene, wo man die Gestalt Wolf- 
rams von der des die Leiden seiner Pilgerfahrt erzählenden Tann- 
häuser kaum unterscheiden kann, die plötzliche und rasch vorüber- 
gehende Erscheinung der Zauberhöhle im Innern des sich teilenden 
Berges können ebenso wie die Architektur des noch auf der Wart- 
burg befindlichen Saales Stoff zu schönen Gemälden geben. 

Den neuen und scharfen Kontrast, der in der Zusammenstellung 
des antiken Kostümes mit dem mittelalterlichen liegt, wird man 
bereits bemerkt haben« Die Phantasie, welche die schönen Zeich- 
nungen eines Fl ax mann, dessen Stichel uns mit den Umrissen 
der schönen Göttin vertraut gemacht, neu belebt vor sich zu sehen 
glaubt, vermag nur mit Mühe dieser Elisabeth den Namen einer 
Heiligen zu versagen, die aus den Malereien eines Legenden-Manu- 
skripts ihrer Epoche zum Leben erstanden zu sein scheint. 

Zu den großen Vorzügen der Tannhäuser-Dichtung ist ebenfalls 
zu rechnen, daß sie zu denen gehört, bei welchen das Gute und das 
Böse, sich personifizierend, nicht nur ein lebendigeres Interesse ge- 
winnen als bei anderen Operndichtungen, sondern auch beständig in 
gewissem Sinne, wie das Gute und das Böse selbst, vor den Ein- 
flüssen der Zeit, vor langwierigen Wiederholungen, vor den Ver- 
änderungen des Geschmackes und der poetischen Konzeptionen ge- 
schützt sind, daß sie mit anderen Worten ihre Vorzüge aus dem 
Nichtvorhandensein einer ausgesprochenen Intrige geschöpft 
und den Knoten nicht durch die Verschlingungen der niedrigen und 
aft . abgenutzten Triebfedern geschürzt hat. Die Begebenheiten 

LUzt, Gesammelte Schriften. IL V.A. 4 



50 Tannhäuser. 



entströmen hier unmittelbar ihrer ersten Quelle: dem menschlichen 
Herzen* Stets durch den selbsttätigen inneren Trieb erzeugt, ent- 
wickeln sie sich aus diesem notwendig und fatalistisch, doch nie 
unter dem Drucke der List, nie der Falschheit erliegend. 

Durch das Fehlen und in zweiter Linie Stehen der Werkzeuge 
des Verderbens, auf welche die erste Schuld und das schnellfertige 
Urteil zurückfällt, werden wir zu einer eingehenderen und tieferen 
Untersuchung der Hauptcharaktere, zu einer mehr motivierten Ver- 
teilung unserer Bewunderung, unserer Sympathien, unseres Tadels 
gezwungen. Da kein Vermittler zwischen dem Irrtum und dem 
Unglück des Menschen besteht, so folgen die Konsequenzen gebie- 
terisch ihren Prämissen, und tief ergriffen verfolgen wir diese von 
Leidenschaften durchlaufene Bahn — Leidenschaften, 'die sich nur 
am Gegner von gleicher Natur, von gleicher Größe entzünden und 
nur mit Gefühlen kämpfen, die denselben Regungen des Herzens 
entsprungen sind. 

Die Nebenpersonen, weit entfernt, eine Verwickelung gemeiner 
Interessen und niedrigen Hasses darzubieten, zeigen sich im Gegen- 
teile von Gefühlen beseelt, die selbst in ihrem Übermaße erhaben 
bleiben. Diese Anordnung des Dramas gibt seiner ganzen Dar- 
stellung etwas eigentümlich Edles. Man atmet frei in so guter und 
ehrlicher Gesellschaft, wo die heftigsten Leidenschaften und die 
beweinenswertesten Vergehen keineswegs aus niedriger Gesinnung 
und rohen Begierden hervorgehen. Wir wissen wohl, daß wenige 
Sujets solche Vornehmheit aufweisen, und daß es zurzeit vielleicht 
unmöglich wäre, dieselbe von einem nichtmusikalischen Stücke zu 
verlängern 

Im Altertume vermochte die Schilderung großer Affekte sowie 
die Schönheit der Sprache, wenn von einem begeisterten und fähigen 
Darsteller vorgetragen, schon an und für sich eine herrliche, mit 
Beifall gekrönte Tragödie zu schaffen. In unserer Zeit wäre sogar 
der Musik ein ähnlicher Erfolg kaum erreichbar, und gewöhnlich 
wagt sie es nicht einmal, sich auf solche alleinige Verdienste zu be- 
schränken. Indem sie auf der Bühne stets die verschiedenen Re- 
gungen des Herzens am unmittelbarsten zum Ausdruck bringt, 
fürchtet sie sich mehr und mehr, das Schauspiel allein, ohne Jene 



Tanhhäuser. 51 



Hilfsmittel auszufüllen» die ihren Reiz für die Menge erhöhen, indem 
sie die Neugierde und Überraschung derselben anregen und unauf- 
hörlich — selbst im Notfalle künstlich — das Vergnügen der Ab- 
wechslung nähren. Es ist daher ein Werk um so freudiger zu 
begrüßen, je mehr es allen Erwägungen der Gegenwart und des 
augenblicklichen Erfolgs femesteht und in dem gewissenhaften und 
selbstlosen Streben nach dem Schönen um des Schönen willen ent- 
worfen worden ist. 

Die Mythe der Frau Venus charakterisiert in einer schlagenden 
Weise das Nebelhafte der germanischen Phantasie. Wenn die letztere 
in ihren Träumen wagt, sich jener poetischen Sinnlichkeit hinzu- 
geben, welche den mythologischen Fiktionen, den Oden Anakreons 
entströmt, in denen tropfenweise Rosenessenzen, Liebestränen und 
Wein von Skio gemischt destilliert sind, oder welche die Verse 
Sapphos aushauchen, die zart sind wie Küsse, die der Abendwind 
'den Saiten der Lyra entlockt, so wagt sie nicht anders sich den ge- 
träumten Genüssen hinzugeben als im geheimnisvollen Dunkel 
irgend einer verborgenen Höhle. Welche andere Nation würde die 
sinnliche Leidenschaft und die Wonne gestillter Begierde so der 
liebkosenden Sonne, des Gottes, von dem fern die Musen schweigen, 
der lauen Küsse des Zephirs beraubt haben? 

Es bedurfte des unzerstörbaren Spiritualismus des deutschen 
Geistes, um instinktmäßig die Datur von diesen unlauteren Freuden 
zu trennen und ihre keuschen Schönheiten vor der Berührung 
schamloser Sinnlichkeit und vor zynischer Entweihung zu bewahren. 
Wagner hatte^ als er diese im Staube alter Chroniken verborgene 
Legende hervorsuchte und sie zum Stoff seiner Dichtung wählte, 
eine glückliche Hand, ähnlich wie alle, die ihr Glück nehmen, wo 
sie es finden, weil sie eben Glück im Finden haben. 

Die naive Kühnheit und volkstümliche Eigenart dieser Sage 
lieferten Wagner eine noch unbenutzte Form, durch welche er der 
Unbequemlichkeit unvermeidlicher Vergleiche entging. Er verstand 
einen Stoff zu verjüngen and einen Gedanken wieder aufzunehmen^ 
der schon öfters von Meisterhand und aus mehr als einem Gesichts- 
punkte behandelt worden war. Die OriginaUtät dieses Entwurfs 
erlaubte ihm, sein Sujet zu betrachten, als hätte er noch keine 

4* 



52 Tannhäuser. 



Vorgänger gehabt; sie erlaubte ihm femer, sich zu den Regionen 
eines noch unentweihten Symbolismus zu erheben. 

Es ist ein gewagtes Unternehmen, sich au! den schwankenden 
Sprossen der Allegorie zu den höchsten Höhen erheben zu wollen. 
Wagner hat sich auf ihnen erhalten. Mit außerordentlicher Ge- 
schicklichkeit folgteer der gegebenen Linie und wandelte die schmale 
Brücke, welche die Poesie zwischen Tatsache und Mythe zu schlagen 
imstande ist. Er hat seinen Personen genug des zum Dr^ma erfor- 
derlichen Lebens verliehen und hat ihre Konturen genugsam von 
Nebel umspielen lassen, so daß jeder Verständnis Entgegenbringende 
seine eigenen Züge hineinzeichnen konnte. So hat er das Mittel ge- 
funden, in neuer Weise das geheime Band, das wirre Gefühle an 
sinnliche Begierden knüpft, anzudeuten, und hat den unschätz- 
baren Vorzug gehabt, sich der Notwendigkeit entziehen zu können, 
in welcher man sich bis dahin stets befand, wenn man den Typus 
des Lüstlings nur durch die Vielfältigkeit seiner Liebschaften charak- 
terisieren zu können meinte. 

In Wagners Gedicht erscheint uns die Sinnlichkeit nicht mehr 
unter den Bildern, welche der Leidenschaft als Vorwand dienen, 
sondern wie die fleischgewordene Leidenschaft selbst, die sich zu- 
gleich Zweck und Gegenstand ist. Infolgedesssen sind wir hier von 
dem obligaten Gefolge ungereimter Namen, von der Liste von »mille 
e tre « befreit, die in ihrer geschmacklosen Gespreiztheit und dummen 
Eitelkeit alles das raubt, was es Großes, Melancholisches und Er- 
habenes in dem ungeduldigen Sehnen nach unmittelbarer Seligkeit 
geben kann — einem Sehnen, von dem einige reich begabte Organi- 
sationen, die niemand wagen würde mit gewöhnlichen Lüstlingen 
zu verwechseln, verzehrend durchdrungen sind. Dank dieser Wieder- 
belebung der allegorischen Schönheit der Venus sind wir der ge- 
meinen Einzelheiten, der Lokalfarben, der Sittenschilderungen, 
dieses ganzen Ballastes mikroskopischer Tatsachen enthoben, 
welche, sooft eine von diesen unseligen Gluten beleuchtete Ge- 
stalt auf der Szene, im Gedichte oder im Romane wiedergegeben 
wurde, unvermeidlich das Gemälde überluden und seinen poe- 
tischen Eindruck durch Übertreibung der malerischen Wirkung 
erstickten. 



Tannhäuser. 53 



Es ist gewiß, daß diese Details, diese bunten Anekdoten, diese 
Lokalfarben, diese Einzelzüge der Sitten dazu dienen, die Ergötz- 
lichkeiten zu unterhalten, die geistreiche und amüsante Erzähler 
hervorzurufen suchen. Aber unwürdigerweise berauben sie die in 
ihren unheilvollen Genüssen so viele Qualen bergenden schmerzlichen 
Freuden ihres verhängnisvollen Wesens, ohne daß diejenigen, 
welche sich ihnen hingeben, die Ansprüche auf unsere Teilnahme 
verlieren, die sie stets siegreich in Anspruch nehmen werden, so- 
lange das Leiden die geheime Gefährtin ihrer Delirien bleibt, so- 
lange sie im Jagen nach einer unerreichbaren Befriedigung durch 
das Gefühl eines niegefundenen Ideals angespornt werden« Es gibt 
kein noch so hohes Gesetz, kein noch so niederschmetterndes Urteil, 
das ihnen den unstillbaren Reiz des Sehnens rauben könnte. Sie 
werden ihn bewahren, solange in ihren Herzen der erhabene Kampf 
währt, den Wagner in der großen Szene, wo sich Tannhäuser von 
der Venus losreißt, geschildert hat. Denn wer sagt uns, daß die 
Alcibiades, die Cäsars, die Don Juans, eingeschlossen in einem un- 
überschreitbaren Kreise unbefriedigter Wünsche, nicht mehr denn 
einmal Freiheit! ... in dem Augenblick gerufen haben, „wo sie 
die besangen, die sie doch fliehen wollten l'* 

Um jedoch diesen furchtbaren, von kraftvollen Seelen zu er- 
reichenden Moment zu seiner höchsten dramatischen Größe zu er- 
heben, um die Hindernisse zu besiegen, welche seiner künstlerischen 
Darstellung der Kontrast entgegenstellt, der sich zwischen der Un- 
freiheit der begehrenden Leidenschaft und der Herrschaft des Willens 
über die Handlungen gestaltet, bedurfte man einer Vereinfachung 
der sie inszenierenden Mittel, mußte man weniger wirklich als wahr 
sein, war man genötigt, die Strahlen der Leidenschaft, welche man 
bis dahin auf eine Masse von Gegenständen verteilte, in einem 
Brennpunkt zu sammeln, so wie sie im menschlichen Herzen ver- 
einigt sind. Gezwungen, jeden der Strahlen getrennt vom anderen 
sich brechen zu lassen, konnte man sich nicht von der Verviel- 
fältigung der notwendig in zweiter Linie stehenden Personen dis« 
pensieren — Farasitengeschöpfe, welche auf eine undankbare Weise 
unsere Aufmerksamkeit ablenkten, indem sie uns ein nur stumpfes 
Interesse einflößten, uns rührten, ohne uns^^zu fesseln, und alles 



64 Tannhäusen 



inneren Wertes bar unseren Geist unentschieden zwischen Mitleid 
und Geringschätzung ließen. 

Das Genie weist und stößt selten gewisse Wirlcungsmittel, so 
wenig sie ihm auch zusagen mögen, zurück, ohne sie nicht sogleich 
durch andere, die es nie verfehlt zu entdecken, zu ersetzen« 

Wagner, mehr bestrebt, den Lauf der Leidenschaften, als die von 
ihnen herbeigeführte Entwickelung darzustellen, hat die Begeben- 
heiten vereinfacht und die Darsteller im Drama vermindert, hat 
aber zum Ersatz gewissermaßen den Schwung ihrer Seele verkörpert, 
indem er ihn in der Melodie inkamierte. Mit dem „Tannhäuser" hat 
er eine überraschende Neuerung in die Oper eingeführt, durch welche 
die Melodie nicht nur gewisse Erregungen ausdrüclct, sondern auch 
darstellt, und zwar dadurch, daß sie stets in dem Moment, wo die- 
selben wieder auftreten, zurückkehrt, indem sie sich im Orchester, 
unabhängig vom Gesänge auf der Bühne, oft mit Modulationen 
wiederholt, welche die Abstufungen der Leidenschaften, denen sie 
entspricht, charakterisieren K 

Diese Art der Wiederaufnahme der Melodie veranlaßt nicht 
allein eine rührende Rückerinnerung: sie enthüllt uns auch, sie ver- 
ratend, die Rückkehr der Erregungen, Kaum hindurchschimmernd, 
solange diese Eindrücke noch unbestimmt schweben, entfaltet sie 
sich energisch, sobald sie mit größerer Kraft wieder auftreten. 

Wir haben es nicht unterlassen, die vorzüglichsten Stellen an- 
zugeben, wo Wagner diese Neuerung angewendet hat — eine 
Neuerung, so fruchtbar, daß sie eine neue Quelle der Effekte werden 
und der musikalisch-dramatischen Kunst ein Interesse mehr hin- 
zufügen wird. Was kann uns mit den Personen, deren Schicksal zu 
betrachten wir uns versammeln, besser vertraut machen, als wenn wir 
ihre Empfindungen gleichsam mit ihnen teilen? Und welche andere 
Kunst könnte uns gleicherweise mit ihrer Unruhe, ihren Aufregungen 
verbinden als die Musik? welche ihr Gehen und ihr Kommen uns 
enthüllen? welche die süßen Schauer der Leidenschaft, die Herzens- 



^ Das in der Entwickelung begriffene Leitmotiv- System, für welches 
man damals diese technische Bezeichnung noch nicht gefunden hatte. 

D. H. 



Tannhäuser. 55 



angst und Beklemmung, die im Geleite des Schmerzes sind, uns so 
nachempfinden lassen? 

Die Poesie gibt diese Erregungen wieder, wenn sie sich bereits 
in unserem Verstände zu Gedanken verdichtet haben und diese in 
gegliederten Sätzen zutage treten. Die Musik, in bezeichneter Weise 
angewendet, entdeckt uns das Sich-verbreiten und Vertiefen der 
Erregungen, ohne daß sie noch gesprochen haben. 

Oder gibt es seelische Erregungen, welche dem Schweigen mehr 
Schönheit, mehr Erhabenheit verdanken? Würde uns eine Elisa- 
beth, die vor die Rampe tritt, um in einer großen Arie ihre Trost- 
losigkeit auszudrücken, so rühren, wie sie es tut, wenn sie dem 
Wolfram mit einem Wink das Recht versagt, Zeuge ihres Schmerzes 
zu sein, und wir zugleich im Orchester den Schatten der traurigen 
Erinnerungen vorüberhuschen hören, die in diesem Augenblicke 
auf sie eindringen? Wie müßte man die unerschöpflichen Hilfs- 
quellen der Kunst, die stets neue Weisen findet und sie in so vielge- 
staltige Schönheit kleidet, nicht bewundern? Werden wir denn nie 
die kleinliche Neigung überwinden, ihr Grenzen ziehen, sie in diesen 
oder jenen Kreis einschränken zu wollen? Befreien wir sie darum 
von einem Joche, um ihr ein anderes aufzubürden? Wann werden 
wir endlich erkennen, daß es eitel ist, sie von irgend einer ihrer 
Offenbarungen zurückhalten zu wollen? 

Wie die Natur, umfaßt die Kunst in ihren Gesetzen die verschie- 
densten Gebiete, Entwickelungen und Verfahrungsweisen. Das 
Wandelbare und das Bestehende gehören ihr gleicherweise an. Wie 
die Natur vervielfältigt sich die Kunst durch beständige Umge- 
staltungen, die selbst dann sich fortsetzen, wenn ihr Erscheinungs- 
leben erstarrt ist. Sie erwacht, sie erneuert sich nach momentanem 
Verfall. Sie erhebt sich unter neuen Gesichtspunkten. Begrüßen 
wir ihren Frühling, ohne mit Klagen und Trauern beim vergangenen 
Herbst zu verweilen, ohne weder die Bäume, deren Laubwerk der 
Frost verschonte, noch die bescheidenen Blüten des Mooses zu ver- 
achten, die leicht geschützt dahinlebten und ihren Duft bewahrten, 
der, so zart er ist, dennoch dazu beiträgt, unsere Atmosphäre zu 
durchwürzen. 



56 Tannhäuser. 



Der Apostel der Liebe hat gelehrt, daß drei Gefahren, drei Ab- 
gründe dem Menschen drohen und unter seinen Füßen sich öffnen: 
die Fleischeslust, die Augenlust und hoffährtiges Leben. 
Führt ihn nicht zu allen dreien ein und dieselbe Hoffnung hin? die 
Hoffnung, auf dieser Erde einen unbedingten Genuß zu finden? sei 
es in den Freuden, weiche Liebe heucheln, indem sie doch Selbst- 
sucht an Stelle der Herzenshingabe setzen, sei es in der Spießbürger- 
lichkeit, die leicht zu erreichende Speisen behäbig hinunterschlürft, 
sei es in der Größe der ehrgeizigen Intelligenz, welche über die Tat- 
sachen herrscht oder sich die Geheimnisse des Unbekannten mit 
Hilfe der Wissenschaft erobert? Diese eine Hoffnung — eine drei- 
fache Hekate, schöne und grausame Eumenide — stellt sich in der 
Tat allen Augen unter einer dieser dreifachen Gestalten dar: als 
verführende und trügerische Sirene, als täuschendes Irrlicht, als 
glänzende und schreckliche Chimäre. 

Von den drei Leidenschaften, welche in diesen drei Gestalten 
vergöttert werden, kann die Musik das Tragische derjenigen am 
besten schildern, die, indem sie unserem Ohre den süßen Namen 
der Liebe zuflüstert, uns den. Flammenbecher darreicht. Sie hält 
uns in höheren Gefühlssphären, wohin sie uns besser als irgend eine 
andere Kunst auf Sturmesflügeln zu tragen oder auch zu entführen 
vermag bis zu den Grenzen des Äthers, ja bis zu den Pforten des 
Himmels, die wir sie überschreiten lassen. 

Die Musik ist darum nicht nur zu dem Versuche berechtigt, dieses 
Aufstreben der Seele auszusprechen, sie darf auch eine gewisse Über- 
legenheit beanspruchen, die verschiedenen Phasen der Liebe durch 
Werke zu offenbaren, die bedeutend genug sind, um unter den 
schönsten Konzeptionen des menschlichen Genies eine Stelle einzu- 
nehmen. Unter den an Umfang und Form so verschiedenen Werken, 
die bestrebt sind, die Freuden und Qualen der Liebe durch Musik 
auszudrücken, wird die Oper „Tannhäuser" stets eine der merk- 
würdigsten bleiben, sowohl durch die Superiorität ihrer musikalischen 
Inspiration, ihrer neuen Verfahrungsweise, als durch die darin 
verwandten praktischen Kunstmittel, ihre bewundernswerte Ver- 
teilung der Effekte, sowie den großen Reichtum des Stils und der 
Ideen. 



Tannhäuser. 57 



Wagner hat sich enthalten, übernatürliche Schrecken zu be- 
rühren und die Strafe da eintreten zu lassen, wo sie den Irrtum bis 
zum Laster erniedrigt oder die Verblendung mit der Korruption ver- 
bunden hätte. Er hat sich von abgedroschenen Moralitäten fern- 
gehalten und mit fester Hand verstärkt, was wir die philosophisch- 
poetische Tragweite seines Sujets nennen möchten. 

Der Mensch, der in der ungewissen Nacht seines Daseins sich 
noch nicht durch eine plötzliche Divination zum Licht der Wahrheit 
gewandt, wird nicht — ein unglückseliges Opfer! — ohne Erbarmen 
und vielleicht ohne Gerechtigkeit durch sie vernichtet. Eine uner- 
wartete Offenbarung nähert einander, was sich gegenseitig gesucht, 
und in Wirklichkeit läßt sich sagen, daß die Wahrheit den Menschen 
ebensosehr sucht, als sie von ihm gesucht wird, und daß, wenn sie 
sich einerseits seinen Verfolgungen entzieht, sie andererseits oft an 
ihm vorübergeht, ohne daß er sie gewahrt. 

Hier, im „Tannhäuser", sieht man nichts von den Schrecken einer 
ewigen Verdammnis, nichts von der Phantasmagorie einer Feuer 
und Schwefel regnenden Hölle, — dafür ist dieses Werk vielleicht zu 
sehr von dem Atem unseres Jahrhunderts durchdrungen. Und trotz- 
dem 1 Welche Schmerzen könnten noch die Qualen des großen 
Sünders vermehren? Sie sind in solchem Maße gegeben, daß keine 
absurden Dekorationen, kein Fehler des Maschinisten, keine Knau- 
serei des Feuerwerkers imstande sind, die Wirkung der unsäglichen, 
sich während seiner langen Agonie kundgebenden Schmerzen zu 
neutralisieren. Man könnte glauben, diese Qualen seien dem eigenen 
Herzen entrissen und nackt und blutend vor unseren Augen hin- 
gestellt! 

In der Handlung seines Dramas hat Wagner, wiie in dem 
Drama seiner Ouvertüre, das religiöse Prinzip keineswegs als eine 
starre Antithese gegenüber dem Heilsbedürfnis, dem Erinnern und 
Hoffen auf Glückseligkeit dargestellt, welche zuweilen im mensch- 
lichen Herzen in so fremdartige Metamorphosen ausarten und sich 
unter einem wunderlichen und unerwarteten Äußern verbergen. Er 
hat dasselbe durchaus nicht als eine Autorität gegeben, die sich an 
willkürlichem Herrschen ergötzt, um alle Wünsche und alles Sehnen 
unserer Natur um so leichter zügeln, ihre edle Glut^um so schneller 



58 Tannhäuser. 



abkühlen und das Erbeben der Furcht, die passive und entnervte 
Unterwerfung um so gewisser einflößen zu können. Er hat im Gegen- 
teil das religiöse Prinzip als den wahren Gegenstand des Rufes der 
Seele erscheinen lassen» als die Quelle, welche jeden Durst stillt, als 
den Schatz, welcher die Mittel in sich birgt, alle Begierden zu löschen. 
Er hat es wie eine unermeßliche Synthese hingestellt — einen Riesen- 
Akkord, iii welchem sich alle Dissonanzen lösen, keine Saite der 
Seele stumm bleibt, in welchem sich alle berühren, nicht um zu 
zerreißen, sondern um widerzuklingen in einer ungeheuren Har- 
monie. 

Wenn Wagner dieses Prinzip tätig einschreiten läßt, bewaffnet 
er es nicht mit rächendem Fluche — er läßt es nicht auftreten wie 
die monströse Geißel einer Zerstörung bringenden Plage. Unter 
seiner Feder läßt es sich nie, selbst wenn es mit den ihm feindlichen 
Elementen kämpft, von dem Hasse und der Erbitterung des Kampfes 
anstecken. Anfangs tritt es mit einer erhabenen Einfachheit auf; 
dann, wenn es wiederkehrt, um so gewaltsame Empörungen zu 
dämpfen, verliert es nichts von seiner ernsten Milde. Es wächst, 
wird immer deutlicher, immer majestätischer, gebieterischer, dabei 
unveränderlich bleibend wie das Licht, das die Finsternis durch- 
dringt, — ein strahlendes Licht, welches das Weltall vergoldet, 
ohne befleckt von irgend einer Berührung an seinem Glänze zu ver- 
lieren. Endlich herrscht, überwindet, triumphiert es, alles nieder- 
schmetternd, ohne die Pracht seines Sieges durch den Hader der 
Erzürnten oder durch die Strenge eines unversöhnlichen Strafers 
zu verdunkeln. 

Dieses religiöse Prinzip, dieses weitstrahlende Licht wird in der 
Ouvertüre durch ein Thema wiedergegeben, das sich in der Oper 
zum Gesänge der Pilger verdichtet. Vernimmt man diesen Gesang 
in einem Augenblicke, wo sich der Geist widerstandslos der Illusion 
überläßt, wo der Blick sich nicht mehr um die materielle Ökonomie 
des Schauspiels, nicht um die Menge auf der einen Seite und um die 
Bühnenvorrichtungen auf der anderen Seite kümmert, wo er sich 
so ohne Rückhalt an die Kunst verliert, daß er wähnt, das „Unzu- 
gängliche*' zu sehen, zu empfinden, zu erfassen, in einem jener 
Augenblicke, welche für die Künstler die Visionen der offenen 



Tannhäuser. 59 



Himmel bedeuten: so hallt dieser Gesang in der Seele wider wie die 
klagende, hoffende und sich sehnende Stimme der ganzen Mensch- 
heit auf ihrer Pilgerfahrt nach dem großen Rom, dem mystischen 
Rom, welches, seit seinem Entstehen, seine Oberpriester geheimnis« 
voll und prophetisch mit dem Namen Eqmg bezeichnet — dem Ur- 
quell schaffender, welterneuernder Liebe. 

Wir alle, die wir als Pilger auf der Schmerzensbahn nach diesem 
Rom wallen, vereinen unsere Seufzer mit diesem erhabenen Chore, 
der unmittelbar von der Erde emporsteigt zum Himmeil 



^^ 



LOHENGRIN 

GROSSE ROMANTISCHE OPER 

VON 

R. WAGNER 

UND IHRE ERSTE AUFFÜHRUNG IN 

^ WEIMAR BEI GELEGENHEIT ^ 

f^ DER HERDER- UND f^ 

GOETHE-FESTE 

1850 



:^ 



38g: 



G " ^ 



Schon im Jahre 1847, als Richard Wagner Kapellmeister des 
Theaters in Dresden war, hatte er seine Oper „Lohengrin'' voll- 
endet. Im Jahre 1849 verließ er diese Stadt, ohne daß er sein da- 
maliges letztes Werk dort zur Aufführung gebracht hatte. — 

Zu Anfang des Jahres 1850 beschäftigte man sich in Weimar 
damit, den geeignetsten Zeitpunkt und die würdigste Weise fest- 
zusetzen, um das Standbild Herders, das eben vollendet war, zu 
inaugurieren. 

Das mit diesem Auftrage betraute Komitee bestimmte den 25. 
August — den Geburtstag Herders — zu dieser Feier. 

Dieser Tag lag jedoch dem 28. August, welcher im vorhergehen- 
den Jahre als der Tag der Säkularfeier der Geburt Goethes in ganz 
Deutschland, besonders aber in Weimar, als eines der schönsten 
Nationalfeste begangen worden war, zu nahe, um nicht daran zu 
denken, bei dieser Gelegenheit zugleich die Erinnerung jener schönen 
Feier durch eine derselben würdige szenische Manifestation zu be- 
gehen. 

Als man das Programm der beiden Festtage besprach, wurde 
beschlossen, am 25. August Herders „Befreiten Prometheus'', 
dessen Komposition uns anvertraut wurde, aufzuführen und am 
28. August zum ersten Male Wagners letzte Oper „Lohengrin" 
zur Aufführung zu bringen. 

Diese merkwürdige Schöpfung bildete einen Glanzpunkt der 
Festlichkeiten, die sich vom 25. bis zum 28. August verlängerten, 
und fügte einen Namen mehr zu der langen Reihe glorreicher Namen, 
die mit dem Weimars verknüpft sind. Dieser neue ruhmvolle Name 
erbrachte daher in dem Augenblicke, wo man das erste Denkmal 
einem jeher hervorragenden Männer setzte, die eine so glänzende 
Kette bildeten, einen sicheren Beweis, daß diese Kette weder ge- 
sprengt noch zerrissen sei. Durch diese doppelte und gleichzeitige 



64 Lohengrin. 



Inauguration des Standbildes Herders und der Oper Wagners 
forderte Weimar den Genius der Zukunft auf, die Erinnerungen 
einer glorreichen Vergangenheit nicht aufzugeben, und gab dieser 
Vergangenheit zugleich einen befruchtenden Kultus, indem es seine 
Gräber und seine Trophäen mit Leben und Jugend umwob, — 
das einzige Mittel, sie vor dem Schleier zu bewahren, mit welchem 
Arachne so gern sie umhüllt, sobald Schweigen sie umgibt, und der, 
so leicht er auch sei, sie dennoch den Blicken der jungen Genera- 
tionen entzieht, die sich überhaupt wenig um das bemühen, was des 
Reizes gegenwärtigen Lebens entbehrt. 



l. 

Menschen, welche der Glanz ihres Genies und die Macht ihrer 
Talente über ihre Mitmenschen erhob, so trefflich als „große 
Menschen'' bezeichnet, waren zu aller Zeit der Gegenstand eines 
Kultus, dessen Charakter und Form der Richtung und Bildungs- 
höhe der Epochen entsprach, in denen sie lebten. 

In der Kindheit der Völker trug dieser Kultus das Gepräge 
religiöser Verehrung. Man glaubte, daß die so außergewöhnliche 
Kräfte Offenbarenden schon ihrer Art nach über die Kräfte der 
anderen Sterblichen gesetzt seien. Die jugendlichen Völker konnten 
für diese glänzenden Erscheinungen, für diese launenhafte Frei- 
gebigkeit der Natur, diesen scheinbaren Luxus der Schöpfung, der 
doch eines ihrer ersten Bedürfnisse bildet, keine Erklärung finden. 
Sie kannten nicht die Erfahrung, diese graukalte Göttin, der noch 
niemand Weihrauch gestreut hat, und ohne welche dennoch unser 
Geist zu traurigem Stillstand verurteilt bliebe. Infolgedessen waren 
sie noch nicht des Farbenschmelzes lebendig jugendfrischer Phan- 
tasie beraubt, die den Segnungen gewisser Mysterien des Daseins 
eine noch wunderbarere Ursache als die unseres eigentlichen Daseins 
zuschreibt. Da sie ohne Kenntnis des Wesens und der Tragweite 
jener Kräfte waren, deren Folgen so augenscheinlich und doch so 
unerklärlich sind, erhoben sie diese bevorzugten Wesen zu Ver- 
mittlern zwischen sich und den Göttern und richteten, um sich 



Lohengrin. 65 



ihrer Gunst zu versichern, an sie ihre Gelübde, ihre Gebete und 
Opfergaben. Ja selbst nach ihrem Tode setzten sie diese Verehrung 
zur. Erhaltung ihres schützenden und wohltätigen Einflusses fort. 
Doch, da man sie ebenfalls unter dem Elend unserer Hinfälligkeit 
leiden sah, wagte man nicht, ihnen göttliches Wesen beizulegen: die 
poetische Metapher der Völker nannte sie Halbgötter. Wie viele 
Jahrhunderte später rechtfertigte ein christlicher Dichter dieses 
primitive Vorgefühl durch das Wort, welches er nachsinnend über 
eine dieser den anderen Menschen gegenüber so wunderbaren Er- 
scheinungen aussprach: Das Genie zeigt ein stärkeres Ge- 
präge (empreinte) der Gottheitl^ 

Später verlor diese Verehrung einer von kindlicher Dankbarkeit 
getriebenen schüchternen und naiven Unwissenheit, die frei von 
geizender Genauigkeit das Attribut weder wog noch maß, welches 
Erkenntlichkeit oder Angst einem gesegneten oder gefürchteten 
Namen beilegte, ihre abergläubische Übertreibung. Aber auch 
Furcht und Schrecken mischten sich nicht mehr in die Gebete der 
Bittenden und in die Opfer, welche sie denen darbrachten, in 
welchen sie eine Macht erkannten, deren Grenzen sie jedoch nicht 
ahnten. Dann, als die sozialen Verhältnisse sich mehr und mehr 
durch ausgebildetere Institutionen ordneten und sich die indivi- 
duelle Schwäche in der Gesamtkraft zu befestigen begann, fand jene 
in dem Schöße der letzteren die Garantien für die eigene Sicherheit 
immer weniger schwankend. Nun flüchteten sich die Völker nicht 
mehr um hervorragende Menschen, wie in das Bereich eines schützen- 
den Asyls. Man warf sich nicht mehr vor ihnen nieder wie vor über- 
natürlichen Wesen; aber dem Grauen der Überraschung folgte eine 
exaltierte Bewunderung, und man verherrlichte sie, indem man sie 
Helden und Weise nannte. Ihre Handlungen wurden erzählt, 
ihre Worte gesammelt, und das entzückte Erstaunen ihrer Zeit- 
genossen vererbte den 4(ommenden Geschlechtern die Kunde ihrer 
Taten. Von ihrer Größe ergriffen, gruppierte allmählich die Phan- 
tasie des Volkes um ihr Andenken einzelne Taten und Begebenheiten, 
welche ihren wirklichen Erlebnissen einigermaßen entsprachen. Sie 



^ M a n z n i: n cinque Maggie. Ode auf Napoleon^ Tod. 
Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 5 



66 Lohengrin. 



vervielfältigte so die Urkunden ihres Ruhmes und schuf ihnen ein 
reich mit poetisch-allegorischen Reliefs geschmücktes Piedestal, auf 
welchem sich das Bild ihrer Helden und Weisen, erhaben und 
idealisiert, den Blicken der Nachkommen zeigte. 

In dem Maße, als sich das von der Zivilisation entzündete Licht 
verbreitete, der Standpunkt der Erkenntnis sich hob, Haß und Neid 
auf die Männer der Erfindung und des Fortschrittes sich stürzten, 
die Geschichte mit der einen Hand die Mythe von sich wies und mit 
der anderen die Gerechtigkeit herbeirief, schwanden auch die auf- 
richtig gemeinten Vergötterungen. Man verwarf das Wunder — 
man glaubte nicht mehr weder an himmlische Abkunft, noch an 
himmlische Offenbarungen — man erörterte kaltblütig die Ver- 
dienste und begrenzte den Wert der Taten — man forschte nach 
dem Beweggrund der Tugend und ehrte die Menschen von hervor- 
ragenden und großen Fähigkeiten durch Denkmale, denen man 
ihren Namen gab. So war nach dem Tempel die Dichtung gekommen, 
die Dichtung wurde durch die Ehrensäule ersetzt, der lebenden An- 
betung folgte der hochherzige Enthusiasmus, und dieser veränderte 
sich in ein abstraktes Urteil. 

Als die Menschen im Laufe der Zeiten aus ihrem Urzustände der 
Ohnmacht und Unerfahrenheit zu dem Wissen des reiferen Alters, 
zum Besitz ungeheurer moralischer und materieller Kräfte, zu einer 
mächtigen Entwicklung der Zivilisation sich hinaufgeschwungen, 
waren sie dermaßen von ihrem Interesse, ihrem Ehrgeize und ihrer 
Verweichlichung in Anspruch genommen, daß in ihrem Dasein wenig 
Zeit zur Bewunderung des Genies blieb. 

Indes wehte ein neuer Hauch über die Erde. Die unter dem 
Sporn einer unbekannten Begeisterung erschauernden Völker 
trennten sich nicht nur nach verschiedenen Heimatländern, sondern 
auch nach verschiedenen Religionen. Der religiöse Fanatismus er- 
wachte und warf seinen Haß und seine Zwietracht auch auf die 
Nationalitäten. Dieses Unglück, zum Fortschritt werdend, indem 
es dem Gefühl ein Übergewicht über das materielle Interesse errang, 
mußte notwendig den Zauber des Genies und des Talentes ver- 
mindern. Man fuhr wohl fort, ihre Gaben zu benutzen, vernach- 
lässigte aber den Dank, den man ihnen schuldete. Den Schreck- 



Lohengrin. 67 



nissen einer Verwirrung zum Raube, welche die Roheiten der neuen 
Barbarei und die Verfeinerungen der alten Verderbnis gleich ent- 
setzlich wiedergab, konnte das Mittelalter die Größe nur in der 
Frömmigkeit sehen und wollte nichts anbeten als die Heiligkeit, 
nichts bewundem als die physische Reinheit. Es sprach die 
großen Könige heilig; es kniete auf den Gräbern der Märtyrer; es 
bewunderte den keuschen Tapfern und schuf die Ritter des heiligen 
Gral. 

Wenn das Maß des Schmerzes übervoll ist; wird der Mensch 
unempfindlich gegen alles, was ihm nicht unmittelbar Linderung 
bringt, und kommen des Schicksals Schläge zu häufig, so kann weder 
das Genie noch das Talent eine Linderung schaffen — so wirksam, 
als die der Hoffnung auf das Jenseits. So war es im Mittelalter. In 
diesem Gewirre so vieler entgegengesetzter Elemente, deren Gären 
und Kochen dem Grunde dieses Chaos eine schönere Zivilisation 
entriß, beschränkte sogar auf eigentümliche Weise die Gewalt der 
Dinge die persönliche Gewalt der Souveräne. Das Genie hatte nur 
wenig zu vollbringen: es konnte nur glänzen. Aber selbst der un- 
sterbliche Glanz seiner Fackel sollte erst später erkannt werden. 
Nur in den ruhigen Betrachtungen eines friedlichen Daseins war es 
möglich, ihm die Huldigungen darzubringen, die man den Wohltaten 
seines Lichtes, welches es über die Finsternis so vieler blutigen 
Kämpfe verbreitet hatte, schuldig ^ar. 

Als Ruhe diesen Kämpfen folgte, war es Sache aufgeklärter 
Männer, die Vergangenheit zu erforschen, um die Genesis der Ver- 
wirrungen und der Unfälle zu enträtseln, in deren Mitte die Ideen 
und Probleme sich als irrende, leuchtende, auch als erlöschende 
Sterne gedrängt und gestoßen hatten. Jenen Urkultus der „großen 
Menschen" hatten sie, wenn auch nicht mehr in seiner grandiosen 
und poetischen Mythologie, so doch in der gerechten Anerkennung 
wiederherzustellen, welche diesen Erwählten, den Trägern und Ver- 
mittlern der von der Vorsehung über die Menschen verbreiteten 
Gaben und Wohltaten, gebührt — selbst dann gebührt, wenn sie 
weder den Sinn ihrer geheimnisvollen Mission noch die Eigenschaft 
der Früchte erkennen, welche die neuen Zweige tragen müssen, die 
sie auf den alten Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu 

5* 



68 Lohengrin. 



pfropfen berufen sind — auf diesen Baum, der uns so manches ge- 
lehrt hat und dennoch so wenig Aufklärung gibt. .^ . 

Von diesem Augenblicke an ging der bewundernde Impuls nicht 
mehr vom Volke und von den geblendeten Massen, sondern von 
dem gebildeteren, aufgeklärteren Teile der Gesellschaft aus. Der den 
hervorragenden Menschen dargebrachte Tribut des Enthusiasmus 
mußte sich notwendigerweise von dem fr&heren unterscheiden und 
den Charakter eines anderen Gesichtspunktes annehmen. 

Ehemals hatte man vor allem die Männer verherrlicht, welche 
sich an die Spitze der Nationen gestellt und deren Macht nach 
außen und Wohlfahrt nach innen gehoben hatten: die souveränen 
Sieger und gesetzgebenden Fürsten, auch Männer, welche ihrem 
Lande irgend eine wohltätige Entdeckung oder eine glückliche Er- 
findung vermachten. Je mehr sich jedoch der menschliche Gedanke 
der Analyse hingab, und je mehr er erwog, wie vorübergehend selbst 
die Taten und Gesetze sind, denen die größte Zustimmung geworden, 
je weiter das Gebiet der noch zu machenden Entdeckungen vor seinen 
Blicken sich dehnte, um so mehr verurteilte er das schon Errungene 
als vereinzelt und fragmentarisch. Seine Bewunderung und seinen 
Enthusiasmus wandte er nun den Menschen zu, deren Beruf es war, 
den Kreis der Ideen zu erweitem, die Gefühle des Schönen zu 
beleben, einen höheren Aufschwung zu fördern, glückliche Verbesse- 
rungen anzubahnen und das Streben nach dem Edlen anzuspornen. 
Größen, die sonst nur sekundär erschienen, errangen sich hiermit 
Rang und Platz neben denjenigen, die ursprünglich und ausschließ- 
lich die Aufmerksamkeit der Völker auf sich gezogen hatten. 

So sehen wir nun in unseren Tagen Männer der Tat und Männer 
des Gedankens einen gleichen Teil an den Ehren nehmen, die eine 
gerechte Pflicht dem einen wie dem anderen spenden heißt. Die- 
jenigen, welche ein in seiner Art hervorragendes Verdienst zu wür- 
digen imstande sind, vereinigen sich in dem Bestreben, für die 
Männer, welche die ersten auf ihrer Bahn gewesen, ehrende Beweise 
der Achtung zu finden. Die weniger gebildeten, aber durch den 
Aufruf der Intelligenz aufmerksam gemachten Massen entsprechen 
demselben mit Enthusiasmus und unterstützen freigebig jene edlen 
Bemühungen. Dieser Doppeltätigkeit, dieser Übereinstimmung 



Lohengrin. 69 

opferfreudiger Begeisterung verdanken wir die schönen Denkmale, 
die sich allerorten zur Erinnerung an die Männer erheben, welche 
zur Ehre ihres Vaterlandes beigetragen haben. Und in regem Wett- 
eifer möchte jede Stadt ein Zeichen der Dankbarkeit denen widmen, 
welche einen Strahl des Ruhmes auf sie geworfen haben. 

Will man in unserer Zeit ein solches Denkmal setzen, so bemerkt 
man mit wenigen Ausnahmen, daß die Statuen der Männer, deren 
Andenken man erhalten und volkstümlicher machen will, an dem 
Orte ihrer Geburt, ihres Todes oder ihres gewöhnlichen Aufenthalts 
errichtet werden — eine Art der Verherrlichung, welche den Vorteil 
hat, daß sie gewissermaßen den kommenden Geschlechtern das per- 
sönliche Dasein jener bevorzugten Wesen verlängert. Denn, indem 
man den Marmor oder das Erz zwingt, ihre schönen Züge, ihre edle 
Haltung festzuhalten und auf immer den Zeitgenossen wieder- 
zugeben, scheint man sie gleichsam heraufzubeschwören zu ewigen 
Zeugen der Ehren, die ihrem Genie, ihren Werken, ihren Verdiensten 
gespendet werden, um auf immer durch ihre feierliche Gegenwart 
teil an dem Geschick ihres Vaterlandes zu nehmen, durch ihr An- 
denken seinen künftigen Ruhm zu heiligen und ihm in Gefahren 
durch ihr Vorbild als Palladium zu dienen. Schwerlich dürfte sich 
eine achtungsvollere und zugleich zartfühlendere Gedächtnisfeier 
und geeignetere Weise finden lassen, um einem der Liebe zum 
Ruhme, zum Schönen und Nützlichen geweihten und oft sogar ge- 
opferten Leben die wohlverdienten und schuldigen Huldigungen 
darzubringen. 

Diese Bevorzugung eröffnet zugleich der Kunst des Bildhauers 
eine reiche Quelle der Inspiration. Sie gibt ihm Gelegenheit, öfter 
von der Sphäre des Gefühls und des Gedankens in die der Geschichte 
zu treten und der Verkörperung bestimmter Ideen nachzugehen, 
welche sonst nicht dem Meißel anheimfallen. Gezwungen, nicht nur 
die Größe der Männer, die er den Jahrhunderten überliefern soll, 
genau zu erkennen, sondern auch in ihr geistiges Wesen einzudringen,, 
bis er gleichsam den Strahl auffängt, der sich über ihre Person er- 
gießt, den Blick mit mildem, sanftem Widerschein belebt oder auch 
den Konturen den Charakter gebieterisch lebendiger Bestimmtheit 
aufdrückt, findet der Bildhauer, um zu der Menge zu reden, eine 



70 Lohengrin. 



Form, die er ihr vertraut, verständlich und teuer macht, und durch 
welche er sich mit ihr in unmittelbare Beziehungen setzt. 

Da die Statuen meist erst nach dem Tode ihrer Modelle den 
Künstlern in Auftrag gegeben werden, so wird hierdurch ihre Aus- 
führung teils leichter, teils schwerer. Ist der Künstler der Anforde- 
rung einer skrupulös materiellen Ähnlichkeit enthoben, so sieht er 
sich dagegen jener so tiefen Beobachtungen beraubt, welche uns 
zuweilen im ersten Augenblick schon die verborgensten Eigentüm- 
lichkeiten einer erhabenen und eben dadurch geheimnisvollen und 
in sich abgeschlossenen Seele begreifen lassen. Er muß Linie für 
Linie einer Totenmaske oder einem stummen Bilde nachschaffen, das 
Geheimnis ihres Lebens und ihres Ausdrucks aber in der Geschichte 
und in den Werken dessen aufsuchen, den er gleichsam in das Leben 
zurückzurufen bestimmt ist. Er muß in diese Werke bis in ihr 
innerstes Wesen dringen und ihre Schleier kraft einer sympathischen 
Divinatioh zu lüften suchen. Er muß Dichter sein, um die Poesie 
unter der Prosa des Daseins zu erkennen, und nicht selten muß er 
die Prosa aus der Fülle der Poesie zu scheiden wissen. Er muß be- 
. greifen, was Werk der Begeisterung, was Werk des Willens war; er 
muß die Worte, welche die Konvenienz des Herzens oder des Ver- 
standes eingegeben, von denen zu sichten wissen, die sich gleich 
einem unwillkürlichen Seufzer aus dem Innersten der Seele hervor- 
drängten; ja noch mehr: er muß die von den Zeiten und Ereignissen 
bedingten Handlungen bestimmen können und diejenigen ahnen, 
die dem natürlichen Impuls entsprangen. 

Betrachtet man das Standbild Herders, welches soeben in 
Weimar enthüllt wurde, so kann man nicht umhin, das hohe Ver- 
dienst des Künstlers zu würdigen, welcher dem Tode zu entreißen 
suchte, was derselbe längst verschlungen, und der Gestalt durch 
Ehrfurcht einflößende Verhältnisse den Adel und die Schönheit der 
Seele zu verleihen wußte. Dieses Standbild, durch Schaller in 
München ausgeführt, ist durch die Feinheit seiner Auffassung be- 
sonders bemerkenswert. Es bekundet eine volle Kenntnis und 
geistige Würdigung dieses großen Mannes, der uns hier so ganz wie 
aus seinen Schriften entgegentritt. Die milde Heiterkeit, die von 
Falten und Sorgen freie Stirn, das gütig friedfertige Lächeln, der. 



Lohengrin. 71 



wie wir ihn uns bei Herder vorstellen, mehr intelligente als durch- 
dringende Blick — das alles ist mit großem Adel der Haltung, mit 
großer Feinheit des Ausdrucks wiedergegeben. In seiner Rechten 
hält Herder eine Rolle mit dem von ihm adoptierten Wahlspruch: 

,,Licht, Liebe, Leben^^ 

welchen Karl August auch auf seinen Grabstein eingraben ließ — 
eine Inschrift, weniger romantisch, aber inhaltsreicher als die, welche 
Wieland für sein Grabdenkmal bestimmte^. 

Diese Hand ist nicht allein von großer Schönheit und seltener 
Vollendung, auch ihre Bewegung ist voll Festigkeit und Energie, 
welche mit der übrigen Stellung harmonierend dem Ganzen die 
Haltung der Würde gibt, die den Apostel der Humanität, welcher 
er einen so aufrichtigen und glühenden Kultus gewidmet, charakte- 
risieren mußte. In der Neigung des Kopfes, in den Linien des Ge- 
sichtes, in dem, was die Augen sagen, erkennt man sogleich die so 
leicht erregte und beständig bewegte Sensibilität, welche Herder 
gleichsam zwang, unermüdlich den verschiedenen Weisen der natür- 
lichen Sensibilität nachzuforschen, wie sie sich im ersten Lallen der 
Volkspoesie bei den verschiedensten Nationen einen Ausdruck ge- 
schaffen hat. 

Seh all er hat bei seinem schönen Standbilde auf das glück- 
lichste den Eindruck wiederzugeben gewußt, welchen der Dichter- 
Philosoph auf seine Zuhörer machen mußte, und welchen er immer 



^ Wieland ist in Oßmannstedt, einem kleinen, ihm damals 
gehörenden und ohngefähr eine Stunde von Weimar entfernten Landsitze, be- 
graben. Auf einem dreiseitigen Obelisk sieht man auf der einen Seite das 
Symbol der Unsterblichkeit, einen Schmetterling, über dem Namen seiner 
vertrauten Freundin Christine Brentano; auf der anderen zwei 
ineinander geschlungene Hände und den Namen seiner Gattin, und 
auf der dritten eine Lyra über seinem eigenen Namen. Der Obelisk 
ist mit folgender Inschrift umgeben: Die Liebe und die Freund- 
schaft im Tode vereinigt. Die Särge der drei Personen sind 
wirklich an dieser Stelle beigesetzt. W i e I a n d hatte eine kleine Summe 
bestimmt, welche so lange verzinst werden sollte, bis sie hinreichte, um ein 
eisernes Gitter um diesen Platz zu bestreiten. Dasselbe ist mehr als dreißig 
Jahre nach seinem Tode errichtet worden! 



72 Lohengrin. 



in der Seele setner Leser hervorrufen wird. Verdanken wir ihm 
doch Gedanken, die, groß und warm aus wahrhaftem Herzen kom- 
mend, seinerzeit mächtig und erhebend auf die Geister Deutsch- 
lands eingewirkt haben und ebenso bewundert wurden wie seine 
reizenden Dichtungen voll naiver Grazie, voll frommen Aufschwungs, 
voll Begeisterung für die lugend und voll lieblicher Illusionen. 
Scheint doch er, der so innig unsere besten Neigungen kannte, 
wissentlich ignorieren zu wollen, wie diese sich in der menschlichen 
Seele verflüchtigen, um der Herrschaft energischerer und heftigerer 
Leidenschaften Platz zu machen. 

Das Standbild lehnt sich fast an die Domkirche, in der Herder 
gewöhnlich predigte. Erst nach heftigen Debatten wurde, obwohl 
viele Personen nicht grundlos eine andere Stelle wünschten, diese 
gewählt. Es ist nicht an uns, die dogmatische Orthodoxie dieses 
Denkers zu beleuchten, welcher das Christentum als die mildeste 
aller Glaubenslehren liebte und die römische Kirche als die festeste 
aller Regierungen bewunderte, so daß es beinahe erlaubt ist zu 
sagen, er sei nahe daran gewesen, mehr katholisch als christlich zu 
sein. Wir begreifen die scheinbare Rücksicht vollkommen, welcher 
man nachkam, als man dieses Denkmal nahe an dem Gotteshaus 
aufstellte, in dem Herder während einer langen Reihe von Jahren 
seine geistlichen Amtspflichten ausgeübt hat; trotzdem können wir 
nicht umhin zu bekennen, daß uns der von der anderen Partei vor- 
geschlagene Platz zur Errichtung des Denkmals, welcher im Park 
gegenüber einer der schönsten Straßen der Stadt Hegt, viel günstiger 
für seine moralische und materielle Wirkung geschienen hatte. 

Wir kennen die Einwendungen, welche gegen das Projekt, ein 
bronzenes Standbild unter Bäumen aufzustellen, gemacht werden. 
Dieselben würden jedoch in dem vorliegenden Falle weniger stich- 
haltig sein wegen der goldigen, hellen und glänzenden Farbe des zu 
Herders Statue verwandten Metalls, welches sich auf einem Hinter- 
grunde alter dichter Bäume, deren düsteres Laub einen beinahe 
schwarzen Vorhang bildet, vorteilhafter abheben würde als von 
einer grauen Mauer, an welche die Statue jetzt gelehnt scheint; denn 
die Bestimmung des Platzes als Markt erlaubte nicht, sie in der Mitte 
desselben, wie es natürlich gewesen wäre, zu errichten. In einer mit 



Lohengrin. 73 



dem idyllischen Sinne Herders und seinen so reinen Neigungen für 
die Szenen einer lachenden Natur so sehr übereinstimmenden male- 
rischen und ländlichen Umrahmung würde das Standbild in seinem 
Beschauer nicht das traurige Gefühl erregen, das der stete Gegensatz 
zwischen einer vor Jahrhunderten mit so demütigem und feurigem 
Glauben erbauten Kirche und dem glänzenden, zur Ehre eines ihrer 
Seelsorger errichteten Denkmal erweckt, welcher nur noch einen 
Mythus auf denselben Altären suchte; auf denen, wie die anbetenden 
und hoffenden Gemüter damals glaubten, Gott selbst herniederstieg. 
Die Inauguration dieses Standbildes fand am 25. August, dem 
Tage, an welchem Herder 1744 geboren worden, statt. Diesel 
Datum, sowie das seines Todes, der 18. Dezember 1803, ist auf das 
Piedestal von grünlichem Marmor eingegraben, das außerdem noch 
die Worte trägt: 

Von Deutschen aller Lande. 

Diese Inschrift bezieht sich auf die zahlreichen und bedeutenden 
Gaben, welche aus allen Landen, aus Frankreich, England und be- 
sonders aus Amerika von daselbst ansässigen Deutschen infolge der 
mit dem Jahre 1844 abzuschließenden Subskription eingesandt 
wurden. Die Subskription selbst war von den Freimaurerlogen in 
Darmstadt und Weimar bei Gelegenheit der hundertjährigen Er- 
innerungsfeier der Geburt eines der ersten Philosophen des Hu- 
manismus in Anregung gebracht und eröffnet worden. 

Am Abende des 24. August, dem Vorabende dieses Festes, wurde 
im Theater: „Der befreite Prometheus" aufgeführt, den 
Herder für die Szene bestimmt und nebst einigen anderen unter 
seinen zahlreichen Schriften allgemein weniger bekannten Gedichten 
in Dialogform unter dem Titel: „Dramatische Szenen" zusam- 
mengefaßt und herausgegeben hat. Unter diesen schien uns „Der 
befreite Prometheus" sich vor den anderen durch das antike Kolorit 
und eine Zusammenstellung von Ideen auszuzeichnen, deren er- 
habenes und harmonisches Ganze zu den besten Darstellungen 
dieses Stoffes zu zählen ist und als eine der besten dieses Dichters 
betrachtet werden kann. 



74 Lohengrin. 



Wie er selbst es angedeutet, mußte der Natur der Dichtung nach 
und um die starken in ihr liegenden Affekte ausdrücken zu können 
die Musik sich mit ihr verbinden. Ohne eine Verbindung mit Gesang 
und Instrumental-Musik, welche die tiefen und erhabenen Gefühle 
näher und bestimmter bezeichneten, als es die Worte des Verfassers, 
die nur ein Entwurf zu nennen sind, getan haben, wäre es unmöglich 
gewesen, dieses Werk in Szene zu setzen. Es läßt sich in seiner frag- 
mentarischen Form nur mit den wertvollen Kartons vergleichen, wel- 
che die großen Meister als Muster für Teppiche oder Mosaiken gezeich- 
net haben, die aber mehr als kostbare Reliquien aufbewahrt werden. 

Der Dichtung selbst mußte infolgedessen eine große Ouvertüre 
vorausgehen, welcher die Chöre, die wir für diese Gelegenheit kom- 
ponierten, verbunden durch von Schauspielern deklamierte Dialoge 
folgten. Die Art und Weise, wie das Ganze in Szene gesetzt war, das 
Erscheinen der Personen in antikem Kostüme in einer Vorstellung, 
f die sich ihrer Natur nach sowie durch das Nichtvorhandensein der 
vom Drama bedingten Handlung mehr dem Oratorium als dem 
letzteren näherte, brachten eine überraschende Wirkung hervor, die 
den ungeteilten Beifall des Publikums errang. Man schien eine Reihe 
tönender Gemälde vor sich zu sehen, deren heroische Gestalten der 
Gesang zu beleben schien. 

Am Morgen des 25. August zogen einige Bataillone der Bürger- 
wehr, die Zünfte der Stadt mit ihren im Winde flatternden und mit 
alten und seltsamen Wahlsprüchen geschmückten alten Bannern 
auf und versammelten sich mit Deputationen der Behörden, des 
Magistrates, des Lehrerstandes usw. auf dem Platze, in dessen Mitte, 
dem noch verhüllten Standbilde gegenüber, sich die für die groß- 
herzogliche Famiüe bestimmte Tribüne erhob. Rat Scholl hielt 
als Vorsitzender des Komitees, dem die Leitung des ganzen Unter- 
nehmens anvertraut gewesen war, die Festrede, nach welcher die 
Statue von ihrer weißen Umhüllung befreit wurde, während Chöre 
Verse sangen, aus welchen wie in unendlichem Widerhall die Worte: 
Licht, Leben, Liebe hervortönten, welche Herder zu seiner 
Devise erhoben, indem er sie um ein Alpha und Omega schlang. 
Nachdem das Standbild feieriichst der Obhut des Bürgermeisters 
übergeben worden, hielt ein alter Freund und Kollege des großen 



Lohengrin. 75 



Mannes, der mehr als siebzigjährige Rat Hörn, zum Schluß der 
Feier noch eine Rede. 

Unter den zahlreichen Gästen, welche dieses Festes wegen nach 
Weimar gekommen, nennen wir nur den Autor der Statue, den 
Bildhauer Schaller, Ernst Förster aus München, Dingelstedt, 
welcher bei Gelegenheit der Erinnerungsfeier des hundertjährigen 
Geburtstages Goethes den vor der Aufführung des „Lohengrin*' 
gesprochenen schönen Prolog dichtete, Gutzkow, der eben mit der 
Herausgabe seines zehn Bände starken Romans „Die Ritter vom 
Geiste" beschäftigt ist — einem neuen Orden, bei dem er mit voll- 
stem Rechte auf die höchsten Grade Anspruch erheben darf — , 
Chorley, der gewandte und geistreiche Verfasser von »Music and 
Manners in Germany«, geschmackvoller Publizist voll feinen und 
wohlwollenden Spottes, in seinen Anforderungen in Sachen der 
Kunst intelligent und maßhaltend, in seiner Kritik klar und gerecht, 
dabei mit seltenem Takte es vortrefflich verstehend, die Notwendig- 
keit unumgänglicher Regeln festzuhalten, ohne die Versuche vor- 
wärtsstrebender und erfindungsreicher jüngerer Komponisten zu 
entmutigen. 

Wir hätten gewünscht, daß dem Fest-Programm gemäß Hän- 
deis „Messias" am Abende des 25. August in der Domkirche zur 
Aufführung gekommen wäre. Die zahlreichen schon jetzt anwesen- 
den Tonkünstler, gekommen, um das gigantische Werk Richard 
Wagners zu hören, dessen Name schon die Aufmerksamkeit der 
gesamten musikalischen Kritik Deutschlands auf sich gezogen, hätten 
gewiß gern diesen einfachen und erhabenen Akkorden eines Stils ge- 
lauscht, von welchem wir uns so sehr entfernt haben. Vielleicht 
wäre es ihnen von besonderem Reiz gewesen, die Eindrücke zu ver- 
gleichen, welche diese beiden Meisterwerke hervorbringen, die so 
verschieden voneinander sind, wie die dorische Säulenordnung von 
der ägyptischen, deren emporragende Kapitale reich und gefällig 
von reizendem Laubwerk umwunden sind. Ein bedauernswertes 
Mißverständnis verhinderte die Aufführung dieses Oratoriums, das 
man besonders gewählt hatte, weil sein in Deutschland gesungener 
Text eine von Herder selbst stammende Übersetzung des eng- 
lischen Textes ist. 



76 Lohengrin. 



Bei dieser Gelegenheit waren die einst von Herder bewohnten 
Zimmer ausnahmsweise dem Publilcum geöffnet. Herr Röhr, 
welcher dieselben als sein Amtsnachfolger bewohnt hatte, aber auch 
nicht mehr unter den Lebenden weilt, hatte sie ganz in dem Zustande 
erhalten, in welchem sein berühmter Vorgänger sie verlassen hatte. 
In einem blauen Saale sah man mehrere Bildnisse Herders, welche, 
obwohl nach der Natur gemalt, doch weit davon entfernt sind, uns 
den Gefeierten mit solcher Wahrheit wiederzugeben, wie die Statue 
Schallers. 

Gegenüber dieser Wahrnehmung sagten wir uns, daß, wenn es 
dem Dichter, wie dem Künstler überhaupt begegnet, sich zu täuschen 
und das Schöne zu suchen, wo sie es nicht finden, ihnen dagegen — 
aber nur ihnen allein — als Ersatz die Macht verliehen ist, es da zu 
fassen, wo es anderen entflieht, und es den Blicken aller in seinem 
lichtesten Glänze zu enthüllen. Beschuldigt man sie auch — und 
nicht mit Unrecht — , vor Illusionen die Wirklichkeit zu übersehen, 
so können sie hinreichenden Trost in dem Gefühl finden, daß es 
noch eine andere und schönere Wirklichkeit gibt, die nur sie allein 
zu verstehen und zu entdecken imstande sind. 

In diesem Zimmer sah man mehrere mit Sorgfalt erhaltene 
Reliquien : unter anderen eine seidene Mütze, von der Großherzogin 
Amalie eigenhändig gearbeitet, deren reine und erhabene Seele 
für solche von Humanität erfüllte Lehren und für eine so einneh- 
mende Persönlichkeit, wie die Herders, eine noch lebendigere 
Sympathie empfand als für die kühneren und mächtigeren Geistes- 
anlagen der anderen berühmten Männer, mit welchen sie sich um- 
gab, und dieser gegenseitig so würdigen Freundschaft das rührendste 
Zeugnis der schönsten Regungen ihres Herzens widmete. Neben 
diesem Andenken sah man die Feder, welche Herders schwach 
werdende Hand zuletzt berührt hatte, sowie seine Bibel, die auf 
ihrem verschabten Saffian noch in goldenen Buchstaben die Chiffre: 
J. G. Herder erkennen läßt. 

Mit einer gewissen Andacht ergriffen wir dieses Buch, und mit 
der Ehrfurcht, welche die Überreste der großen Werke großer 
Geister gebieten, blätterten wir, ob nicht eines seiner zahlreichen 
Zeichen noch an einer der Stellen zu finden sei, über welche er seine 



Lohengrin. 77 



gelehrten apologetischen, viel bewunderten Glossen geschrieben. 
Wir versuchten uns die Stunden zurückzurufen, in welchen der 
Philosoph mit vor Kälte starren Fingern diese Blätter umschlug, 
deren Bilder von der hebräischen Poesie durchglüht und durch- 
f lammt waren; — wir versuchten uns vorzustellen, welchen Ein- 
druck wohl diese Verse mit ihrer zitternden Leidenschaft, ihrem 
heftigen Schmerz, ihrer so gebieterischen Sehnsucht auf seine milde 
Phantasie gemacht haben mußten. Beim 18. Psalm öffnete sich 
das Buch vor uns. Indem wir diese düstere und prachtvolle Be- 
schreibung des Untergangs der gesamten Natur, der Zerstörung der 
Schöpfung beim Herannahen des Herrn lasen, dieses Gottes Israels^ 
der es nicht verschmäht, in seiner ganzen Majestät, mit Gefolge, auf 
den Anruf eines seiner Diener ihm zur Hilfe zu erscheinen, fragten 
wir uns: ob der Apostel der Humanität sich wohl ebenso mit der 
Glut des Gefühls, welche der königliche Prophet in der üppigen 
Fülle seiner Bilder barg, und mit der erhabenen Leidenschaft, welche 
diese heilige Ode atmet, wie mit dem ruhigeren lyrischen Ausdruck 
des folgenden Psalms innerlich verbinden konnte? 

Wenn man in Weimar ist, dieser Stadt, wo sich während der 
glänzendsten Periode der deutschen Literatur Männer vereinigt 
fanden, die über das Recht hätten streiten können, wer von ihnen 
ihr seinen Namen geben sollte, denkt man unwillkürlich über den 
Grund nach, welcher für Herder früher als für die anderen ein 
Monument bestimmte. Diese Tatsache ist nicht ohne Bedeutung, 
und wir möchten glauben, daß ihre Ursache in der Kraft der auf ein 
Gefühl der Humanität gegründeten Sympathien zu suchen ist. 
Wie groß auch immer das Erstaunen und die Bewunderung sein 
mögen, welche das größere dichterische Talent eines Wieland, 
die der Leier eines Schiller entströmenden edlen Harmonien, 
die universelle Intelligenz eines Goethe in uns erregt: die 
Menschen preisen denjenigen zuerst, der sich auf die Wohltaten 
des Lichtes, dieser ersten Bedingung unserer Größe, auf die 
Rechte des Lebens, der ersten Grundlage der Gesellschaft, auf 
die Gesetze der Liebe, der ersten Quelle ihres Glückes und ihrer 
Beständigkeit, berief : Licht, Liebe, Leben — Alpha und Omega 
der Zivilisation! 



78 Lohengrin. 



Die Statuen Schillers und Goethes erheben sich bereits in 
Stuttgart und Frankfurt, aber es ziemte sich wirklich, daß die 
Herders die erste in Weimar wurde, wo man bald — dessen sind 
wir gewiß — auch die der anderen großen Männer errichten wird, 
deren Vorliebe für diese Stadt ihr Ruhm war, sowie die des Forsten, 
dem es eine Ehre gewesen ist, dieselben um sich zu versammeln. 
Wenn wir sagen: „es ziemte sich", daß Weimar zuerst Herders 
Monument besaß, so liegt der Grund darin, daß die Geschichte 
Weimars eine Reihe von Fürsten aufzuzählen hat, die von Huma- 
nitätsiiebe auf das innigste und lebendigste durchdrungen waren — 
Fürsten, die gut, sorgsam für das materielle Wohl ihres Volkes, 
religiös, gewissenhaft waren und der Aufklärung einen so nach- 
haltigen Schutz gewährten, daß ihre Regierungen zu verschiedenen 
Malen die glänzendsten Epochen der Literatur und der Künste be- 
zeichnet haben. Einige der hier folgenden und dem Prologe Dingel- 
stedts entnommenen Strophen geben in beredter Sprache die 
Ideen wieder, welche wir aussprechen möchten, indem wir von diesem 
Thüringen reden, das schon so oft gepriesen und besungen wurde. 



„Hoch schimmert über deiner Berge Zinne 
Ein dreifach Sternbild der Vergangenheit, 
Die Wartburg tönt vom süßen Lied der Minne, 
Von Landgraf Hermanns heißem Sängerstrelt; 
Aus Herzog Wilhelms fruchtbarlichem Orden 
Erklingt dein Lob in preisenden Akkorden, 
Und neu ersteht, ein Zeuge dieser Stunde, 
Karl Augusts wunderbare Tafelrunde. 

„Da nahen sie in feierlichem Zuge: 

Des Dichterfürsten hehre Majestät, 

Der Sänger mit dem idealen Fluge, 

Der Hohepriester der Humanität, 

Der Freund antiker Grazien und KamOnen, 

Und mitten drin der Schöpfer dieser schönen 

Und reichen Welt, der aus der kleinen Raute 

Von Weimar Deutschlands ew'gen Lorbeer baute i. 



* Anspielung auf den Rautenzweig, welcher das Wappen der sächsischen 
Häuser durchkreuzt. 



Lohengrin. 79 



,fS\e waren unser, alle diese Stertie, 

Die einst mit ihrem Licht die Welt erfüllt; 

Hier standen sie vereinigt, eh' die Ferne 

Des Grabes sie zerrissen und verhüllt. 

Im Monument mag Schwaben oder Franken 

Den toten Helden spät und reuig danken: 

Wir haben die lebendigen besessen 

Und nimmermehr verstoßen, noch vergessen! 



tt 



Und siehe da: den wir zuerst verloren, 
Zuerst von allen in die Qruft versenkt. 
Der wurde jüngst uns wiederum geboren, 
Zum zweitenmal im eh'rnen Bild geschenkt. 
Er kommt zurück. O käme mit ihm wieder 
Die goldne Zeit der Minn'- und Meisterlieder, 
Das reine Alter menschlicher Ideen, 
Die wir so tief durch ihn erfaßt gesehen! 



„Das, Weimar, sei dein Amt und deine Sendung, 
Daß du in solchem Dienst die Hände rührst, 
Und deine Überlief rung zur Vollendung, 
Den Schatz zutag, ans Ziel das Streben führst I 



„Dann wirst du, was du warst zu Goethes Zeiten, 
Auch heute sein in gleich bewegter Zeit: 
Asyl dem Flüchtling, Tempel dem Geweihten, 
Hafen und Eiland in der Woge Streit. 
Als Alma Mater wird dich Deutschland segnen 
Und gern auf deiner Schwelle sich begegnen. 
In deinem würdevoll bescheid'nen Frieden 
In sich gesammelt, von der Welt geschieden ^' 



ti 



Der Prolog, dem wir diese Strophen entnommen, wurde vom 
Hofschauspieler Jaffö vot einem zahlreichen Publikum gesprochen 
rnid mit dem größten Beifalle aufgenommen. Es war der Abend 



1 Das ganze Gedicht: „Theater-Rede vor RlchardWagners 
,Lohengrin', nach dem Herderfeste am Goethetage (28. August 1850) 
aufgeführt auf der Hofbühne zu Weimar" ist in die Sammlung „Nacht und 
M o r g e n", neue Zeit-Gedichte von FranzDingelstedt, aufgenommen 
Stuttgart und Tübingen. J. G. Cottascher Verlag. 1851. 



80 Lohengrin. 



des 28.. August — und man darf behaupten, daß der Gedanke, mit 
,,Lohengrin" die Erinnerung an Goethe zu feiern, in jedem Punkte 
dieser Feier würdig war. Denn Richard Wagner, ebenso Dichter 
wie Musiker, verlieh dem Texte seiner Oper durch die Originalität 
seines Stils, die Schönheit seines Versbaues, die geniale Anordnung 
der dramatischen Intrige und beredte Sprache der Leidenschaft das 
volle Interesse, die ganze literarische Vollkommenheit einer Tragödie. 
Diese Oper ist zweifellos als ein Ereignis in der deutschen Musik, 
als der Ausdruck eines neuen Systems in der dramatischen Kunst 
zu betrachten. Und sicherlich verdiente sie als ein von der Muse 
des alten Germaniens inspiriertes dichterisches Erzeugnis jüngster 
Zeit, zur Verherrlichung eines Festes beizutragen, dessen Gegen- 
stand Goethe war. 

IL 

Welches auch immer der Grad der Bewunderung, der Sympathie 
und der Zustimmung sein mag, den man den musikalischen Werken 
Wagners entgegenbringt, so werden doch seine erklärtesten Anta- 
gonisten, ja selbst seine Lästerer weder die hervorragenden Eigen- 
schaften ihrer Harmonien und ihrei Instrumentation, noch die 
große Arbeit und die unermüdlichen Studien, von denen sie zeugen, 
noch das Genie des Komponisten, das sie offenbaren, verneinen 
können. Jede seiner Schöpfungen ist tief durchdacht, jede kunst- 
gerecht ausgearbeitet. Ihr Stil ist erhaben, die Banalität von ihnen 
ausgeschlossen. Ihre Sujets sind poesievoll, und die ganze Gewalt 
tiefer Empfindungen zum Ausdruck gebracht. Wenn aber seine 
Opern bis jetzt noch wenig bekannt sind und die Impresarien noch 
Anstand nehmen, sie zur Aufführung zu bringen, so kann es keinem 
Zweifel unterliegen, daß die Ursache hiervon nicht in den materiellen 
Schwierigkeiten seiner Partituren zu suchen ist — sie wären bald 
besiegt! — , sondern in den wirklichen Schwierigkeiten, welche sich 
der Einführung eines neuen Systems der dramatischen Komposition 
entgegenstemmen, während doch gerade ein solches vor allem die 
Gunst des Publikums, das neuen Gewohnheiten gegenüber oft so 
widerspenstig ist, dringend verlangt. 



Lohengrin. 81 



Unter den Ideen, die Wagner in seinen Schriften über die 
Kunst und ihre Zukunft entwickelt hat, die jedoch hier in ihren 
mannigfaltigen Verzweigungen wiederzugeben nicht in unserer Ab- 
sicht liegt, ist die Konzeption des Dramas als solchen, nach noch 
unbekannten, neuen Bedingungen, diejenige, welcher die Richtung 
seines Genies am unmittelbarsten zustrebt. 

Lange Zeit hindurch schöpfte man das Hauptinteresse szenischer 
Darstellungen aus einer der Künste, die bei denselben mitwirken, 
während man die anderen unter die Nebendinge verwies. Man war 
mit einer armseligen Musik in den Zwischenakten einer Tragödie 
zufrieden; von den Operntexten verlangte man nur eine mittel- 
mäßige Dosis von Wahrscheinlichkeit und poetischer Anlage, und 
auf das Spiel sowie die Mimik der Sänger und alles hierher Gehörige 
legte man einen nur sehr untergeordneten Wert. Nach und nach 
fügten die Komponisten und Darsteller zu wesentlichen Eigen-* 
Schäften ihres Berufs noch die Vorzüge eines zweiten und verbanden 
die Wirkung der einen Kunst mit der Wirkung einer änderen, die 
sie sich in gleich hohem Grade anzueignen gesucht hatten. Hierdurch 
erhöhten sie den Reiz ihrer Kunst und weckten den Geschmack des 
Publikums für auserlesenere Genüsse. 

Nach dieser Seite hin war es Meyer beer, der seinen prächtigen 
Partituren einen Einschlag von lebendigstem Interesse einwob, 
waren es die Malibran und ihre Schwester Viardot-Garcia, die 
nicht nur sangen, sondern als wahre Tragödinnen auftraten. Das 
Publikum, obwohl ganz Enthusiasmus und Bewunderung gegenüber 
diesen seltenen Ausnahmen, wurde indes nicht ungerecht gegen 
solche, welche sich auf die einfachen Anforderungen ihres Faches 
beschränkten. Da erschien ein außerordentliches Genie voll glühender 
Phantasie, zum Tragen einer Doppelkrone aus Gold und Feuer er- 
koren, und träumte ehrgeizig, wie Dichter träumen, von einem 
kommenden Fortschritt, der, wenn es je der Kunst verliehen werden 
sollte, ihn zu verwirklichen, und der Gesellschaft, ihn zu genießen, 
nur in einer Zeit sich verwirklichen konnte, wo das Publikum nicht 
mehr aus dieser wankelmütigen, gelangweilten, zerstreuten, un- 
wissenden und dünkelhaften Masse zusammengesetzt wäre, die in 

Liszt, Qesammclte Schriften. II. V.A. Q 



82 Lohengrin. 



unseren Tagen das Theater besucht, Urteile fällt und Gesetze dik- 
tiert, denen selbst die Kühnsten unterliegen. 

Wagner, dieser begeisterte Künstler, dem gegenüber es nicht 
ausreichend ist zu sagen, daß er in seiner Liebe zum Schönen ge- 
wissenhaft sei — denn an seiner Seele zehrt die edle und geheime 
Wunde des Fanatismus der Kunst! — , Wagner, dessen Geist eben- 
sosehr durch seltene Fähigkeiten wie durch hohe Bildung für die 
Reize aller Künste gleich empfänglich war, und dessen Herz mit 
derselben Erregung vor der „Iphigenie" des Euripides wie vor 
der Glucks schlug — , Wagner empfand eine stolze Verachtung 
vor unseren überkommenen Gewohnheiten. Verletzt von jedenv 
Detail, welches nicht der höchsten Schönheit des Hauptelementes 
szenischer Wirkung entsprach, glaubte er, daß es nur eines festen 
Willens bedürfe, um ein Drama zu schaffen, an dessen Vollendung 
alle am Theater vertretenen Künste sich gleichmäßig beteiligten. 
Er war der festen Überzeugung, daß das Erscheinen eines solchen 
Dramas die bisher aktuelle Methode stürzen würde — diese Methode, 
welche zugunsten der einen bevorzugten Kunst die Hilfe mehrerer 
anderer herbeiruft, die ihr als Hilfsorgane dienen und bestimmt sind, 
nicht sich zu entfalten — o nein! — , sondern derjenigen mehr 
Relief zu geben, welcher der Verfasser in seinem Werke die größte 
Bedeutung beigelegt hat. Wagner selbst war von der Möglichkeit 
überzeugt, die Poesie, die Musik und vor allem die Kunst des 
Tragöden fest und innig zu einem Ganzen verweben und sie alle 
auf der Szene konzentrieren zu können. Alle diese Künste müssen 
nach seiner Ansicht dort verbunden und ausschließlich verschmolzen 
sein, um die Effekte hervorzubringen, die sie alle durch ihr wunder- 
bar harmonisches Zusammenwirken zu erzielen berufen sind. 

Wir sind weit entfernt, über den Wert der Gründe voreilig zu ent- 
scheiden, welche sich bereits leidenschaftlich in der musikalischen 
Welt Deutschlands kreuzen, indem sie das Bestreben dieser für 
großartige szenische Darstellungen noch unübersehbaren Eroberung 
entweder angreifen oder verteidigen. Der Gedanke Wagners ist 
gewagt, aber schön. Er trägt das Gepräge einer ungewöhnlichen 
Kühnheit und ist eines großen Künstlers würdig, selbst dann, wenn 
er sich nicht verwirklichen lassen sollte. Wenn ähnliche Bestrebungen 



Lohengfin. 83 



— und wären sie ein Irrtum — , unterstützt von Genie auf« 
tauchen^ wird es ebenso verfrüht wie überflüssig sein, sie preisen 
oder mit trockenen Auseinandersetzungen bekämpfen zu wollen. 
Plaidieren sie nicht selbst genug zu ihren Gunsten durch das Ziel, 
das sie sich gesteckt haben? Haben sie nicht schon an und für sich 
hinreichend mit den Tatsachen und natürlichen Hemmnissen zu 
tun, die ihnen entgegentreten? Wenn sie siegen sollten — und ließe 
sich ihnen nach so manchen unerwarteten Siegen diese Möglichkeit 
absprechen? — : weshalb dem Rad eines so stolzen Triumphwagens 
einen Hemmschuh anlegen? 

Es liegt keineswegs in unserer Absicht, hier alles, was man für 
oder gegen Wagners System sagen könnte, zusammenzustellen. 
Es werden sich Leute genug finden, welche das mit einer Wärme 
und einer Kraft der Parteilichkeit tun, die wir zu einem solchen 
Streite nicht mitbringen können, die aber vielleicht notwendig sind, 
um alle Vorzüge und alle Fehler irgend eines Systems klar an das 
Licht zu stellen. Daß wir die allgemeinen Grundzüge der Idee 
dessen, was der Schöpfer des „Tannhäuser" Drama nennt, andeu- 
tend mitteilten, hielten wir für unsere Pflicht, weil gerade sein letztes 
Werk „Lohengrift", das hier in Weimar und überhaupt zum ersten 
Male in Szene ging, diejenige seiner Schöpfungen ist, welche sie am 
entschiedensten vertritt, weil es diejenige ist, die aus seinem innig- 
sten und lebendigsten Empfinden hervorgegangen zu sein scheint, 
diejenige, welche am konkretesten die edelsten Züge seiner Indivi- 
dualität wiedergibt, und endlich diejenige, der man unmöglich 
gerecht werden kann, wenn man in ihr die alte Faktur einer Oper, die 
gewohnte Einteilung der Gesangstücke in Arien, Romanzen, Soli 
und Tutti, mit einem Worte, die ganze adoptierte Ökonomie suchen 
will, bei der es gilt, nur Sänger und Melodien, und zwar oft in einem 
zugunsten der ersteren willkürlichen Verhältnisse zur Geltung 
kommen zu lassen. 

Wagner hat sich feierlichst von der Berücksichtigung der her- 
kömmlichen Ansprüche der prima donna assoluta oder des basso 
cantante losgesagt. In seinen Augen gibt es keine Sänger, gibt es 
nur Rollen. Infolgedessen findet er es höchst natürlich, eine erste 
Sängerin während eines ganzen. Aktes schweigen und nur stumm 

6* 



84 Lohengrin. 



spielen zu lassen, wenn durch ihre Gegenwart die Wahrscheinlich- 
keit des Ganzen unterstützt und gehoben wird — eine Art des Auf- 
tretens, die von jeder diva Italiens ebenso verachtet wird, als sie 
für dieselbe unausführbar scheint. 

Man darf nicht erwarten, bei ihm Cabaletten oder irgend ein 
Stück zu finden, das sich für die Pulte gewöhnlicher Piano-Dilettan* 
ten eignete. Denn es ist in jeder Hinsicht mehr als schwierig, irgend 
einen Teil aus der so vollkommenen und gefesteten Einheit, die 
seine Opern durch ihren Stil bilden, herauszunehmen und von ihnen 
zu sondern. Fortgesetzt in einer noch undurchforschten Region 
gehalten, steht sein Stil dem banalen Rezitativ ebenso fem, wie den 
kadenzierten Phrasen unserer großen An^n. Man muß vielmehr 
darauf gefaßt sein, Personen zu sehen, zu erfüllt von Leidenschaft, 
um sich dem Zeitvertreib des Vokalisierens hingeben zu können, 
Personen, bei denen der Gesang, wie die gebundene Rede in der 
Tragödie, zur natürlichen Sprache wird, welche, weit entfernt die 
dramatische Handlung aufzuhalten, diese nur ergreifender gestaltet. 

Aber während sie mit einer Einfachheit deklamieren, die sich 
bis zum Erhabenen aufschwingt, findet sich die Musik nicht nur 
nicht im mindesten in ihrem Bereiche beschränkt, sondern im 
Gegenteil ihre Grenzen durch das Orchester Wagners noch weiter 
ausgedehnt. Ihm übergibt er es, die Seele, die Leidenschaften, die 
Gefühle, ja die geringste Erregung seiner Personen widerzuspiegeln 
und uns zu offenbaren. Das Orchester wird bei ihm das Echo, die 
zarte Hülle, durch welche wir alle Vibrationen ihrer Herzen ge- 
wahren. Man möchte sagen, daß sie in ihm pochen, daß ihr unge- 
stümstes Hämmern, wie ihr leisestes Erbeben, durch die bald klang- 
vollen, bald leisen Umhüllungen seiner Töne hindurch zu vernehmen 
ist. Aus ihm dringt der Schrei des Hasses, das WUten der Rache, 
das Flüstern der Liebe, die Ekstase der Anbetung. Es zeichnet wie 
in Nebelduft mystische Träume und färbt mit glänzenden Tinten 
stolze Triebe. 

Jedes Werk Wagners führt einen Schritt dem Ziele näher, das 
er verfolgt. „Rienzi'' huldigt noch dem alten Brauche in der 
Haltung der Rezitative, der Duos und der Ensemblestücke. Im 
„Fliegenden Holländer'' macht dieser Brauch schon merklich 



Lohengriti. 85 



dem neuen Systeme Platz, und „Tannhäuser" ist schon gänzlich 
von dem befreit, was der Verfasser als Vorurteile der Überlieferung 
betrachtet. 

Welches auch das Geschick sei, das die Zukunft seinem Systeme 
vorbehalten: daran ist nicht zu zweifeln, daß die Kenntnis seiner 
Tonschöpfungen die Opern-Komponisten früher oder später eines- 
teils zu einer klareren, strenger als bisher mit der Natur der Sujets 
verbundenen Orchesterbehandlung, und andernteils zu einer Wahl 
von Texten führen wird, deren Inhalt ein ernstes und anhaltendes 
Interesse bietet, und deren Poesie einen von den Rhythmen, in wel- 
chen sie sich bewegt, unabhängigen Reiz besitzt. Angesichts der 
schonungslosen und erbärmlichen Verstümmelung und Verarbeitung 
der schönsten Tragödien aller Literaturen zu jämmerlichen Szenen 
und Versen, sobald es gilt, der Musik Gelegenheit zu schaffen, durch 
dramatische Situationen ihre Mittel für den Ausdruck der Leiden- 
schaft entfalten zu können, kann man nur die lebendigste Genug- 
tuung emflfinden, wenn sich eine Hoffnung zeigt, daß eines Tages 
alle diese unleidlichen Unwahrscheinlichkeiten, diese lächerlichen 
Reimereien, diese plumpen Mittel, diese Auswüchse der Phantasie, 
welche seit so langer Zeit fast immer gut genug schienen, um den 
größten Meisterwerken des musikalischen Genies als Unterlage zu 
dienen, gänzlich und für immer verbannt sein werden. Ist es denn 
noch nicht an der Zeit, daß die Tonsetzer Texte zurückweisen, 
denen gleich, welche Voltaire mit blutigem Spotte in dem so oft 
wiederholten Bonmot geißelte: »Ce qui serait trop sot pour 6tre dit, 
on le chante «? Was uns betrifft, so würden wir, wenn es zum Äußer- 
sten käme, oder wenn von zwei Übeln das kleinste zu wählen wäre, 
am liebsten alles das, was am schnellsten, am harmlosesten und 
kürzesten vernommen würde, von einer natürlichen Stimme sprechen 
hören, da dergleichen zu dumm ist, um gesungen zu werden. 

Wie wir bereits gesagt, ist der Text zum „Lohengrin" an sich 
ein dramatisches Werk voll Schönheiten ersten Ranges. Um jedoch 
den szenischen Gang des Stückes zu Verstehen, die Intention und 
den Gehalt der Musik von dem ersten Takte der Introduktion an 
zu erfassen, muß man zuvor das Geheimnis kennen, um welches sich 
die ganze Handlung des Dramas dreht, das sich ^ber erst in der 



86 Lohengrin. 



letzten Szene enthüllt. Dieses Geheimnis liegt in der Sage des 
heiligen Gral, die man in Ritterromanen findet, und die besonders 
in den Dichtungen Wolframs von Eschenbach eine hervor- 
ragende Rolle spielt. Das Sujet des ,,Lohengrin'' ist ein Extrakt 
dieser Dichtungen. Ihnen ist mit wenigen geringfügigen, doch von 
der Bühne bedingten Umänderungen die eigentliche Handlung ent- 
nommen. Aber mit welcher Poesie hat Wagner sie wiedergegeben! 
Wenn Begebenheiten Interesse erregen, so geschieht es durch die 
Empfindungen und Schmerzen, die sie im menschlichen Herzen 
erwecken, und wer diese am besten schildert, ist ihr wahrer Poet! 

Wolfram von Eschenbach war einer der berühmtesten 
Minnesänger des 13. Jahrhunderts, einer der Sänger, die sich im 
Sängerkriege auf der Wartburg besonders auszeichneten. Er 
gehört zur spiritualistischen Schule der Dichter jener Periode und 
behauptet einen der ersten Plätze unter denen, welche damals die 
Gemüter für die Keuschheit und Reinheit in der Liebe, für den 
Glauben und die poetisch-frommsten Gefühle entflammten. Die 
Chroniken berichten, daß er das Lied vom Lohengrin zum erstenmal 
auf Bitten des Landgrafen Hermann von Thüringen, der an- 
wesenden Frauen und selbst seines Feindes, des Magiers Klingsohr, 
an einem Tage gesungen habe, an welchem dieser ihn zum Bösen 
zu verführen und dem Teufel zu gewinnen suchte, indem er seinen 
Neid und seinen Hochmut durch eine seiner eigenen überlegene 
Wissenschaft zu erregen hoffte und ihm fremdartige Rätselaufgaben 
stellte. Doch Wolfram von Eschenbach, inspiriert von der 
heiligen Jungfrau, welcher er so treu diente, löste sie zu Klingsohrs 
Verwunderung und Beschämung stets mit einer überraschenden 
Leichtigkeit und auf so natürliche Weise, daß er seinen Gegner ganz 
verwirrte. Und dieser rätsellösende Dichter-Sänger Wolfram von 
Eschenbach ist der Verfasser der berühmten Epopöen „Parzival" 
und „Titurel", und Parzivals Sohn, Lohengrin, ist der Held dieser 
auf die Sage vom heiligen Gral gegründeten Dichtung. 

Der heilige Gral (sanguis realis, sang real, das wahre Blut) war 
eine aus einem kostbaren und glänzenden Steine, der bei Luzifers 
Sturze aus dessen Krone fiel, gefertigte Schale. In dieser Schale 
wurde Brot und Wein von unserem Heiland beim heiligen Abend- 



Lohengrin. 87 



mahle gesegnet; in ihr fing Joseph von Arimathia das Blut auf, 
welches aus der Seitenwunde des am Kreuze Sterbenden floß. 
Joseph brachte diese Schale nach England, wo sie später der Obhut 
des Königs Artur und der Ritter der Tafelrunde anvertraut wurde. 
Dann führte Parzival — der vollkommenste der Ritter — den 
heiligen Gral nach Indien, von wo er nach Montsalvatsch kam, 
der nach einigen in Aragon, nach anderen in Indien lag. Es war 
dies ein geheiligter Berg, umgeben von einem Zypressen- und Zedern- 
walde, den niemand durchdringen konnte, wenn er nicht in geheim- 
nisvoiler Weise durch Gottes Willen geführt wurde. Dort baute 
Titurel einen prächtigen Tempel aus Gold, Holz von Aloe und 
kostbaren Steinen, wo der heilige Gral aufbewahrt wurde. Im 
Sommer herrschte hier liebliche Kühle, und taue Lüfte wehten im 
Winter. 

Die Sorge und die Hut dieses Tempels wurde Rittern anvertraut, 
vom heiligen Grale selbst gewählt und berufen durch Zeichen, ver- 
mittelst deren er alle seine Befehle erteilte. Wer den heiligen Gral 
nur einmal gesehen, war nicht mehr dem Tode verfallen; wer ihm 
diente, blieb rein von jeder Todsünde. Diese Ritter genossen eine 
vollkommene Seligkeit, diejenige vorempfindend, welche der 
Himmel den Gerechten vorbehält, nachdem sie diese Erde verlassen. 
Am Gründonnerstag jedes Jahres brachte eine Taube eine himm- 
lische Hostie, welche sie in die wundertätige Schale niederlegte. 

Ritter, die den höchsten Grad der Tugend zu erreichen strebten, 
suchten durch alle Lande ziehend den Berg Montsalvatsch und 
übten sich in Taten der Tapferkeit und Frömmigkeit. Denn nur 
die, welche wahrhaft rein und vorwurfsfrei waren, konnten hoffen, 
eines Tages zum heiligen Gral zu gelangen und unter die Zahl seiner 
Diener aufgenommen zu werden, deren Schar aus den tapfersten 
und frömmsten Rittern bestand. Parzival war ihr König und Lohen- 
grin, sein Sohn, einer der tapfersten und edelsten Helden. 

Wagner gab seiner Ouvertüre zum „Tannhäuser" die Aus- 
dehnung einer großen symphonischen Komposition. Obgleich die 
Hauptmotive der Oper deren Inhalt bilden, so kann diese Ouvertüre 
doch als ein für sich bestehendes Werk betrachtet werden, das auch 
getrennt vom Ganzen seinen intensiven Wert behält und selbst von 



88 Lohengrin. 



denen, die das Drama, dessen herrlicher Abriß sie ist, nicht kennen, 
verstanden und bewundert werden kann. Der Instrumental- Prolog, 
welcher dem „Lohengrin" vorangeht, ist anders. Zu kurz — denn 
er hat nur fünfundsiebenzig Takte — , um getrennt aufgeführt 
werden zu können, ist er gleichsam nur eine magische Formel, die, 
wie eine mysteriöse Einweihung, unsere Seelen für ungewöhnliche 
Dinge, die von höherer Bedeutung sind als unser irdisches Leben, 
vorbereitet. Diese Einleitung enthüllt das mystische Element, das 
stets Gegenwärtige und doch stets Verborgene dieses Werkes — ein 
göttliches Geheimnis, eine übernatürliche Kraft, das höchste Gesetz 
des Geschickes der Personen und der Folge der Begebenheiten, die 
sich vor uns entfalten sollen. Um uns die unbeschreibliche Macht 
dieses Geheimnisses kennen zu lehren, zeigt uns Wagner zuerst 
die unaussprechliche Schönheit des Heiligtums, bewohnt von einem 
Gotte, der die Unterdrückten rächt und von seinen Getreuen nichts 
verlangt als Liebe und Glauben. Er weiht uns ein in den heiligen 
Gral, — vor unserer Phantasie erscheint dieser Tempel, welcher im 
Auge des Dichters ein Bau ist von unverweslichem Holze und 
goldenen Toren, mit Schwellen von Asbest, mit Säulen von Opal, 
mit Fensterwandungen von Onyx, mit Vorhöfen aus Edelsteinen — 
Prachthallen, denen sich nur diejenigen nähern dürfen, deren 
Herzen erhoben, deren Hände rein sind. 

Wagner läßt uns diesen Tempel nicht in seiner gewattigen und 
wirklichen Struktur erschauen; als wollte er unsere schwachen Sinne 
schonen, zeigt er ihn uns nur in dem Widerschein azurner Wellen, 
zurückgestrahlt von irisfarbigen Wolken. Ein breites träumend 
Sich-hernieder-senken der Melodie, ein duftiger Äther, der das 
heilige Bild, das wir erschauen sollen, umgibt — das ist der Anfang 
der Einleitung. Er ist ausschließlich den Violinen vorbehalten, 
die vom Komponisten in acht verschiedene Pulte geteilt sind und 
sich in den höchsten Lagen ihrer Register bewegen: 



Lohengrin. 



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Nr. 1. Langsam. 

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90 Lohengrin. 



Das Motiv wird hierauf von den sanftesten Blasinstrumenten 
aufgenommen, denen sich die Hörner und Fagotte zugesellen, und 
die zusammen das Einfallen der Trompeten und Posaunen vorbe- 
reiten. Letztere wiederholen die Melodie zum vierten Male mit 
einem wahrhaft blendenden Glänze des Kolorits, als wenn sich in 
diesem einzigen Momente der heilige Bau vor unseren geblendeten 
Augen in seiner ganzen leuchtenden und strahlenden Pracht erhoben 
hätte. Doch rasch, wie ein feuriges Meteor des Himmels, erlischt 
das bis zu dieser sonnenartigen Strahlenwerfung stufenweise ge- 
steigerte lebhafte Funkeln. Es verdichtet sich der durchsichtige 
Duft der Wolken, und nach und nach schwindet die Vision in den- 
selben vielfarbigen Dünsten, in deren Mitte es erschienen, womit 
das Stück mit den sechs ersten, nur noch ätherischer gewordenen 
Takten abschließt. Sein Charakter eines idealen Mystizismus macht 
sich durch das im Orchester durchweg vorwaltende piano fühlbar, 
welches selbst kaum während des kurzen Augenblicks, wo die Blech- 
instrumente die wundersamen Linien des einzigen Motivs dieser 
Introduktion noch glänzender hervorheben, unterbrochen wird. — 
Das ist das Bild, welches beim Hören dieses unvergleichlichen Ada- 
gios sich unseren tiefbewegten Sinnen darstellt. 

Schwieriger würde es sein, die Gefühle schildern zu wollen, die 
dasselbe erweckt, und die sich dem höchsten Entzücken nähern, 
dessen unser Herz fähig ist. Wenn, um uns die Seligkeiten der 
höchsten Sphären des Paradieses mit ihrer Schönheit zu schildern, 
Dante die in unzähligen Scharen sich zusammendrängenden Chöre 
der Seligen mit den Blättern einer Rose verglich, die alle nach dem- 
selben Mittelpunkte streben, so möchten wir den Eindruck, den 
dieses gleichsam von den mystischen Höhen des Empyreums herab- 
kiingende Adagio auf uns macht, in ein anderes Bild übersetzen 
und es mit der inbrünstigen Wonnetrunkenheit vergleichen, welche 
zweifelsohne der Anblick jener dem Aufenthalte der Seligen an- 
gehörenden mystischen Blumen, die — ganz Seele, ganz Göttlich- 
keit — ein wonnevolles Schauern des Glückes um sich her ver- 
breiten, in uns hervorrufen würde. Die Melodie erhebt sich anfangs 
wie der schmächtige, schlanke und zarte Kelch einer geschlossenen 
Blume, die sich dann lieblich zu einer breiten Harmonie entfaltet. 



Lohengrin. 91 



Obwohl der Zuschauer, vorbereitet, darauf verzichtet hat, irgend 
eines jener Stüclce zu sehen, die ohne inneren Zusammenhang eine 
Begebenheit nach der anderen an den Faden irgend einer Intrige 
reiht, was den Gehalt unserer gewöhnlichen Opern bildet, so wird 
er dennoch ein eigentümliches Interesse darin finden, während dreier 
langer Akte der tief durchdachten, erstaunenswert geschickten und 
poetisch verständigen Kombination zu folgen, mit der Wagner 
mittelst mehrerer Hauptsätze den melodischen Knoten seines ganzen 
Dramas geschürzt hat. Die Wendungen dieser Sätze sind, indem 
sie sich an und um die Worte des Gedichtes schmiegen, von er- 
greifendster Wirkung. Und doch — greift man, um sich klare 
Rechenschaft über das zu geben, was uns bei der lebendigen Dar- 
stellung so tief ergriffen hat, nach der Partitur dieses in seiner Art 
ganz ueuen Werkes, so ist man erstaunt und überrascht über die 
Fülle der Intentionen und feinen Nuancen, die man hier findet, und 
die vom Ohr unmöglich unmittelbar alle zugleich erfaßt werden 
können. Doch welches wären auch die Epopöen und Dramen großer 
Dichter, die keines langen und ernstlichen Studiums bedürften, um 
in ihrer ganzen Bedeutung erfaßt zu werden? 

Wagner gelang es durch ein von ihm in ganz unerwarteter 
Weise angewandtes Verfahren, das Gebiet und die Ansprüche der 
Musik zu erweitern. 

Wenig von der großen Macht befriedigt, welche sie über die 
Gemüter ausübt, indem sie die ganze Tonleiter der menschlichen 
Gefühle erklingen läßt und erweckt, macht er es ihr möglich, Ideen 
in uns anzuregen, zu unseren Gedanken zu sprechen, ja er verleiht 
ihr sogar einen moralischen und intellektuellen Sinn. Wir hatten 
schon in den „Hugenotten" die Rolle des Marcel gleichsam in den 
Choral Luthers inkrustiert gesehen, welcher nicht allein seinen 
Glauben, sondern auch die ganze unbiegsame Exaltation seines 
Geistes, den ganzen Sinn seiner Handlungen personifiziert. 

Wagner hat diese so glückliche Intention Meyerbeers noch 
übertroffen. Er hat den Charakter seiner Personen und ihre vor- 
züglichsten Leidenschaften durch Motive und Melodien gezeichnet, 
die im Gesänge oder im Orchester jedesmal, wo die von ihnen aus- 
gedrückten Leidenschaften und Gefühle in Tätigkeit sind, hervor- 



92 Lohengrin. 



treten!, worauf schon unser Essay über „Tannhäuser" aufmerksam 
gemacht hat. Diese systematische Durchführung ist mit einer 
Kunst der Verteilung verbunden, welche durch die hier entwickelte 
Feinheit der psychologischen, poetischen und philosophischen An- 
deutungen selbst solchen, denen die Achtel- und Sechzehntel-Noten 
tote Buchstaben und reine Hieroglyphen sind, ein sehr hohes Inter- 
esse einflößen müssen. Wagner zwingt unser Nachdenken und 
unser Gedächtnis zu einer fortwährenden Übung, wodurch er die 
Wirkung der Musik dem Gebiete unbestimmter Rührungen entreißt 
und ihren Reizen Genüsse des Verstandes hinzufügt. Infolge dieser 
Methode, welche durch eine Reihe seltener und unter sich geistig 
verbundener Gesänge die sonst leicht erzielte Befriedigung erschwert, 
fordert er vom Publikum besondere Aufmerksamkeit, berettet aber 
zu gleicher Zeit denen, die sich in seine Intentionen zu versenken 
vermögen, höhere Kunstfreuden. 

Seine Melodien sind gewissermaßen personifizierte Ideen. Ihre 
Wiederholung bezeichnet Geftihlsmomente, welche die Worte allein 
nicht vollständig aussprechen. Ihnen erteilt Wagner die Aufgabe, 
tms alle Geheimnisse des Herzens zu enthüllen. Es gibt einzelne 
Sätze, wie beispielsweise der Satz der ersten Szene des zweiten Aktes, 
welche die Oper wie eine giftige Schlange durchwinden, sich um 
ihre Opfer bald schlingen, bald sie fliehen angesichts ihrer heiligen 
Kämpen. Es gibt andere, wie in der Introduktion, die nur selten, 
aber in Verbindung mit den erhabensten göttlichen Offenbarungen 
wiederkehren. Die Situationen und Personen von irgend einer Wich- 
tigkeit sind musikalisch durch eine Melodie — oder ein Motiv — 
ausgedrückt, welche das sie beständig begleitende Symbol wird. 
Da nun diese Melodien oder Motive von seltener Schönheit sind, so 
behaupten wir gegenüber denen, die in der Beurteilung einer Par- 
titur sich einzig und allein auf die Beziehungen der Achtel- und 
Sechzehntel-Noten untereinander beschränken, daß, selbst wenn 
die Musik dieser Oper ihres schönen Textes beraubt wäre, sie den- 
noch ein Kunsterzeugnis ersten Ranges bleiben würde. 



» Die Leitmotive. D. H. 



Lohengrirr. 93 



Wenn der Vorhang aufgeht, sehen wir König Heinrich den 
Vogelsteller, dör in Brabant angekommen ist, um dessen Adel zu 
einem Heerzuge gegen die Ungarn zu entbieten. Die Szene spielt im 
10. Jahrhundert an den Ufern der Scheide, wo die Herzöge, Grafen 
und Ritter im Geleite ihrer Vasallen und Kriegsmannen sich um ihn 
versammelt haben. Heinrich hatte bei seiner Ankunft das Land 
durch Zwietracht und Haß der mächtigsten seiner Herren in Parteien 
zerrissen vorgefunden und befragt den Grafen Friedrich von Telra- 
mund, den tapfersten und ruhmgekröntesten von allen, um die 
Ursache dieser Zwiste. Friedrich berichtet; 



„Dank, König, dir, daß du zu richten kamst I 

Die Wahrheit künd' ich, Untreu' ist mir fremd, — 

Zum Sterben kam der Herzog von Brabant, 

und meinem Schutz empfahl er seine Kinder, 

Elsa, die Jungfrau, und Gottfried, den Knaben: 

Mit Treue pflog ich seiner großen Jugend, 

sein Leben war das Kleinod meiner Ehre. 

Ermiß nun, König, meinen grimmen Schmerz, 

als meiner Ehre Kleinod mir geraubt! 

Lustwandelnd führte Elsa einst den Knaben 

zum Wald, doch ohne ihn kehrte sie zurück; 

mit falscher Sorge frug sie nach dem Bruder, 

da sie, von ungefähr von ihm verirrt, 

bald seine Spur — so sprach sie — nicht mehr fand. 

Fruchtlos war all' Bemüh'n um den Verlorenen; 

als ich mit Drohen nun in Elsa drang, 

da ließ in bleichem Zagen und Erbeben 

der gräßlichen Schuld Bekenntnis sie uns seh'n. 

Es faßte mich Entsetzen vor der Magd: 

Dem Recht auf ihre Hand, vom Vater mir 

verliehen, entsagt' ich willig da und gern — 

und nahm ein Weib, das meinem Sinn gefiel, 

Ortrud, Radbods des Friesenfürsten Sproß.* 



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Nach diesen Worten stellt er dem Könige Ortrud vor, deren 
bitteres und spöttisches Lächeln, deren hochmütige Haltung, deren 
heuchlerisch demütiger, haßfunkelnder Blick ihre düstere und ehr« 
geizige Seele verrät, Friedrich fährt hierauf fort: 



94 



Lohengrin. 



,,Nun führ' ich Klage gegen Elsa von 

Brabant: des Brudermordes zeih' ich sie. 

Dies Land doch Sprech' ich für mich an mit Recht, 

da ich der Nächste von des Herzogs Blut, 

mein Weib jedoch aus dem Geschlecht, das einst 

auch diesem Lande seine Fürsten gab. — 

Du hörst die Klage. König, richte recht!'* 

Bei dieser Erzählung erwacht der Argwohn aller gegen Elsa, 
und der König bescheidet sie feierlichst vor seinen Richterstuhl. 

Kaum ist der Aufruf des Heerrufers verklungen, als auch an 
Stelle der stürmischen Diskordanzen des Orchesters eine äußerst 
liebliche, im zartesten Rhythmus gehaltene Melodie voll trostlosesten 
Schmerzes erklingt: 



Nn 2. Mäfiig langsam« 

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/^ 3. Fagott. Baßklar. 

und uns schon im voraus andeutet, wie rein, wie keusch und heilig die 
des Mordes, buhlerischer Liebe und strafbarer Vergehen angeklagte 
Jungfrau ist. Weiß gekleidet, umhüllt von einem langen schwarzen 
Schleier, schweigend, schüchtern, erschreckt durch das Gepränge, 
das sie umgibt, tritt sie vor. 

Der König fragt sie, ob sie ihn als ihren Richter anerkenne. Mit 
sicherem Blick erhebt sie das Auge zu ihm und antwortet mit be- 
jahendem Neigen des Kopfes. Dann fragt er sie, ob ihr bekannt, 
welcher Verbrechen sie angeklagt sei. Sich traurig gegen Friedrich 
wendend bejaht sie gleicherweise diese Frage. 



96 Lohengrin. 



„Was entgegnest du der Klage, Elsa von Brabant?" 

redet sie der König wieder an. Mit einer stummen Bewegung er- 
widert sie: ,,Nichts.'' Der große Kontrast zwischen den Greueln 
der genannten Verbrechen und der Erscheinung jungfräulicher Reiur 
heit der Prinzessin verwandelt bei den Umstehenden die Entrüstung 
in Zweifel. Von neuem fragt der König: 

„So bekennst du deine Schuld?" 
Ohne zu antworten, spricht sie mit einem Seufzer: 

„O mein armer Bruder I" 
Nach langem Schweigen fordert der königliche Richter die holde 
Angeklagte mit zarter Schonung auf, sich ihm voll Vertrauen zu ent- 
decken. Da scheint eine Art Verklärung sich über sie zu ergießen, 
und wie im Traum erzählt sie: 

;,Einsam in trüben Tagen 
hab' ich zu Oott gefleht, 
des Herzens tiefstes Klagen 
ergoß ich in Gebet. 
Da drang aus meinem Stöhnen 
ein Laut so klagevoil, 
der zu gewaltigem Tönen 
weit in die Lüfte schwoll: 
Ich hört' ihn fernhin hallen, 
bis kaum mein Ohr er traf; 
mein Aug' ist zugefallen, 
ich sank in süßen Schlaf." 

Man glaubt, daß sie fiebere, und der König ermahnt sie, an ihre 
Verteidigung zu denken. Sie fährt fort: 

„In lichter Waffen Scheine 
ein Ritter nahte da; 
so tugendlicher Reine 
ich keinen noch ersah. 
Ein golden Hörn zur Hüften, 
gelehnet auf sein Schwert — 
so trat er aus den Lüften 
zu mir, der Recke wert. 
Mit züchtigem Gebaren 
gab Tröstung er mir ein: 
Des Ritters will ich wahren, 
er soll mein Streiter seinl" 



Lohengrin. 



97 



Sowie sie die Worte spricht, welche die Erscheinung des Ritters 
schildern und verkünden, nimmt das Orchester, wie gemahnend an 
den heiligen Gral, vier Takte der Introduktion auf und geht dann zu 
einer Melodie über, die bestimmt ist, die Persönlichkeit Lohengrins 
zu kennzeichnen; denn dieselbe kehrt später immer wieder, sobald 
dieser tätig an der Handlung teilnimmt. Kriegerisch und doch mild, 
erklingt sie mit überwältigender Macht; sie ist meistens von Hörnern 
und Trompeten vertreten. — 

Friedrich spottet der Vision Elsas, und ihre Reinheit verleum- 
dend erbietet er sich, seine Anklage mit den Waffen in der Hand zu 
behaupten. Doch keiner der gegenwärtigen Ritter will dem Zorne 
Friedrichs verfallen, und keiner wagt darum, für Elsas Unschuld und 
für die Sache der Angeklagten in die Schranken zu treten. 

Indes gebietet der König, im Inneren schwankend, daß ein 
Gottesurteil entscheide, auf welcher Seite die Wahrheit, auf 
welcher die Lüge sei. Beifällig stimmen die Mannen diesem Befehle 
zu, wobei die Blechinstrumente ein Motiv von energischem und 
ernstem Rhythmus ertönen lassen, welches von jetzt an immer 
wiederkehrt, sobald sich die Handlung auf das Gottesurteil bezieht : 




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Friedrich und Elsa nehmen den Beschluß des Herrschers an, und 
als dieser Elsa fragt, wen sie zu ihrem Kämpen wähle, nimmt sie 
ihre unterbrochene Erzählung wieder auf und erklärt: dem sich zu 
ihrer Verteidigung anzuvertrauen, den sie im Traume gesehen. 

„Des Ritters will ich wahren, 
er soll mein Streiter seini — 
Hört, was dem Gottgesandten 
Ich biete für Gewähr: 
In meines Vaters Landen 
die Krone trage er; 

Li szt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 7 



98 



Lohengrin. 



mich glücklich soll ich preisen, 
nimmt er mein Gut dahin — 
will er Gemahl mich heißen, 
geb' ich ihm, was ich bin!" 

Der Herold läßt durch Trompeter den Aufruf nach allen vier 
Himmelsgegenden verkünden. 

Niemand erscheint. 

Elsa verlangt, daß man den Aufruf wiederhole, und spricht mit 
kindlicher Zuversicht: 



„Noch einen Ruf an meinen Ritter! 
wohl weilt er fern und hört mich nicht I'' 



dabei gibt sich das zurückgedrängte Schluchzen in ergreifender 
Weise durch die instrumentale Begleitung dieser Worte kund. 

Der Aufruf wird wiederholt. — Dasselbe Schweigen. — 

Schon beginnt man zu glauben, daß die also Verlassene des 
Schutzes Gottes unwürdig sei. Außer sich, in Verzweiflung wirft sie 
sich auf die Knie und fleht den Himmel mit erhobenen Händen 
an, ihr den verheißenen Verteidiger zu Hilfe zu senden — so, wie sie 
ihn im Traume sah. Nach diesen letzten Worten: „Wie ich ihn 
sah, sei er mir nahM*' fallen drei Trompeten pianissimo ein und 
wiederholen den Satz, den wir schon als ausschließlich Lohengrin 
bezeichnend angeführt haben — das Lohengrinmotiv — : 

Nr. 4. Mäfiig bewegt; 

3Hoboenund3Flöten (später, bei Lohengrin's Ankunft, 3 Trompeten). 




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100 Lohengrin. 



Plötzlich gewahrt man in noch weiter Feme einen Schwan auf 
den Wellen der Scheide, der einen Nachen zieht, in welchem sich 
ein Ritter befindet, gerüstet, wie ihn Elsa im Traume gesehen. Die 
Anwesenden brechen nach dem letzten Motiv in den Chorruf aus: 
„Ein Wunderl ein Wunder! ein Wunder ist gekommen! Ha, un- 
erhörtes, nie gesehenes Wunder! Gegrüßt, gegrüßt, du gottgesandter 
Held!" Je mehr sich der Nachen dem Ufer nähert, um so gewaltiger 
wird der Chor; er schwillt an, stärker und stärker, und erreicht end- 
lich eine Wirkung, die zu den mächtigsten gehört, die je die Ton- 
kunst hervorgebracht hat. 

Wagner behandelt seine Chöre mit der äußersten Sorgfalt. Die 
meisten sind achtstimmig in durchgeführten Stimmen geschrieben. 
Dieser Chor, welcher am staunenswertesten konzipiert und in seiner 
Steigerung am glücklichsten durchgeführt ist, wird außerdem noch 
besonders bemerkenswert durch den malerischen Schein der Wahr- 
heit, welcher aus diesen verteilten Stimmen hervorgeht. Die stau- 
nende Überraschung der einen, der fromme und naive Glauben der 
anderen, der Schrecken dritter, die Ergriffenheit aller gleichen indi- 
viduellen Ausrufen, und das Motiv, voll Pracht und Majestät, erhält 
in dem Crescendo dieser ungeheuren Entwickelung eine Gewalt, die 
diesen Moment vielleicht zu dem mächtigsten und dramatisch 
interessantesten des ganzen Werkes macht. Von dieser neuen 
Gattung der Musik und besonders von diesem bewunderungswür- 
digen Stück wurden selbst die Kühlsten und in Vorurteilen Befangen- 
sten hingerissen und entzückt. 

Sowie der Nachen an das Ufer stößt, wird das Motiv der Intro- 
duktion wieder durch zwei Takte angedeutet. Der Ritter wendet 
sich, sowie er seinen Fuß auf das Land gesetzt, an den Schwan und 
nimmt das Motiv in den ersten Takten eines Gesanges auf, der nur 
von einer unterbrochenen Terzenfolge der ersten Violine begleitet 
ist. Diese Monodie ist zart, melancholisch und vibrierend. Lohen- 
grin nimmt Abschied vom Schwan und gebietet ihm, auf den Fluten, 
die ihn hergeführt, wieder zurückzukehren in ihre gemeinsame 
glückliche Heimat. Diese Töne tragen so offenbar das Gepräge des 
Kummers, und das an seinen Führer gerichtete Lebewohl ist so 
von Trauer über sein Scheiden durchdrungen, daß man nicht zu 



Lohengrin. 101 



wissen braucht, wer der geheimnisvolle Held ist, um zu begreifen, 
daß er aus seligen Gefilden in das Land kommt, wo die Unschuld 
verfolgt wird und das Verbrechen triumphiert. 

Die Musik hat bisher noch niemals diesen Typus, den Maler und 
Dichter so oft wiederzugeben versuchten, besessen. Sie hat noch 
niemals dieses reine Empfinden, diese heilige Trauer ausgedrückt, 
welche die Engel und die dem Menschen überlegenen schuldlosen 
Wesen ergreifen mag, wenn sie aus dem Himmel verbannt nach 
unserem Aufenthalte der Trauer gesandt werden, um hier segens- 
reiche Sendungen zu vollbringen. Wir glauben nicht, daß die Musik 
in dieser Beziehung die anderen Künste mehr zu beneiden braucht; 
denn wir sind überzeugt, daß noch kein» derselben dieses Gefühl mit 
einer so hohen, ja himmlischen Vollendung wiederzugeben im- 
stande war. Ein großer Teil der Wirkung, die der Komponist hervor- 
gebracht, mag allerdings von dem Schmelz der Klangfarbe des 
Tenors abhängen, welcher allein aus der tiefen Stille sich nach dem 
Ausbruche der Begeisterung des letzten Chors, von dem der Saal 
noch widerhallt, erhebt. Doch wäre der Schmelz der Stimme auch 
nicht so zart, biegsam und silbern, wie man es wünschen muß, so 
würde die Schönheit der Melodie doch stets einen tiefen Eindruck 
hervorrufen. 

Indem Lohengrin vortritt, verkündet er, daß er gesandt sei, eine 
schwer beschuldigte Jungfrau zu verteidigen. Bei diesen Worten 
erklingt das Motiv der Introduktion — das Gralmotiv — , um an den 
zu erinnern, der ihn sandte. Er fragt Elsa: ob sie ihn als ihren 
Streiter annehme. Überwältigt stürzt sie schluchzend zu seinen 
Füßen und wiederholt in leidenschaftlicher Bewunderung ihre 
eigenen Worte, die sie einige Augenblicke vorher an ihren unbe- 
kannten Rächer gerichtet hatte: 

„Mein Heldl mein Retter I nimm mich hini 
Dir geb* ich alles, was ich bin!" 

Sie knien lassend, fragt er weiter: 

„Wenn ich im Kampfe für dich siege, 
Willst du wohl, daß ich dein Gatte sei?" 

Hier erklingt die an den heiligen Gral erinnernde Melodie zum 
letzten Male, wie ein leise verschwimmendes Echo. Erst am Schlüsse 



102 



Lohengrin. 



des Dramas kehrt dieselbe in ihrer ganzen Gewalt wieder. — Lohen- 
grin fährt mit steigender Feierlichkert fort und erklärt Elsa: 

„Elsa, soll ich dein Gatte heißen, 
soll Land und Leut* ich schirmen dir, 
soll nichts mich wieder von dir reißen, 
mußt eines du geloben mir: 
Nie sollst du mich befragen, 
noch Wissens Sorge tragen, 
woher ich kam der Fahrt, 
noch wie mein Nam' und ArtI" 

Wie leicht wird es Elsa, dieses Verlangen zu beschwören, und mit 
welchem Eifer spricht sie den Eid, nachdem der Ritter zum zweiten 
tAsile seine Formel mit gebieterischer Strenge wiederholt! 

Dieses Gebot drückt der Gesang in einem Satze aus, der natür- 
lich einer der wichtigsten der ganzen Oper sein muß, weil das ganze 
dramatische Interesse sich in dem Geheimnisse konzentriert, welches 
dasselbe birgt. Es besteht aus acht Takten eines Adagio, welches 
außerordentlich ergreifend und leicht erkennbar ist, selbst wenn 
nur das erste aus zwei Takten bestehende Glied — das Gebotmotiv 
— desselben wiederholt wird: 



Nr. 5. Etwas langsam. 

Lohengrin, 

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tra-gen, wo - her ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam'und Art. 




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Nachdem Elsa ihren Eid mit dem innigen Vertrauen eines de- 
mütigen Kindes ihrem mächtigen Verteidiger wiederholt hat^erhelH 
sie Lohengrin, und mit einer Bewegung voll triumphierender Frettde, 
als hätte sie eben eine Probe bestanden, schließt er sie in seine Arme 
und ruft ihr zu: 

„Elsa, ich liebe dichl" 

Dieses Wort voll Liebe und voll Bewunderung und verborgener 
Dankbarkeit ist, trotzdem ihm so große Angst, $6 lebhafte und 
stürmische Aufregungen vorausgegangen, außerordentlich einfach. 
Es erinnert durch seine beredte Kürze an die feierliche Einfachheit 
der alten Tragiker und gehört zu den ergreifendsten Momenten, 
welche im Repertoire der modernen Bühne zu finden sind. Lohen- 
grin, dessen wunderbare Dazwischenkunft ihn von Anfang an 2U 
einem Halbgott stempelt, enthüllt uns zugleich, daß die Macht, die 
seinem Arm eine übernatürliche Kraft verliehen, in dem Herzen 
ihrer Erwählten weder die Sehnsucht noch die Zärtlichkeit erstickt, 
und daß diese Zärtlichkeit so reine und hohe Freuden und Wonnen 
in sich birgt, daß sie selbst die Verbannung aus dem Bereiche der 
höchsten Seligkeiten ertragen läßt und dieses Tal der Tränen und 
Kümmernisse in ein Liebesparadies verwandeln kann. 



104 Lohengrin. 



Der König befiehlt den Kampf. 

Der Heerrufer verkündet ihn. 

Die Instrumente setzen wieder das rhythmische Motiv des 
Gottesurteils ein, das während des Kampfes einem Kanon ähnlich 
von den Blechinstrumenten und den Violoncellen und Kontrabässen 
des Orchesters ausgeführt wird, so daß man den wirklichen Kampf 
der Streiter zu vernehmen glaubt. 

Ehe die Kämpfer beginnen, spricht der König ein Gebet. Alle 
knien nieder und flehen die göttliche Gnade an, auf daß die Un- 
schuld gerächt und der Schuldige entdeckt werde. 

In diesem Augenblicke ist das sich auf der Szene darbietende 
Bild in der Tat bewunderungerregend. Elsa, entzückt, erhobenen 
Blickes, scheint den Himmel offen zu sehen, während man überrascht 
auf der anderen Seite des bis in die Mitte der Gruppe vorgetretenen 
Königs ein Haupt erblickt, das sich nicht in Andacht beugt. In der 
Nähe Friedrichs, welcher voll Zorn und unwillkürlichen Schreckens, 
der noch gemehrt wird durch die Zuflüsterungen seiner Freunde, 
die in ihn dringen, einen so fremdartigen Gegner nicht anzuerkennen, 
in gedrückter Haltung dasteht, kniet ein junges Weib, dessen Blicke 
Haß sprühen, und das, als der wunderbare Schwan erschien, einen 
Schrei des Schreckens ausgestoßen hatte. Es ist Ortrud, die des 
religiösen Auftritts zu spotten scheint, und deren stolzer und hohn- 
voller Gesichtsausdruck, so eigentümlich abstechend von dem aller 
anderen, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich zieht. 

Lohengrin ist Sieger und schenkt das Leben dem Besiegten mit 

den Worten: 

„Durch Gottes Sieg ist jetzt dein Leben mein: 
Ich schenk' es dirl magst du der Reu' es weih'nl" 

Sein charakteristisches Motiv, von allen das längste — denn es 
hat gegen zwölf Takte Adagio und vierundzwanzig Allegro — , kehrt 
mit Fanfaren wieder, und der Schlußchor nimmt es, einen halben 
Ton höher, in jubilierender Freude ungekürzt wieder auf. 

Elsa, gerettet, von der Schuld freigesprochen, stürzt in die Arme 
ihres Beschützers. In dem nun folgenden herrlichen Ensemble 
schweben ihre Stimme und ihre schönen Verse beständig über den 
anderen Stimmen, welche einerseits die freudige Genugtuung, die 



Lohengrin. 



106 



entzückte Verwunderung des Königs und der Menge ausdrücken, 
denen es widerstrebt hatte, dieses schöne Kind so schrecklicher Ver- 
brechen schuldig zu glauben, und andererseits die Scham, den ohn- 
mächtigen Grimm des besiegten Friedrich, das wütende Staunen, 
die Erbitterung und die Verwünschungen Ortruds wiedergeben, 
deren Bewegungen und Bücke in einem leidenschaftlichen stummen 
Spiele die Furcht und das Gewissenszagen des Grafen verscheucht 
und ihn zu diesem gottlosen Kampfe getrieben hatten. 

In der kurzen, dem zweiten Akt vorangehenden Instrumental- 
Introduktion begegnen sich zwei Motive. Das zum erstenmal auf- 
tretende Motiv ist eine jener Hauptphrasen, welche der Rolle Ortruds 
entsprechen und sich durch das ganze Drama hindurchziehen: 



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Nr. 6. Etwas langsam. 



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Es erscheint oft, wie in dieser Introduktion, die es votlständig 
bringt, von dem Motiv unterbrochen oder verfolgt, mit dem Lohen- 
grin das unwiderrufliche Verbot ausgesprochen hat. Man glaubt 
sich dabei vergegenwärtigen zu ifönnen, wie menschliche Boshdt 
sich gegen die Al'güte Gottes auflehnt 

Gegenüber den hell erleuchteten Fenstern des Palastes, in welchem 
man den Vorabend der Hochzeit Elsas festlich begeht, und aus dem 
eine Festmusik in einzelnen Stößen ertönt, sitzen auf den Stufen des 
Münsters in tiefstem Dunkel Friedrich und Ortrud. Sie »nd ihrer 
Güter beraubt, geächtet, elend gekleidet und bereit. In die Ver- 
bannung zu wandern. Ortrud, auf den steinernen Stufen nieder- 
gekauert, ihre Ellbogen auf die Knie gestützt, wendet kein Auge von 
den Fenstern des Palastes, als wolle sie in dem Schmerz angesichts 
dieses Schauspiels Gift zur Rache einsaugen. 

Der Graf von Telramund, ein Spielball der falschen Wissenschaft 
seines in den Künsten der Zauberei erfahrenen Weibes, wendet sich 
mit Haß und Verachtung gegen sie und beklagt nichts, als daD Ihm 



Lohengrfn. 107 



sein Schwert genommen und er nicht imstande sei, ihr Herz zu 
durchbohren. Mit meisterhafter Steigerung schildert er ihr die 
Schmach, der er verfallen, und wiederholt mit einem verzweifelten 
Schrei : 

»,Mein' Ehr* hab' ich verloren, 

Mein* Ehr*, mein' Ehr* ist hin!" 



Ortfud dagegen bewahrt das Übergewicht der über das Ver- 
brechen brütenden und die Ausbrüche der Verzweiflung bemit- 
leidenden Ruhe. Friedrich, durch diese scheinbare' Gleichgültiglceit 
auf das^ Äußerste gebracht, stürzt auf sie zu und will sie von Grauen 
ergriffen mit eigener Hand erwürgen; aber sie fragt ihn mit bitterer 
Verachtung, „ob er nur Weiber zu bekämpfen wisse". Unmutig 
entgegnet ihr der Ritter: 

„ — war's nicht dein Zeugnis, deine Kunde, 
die mich bestrickt, die Reine zu verklagen? 
Die du im düst'ren Waid zu Haus, logst du 
mir nicht, von deinem wilden Schlosse aus 
die Untat habest du verüben seh'n? 
Mit eignen Augen, wie Elsa selbst den Bruder 
im Weiher dort ertränkt? — Umstricktest du 
mein stolzes Herz durch die Weissagung nicht, 
bald würde Radbods alter Fürstenstamm 
von neuem grünen und herrschen in Brabant? 
Bewogst du so mich nicht, von Elsas Hand, 
der reinen, abzusteh'n und dich zum Weib 
zu nehmen, weil du Radbods letzter Sproß?" 

Dann weiter: 

„ — hat nicht durch sein Gericht 
Gott mich dafür geschlagen?'' 

„Gott?" schreit Ortrud, die Heidin, indem sie sich stolz auf- 
richtet, dieses Wort mit einem so fürchterlichen Hohne betonend, 
daß Friedrich entsetzt von ihr zurückweicht und nach einem unheil- 
vollen Schweigen endlich langsam sagt: 

„Wie tönt aus deinem Munde furchtbar der Name!" 

Ortrud. 
„Ha, nennst du deine Feigheit Gott?" 



108 Lohengrin. 



Friedrich. 

„Ortrudi" 
r t r u d. 

„Willst du mir droh'n? mir, einem Weibe, — droh'n? 
O Feigerl hättest du so grimmig ihm 
gedroht, der jetzt dich in das Elend schielet, 
wohl hättest Sieg statt Schande du erkauft 1 — 
Ha^ wer ihm zu entgegnen wüßt', der fand' 
ihn schwJicher als ein Kind!" 

Friedrich, der endlich von ihr zu dem Glauben gebracht wird, 
daß er nur den Künsten bösen Zaubers erlegen sei, fühlt, seinen 
Ehrgeiz, seinen Haß neu erwachen und seinen gesunkenen Mut 
zurückkehren. 

Nach und nach erlöschen die, Lichter im Palast, die Fenster 
werden dunkel. Wenn die Grausame zu dem schwachen Manne 
sagt: „Ich will dir erklären, wie wir ihre Nächte der Lust und der 
Ruhe in Nächte des Kummers verwandeln können", erscheint die 
musikalische Phrase wieder, welche die beiden letzten Akte wie ein 
ätzendes Gift durchzieht (Notenbeispiel Nr. 6). Ortrud entdeckt 
Friedrich, daß sie Elsa noch verderben könne; aber man müsse 
sie um jeden Preis dahin bringen, ihren Eid zu brechen und ihren 
Gatten nach seinem Namen und nach seinem Vaterland zu fragen. 
In diesem Moment erklingt das Gebotmotiv Lohengrins, um aber 
sogleich wieder von dem ersten verdrängt zu werden, das sich durch 
das ganze Duo bald in langsamer, bald in schneller Bewegung, bald 
entwickelt, bald verkürzt hindurchwindet und dem Finale als Ein- 

* 

leitung dienend über dasselbe einen erschreckenden Glanz breitet. 
Friedrich, bewegt von Leidenschaften, die seiner eigentlichen 
Natur fremd sind, gibt sich ungestümen Hoffnungen hin. Doch 
Ortrud verspottet sie und fordert ihn auf, von ihr zu lernen, die 
Freuden wollüstiger Rache mit Ruhe zu genießen. Doch wie 
soll man dem Leser die Art von Taumel schildern, welche eine 
widernatürliche Verbindung der Worte „Blutgier" und „liebewarm" 
hervorbringen muß, wenn beide mit dem ihrem Wesen entsprechen- 
den Ausdruck ausgesprochen werden. Dieser schroffe Gegensatz 
gibt dem Hasse den Anschein einer so dissonierenden, so schneiden- 
den Freude, daß man durch diese Töne ebenso heftig aufgeregt 



Lohengrin. 109 



wird, wie durch die lästerndste aller Blasphemien. Alles, was dem 
Menschen heilig, scheinen sie zu verhöhnen und sich zu weiden am 
Unglück und Verderben. 

Ortrud führt Friedrich mit einer abstoßenden und grell gegen 
die soeben itiit ihrem Gatten gewechselten Verwünschungen ab- 
stechenden Hingebung zu den obersten Stufen des Portikus des 
Münsters, des heiligen Zeugen dieser Höllenszene, zieht ihn zu sich 
nieder, umschlingt ihn verlangend mit ihren Armen, heftet aber ihre 
Blicke fest auf die letzten noch in den Fenstern des Palastes schim- 
mernden Lichter. So umfangen singen sie Worte der Rache, getragen, 
ernst und düster, deren Einklang die empörende Wirkung bestätigt, 
welche durch die schauerliche Umarmung hervorgerufen wurde, 
aus der Liebeslust das Band des Hasses webt und ihre Fackel an den 
Hoffnungen der Mitschuld entzündet. 

Nach beendetem Feste will Elsa nochmals in der Einsamkeit die 
Überfülle ihres Glückes genießen. Auf den Balkon tretend, wo sie 
glaubt, zu so später Stunde allein und unbeobachtet zu sein, trägt 
sie die Freude über ihre unerwartete Befreiung in die Stille der 
Nacht hinaus, deren Friede ihre Seligkeit einschließt. In einem Ton- 
stücke von unendlicher Zartheit vertraut sie dem Hauche der 
Abendwinde, die so oft ihre trostlosen Seufzer nach dem fernen 
Befreier getragen, die nun empfundenen Wonnen in Strophen an, 
deren Poesie nicht weniger ergreifend ist, als es die so berühmten 
Verse der Tragödie Schillers sind, die Maria Stuart — ebenfalls 
ein Opfer weiblichen Ehrgeizes und weiblicher Eifersucht — wenige 
Augenblicke vor der verhängnisvollen, über ihr Verderben ent- 
scheidenden Zusammenkunft den mit den Winden dahinfliehenden 
Wolken zuruft. 

Ortrud, Elsa erblickend, fordert Friedrich auf, sie zu verlassen, 
damit sie ihren tückischen Plan ausführen könne. Allein gibt sie 
sich Elsa zu erkennen und fleht sie um das Almosen ihres Mitleids 
an. Die edle Fürstin, ergriffen von dem Mißgeschick ihrer Ver- 
folgerin, will nicht, daß ihr Glück durch das Mißgeschick ihrer Feinde 
getrübt werde, und ihrer erbitterten Nebenbuhlerin entgegen- 
kommend, bietet sie ihr ein Asyl in ihrem eigenen Palaste an. Wäh- 
rend sie den Balkon verläßt, um zu Ortrud herunterzusteigen, ruft 



110 Lohengrin. 



diese mit einem heiseren Siegesschrei, wie eine Priesterin, die ge« 
wohnt ist, ihr Opfermesser in das Herz menschlicher Schiachtopfer 
zu tauchen, ihre Götter um Hilfe an, die Götter, die von ihren frü- 
heren Anbetern — jetzt Christen — verleugnet wurden. Sie ruft 
Wodan an, den Donnerer — Freia, die Zauberin — sie beschwört sie, 
ihren Verrat den Christen zum Verderben zu beschützen. Und eine 
solche Leidenschaft, ein solcher Zorn entströmt ihrer Seele, als 
wäre sie allen Höllengeistern preisgegeben. 

Voll heuchlerischer Demut vor Elsa, sobald diese erscheint, 
empfängt sie ihre Gaben und ihre Gastfreundschaft mit gleis- 
nerischem Dank, hinzufügend: 

„Wie kann ich solche Huld dir lohnen, 

da machtlos ich und elend bin? 

Soll ich in Gnaden bei dir wohnen, 

stets bleib' ich nur die Bettlerin. 

Nur eine Kraft ist mir gegeben, 

sie raubte mir kein Machtgebot; 

durch sie vielleicht schütz' ich dein Leben, 

bewahr* es vor der Reue Not." 

Dann flüstert sie ihr leise zur 

„Laß mich für dich zur Zukunft schau'n." 

Mit diesen Worten entschleiert die Orchestermusik die Absicht 

der gehässigen Zauberin, indem sie den Satz wieder andeutet, welcher 

in der letzten Szene das Gebotmotiv des Ritters durchkreuzt hat. 

Sie fährt fort: 

„Könntest du erfassen, 
wie dessen Art so wundersam, 
der nie dich möge so verlassen, 
wie er durch Zauber zu dir kam! 

Empört über diese Einflüsterung wendet sich Elsa stolz von ihr 
ab, aber nach einem Augenblick unschuldigen Nachdenkens kommt 
sie zurück zu Ortrud und sagt sanft: 

„Du Ärmste kannst wohl nie ermessen, 
wie zweifellos mein Herze liebt I 



Du hast wohl nie das Glück besessen, 
das sich uns nur durch Glauben gibtl 



Lohengrin. 111 



Kehr' bei mir ein! laß mich dich lehren, 
wie süß die Wonne reinster Treu'! 
Laß zu dem Glauben dich bekehren: 
CS gibt ein Glück, das ohne Reu'I" 

Ortrud hat die Schwelle der Türe überschritten, welche Elsas 
Erbarmen ihr geöffnet hat. Die Ruhe der Nacht tritt ein, bis der 
Tag zu dämmern beginnt. 

Jetzt hört man die Wachen sich von der Höhe der Türme ihre 
Signale geben, und der Ton ihrer Hörner wird von den entferntesten 
Posten wiederholt, was einen glücklichen Effekt des Echo hervor- 
bringt. Dieser kurze rhythmische Satz wird im Orchester durch 
Homer und Fagotte ausgeführt, an welche sich bald nachher die 
übrigen Blasinstrumente in einem lang gehaltenen Qrundtone des 
D-Akkords anschließen, beinahe dreißig Takte, während welcher 
das Crescendo immer lebendiger werdend dem Glänze des nahenden 
Morgens entspricht. 

Inzwischen öffnen sich die Tore der Stadt. Bürger und Krieger 
kommen und begegnen sich in immer größer werdender Zahl auf 
dem Hofplatz. Pagen und Diener gehen im Palaste aus und ein. 
Die Bewegung. wird immer lebendiger. 

Während alles in voller Regsamkeit ist, erscheint der Herold 
des Königs. Mit dem in C stehenden Trompetensatz — dem Königs- 
motiv — vereinigt sich pomphaft der Satz des Morgensignals, wel- 
cher vordem nach demselben Intervalle moduliert wurde. Der 
Herold im bizarren mittelalterlichen Kostüme seines Amtes ver- 
kündet dem Volke die Verbannung des Grafen von Telramund, die 
Vermählung Elsas, sowie „daß der Ritter, den Elsa eheliche, sich 
nicht Herzog, aber Beschützer von Brabant nennen wolle und er 
sich an die Spitze der brabantischen Edlen stellen werde, um sie zum 
königlichen Heere, zum Kampfe gegen die Ungarn zu führen". 
Der Chor antwortet mit lautem Rufe, der aus einem Bruchstück der 
kriegerischen, Lohengrin zugeeigneten Melodie gebildet ist: 

„Hoch der ersehnte Mann! 
Heil ihm, den Gott gesandt I 
Treu sind wir Untertan 
dem Schützer von Brabant." 



112 Lohengrin. 



Friedrich geht in diesem Augenblick über den Platz. Einige 
seiner treugebliebenen Freunde entziehen ihn den Blicken des 
Volkes und bringen ihn in das Münster. Bald darauf erscheinen 
Pagen oind Knechte, um in der Menge Platz für den Brautzug zu 
machen, der eben im Begriffe ist, nach der Kirche zu ziehen, wo Elsa 
mit Lohengrin verbunden werden soll. 

Das ganze Intermezzo — von dem Augenblicke an, wo Ortrud 
in Elsas Palast getreten ist, bis zum Erscheinen des Brautzuges — 
hat nur die Bestimmung, dem Zuhörer einen Ruhepunkt zu ge- 
währen. Es verlangt eine außerordentlich schöne Inszenierung, 
welche unser Theater in Weimar nicht ganz verwirklichen konnte. 
Das Auge muß fortwährend beschäftigt sein, so daß dieses malerische 
Schauspiel einen Gegensatz zu den Aufregungen bildet, in denen 
der Tonschöpfer fortwährend unsere Spannung erhalten hatte. Auf 
Bühnen, wo die Zahl der Statisten nicht hinreichend und ihr Kostüm 
nicht mannigfaltig ist, wo die einzelnen Gruppen nicht bewegt genug 
sind, um die Illusion der Wirklichkeit hervorbringen zu können, 
kann — wie sich nicht verhehlen läßt — diese Morgenszene leicht 
ermüdend wirken, namentlich da das Publikum, dessen Aufmerk- 
samkeit exciusiv durch die Musik in Anspruch genommen wurde, 
schon abgespannt ist, noch ehe die Prinzessin mit ihrem edlen und 
reichen Gefolge von hohen und mächtigen Damen mit ihren reich 
besetzten Gewändern, ihren gestickten Wappenschildern auf den 
Mänteln, mit den Baronen-, Grafen- und Herzogskronen, welche 
ihre Schleier auf dem Haupte halten, sich in Bewegung setzt. 

Elsa erscheint auf demselben Balkon, von dem sie in der Nacht 
herabgestiegen war, und zieht über die Galerien des Palastes, bis 
sie auf dem Platze ankommt. Hinter ihr wallt ein langer Zug nach 
dem Takte einer sanften und ernsten Musik, die bewundernswert 
der heiligen Zeremonie angepaßt ist, welche begangen werden soll. 
Die Weihe, welche sie atmet, die schöne und fromme Rührung, die 
sie erweckt, werden um so tiefer empfunden, als dieser milde und 
ernst bewegte Charakter durch den Gegensatz der kurz vorher- 
gehenden lebhaften und klaren Rhythmen nur noch mehr hervor- 
gehoben wird. Die Prinzessin, noch schöner im Schmuck der Krone 
und ihres silberdurchwebten Mantels, schreitet bewegt einher. 



Lohengriti. 113 



Das Orchester enthüllt uns alles, was in diesem Augenblick an 
frommen und zärtlichen Erregungen der Jungfrau Herz durchwogt. 
Die heilige und zugleich leidenschaftlich bewegte Jungfrau hält 
den Blick gesenkt; aber aus den Akkorden errät man die Gedanken, 
die ihre Seele beschäftigen. Ihr majestätisches Crescendo, fort^ 
während in der Doppelfärbung einer mystischen Inbrunst gehalten, 
läßt uns fühlen, wie strahlend und keusch die Blicke sind, die ihre 
Augenlider verschleiern. In der Tat: man kann gegenüber den 
schönen Wirkungen, welche durch die Verteilung der Gefühle an 
Musik und Wort — Orchester und Gesang — hervorgebracht sind, 
Indem die Instrumente uns enthüllen, was auszusprechen dem ge- 
sungenen Wort versagt bleibt, und umgekehrt das Wort — der 
Gesang — wieder da eintritt, wo die Instrumente allein nicht aus- 
reichend sind, die seltenen Hilfsmittel nicht genug bewundern, die 
dem J\iusiker-Dichter zu Gebote stehen. 

Unter den in Elsas Gefolge sich befindenden Edelfrauen ist die 

allein außerhalb des Zuges schreitende Ortrud am stattlichsten 

geschmückt. Ihre Züge aber zeigen den mit Gewalt unterdrückten 

wilden Aufruhr ihres Innern. In dem Moment, als die Braut sich 

den Stufen der Kirche nähert, stürzt Ortrud sich ihr entgegen und 

zwingt sie zurückzutreten, indem sie ihr mit beleidigendem Lachen 

entgegenruft: 

Ortrud. 
,,Zurück, Elsa! nicht länger will ich dulden, 
daß ich gleich einer Magd dir folgen soll! 
Den Vortritt sollst du überall mir schulden, 
vor mir dich beugen sollst du demutvolll" 

Die Edelknaben und Männer. 
„Was will das Weib?" 

Elsa, 
(heftig erschrocken) 

„Um Gott! was muß ich sch*n? 
welch jäher Wechsel ist mit dir gescheh'n?" 

Ortrud. 
„Weit eine Stund' idi meines Werts vergessen, 
glaubst du, ich müßte dir nur kriechend nah'n? 
Mein Leid zu rächen will ich mieh vermessen; 
was mir gebilfirt, das will ich nun empfidi'fl." 

Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 8 



114 Lohengrin. 



Elsa. 

„Weh! ließ ich durch dein Heucheln mich verleiten, 
die diese Nacht sich jammernd zu mir stahl? 
Wie willst du nun in Hochmut vor mir schreiten, 
du, eines Qottgerichteten Gemahl?" 

O r t r u d. 

„Wenn falsch' Gericht mir den Gemahl verbannte, 
war doch sein Nam' im Lande hochgeehrt; 
als aller Tugend Preis man ihn nur nannte, 
gekannt, gefürchtet war sein tapfres Schwert. 
Der deine, sag', wer sollte hier ihn kennen, 
vermagst du selbst den Namen nicht zu nennen? 



n 



Männer und Frauen, 
(in großer Bewegung) 

„Was sagt sie? Ha! was tut sie kund? — 
Sie lästert! wehret ihrem Mund!'* 

O r t r u d. 

„Kannst du ihn nennen? kannst du uns es sagen, 
ob sein Geschlecht, sein Adel wohl bewährt? 
woher die Fluten ihn zu dir getragen, 
wann und wohin er wieder von dir fährt? 
Ha, nein! wohl brächte ihm es schlimme Not: 
der kluge Held die Frage drob verbot!" 

Männer und Frauen. 

„Ha, spricht sie wahr? welch schwere Klagen! — 
Sie schmähet ihn! darf sie es wagen?" 

Elsa, 
(von großer Betroffenheit sich ermannend) 

„Du Lästererin! ruchlose Frau! 

Hör*, ob ich Antwort mir getrau'! — 

So rein und edel ist sein Wesen, 

so tugendreich der hehre Mann, 

daß nie des Unheils soll genesen, 

wer seiner Sendung zweifeln kann! 

Hat nicht durch Gott im Kampf geschlagen 

mein teurer Held den Gatten dein? 

Nun sollt nach Recht ihr alle sagen: 

wer kann da nur der Reine sein?" 



Lohengrin. 115 



Männer und Frauen. 
,,Nur er! nur er! dein Held alleinl" 

O r t r u d. 

,,Hal diese Reine deines Helden — 
wie wäre sie so bald getrübt, 
müßt' er des Zaubers Wesen melden, 
durch den hier solche Macht er übt! 
Wagst du ihn nicht darum zu fragen, 
so glauben alle wir mit Recht, 
du müssest selbst in Sorge zagen, 
um seine Reine steh' es schlecht!" 

Die Frauen. 
(Elsa unterstützend) 

„Helft ihr vor der Verruchten Haß!" 

Männer, 
(nach dem Hintergrund) 

„Macht Platz! macht Platz! der König naht!" 

In diesem Augenblick unterbrechen die Trompeten, welche das 
Erscheinen des Königs verkünden, die Schmähungen Ortruds. 
Dieser nähert sich mit Lohengrin, umgeben von Herren und Rittern, 
um sich nach dem Münster zu begeben. Als er vor der hoch erröteten 
und geängstigten Elsa ihre unversöhnliche Gegnerin gewahrt, tritt 
Lohengrin rasch auf sie zu und fragt sie um die Ursache ihrer Ver- 
wirrung. Sich hierauf gegen Ortrud wendend, um die verruchte 
Heidin auf immer aus der Gegenwart seiner Braut zu bannen, 
scheint er dieser zu zeigen, daß seine Sehergabe ihre boshaften An- 
schläge durchschaut habe. Denn während er ihr mit dem Wort 
entgegentritt: 

„Du fürchterliches Weib! Steh' ab von ihr! 
Hier wird dir nimmer Sieg!" — , 

ertönt gleichzeitig der Satz, welcher ihr gräßliches Duo mit Friedrich 
begleitet hatte. Lohengrin faßt die Hand Elsas und schreitet mit 
ihr zum Dom, in dem sie auf ewig vereint werden sollen. 

Da werden plötzlich die Tore des Portals stürmisch aufgerissen. 
Friedrich stürzt die Stufen herab und klagt seinen Sieger an, daß er 

8* 



116 Lohcngrin. 



nur durch Zauberei gesiegt habe. Sich an das Volk wendend ruft 
er ihm zu, Lohengrin den Eintritt in den Tempel xies Herrn zu ver- 
weigern : 

,,Gottes Gericht, es ward entehrt, betrogen, 
Durch eines Zauberers List seid ihr belogen!" 

Die vier Takte, welche den Kanon des Zweikampfes bildeten, 
kehren mit diesen Worten wieder. Friedrich verlangt, daß sein 
Gegner entdecke, „wer er sei, woher ihn der fremde Schwan ge- 
bracht". 

Lohengrin erwidert, „daß er, der Geächtete, kein Recht habe, 
Antwort zu fordern, daß Elsa allein ihn zwingen könne, dieses Ge- 
heimnis zu entdecken". Er wendet sich zu ihr und, sie ganz verwirrt 
sehend, sucht er sie zu beruhigen; doch gleich einer ernsten Mahnung 
ertönt das Qebotmotiv. Diesem Satze schließt sich das Ortrud- 
motiv in einem Ensemble an, in dem die Bestürzung und Bangig- 
keit, welche alle Personen ergriffen hat, schmerzlich pulsiert, aber 
im wesentlichen von den standhaften Hoffnungen des unversöhn- 
lichen, verbrecherischen und hochmütigen Paares beherrscht ist. 
Beide scheinen Mann gegen Mann auf das äußerste kämpfen zu 
wollen. Der letzte Satz gewinnt die Oberhand, als Friedrich sich 
unbemerkt Elsa nähert und ihr in das Ohr flüstert: 

„Vertraue mir! laß dir ein Mittel heißen, 
das dir Gewißheit schafft." 

Elsa, 
(erschrocken, doch leise) 

„Hinweg von mir!" 

Friedrich. 
„Laß mich das kleinste Glied ihm nur entreißen, 
des Fingers Spitze, und ich schwöre dir: 
was er dir hehlt, sollst frei du vor dir seh'n, — 
dir treu soll nie er dir von hinnen geh'n. 

Elsa. 
„Ha, nimmerm^r!" 

Friedrich. 

„Ich bin dir nah* zur Nacht — 
rufst du, ohn' Schaden ist es schnell vollbracht." 



Lohengrin. 117 



Das unheilvolle, giftschwangßre Motiv, aus einer langen, sech- 
zehntaktig gebildeten Periode bestehend, hat hier den höchsten 
Punkt dumpfer, in sich selbst erschauernder Heftigkeit erreicht und 
verschwindet erst jetzt. Als Lohengrin den Grafen bei Elsa gewahrt, 
stößt er ihn mit Heftigkeit fort, und diese fällt ihm zu Füßen, um 
seine Verzeihung zu erflehen. Er hebt sie auf und fragt sie ernst: 

„Läßt nicht des Zweifels Macht dich ruh'n? 
Willst du die Frage an mich tun?" 

Zu nahe ihrem Glücke, um dasselbe auf das Spiel setzen zu 
können, erwidert Elsa: 

„Mein Retter, der mir Heil gebracht! 
Mein Held, in dem ich muß vergehen! 
Hoch über alles Zweifels Macht 
. . . soll meine Liebe stch'nl" 

„Heil dirl" ruft Lohengrin freudebebend und wie von schwerem 
Druck befreit. Sie schreiten zur Kirche, Friedrich und Ortrud 
werden aus ihrem Wege entfernt; aber diese hebt noch mit einer 
spöttisch drohenden Bewegung die Hand gegen Elsa, und man sieht 
die Jungfrau, deren schwaches Herz die Tücke des Argwohns schon 
durchdrungen hat, dem Umsinken nahe. Durch eine minutiös sorg- 
fältig durchdachte und ebenso verständige Anwendung seines 
Systems läßt Wagner die trotzige Haltung Ortruds im Orchester 
mit dem mysteriösen Satze übereinstimmen, der jetzt wie eine 
unheilvolle Drohung grollt, bis die Fanfaren des Brautmarsches ihn 
allmählich übertönen. 

Das den dritten Akt einleitende Instrumental-Stück 
besteht aus mehr als hundert Takten in lebendigem Tempo. Es 
atmet Feststimmung und edle Heiterkeit. EMe allgemeine Volks- 
freude, die der feierlichen Trauung folgt, gibt sich darin kund. 
Man glaubt die Signale der Turniere und die glänzende Waffen- 
proben verkündenden Zinken zu vernehmen, die damals die Feste 
und Hochzeiten so hoher und mächtiger Herren verherrlichten. . 

Wir sehen dann das Brautgemach der Vermählten. Das Geleit 
der Frauen und das der Männer, mit dem Könige an ihrer Spitze, 
führen die Gatten durch entgegengesetzte Türen in dasselbe. Ihre 



118 Lohengrin. 



Gesänge durchziehen die Atmosphäre wie eine aus Weihrauch, 
Narden und Myrrhen bestehende Wolke, von der sich ein Duo ab- 
löst, das in Fluten von Melodien die reinste Wonnetrunkenheit der 
Liebe, ihre unaussprechliche Zärtlichkeit, ihr heiligstes Erschauem 
zart und duftig wie Äolsharfentöne ergießt. Die Hoheit, die Rein- 
heit, die zarten Ergüsse, die sich in dieser Szene äußern, können 
weder durch die Poesie noch durch den Gesang vollendeter und 
idealer ausgedrückt werden. 

Lohengrin. 

— „zum erstenmal allein, seit wir uns sah'n, 

nun sollen wir der Welt entronnen sein, 

kein Lauscher darf des Herzens Grüßen nah'n. — 

Elsa, mein Weibl Du süße reine Braut! 

Ob glücldich du, das sei mir nun vertraut!' 



I« 



Elsa. 

„Wie war' ich kalt, mich glücklich nur zu nennen, 
besitz' ich aller Himmel Seligkeit, 
führ ich zu dir so süß mein Herz entbrennen, 
atme ich Wonnen, die nur Gott verleiht!' 



1« 



Lohengrin segnet das Geschick, das ihn zu ihrem Kämpen be- 
stimmte, weil in ihr allein er sein Glück finden konnte. „ Ich sah dich 
schon im Traum vor deiner Ankunft", erwidert sie in derselben 
Melodie, die bereits im ersten Akte erklang, als sie den Traum, in 
welchem er ihr erschien, erzählte, und fährt dann fort: 

„Als ich nun wachend dich sah vor mir steh'n, 
erkannt' ich, daß du kamst auf Gottes Rat. 
Da wollte ich vor deinem Blick zerfließen, 
gleich einem Bach umwinden deinen Schritt; 
als eine Blume, duftend auf der Wiesen, 
wollt' ich entzückt mich beugen deinem Tritt. 
Ist dies nur Liebe? — Wie soll ich es nennen, 
dies Wort, so unaussprechlich wonnevoll, 
wie, ach! dein Name, den ich nie darf kennen, 
bei dem ich nie mein Höchstes nennen soll!" 

In dieser Anspielung bohrt schon die weibliche Neugierde an 
dem die junge Vermählte beunruhigenden Geheimnis und verleitet 
das naive Kind zu einer ungewöhnlichen Gewandtheit. Sie fährt fort : 



Lohengrin. 119 



,,Wie süß mein Name deinem Mund entgleitet I 
Gönnst du des deinen holden Klang mir nicht? 
Nur, wenn zur Liebesstille wir geleitet, 
sollst du gestatten, daß mein Mund ihn spricht. 



(( 



Lohengrin. 
„Mein süßes Weib!" 

Elsa. 
„ — einsam, wenn niemand wacht; 
nie sei der Welt es zu Gehör gebracht!" 

Lohengrin. 
(sie umfassend und an das Fenster tretend) 

„Atmest du nicht mit mir die süßen Düfte? 

wie so hold berauschen sie den Sinnl 

Geheimnisvoll sie nahen durch die Lüfte — 

fraglos geb' ihrem Zauber ich mich hin. 

So ist der Zauber, der mich dir verbunden, 

als ich zuerst, o Süße, dich ersah; 

nicht brauchte deine Art ich zu erkunden: 

dich sah mein Aug' — mein Herz begriff dich da. 

Wie mir die Düfte hold den Sinn berücken, 

nah'n sie mir gleich aus rätselvoller Nacht: 

so mußte deine Reine mich entzücken, 

traf ich dich auch in schwerer Schuld Verdacht." 

Dieses wunderbare Zwiegespräch der edlen Liebenden hat 
Wagner in so viel Schönheit getaucht, daß er selbst dieses sein Meister- 
werk kaum jemals wird übertreffen können. Schon dadurch allein 
hat er ein unbestreitbares Recht auf bleibenden Ruhm und auf den 
Platz, welchen die Zukunft ihm unter den großen Tonschöpfern 
vorbehält, begründet. 

Elsa ruft mit der Hingebung, welcher der Heroismus des Wei- 
bes ist: 

„Ach! könnt* ich deiner wert erscheinen! 

Müßt* ich nicht bloß vor dir vergehen! 

Könnt' ein Verdienst mich dir vereinen, 

dürft' ich in Pein für dich mich seh'n! 

Wie du mich trafst vor schwerer Klage, 

o! wüßte ich auch dich in Not, 

daß mutvoll ich ein Mühen trage, 

kennt' ich ein Sorgen, das dir droht!" 



120 Lahengrin. 



Man sieht sie so nach und nach dem Punkte sich nähern, den 
ihre begierige Angst erstrebt. Lohengrin versucht ihre innere Auf- 
regung mit nachsichtiger Zärtlichkeit zu beschwichtigen, aber mit 
jedem Worte nähert sie sich mehr und mehr dem Abgrunde 

Elsa. 

,,0, mach' mich stolz durch dein Vertrauen, 
daß ich in Unwert nicht vergeh' I 
Laß dein Geheimnis mich erschauen, 
daß, wer du bist, ich offen seh'!" 

Ernst entgegnet ihr Lohengrin: 

„Höchstes Vertrau'n hast du mir schon zu danken, 
da deinem Schwur ich Glauben gern gewährt: 
wirst nimmer du vor dem Gebote wanken, 
hoch über alle Frau'n dünkst du mich wertl" 

Nach diesen ernsten Worten sucht der strenge Gatte sie mit den 
süßesten Liebkosungen des hingehendsten Geliebten zu beschwich- 
tigen : 

„An meine Brust, du Süße, Reine! 
Sei meines Herzens Glühen nah, 
daß mich dein Auge sanft bescheine, 
in dem ich all mein Glück ersah! 
0, gönne mir, daß mit Entzücken 
ich deinen Atem sauge ein! 
laß fest, ach! fest an mich dich drücken, 
daß ich in dir mög' glücklich sein! 
Dein Lieben muß mir hoch entgelten 
für das, was ich um dich verließ; 
kein Los in Gottes weiten Welten 
wohl edler, als das meine hieß'/' 

Diese Worte sind von dem Gebotmotiv Lohengrins begleitet. 
Dieser fährt fort: 

Drum wolle stets den Zweifel meiden, 
dein Lieben sei mein stolz Gewähr; 
denn nicht komm' ich aus Nacht und Leiden, 
aus Glanz und Wonne komm' ich her." 

Elsa stößt einen Schrei des Entsetzens aus. Das düstere Motiv 
Ortruds, welches andeutend schon bei den Worten des Ritters: 



Lohengrin. 121 



„E>rum wolle stets den Zweifel meiden" auftauchte, kehrt noch 
heftiger als im zweiten Akte, als Friedrich und Ortrud ihre Rache 
beratschlagten, wieder. Denn das Fürchten der Liebe birgt größere 
Qualen, größere Angst und mehr Schmerzen in sich als alle Raserei 
des Neides. Der Argwohn, den Ortrud gesät, keimt und gärt. 
Verzweiflung faßt das schwache Weib. Trostlos spricht sie: 

,,Du kamst zu mir aus Wonnen 
und sehnest dich zurück l 
Wie soll ich Ärmste glauben, 
dir g'nüge meine Treu'? 
Ein Tag wird dich mir rauben 
durch deiner Liebe Reu'!" 

Vergebens sucht ihr Geliebter sie zu überzeugen, daß nur nagen- 
der Zweifel die fAacXit ihrer Liebe, die ihn an sie fesselt, erschüttern 
könne; fiebrische Glut verzehrt sie, Wahnsinn bemächtigt sich 
ihrer. Lohengrin will ihn bezwingen, doch gelingt es ihm nicht. 
Sie wähnt ein Geräusch zu vernehmen .... sie glaubt den Schwan 
zu sehen, der gekommen, um ihn ihren Armen zu entführen und, 
wie von Sinnen, bricht sie in düsterer Verblendung ihren Schwur. 

„Elsa, was willst du wagen?" 

ruft ihr der Ritter zu, während das Motiv seines Gebotes in Flam- 
menzügen auftaucht. Aber sie vernimmt nicht mehr die Worte 
ihres Heißgeliebten, sie trotzt ihm und ruft ihm zu: 

„Den Namen sag* mir an!" 



t* 



Woher die Fahrt!" 



„Wie deine Art!*' 

In diesem Augenblick schleicht sich Friedrich durch eine ver- 
steckte Türe mit gezogeneiti Schwerte, begleitet von vier Rittern in 
das Gemach. Elsa, wie plötzlich erwachend, reißt sich mit Entsetzen 
los von dem Verräter, der auf ihre weibliche Ungeduld, auf ihre 
liebevollen Besorgnisse und unüberwindliche Neugierde gebaut 
hatte, und reicht ihrem Gemahl, welcher die Meuchelmörder nicht 
eintreten sah, hastig das an das Ruhebett gelehnte Schwert, sich 
vor ihn hinwerfend, um ihn zu schützen. 



122 Lohengrin. 



Nach kurzem Kampfe streckt Lohengrin seinen Gegner tot zu 
seinen Füßen nieder. Es folgt ein langes Stillschweigen; dann zieht 
sich das verhängnisvolle, die menschliche Bosheit andeutende Motiv 
wie ein ersterbendes Stöhnen durch das Orchester, und sowie Lohen- 
grin den Genossen des Verrats zuruft: „Tragt den Erschlagenen vor 
des Königs Gericht!", wird der Satz des Zweikampfs wiederholt. 
Hierauf läßt er das Gefolge der ohnmächtig zusammengebrochenen 
Elsa eintreten und befiehlt ihm, auch sie vor den König zu geleiten, 
damit sie erfahre, wer ihr Gatte sei. Die Melodie seines Gebotes 
beschließt geheimnisvoll diese Szene. 

Ohne daß wir glauben möchten, daß sich der Autor, als er diese 
mit einem ganz besonderen, sich immer mehr steigernden und er- 
greifenden Interesse behandelte Episode seines Dramas schuf, durch 
die Analogie seines Vorwurfs mit den Sagen, die unter so ver- 
schiedenartigen Mythen die Neugier des Weibes als Ursache un- 
zähligen Unglücks bezeichnen, habe bestimmen lassen, ruft er sie 
doch unwillkürlich in unser Gedächtnis zurück. 

Wie viele Fiktionen haben nicht bald wie eine unbestimmte 
Erinnerung, bald wie eine weise Mahnung die mehr oder minder 
umständliche, aber stets anziehende Erzählung der verhängnis- 
vollen von der angeborenen Schwäche der Frauen herbeigeführten 
Katastrophen gesammelt und aufbewahrt? Unter wie vielen Formen 
hat nicht die Epopöe und die Geschichte dieselben bedauernswerten 
Folgen der unbändigen und unseligen Ungeduld der Frauen uns 
geschildert? Und doch — sooft eine solche Tragödie, wenn uns 
auch noch so unbekannt, dargestellt wird, erregt sie von neuem 
unsere ganze Teilnahme. Ihre Bedeutung und ihre Wahrheit haben 
nichts von ihrem Einflüsse auf jedes Herz eingebüßt. Wer leiht der 
Dalila nicht Züge, die ihm vielleicht teuer waren? Wer hat nicht 
in der neugierigen Pandora oder in der unvorsichtigen Kriemhilde 
verwandte und noch vorhandene Typen von Frauen erkannt, die 
das dem Geheimnis schuldige Schweigen nicht zu bewahren ver- 
stehen? Wie lachend oder auch wie düster die Phantasie der Völker 
sein mag, welche ihnen im Süden mehr Anmut, im Norden mehr 
Größe verleiht, so bedarf es nur der Verkettung fast immer ähnlicher 



Lohengrin. 123 



von der frevelnden Schönheit hervorgerufener Situationen, um in 
uns stets dieselbe Spannung und Sympathie zu erwecken. 

Der Autor, der mit jugendfrischem Hauche noch einmal die 
alte Sage belebte, folgte sicher nur dem Fluge seines poetischen 
Gefühls und kümmerte sich wenig darum, ob seine Auffassung sich 
seinen Vorgängern nähere oder sich von ihnen unterscheide; ebenso- 
wenig dachte er daran, diesen oder jenen Gedanken vorherrschen zu 
lassen, diesen oder jenen Schluß aus ihnen zu ziehen. Wagner ist 
wirklich zu sehr Dichter, um in seinen Dramen die Philosophie 
in Handlung umsetzen zu wollen. Er ist Dichter, das heißt: er 
gehorcht der Inspiration. Diese aber bewegt den Geist des Aus- 
erwählten, wie der Hauch Apollos sich der Pythia bemächtigte, um 
durch ihren Mund das Orakel des Tempels zu verkünden. Die- 
jenigen, welche niemals von dieser Begeisterung erfaßt wurden — 
eine slawische Sprache bezeichnet sogar Dichter und Seher mit 
demselben Wort — mögen witzig Tendenz- und beweisfüh- 
rende Gedichte schaffen; doch würden sie besser tun, sich an die 
trockene Polemik zu halten. 

Der Dichter, der nur schreibt, wenn der Gott ihn begeistert, wird 
nie seinen flammenden Dreifuß zum Lehrstuhl umgestalten. 

Überzeugen ist nicht seine Sendung. 

Vor allem will er uns tief rühren. Er will seinen Hörern das 
glühende Gefühl einimpfen, das ihn verzehrt. Er will sie die Tränen 
weinen lassen, die er weint. Er will sie hinreißen durch das Ent- 
zücken, das ihn ergreift. 

Wenn daher einer seiner Zuhörer, mächtig erfaßt durch des 
Dichters Visionen, es versucht, über die Folgereihe der Eindrücke 
nachzudenken, die er von dem bald geheimnisvollen, bald mehr- 
deutigen Orakel empfangen, durch welches die Kunst das Erhabene 
in ihren Meisterwerken offenbart — wenn er zu enträtseln sucht, 
worin sie sich gleichen, worin sie den schon vorhandenen poetischen 
Schöpfungen sich nähern, worin sie sich von denselben unterscheiden, 
so muß er stets darauf bedacht sein, nicht das Ergebnis seiner For- 
schungen der Absicht des Dichters zuzuschreiben. Wahre Dichter 
haben nur die eine Absicht, einen Funken des heiligen Feuers zu 
rauben, um die Gebilde ihrer Phantasie damit zu beleben l 



134 Lohengrin. 



Elsa fesselt uns vielleicht mehr als alle anderen schönen Neu- 
gierigen durch dti^ naive Reinheit, durch die glühende Hingebung 
und Demut ihrer Liebe. Sie ist, dem Himmel sei's gedankt l keine 
Klüglerin, keine Unabhängigkeitskämpferin, welche die 
Rechte des Weibes fordert und alles erkennen, alles beurteilen 
wollend notwendigerweise dem schönen Vorrechte des offenbarenden 
Hellsehens, des instinktiven Ahnens entsagt — einem Vorrechte, 
das nur dann dem Herzen bewilligt wird, wenn es, anstatt von dem 
Verstand aufgeklärt zu werden, diesen erleuchtet. Elsa sucht durchaus 
nicht in schönen Hexametern die Interessen ihrer Würde geltend zu 
machen. Sie liebt mit einer anbetungswürdigen Einfachheit, und nur 
die Furcht, ihren Gatten zu verlieren, treibt sie zur fieberhaften 
Aufregung, zum Ungehorsam, zum Meineid. Vor diesem Momente 
ihrer Verwirrung fühlte und verkündete sie die Identität der Liebe 
und des Glaubens. Jedes ihrer Worte atmete diese liebende Selbst- 
verleugnung, welche die Seele in ein absolutes Vertrauen und ein 
freiwilliges Gehorchen versenkt, in dessen Schoß der Zweifel keinen 
Raum findet. 

Die, welche lieben, — haben sie nicht auch ihre C artesische 
Formel, auf welche das ganze System ihres Gefühlslebens sich 
gründet? Das »cogito, ergo sum « — läßt es sich nicht übersetzen 
in: „Ich empfinde, also weiß ich*'? Die ebenso analytische 
als divinatorische Intelligenz der Griechen, welche die wertvollen 
Allegorien ihrer Mythologie so sorgfältig in bunte Zierraten ein- 
balsamierte, verkannte keineswegs die Allgewalt der Liebe, die sich 
von der Intelligenz lossagt und deren enge Grenzen schwungvoll 
überfliegt. Was uns selbst betrifft, so erblicken wir einen höheren 
Sinn in der vom Altertum um Amors Augen gelegten Binde, als die 
alltägliche Interpretation sie gibt. Die Liebe beruft sich wahrlich 
nicht auf sehende Augen, um die Schönheit und das Nahen des 
Gellebten zu erkennen. 

Elsa hatte sich durch diesen Glauben, der sich die Gewißheit des 
Herzens nennen läßt, zu ihrem mit übermenschlichen Eigenschaften 
begabten Geliebten erhoben, und wenn er ihr bis zuletzt seine Liebe 
bewahrt, so geschieht es, weil sie, sobald der Versucher erscheint, 
um ihre Neugierde zu befriedigen, vollste Reue empfindet. Ange- 



Lohengrin. 125 



sichts des Verräters erkennt sie den Irrtum, der sie zur Verbündeten 
des Hasses und der Bosheit machen wotlte. Sie weist nun die be- 
gehrte Antwort zurück — sie will unwissend bleiben. . . Sie 
fühlt die Größe ihrer glaubenden Unwissenheit, und zur natürlichen 
Klarheit ihres Wesens, zum Lichte und zur Kraft ihrer demütigen 
Unschuld zurückkehrend, stößt sie mit ungestümer Hast denjenig^ 
von sich, welcher sie das Oute und das Böse erkennen lassen wollte. 

Den Peripetien dieser pathetischen Szene folgt man mit um so 
größerer Spannung und Ergriffenheit, als das von Lohengrin ver- 
borgene Geheimnis so groß, so schön, so voll Liebe ist. Die Seele 
identifiziert sich gleichsam mit den mannigfachen Schmerzen dieses 
Kampfes, und in ihm ehi verwandtes Bild zu erkennen wähnend, 
flüstert sie den Namen: Psyche! 

Wenn der Glaube nicht die schönste Mitgift, der glänzendste 
Schmuck, das letzte Ziel aller Liebe ist: woher käme dann unsere 
Sympathie für dieses Weib, welches sich mit Entzücken einem Un* 
bekannten hingibt? Wenn man dem Gefühle das Recht abstreitet, 
„ahnend zu bestätigen, was die Vernunft nicht beweisen kann": 
würde es von ihr nicht eine Art Kleinmut statt Glaube gewesen sein, 
was sie zu ihm hinführte? Weshalb sind wir so gerührt, wenn wir 
Elsa mit engelhafter Reinheit von Mitleid für Ortrud, „die nicht 
glauben kann'*, ergriffen sehen? Wodurch würde sich unsere Genug* 
tuung erklären, wenn wir sie die Einflüsterungen Friedrichs ab- 
weisen sehen und Lohengrin antworten hSren: „Hoch über alles 
Zweifels Macht soll meine Liebe stehen."? Warum endlich finden 
wir sie erhaben, wenn sie, plötzlich ihrem Mißtrauen und Zweifel 
entsagend, darauf verzichtet, das Geheimnis, um dessen Enthüllung 
sie soeben noch gefleht, zu erfahren, wenn sie Lohengrin im Gegen- 
teil schützen, verteidigen will und denjenigen mit dem Schwerte 
zu bewaffnen eilt, den sie von k^ner wahren Gefahr bedroht glaubte? 
Wäre in der Liebe der verlangte und demjenigen, der mehr weiß 
und mehr vermag, so gern bewilligte Glaube nicht ein Gesetz, son- 
dern eine tyrannische Forderung: müßte dann nicht Elsa, um kon- 
sequent, heroisch, bewunderungswert und bewundert zu sein, darauf 
bestehen zu wissen, den zu kennen, zu beurteilen, der sie 
demütigte und erniedrigte, indem er auf ihre vertrauende Liebe 



126 Lohengrin. 



hoffte? — Die von der Poesie geleitete Fiktion hat demnach hier 
noch einmal als höchste Potenz der Leidenschaft, als ihre Blüte und 
gleichzeitig die in ihrem Kelch verschlossene Frucht dargestellt: 
den Glauben in der Liebel 

Indem Lohengrin das Brautgemach verläßt, fällt der Vorhang; 
die Szene verändert sich und zeigt dieselbe Ansicht, wie im ersten 
Akt. Die Barone, Grafen und Herzöge versammeln sich zu Roß, 
jeder das mit seinem Wappen und seinem Wahlspruch geschmückte 
Banner tragend, das er an seinem Platze aufpflanzt, und um das 
sich seine Mannen scharen. Eine rauschende, kriegerische Musik 
wird auf der Bühne durch acht in vier verschiedenen Tonarten 
stehende Trompeten — D, Es, E und F — ausgeführt, von denen 
jede einzeln in ihrem Tone auf einer das wüde Getümmel der Pferde 
nachahmenden Baßfigur eintritt. Letztere wird von allen Streich- 
instrumenten unisono ausgeführt. Sie fährt ohne Unterbrechung 
in Triolen mehr als hundert Takte fort, bis die vier Trompeten des 
Königs einfallen, welche, sooft er erscheint, stets dieselbe Fanfare 
— das schon erwähnte Königsmotiv — blasen. Dieses Mal werden 
sie von den Trompeten der Scharen der Edlen, von einer nach der 
anderen, begrüßt, die sich dann mit ihnen vereinigen, immer lär- 
mender erklingen, bis zuletzt alle gleichzeitig ertönen. Ihre raschen, 
sich zusammendrängenden Rhythmen bringen eine Art Jauchzen 
und Hurra hervor, an das sich ein verlängerter Trompetenwirbel 
anschließt. Das betäubende Schmettern und Wirbeln endet, sowie 
der König sich auf seinem unter einer alten Eiche aufgeschlagenen 
Throne niederläßt. Bald darauf bringt man auf einer Bahre die 
Leiche Friedrichs. 

Elsa naht, gesenkten Hauptes, niedergebeugt, verwirrt, und das 
Volk, erstaunt, bringt, während sie vorüberschreitet, ihr lobprei- 
send Huldigungen dar. Die Melodie des von Lohengrin an Elsa 
erlassenen Gebotes ertönt jetzt zum letzten Male: denn das Geheim- 
nis, das sie kennzeichnet, wird bald vor aller Augen enthüllt. Die 
Rufe bewundernden Beifalls, welche sich mit diesem musikalischen 
Satze verbinden, erinnern daran, wie sehr Elsas Größe auf ihrem 
Vertrauen, auf ihrem demütigen Gehorsam, ihrem treuen Schweigen 
beruhte! Der Chor singt: 



Lohengrin. 127 



„Sehtf Elsa naht, die tugendreiche! 
Wie ist ihr Antlitz trüb' und bleicher* 

und zum letzten Male vernimmt man auch die Melodie, welche 
während des zweiten Aktes so häufig wiedergekehrt war: die Melodie, 
welche die Verwünschungen Ortruds zu knirschender Wut steigerte. 
Das Werk der Sünde ist vollbracht — das Glück Elsas ist vernichtet! 
Die Trompeten decken diese düstere Färbung, das Lohengrin- 
motiv in dem Augenblicke intonierend, in welchem er erscheint und 
dem Könige, der mit seinem Gefolge glaubt, er komme, um sich 
dem Heere gegen die Feinde des Reiches anzuschließen, verkündet, 
daß er nicht in dieser Absicht, sondern als Ankläger erscheine. 

Lohengrin. 
„Mein Herr und König, laß dir melden: 
Die ich berief, die kühnen Helden, 
zum Streit sie führen darf ich nicht!" 

Alle Männer, 
(in größter Betroffenheit) 

„Hilf Gott! welch hartes Wort er spricht!" 

Lohengrin. 
Als Streitgenoß bin ich nicht hergekommen, 
als Kläger sei ich Jetzt von euch vernommen! — 
Zum ersten klage laut ich vor euch allen 
und frag' um Spruch nach Recht und Fug: 
Da dieser Mann mich nächtens überfallen, 
sagt, ob ich ihn mit Recht erschlug?" 
Er hat Friedrichs Leiche aufgedeckt: alle wenden sich mit Abscheu davon ab. 



Der König und alle Männer. 

(die Hand nach der Leiche ausstreckend) 
„Wie deine Hand ihn schlug auf Erden, 
soll dort ihm Gottes Strafe werden!" 

Lohengrin. 
„Zum and'ren aber sollt ihr Klage hören; 
denn aller Welt nun klag* ich laut: 
daß zum Verrat an mir sich ließ betören 
die Frau, die Gott mir angetraut." 

Alle Männer. 
„Elsa! wie mochte das geschehen! 
Wie konntest so du dich vergehen?" 



128 Lohengrin. 



Lohengrin. 

„Ihr hörtet alle, wie sie mir versprochen, 

daß nie sie woll' erfragen, wer ich bin. 

Nun hat sie ihren teuren Schwur gebrochen, 

treulosem Rat gab sie ihr Herz dahin! 

Zu lohnen ihres Herzens wildem Fragen 

sei nun die Antwort länger nicht gespart; 

des Feindes Drängen dürft' Ich sie versagen: 

nun muß ich künden, wie mein Nam' und Art. — 

Jetzt merket wohl, ob ich den Tag muß scheuen: 

vor aller Welt, vor König und vor Reich 

enthülle mein Geheimnis ich in Treuen. 

So hört, ob ich an Adel euch nicht gleich!" 

Während das Orchester das Motiv der ersten Introduktion in 
seiner ganzen Pracht wiedergibt, erzählt Lohengrin weltvergessen, 
verzückt, in einer verklärten Weise, die berauscht, wie der nächt- 
liche Duft eines in voller Blüte prangenden Orangenhaines: 

„In fernem Land, unnahbar euren Schritten, 

liegt eine Burg, die Monsalvat genannt; 

ein lichter Tempel stehet dort inmitten, 

so kostbar, wie auf Erden nichts bekannt: 

drin ein Gefäß von wundertät'gem Segen 

wird dort als höchstes Heiligtum bewacht. 

Es ward, daß sein der Menschen reinste pflegen, 

herab von einer Engelschar gebracht. 

Alljährlich naht vom Himmel eine Taube, 

um neu zu stärken seine Wunderkraft: 

es heißt der Gral, und selig reinster Glaube 

erteilt durch ihn sich seiner Ritterschaft. 

Wer nun dem Gral zu dienen ist erkoren, 

den rüstet er mit überird'scher Macht; 

an dem ist jedes Bösen Trug verloren: 

wenn ihn er sieht, weicht dem des Todes Nacht. 

Selbst wer von ihm in ferne Land' entsendet, 

zum Streiter für der Tugend Recht ernannt, 

dem wird nicht seine heiFge Kraft entwendet, 

bleibt als sein Ritter dort er unerkannt. 

So hehrer Art doch ist des Grales Segen, 

enthüllt — muß er des Laien Auge flieh'n; 

des Ritters drum sollt Zweifel ihr nicht hegen: 

erkennt ihr ihn, dann muß er von euch ziehen. — 



Lohengrjn. 129 



Nun hört, wie ich verbot'ner Frage lohne. 
Vom Gral ward ich zu euch daher gesandt: 
Mein Vater Parzival trägt seine Krone, 
sein Ritter ich — bin Lohengrin genannt." 

Das volle Unisono des ganzen Orchesters läßt hier seine Melodie 
mit einer so leuchtenden Kraft ertönen, daß wir uns die Fanfaren 
der himmlischen Heerscharen, unter denen der heilige Georg und der 
Erzengel Michael als Führer kämpfen, nicht herrlicher vorstellen 
können. Er fährt fort: 

„Nun höret noch, wie ich zu euch gekommen! — 

Ein klagend Tönen trug die Luft daher, 

daraus im Tempel wir sogleich vernommen, 

daß fem wo eine Magd in Drangsal war'. 

Als wir den Qral zu fragen nun beschickten, 

wohin ein Streiter zu entsenden sei, 

da auf der Flut wir einen Schwan erblickten; 

zu uns zog einen Nachen er herbei. 

Mein Vater, der erkannt des Schwanes Wesen, 

nahm ihn in Dienste nach des Orales Spruch: — 

denn wer ein Jahr nur seinem Dienst erlesen, 

dem weicht von dann ab Jedes Zaubers Fluch, 

Zunächst nun sollt' er mich dahin geleiten, 

woher zu uns der Klage Rufen kam; 

denn durch den Qral war ich erwählt zum Streiten, 

darum ich mutig von ihm Abschied nahm. 

Durch Flüsse und durch wilde Meereswogen 

hat mich der treue Schwan dem Ziel genaht, 

bis er zu euch ans Ufer mich gezogen, 

wo ihr in Oott mich alle landen saht." 

Diese lange Erzählung beschließt die Oper „Lohengrin", ebenso 
wie die Erzählung Tannhäusers das Werk, das seinen Namen trägt, 
beendigt. Aber diese ist düster wie die Verzweiflung, nagend wie 
die Reue, marternd wie die Folter des Gewissens. Alle Qualen 
unseres eigenen Herzens finden in ihr einen Ton: getäuschte Hoff- 
nungen, unaussprechliches Elend, grausame Ironie, vergällte Lust! 
In der Erzählung Lohengrins dagegen bricht in dem Maße, wie er 
iii der Erzählung fortfährt, die Morgenröte eines hellprangenden Tages 
an. Eine feierliche Ruhe ergreift die Seele, als verbreite sich strah- 
lend immer lebendiger und alles umfassend eine überirdische, mysti- 
sche Helle. Jeder Ton klingt wie ein Seufzer der Seligkeit, der 

Li szt, Gesammelte Schriften. IL V.A. 9 



130 Lohengrin. 



jenem Ort entsteigt, wo weder das Böse noch der Schmerz, weder 
Tod noch Verderbnis Zutritt haben — dem Ort, wo die Heiligkeit 
berufen ist, die ganze Fülle der unnennbaren himmlischen Wonnen 
zu genießen, wo die Seele der Erwählten schwelgt in der übermensch- 
lichen Verzückung, die der Anblick Gottes gewährt. 

Tannhäusers letzte Erzählung wird von Takt zu Takt düsterer, 
zerrissener, beklommener. Der Fluchbeladene ruft durch gottes- 
lästerliche Verwünschungen die dunkle Höhle herbei, aus der ver- 
führerische Töne zu ihm dringen und ihn zu ewiger Verdammnis 
locken. In Lohengrins letzter Erzählung dagegen tritt seine Gestalt 
immer leuchtender hervor, gleich Umrissen eines verklärten Körpers 
auf goldenem Grunde. Tapfer und stark, heilig und rein, alles Mensch- 
liche durch seinen mächtigen Geist überragend, enthüllt er unserer 
entzückten Betrachtung das Wesen eines engelgleichen Helden, 
eines göttlichen Boten, eines Unsterblichen, der, vor jeder Wunde 
und Schwäche gefeit, dennoch dem höchsten Leide preisgegeben ist 
— der grenzenlosen Trauer um zerstörtes Liebesglück. Dieses Leid, 
diese Trauer äußern sich ergreifend, wenn Lohengrin Elsa zum 
letztenmal an sein von ihr verkanntes Herz drückt und spricht: 

„O Elsal nur ein Jahr an deiner Seite 
hätt' ich als Zeuge deines Glücks ersehnt! 
Dann kehrte, selig in des Grals Geleite, 
dein Bruder wieder, den du tot gewähnt. — 
Kommt er dann heim, wenn ich ihm fern im Leben, 
dies Hörn, dies Schwert, den Ring sollst du ihm geben! 
Dies Hom soll in Gefahr ihm Hilfe schenken, 
in wildem Kampf dies Schwert ihm Sieg verleiht: 
Doch bei dem Ringe soll er mein gedenken, 
der einstens dich aus Schmach und Not befreit!" 

In dieser entsagenden, aber unüberwindlichen Grames vollen 
Klage bricht der höchste Schmerz einer männlich duldenden Seele 
hervor. Wagner scheint das selbst empfunden zu haben; denn er 
wiederholt diese Klage zweimal — eine seltene Ausnahme fn seinem 
Systeme musikalischer Deklamation. 

Das Volk, stumm, voll Bestürzung, sieht plötzlich den Schwan 
sich nahen, denselben Nachen mit sich führend. Das Motiv der 
Introduktion, das wieder ungekürzt erklingt, wird zum zweiten Male 



Lohengrin. 131 



durch das Lohengrin individualisierende Motiv unterbrochen, jetzt 
aber in eine weiche Tonart transponiert, in Betrübnis gehüllt, 
Trauer ausdrückend. 

Elsa stürzt zu den Füßen ihres Gatten, der ihr mit der ganzen 
Betrübnis der Liebe vorwirft, ihr beiderseitiges Glück zerstört und 
sein Herz geopfert zu haben. Der König, die Edlen, das Volk wollen 
ihn zurückhalten, allein er entgegnet: 

>,Schon sendet nach dem Säumigen der Gral." 

Als Elsa den Schwan erblickt, stößt sie einen Schrei der höchsten 
Angst aus. Lohengrin schreitet dem Ufer zu und sagt trauernd dem 
geheimnisvollen Schwan, daß er gehofft, ihn erst in Jahresfrist und 
in anderer Gestalt wiederzusehen. Es moduliert währenddessen die 
Melodie der ersten Introduktion mit einer Begleitung der Violinen 
im Tremolo, das wie das Säuseln des stillbewegten Hauches der Luft 
erklingt. Noch einmal wendet er sich zu Elsa, um zum letztenmal, 
bevor er von ihr scheidet, sie, seine süße Frau, zu umarmen. 

Als er sie verläßt, sinkt Elsa ohnmächtig nieder. Unerwartet 
erscheint plötzlich Ortrud neben ihr. Wie halb erstickt vor teuflischer 
Lust, zeigt sie ihr den Schwan und, um sie ganz der Verzweiflung 
preiszugeben, bereitet sie sich selbst den unfehlbaren Untergang, 
indem sie kreischend ruft: 

Ortrud. 

„Fahr' heim! fahr' heim, du stolzer Heide, 

daß Jubelnd ich der Törin melde, 

wer dich gezogen in dem Kahnl 

Das Kettlein hab' ich wohl erkannt, 

mit dem das Kind ich schuf zum Schwan: 

das war der Erbe von BrabantI" 

Alle. 
„Hai" 

Ortrud. 
(zu Elsa) 

„Dank, daß den Ritter du vertrieben! 
Nun gibt der Schwan ihm Heimgeleit: 
der Held, war' länger er geblieben, 
den Bruder hätt' er auch befreit." 

9* 



132 . Lohengrin. 



Alle. 

,, Abscheulich Weib! ha, welch Verbrechen 
hast du in frechem Hohn bekannt!" 

O r t r u d. 

,, Erfahrt, wie sich die Götter rächen, 
von deren Huld Ihr euch gewandt!' 



I« 



Bei diesem Schrei des wildesten Jubels läßt sich Lohengrin, der 
schon am Ufer des Stromes steht, zu einem stillen Gebete auf die 
Knie nieder, zugleich nimmt das Orchester das hoheitsvoll und 
feierlich klingende Motiv des heiligen Grals wieder auf. Der Schwan 
verschwindet in den Gewässern, und eine Taube schwebt hernieder 
und ergreift die Kette des Nachens. Aus den Fluten erhebt sich 
Gottfried von Brabant. Alle begrüßen den jungen Prinzen. 
Die Melodie Lohengrins fällt wieder ein und entfaltet sich majestä- 
tisch, bis er die Barke bestiegen, die dann, gezogen von der Taube, 
sich langsam entfernt. 

Elsa entwindet sich den Armen ihres Bruders Gottfried und will 
ihrem Gatten nacheilen, doch sieht sie ihn schon auf den Fluten 
dahinziehen. Die frühere Melodie tritt nun in weicher Moll-Tonart 
ein. Man glaubt zu hören, wie der Geliebte aus der Ferne ihren 
Abschiedsruf erwidert. Da stößt sie einen Schrei aus, sinkt hin 
und stirbt. 

IIL 

Mit dieser Darlegung glauben wir keineswegs das so große und 
so ergreifende Interesse dieses Dramas erschöpfend wiedergegeben, 
verständlich gemacht zu haben, wie Wagner seine Umrisse ent- 
schieden und doch zart zu zeichnen, sein Kolorit reich und doch 
weich zu geben verstand 1 welch tiefgehende Kenntnis der Dichter 
und Musiker gegenüber den künstlerischen Mitteln hier bekundet 
hat! Der Charakter der Personen ist bei dem einen wie bei dem 
anderen über alles bewunderungswürdig durchgeführt. Wagner 
hat es verstanden, mit einer Feinheit des Gefühles, die man nicht 
müde wird, in allen seinen Intentionen zu verfolgen, das göttliche, 
den Sieg seines Ritters kennzeichnende Element mit dem Charakter 



Lohengrin. 133 



der Tapferkeit, mit dem persönlichen Heldenmute zu verschmelzen, 
der ihn uns menschlich näher bringt, während er anderenfalls so 
leicht zu einem kalten Sendboten hätte werden können. 

Lohengrin tritt uns vom ersten Moment an bestimmt, ernst, 
gebieterisch und doch mild wie ein Heiliger der Legende entgegen. 
Der Geliebten gegenüber ist er duldsam. Seine Liebe umfängt sie 
mit dem blendenden Glanz, der von den Seligen ausstrahlt. Diese 
Seligkeit schien ein undankbares, schales Thema zu sein: so wenig 
war es bis jetzt gelungen, ihm ein wahres Interesse abzugewinnen. 
Hier aber hat das einförmig Unendliche zu einem der ergreifendsten 
Kunstwerke begeistert. Denn es wird sich schwerlich leugnen lassen, 
daß der dichterisch schönste Teil der Partitur gerade in diesem 
Thema liegt, welches vom Orchester zunächst in einer exquisiten 
Instrumentation entwickelt wird und wiederkehrt, sooft das wunder- 
hafte Einwirken des heiligen Grals die Handlung umschwebt und in 
uns die Ahnung jenes Parac^ses hervorruft, wo himmlische Liebe, 
nie endende Seligkeit und der Segen Gottes unbegrenzt herrschen. 

Elsa, eine glühende und schwache Seeie, träumt, betet, liebt 
und findet erhabene Laute, in denen sie ihr Lieben, Beten, Träu- 
men hervorstammelt. Ihr Gesang ist wie der sich im Takte bewe- 
gende Hauch magnetischen Atems. Er verliert sich im Unendlichen, 
ähnlich wie am weiten Horizont blaue Wellen mit einem blauen 
Himmel zusammenfließen. Ihre Begegnung mit Ortrud, die auf deren 
tobende Anrufungen ihrer Götter folgt, mit diesem Dämon von 
Frau, die wir so oft „ein fürchterliches Weib" nennen hören, darf 
als eine musikalische Übertragung des Bildes von der heiligen Mac- 
garetha gelten : die Heilige mit den kristallreinen, feuchten Augen 
voll sanfter Güte, umgeben von häßlichen Reptilien, welche 
zischend die Füße der ihrem tödlichen Stachel geweihten Märtyrer- 
Jungfrau umringein. 

Ortrud ist eine von den ruchlosen Alltagstypen unserer Bühnen 
so verschiedene Schöpfung, daß sie bestimmt scheint, eines Tages 
neben einer Lady Macbeth, einer Margaretha von Anjou ihren Platz 
zu erhalten, wie Elsa neben Miltons Eva oder deV antiken Psyche. 

Friedrichs Rolle ist, obwohl es so scheinen mag, keineswegs 
eine untergeordnete. Bestrickt durch die Weissagungen, vertrauend 



134 Lohengrin. 



auf die geheime Wissenschaft seiner Frau, ist er im Unglück voll 
Gewissensbisse; denn er hatte sich nicht entwürdigen wollen. Er 
beklagt seine verlorene Ehre; er glaubt an den Gott, den Ortrud 
schmäht. Und nur dadurch, daß sie ihm vorspiegelt, die Kraft seines 
Gegners sei keine von Oben, bringt sie ihn so weit, daß er die ihm 
widerfahrene Ungerechtigkeit rächen will, das Ziel seiner hochfahren- 
den Wünsche wieder zu erreichen strebt, und in ohnmächtigem Zorn 
der Verzweiflung anheimfällt. 

Sollten dramatische Musiker vielleicht geneigt sein, dem Libretto 
des „Tannhäuser'' oder dem des „Fliegenden Holländer" als gleich 
poetisch in ihrer Anlage und in der Schönheit ihrer Verse, dabei 
aber von einem mit ihrer Kunst leichter in Einklang zu setzenden 
Wesen den Vorzug vor dem des „Lohengrin'' zu geben, so werden 
die dramatischen Dichter dagegen das letztere Gedicht über alle 
stellen müssen, die Wagner bis jetzt geschaffen hat. Sein litera- 
risches Verdienst genügt, um den Verfasser unter die mit wahrhaft 
tragischem Sinn begabten Schriftsteller zu setzen. Neben tief er- 
greifenden Versen, packenden Ausrufungen, neben einem Dialoge, 
in welchem die geheimen Triebfedern der Personen sich äußerst 
geschickt in den Wendungen der Gedanken verraten, ist die Ver- 
sifikation an und für sich nicht allein klangvoll und schön, der Stil 
edel und den Charakteren angemessen, sondern das Drama entlehnt 
noch außerdem eigentümliche Reflexe des Mittelalters durch die 
Reproduktion altdeutscher Sprachwendungen und den Gebrauch 
vieler Worte, die, ohne vollständig vergessen zu sein, doch den 
Stempel des Altertümlichen tragen. 

Ebenso ist der Takt und der gute Geschmack besonders zu er- 
wähnen, mit welchem diese Nachahmung sich nur auf leicht faß- 
bare Wendungen beschränkt, die selbst für solche, welche in die 
Geheimnisse des gelehrten Archaismus nicht eingeweiht sind, ver- 
ständlich bleiben. Er ist nie so weit getrieben, daß das Verständnis 
des Gedichtes erschwert würde. Doch begnügt sich Wagner nicht 
damit, dem Ohre die alten Assonanzen zurückzurufen. Auch in der 
Art die Buchstaben zu ordnen setzt er diese Imitation fort, und wie 
die alten Poeten, Wolfram von Eschenbach und andere, fängt 
er nicht jeden Vers mit großem Anfangsbuchstaben an. Es sind das 



Lohengrin. 135 



unbedeutende Einzelheiten; aber sie fallen auf, sowie man das 
Textbuch des „Lohengrin" in die Hand nimmt. 

Die Obereinstimmung aller dieser Eindrücke führt uns so leben- 
dig in die Zeit und ihre von Wagner neu belebten Glaubensan- 
sichten zurück, daß wir nicht überrascht sein würden, wenn der mit 
lebendiger und warmer Phantasie begabte Teil des Publikums das 
Opernhaus fast überzeugt von der Existenz des heiligen Grals, seines 
Tempels, seiner Ritter und seiner unendlichen Seligkeit verlassen 
würde. 

Die Musik dieser Oper hat als Hauptcharakter eine solche Ein- 
heit der Konzeption und des Stils, daß es in derselben keine me- 
lodische Phrase und noch viel weniger ein Ensemblestück oder 
irgend eine Passage gibt, die getrennt vom Ganzen in ihrer Eigen- 
tümlichkeit und in ihrem wahren Sinne verstanden werden kann. 
Alles verbindet, alles verkettet, alles steigert sich. Alles ist mit dem 
Sujet auf das engste verwachsen und kann nicht von demselben 
losgelöst werden. Es würde sogar schwer sein, selbst bedeutende 
Bruchstücke dieser Tondichtung, in welcher keine Mosaik, nichts 
eingeschaltet, nichts Überflüssiges enthalten ist, gerecht zu be- 
urteilen; denn alles verkettet sich in derselben und greift ineinander 
wie die Maschen eines Netzes. Alles ist hier genau erwogen und 
folgerichtig bestimmt, jeder Harmonienfoige geht der mit ihr korre- 
spondierende Gedanke voraus oder folgt ihr — eine durch ihre syste- 
matische Strenge wesentlich deutsche Prämeditation, die uns von 
diesem großen Werke sagen läßt, daß es zu den durchdachtesten 
aller Inspirationen gehört. 

Übrigens ist es nicht schwer, sich Rechenschaft darüber zu geben, 
warum jede aus dem Werke herausgenommene Episode an Reiz 
verlieren muß, wenn man sich das Prinzip in das Gedächtnis zurück- 
ruft, nach welchem Wagner durch Musik Rollen und Ideen per- 
sonifiziert. Die Anwendung der fünf Hauptmotive — das heilige 
Gralmotiv der Instrumentaleinleitung der Oper; das Gottes- 
urteilmotiv, das man bei Verkündigung des ersteren vernimmt; 
das Lohengrin motiv, sein Erscheinen begleitend; das Verbot- 
motiv, das mit der Erklärung an Elsa eintritt; endlich dasOrtrud- 
motiv, welches mit ihren unheilvollen Drohungen ertönt — , sowie 



136 Lohengrin. 



die häufigen, aber stets begründeten Wiederholungen der Neben- 
motive erlaubt natürlich nur dann dem dramatischen Gedanken 
vollständig zu folgen und das Interesse, welches dieser so neue, so 
bestimmte und in allen Beziehungen so klare Aufbau hervorruft, 
ganz zu empfinden, wenn man dahin gelangt ist, in alle Feinheiten 
dieses schönen Denkmals sowie in alle in der allgemeinen Anlage 
seines Planes verborgenen Intentionen eindringen zu können. 

Es gibt Menschen, die mit Hilfe einer einzigen Idee, einer ein- 
zigen Erfindung, einer einzigen anscheinend nur kleinen Entdeckung 
ungeheure Veränderungen in der Sphäre, in welcher diese Ent- 
deckungen liegen, hervorrufen^ Wieder andere erweitern das Wissen 
ihrer Vorgänger und vergrößern das Gebiet, auf dem ihr Gedanke 
arbeitet, durch eine bis dahin nicht angewandte Koordination, von 
bereits vorhandenen Dingen, ohne ihnen gerade ein neues Faktum 
oder ein noch unbekanntes Element zugefügt zu haben. 

Wagner ist ein Neuerer, wie diese letzteren. Sein System 
knüpft durch die Bedeutung, welche er der dramatischen Dekla- 
mation beilegt, an die Tradition Glucks, sowie durch die lyrische 
Deklamation und die sorgsame Ausarbeitung der Instrumentation 
an diejenige Webers. 

Wagner würde sicher die Dedikationsschrift der „Alceste" ge* 
schrieben haben, hätte es Gluck nicht schon getan. Die großen 
hier niedergelegten dramatischen Ideen belegen das. Diese Dedi- 
kation lautet in ihren Hauptsätzen: 

„Als ich den Entschluß faßte, die Oper Alceste in Musik zu 
setzen, nahm ich mir vor, alle Mißbräuche, welche die übel ange? 
brachte Eitelkeit der Sänger und die zu nachgiebige Gefälligkeit 
der Komponisten in die italienische Oper eingeführt, und womit 
sie aus dem prachtvollsten und schönsten der Schauspiele das lang- 
weiligste und lächerlichste gemacht hatten, zu vermeiden. 

„Ich versuchte es, die Musik auf ihren wahren Beruf zurückzu- 
führen, nämlich : die Poesie zu unterstützen, um den Ausdruck der 
Gefühle, das Interesse der Situationen zu kräftigen, ohne die Hand- 
lung zu unterbrechen und sie durch überflüssige Verzierungen kälter 
zu machen. Ich glaubte, die Musik müsse der Poesie geben, was 
einer richtigen und vernünftig komponierten Zeichnung die Lebendig- 



Lohengrin. 1:37 



keit des Kolorits, die glückliche Übereinstimmung der Lichter 
und Schatten verleiht, welche hur dazu dienen^ die Figuren zu be^ 
leben, ohne ihre Umrisse zu verändern.. Ich habe mich daher wohl 
gehütet, einen Schauspieler im Flusse seines Dialogs zu unterbrechen, 
um ihn ein langweiliges Ritornell anhören oder ihn in der Mitte 
seiner Rede auf einem günstigen Vokale ruhen zu lassen, sei es, 
um in einer langen Passage die Geläufigkeit seiner schönen Stimme 
zu entwickeln, sei es, um zu warten, daß das Orchester ihm die 
Zeit gebe, Atem zu holen, um eine Kadenz zu machen. 

„Auch habe ich nicht geglaubt, rasch über den: zweiten. Teil 
einer Arie hingehen zu müssen, wenn dieser zweite Teil der wichtigste 
war, um regelmäßig viermal die Worte der Arie zu wiederholen, 
noch die Arie endigen zu dürfen, wenn der Sinn nicht beendigt 
ist, um. dem Sänger die Möglichkeit zu geben^ zu zeigen, daß er 
nach seinem Gutdünken irgend eine Passage in mehreren Weisen 
variieren kann. 

„Endlich habe ich alle die Mißbräuche verbannen wollen, gegen 
welche sich schon seit so langer Zeit der gesunde Verstand und der 
gute Geschmack aussprachen. 

„Ich habe mir vorgestellt, daß die Ouvertüre diie Zuhörer über 
den Charakter der Handlung, die sich vor ihren Augen entwickeln 
soll, belehren und ihnen das Sujet derselben angeben müßte; daß 
die Instrumente nur in Anwendung gebracht werden müßten im 
Verhältnisse des Grades des Interesses und der Leidenschaft, und 
daß besonders zu vermeiden wäre, im Dialog einen zu schroffen 
Übergang zwischen der Arie und dem Rezitativ vorwalten zu lassen, 
um nicht die Perioden ganz unverständig zu verstümmeln und 
störend die Bewegung und das Feuer der -Szene zu unterbrechen.. 

„Ich habe weiter geglaubt, daß der größte Teil meiner Arbeit 
sich darauf beschränken müßte, eine schöne Einfachheit zu suchen, 
und, ich habe es wohl vermieden, mit Schwierigkeiten auf Kosten 
der Klarheit Parade zu machen; ich habe keinerlei Wert auf die 
Entdeckung irgend einer Neuerung gelegt, wenn; sie nicht natür- 
lich, durch die Situation gegeben und mit dem Ausdrucke verbunden 
war; endlich gibt es keine Regel, welche ich nicht ohne Wider^ 
streben zugunsten der Wirkung opfern zu müssen geglaubt habe.*' 



138 Lohengrin. 



Wagner hat die hier ausgesprochenen Ideen zu den seinen 
gemacht, aber in der Praxis der Theorien übertrifft er Gluck, 
wie er Weber übertrifft. Mit seltenem Glücke und mit kühnstem 
Verstände bemächtigte er sich aller Errungenschaften, welche die 
Musik seit dem Tode dieser großen Männer gemacht hat, benutzte 
er alle Hilfsmittel, welche die so sehr verbesserten und neuen 
Instrumente, sowie ihre schöne durch Meyerbeer und besonders 
durch Berlioz erreichte Anwendung nur immer möglich machen, 
und versuchte alle seinem Zwecke dienenden, dem Fortschritt 
der neueren Zeit zu verdankenden Mittel zu einem großartigeren 
Systeme als dem Glucks, durch ein absoluteres Prinzip als das 
Webers, um den dichterischen Gedanken in Vordergrund zu 
stellen und ihm sowohl Gesang wie Orchester unterzuordnen. 

Solange man Wagners Partituren nicht gesehen und ge- 
hört, solange man ihre gelehrte Faktur und ihre szenische Wirkung 
nicht studiert hat, ist es nicht so ganz leicht, sich eine richtige Vor- 
stellung von dem Resultate zu machen, das er durch das voll- 
ständige Aufgehen von Wort und Ton ineinander erlangt hat. Er 
ist gleichzeitig ein ebenso außergewöhnlicher Symphonist wie großer 
Dramatiker. Durch diese Konzentrierung so seltener und ver- 
schiedenartiger Eigenschaften schuf er ein Ensemble, das gefallen 
oder mißfallen kann, das aber, wie niemand leugnen wird, sowohl 
in seiner kolossalen Konzeption, wie im kleinsten seiner Details 
ein ebenso logisqhes wie vollkommenes Ensemble bildet. Wenn 
Frau von StaSI die Musik eine »architecture de sons« — eine 
Architektur von Tönen — nennt, mag es uns gestattet sein, die Struk- 
tur der herrlichen Bauten Wagners mit einem architektonischoi 
System zu vergleichen — einem System, an welchem weder seine 
Anhänger noch seine Widersacher das mindeste ändern können, ohne 
daß dasselbe den ganzen Charakter seines Stiles verlieren würde. 
Nachdem wir es versucht haben, dem Leser den schöpferischen 
Urgedanken des dramatischen Systems Wagners zum Verständnis 
zu bringen — ein Gedanke, der die von Gluck manifestierten 
Wünsche und Bestrebungen, eine wahrhafte Verschmelzung der 
Wirkungen der Poesie und der Musik zu erreichen, bis zum Spiel 
der Darsteller erweiterte, von denen er eine tiefe Kenntnis ihrer 



Lohengrin. 139 



Kunst verlangt, so daß die Feinheiten der instrumentalen Be- 
gleitung mit ihren stummen Gesten übereinstimmen und schon 
ihre Gegenwart in gewissen Szenen als ein symphonisches 
Motiv erscheint: — wird es uns weniger leicht sein, ihm einen 
Einblick in die Art und Weise der Instrumentation dieses Kom- 
ponisten zu eröffnen; doch können wir hier nur einige bezeichnende 
Züge anführen, wie beispielsweise die sehr markierte Einteilung 
des Orchesters in drei bestimmt unterschiedene Gruppen: die der 
Streichinstrumente, der Blasinstrumente und der Blechinstrumente. 
Statt diese Gruppen zu vereinigen oder nur nach dem konventionellen 
und zufälligen Gebrauch zu teilen, teilt Wagner sie korpsweise, indem 
er sorgfältig die Klangwirkungen mit dem Charakter der Situationen 
und der Personen seines Dramas in Übereinstimmung bringt. Diese Ein- 
teilung ist eine der hervorstechendsten, sofort auffälligen Neuerungen. 
' Gegenüber der konsequenten Durchführung derselben wird es 
kaum überraschen, was Wagner in einer vor einigen Jahren er- 
schienenen Selbstbiographie erzählt, daß er nämlich die erste von 
ihm in Leipzig zur Aufführung gebrachte Ouvertüre mit drei ver- 
schiedenen Tinten geschrieben habe, um den Musikern, die seine Par- 
titur gründlicher studieren wollten, das Verständnis zu erleichtem. 
Die Streichinstrumente hatte er mit schwarzer, die Blasinstrumente 
mit roter und die Blechinstrumente mit grüner Tinte geschrieben. 

Die Verfolgung des Parallelismus des Klanges hat notwendig 
Wagner dahin bringen müssen, seiner Orchestcation Instrumente 
einzuverleiben, die im allgemeinen nur einzeln angewandt waren, 
und mit denselben noch einige andere untrennbar zu verbinden. 
Demzufolge gebraucht er gewöhnlich drei Flöten, drei Hoboen (zwei 
Hoboen und ein Englisches Hörn), drei Klarinetten (zwei gewöhnliche 
und eine Baßklarinette), drei Fagotte, drei Posaunen und eipe Tuba. 

Dieses Drei-System hat unter anderen Vorzügen auch den, 
daß der ganze Akkord mit denselben Klangfarben gegeben und ge- 
halten werden kann, was auf seine Instrumentation helle und 
nuancierte Streiflichter wirft, die er mit exquisiter Kunst verteilt und 
in einer ebenso neuen als ausdrucksvollen Weise mit der Deklamation 
in Einklang bringt, wodurch ihr Sinn auffallend zur Geltung kommt. 

Wagner macht auch einen häufigen Gebrauch von der Teilung 



140 Lohengrin. 



der Geigen. Mit einem Worte: anstatt sicli des Orcliesters wie 
einer fast homogenen Masse zu bemäclitigen, teilt er es in ver- 
schiedene Ströme und Bäche, und zuweilen — wenn wir wagen 
dürfen, es so auszudrücken — in Fäden auf Klöppel gewickelt, die 
zahlreich und vielfarbig wie die der Spitzenklöpplerinnen sind. Wie 
diese, wirft er sie zusammen und sondert sie wieder und bringt 
endlich, wie diese durch ihr erstaunenswertes Verwickeln einen 
Stoff, ein wunderbares Gebilde hervor, bei welchem der Grund eines 
festen Gewebes durch die farbenreichsten klaren Verzierungen ge- 
hoben wird — eine Arbeit, unschätzbar an Wert. 

Bei einem dergestalt von der Poesie des Dramas durchdrungenen 
Geiste, bei einer für alle Eindrücke, welche die geringsten Formen 
der Kunst auf die Seele ausüben, so feinfühligen Organisation 
mußte dieses seinem Genie ganz eigentümliche Streben, das Orchester 
in drei Tonströme zu trennen, die, wie die vereinigten Gewäss^er 
verschiedener Flüsse ihre verschiedenen Färbungen beibehalten, 
indem sie wohl in dasselbe Strombett sich ergießen, aber ohne 
ihre braunen, blauen oder grünlichen Wellen zu vermischen, ent* 
weder irgend einem rein geistigen Gedanken entsprechen oder von 
ihm auf einen solchen angewandt werden. Und so ist es auch. 
Wagner hat schon in seinen ersten Opern, vorzüglich jedoch in 
seinem „Lohengrin'', stets für jede seiner Hauptpersonen eine andere 
Palette gemischt. Je aufmerksamer man diese letzte Partitur 
durchforscht, um so mehr gewahrt man, weiche innige Verwandt- 
schaft er zwischen seiner Dichtung und seinem Orchester hervor- 
gebracht hat. Nicht allein, daß er, wie wir schon früher gesagt 
haben, durch seine Melodien Gefühle und Leidenschaften zum 
Ausdruck bringt, sondern er sucht sogar seine Gestalten durch ein 
ihrem Charakter entsprechendes Kolorit zu beleben. Ebenso wie 
er den Charakter der von ihm geschaffenen Personen durch ihnen 
entsprechende Rhythmen und Melodien bildet, wählt er für sie die 
ihnen entsprechenden Klangfarben. 

So ist z. B. das in dem ersten Vorspiel leicht gezeichnete Motiv, 
das den heiligen Gral andeutet, später in der Erzählung, in welcher 
Lohengrin am Schlüsse sein erhabenes Geheimnis enthüllt, voll 
ausgeführt, stets unveränderlich den Violinen anvertraut. Elsa 



Lohengrin. 141 



tritt fast ausschließlich von Blasinstrumenten begleitet auf, wo- 
durch die glücklichsten Kontraste in Momenten lentstehen, in denen 
die Blechinstrumente ihnen folgen. Besonders ergriffen fühlt man 
sich, wenn in der ersten Szene der langen Erzählung des Königs — 
seine Rolle ist beständig von Posaunen und Trompeten begleitet, 
die das Orchester monarchisch beherrschen, — ein langes Schweigen 
folgt, und ein sanftes und luftiges Säuseln sich wie eine von himm- 
lischem Hauche bewegte Woge erhebt, um uns, noch ehe Elsa 
erscheint, den vollen Olanz ihrer jungfräulichen Reinheit fühlbar 
zu machen. Dieselbe Instrumentation tritt bei der Balkonszene 
wie erquickender Tau ein, um die schaurigen Flammen des Duo 
zwischen Friedrich und Ortrud zu löschen, sobald Elsa auf dem 
Balkon erscheint. Sie dient auch wieder zum Brautmarsche des 
zweiten Aktes und schildert die fromme Aufregung, die Wonne der 
Unschuld so überwältigend, daß dieses Stück zu den vollendetsten 
der Oper gehört, obwohl der dramatischen Wirkung entbehrend. 

Die Schwierigkeiten, Wagners Opern zu inszenieren und be- 
friedigend zur Aufführung zu bringen ->- Schwierigkeiten, die ihren 
Grund zunächst in der so ernsten Natur ihrer Sujets, in ihrem so 
erhabenen Stile, sowie in der großen vom Publikum geforderten 
Aufmerksamkeit haben — , werden ihrer Popularität wohl leider 
noch lange hindernd im Wege stehen. Ihre strenge Schönheit 
wird den banalen Beifall, den man Werken von kurzer Lebensdauer 
spendet, von ihnen fernhalten, doch werden sie auch schwerlich 
jenen unmittelbaren Enthusiasmus erringen, welchen das Genie 
eines Rossini, eines Meyerbeer hervorriefen, wenn sie in üppigen 
Weisen oder mit feuriger Glut die Macht der Leidenschaften auf die 
Bühne brachten. Sollen wir darum warten, bis der Staub der Zeit 
in ansehnlicher Dicke sich auf Wagners Partituren gelagert hat? 
bis erst Gelehrte, sie durchblätternd, in ihnen die Wunder genialer 
Geheimnisse entdecken? oder bis Dichter in ihrer zurückblickenden Be- 
wunderungfür die Vergangenheitsich für diese Helden, diehundertf ach 
unsere gewöhnlichen kleinlichen Erfindungen überragen, begeistern? 

Es wird sicherlich niemand behaupten können, daß die Mittel, 
über welche das Theater in Weimar verfügt, für Dramen, die nach 
einem so großartigen Maßstabe angelegt sind, ausreichend seien. 



142 Lohengrin. 



Weder die Größe der Bühne noch die Personenzahl des Orchesters, 
der Chöre und der Statisten entsprechen ihren Anforderungen. 
Nichtsdestoweniger machten die enthusiastischen Anstrengungen, 
die mutige und geduldige Arbeit, der beharrliche Wille aller Künstler, 
die zu leiten wir die Ehre hatten, während der Vorstellung der 
Oper alles völlig vergessen, was noch hätte fehlen können. Die 
tiefe Bewunderung, die aus einem anhaltenden Studium des Werkes 
seitens der Darsteller und aller Mitwirkenden für dasselbe ent- 
stehen mußte, hat alle mit so hinreißender Gewalt begeistert, 
daß trotz aller Schwierigkeiten dieser Aufgabe wir zu hoffen wagen, 
daß sie würdig gelöst wurde. 

Die musikalische Bildung der meisten unserer hervorragenden 
Sänger erleichterte ihnen ein Unternehmen, das für solche, die nicht 
mit der Theorie ihrer Kunst vertraut sind, eine Unmöglichkeit 
wäre. Ihr Können erlaubte ihnen, der ganzen Kraft und dem 
tragischen Pathos, welche die Hauptrollen erfordern, zu entsprechen. 
Fräulein RosaAgthe — die spätere Frau Milde — , welche sich 
vollständig mit ihrer Rolle identifizierte, hat die seraphischen 
Gesänge Elsas mit einer Reinheit poetischer und musikalischer 
Intehtion und einer seltenen Richtigkeit der Intonation, mit dem 
leicht verschleierten Silberton ihrer rührenden Stimme vorgetragen, 
welche Vorzüge sie schon in der Rolle der Elisabeth im „Tann- 
häuser'* so glänzend entwickelt hatte. Fräulein Fastlingers 
Spiel und Gesang als Ortrud machte die Zuhörer erschauern. Bald 
kalt verachtend, bald außer sich bis zum Rausche der Wildheit 
wußte sie im ersten Akte die Aufmerksamkeit durch ihre Mimik 
zu fesseln und im langen Duo des zweiten Aktes eine großartige 
Wirkung zu erzielen. Die Herren Beck, Milde, Höfer haben 
geleistet, was man von ihren Talenten mit Recht erwarten konnte. 

War auch hie und da noch eine Unsicherheit in den Ensemble- 
stücken bemerkbar, so haben dennoch unsere Künstler am Abend 
des 28. August — der ersten Vorstellung des „Lohengrin" — 
im vollsten Sinne des Wortes allen Anforderungen entsprochen, 
welche bei der Aufführung einer der merkwürdigsten Schöpfungen 
der zeitgenössischen Poesie und Musik gestellt wurden. 




DER FLIEGENDE 
HOLLÄNDER 

VON 

A RICHARD WAGNER A 

1854 



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Von den drei Werken Richard Wagners, die mit Entschieden- 
heit das Gepräge einer neuen Wendung des musikalisch-dramatischen 
Stils erkennen lassen, wurde der ,,Fliegenae Holländer'', obwohl 
er der chronologischen Folge nach die Reihe der neueren Schöpfungen 
Wagners eröffnet, in Weimar zuletzt aufgeführt. In Berlin 
hatte man diese Oper schon vor zehn Jahren gegeben; später in 
Kassel, wo sie Spohr infolge des besonderen Eindrucks, welchen 
die Partitur auf ihn gemacht hatte, einstudierte. Damals jedoch 
betrachtete man Wagner nur als einen Komponisten, der sich mit 
bald mehr bald weniger Talent anderen anschließe. Der Reformator 
hatte das Banner noch nicht aufgepflanzt, dessen Devise erst 
„Tannhäuser'' und „Lohengrin" vollständig entfalten sollten. 

Als der „Fliegende Holländer" in den. genannten Städten auf- 
geführt wurde, geschah es, ohne daß den Neuerungen dieser Oper 
eine besondere Einführung zuteil geworden wäre, ohne daß das 
Publikum vorbereitet sie mit Spannung erwartet hätte. Sie machte 
den Eindruck eines Werkes, dessen tiefe Trauer und düstere Ein- 
fachheit sich nicht für die Bühne eigneten. Man begreift dieses 
Urteil, wenn man bedenkt, daß Wagner hier nur erst instinktiv 
die Form erfaßt hatte, welche zu schaffen seine Mission war, und 
deren Poetik er später mit jener einen so charakteristischen Zug 
seines Geistes bildenden Gewalt der Überzeugung formuliert hat. 
Dagegen ward dem Werk vor zwei Jahren in Zürich unter des 
Komponisten eigener, mit elektrisierender Wirkung Künstler und 
Publikum zum Verständnis seiner Intentionen hinreißenden Leitung 
ein glänzender Erfolg zuteil. Während aber Wagner durch seinen 
„Tannhäuser" und seinen „Lohengrin" in der ungeteilten Meinung 
Deutschlands einen Platz unter den Männern einnimmt, deren 
geistige Arbeiten Aufmerksamkeit erzwungen haben, so haben, 

Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 10 



146 Der Fliegende Holländer. 

trotzdem die Aufführung * dieser Oper gerade am wenigsten des 
szenischen Aufwandes bedarf, doch nur einzelne Theater seinen 
„Fliegenden Holländer" in ihr Repertoire aufgenommen. Als 
erster Versuch eines Systems, das inzwischen in seiner ganzen Aus- 
dehnung bekannt geworden ist, erweckt das Werk jetzt ein um so 
größeres Interesse, als es der Beurteilung reichere Gesichtspunkte 
als früher bietet, wo es vereinzelt dastand. 

Seine poetische Doppelbegabung zog Wagner natumotwendig zur 
lyrischen Deklamation und veranlaßte ihn, seine Bestrebungen auf 
einen Punkt zu konzentrieren, dessen Schwierigkeiten schon Rous- 
seau mit den Worten bezeichnete: „Ein großes und schönes Problem 
liegt in der Frage: wie weit es die Sprache im Singen, wie weit 
es die Musik im Reden bringen kann. Von einer richtigen Lösung 
dieses Problems hängt die ganze Theorie der dramatischen Musik 
ab." Nurbegnügtsich Wagner nicht, wie Rousseau, das Problem 
aufzustellen: er schreitet zur Lösung desselben. 

Schon früher 1 deuteten wir die von Wagner zur Erreichung 
dieses Zweckes angewandten Mittel in Kürze an und wiederholen 
hier nur, um unsere Bemerkungen über den „Fliegenden Holländer" 
deutlicher zu machen, daß unter den Wagner eigentümlichen Ver- 
fahrungsweisen eine der wichtigsten die ist: hervortretende 
Personen oder Situationen des Dramas durch bestimmte 
musikalische Motive zu charakterisieren, welche immer 
wiederkehren, sobald die durch sie charakterisierte Person das 
Interesse auf sich zieht, sobald die Situation sich wiederholt oder 
erwähnt wird. Diese Verteilung der Hauptmotive zeigt sich be- 
reits im „Fliegenden Holländer". Bedingt durch den Gang der 
Handlung tritt ihre Wiederkehr in verschiedenen Tonarten, Klang- 
farben und Rhythmen bald klagend, bald frohlockend auf, je nach- 
dem freudiger oder banger Herzschlag in ihnen nachtönt. 

Es ist nicht zu verkennen, daß zwischen dem „Fliegenden Hol- 
länder" und den späteren Werken Wagners ein merklicher Ab- 
stand fühlbar ist. Seine musikalische Konzeption ist hier bei 



^ Aufsätze über „T a n n h ä u s e r" Seite 55, über „L o h e n g r i n" 
Seite 94. 



Der Fliegende Holländer. 147 

weitem noch nicht so markig und fest, wie bei diesen. Man sieht: 
er sucht den Idolen zu entrinnen, denen auch er geopfert hatte, 
ohne sie noch im Kampf auf Tod und L^ben zu befehden. Nur 
hie und da wagt er mit seinem glänzenden großen Stil hervor- 
zutreten, und nur schüchtern entzieht er sich der Botmäßigkeit 
traditioneller Formen, denen er noch Raum gönnt, und die er noch 
nicht, wie er später getan, systematisch verwirft. Wären aber auch 
„Tannhäuser" und „Lohengrin" nicht dem „Fliegenden Holländer'' 
gefolgt: die ausgeprägten Vorzüge des letzten Werkes würden hin- 
reichen, Wagner eine hervorragende Stellung unter den geistig 
Produzierenden unserer Zeit zu sichern. 

Vor allem reißt die aus Wagners Inspiration hervorquellende 
Tiefe des poetischen Gefühls, sowie die Gestaltung und Logik der 
von ihm gezeichneten Charaktere zur Bewunderung hin. Obgleich 
im „Fliegenden Holländer" der Faden der dramatischen Handlung 
noch weniger fest geknüpft ist, sind die genannten Eigenschaften 
dennoch in hohem Grade hier au finden. Und wenn uns Wagner 
in dem „Vorwort an seine Freunde", das er seinen „Drei 
Operndichtungen" vorausschickt, nicht selbst versichert hätte, 
daß das Sujet dieser Oper nicht ursprünglich seine Erfindung sei, 
so würden wir es aus dem balladenhaften Verlauf des Ganzen, 
aus dem Mangel szenisch wirksamer Situationen, aus der fast über- 
triebenen Mäßigkeit in Anwendung dramatischer Motive erkennen. 

Während einer Meerfahrt las Wagner die Version, in welcher 
Heine die Seemannslegende vom „Fliegenden Holländer" erzählt. 
Das Zusammentreffen des Eindrucks dieser Lektüre mit einem 
heftigen Sturm, den er zu bestehen hatte, erweckten in dem von 
innerlichen Stürmen mannigfach Bewegten die Idee einer drama- 
tischen Behandlung jenes Stoffes . Er führte sie aus, ohne irgend 
eine wesentliche Veränderung an Heines ergreifender Erzählung 
vorzunehmen. 

Die Sage ist bekannt. Ein holländisches Fahrzeug, das vor 
langer, langer Zeit das Kap der guten Hoffnung umsegelte, wurde 
von einem lang andauernden Sturm verhindert, sein Ziel zu erreichen. 
Als die Matrosen den Kapitän um Rückkehr beschworen, rief dieser 
aus: „Und sollte ich in Ewigkeit auf dem Meere hausen, nimmer- 

10* 



148 Der Fliegende Holländer. 

mehr tue ich es/' Zur Strafe für diese Blasphemie wurde er ver- 
dammt, bis zum jüngsten Tag die Meere zu durchirren und allen 
ihm auf seiner Fahrt begegnenden Schiffen Verderben zu bringen. 
Doch der Engel der Barmherzigkeit verkündete ihm, daß ihm alle 
sieben Jahre verstattet sein solle, die Küste zu betreten und sich zu 
vermählen. Würde das erwählte Weib ihm untreu, so fiele auch sie 
der Hölle zur Beute; fände er aber eine Gattin, die ihn liebe bis 
indenTod,so tilge ihre Treue seine Schuld und erschließe ihm nach 
leiblichem Tod die Pforten des ewigen Heils. 

Nach Heines Erzählung ist es ein junges norwegisches Mädchen, 
das durch eine volkstümliche Ballade von jenem Himmelsspruch 
unterrichtet, von Jugend auf tiefes Mitgefühl für das Los des un- 
seligen Kapitäns empfindet. Und als dieser eines Tages an Nor- 
wegens Küsten landet, um dort ein Weib zu suchen, erkennt sie 
ihn und schwört ihm Treue, fest entschlossen, ihren Eid zu halten. 
Der Holländer aber, von Liebe und Dankbarkeit für solche Schönheit 
und Hingebung ergriffen, fürchtet 4ie der Gefahr eines Meineides 
auszusetzen und verläßt sie, der langersehnten Hoffnung auf endliche 
Erlösung aus der Verdammnis entsagend. Das Mädchen aber, das 
ihn auf seinem Fahrzeug fortsegeln sieht, stürzt sich in das Meer. 
In diesem Moment ist das Sühnopfer erfüllt, und der „Fliegende 
Holländer" versinkt in den Wogen. 

Wagner lieferte später eine Art Gegenstück zu diesem Sujet, 
indem er in ähnlichem Rahmen und in ähnlicher Perspektive, wie 
der vorher mit nächtigem Dunkel erfüllten, Glanz und Licht aus- 
breitet. Im „Lohengrin" wie im „Fliegenden Holländer" erscheint 
von wunderbarem Fahrzeug getragen ein Unbekannter. Die Be- 
stimmung und Unsterblichkeit beider muß in tiefes Geheimnis ge- 
hüllt bleiben. Aber dort ist es ein Heros des Lichtes, hier ein zu 
ewiger Qual Verdammter. Der eine naht auf goldschimmemder 
Barke; ein weißer Schwan zieht sie, anmutig kreisend. Auf das 
von staunendem Volk bedeckte Stromufer steigt er langsam herab 
in silberner Rüstung, hellglänzend im Sonnenstrahl. Der andere 
naht im Brausen des Sturmes; sein Schiff ist schwarz wie seine 
Tracht — schwarz wie ein von Pulver und Blut befleckter Adler. 
Er landet auf felsiger Küste, in schrecklich einsamer Nacht. Der 



Der Fliegende Holländer. 149 

eine entsagt unendlichem Glück, um unterdeo Menschen zu wohnen, 
um ihnen Gerechtigkeit und Segen zu bringen. Der andere naht 
sich ihnen in der dunklen Hoffnung, ihnen sein Heil zu verdanken 
und durch Aufopferung entsühnt zu werden. 

Diese beiden so verschiedenen Situationen hat Wagner poetisch 
aufgefaßt und dargestellt. Das die Persönlichkeit charakterisierende, 
die innere Bedeutung ihres Handelns und Auftretens verkündigende 
Motiv ist dem Holländer wie dem Ritter des heiligen Gral bei- 
gegeben, und beide werden durch dasselbe sogleich bei ihrem ersten 
Erscheinen in bedeutungsvoller Weise gezeichnet. Der erste wird 
nicht durch sinnlose Raserei, nicht durch Wutausbrüche eines 
Besessenen, nicht durch höllische Verwünschungen charakterisiert. 
Seine Erscheinung ist um so überwältigender, als sie Ruhe und 
dumpfe Verzweiflung ausdrückt. Seine gemessene Rede, der mit 
Bitterkeit getränkte Hauch seines klagenden Gesanges weckt unser 
Mitleid und lehrt uns verstehen, wie ein Weib sich berufen fühlen 
kann, ihr Leben zu opfern, um sein Heil zu erringen. Ebenso läßt 
das hochherzige Walten, die hehre Art Lohengrins uns fühlen, 
daß ejner Frau nur zu sterben übrig bleibt, wenn sie den licht- 
strahlenden Helden verloren hat. 

Wagner sagt selbst von sich, daß er höher als irgend ein Poet 
oder Künstler die Frauen verherrlicht habe. Und allerdings ist 
wohl kaum anderswo die Bedeutung der Mission des Weibes in 
Selbstverleugnung und Hingebung tiefer erfaßt als in seinen 
Dichtungen. Die Idee des durch eigene Opferung, errungenen 
Heils für einen anderen ist schwerlich jemals inniger aufgefaßt 
und geschildert worden als durch Elisabeth und Senta. Obwohl 
die Poesie der Fiktionen bedarf, um in außerordentlichen Situationen 
die ganze Gewalt frommen Heldengeistes, alle Erhabenheit der 
Tugend und der Entsagung, allen grenzenlosen Schmerz, den Auf- 
schwung der Liebe, den Mut des Glaubens, den Märtyrerwahn der 
Hoffnung, die begeisterte Kühnheit der Hingabe zu schildern, 
so könnten diese Fiktionen uns doch nicht interessieren, wäre ihr 
Gefühlsinhalt nicht zugleich ein wahrhaftiger, so wahrhaftig, daß 
man im Orchester beinahe den Schlag der Herzen zu vernehmen 
glaubt. Wenn niemand an die Fabel vom Tannhäuser und der 



150 



Der Fliegende Holländer. 



Venusgrotte, oder gar an die vom fliegenden Holländer und seinem 
Kapitän glaubt: wer dagegen zweifelt an weiblichen Charakteren 
wie Elisabeth, deren Liebe durch ihre keusche, todesmutige Treue 
das einzige Band zwischen einem durch Leidenschaft verwüsteten 
Dasein und einer Welt ist, welche nur jene Leidenschaften fürchtet, 
deren freie Äußerungen von der Heuchelei verschmäht werden? 
wer zweifelt an einer Senta, an einem weiblichen Wesen, welches, 
um eine große Seele von schwerster Strafe zu erlösen, das eigene 
Leben opfert? — 

II. 

Senta, wohl eines der herrlichsten Frauenbilder, die je von 
der Kunst geschaffen oder von der Poesie geschildert wurden, ist 
dennoch so wenig wie Gretchen, wie Medea oder Gulnar, wie 
Ophelia oder Desdemona die Hauptfigur dieser Tragödie. Die 
Dichter haben, indem sie die weiblichen Gestalten in dem von den 
Helden auf sie geworfenen Schatten ließen und sie durch die Er- 
habenheit des Gegenstandes ihrer Liebe veredelten, das richtige 
Verhältnis beachtet. 

Auch in Wagners Bild ist es der Holländer, der das ganze 
Interesse auf sich lenkt. Das unheimliche, alles so trübe beleuch- 
tende Licht ist der Widerstrahl seines Antlitzes. Seinetwegen ist 
das ganze Kunstwerk geschaffen. Seine Figur tritt vor allen anderen 
in den Vordergrund. Schon in der Ouvertüre hören wir gleichsam 
eine Erzählung seiner qualvollen Leiden. Wie aus weiter Feme ver- 
nehmen wir seine dumpfe Stimme, und sein trostlos ruhiger Blick 
scheint in starrer Verzweiflung durch die Dämmerung zu zucken. 

Das instrumentale Drama beginnt mit dem Motiv, welches 
den auf dem Holländer lastenden Fluch bezeichnet: 

Nr 1. Allegro con brio. 

VioL 




mareato. 



Der Fliegende Holländer. 



151 




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Dieses einige Takte lange, mehr rhythmische als melodische 
Motiv bewegt sich ausschließlich auf der Tonika und der Dominante, 
ohne Terz, und macht so den Eindruck eines beim Zucken des 
Blitzes wahrzunehmenden Schattens, dessen Umrisse und Be- 
wegungen in unserer Erinnerung haften bleiben. Das Ohr nimmt 
die Wiederkehr dieser Phrase jedesmal wie eine flüchtig hinge- 
worfene Skizze des Geisterschiffs und seines finstem Kapitäns auf. 
Sie kehrt, modifiziert durch verschiedene Klangfarben, im Verlauf 
der ganzen Oper in ihren drängendsten Momenten wieder. Hier am 
Anfang der Ouvertüre verleiht ihr ein Unisono von Fagott und 
Hörnern den Charakter unstillbaren Grames. 

Ein Tremolo der Geigen in den hohen Lagen — ebenfalls auf 
der Tonika und der Dominante ohne Terz — malt die bewegte 
Flut und entführt unsere Phantasie in das offene Meer. Dieses 
Tremolo wird vom sechsten Takt an durch chromatisches Auf- 
und Abwogen der Celli und Violen verstärkt. Es sind Wellen, 
die aus dem Abgrunde tauchend die kämpf trotzigen Spitzen bis 



162 



Der Fliegende Holländer. 



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zur Schwelle des Himmels emporheben. Die langgezogenen Töne 
der Blasinstrumente schwellen an zu wogenden Wassermassen, 
die zu Riesen sich ausdehnen und langsam, bedeckt von schneeigem 
Schaum, sich aufrichten, um ihre Gipfel wieder hinabzustürzen. 

Nun rast der Sturm — die Windsbraut stöhnt — es heult der Orkan. 

Von chromatischen Skalen begleitet erscheint das erste Motiv 
wieder: 

Nr. 2 a. 

JS ^ol., Br. n. Celli. 




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ff tremolo 









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Nr. 2 b. 



Tromp. Q. Fagott. 




Yiol., Celli n. B&sse. 



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Der Fliegende Holländen 



153 



Aber bald zerteilt es sich in einzelne Signale, in Notrufe, die mehr 
und mehr in der Ferne verhallen. In einem Decrescendo schließt 
dieses erste Bild, das gleichsam ein Expositionsakt des Instrumental- 
dramas ist. Die Erinnerung an dasselbe drängt sich uns im zweiten 
Akt wieder auf, wenn Senta das unselige Los des Kapitäns erzählt. 

Der stürmischen Einleitung folgt eine innig>zarte melodische 
Phrase. Wir hören den Engel der Barmherzigkeit, wie er mitleids- 
voll in dem Verdammten die Hoffnung erweckt, die sich um seih 
dunkles Schicksal wie ein Goldfaden um eisernes Räderwerk windet. 
Von Sentas Lippen tönt später diese Melodie: 



Nr. 3. Andante 

Engl. Hörn. 




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in der Ballade des zweiten Aktes zu den Worten: 

„Doch kann dem bleichen Manne Erlösung einstens noch werden.'* 

Nun ertönen Klagelaute, sich den Hörnern entringend, gleich den 
letzten Seufzern eines entfliehenden Grames. Die Posaunen spielen 
einen abwärtsgehenden Passus: 



154 



Der Fliegende Hollander. 



Nr. 4. 

Eb^ Hon «. H6ni«r. 




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dim. 



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welcher im ersten Akt bei der Stelle wiederkehrt, wo das Geister- 
schiff die roten Segel einrefft, um an der Küste, an welcher es 
seine gespenstische Fahrt beenden soll, zu landen. 
Das erste Motiv tritt nun wieder vollständig auf: 

Nr. 6. 



. H6rner. 



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Fagott 



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Der^Fliegendef Holländer. 



155 



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und zeigt uns den finsteren Helden selbst, der jetzt zum erstenmal 
zu uns spricht. Unbeweglich an den Mastbaum gelehnt, mißt er 
mit kaltem Auge die hinter seinem Schiffe zurückbleibende wogende 
Fläche. Die scharf wehenden Ostwinde sind seine Vertrauten. 
Ihnen klagt er, wie einst jener kühne Titane den ihn umringenden 
Okeaniden, sein Los. An sein Schiff wie an einen schwimmenden 
Kaukasus gefesselt, singt dieser neue Prometheus in klagendem 
Monolog folgende Melodie vor sich hin: 



Nr. 6. 



FL, Hoboen n. Viol. 




Celli n. B&88e. 



Sie bildet das Hauptmoment der großen Arie in der dritten Szene 
des ersten Aktes, deren tiefe Melancholie der Töne hinreißender 
wirkt als die schwermütigste Dichtung. Die ersten Violinen, Flöten 
und Hoboen begleiten folgende Verse: 

„Wie oft in Meeres tiefsten Schlund 

Stürzt' ich voll Sehnsucht mich hinab: — 

Doch acht den Tod, ich fand ihn nicht! 

Da, wo der Schiffe furchtbar Grab, 

Trieb mein Schiff ich zum Klippengrund: — 

Doch ach! — mein Grab, es schloß sich nicht T* — 



156 Der Fliegende Holländer. 

Diese Klänge voll unheilbarer Verzweiflung werden durch be- 
ängstigende Unruhe unterbrochen. Es folgt ein wie durch wirklichen 
und bildlichen Sturm hervorgebrachtes, ungeheuer anschwellendes 
Crescendo, als wenn die Stürme der 3eele mit ihren furchtbaren 
Verwüstungen siegessicher die Katastrophen der Natur zum Wett- 
kampf entböten. Das schon im Anfang vernommene Toben der 
zürnenden Wogen wird heftiger, wie unter der Last verdoppelter 
Wut. Alle Zornausbrüche der Sturmesgewalten und der schmerz- 
gebeugten Seele streiten gegen und miteinander in betäubendem 
Getöse, in heiserem Lärm, in schrillenden Schauern und tollem Ge- 
heul, in dissonierendem Kampfgeschrei. 

Dumpfe Klänge, wirre Stimmen tönen aus gähnenden Meeres- 
schlünden, als wenn der Erdball gleich dem Ton in der Feuersglut 
sich spaltete und der Weltenbau aufprasselte wie frisches, von 
Flammenzungen belecktes Holz. Der Donner rollt gleich einer 
entsetzlichen Drohung dahin — einem Todesgedanken gleich zuckt 
der Blitz und zieht seine Furchen durch die dunklen Wolken. Der 
Wetterschlag trifft wie ein sich entladendes Pulvergewölbe, das die 
Erzhallen des Himmels sprengen möchte. 

Da schwillt und steigt — ein Leviathan — die Woge; da über- 
stürzt sie eine andere, treibt sie wie ein Reiter sein Roß, und wie 
beutelechzende, getäuschte Alligatoren balgen sich beide. Mit 
dröhnendem Zähneklappern schließen sie die klaffenden Rachen, 
um hinunterzutauchen in den giftigen Schaum, der über ihnen wie 
über Leichen sich schließt, und aus dem sie wieder hervorschießen, 
neu sich bildend und aufrichtend als grausige Vertilger. 

Angesichts dieser Schrecknisse und Kämpfe, unter dem Knirschen 
des Eisenwerks und dem Krachen wurmstichiger Balken bleibt der 
Holländer unverändert und sieht mit trübem Lächeln auf die ent- 
setzliche Verheerung des Sturmes — ein Abbild seiner inneren 
Qualen : weiß er doch nur zu sicher, daß sein Schiff ewig ein Spiel- 
ball dämonischer Gewalten zu sein bestimmt ist und die Legionen 
von Gefahren, welche es täglich umringen, ihm keine Zerstörung 
bringen werden. Er ruft mit Ren^: „So erhebt euch endlich, 
ersehnte Stürme, die ihr mich hinübertragt In die Regionen eines 
anderen Lebens!'' Wir sehen ihn auf seinem unverwüstlichen Deck 



Der Fliegende Holländer. 



157 



langsam umherwandein. „Er fühlt nicht Regen noch Schneege^ 
stöber, nicht den Wind, der in seinem Haupthaar wühlt. Er sieht 
den Mond die Wolken furchen, wie ein bleiches Schiff, das auf den 
Wogen steuert, während das Leben in seiner Brust verdoppelt sich 
regt und weltenschöpferische Kraft in ihm auflodert." 

Beim Anhören dieser symphonischen Tonstöße der Bläser, dieses 
Strudels von Tönen, den jedoch ein mysteriöser Rhythmus zu 
kadenzieren und in einer Art undefinierbarer Harmonie zu erhalten 
scheint, fühlt man, wie wohltuend für hoffnungslos Leidende das 
Rasen der Elemente sein kann, ja mit welchem Verlangen es die 
Armen suchen, denen die Ruhe nur Angst und Beklommenheit 
bietet. Man versteht das Bedürfnis derer, die an ein unabänder- 
liches Geschick gebunden, durch die Betrachtung des Ewigen 
Wechsels von heißem Verlangen und verspotteten Hoffnungen sich 
zu täuschen suchen; man versteht die schmerzliche Erleichterung, 
welche ihnen die das Ächzen des Verzagens und den Aufschrei 
sc;|igender Schmerzen übertönende gigantische, von den Stößen 
nächtigen Sturmwindes angestimmte Begleitung gewährt. 

Nach siebzig Takten eines grandiosen, phantastischen und in 
kühnen Zügen gleichsam al fresco gemalten Fortissimo hört man 
näher und näher kommend einen jener Rhythmen ertönen, mit 
welchen Matrosen gewöhnlich ihre Manöver begleiten: 



Nr. 7. 



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Derselbe kehrt im ersten Akt wieder, wenn der Kauffahrer seine 
Anker auswirft und einzieht. Diesem Rhythmus folgt in der 
Ouvertüre ein scharf markierter, fröhlicher Gesang, den unsere 
Phantasie der Mannschaft eines Schiffes zuschreibt, welches arglos 



158 



Der Fliegende Holländer. 



in dem unheilbringenden Fahrwasser des Holländers ohne Ahnung 
seiner verderblichen Nähe segelt: 



Nr. 8. 



Biber. 




Es ist das Lied der Matrosen eines norwegischen Schiffes und 
stellt hier in schlagendem Kontrast die Behaglichkeit des Lebens, die 
Geringfügigkeit seiner Mühen und Sorgen gegenüber der trostlosen 
Verzweiflung eines mit dem Siegel des Verderbens gezeichnete 
Geschickes dar. Hie und da taucht ein Echo des Sentamot|ys 
(Nr. 3) auf, als suche es ein Entrinnen vor diesem Chaos der 2^r- 
störung, wo Abgründe sich öffnen und schließen, wo Meersäulen 
in tollem Wirbel sich drehen, wo schlingernd und stampfend das 
Schiff bald Steuerbord, bald Backbord gen Himmel kehrt, jetzt 
auf der Leeseite einherschleift, jetzt auf die Windseite umschlägt, 
jetzt wieder in flammende Wellen — flammend von den Strahlen 
einer wie in ein blutiges Leichentuch sich hüllenden Sonne — 
versinkt, um endlich wieder wie die Lavawogen eines Vulkans 
emporzutreiben. 

Dumpf tosend und gärend dauert der Flutenkampf fort, während 
das Sentamotiv verloren, verstoßen umherirrt, aber ebenso aus- 
dauernd und beharrlich wiederkehrt, einem Engel des Lichtcis 
gleich, dessen Flug von feindlichen Winden und bösen Leidenschaften 
gehemmt ist, dessen Fittiche sich wund an Schiffsmasten schlagen, 
die mit beschleunigten Pendelschwingungen die Lüfte durch- 
schneiden, um endlich erschöpft auf Felsenriffe, die der unverwund- 
bare Kiel des Schiffes streift, niederzusinken. Aber stets aufs neue 
erhebt sich der himmlische Bote wunderbar geheilt und gestärkt, 
wenn auch schmerzensbleich und ruhelos. Aufs neue entfaltet er 



Der Fliegende Holländer, 159 

sein^ glänzenden Schwingen, denen bitteres Naß entrieselt — 
bitter wie die Tränen, die er zum ewigen Lichte emporträgt. 

Das Verdammungsmotiv kehrt in seiner ganzen Intensität 
wieder (Partitur Seite 40). Immer noch ist das Schiff unbeschädigt. 
Der alte Ozean sieht staunend, wie ein Machwerk von Menschen- 
händen seinem scharfen Zahn, seinen zerfleischenden Klauen Wider- 
stand leistet. Es fährt, fährt und fährt dahin auf den Wogen, die, 
betroffen sich unterjocht zu sehen, mit schäumender Geduld es 
tragen — sie, die ihr Recht der Entscheidung über Leben und Tod, 
über Entrinnen und Untergang so unerbittlich üben. Fest und 
sicher, ein niedergeschlagener Sieger, zieht das Geisterschiff seine 
Bahn. Verstört blickt es auf unempfangene Wunden. Und 
ist es nicht zum fühlenden Wesen geworden? versteht es nicht 
wie eines Kriegers Roß den Ruf seines Gebieters? teilt es nicht 
seinen tiefen Unmut, seine düstere Stimmung? ist es nicht von 
seinem Wesen erfüllt, und trägt nicht seine Haltung dessen Gepräge? 
Wie majestätisch und melancholisch gleitet es dahin — und jetzt 
wieder gebeugt wie ein leidender Mensch! Schlaff, als wären sie 
ein nachlässig umgeworfener Purpur, hängen die Segel vom großen 
Mast hernieder; wieder andere erblickt man ungleich, wie lose be- 
festigten Schmuck, eingerefft an den Raenstangen, welche am Blitz- 
strahl verglüht, doch so unversehrt geblieben sind, als hätten sie 
die Werfte erst verlassen. 

Müde der Last seines Bugspriets trägt das Schiff sein gleich 
einem Einhorn geziertes Haupt. Und wie ein Mensch, der mehr von 
Bitternissen als vom Weine trunken ist, strauchelt es leise von 
Zeit zu Zeit. Das schwarze Takelwerk ist wie ein Trauerflor über 
das den ganzen Körper deckende dunkle Kleid geworfen, und als 
wollte sie den Tod herbeiwinken, flattert — ein unseliges Zeichen 
vernichtungsgierigen Lebens — die Trauerflagge, die bald wie 
der gespaltene Pfeil einer Schlangenzunge ihre Spitzen entrollt, 
bald wie ein im Hinterhalt auf Beute lauerndes Reptil am Mäste 
sich niederduckt. 

So durchschifft der Holländer die Wogen. 

Eine heftige Explosion, wie von jähem, rasendem Wellenschlage, 
mit einem Stoß, der es endlich erschüttert, treibt plötzlich das Schiff 



160 



Der Fliegende Holländer. 



vorwärts und hält es auf verhängnisvoller Klippe fest. Schweigen 
tritt ein. Ringsum herrscht Angst und Betäubung. 

Da stürmen wie tausend beschwingte Pfeile die \nolinen in 
Septimengängen hinauf! Die Melodie der Ballade leuchtet, flimmert, 
tritt hervor und nähert sich — ein glänzendes Meteor. Der neue 
Schlußrhythmus, von dem sie jetzt getragen erscheint: 

Nr. 9« Vivace. 

Flöten nnd Hoboeiu 



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Pos. XL. Tob. 




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ist derselbe, der in der Oper die Worte Sentas begleitet: 

„ich sei's, die dich durch ihre Treu' erlöse, 
Mög' Gottes Engel mich dir zeigen I 
Durch mich sollst du das Heil erreichen I" 

und der am Ende der Oper wieder aufgenommen wird, wenn uns 
die Schlußapotheose den Holländer und seinen Rettungsengel der 
Meeresflut entstiegen in der Glorie des Himmels zeigt. 



Der Fliegende Holländer. 161 

Das Tempo, in welchem dieser musikalische Gedanke zuerst auf-! 
tritt, gibt ihm den Charakter elegischer Klage, unendlichen Mitleids 
und Erbarmens. Der spätere heroische und glühende Rhythmus 
aber verwandelt ihn in eine Art Siegesfanfare, in einen Hymnus 
der Freude und des Frohlockens. 

Man könnte eine gewisse Analogie In dem Schluß dieser Ouvertüre 
mit der zum „Freischütz'* bemerken, in der ebenfalls das Motiv 
aus Agathens großer Liebesarie mit beschleunigtem Rhythmus 
wieder aufgenommen wird, als flammten Lichtstrahlen aus einer 
Stemenkrone zum Preise der Liebe hervor. 

Diese Ouvertüre wird infolge ihres Inhalts und ihrer Form 
kaum eine so verhältnismäßig rasche Popularität wie die „Tann- 
häuser''-Ouvertüre und die Einleitung zum „Lohengrin'V erlangen. 
Sie wird nicht so leicht anerkannt, ihre Bedeutung nicht so schnell 
erfaßt werden. Dieses düstere Gemälde mit seinen stark auf- 
getragenen Farben, seinen dichten Finsternissen und unheimlichen 
Blitzen, mit seinem peinigenden, gepreßten Gefühlsausdruck ist 
darum kein minder bedeutendes Meisterwerk. Welch ein er- 
schütterndes Schauspiel entrollt sich hier vor unseren Augen 1 
Rings alles zerschellend und zersplitternd! Zuckungen der Natur 
und des verzweifelnden Herzens! Stürmende Wogen — stürmende 
Leidenschaften — dumpfgrollende Donner und grollende Blas- 
phemien — empörte Flut und empörte Seele — Zischen des Orkans 
und grimmes Zischen des Hohnes! 

Wie das Schiff, das den Stürmen des Meeres ein Spielball ist, 
dahinfliegt, so schwebt ein Unglücklicher inmitten der Schrecken 
hoffnungsloser Schmerzen. Die fest gezimmerte Fregatte trotzt doch 
der Wut der Elemente — auch die Energie männlichen Mutes ver- 
mag sich zu stemmen gegen die Stöße des Schicksals. 

Die Kritik der Zeitgenossen mißt eines Künstlers Talent zu oft 
nach dem Maße der Sympathien, welche die durch seine Werke 
dargelegten Anschauungen und Bilder unmittelbar in sich tragen. 
Hängt doch auch größtenteils ihr Erfolg von denselben ab. Wird 
dieses Wohlwollen einem Werke nicht bald nach seinem Erscheinen 
zuteil, so finden sich selten hie und da Menschen von so viel Auf- 
richtigkeit und Gerechtigkeitsgefühl, um schüchtern ein Wort 

Li 8zt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 11 



162 Der Fliegende Holländer. 

zugunsten eines solchen zu wagen. Derartige Kompositionen bleiben, 
weil sie wohl immer aus einer dem Publikum zurzeit nicht geläufigen 
Oefühlsrichtung hervorgehen, einer Art Quarantäne unterworfen. 
Ehe nicht irgend ein Nebenumstand — sei es die plötzliche Lieb- 
haberei eines berühmten Sängers oder ein ungewöhnlicher szenischer 
Effekt — das Publikum geduldiger und geneigter für sie stimmt, 
tritt selten ein Verteidiger auf, um ihnen Geltung zu verschaffen. 
Es wäre aber gerechter, wenn die kleine Zahl der wahrhaften, den 
Wert eines Kunstwerkes zu beurteilen fähigen Kenner ihre Kräfte 
vereinigen würde, um ein solches ohne Rücksicht auf eine mehr 
oder minder günstige Aufnahme in das richtige Fahrwasser zu 
bringen und jene Barken, die bereits mit günstigem Winde dahin- 
segeln — auch wenn sie wertvolle Dinge an Bord haben sollten — 
ihrem guten Glück überließen, um denen zu helfen^ welche durch 
ein Zusammentreffen hindernder Umstände an ihrem Weiter- 
kommen gehindert sind. 

Für letztere — für die hindernden Umstände — ist der Künstler 
nicht verantwortlich zu machen. Nur zu leicht und insbesondere, 
wenn er der höheren Eingebung folgt, kommt er in die Lage, daß 
die Wahl seiner Stoffe mit der herrschenden Geschmacksrichtung 
nicht übereinstimmt und dadurch seine Werke nicht den Eindruck 
hervorbringen, welchen augenblicklich die Zeitstimmung im Kunst- 
werk sucht. 

Die Stoffe drängen sich seinem Geiste auf als das unabwend- 
bare natürliche Produkt seines Seins, seiner Leidenschaften, seiner 
Freuden und Schmerzen. 

Er bestimmt so wenig die originelle Tendenz seines Genies wie 
das Medium, inmitten dessen er geboren wird. 

Infolgedessen bestimmt er nicht frei über die aus dem zu- 
fälligen Zusammentreffen beider in seinem Geist entstehenden 
Formen. • 

Die Werke der Poeten und Künstler müssen eine Konsequenz 
der Totalität ihres Wesens, ihres Geistes sein. 

Und wehe denen unter ihnen, die absichtsvoll einen vorge- 
nommenen Zweck, ein vorbedachtes System verfolgen, die sich mehr 
von der Berechnung leiten lassen als von ihrem Instinkt, der einzig 



Der Fliegende Holländer. 163 

und allein sie auf den richtigen Weg zur Darstellung von Szenen 
und Affekten führen kann, die ihrem Naturell und Geiste am glück- 
lichsten entsprechen! 

Den dramatischen Werken gegenüber, bei welchen die Muse 
den poetischen Künstler zu Gesängen begeistert hat, deren Ton den 
ersten Hörern nicht schmeichelt, trotzdem aber den Meister erkennen 
läßt, ist es jedoch vor allem Sache der Künstler, der Kollegen — 
seien sie nun mehr oder minder glücklich begabt als er — , alles 
Gewicht ihres Urteils zu ihren Gunsten in die Wagschale der öffent- 
lichen Meinung zu legen, alle ihre Bemühungen zu vereinen, um 
Ihnen die Anerkennung zu gewinnen, die man ihnen schuldet, um 
sie an das volle Licht des Tages zu ziehen. 

Wenn nicht gerade eine vorübergehende literarische Periode sich 
vorzugsweise zur Darstellung von Charakteren und Schauspielen 
von gesteigerter Gewalt hinneigt, wird die Schilderung solcher immer 
— und zwar um so mächtiger, je größer die in ihnen wohnende 
Tragweite ist — der Gefahr ausgesetzt sein, die Menge eher unheim- 
lich zu berühren als sie zu ergreifen. Der Menge fehlt die Fähigkeit, 
aus den Stürmen, welche die Natur oder die menschliche Seele 
durchwehen, sofort das Schöne herauszufühlen. Ihr sind die ver- 
ziehenden Gewitter mit fernem Grollen des Donners und leisem 
Wetterleuchten behaglicher. Daß nur kein Blitzstrahl irgend eine 
heilige Eiche zerschmettere oder eine überströmende Wasserflut 
Tempel und friedliche Menschenwohnungen vom Boden wegspüle, 
Saatfelder verheere und den Rasen grüner Wiesen samt liebe- 
verbergendem Gebüsche und zierlichem, mit Reben bedecktem Ge- 
länder mit fortschwemme! 

Die Menge liebt nur ein Scheinbild der Gefahr, nur ein Schein- 
bild der Leidenschaft — ihr genügt ein Scheinbild des Leides, — 
auch mit einem Scheinbild der Freude ist sie zufrieden. 

Er aber, Wagner, ist ini Gegenteil weder der Poet noch der 
Maler von Scheinbildern. Ihm widerstreben die Halbheiten und 
Mitteltinten, die halben Situationen und Charaktere, und in der 
Anlage seines „Fliegenden Holländers" ist er schroffer und weiter- 
gehend als in seinen anderen Produktionen. Er hat sich innerlich 
mit diesem Menschen identifiziert, dem das Dasein eine Züchtigung 

11* 



164 Der Fliegende Holländer. 

geworden, der, verurteilt zum Leben, den Tod herbeisehnt und ihn 
wie ein geliebtes Wesen, ja wie einen Gott heraufbeschwört, dem der 
Tod Wonne und Seligkeit sein würde. Sprosse auf Sprosse stieg er 
die mystische Leiter hinab, die in die Tiefe des jähen Schlundes 
führt, dem jene Wonne entsteigt, aus dem jene Seligkeit winkt. Er 
hat seine endlose Leere durchmessen, sein tiefes Dunkel durchforscht, 
seine eisigen Schauer gefühlt, seine unaussprechliche Trauer erfaßt. 
Er hat ausgesprochen, was sein Geist dort erlebt, was sein Herz 
vernommen, was seine Sinne empfunden« Und seine Akzente 
wurden wehschreiend, seine Farben erdfahl, sein Mitleid grenzenlos; 
brennend seine Tränen und gepreßt seine Rede« Nicht nur den 
Schatten des holländischen Kapitäns beschwor er herauf« Auch seine 
bis zur Fühllosigkeit gepeinigte, bis zur Gleichgültigkeit erschlaffte 
Seele rief er zurück zum Leben — diese Seele, welcher die Tage 
gleich Wellen eines vergifteten Stromes vorüberrauschen, die gleich 
Lara schweigt, gequält wie Manfred, hochmütig wie ein Verbrecher, 
still duldend gleich einem Opfer ist. 

Seit Byron hat kein Poet ein so bleiches Phantom in so düsterer 
Nacht heraufbeschworen, wie Wagner mit seinem Holländer, 
keines, aus dessen verglühten Augensternen die Blicke so erlöschend 
niedergleiten, um dessen todbleiche Lippen ein so schmerzliches 
Lächeln zuckt, dessen kühne Stirne so schmerzensmüde sich neigt, 
und das trotz dieser Leiden stets eine edle, stolze Haltung selbst 
dann noch bewahrt, wenn der Leib unter der Geißel der Qualen 
erliegen will, keines, das so sehr Großmut und Seelenstärke bei einem 
Übermaß der Leiden bewährt. Nur wer diese düstere Gefühlshoheit, 
die aus dem langen Monolog des Kapitäns im ersten Akt zu uns 
spricht, in sich auf zunehmen vermag, wer dieses verzehrende und nur 
durch neuaufglimmende Hoffnung gezähmte Ungestüm erkennt, 
wird aus dem Anhören der Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer" 
sowie aus der Oper selbst die Poesie dieser Szenen verstehen, deren 
Katastrophen fürchterlich sind, mögen sie auf dem Meere oder in 
Herzen wüten, in denen alle Schauer der Angst und alle Schrecken 
des Todes angehäuft sind, den der Mensch herbeifleht, um endlich 
der Vernichtung anheimzufallen. Doch höhnisch flieht selbst der 
Tod vor ihm. 



Der Fliegende Holländer. 165 

Betrachte man die symphonische Einleitung als eine Wiedergabe 
des erhabenen Schauspieles, eines Sturmes auf offener See oder als 
die dramatische Schilderung einer mit gewaltigen, unerhörten Leiden 
kämpfenden Seele: in beiden Fällen wird man von einer Bewegung 
ergriffen sein, von der alle Fibern des Herzens erbeben, wenn sie 
dieses Erbebens fähig sind. 

Es würde Wagner nicht befriedigen, gewisse Personen vor uns 
hinzustellen, diese oder jene Situation auf die Bühne zu bringen, 
die sich mit Ruhe und Kühle betrachten und beurteilen ließen. 
Seiner leidenschaftlichen Natur würde ein solches Verfahren im 
höchsten Grade antipathisch sein. Diese sucht den Impuls ihrer 
Leidenschaften in Gefühlsregionen, die nur wenige dem Namen 
nach kennen, in denen noch wenigere heimisch sind, und welche 
darzustellen nur ganz vereinzelt Auserwählte die Gabe be- 
sitzen. 

Er ist nicht der Dichter der nur sinnliche Erinnerungen aus dem 
Theater mit nach Hause nehmenden Menge, in welcher keine er- 
schütternde Bewegung, kein tiefer Eindruck haften bleibt. Er ist 
auch nicht der Dichter jenes Publikums, das sich am liebsten durch 
schneidende Kontraste, durch unerwartete Vorfälle und plumpe 
Kunstgriffe zu flüchtiger Rührung hinreißen läßt. Er verlangt von : 
seinen Zuhörern vor allem einen tiefen. Blick in das leidende Herz 
und die Fähigkeit, seine inneren Erregungen zu begreifen. Wer da 
geht, um eine große Oper zu sehen, um von leichten Melodien 
die Krumen, wie ein guter Spießbürger Bonbons von einem Gala- 
diner, mit nach Hause zu nehmen, wer gern Tränen ohne Anlaß 
vergießt, kann sich in Wagners Opern nur langweilen, wie er sich 
übrigens auch beim Lesen Byrons oder Dantes langweilen würde 
Glücklicherweise liest man diese Werke nicht öffentlich, und es ist 
die Sache des Anstandes, ihre Kenntnis bei jedem vorauszusetzen. 
Aber Wagner, den das Studieren und Analysieren seiner Werke 
in stiller Kammer durchaus nicht zufriedenstellt, der verlangt, 
daß die Massen an der von ihm geschilderten Gemütsbewegung 
teilnehmen, verschmäht — bei alledem in geheimer Verwandtschaft 
mit dem Heros der Romantik — die Darstellung untergeordneter 
Leidenschaften und Gefühle. 



166 Der Fliegende Holländer. 

Alle Träger seiner dramatischen Werke sind nur Ausnahms- 
menschen, Ausnahms- Individualitäten. Die von gewöhnlichen 
Leidenschaften bewegten Gestalten, so meisterhaft sie auch ge- 
zeichnet sein mögen, bilden um jene Hauptpersonen nur Figuren 
zu den Gruppen. 

Seine mit Vorliebe geschilderten Helden sind übermenschlich. 

Um sie in ein entsprechendes Medium zu setzen, sieht er sich 
gezwungen, nach Sagen und Legenden des religiösen und Volks- 
glaubens zu greifen. 

Der holländische Kapitän ist, wie Lohengrin, dem Tode unzu- 
gänglich. Tannhäuser dringt in eine unterirdische Grotte, um in 
den Armen einer Göttin zu ruhen, und Siegfried — der Götter- 
sohn — schreitet durch ewige Flammen, um eine Walküre sein 
eigen zu nennen. 

Nicht um malende Effekte zu erzielen, strebt Wagner, seinen 
Helden durch äußerliche Eigenschaften ein übernatürliches Wesen 
einzuhauchen. Im Gegensatz zu den Bestrebungen so mancher 
anderer, die Pygmäen ihrer Phantasie auf Stelzen zu heben, 
kommen seine Schöpfungen schon kolossal zur Welt. 
Die Sprache, die Unmittelbarkeit seiner Charaktere läßt uns sofort 
erkennen, daß er sie mit einer so hoch über dem Mittelschlag von 
Gefühlen stehenden Innerlichkeit beseelte, daß diese es ihm zur 
Notwendigkeit machte, sie auch in das Reich der Wunder zu ver- 
setzen. Doch sei hiermit keineswegs gesagt, daß seine Helden auf- 
hören Menschen zu sein, daß sie nicht mehr menschlich fühlen 
und denken. Im Gegenteil: ihre Seelenbewegungen sind allen 
zugänglich und wenigen gänzlich unbekannt; nur gibt ihnen 
Wagner das höchste Maß, das unser geistiges Auge zu erfassen 
vermag, und stellt sie in eine Region, welche für wenige erreich- 
bar ist. 

Ist es aber nicht ebenso mit allen vollendeten Meister- 
werken? 

Um nur ein Beispiel der plastischen Kunst zu entnehmen: stellen 
der Jupiter des Phidias und die Venus von Milo nicht mensch- 
liche Gestalten dar? Wer aber möchte ihnen bestreiten, daß sie 
Typen des Übermenschlichen sind? Und gehört nicht auch wieder 



Der Fliegende Holländer. 167 

die Poesie eines Phidias dazu, um diesen Jupiter, diesen Gott 
der Götter, in seiner ganzen Größe zu begreifen? 

Als er den Griechen einen Allmächtigen hinstellte, bekümmerte 
es ihn wenig, ob nach ihren Mythen eine höhere Macht — das 
Fatum — selbst über Zeus walte; er dachte nur daran, daß Neid, 
Zwietracht und alles Böse nur im Unvermögen ihren Ursprung 
haben — daß die höchste Güte nur in der höchsten Macht zu erfassen 
sei — daß aus vollkommenster Macht die vollkommenste Güte ent- 
springe und aus der höchsten Macht und vollkommensten Güte die 
vortrefflichste Weisheit folgen müsse. Auf der Stirne des Gottes 
läßt er die heitere Ruhe des Allwissens thronen: denn vor seinen 
Augen ist alles nur Harmonie; kein Blatt aus dem großen Buche 
der Natur bleibt ihm verborgen, und in dem gigantischen Konzert, 
das in Zeit und Raum sich vor ihm entfaltet, erkennt er die Ent- 
stehung und Lösung aller Dissonanzen. So vereinigte er mit der 
Kraft der Umrisse, mit der Milde, die von dem lächelnden Munde 
des Gottes taut, die Weisheit, die aus seinen lichtspendenden 
Blicken hervorstrahlt, und man darf sagen, daß sein Meißel, wie in 
göttlicher Vorahnung, ein offenbarender Interpret eines theologischen 
Dogmas wurde. — 

Und dann diese Venus von Milo! Muß man nicht ein Poet 
sein, wie ihr unbekannter Schöpfer, um diese wunderbare Idealität, 
diese Formel höchster Schönheit, diese Verkörperung des Geistigen, 
diesen vollkommenen Akkord einer göttlichen Tonalität, von welcher 
wir nur hier und da von ferne einige abgebrochene Intervalle ver- 
nehmen, in sich aufnehmen zu können? 

Obwohl ihre Gestalt das gewöhnliche Maß übersteigt, macht sie 
doch nur den Eindruck vollkommen natürlicher Größe. Mit der 
Ruhe der Unsterblichkeit pulsiert das Leben in ihren Adern; in 
vollster Harmonie — weil unverwelklich — blüht die Gesundheit 
in ihr. Ihre Bewegung, von Anmut geneigt, gleich einer Offenbarung 
der Liebe. Friedliche Majestät herrscht in ihr, wie in einem ge- 
heiligten Tabernakel. Wie die Saiten der Lyra der Meisterhand 
harren, so scheinen ihre Lippen bereit, unter dem Hauch der Be- 
geisterung zu erbeben. Um ihre Stirne schwebt die erfassende 
Einsicht, ohne daß der schöpferische Gedanke sie mit seinen 



168 Der Fliegende Holländer. 

geheimnisvollen Linien gefurcht hätte oder der Wille sie beschattete, 
wie die Stirne des Donnerers Zeus. Senkrecht, zwei beseligenden 
Feuerströmen gleich, fallen ihre Blicke, welche des Sterblichen 
Brust zermalmen müßten, würde er sich nicht verklärt in ihrem 
feuchten Glänze wiederfinden. In leisem Beben ruht ihr aufgerolltes 
Haar, jene Elektrizität verratend, welche das belebende Element 
der Schönheit ist. Aus ihren Armfragmenten spricht die Kraft 
zu fest umspannender Umarmung; man fühlt, daß sie das Geliebte 
an ihrem Herzen festzuhalten vermag, an diesem Herzen, das eine 
ganze hohe Welt birgt, einen Urquell lodernder Gluten, vollkommener 
und unendlich mannigfaltiger Harmonien. • Wir erblicken in ihr 
einen Urtypus, zu welchem ihre ganze Erscheinung nur die durch- 
sichtige Hülle ist. 

Erfüllen diese Meisterwerke unseren Geist nicht mit höheren 
Vorstellungen, als sie die glänzendste Wirklichkeit unserer B^ 
wunderung je bieten kann? Sind sie nicht übermenschliche, über- 
natürliche Schöpfungen? und wären trotzdem Elemente in ihnen, 
welche nicht wesentlich menschlich sind oder außerhalb der Natut 
liegen? 

Jede Kunst hat das Recht, besondere Typen aufzustellen, weiche 
diesen oder jenen Seelenzustand in einer idealen Abstraktion zur 
Erscheinung bringen — sei es fleckenlose, unverwüstliche Tugend, 
sei es der in seinem höchsten Ausdruck festgehaltene Schmerz. 
Solche Verkörperungen sind wie konzentrische Prismen, welche die 
ganze Lichtfülle gewisser Strahlen widerspiegeln, von denen wir 
sonst nur, je nachdem sie auf verschiedene Individualitäten verteilt 
sind, die Abstufungen der einzeln sich folgenden Tinten kennen 
lernen würden. 

Die Kunst aber belehnt nur unter der Bedingung die Phantasie 
des Menschen mit ihrem schöpferischen Vermögen, daß er ihre 
Geheimnisse ihr entreiße, ihre Mysterien enthülle. 

Je höher der Begriff ist, welchen der Künstler zu einem idealen 
Typus wählt, je höher die Empfindung über der oberflächlichen 
Fassungskraft des Gewöhnlichen steht, so daß sie durch Erläute- 
rungen dem Verständnis der Menge näher gerückt werden müssen: 
um so notwendiger ist es, daß Begriff und Empfindung in einer 



Der Fliegende Holländer. 169 

Form von hervorragender Schönheit und relativer Vollkommenheit 
auftreten. 

Trotz der beständigen Umgestaltungen, wie der Wechsel der 
Zeit und des Orts sie im menschlichen Geist hervorbringen, bleibt 
das menschliche Herz doch immer dasselbe, und immer wird es sich 
dem beredten Ausdruck von Seelenvorgängen, die seiner Natur 
eigen sind, eindrucksfähig zuwenden. Es wird niemals unempfäng- 
lich für poetische oder plastische Meisterwerke werden, mögen 
sie ihren Ursprung auch einer noch so entfernten Vergangenheit, 
einer noch so verschiedenen Zivilisation verdanken. Indische Poesie 
und griechische Kunst machen noch heute verwandte Saiten in uns 
erklingen; sie wecken Gefühle und Ideen, die niemals aussterben. 
Immer aber wird die Schönheit der Form, des Stils, der herrliche 
Körper, in welchen der Gedanke sich kleidet, es sein, was ihm Un- 
sterblichkeit verleiht. 

Nicht dem Wollen des Künstlers, sondern dem, was ihm aus- 
zusprechen gelungen ist, trägt die Nachwelt Rechnung. 

Nur wenn der Gedanke die Form gefunden hat, durch die er 
ungeschwächt wie eine Flamme in fehlerfreiem Kristall leuchtet, 
wird sein Werk die Grundbedingung langer Lebensfähigkeit in sich 
schließen. 

Da die Musik nicht wie die plastischen Künste ein Modell zum 
Nachahmen hat, aber doch gleich der Architektur sich in sehr ver- 
schiedene Stile verzweigt, gleich ihr allen Veränderungen der Schule, 
der Manier, des Geschmacks unterworfen ist und ebenso innig wie 
sie mit dem Charakter der Nationalitäten zusammenhängt, so 
läuft sie noch öfter als die Architektur Gefahr, daß ihre Idiome 
tote Sprachen werden, daß ihre geheiligten Hieroglyphen rätselhafte 
Zeichen bleiben, daß ihre Herrlichkeiten in die einer neuen Morgen- 
röte vorangehende Nacht versinken. Dennoch besitzt sie die Gabe, 
einen so vollständigen Zusammenhang von Geist und Stoff zu 
erschaffen, daß ihren vollendetsten Momenten — ungeachtet aller 
Veränderungen des Stils — die Kraft eingeboren ist. Formen, 
welche dem in sie ergossenen Gefühlsinhalt entsprechen, hervor- 
zubringen. Welche Umgestaltungen auch unsere Kunst im Laufe 
der Jahre oder Jahrhunderte erfahren wird, welche Modifikationen 



170 Der Fliegende Holländer. 

sich auch in der Art der Behandlung, Gruppierung, Vereinigung 
der verschiedenen Elemente (melodischer Gedanken, harmonischen 
Gewebes, rhythmischer Bewegung, unbekannter Klangfarben, neuer 
Modulationen, unerwarteter Tonalitäten) geltend machen mögen, 
so glauben wir, daß Wagners Werke das musikalische Drama 
unserer Epoche und namentlich im großen deklamatorischen 
Stil, wie er sich zur Zeit, wo der Musik die reichsten instrumentalen 
und szenischen Hilfsmittel zu Gebote stehen, entwickeln konnte, 
am bedeutendsten kennzeichnen werden. 

Wagner hat nicht allein seinen Rahmen und die Kraft seines 
.Kolorits bis- zur äußersten unseren Sinnen gesetzten Grenze aus- 
gedehnt: er hat in seinen Dramen auch so zahlreiche Mittel der 
Wirkung konzentriert, daß ihre Vereinigung die ganze Gehör-, 
Gefühls- und Auffassungsfähigkeit der Zuhörer beansprucht. Wagner 
hat sich der sämtlichen Instrumentaleffekte, Gruppierungen der 
Stimmen und der ganzen Pracht der Dekorationen usw. seiner 
Vorgänger bemächtigt und das so Gewonnene auf bedeutung^ 
volle Stoffe verwandt. 

Jedes von den drei in der Reife seines Genius geschaffenen 
Werken erreicht mit verschiedenen Mitteln und anderen poetischen 
Hebeln dasselbe. Im „Tannhäuser" wird der Streit zwischen 
Gutem und Bösem, zwischen Freiheit und Autorität, zwischen 
Seele und Sinnen, den beiden Prinzipien, welche in der Natur und 
im Menschen so tief wurzeln, daß ihr Nebeneinander, so sehr es auch 
von Vernunftgründen als unmöglich dargestellt werden mag, ewig 
fortbestehen wird und dem Geist immer wieder als das einzig Mög- 
liche erscheint, in so ergreifender Weise geführt — er versetzt das 
große Problem unseres Daseins, dessen Lösung von den Titanen 
der menschlichen Intelligenz so beharrlich gesucht wird, in so 
schmerzensreiche Regionen und greift mit so kühn energischer Hand 
in die Saiten, deren bloße Berührung unserem verwundbaren Innem 
schon Schmerzen verursacht, — daß in dem Maße, in welchem das 
Drama seine feierlich leidenschaftlichen. Entwickelungen entrollt, 
uns der Atem wie beim Ersteigen hoher Gipfel stockt und unsere 
Kräfte der Erschöpfung nahen, wenn das Ende voll Trauer und 
tiberirdischer Freude eintritt. 



Der Fliegende Holländer. 171 

Gegenüber dem „Lohengrin" möchte es beim ersten Blick 
beinahe scheinen, als berge das Sujet desselben eine geringere 
Wirkungsfähigkeit in sich. Er erzählt nicht, wie der „Tannhäuser", 
jedem Zuhörer mit einer Art poetischer Apologie seine eigene 
Geschichte, und man glaubt darum, gegenüber den sich hier ent- 
wickelnden Begebenheiten und Leidenschaften ruhiger bleiben zu 
können. Und doch ist dem nicht also. Der Autor hat hier alle 
erdenklichen Hilfsmittel der Kunst so verschwenderisch angehäuft, 
mit solcher Farbenpracht und wieder mit solch hehrer Keuschheit im 
Kolorit, mit solch lebendiger Wahrheit gemalt, daß der gleichgül- 
tigste Zuschauer sich selbst vergißt und nur noch in den Wesen lebt, 
deren Geschick sich vor seinen Augen vollzieht. Trotzdem Wagner 
liier kein Spiegelbild seiner eigenen Leiden, wie im „Tannhäuser", 
geschaffen hat, muß der Hörer sich gefangen geben: er geht ganz 
in den vor ihm sich bewegenden Gefühlen auf, er empfindet sie 
lebendig mit und folgt ihrer Entwickelung so gespannt, daß er am 
Schluß des erschütternden Dramas mit erschüttert ist. 

Im „Fliegenden Holländer" endlich sehen wir uns in keinem 
von den oben angeführten beiden Fällen; wir finden weder in den 
handelnden Personen uns wieder, noch fühlen wir uns durch den 
gebieterischen Zauber einer mit feingebildetem Geist verbundenen 
Kunst gezwungen, unsere Freiheit aufzugeben. Hier ist aber der 
Inhalt selbst so tief traurig, der Held ist von seinem ersten Auf- 
treten an so maßlos unglücklich und bekundet das in so düster 
klagendem Gesänge, daß wir beim Anhören dieser tragischen Elegie 
als Zeugen so edel erduldeter Qualen uns der Tränen nicht er- 
wehren können. Lassen uns auch die wenigen Lichtstriche in diesem 
Sturmbild und seine wenigen heiteren Szenen auf Augenblicke zur 
Ruhe kommen, so macht das Ganze doch den Eindruck so unheil- 
barer Schwermut, daß man am Schlüsse glaubt, den Becher derselben 
bis auf die Hefe geleert zu haben. 

IIL 

. Im ersten Akt, wenn nach dem Schlußakkord der Ouvertüre 
sich der Vorhang hebt, dauert der Sturm im Orchester fort und 



172 



Der Fliegende Holländer. 



wird auf der Szene sichtbar. Sie stellt eine norwegische Küste mit 
steilen Felsenufern dar. 

Es ist Nacht — das Meer heftig bewegt. Ein Kaufmannsschiff 
wird längere Zeit auf den Wellen umhergeschleudert und vom 
Strand zurückgeworfen. Endlich landet es und wirft Anker. Alles 
ist in dichtes Dunkel gehüllt, und nur das Zucken der Blitze läßt 
uns die Matrosen gewahren, die zu ihren Manövern einen jener 
monotonen Rufe ertönen lassen, der diese Bewegungen rhythmisch 
kadenziert: 



Nr, 10. 
Matrosen: 



Tenor. 



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Ho- Jo - het 



Hai -Ig - Jol 



BaM. 



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Ho-jo - hei 



Hai - lo - jol 



Daland, der Kapitän* des Schiffes, steigt an das Ufer, um sich 
zu orientieren, und findet, daß ihn der Sturm sieben Meilen vom 
heimatlichen Hafen, in den er nach langer Abwesenheit einlaufen 
wollte, entfernt hat. Inzwischen beginnt der Wind sich zu legefli 
infolgedessen er seiner Mannschaft erlaubt, sich der Ruhe hinzu- 
geben. Auch er sucht sie und vertraut währenddessen einem jungen 
Piloten die Nachtwache an. Dieser, obwohl auch von Müdigkeit 
erschöpft, versucht trotzdem, dem Schlafe tapfer zu widerstehen, und 
um sich besser wach zu halten, stimmt er ein Lied zum Lobe des 
Südwindes an, der das Schiff zur Heimat, zum Liebchen zurück- 
führt. Der Gesang ist hie und da von leichten Schlafanfällen des 
Sängers unterbrochen, und in dem Maße, in welchem der Wind 
schwächer weht, werden auch die Töne des Orchesters milder und 
lassen die tapfere Tenorstimme heller hervortreten. Doch nacf 
kurzen Pausen peitscht eine brausende Woge aufs neue das Schifft 



Der Fliegende Holländer. 173 

und der von ihrem heftigen Stoße aus dem Schlummer aufgeschreckte 
Pilot stimmt den Refrain seines Liedes von neuem an. 

Für das Ohr des Musikers ist das durch die Streichinstrumente^ 
besonders von Violen und Celli dargestellte stets wechselnde, ruhelose 
Wogen und Schäumen von außerordentlicher Wirkung. Es geht 
durch die erste und zweite Szene bis zu der dritten und der Er- 
scheinung des Kapitäns fort. 

^ Diese drei ersten Szenen bilden so gewissermaßen die sichtbare 
Darstellung der Ouvertüre. Das Ohr glaubt noch besser als das 
Auge das riesige Anschwellen der Fluten zu sehen, die — nach 
einem Ausdruck des Autors — sich in der szenischen Anordnung 
„turmhoch erheben". 

P-' Es gibt wenig Meisterwerke beschreibender Poesie, die dem 
hier entwickelten landschaftlichen Talente an malerischer Wirkung 
gleichkommen. Man möchte ihm gegenüber, wie vor Prellers 
Seegemälden sagen: „Das ist naßT' Man spürt die salzige Brise 
in der Luft, — man glaubt den scharfen Duft der Seegräser einzu- 
atmen, den schweren Nebel, den leichten Reif der kalten Zonen 
zu fühlen, der die Augenlider niederdrückt und die Hände frostig 
macht, — man hört den gezackten Flug der weißen Möwen, die gleich 
neckischen Kobolden umherwirbeln oder wie Schneeflocken, die der 
launische Nordwind vor sich herjagt, in der Irre schweifen, — man 
hört den kurzen, ängstlich fragenden Schrei, das unruhige Gekreische 
der gefiederten Abenteurer, ihren hastig zuckenden Flügelschlag, 
ihre Zeichen flüchtigen Schreckens im Schwanken zwischen Reiselust 
und Furcht vor den Anzeichen des kaum beschwichtigten Sturmes — 
wir fühlen die Seeluft, wir baden gleichsam in den dem Meere ent- 
steigenden Dünsten, wir sind betäubt von dem steten Schaukeln 
auf der Brust des alten Ozeans, der immer jung bleibt in Anmut 
und in verführerischem Lächeln, in seinen verliebten und treulosen 
Verlockungen, wie in der Energie seines wilden Zornes, seiner blinden 
Rache. 

Un'ter einem leise bebenden Rhythmus scheint es, als wäre der 
flüssige Kristall in seinem ungeheuren Bassin durch das unruhige 
Gebaren des unterseeischen Riesen bewegt, des furchtbaren Ada- 
mastor, dem einst unter anderem Meridian die kühnen portugiesischen 



174 Der Fliegende Holländer. 

Entdecker begegneten, der alle Zonen seines Reiches besucht, um die 
Grenzen zu hüten und mit heftigem Flossenschlag die Myrmidonen 
in die Tiefe taucht oder die frechen Eindringlinge aus seiner Sahara 
fortschreckt, deren einsame Weite ihm lieb ist. 

Man kann sich dem Eindrucke dieser musikalischen Marine nicht 
entziehen. An reichem pittoresken Detail steht sie auf gleicher 
Stufe mit den besten Stücken der berühmtesten Seemaler. Nie ist 
ein so meisterhaftes Gemälde für das Orchester geschaffen worden. 
Ohne Bedenken läßt es sich hoch über alle analogen Versuche 
stellen, die sich in anderen musikalisch-dramatischen Werken vor- 
finden und zu einem Vergleich berechtigen. 

Wir sprechen dieses aus, ohne dem Genius Mozarts zu nahe 
treten oder die seinem enthusiastischen Biographen Oulibicheff 
schuldige Rücksicht außer Augen setzen zu wollen, welcher von d&i 
beiden Stürmen im „Idomeneo" folgendermaßen spricht: „Erhebt 
sich nicht Mozart in den abwechselnden Chören der Schiffbrüchigen 
und der am Ufer Stehenden wie ein Neptun über das Niveau 
seiner Zeitgenossen, um den Melomanen das Schweigen der Be- 
wunderung, seinen Rivalen das der Verzweiflung aufzuerlegen?" — 
Und weiter: „Ein Wallen und Gären im Orchester verkündet das 
Nahen des Ungeheuers ... die Achtelbewegung wird immer eifriger, 
die Violinen schlagen Lärm in Akkorden, die wie Sturmglocken 
ertönen, die Phalanx der Bläser tritt mit langem Wehgestöhne 
hinzu ... ein Sturm, gegen den der im ersten Akte nur ein Stoßwind 
war . . . Figuren steigen in denselben Intervallen zu gleicher Zeit 
auf und nieder, und dies bringt, in Verbindung mit den Schwankungen 
des 12/g.i^hythmus einer Art von Tretbalken, ein furchtbares Bild 
der unter den Schlägen Neptuns erbebenden Erde hervor. Ein 
Hagel von Triolen trifft die Flüchtigen, Finsternisse umgeben sie, 
der Orkan treibt sie nach verschiedenen Richtungen vor sich hin, 
der Blitz betäubt sie durch seinen Glanz — das ist unvergleichüch, 
das ist erhaben r* 

Dieser Analyse gehen folgende Worte voraus: „Mozart hat 
keine seiner Opern mit solcher Fülle und solchem Luxus instru- 
mentiert. Überall Reichtum, der an Verschwendung grenzt. Cr 



Der Fliegende Holländer. 175 

wollte alles zur Anwendung bringen, was nur in einem Orchester 
Platz finden konnte." 

Wir überlassen jedem musikalischen, redlich strebenden Künstler, 
die beiden Partituren — wir möchten sagen können, die beiden Auf- 
führungen — zu vergleichen, um einzugestehen, daß mit dem 
materiellen Fortschritt in der Kunst das Genie heutzutage Wirkungen 
zu erzielen vermag, von welchen die alten Meister nur ein Vorgefühl, 
nur eine Ahnung haben konnten. 

Die Musik kann durch die immer gesteigerte Reproduktion der 
Eindrücke, welche große Naturschauspiele in uns hervorrufen, ihr 
weites Gebiet noch immer erweitern, ungefähr wie einst die Malerei, 
indem sie den Goldgrund verdrängte, welcher im Mittelalter die ein- 
fachen Pompejanischen Grundfarben mit größerem Prunk ersetzte, 
um lebendige landschaftliche Perspektive zu versuchen, die anfangs 
nur als Umgebung menschlicher Gruppen diente und sich später zu 
einem selbständigen Zweig der Kunst entwickelte. 

Der junge Pilot hat sich tapfer gegen den Schlaf gewehrt — 
endlich aber tiberwältigt ihn die Müdigkeit. Während einer Pause 
des Sturmes schläft er ein — so fest, daß er das neue Erwachen des 
Sturmes, die Regengüsse, die das Orchester über ihn schüttet, nicht 
spürt. Aus den dichten Wolken bricht nun die klagende, fatalistische 
Melodie hervor, welche den hadernden Elementen des Nahen eines 
höheren Elementes verkündet, das ihrer Verwüstung lacht, ihrem 
Ungemach trotzt. 

Schwarz, mit roten Segeln, naht von ferne das Geisterschiff. 

Rasch segelt es dahin. Ungehemmt von den verdoppelten Wind- 
stößen, von heftig zuckenden Blitzen, vom Aufruhr der murrenden, 
widerspenstigen Wellen, von dem Getöse des Donners landet es 
Dalands Schiff gegenüber. 

Auf dem Verdecke gewahrt man eine Gruppe schwarzgekleideter 
Matrosen mit langen, weißen Barten und von hagerem, verstörtem 
Aussehen. Auch sie werfen ihre Anker aus, aber mit feierlich 
düsterem Schweigen. 

Bleicher als alle bleibt der Kapitän lange unbeweglich an den Mast 
gelehnt, ehe er sein schwimmendes Gefängnis verläßt. Langsam steigt 
er an das Land, traurig die ihn umgebende Landschaft betrachtend. 



176 Der Fliegende Holländer. 

* 

Aus dem Orchester taucht das Verdammungsmotiv (Noten* 
beispiel Nr. 1) auf, welches ein gedämpftes Licht, wie das einer 
Sonnenfinsternis, auf ihn wirft und ihn voti allen lebenden Wesen 
zu isolieren scheint. Mit schmerzlicher Nachlässigkeit an einem 
Felsen lehnend singt er mit hohlem Ton, aus dem die Leiden von 
Jahrhunderten reden: 

„Die Frist ist um, und abermals verstrichen 
sind sieben Jahr'. — Voll Oberdruß wirft mich 
das Meer ans Land. * " 

Zwischen jedem einzelnen Ausruf taucht aus dem Orchester eine 
schäumende Woge, als sollten sie immer eine neue siebenjährige 
Verdammungsfrist bedeuten, welche in der Zukunft ersteht, um in 
eine unbegrenzte Vergangenheit zu sinken. 

Mit auflodernder Wut bäumt er sich dagegen auf und ruft 
aus: 

;,Ha, stolzer Ozean I 
In kurzer Frist sollst du mich wieder tragen!" 

Ein Schrei der Verzweiflung dringt aus den Worten: 

;,Dein Trotz ist beugsam — doch ewig meine Qual!" 

Bald jedoch gewinnt er die Fassung eines dumpfen Trotzes gegen 
die Strenge seines Geschicks zurück und spricht mit gelassener 
Festigkeit: 

„Das Heil, das auf dem Land' ich suche, nimmer 
werd* ich es finden! — " 

Und als drohe er selbst, ja als fordere er das Schicksal zum Kampfe 
auf, ruft er dann sardonisch aus: 

— ;,Euch, des Weltmeers Fluten, 
bleib' ich getreu, bis eure letzte Welle 
sich bricht und euer letztes Naß versiegt!" — 

Nach diesem Rezitativ voll Hochmut des Seelenleidens bricht 
aus dem Orchester ein neuer Windstoß* Die Wellen richten sich 
auf, wie Rosse sich bäumen, wenn sie das Herannahen eines über- 
natürlichen Wesens wittern, und der Holländer ergießt seine stolze 
Klage in dem melodischeren Arioso agitato, welches schon in der 
Ouvertüre vorkam. Die Erinnerung an das Erlittene drängt sich 



D«r f=^liegende Holländer. 17? 



mit Macht in den Vordergrund und vermag nicht länger die herz- 
zerreißenden Klagetöne zu ersticken: 

„ — Wie oft in Meeres tiefsten Schlund 
stürzt' ich voll Sehnsucht mich hinab: — 
doch achl den Tod, ich fand ihn nicht! 
Da, wo der Schiffe furchtbar Grab, 
trieb mein Schiff ich zum Klippengrund: — 
doch achl mein Grab, es schloß sich nicht I'' — 

und mit aufstachelndem Tone, als entböte er, ein verwegener 
Streiter, menschliche Heere zum Kampf, fügt er hinzu: 



ft 



Verhöhnend droht' ich dem Piraten, 
im wilden Kampf hofft' ich den Tod: 
•„„Hier" — rief ich — „zeige deine Taten! 
Von Schätzen voll ist Schiff und Boot."" -- 
Doch achl des Meers barbar'scher Sohn 
schlägt bang das Kreuz und flieht davon. — 
Nirgends ein Grab! Niemals der Tod! 
Dies der Verdammnis Schreckgebot. 



« 



Nachdem er in Erinnerung an die Schrecken seiner Strafe zu 
immer aufwühlenderem Zorn und empörterem Unwillen sich erhoben, 
sinkt er nach diesen Worten, der Last der Verfolgung erliegend, 
todesmüde zusammen. Wie in gänzlicher Vernichtung verstummt 
er einen Augenblick und richtet dann einen kUhnen, forschenden 
Blick zum unversöhnlichen Himmel empor, der in diesem Augen- 
blicke von einem dichten Schleier dunkler Wolken umhüllt ist. Der 
«/g-Täkt wird hier zum ^/4-Takt. Das Orchester verharrt in einem 
Tremolo der Kontrabässe und Celli, zu welchem die Violinen in 
ihrer tiefsten Lage hinzutreten. Abwechselnd unterstützen es 
Fagotte, Klarinetten und Paukenwirbel, welchen letzteren sich auf 
einige Takte die Posaunen im tiefen Register zugesellen. 

Diese düstere Klage gehört zu den herrlichsten Inspirationen 
der Muse des Weltschmerzes in unserem von ihr beherrschten Jahr- 
hundert. 

Majestätisch in seinen Schmerz gehüllt, kalt und doch bewegt 
fragt der Holländer wie ein Ankläger die richtenden Mächte, welche 
ewig taub gegen seine Klagen, ewig blind gegen seine Leiden sind: 

Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. ]2 



178 



Der Fliegende Holländer. 



„Dich frage ich, gepries'ner Engel Gottes, 
der meines Heils Bedingung mir gewann: 
War ich Unsel'ger Spielwerlc deines Spottes, 
als die Erlösung du mir zeigtest an?" — 

Die noch einmal aufzuckende Hoffnung scheint endlich ganz zu er- 
sterben. Wie blutwittemde Tiger springen die Wc^en empor, die, 
glücklicher als er, an steiler Felswand sich brechen, während keine 
Gefahr den fluchbeladenen Leib des Unglücklichen zu zerstören 

vermag: 

„Vergebene Hoffnung I Furchtbar eitler Wafanl 
Um ewige Treu' auf Erden ist's getan." — 

Doch in einem letzten Aufraffen männlicher Energie und stolzen 
Mutes scheint er seiner gemarterten Seele äußere Fassung auf erlegen 
zu wollen. Töricht hatte er dem himmlischen Urteil zu entgehen 
und den Tod auf seinen Pfaden zu finden geglaubt, verzweifelnd 
hatte er erfahren, daß er vergeblich nach dem engelgleichen Mitleid, 
das ihm die Pforten des Heils zu öffnen vermöchte, vergeblich nacb 
den menschlichen Tugenden Liebe und Treue gesucht habe. So 
hofft er denn von dem Tage des allgemeinen Untergangs die Ge- 
währung seiner Anwartschaft auf Vernichtung: 

Nur eine Hoffnung soll mir bleiben, 
nur eine unerschüttert steh'n: 
So lang der Erde Keime treiben — 
so muß sie doch zugrunde geh'n . . . 
Tag des QerichtsI Jüngster Tag! 
Wann brichst du an in meine Nacht? 
Wann dröhnt er, der Vernichtungsschlag, 
mit dem die Welt zusammenkracht? 
Wenn alle Toten aufersteh'n, 
dann werde ich in Nichts vergeh'n . . . 
Ihr Welten, endet euren Lauf! 
Ew'ge Vernichtung, nimm mich auf!" 

Der Rhythmus dieses letzten Ausrufes: 

Nr. !!• 
Holländer: 



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Wenn al - le 



To - tcn auf - er - steh'n 



Der Fliegende Holländer. 



179 



ist von überwältigender Wirkung. In den acht Haupttakten des 
Motivs, welche viermal wiederholt werden, schleppt er sich zuckend 
und knirschend von einer doppelt punktierten halben Note auf alter- 
nierende Achtel. Seinem Rufe: 



Nr. 12. 
Holländer: 



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Ew' - ge Ver - nich 



tung, 



nimm. 



mich aufl 



antwortet aus dem Innern des Schiffes, wie aus einer schwimmenden 
Höhle heraus mit dumpfem Grabestone, als käme er von einer 
Gruppe Ewigverdammter, und mit einer Betonung, die voll heim- 
lichen Vorwurfs die Rache für ihr eigenes Verderben auf sein Haupt 
zu häufen scheint, die unsichtbare Mannschaft seines Schiffes, die 
nach so viel vergeblichen Versuchen ebenso aller Hoffnung bar ist, 
wie er selbst: 

Nr. 13. 
Chor: 

Tenor. 



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Ew' - ge Ver - nich - tung, nimm uns aufl — 



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Ew' - ge Ver - nich - tung, nimm uns aufl — 



Zwischen den letzten Worten des Kapitäns und dem klagenden 
Refrain seiner Matrosen ertönt aus dem Orchester gleich einem 
Urteilsspruch aufs neue das Verdammungsmotiv, welches den Anruf 
des ersteren mit vollem Klange: 

12* 



180 



Der Fliegende Holländer. 



Nn 14. 



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Pieeolo, Poi. iL Biss«. 

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und den Refrain der Matrosen wie ein fernes Echo wiederholt: 



Nr. 15. 



Hörn. 




Der Monolog muß zu den bedeutendsten gezählt werden, welche 
die musikalische Literatur besitzt. 

Energie des Gedankens und Gefühls gehen hier beständig Hand 
in Hand. Sie bewegen sich an den äußersten Grenzen, ohne in 
Übertreibung auszuarten, ohne zu krankhafter Verzerrung entstellt 
zu werden oder in zu langer Spannung zu erkalten. Die Skala 
aller Phasen des Leidens ist hier durchlaufen: stoische Ruhe, Zorn 
und Empörung, Ironie und Sarkasmus bis zur Sehnsucht nach 
Vernichtung. 

Die klagende Monotonie, mit welcher die ausdrucksvolle und 
eindringliche Tonart von C-moll nach den gewagtesten Modulationen 
beharrlich wiederkehrt, bezeichnet die immer wiederkehrenden, 
immer erneuten gleichen Schmerzen. In den mannigfachen, den 
Gesang des Unglücklichen unterbrechenden Pausen gibt das 



Der Fliegende Holländer. 



181 



Orchester den Kommentar zu seinen Tönen, die zu kurz sind, um 
so lange Leiden auszusprechen. Es greift da ein, wo die menschliche 
Stimme nicht ausreichend ist, um die ganze Intensität unaussprech- 
licher Seelenangst wiederzugeben. Diese im höchsten pathetischen 
Stile gehaltene Szene ergreift den Hörer auf eine Weise, deren die 
Poesie allein nicht fähig ist, weil sie fremde Leiden nicht so un- 
mittelbar in die eigene Brust übertragen kann wie die Musik, indem 
sie gewissermaßen ätzendes Gift in unsere Adern ergießt. Ein 
neuer Virgil, kann der Musiker uns durch alle Höllenkreise führen, 
welche ein menschliches Herz bergen kann. 

Daland, den die ersten Sonnenstrahlen geweckt, gewahrt das 
in der Nacht hinzugekommene Schiff. Er ruft es durch das Sprach- 
rohr an — aber umsonst. Niemand antwortet. Ein trauriges Echo 
sendet ihm nur den Ton seiner eigenen Stimme zurück. Endlich 
bemerkt er den Holländer, welcher nachdenklich am Felsen lehnt. 
Und indem er auf ihn zugeht, fragt er ihn, woher er komme. 

Die auf diese Frage folgende Pause ist vom Orchester mit einer 
spannenden Harmonie ausgefüllt: 



Nr« 16« Lento* 



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Bratsche. 



Pos. 



CeUo. 5 ' ^ Opliid. 



„Weit komm' ich her" — antwortet der Holländer mit tiefer 
Schwermut: 



„ — Verwehrt bei Sturm und Wetter 
Ihr mir den Ankerplatz?' 



>« 



182 



Der Fliegende Holländer. 



D a 1 a n d. 

„Vcrhüf es Oott! 
Gastfreundschaft kennt der Seemann. — Wer bist du? 

Hast Schaden du genommen?" 

Eine tiefe Trauer erfaßt uns, wenn der Kapitän antwortet: 

;^ein Schiff ist fest, es leidet keinen Schaden. — 

Durch Sturm und bösen Wind verschlagen, 

irr' auf den Wassern ich umher, — 

wie lange? weiß ich kaum zu sagen: 

schon zähl' ich nicht die Jahre mehr. 

Unmöglich dünkt mich's, daß ich nenne 

die Länder alle, die ich fand; 

das einzige nur, nach dem ich brenne — 

ich find' es nicht, mein Heimatland! — ** 

Von den Worten an: „Durch Sturm und bösen Wind verschlagen" 
beginnt eine Art seltsamer Kantilene von vierzig Takten, von einer 
eintönigen Figur der Violinen und Celli in Achtelbewegung be- 
gleitet und durch lange Noten der Klarinetten, Homer, Fagotte, 
Violen und Kontrabässe unterstützt: 



Nr* 17. Moderato. 

Holländer. 



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Durch 



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Sturm 



Viol. n. Celli. 



und 



bö - sen Wind ver- 




El. Hörner, Fag., Viol. 



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Bässe. 



Der Fliegende Holländer. 



183 



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Diese Art psalmodierten Trauerliedes, in ihrer konventionellen Form, 
macht nach dem früheren wilden Aufstürmen den Eindruck einer 
Erstarrung des Schmerzes. Die vierzig Takte gleichen den Wellen 
eines toten Meeres, die mit farblosem Widerscheine träge über- 
einander rollen. 

Der Holländer fährt fort: 

,,Verg6nne mir auf kurze Frist dein Haus, 

und deine Freundschaft soll dich nicht gereu'n: 

mit Schätzen aller Gegenden und Zonen 

ist reich mein Schiff beladen: — willst du handeln, 

so sollst du sicher deines Vorteils sein." 

Er befiehlt eine Kiste von seinem Schiffe herunterzubringen. Sie 
wird vor Daland geöffnet. Geblendet vom Anblicke des Goldes, der 
Perlen und Edelsteine betrachtet dieser die Schätze mit den Blicken 
einer naiven Habgier. In seiner Ekstase fragt der biedere Norweger, 
wer einen Preis für solche Kostbarkeiten bieten könne. 
Der Holländer erwidert: 

„Den Preis? Soeben hab' ich ihn genannt: — 
dies ist das Obdach einer einz'gen Nacht! 
Doch, was du siehst, ist nur der kleinste Teil 
von dem, was meines Schiffes Raum verschließt. 
Was frommt der Schatz? Ich habe weder Weib 
noch Kind, und meine Heimat find' ich nie! 
All meinen Reichtum biet' ich dir, wenn bei 
den Deinen du mir neue Heimat gibst.'* 



184 Der Fliegende Holländer. 

,,Wie soll ich dich versteh'n?" sagt Daland. 

„„Hast du eine Tochter?"" fragt jener zuiück. 

,,Ffirwahr, ein treues Kind!" 

„„Sie sei mein Weib."" 

„Wie? mein Kind — dein Weib?" ruft Daiand aus, dessen Auge 
mehr und mehr am Gold sich weidet und mehr und mehr in die Be- 
trachtung der kostbaren, nachlässig zu seinen Ffißen ausgebreiteten 
Kleinodien sich verliert. 

Der Holländer singt: 

„Mich fesselt nichts an die Erde! 
Rastlos verfolgte das Schicksal mich, 
die Qual nur war mir Gefährte. 
Nie werd' ich die Heimat erreichen: 
Zu was frommt mir der Güter Gewinn? 
Läßt du zum Bunde dich erweichen, 
O, so nimm meine Scliätze dahin!*' 

Daland gibt der magnetischen Anziehungskraft des Goldes nach, 
das den Händen greifbar vor ihm ausgebreitet liegt. Er schmählt 
und hadert mit sich selbst, daß er sich auch nur einen Augenblick 
besinnen könne, um am Ende gar ein Glück entrinnen zu lassen, 
das er für einen Traum halten muß, und entgegnet: 

„Fast furcht' ich, wenn unentschlossen ich bleib'« 

müßt' er im Vorsatze wanken. 

Wüßt' ich, ob ich wach' oder träume! 

Kann ein Eidam willkommener sein? 

Ein Tor, wenn das Glück ich versäume! 

Voll Entzücken schlage ich ein. 

Wagners hochstrebende Gefühlsrichtung ließ ihn hier die 
Farben nicht bis zur Karrikatur steigern. Er mildert den Ton 
in der Wiedergabe des käuflichen Vaters, dessen tausendmal ge- 
höhnter und gegeißelter Egoismus seine Habsucht und Handels- 
gewohnheiten niemals aufgibt. Daland hat mindestens einen An- 
strich von Würde, die aus der gemütlichen Neigung für seine Tochter 
entspringt: 

„Wohl, Fremdliitg, hab' ich eine schöne Tochter, 

mit treuer Kindeslieb' ergeben mir; 

sie ist mein Stolz, das höchste meiner Güter, 

mein Trost im Unglück, meine Freud' im Glück." 



Der Fliegende Holländer. 185 

Der Holländer erwidert mit einer unheimlichen Betonung, die 
das Herz beklemmt: 

;,Dem Vater stets bewahr' sie ihre Liebe; 

ihm treu, wird sie auch treu dem Gatten sein." 

Das in dieser Szene öfters gebrauchte Wort Treue, in anderen 
Fällen so häufig angewandt und banal geworden, berührt hier wie 
der Klang einer Sterbeglocke. 

„Du gibst Juwelen, unschätzbare Perlen, 

das höchste Kleinod doch, ein treues Weib — " 

erwidert nun Daland mit halb freundschaftlichem, väterlich bedenk- 
lichem Tone, halb mit dem des Kaufmanns, der seine Ware preist. 

„Du gibst sie mir?'' fragt nochmals der seitsame Brautwerber. 

«»ija, mich rührt dein Los"" — versetzt der Norweger, der, 
wenn auch bäurisch unbeholfen, doch nicht um Motive verlegen ist, 
mit denen er den eingegangenen Verkauf seines Kindes überfimißt. 
Des Holländers Freigebigkeit, statt ihn zur Vorsicht zu 
mahnen, ob sie nicht vielleicht eine Falle für Senta sein könnte, 
erscheint ihm als ein Beweis seines edlen Herzens. Aber, 
wie er die Wahrheit spricht, wenn er gesteht, daß er sich einen solchen 
Eidam gewünscht habe, so glaubt er auch wahr zu sein, indem er 
sich überredet, daß er sich keinen anderen gewählt haben würde, 
auch wenn sein Gut nicht so reich wäre. Er kommt mit dem Hol- 
länder überein, den ersten günstigen Wind zu benutzen, um in 
Dalands Heimat zu landen. 

Dieser Dialog ist fein geführt und bildet einen ziemlich natür- 
lichen, wiewohl raschen Übergang zu der ominösen Verlobung. 

Während der Kaufmann sich seines glücklichen Loses freut, den 
Sturm preist, der ihn zu so guter Stunde von seinem Wege ab- 
gelenkt, sich zu einem so beneidenswerten, allen seinen Wünschen 
entsprechenden Eidam gratuliert, tritt der unselige Kapitän mit 
einer an Widerwillen grenzenden Trauer eine neue Prüfung, einen 
neuen Versuch an, zu welchem ihn die Hoffnung — diese mit allen 
Obeln aus Pandorens Büchse entsprungene Törin — treibt: 

„Ach! ohne Hoffnung, wie ich bin, 
geb' ich der Hoffnung doch mich hini" — , 
ruft er aus. 



186 Der Fliegende Holländer. 

Es läßt sich nicht leugnen, daß die Verbindung der beiden 
Personen, die durch das große, sehr ausgeführte Schluß-Duett zu 
einer innigen wird, eine unangenehme moralische Dissonanz hervor- 
bringt. Vielleicht war es der aus einem der düstersten Gedichte von 
Byron — dem „Manfred" — empfangene Eindruck, der Wagner 
bewogen hat, eine phantastische Individualität wie den Holländer 
der simplen, rohen Natur eines Daland entgegenzustellen. Die Szene 
zwischen Manfred und dem Alpenjäger ruht jedoch auf anderer 
moralischer Grundlage und erquickt die Phantasie, anstatt ihr un- 
willkommen zu sein ; denn der schlichte Mann, wenn auch noch so 
weit entfernt, die Qual Manfreds und die Möglichkeit des Selbst- 
mordes begreifen zu können, bildet keinen schroffen Gegensatz zu 
dem vornehmen Edelmann, den er rettet: beide sind stolz und edel, 
jeder nach seiner Art. 

Bei dem englischen Dichter sehen wir die harmonische Gegen- 
überstellung zweier Arten der Poesie, der instinktiven und reflek- 
tierenden, bei dem deutschen den herben Kontrast der gemeinen 
Prosa mit der schwermütigsten Poesie. 

Hier bei Wagner sind die beiden Personen zu unähnlich; es ist 
ein zu großer Abstand zwischen ihnen, als daß die Wirkung ihrer 
verschmolzenen Stimmen nicht als eine forzierte (etwas opern- 
mäßige) erscheinen sollte. Während der eine sich zum Tragischen 
erhebt, sind dem anderen absichtlich musikalische Gemeinplätze in 
den Mund gelegt, welche die Gewöhnlichkeit seines Charakters auf 
das schärfste wiedergeben. 

Das ganze Benehmen des Holländers zeigt stille, ruhige Würde. 
Sein Ausdruck ist gleichmäßig, edel, aber ohne irgendwelchen 
starken Akzent; er handelt und redet nach alter Gewohnheit — so 
oft schon hat er ähnliche Begegnungen und Unterhandlungen erlebt 
Alle Momente, auch die scheinbar absichtlichsten seiner Antworten 
und Fragen, ergeben sich, wie unwillkürlich, und er handelt gleich- 
sam unter dem Zwange seiner Lage, der er sich ermüdet, teilnahms- 
los und mechanisch ergibt. Ebenso unwillkürlich erwacht aber 
auch wieder seine Sehnsucht nach Erlösung. Die Frage: „Hast du 
eine Tochter?" wirft er noch mit anscheinender Ruhe hin. Als aber 
Daland enthusiastisch antwortet: „Fürwahr, ein treues Kind!'*, 



Der Fliegende Holländer. 



187 



reißt es ihn plötzlich zu der alten, so oft als trügerisch erkannten 
Hoffnung hin, und mit einer krampfhaften Hast ruft er aus: „Sie 
sei mein Weibl" — So schildert und bringt Wagner die innersten 
Erregungen in diesem Zusammentreffen zum Ausdruck. 

In Daland dagegen finden wir keine Erhabenheit des Gefühls. 
Er repräsentiert ganz und gar die Alltagsbiederkeit, die ohne Wurzel 
und Bestand ist, wie ein Wassergewächs, das .vom ersten besten 
Ereignis ohne Widerstreben fortgetrieben wird. Wagner hat dem 
Daland nichtsdestoweniger alle möglichen Hintertüren offen ge- 
halten, um dieser Rolle den Anstand zu wahren. In einer kleinen 
über die szenische Einrichtung dieser Oper an die Theaterregisseure 
gerichteten Schrift sagt er bezügüch derselben, daß diejenigen, welche 
die Szene zwischen Daland und dem Holländer vielleicht unnatürlich 
finden sollten, nur bedenken möchten, wie solche Händel unter 
anderen Formen und mit weniger Verdeckungskünsten wohl tag- 
täglich in allen Klassen der Gesellschaft abgeschlossen werden. — 

Der Sturm ist gänzlich beschwichtigt. Der gewünschte Wind 
erhebt sich, und die beiden Schiffe lichten die Anker. Dalands 
Schiff soll den Weg zeigen und läuft zuerst aus. 

Während die Matrosen die Anker lichten, stimmen sie wieder 
die charakteristischen langgehaltenen Noten an, welche sie beim 
Landen in der ersten Szene gesungen hatten: Hohoje, halloho, 
hoUp, halloho! (Notenbeispiel Nr. 10), wonach sie im Chor das 
ganze Lied des jungen Piloten zu Ehren des Südwinds wiederholen, der 
die ungeheuren weißen Segel auf bläht wie Schwingen eines Schwanes. 

In den Refrain mischen sich einige Andeutungen der Tanzrhyth- 
men, die zur Feier der Rückkehr im dritten Akt vorkommen: 

Nr. 18^ _ _ _ _ 

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Der Fliegende Holländer. 



Die anderen Vene tdnen fort, während der Kauff ahrer ädi entfernt 
Alle Manöver mit erstaunlicher Schnelligkeit und Ldditigkeit, aber 
mit Todesschweigen ausführend folgt ihm das schwarze Schiff mit 
roten Segehi. 

IV. 

Dem zweiten Akte geht ein Instrumental- Intermezzo voraus. 

Wagner wendet auf ähnliche Stücke eine große Sorgfalt 
Seine Zwischenakte sind voll genialer Züge, voll feiner poetischer 
Intentionen. Meistens sind sie epische Fortsetzungen oder Er- 
gänzungen der dramatischen Handlung, in welchen die kontrasticfea- 
den oder verwandten Hauptmotive und Ideen der Oper gldchsam 
die Ereignisse bis zum Beginn des nächsten Aufzugs vorauserzählen. 
Sie sind ebenso meisterhaft stilisiert, als die von dem Lauf der 
Begebenheiten oder dem momentanen Ausruhen der Stimmen be- 
dingten Pausen in der Handlung, während welcher das Orchester 
selbständig eingreift. 

Derartige Zwischenräume wurden sonst mit nichtssagenden, 
banalen Ritomellen ausgefüllt. Wagner aber behandelt sie mit 
besonderer Aufmerksamkeit. Er läßt sie als integrierenden Teü 
des Dramas eine wichtige Stellung in demselben einnehmen. Solche 
Momente vervollständigen bei ihm die Physiognomie seiner Personen, 
weiche sie gleichsam mit einer besonderen Atmosphäre ihrer ver- 
geistigten Leidenschaften umgeben. 

Dieses Mai nimmt das Orchester das Lied des Piloten: 



Nr. 19. AUegro. 



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Der Fliegende Holländer. 



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und den Abschiedschor wieder auf: 
Nr. 20. 

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Viol., PI., Hob., Kl., P»g. n. HSrner. 



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Celli n. B&886. 



Wir sehen den wackern Daland, umgeben von seinen Matrosen, dahin- 
segeln, froh der Beute, der kostbaren Kiste, die der Holländer auf 
sein Schiff hatte bringen lassen, und glücklich, seiner Tochter einen 
Bräutigam zuzuführen. Wir folgen ihm, bis er den Hafen erreicht, 



190 Der Fliegende Holländer, 

worauf wir im raschen Übergänge zu Senta versetzt werden, das 
Schnurren der Spinnräder und einige Refrainnoten des Gesanges 
hören, den die jungen Spinnerinnen anstimmen. 

Ein nach skandinavischem Gebrauch getäfeltes, mit Modellen 
von Korvetten, Kuttern und Schonern, sowie mit kolorierten, See- 
stücke darstellenden Kupferstichen geziertes Zimmer zeigt uns eine 
Gruppe junger Spinnerinnen. 

Sie singen ein reizendes Lied mit obligater Begleitung der 
Spinnräder. 

Senta nimmt nicht teil daran. Tief sinnend, von schwermütigen 
Gedanken erfüllt, läßt sie die Hände ruhen. 

Ihre Amme, Mary« unterbricht den Chor, aber die jungen 
Mädchen singen ungestört weiter* Das Schnurren der Räder setzt 
sich mit einem anhaltenden Triller der Violinen, zu dem die zweiten 
Violinen mit allerliebsten rhythmischen Schelmereien auf den 
schlechten Taktteilen hinzutreten, so lange fort, bis die Singenden 
ungeduldig über Senta werden, die gedankenabwesend weder spinnt 
noch singt und gar nicht auf die Gegenwart der Gefährtinnen 
achtet, sondern mit unverwandtem Blicke nach einem jener illu- 
minierten Bilder starrt, die ebenfalls fast in allen Seemanns- 
wohnungen zu finden sind und irgend eine Ballade, eine Volkssage 
verherrlichen. Das Sentas Aufmerksamkeit so gänzlich absor- 
bierende Gemälde stellt den holländischen Kapitän dar, wie die 
Tradition sein getreues Andenken und sein lebendiges Bild be- 
wahrt hat. 

Mary schilt sie aus. Wie sie nur immer mit diesem unglück- 
seligen Bilde sich beschäftigen könne, zürnt sie. Die Mädchen 
stimmen ein und spötteln über diese Liebhaberei Sentas und über 
die Eifersucht, die man von ihrem Verlobten, dem Jäger Erik, 
befürchten müsse. Hierdurch in ihrem Träumen gestört und un- 
mutig gemacht, fordert Senta die Amme auf, ihnen die Ballade vom 
holländischen Kapitän zu singen. Aber die Alte, von Sentas 
Schwärmerei unheimlich berührt, weist dieses Ansinnen mit Ent- 
setzen von sich und spricht feierlich: 

„Den fliegenden Holländer laßt in Ruh*!" — 



Der Fliegende Molländer. 



191 



Worte, zu welchen aus dem Orchester deutlich das Verdammungs- 
motiv ertönt. 

;,Wie oft doch hört* ich sie von dir!" — , 

erwidert Senta, und um den Freundinnen die Spöttereien zu ver- 
gelten, deren Ziel ihr träumerischer Hang, ihre seltsame Sympathie 
für den unseligen Kapitän ist, und um ihre Rührung und ihr Mitleid 
für das Los des Unglücklichen, dessen sich niemand erbarmt, und 
dessen Qualen ihr Herz so innig mitfühlt, zu erwecken, singt sie nun 
selbst die Ballade, die Mädchen ermahnend: wohl auf die Worte 
zu achten. Den Neugierigen scheint nichts gelegener zu kommen, 
als in ihrem großen Arbeitseifer gestört zu werden. Sie rücken näher 
zu Senta heran, um aufmerksam ein Lied zu hören, das alle kennen, 
das aber Senta so schön singt. 

Das Lied beginnt mit seinem Refrain, dem Verdammungs- 
motiv, einer genauen Wiederholung der ersten Takte der Ouvertüre : 

Nr. 21. 

Senta: 






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Jo ho hoel Jo ho ho hoel Ho ho hoel Jo 



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Das Orchester unterstützt Sentas Gesang mit einer volltönenden, 
düsteren Begleitung. 

(Ballade.) 

„Johohoe! Johohocl usw. 

Traft ihr das Schiff im Meere an, 

blutrot die Segel, schwarz der Mast? 

Auf hohem Bord der bleiche Mann, 

des Schiffes Herr, wacht ohne Hast. 

Huil — Wie saust der Wind! — Johohoe! 

Hui! — Wie pfeift's im Tau! — Johohoe! 

Huf! — Wie ein Pfeil fliegt er hin, 

ohne Ziel, ohne Rast, ohne RuhM 

Doch kann dem bleichen Manne Erlösung einstens noch werden, 
fand' er ein Weib, das bis in den Tod getreu ihm auf Erden! — 
Ach! Wann wirst du, bleicher Seemann, sie finden? 



192 Der Fliegende Holländer. 

Betet zum Himmel, daß bald 
ein Weib Treue ihm halt'I 

Bei bösem Wind und Sturmes Wut 

umsegeln wollt* er einst ein Kap; — 

er schwur und flucht' mit tollem Mut: 

„„In Ewigkeit laß' ich nicht ab!"" 

Hui! — und Satan hört's — Johohoel 

Hui! — nahm ihn beim Wort — Johohoel 

Hui! — und verdammt zieht er nun 

durch das Meer ohne Rast und Ruh'! 

Doch daß der arme Mann noch Erlösung fände auf Erden, 
zeigt Gottes Engel an, wie sein Heil ihm einst kann werden. 
Ach! könntest du, bleicher Seemann, es finden! 
Betet zum Himmel, daß bald 
ein Weib Treue ihm halt'l" 

Die Mädchen sind ergriffen und singen die letzten Zeilen mit* Doch 
Senta fährt mit wachsender Energie fort: 

;,Vor Anker alle sieben Jahr' 

ein Weib 7U frei'n geht er ans Land: — 

er freite alle sieben Jahr', 

noch nie ein treues Weib er fand. — 

Hui! — „„die Segel auf!"" — Johohoel 

Hui! — „„den Anker los!"" — Johohoel 

Hui! — Falsche LiebM falsche Treu'l 

Auf, in See, ohne Rast, ohne Ruh'l" 

Von ihrer sich mehr und mehr steigernden Aufregung erschöpft, 
sinkt Senta halb ohnmächtig im Lehnstuhl zusammen. Die Mädchen, 
angesteckt von ihrer Bewegung, überkommt eine andächtige 
Rührung. Sie falten betend die Hände und singen den Schluß der 
Ballade pianissimo im Chor: 

'„Acht wo weilt sie, die dir Gottes Engel einst könne zeigen? 
Wo triffst du sie, die bis in den Tod dir bliebe treu eigen?" 

Kaum aber daß sie geendet, als Senta, wie von dem Rufe einer 
inneren Stimme aus Ihrer Betäubung geweckt, sich plötzlich auf- 
richtet und mit dem aus der Peroration zur Ouvertüre uns be- 
kannten, jetzt jedoch gesteigerten Rhythmus jener schon mehrmals 
vernommenen Phrase: „Doch kann dem bleichen Manne Erlösung 
einstens noch werden" (Notenbeispiel Nr. 3) in hohen, durchdringen- 
den Tönen die Worte ausruft: 



Der Fliegende Holländer. 193 

„Ich sei's, die dich durch ihre Treu' erlöse! 

Mög' Gottes Engel mich dir zeigen: 

durch mich sollst du das Heil erreichen!" — , 

sich dann mit ausgebreiteten Armen nach dem Bilde wie nach einem 
lebenden Wesen wendet und auf dasselbe zustürzt. 

Vor diesem mit ungeahnter Gewalt ausbrechenden Gefühl 
weichen alle entsetzt zurück; die Fiktion wird fast zur Wirklichkeit; 
die Mädchen beben vor Schrecken. 

In demselben Augenblick tritt Erik ein, der junge Jäger und 
Verlobte Sentas, und verkündet die Ankunft des Vaters. Diese 
Nachricht gibt den Gedanken eine andere Richtung und erfüllt alle 
Herzen mit Freude. Wie ein auffliegender Wachtelschwarm drängen 
sich die Mädchen, um der Mannschaft, unter der sich mancher Ge- 
liebte, mancher Bruder befindet, entgegenzueilen. Mary aber hält 
sie zurück und ermahnt sie, sich vor allen Dingen mit den Vor- 
bereitungen des zu veranstaltenden Festmahls zu beschäftigen. 

Die schmollende Ungeduld, mit welcher die Mädchen diese 
Ermahnung hinnehmen, veranlaßt einen kleinen lebhaften Chor, der, 
wenn auch nicht in so feinem Ton gehalten als das Spinnerlied, 
doch infolge eines unwiderstehlichen Zuges von übersprudelnder 
Lustigkeit überall des Beifalls gewiß sein darf. 

Als die Mädchen endlich lärmend davoneilen, hält Erik Senta 
zurück und stellt ihr dringlich die schmerzliche Ungeduld vor, mit 
welcher er den glücklichen Augenblick ihrer Vereinigung herbeisehnt, 
und verlangt von ihr, daß sie den Vater bitte, denselben festzusetzen 
und zu beschleunigen. Seine Rede ist voll der unruhigen Zärtlich- 
keit jener Herzen, welche sich mehr von Gegenliebe zu überzeugen 
suchen als derselben gewiß sind, die irgend eine Lücke in den 
Vorbedingungen ihrer Liebe finden und sich doch nicht gestehen 
wollen, daß ihnen die Fähigkeit fehlt, sie auszufüllen. 

Man erkennt sofort, daß Erik schon länger Sentas Liebe zu 
gleichmäßig findet, um ihre Seele für ganz von derselben einge- 
nommen zu halten. Er sieht, daß sie die Einsamkeit dem Zusammen- 
sein mit ihm vorzieht, daß sie seine Liebe zu sehr wie ein Geschenk 
hinnimmt, ohne an Erwiderung zu denken. Senta gibt ihm anfangs 

L i s z t , Gesammelte Schriften. 1 1. V. A. 1 3 



194 Der Fliegende Holländer. 

ausweichende Antworten, wird aber dann über sein Drängen un« 
willig und wirft ihm Argwohn vor. 

Wenn erst geheimer Unmut sich in gereizten Anspielungen Luft 
macht, geht er leicht in bittere Äußerungen über. Erik, wie alle 
unbeholfenen Liebhaber, wird verstimmt, dann ungerecht, endlich 
heftig. Er wirft ihr ihre Vorliebe für die Ballade vor, daß sie 
dieselbe so oft singe, daß sie immer das Bild des fliegenden Hol- 
länders betrachte und überhaupt Mitleiden für den verdammten 
Kapitän empfinde. Er fühlt unklar — aber mit dem geschärften 
Sinn der Leidenschaft, weiche die unbestimmte Gefahr wittert — 
daß die Exaltation, wenn sie auch in diesem Augenblick nur eine 
Fiktion zum Gegenstand habe, doch die Anzeichen verborgen 
schlummernder Kräfte verrate und leicht eines Tages, wie eine 
unterdrückte lebendige Quelle, sich plötzlich einen Weg bahnen und 
in sprudelnden Kaskaden dem unterirdischen Kerker entspringen 
könne, um in Regionen vorzudringen, die seinem eigenen schüch- 
ternen Wesen unzugänglich sind. Statt teilnehmend sich der Be- 
wegung ihrer erregten Phantasie anzuschließen, statt sich mit ihrer 
Sehnsucht zu identifizieren und auf diese Weise Glück, Leben und 
Trost im Herzen zu verbreiten, benimmt er sich linkisch und 
linkischer, bis er zuletzt ernstlich ein Unrecht daraus macht» daß 
sie eine Legende, eine Fabel so lebhaft auf sich einwirken läßt. 

Senta fühlt sich dadurch unangenehm in den zartesten Saiten 
ihres Herzens berührt und dabei in den innigsten angeborenen 
Trieben ihrer Seele beunruhigt. Erik hat sie in ihren geheimen 
Sympathien — dem verwundbarsten Punkte im Frauenherzen — 
verletzt und sie in all ihrem wirklichen und aufrichtigen Wohlwollen 
für ihn gekränkt. Diese Vorwürfe kann sie nicht länger sanftmütig 
ertragen; ihre willfährige Stimmung nimmt die Färbung des Wider- 
standes an, ihre Ungeduld wird zum Unwillen. 

„Soll mich des Ärmsten Schreckenslos nicht rühren?" fragt 
Senta in dumpfem Unmut. 

;,Fühlst du den Schmerz, den tiefen Qram, 

mit dem herab auf mich er sieht? 

Ach, was die Ruh' ihm ewig nahm, 

wie schneidend Weh durchs Herz mir zieht!" 



Der Fliegende Holländer. 195 

Und als wolle es brechen, bedeckt sie ihr zuckend schlagendes Herz 
mit den zitternden Händen. Erik aber ruft aus: 

,,Weh' mirl Es mahnt mich ein unserger Traum I 
Gott schütze dich! Satan hat dich umgarnt!" 

Ermattet von Aufregung läßt Senta sich auf den Lehnstuhl 
nieder und schließt die AugenJ Sie leiht anfangs Eriks Worten 
wenig Aufmerksamkeit. Nach und nach scheint sie in Schlummer 
zu versinken, doch aber das Gesagte dabei deutlich zu vernehmen. 
Ihre Gebärden begleiten während ihres hellsehenden Schlafs die 
Erzählung, und bald greift ihr eigenes Wort dem seinen vor. Die 
Vision gibt sich kund, und in dem norwegischen Mädchen machen 
sich die magnetischen Kräfte, das sibyllinische Gesicht, das Sweden- 
borgsche Geistersehen geltend. Das verwünschte Schiff und sein 
Kapitän sind für sie keine Dichtung mehr. Sie hört und sieht sie; 
sie weiß, wo sie sind; sie fühlt ihre Bewegungen, ihr Kommen; sie 
sieht in ihrer Ekstase den Vater mit dem bleichen Manne, ganz 
wie Erik es erzählt. Er hatte geträumt, daß beide ankamen, daß 
sie ihnen entgegeneilte und vor dem Holländer niedersank, der sie 
aufhob und leidenschaftlich umarmte. 

„Und dann?" fragt sie mit glühenden Wangen und seligem 
Lächeln um die Lippen, sich halb aufrichtend. 

„„Und dann"", entgegnet Erik voll Entsetzen, „„sah ich aufs 
Meer euch fliehen! . . ."" 

Bei diesen Worten richtet sich Senta gerade und hoch auf, ihre 
Augen sind starr und weit geöffnet; die glühenden Wangen werden 
fahl und bleich. Und die Hand ausstreckend ruft sie in tiefem, 
prophetisch klingendem Tone: 

„Er sucht mich auf! Ich muß ihn seh'n! 
Mit ihm muß ich zugrunde geh'n!" — 

Erik, voll Schrecken, als stünde er vor einem Wahnsinnsanfall, 
ringt die Hände und stößt schluchzend die Worte hervor: 

„Entsetzlich! Ha, mir wird es klar! 

Sie ist dahin! Mein Traum sprach wahr!" 

und stürzt von Grauen ergriffen zum Zimmer hinaus. 

13* 



196 Der Fliegende Holländer. 

Die allein gebliebene Senta wendet sich voll Anmut zu dem 
Porträt. Die Arme ausbreitend nähert sie sich ihm mit Blicken 
einer unendlichen Liebe, und während das Orchester in leisen An- 
sätzen das Verdammungsmotiv intoniert, singt sie mezza voce, die 
Frage wie an sich selbst richtend, den Refrain ihrer Ballade: 

„Ach! Wann wirst du, bleicher Seemann, sie finden . . /' 

Während sie noch in Betrachtung des Konterfeis eines unbe- 
kannten Geliebten, in seufzender Klage über sein Los dasteht, 
öffnet sich die Tür und zeigt in ihrem Rahmen den Kapitän. Ganz 
dem Bilde ähnlich, scheint er eines jener Porträts großer Meister, 
die von hoher Wand herniederblickend in verwittertem Goldrahmen 
stolz und schweigend die Jahrhunderte vorüberziehen sehen, ohne 
daß diese ihr Antlitz mit einer Falte vermehren können. Es braucht 
keines hohen Grades von Furcht, um bei dem plötzlichen Erscheinen 
dieses lebendig gewordenen van Dyk, dieses unbeweglichen, 
bleichen Gespenstes, einen Schauer zu empfinden. Als Senta beim 
Geräusch der Türe sich umwendet und ihn erblickt, stößt sie einen 
Schrei aus, von Entsetzen ihr entrissen, Entsetzen verbreitend. 
Dann verharrt sie wie versteinert in ihrer Stellung und betrachtet 
ihn erschrockenen, aber kühnen und festen Blickes, als wollte sie 
ihren Mut sammeln, dieser Erscheinung zu folgen, wohin es auch 
sei — ihr zu folgen bis in den Tod. 

So steht sie gleich einer Bildsäule, stumm und ausdrucksvoll, 
zitternd und gebannt. Ihre Stimme scheint plötzlich erstorben, 
während wie aus einer Welt der Trauer und der Schmerzen stammend 
das Verdammungsmotiv erklingt. 

Nach einigen Momenten stummen Verharrens gleitet der Hol- 
länder wie ein Schatten ohne Ausdruck und Bewegung nach dem 
Vordergrund. Dabei verliert er Senta nicht aus den Augen, die 
unbeweglich auf sie gerichtet sind. Daland folgt ihm, erstaunt über 
das Erstaunen der Tochter, und fragt sie, warum sie ihm nicht ent- 
gegeneile. Nun erst umarmt sie den Vater, doch ohne den Blick 
von dem seltsamen Fremdling zu wenden, dessen Antlitz sie unruhig 
und beständig beobachtet. Auf ihre Frage, wer er sei, antwortet 
Daland, daß er, im Besitz unermeßlicher Reichtümer, verbannt 



Der Fliegende Holländen 197 

in der Fremde umherirre und bei ihnen eine neue Heimat zu finden 
hoffe. 

„Wird es dich verdrießen?" setzt er mit einem Anflug von 
Stichelei hinzu. Senta, ihren Blick tief in das Auge des geheimnis- 
vollen Gastes senkend, beugt leise und lieblich das Haupt. Daland 
aber, mit schlecht verhehlter Befriedigung und so recht in voller 
Entfaltung eines wohlbegrtindeten Selbstgefallens, wendet sich nun 
zu dem reichen Gaste, um sich an der Bewunderung, welche er 
Sentas Schönheit zu zollen scheint, und durch welche sich nach 
seinem Ermessen der Handel vollständig ausgleicht, zu weiden. 

;,Gesteht, sie zieret ihr Geschlecht !'l — ; 
sagt er dem Brautwerber, der nun ernst und bejahend gleichfalls 
das Haupt neigt. Da das vor ihm stehende Paar wenig Miene 
macht, ihn zu unterstützen, hält sich Daland für verpflichtet, die 
Kosten der Unterhaltung allein zu tragen, und bemüht sich, beide 
durch vertrauliche Mitteilungen einander näher zu bringen. Er 
kündet seiner Tochter an, daß er diesem hohen Verbannten schon 
ihre Hand zugesagt habe. Ohne eine andere Erwiderung als die 
einer melancholisch bejahenden Geste deutet Senta an, daß sie 
fühle, ihr Vater selbst habe ihr Verderben, in das sie- aus freiem 
Antrieb willige, herbeigeführt. Dieser zeigt ihr einige Schmuck- 
kästchen, doch wendet sie nicht einmal den Kopf, um sie, wenn 
auch flüchtig, anzusehen. Als beide Verlobte beharrlich schweigen, 
fragt sich endlich Daland mit einfältiger Schlauheit, ob er nicht am 
Ende hier überflüssig und es besser sei, die beiden ungestört einander 
kennen lernen zu lassen — ein Einfall, den er ganz vortrefflich 
findet. Doch wendet er sich, ehe er geht, noch zu seinem Gaste, 
um ihm die folgenden Worte zuzuflüstern, von deren ernster Be- 
deutung er keine Ahnung hat, obwohl sie scharf in die Handlung 
eingreifen: 

i,G!aubt mir: wie schön, so ist sie treu!" 

Ihm sind dieselben nur ein neues Lockmittel für den reichen 
Freier, falls der starre Empfang ihn zurückgeschreckt haben sollte. 

Das lange Duett zwischen Senta und ihrem bleichen Geliebten 
füllt die zweite Hälfte des Aufzugs aus und bildet den Kulminations- 
punkt des Ganzen. 



198 Der" Fiiegende'^Hoiländen 

In dem Gefühls- und Wortaustausch der beiden außergewöhn- 
lichen Wesen konzentriert sich das Interesse dieses idealen Dramas, 
dieser In den höchsten und tiefsten Regionen der Seele gehaltenen 
Tragödie. Ein Überströmen egoistischen Stolzes hatte den 
einen zum Sturz gebracht: nur durch ein Überströmen aufopfern- 
der Liebe des anderen kann jener wieder emporgerichtet werden. 
Er hat sich zu sehr mit dem Schmerz, der ihm zum zweiten Selbst 
geworden ist, identifiziert, als daß sein eigenes Leiden eine selbst- 
kräftige Erlösungsfähigkeit hätte bewahren können. Senta weifi 
nichts von der Folter solcher Schmerzen: sie ist sich nur deren er- 
lösender Kraft bewußt. Beide aber sind gleich durchdrungen von 
göttlichem Feuer, aus welchem die Flamme der Liebe unvergänglich 
glühend emporschlägt. 

Wir sind hier zum leidenschaftlichsten, erhabensten Momente 
des ganzen Werkes gelangt. Der Holländer faßt leise an die Stirn, 
als suche er seine Gedanken vor der Erscheinung dieses schönen, 
reinen Weibes, das in eine Verbindung mit ihm in so seltsamer 
Weise eingewilligt hat, zu sammeln, als wolle er sich überzeugen, 
daß sie, deren durchdringender Blick bewußtes Handeln erkennen 
läßt, kein totes Bild seiner Phantasie, keine Fata Morgana seiner 
fieberhaften Hoffnungen sei, die gegen seinen Willen nach jeder 
abgelaufenen Frist von neuem wieder aufleben. Bei der Bewegung 
seiner Hand fällt von seinem Haupte der schwarze Federhut, dessen 
Agraffe an den mysteriösen Karfunkel erinnert, mit welchem die 
Sage den Höllenfürsten ziert, sooft er zur Erde kommend ritterliche 
Gestalt annimmt. 

Es ist dieses sein erstes Lebenszeichen. Bis Jetzt hatte er starr 
und bewegungslos, wie ein aus dem Grabe Heraufbeschworener, 
dagestanden. Jetzt erst scheint ein menschlicher Zug Ihn zur Be- 
wegung zu bringen; nicht länger leuchten seine Augen wie brennende 
Kohlen unter dem breiten Rande des Hutes hervor; um seine 
bleichen Schläfe quillt reichlockiges braunes Haupthaar, nach der 
liebkosenden Hand eines Weibes verlangend. Das Mienenspiel des 
sich aufhellenden Gesichtes läßt die Furcht verschwinden und er- 
weckt Interesse. Doch Senta bleibt wie in einem Zustande der 
Starrsucht mit unbeweglichem Auge vor ihm stehen, und aus dem 



Der Fliegende Holländer. 199 

Orchester steigt das Verdammungsmotiv empor, wie der Geist eines 
schon zu ewiger Pein Verurteilten, der, um ein neues Verdikt, eine 
Umwandlung seiner Strafe zu erfahren, aus dem Grabe gerufen wird. 
Zwei Fagotte stimmen den Rhythmus desselben an, drei Pauken- 
schläge endigen ihn. 

Noch immer entspinnt sich kein Zwiegespräch nach diesem 
langen Schweigen. Leise reden beide zu sich selbst in dem Gefühl 
ängstlicher Überraschung, das sie bei der plötzlichen, unerwarteten 
und unglaublichen Verwirklichung einer geheimen Ahnung über- 
kommt. So hören wir anfangs zwei gleichzeitige Monologe. Der 
Holländer beginnt: 

;,Wie aus der Ferne längst vergangener Zeiten 

spricht dieses Mädchens Bild zu mir: 

wie ich's geträumt seit langen Ewigkeiten, 

vor meinen Augen seh' ich's hier. — 

Die düst're Qlut, die hier ich fühle brennen, 

sollt' ich Unseliger sie Liebe nennen? 

Ach nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil. 

Würd' es durch solchen Engel mir zuteilt" 

Er bleibt, ergriffen von der Furcht, von seinem Geschick aufs neue 
und um so schmerzlicher getäuscht zu werden, als sein Herz schon 
von bewundernder Liebe erfüllt ist, mißtrauisch in sich gekehrt. 
Senta dagegen, fortwährend in seinen Anblick versenkt, gedenkt der 
vielen Tränen, die sie um seine Qualen geweint, der heißen Gebete, 
mit denen sie zu Gott gefleht, zu seiner Rettung auserwählt zu sein. 
So in ekstatischem Schwelgen haben Märtyrer innerlich die Akte 
des Glaubens erneut, wenn die Stunde der Leiden, wenn der heiß- 
ersehnte letzte Augenblick herannahte, in welchem sie in einem 
höchsten Aufschwung alle Kraft, alle Begeisterung vereinigten. 

Auffallend ist hier die im Orchester beobachtete Mäßigung im 
Kolorit. Es scheint, als vermöchte oder wagte dasselbe es nicht, den 
herrlichen Gestalten der beiden Liebenden auch nur einen aus- 
führenden Strich hinzuzufügen. Nur die Homer lassen ein lebhaft 
unruhiges Pulsieren vernehmei\, dem wir wie dem ungestümen Schlag 
zweier Herzen lauschen. Die Phrasen sind breit und langatmig. 
Es gibt wenig ähnliche Beispiele eines solchen langsam majestätischen 
Hinströmens der Melodie. Wir möchten sagen, daß aus diesem 



200 ' Der Fliegende Holländer. 

Doppelmonolog g^enseitigen Schauens und Erkennens der beiden 
Liebenden sich eine Atmosphäre löst, von welcher jedes Atom 
magnetische Anziehungskraft in sich birgt und uns wie ein unwider- 
stehlicher Luftstrom zu einer Höhe voll elektrischen Dufts und liebe- 
atmenden Weihrauchs hinaufhebt, bis in stufenweiser Verklärung 
unser ganzes Wesen mit allen seinen Sinnen von der leuchtenden 
Klarheit harmonischer Lichtschwingungen getragen zu den in 
das endlose Blau des Himmels tauchenden Gipfeln gelangt, auf 
welchen diese beiden Seelen sich begegnen. 

Nun endlich nähert sich der Holländer der jungen Norwegerin, 
sie fragend, ob sie das Wort ihres Vaters erfüllen, ob sie ihm das 
Heil gewinnen und seinen Leiden ein Ende bereiten wolle? Mit 
dem Freimut eines großen Charakters verschmäht er jede Verstellung. 
Er bedarf nicht der Versicherung ihres Mundes, daß sie die Wahr- 
heit wisse. Ihr stummes Prüfen, ihr barmherziges Auge überzeugten 
ihn längst, daß dieses Mal nicht ein naives Mädchen, sondern ein 
höheres Wesen vor ihm stehe. Darum redet er sie sogleich in der 
diesem angehörlgen Sprache an. 

Mit jenem weiblichen Zartgefühl, dessen holdselige Anmut bei 
edlen Frauen einen schroffen Gegensatz zu der prahlerischen Neugier 
bornierter Weiber bildet, vermeidet Senta eine offene Aussprache 
des Geheimnisses und läßt ihr Wissen desselben verschleiert: 

;,Wer du auch sei'st, und welches das Verderben, 
dem grausam dich dein Schicksal konnte weih'n, — 
was auch das Los, das ich mir sollt' erwerben: 
Gehorsam werd' ich stets dem Vater seinl" 

Bei den letzten, einem unwiderruflichen Gelübde ähnlich aus- 
gesprochenen Worten Sentas werden die Rhythmen des Homes 
drängender, als verdoppelten sich Sentas Herzschläge in diesem 
über Leben und Tod entscheidenden Augenblick. Wie in bergenden 
Mantel hüllt sie die keusche Glut rasch erblühter Liebe in kind- 
lichen Gehorsam. — Dieser Zug erinnert an die Antike, an Pene- 
lopens Antwort auf des Vaters Frage, ob sie das elterliche Haus 
verlassen und Ulysses als Gattin folgen wolle: sie schweigt und 
verbirgt ihr Antlitz hinter dem Schleier. 



Der Fliegende Holländer. 201 

,,So unbedingt — wie? — könnte dich durchdringen 
für meine Leiden tiefstes Mitgefühl?" 

ruft mit wachsender Innigkeit der Holländer aus. 

Sentas Erwiderung auf diese beängstigte Frage scheint, wenn 
sie leise wie im Selbstgespräch vor sich hinsingt: 

;,0, welche Leiden! Könnt' ich Trost dir bringen!" — > 

weniger die Antwort einer Liebenden als das Erforschen des eigenen 
Herzens, ein Prüfen der Kraft zu ihrer Mission, 

Der Unselige hat es gehört, hat es verstanden. Er spricht 
nicht von einer Liebe, wie sie andere für sie empfinden konnten: 
niederkniend grüßt er sie als eine Botin des Himmels, und beide 
singen zugleich: 

„O, wenn Erlösung mir zu hoffen bliebe, 
Allewiger, durch diese sei's!" — 
;,0, wenn Erlösung Ihm zu hoffen bliebe, 
Allewiger, durch mich nur sei's!" — 

Höchste Formel eines Gefühls, dessen Erhabenheit durch eine 
unendliche Kluft den Niederungen entrückt ist, in welchen die 
Komödien und Possen der Liebe aufgeführt werden und auch nicht 
die leiseste Ahnung von dem Dasein ihrer Tragödien, ihrer heroischen 
Epopöen und ewigen Apotheose vorhanden ist! Höchste Formel 
eines so absoluten und unbeschränkten Gefühls, daß es sich jedes 
Element assimiliert, von Gegensätzen lebt und Leiden in Freuden, 
Aufopferung in Wonne, Entsagung in Fülle des Besitzes, Er- 
niedrigung in Triumph, Tod in Leben, Zeit in Unsterblichkeit, 
Dunkel in Licht, Verdammnis in Seligkeit verwandelt! 

Doch zu stolz, eine solche Gabe anzunehmen, ein solches Ge- 
schenk zu empfangen, solches Opfer zu vollziehen, um solches Pfand 
seine Seligkeit einzulösen, solche Unschuld zu gefährden, eine solche 
Seele zu verderben, erhebt sjch der Holländer, und indem er jene 
Gesangesklage aus der Ouvertüre anstimmt, die er dort den Morgen- 
winden anvertraut und als sein Fuß den gastlichen Boden Skandi- 
naviens betrat wiederholt hatte (Notenbeispiel Nr. 17), schildert 
er ihr die ganzen Schrecken des grausamen Geschickes, dem sie im 
Glanz der Jugend mit ihm verbunden anheimfallen würde, sucht er 
sie zurückzuhalten von so schwerem Los und empfindet so den ersten 



202 



Der Fliegende Holländer. 



Trost in dem süßen Bewußtsein, mit gleicher Großmut, gleicher 
Bereitwilligkeit für ihr Glück seinem Heil zu entsagen. Mit 
der triumphierenden Energie der Empfindung, mit der Festigkeit 
des Glaubens und dem Enthusiasmus für einen freierwählten Beruf 
antwortet Senta, und aus ihrer Erwiderung klingt alle Beseelung 
eines Herzens, in welchem Tugend und Leidenschaft, Liebe zur 
Pflicht und Pflicht der Liebe sich zu einem glühenden Aufschwung 
vereinigen : 

„Wohl kenn' ich Weibes heirge Pflichten: 

sei drum getrost, unsePger Mann! 

Laß über die das Schicksal richten, 

die seinem Spruche trotzen kann! 

In meines Herzens höchster Reine 

kenn' ich der Treue Hochgebot — 

Wem ich sie weih', schenk' ich die eine: 

Die Treue bis zum Tod!" 

Eine melodische Deklamation von zugleich kräftigem und zartem 
Charakter — kräftig wie ein klarer, seiner Stärke sich bewußter 
Wille, zart wie der Duft eines plötzlich ergossenen Balsams — er- 
höht die poetische Schönheit dieser acht Verse. Die begleitenden 
Blasinstrumente überlassen dem Wort den Ausdruck des Mutes, 
den sie gleichsam mit einer Atmosphäre unendlicher Liebe umgeben, 
als wollte die Jungfrau das* Leid ihres Heldenmutes, ihrer Auf- 
opferung allein tragen. Nur zweimal drängen sich die ersten Violinen 
in ihre Antwort und zwar mit einer der Melopo^ des Holländers 
entnommenen Figur: 



Nr. 22 a« 



Bässe. 




Nr. 22 b. 



I. Viol. 



Der Fliegende Holländer. 203 

welche dadurch, daß sie auf demselben Akkord wie dort, nur durch 
eine eurhythmische Bewegung nach Dur versetzt eintritt, wie ein 
Lächeln des Glückes auf denselben Lippen schimmert, die erst so 
schmerzlich gezuckt, wie ein Strahl der Freude in Augen, die unter 
den Gestirnen aller Zonen längst verglüht. 

Nun vereinigen sich in seligem Umfassen, welches das Dasein 
zweier Seelen auf ewig verknüpft, die beiden Stimmen zu einem 
Zwiegesang voll bebender Aufregung. Die Sonne der Liebe strahlt 
aus ihrem Zenith in das dichte Dunkel der Verzweiflung, tötet die 
nächtigen Drachen des Unheils, belebt die Oden der Hoffnungs- 
losigkeit und löst allen Schein gegenseitiger Unsicherheit in sichere 
Gewißheit auf. Unter ihrem hellen Strahl sprossen alle Hoffnungs- 
blüten, eine neue Morgenröte steigt empor, und heilend und ver- 
narbend quillt ein wunderbar phosphoreszierender Strom über alle 
Wunden des Herzens. 

„Hier habe Heimat er gefunden, 

hier ruh* sein Schiff in sich'rem Port!" —, 

ruft Senta aus. Diesem lebhaften Überströmen ihrer überwältigen- 
den Hingebung folgt augenblicklich ein Gebet um den Beistand 
des Himmels. Mit der Demut einer Magd des Herrn, welche höherem 
Befehl als dem Impuls liebenden Verlangens gehorcht, bewahrt sie 
die nur im Entsagen ihre Befriedigung findende fromme Bescheiden- 
heit heiliger Entschlüsse. Aus den Worten: 

'„Allmächtiger! was mich hoch erhebet, 
laß es die Kraft der Treue sein!" —, 

tönt eine ruhige, dem festen Willen, ihre Mission bis an das Ende 
zu erfüllen, entspringende Klarheit, ein volles Bewußtsein von der 
Heiligkeit dieser Mission und deren schwerer Lösung. Angesichts 
dieser so eingeborenen Tugend, dieses freiwilligen Liebeszeugnisses 
durchströmt den Holländer, neues Leben, neue Kraft zum Kampfe 
gegen finstere Gewalten. Und mit aller Heftigkeit des höchsten 
Dankgefühls, in einem Taumel der Liebe preßt er Senta an sein Herz. 
Wie befreit von schwerem Alpdruck, und als atme er in höheren Luft- 
schichten, hebt sich seine Brust leichter, in seine hohlen Wangen 
kehrt das Blut zurück, der erstorbene Blick leuchtet aufs neue, und 
durch die erstarrten Hände und fröstelnden Glieder strömt die Glut 



204 Der Fliegende Holländer. 

der Freude. Beide lieben. Die Strenge des Geschickes hat 
keine Schrecken mehr für sie. Sie sind beglückt! 

Es gibt hienieden Wonnen — übermenschliche Wonnen. Kein 
Wort kann sie nennen. Von Engeln des Himmels beschirmend um- 
schwebt, können nur diese ungeblendet von ihrem Glanz an ihrem 
Anblick sich weiden. Dem irdischen Blick durch umhüllende 
Wolken entzogen, vermag sie nur die Kunst durch ihre Geweihten 
zu offenbaren. 

Anfangs will es scheinen, als enthielte dieses sich auf vierhundert 
Takte erstreckende Duett ermüdende Längen. Wer aber hört, um 
zu verstehen und zu erfassen, nicht um nur zu hören, ohne be- 
greifen zu wollen, wird hier kein Entwickelungsmoment überflüssig 
finden und unmöglich gegenüber dieser Kundgebung von Gefühlen 
kalt bleiben können, die anfangs zurückhaltend, dann scheu und 
verzagt, endlich immer glühender und intensiver alles in ihren 
magischen Kreis hineinziehen. Diese Szene führt uns so tief in 
die schmerzensreiche Exaltation der Liebenden, in das übergroße 
Glück der Geliebten, daß selbst die geringste Kürzung der Einheit 
des Ganzen entschiedenen Eintrag tun müßte. 

In diesem Duett erblicken wir das Seitenstück zu dem großen 
Duett im dritten Akt des „Lohengrin". Beide Szenen mit ihrer 
durch die Gefühlssituationen bedingten Verschiedenheit stehen bis 
jetzt als Bühnenstücke einzig da, sowohl was die Darstellung der 
Liebe und ihrer reinsten Begeisterung betrifft, als auch hinsichtlich 
der formellen Gestaltung der Phrasen, die wie auf weit ausge- 
breitetem Zaubermantel uns Sphäre um Sphäre in ferne Räume 
tragen, und in deren feierlichen Rhythmen die feinste geläuterte 
Essenz der Leidenschaft tropfenweis dem Herzen zu entrinnen 
scheint. 

Nur die Rollen sind in beiden Szenen getauscht. Hier wird 
die vom Manne begangene Sünde des Stolzes durch das erlösende 
Opfer des Weibes gesühnt. Sie vollbringt dieses Opfer ohne fremde 
Einmischung aus eigener Kraft, aus eigenem energischen Willen. 
Dort zerstört die Schwachheit des Weibes allen Zauber männlicher 
Tugend. Hier wie dort liegt das Geschick des Mannes in Frauenhand. 



Der Fliegende Holländer. 205 

Von ihr hängt er ab, bei ihr steht es, ihn für immer zu beglücken 
oder mit ewiger Trauer zu erfüllen. 

Je mehr man in die Fiktionen Wagners eindringt, um so 
mehr ist man versucht, sie einen dramatisierten Kultus jenes „Ewig- 
Weiblichen" in allen seinen Formen zu nennen, mit welchem Goethe 
wie mit einem Schlußsteine den gigantischen Bau seines „Faust" voll- 
endet hat. Bei dem einen wie bei dem anderen, bei Wagner wie 
bei Goethe, ist es das Weib, von der Natur als herrlichste Blüte 
des Gefühls geschaffen, das den Mann, in welchem die Tat als 
Frucht des Gedankens reift, reinigt und heiligt. Das Weib wird 
so das dritte, das ausgleichende Glied in der Natur des Mannes, 
das lösende Agens seiner vollkommenen Harmonie, die unentbehr- 
liche Mittlerin seines Sieges, seiner Befreiung. Ihr Verlangen nach 
Hingabe, nur stillbar durch das Verlangen des Mannes nach Besitz, 
ihre sühnungsmächtige Gabe zu lieben ergänzen und füllen die 
Lücken in der Liebesfähigkeit des Mannes aus. Das aus höchster 
Liebe entspringende Opfer des weiblichen Herzens löst alle Disso- 
nanzen im Dasein des Mannes; es übermittelt ihm das versöhnende 
Element und macht ihn durch das zarte, geheime Band, mit welchem 
das Gefühl den Gedanken und die Tat verknüpft, teilhaftig am 
inneren Glück. Weigert sie aber das Opfer der Selbstentsagung, 
unter welcher Form dieses ihr auch immer erscheinen möge, so 
versagt sie dem Manne den volltönenden Akkord, in dessen Klange 
allein er seines ganzen Wesens genießend sich bewußt wird; über- 
läßt sie ihn den Konflikten, welche dem nie endenden Begehren 
seines Geistes und seinem Tatverlangen entspringen, ohne die 
Möglichkeit, diese durch die Erfüllung des tiefen Bedürfnisses seines 
Herzens je zur Ruhe zu bringen, so überläßt sie ihn dem Unglück, 
der Unseligkeit. 

Welcher Poet könnte dieses hohe Mysterium mit tieferem 
Instinkt erfassen, als Wagner es getan? Er verpflanzte die Ent- 
faltung der Liebe in die duftigsten Regionen und dehnte ihre Per- 
spektive aus von der Zeit in die Unendlichkeit. Wer hat beredter 
als er das Entzücken, das Jubilieren, die frohlockende Seligkeit 
zweier vereinter Herzen — wer mächtiger als er den tiefen, unheil- 
baren Schmerz der Liebe zum Ausdruck gebracht? Wer hat das 



206 



Der Fliegende Holländer. 



weibliche Element edler verherrlicht? wer zwingender unser Haupt 
vor kaum erblühten, mit Waffen der Aufopferung und des Helden- 
mutes gerüsteten Jungfrauen gebeugt? Wer sang voller als er die 
Leidenschaft, deren Taumel er veredelnd verschönt, deren Ekstase 
er zu den Vorhallen des Himmels hebt? Und wenn er das Weib als 
den unentbehrlichen Weg des Mannes zu seinem Heil verherrlicht, 
so läßt er diesen selbst darum nicht in träger Untätigkeit verharren, 
da das Heil ja nur durch Liebe um Liebe zu erringen ist. 

Wir bedauern, daß der zweite Akt des Dramas nicht mit der 
Liebesszene schließt. Der Vorhang sollte mit den letzten Tönen des 
Duetts fallen. Das Gefühl des Hörers ist während desselben zu 
lange in seltene und erhabene Gefühlstonalitäten gebannt, als daß 
ihn nicht mit dem Eintritt Dalands, Marys und der Freundinnen 
Sentas ein gewisses banales C-dur-Gefühl unangenehm beschleichen 
sollte. Daß Senta offen vor allen ihre Hand in die des Holländers 
legt, kann dem Ganzen nach dem Vorhergegangenen keine Steigerung 
mehr bringen. Wenn auch nur vorübergehend, hinterläßt dieser 
Abschluß dennoch einen störenden Eindruck. 



V. 

Die Orchestereinleitung des dritten Aktes beginnt mit dem 
Schlußsatz des Liebesduetts: 



Nr. 23. 



Fl, Kl., Viol., Cello. 



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Hörner, Tromp., Fag. 



Der Fliegende Holländer. 



207 



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Dem Ausruf Sentas, welcher ihrem Gebet um die Hilfe des Höchsten 
vorangegangen war: 

„Was ist's, das mächtig in mir lebet?" — , 
und der Parallele des Holländers: 

„Du Stern des Unheils sollst erblassen . . " 
Nr. 24. 

Fl., KL, Viol., CeUo. 



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Hörner« Tromp., Fag., 




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Pauken. 



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B&sse. 



folgt die seit der Ouvertüre oft wiederholte Stelle der Ballade: 

„Ach! könntest du, bleicher Seemann, sie finden!" 

(Notenbeispiel Nr. 9.) Ein sinnreicher Übergang führt zu dem 
Motiv des bei der Abfahrt des Kauffahrers im ersten Akt gesungenen 
Matrosenliedes. Wie eine schon in der Vorstellung sich nahende 
Freude verkündeten seine heiter-kräftigen Rhythmen die Lustbar- 
keiten, die nun bei dem dritten Aufzug des Vorhanges sich verwirk- 
lichen sollen. 



208 Der Fliegende Holländer. 

Die Szene zeigt den Hafen. Neben Dalands Schiff liegt das 
des Holländers geankert. Das erstere ist festlich geschmückt, mit 
Wimpeln behangen. Girlanden leuchtender Blumen gleich schim- 
mert die Menge der bunten, zwischen Masten und Räenstangen auf- 
gehangenen Lampen, welche in zierlichen Gewinden das Takelwerk 
zu durchflechten scheinen. Die Mannschaft zecht und tanzt am 
Lande und tut sich gütlich nach Brauch des Seemanns, wenn er, 
müde der Entbehrungen einer langen Fahrt, sich unbekümmert um 
das Morgen der vollen Lust des Heute hingibt. Brachte er doch 
dieses Mal reichen Gewinn aus der Ferne heim, ist doch sein Weib, 
seine Braut schöner und heiterer als je! Da herrscht nur Lachen 
und übermütige Lust, alles Gaudium, alle lärmende Fröhlichkeit, 
alles bunte Durcheinander eines Volksfestes! Das von ihnen ange- 
stimmte Lied ist aus der Ouvertüre bekannt (Notenbeispiel Nr. 8), 
wo es den Kontrast zu der schaurigen Stille des Geisterschiffes 
bildet. 

Dieses letztere bleibt auch jetzt dunkel und schweigend, wie um- 
hüllt von unsichtbaren Schleiern. Sein schwarzes Takelwerk, 
seine roten Segel, düster auf dem Hintergrunde dunkler Wolken 
hervortretend, die sich über ihm am Himmel aufgetürmt haben, 
stechen eigentümlich gegen das geputzte und kokette Aussehen des 
nachbarlichen Norwegers ab. Sein Anblick verbreitet Schrecken, 
wie Orte, wo Geister hausen. Aber die lustigen Matrosen kümmern 
sich wenig um dasselbe. Ihr Fest nimmt glücklich seinen Fortgang, 
und immer fröhlichere Stimmung steigt aus den gefüllten Bechern 
empor. Die Frauen kommen mit Körben bepackt, deren Inhalt 
jedem Hunger, jedem Durst Erquickung und Labung verheißt 
Die Matrosen wollen sich derselben mit allen möglichen herkömm- 
lichen Neckereien, galanten Redensarten und verliebten An- 
spielungen, die aus dem Jubel wie Schaum aufsprudeln, be- 
mächtigen. 

Die Mädchen aber sind bereits von Sentas Verlobung unter- 
richtet, und im stillen der Gefährten des reichen Bräutigams ge- 
denkend, halten sie hartnäckig mit Speise und Trank zurück. Da sie 
unter den norwegischen Matrosen keinen der Fremdlinge finden, 
steigen sie zur Brustwehr des Quais hinauf und rufen ihnen zu — 



■hl 



Der Fliegende Holländer. 



209 



allein das Deck ist leer, keine lebende Seele auf dem Schiff: wie 
verlassen, ausgestorben liegt es da. Dalands Matrosen spötteln 
darüber, daß sie die vortrefflichen Erzeugnisse ihrer Kochkunst 
an so mürrische Kameraden, die sicherlich den Schlaf ihrer Gabe 
und Gesellschaft vorzögen, verschwenden wollen. 

Die Mädchen rufen nochmals. Man lauscht. Todesstille nach 
wie vor. Diese ist durch einen von drei tiefen Hörnern pianissimo 
gehauchten Moll-Akkord einer durchaus entfernten Tonart (die vor- 
ausgegangene war C-dur) sehr charakteristisch bezeichnet: 



Nr. 25. l 



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H6rner. 



ppp ""*— ^ 



Man ist erstaunt — bestürzt. Das soeben noch so jauchzend 
lärmende Volk ist verstimmt, doch ohne es sich eingestehen zu 
wollen, und verdoppelt seine Scherze. 

„Wie, Seeleute? Liegt ihr so faul schon im Nest? 
Ist heute für euch denn nicht auch ein Fest?*' — , 

rufen die Mädchen den schweigenden Gesellen zu. Doch ihr Lachen 
ist ein erzwungenes, wie es der Furcht vorausgeht und sie begleitet. 
Die Frauen fassen wieder Mut, und aufs neue, aber mit ironischem 
Tone, welcher die Schläfer aus ihrer Apathie aufstacheln soll, 
beginnen sie ihren Zuruf. Die Männer gesellen sich zu ihnen mit 
spöttischen Reden und Glossen. Seit dem unheimlichen Moll-Akkord 
ist jedoch der Rhythmus der Lustigkeit wie durch ein leises inneres 
Beben gehemmt. Aus den Intonationen klingt eine innerliche Er- 
regung. Müde des Rufens halten Männer und Frauen abermals 
inne, um wieder zu lauschen. Nach gänzlichem Schweigen ertönt 
abermals ein dem ersten analog lang gehaltener Moll- Akkord: 
Liszt, Gesammelte Schriften. IL V.A. 14 



210 



Der Fliegende Holländer. 



Nr. 26. 



Fag. XL Hönier. 



g^ 




Ihm war der verminderte Septimenakkord von F-moll vorausge- 
gangen. Aufgeregt von heftiger Neugier, welche von der Furcht 
halb gereizt, halb im Zaume gehalten wird, rufen Matrosen und 
Mädchen das stumme Schiff nochmals an. Sie machen eine dritte 
Pause, und es folgt ein dritter ähnlicher Akkord, der in geheimnis- 
vollem Pianissimo gehalten eine noch erhöhtere Wirkung ausübt: 



Nr. 27. l 



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^F^ 

^ A 



Fag. TL Hörner. 
PPP ^ 



Vorher erklang der verminderte Septimenakkord von C-moll. 

Entmutigt verlassen nun alle eilig den Quai, sich von dem 
gespenstischen Schiffe mit einer fluchtähnlichen Schnelligkeit 
entfernend. An den Trinktischen aber finden sie ihre ganze 
Harmlosigkeit, Lebensfreude und ihren Mut wieder. Alle Körbe 
werden geleert und selbst die Portionen vertilgt, welche der 
faulen nachbarlichen Mannschaft zugedacht waren. Man gibt 
sich nun um so eifriger der Lust des Mahles, des Tanzens und 
Zechens hin. 

Sobald das Bankett ausartet, entfernen sich die Frauen, die 
Männer aber stimmen wieder ihren ersten Gesang an. Das Orchester 
begleitet ihn jetzt in verschiedener Weise. Die Saiteninstrumente 
mischen in den tiefen Lagen perlende Triller hinein — ein Ohren- 
sausen der Trunkenheit; 



Der Fliegende Holländer. 



211 



Nr. 28. 

Fl., Ob., Kl., Fag. 




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•Hörner. VioL 



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In dem Augenblick, wo das bacchische Jauchzen des Refrains: 

;,Hussassahe! Johollohet Hussassahel" 

mit einem chromatisch aufsteigenden Tremolo der Geigen den 
höchsten Grad erreicht hat, schwebt auf dem Vorderdeck des 
Holländers bald da, bald dorthin eine trübe, schwarzblaue Flamme, 
als wäre aufqualmende Höllenglut durch eine Spalte entwischt. 
Der chromatische Lauf des Orchesters stürzt sich plötzlich auf 
den Zweiklang des Verdammungsmotivs, das hier in H-moll, wie 
ein dem Zackenzepter Plutos entströmender Schwefeldunst, alle 
Lebensfreuden zu ersticken droht. Die Mannschaft des Holländers 
taucht plötzlich aus der Dunkelheit empor, und um den Mast ver- 
sammelt erfüllt sie die Luft mit einem wilden, in schrillen Tönen 
gehaltenen Gesang: 

„Johohet Johohel Hoel Hoe! Hoel 

Huih — ssa 
Nach dem Land treibt der Sturm — 

Huih — ssat 
Segel eini Anker losl 
In die Bucht laufet ein! 
Schwarzer Hauptmann, geh' ans Land. 
Sieben Jahre sind vorbei! 
Frei' um blonden Mädchens Hand! 
Blondes Mädchen sei ihm treu! 

Lustig heut'! 

Bräutigam! 
Sturmwind heult Brautmusik — Ozean 

tanzt dazu! 

14* 



212 Der Fliegende Holländer. 

Hui — horch, er pfeift I — 

— Kapitän, bist wieder da? 
Hui! — Segel auf! — 

Deine Braut, sag', wo sie blieb? 

— Hui! — Auf in Seel — 

Kapitänl Kapitänl Hast Icein GlOck In der Lieb'l 

Hahahal 
Sause, Sturmwind, heule zu! 
Unsem Segeln läßt du RuhM 
Satan hat sie uns gefeit, 
reißen nicht in Ewiglceit." 

Ein grauenhaft dämonisches Bacchanal ertönt aus diesem Chor! 
Wie vom Gipfel zum Abgrund, von Woge zu Woge, von klippen- 
reichem Golfe zur reißenden Charybdis wälzt sich mit heiserem 
Schreien, gellendem Lachen, wildem Fluchen, satanischer Lust und 
höhnischem Pfeifen dieser Hexensabbat durch die tollsten Modu^ 
lationen, hierbei begleitet von sechs Pikkolos, deren schneidende 
Töne in den höchsten Lagen das Ohr wie ein Pfeilschauer treffen, 
entsendet von Gnomenhänden, während die das Rasen des Sturmes 
nachahmende Windschleuder dazwischen durch Tamtamschläge ver- 
stärkt ist, als hätte sich eine Claqueur-Bande von Ungeheuern ein- 
gefunden, die voll Lust an so grauenhaftem Spektakel jauchzend 
in erzene Hände schlügen. 

Dalands Mannschaft ist anfangs zu sehr von ihrem eigenen 
Gesänge betäubt, um das Getöse zu vernehmen, welches nun in 
ihrer Nähe sich erhebt. Doch bald gewahren sie die ihren lustigen 
Refrain verhöhnende Erwiderung, die entsetzliche Antisttophe zu 
ihren harmlosen Liedern. .Und bestürzt fragen sie sich, ob das 
eine Täuschung berauschter Sinne oder Hexerei, eine Verschwörung 
böser Geister sei? Durch Vergessen des schaurig-schrillen Echos 
suchen sie sich von ihrer Beklommenheit zu befreien und wenden sich 
aufs neue zum Sorgenbrecher und Gesang, sich anstrengend, den 
Gesang jener zu übertönen. Sie steigern ihr Lied um einen Ton 
und nochmals um einen Ton höher; jedesmal jedoch werden sie 
durch das höllische: 

„Huihssa, ^ Johohoe! Johohoe!" 
des Holländers unterbrochen und überboten und zuletzt durch ein 
Crescendo und Fortissimo von diabolischer Gewalt gänzlich zum 



Der Fliegende Holländer. 



213 



Schweigen gebracht. Nach diesem seltsamen Wettstreite, bei 
welchem Trunkenheit und Lästerungen die Kräfte spornen, fährt 
der Geisterchor mit höhnendem Triumphe allein fort, bis der 
schwellende Strom seines wilden Gesanges in einer höllischen Auf- 
lache: 



Nr. 29, 



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ha ha! 






Ha ha ha ha ha hal 

gipfelt und in dem Augenblick endet, als die verstummten Norweger 
sich bekreuzen und, ohne nach den Larven hinzublicken, den Ort 
des Schreckens fliehen. 

Das Entsetzliche dieser rasenden Lache wird noch durch das un- 
mittelbar ihr folgende starre Schweigen vermehrt. Alles ist still. 
Nicht ein Hauch bewegt die Luft. Die schwarzen Gespenster sind 
verschwunden. Düster, lautlos ist alles, wie Kirchhofsstille zu 
nächtiger Stunde. 

Gleich einer Paraphe zu dieser fluchberauschten Dithyrambe er- 
klingt zum Baß der Pauken das von Hörnern ausgeführte Ver- 
dammungsmotiv. Nachdem diese und die Fagotte an Sentas 
Worte: 

„Achl wann wirst du, bleicher Seemann, sie finden?" — , 



erinnerten, scheint es, als wolle das Stück im Unisono schließen. 
Der unheimliche Moll-Akkord aber, der in der vorigen Szene drei- 
mal zum Schrecken aller erklungen war, kehrt hier nochmals wieder 
und hält während des nun folgenden Schweigens den Geist in 
Spannung: 



214 



Der Fliegende Holländer. 



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Nr. 30. , 




H^rMT, Fag. 



PftiikeiL 



Nt-}}-# 



Tftmtom. 



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Unter den musikalischen Meisterwerken werden sich wenige 
Stücke finden lassen, welche diesem Bilde an Kühnheit der Er- 
findung, an Kraft des Kolorits und Gewalt der Kombination zu ver- 
gleichen wären. Die Trinkszene ist eine echte Kirmes, nicht nach 
Teniers mit einem durch kleineren Maßstab gemilderten Realismus, 
aber eine nach Jordaens' Manier, in natürlicher Größe, reich 
koloriert, mit vorherrschend roter und geröteter Farbe, wo aus 
exuberanten Linien, aus fettem Fleische das Behagen an der Materie 
gleißt und funkelt und die Freude an guter Mahlzeit, die plumpe 
Lustigkeit bei Bier und Branntwein spricht. Wagner hat ein 
gelungenes Bild eines Volksfestes mit charakteristischen Gruppen, 
sprechend-ähnlichen und von Lust erheiterten Gesichtern gezeichnet. 
Die Rhythmen sind hierbei auffallend hervortretend. Der Gesang 
vom Geisterschiff dürfte sich nur mit einem dunkeln Sturm ver- 
gleichen lassen, wie ihn Rembrandt skizziert und mit seinem 
eigentümlichen mysteriösen Halbdunkel beleuchtet haben würde, 
wenn er Seemaler gewesen wäre — oder mit einem jener sogenannten 
Höllen -Breughel, wären sie al fresco gemalt. Der Musiker, der 
jeder Linie, jeder Färbung dieser so künstlich gewundenen Formen 
zu folgen befähigt ist, fühlt sein Haar emporsträuben, wenn er in 
diesen Höllenschlund hinabsteigt und die mannigfachen Figura- 
tionen des Orchesters anstaunt. 

Die Ausführung dieses Doppelchores verlangt mehr als irgend 
ein anderes Stück eine große Anzahl voller, sonorer Stimmen, 
die mit Leichtigkeit die brüsk abgebrochenen Intonationen an- 
zugreifen und mit dem phantastischen Ausdrucke wiederzugeben 
verstehen, der sich ebenso schwer bezeichnen wie vorschreiben läßt, 



Der Fliegende Holländer. 215 

und den nur die intelligente Auffassung des Sängers zu finden und 
hervorzubringen weiß. Sollte dieses Musikstück jemals von einem 
jener immensen Chöre, wie sie sich ausnahmsweise zusammenfinden, 
ausgeführt werden und dieser Chor eine feste, wohl organisierte und 
disziplinierte Masse bilden, die nach gewissenhaftem Studium und 
von dem charakteristischen Geiste des Stückes durchdrungen ihrer 
Aufgabe sicher wäre, so würde es in einem gut resonierenden Lokale 
zweifellos eine ganz außerordentliche, noch nie erzielte Wirkung er- 
reichen. 

In der Ouvertüre, in dem Monolog des Holländers, dem großen 
Duett und den eben beschriebenen Szenen erscheint Wagner in 
seiner höchsten Bedeutsamkeit. Sie tragen das Gepräge seines 
Genius, den Stempel des Meisters. Manche wegen ähnlicher Bilder 
berühmte Bühnenwerke erbleichen und werden dunkel neben ihnen. 

Nun erscheint Senta. Sie ist bereits in das hübsche Kostüm 
gekleidet, wie die norwegischen Bräute es zu tragen pflegen. Sie 
flieht vor dem lästigen Erik, der sich die günstige Gelegenheit nicht 
entschlüpfen läßt, sie mit den zartesten Vorwürfen zu überschütten. 

Der hinzukommende Kapitän steht betroffen über diese Unter- 
haltung still und lauscht. Vergebens, daß Senta sie zu beenden 
sucht und zu Erik sagt, ihn unmöglich länger anhören zu können : 
in einer anmutigen und melodisch eindringlichen Kavatine be- 
schwört er alle Erinnerungen ihrer Liebe herauf, alle stummen, 
von ihm als versprechend gedeuteten Zeichen ihres Wohlwollens 
zählt er ihr vor, und indem er sie so zwingt, seine Leiden mit zu 
leiden, quält er sie durch seine Qual, übt er das letzte Recht einer 
schwindenden Liebe. Der lauschende Holländer erfährt, daß Senta 
schon geliebt habe. Der Gedanke, daß sie dereinst vielleicht den 
Verlust dieser sanften, friedlichen Liebe beweinen, ihre schnelle 
Hingebung bereuen und endlich — wehel die geschworene Treue 
vergessen, ihren Schwur brechen und so ewiger Verdammnis anheim- 
fallen könne, ergreift ihn auf das heftigste. Die Liebe zu diesem 
edlen Weibe bereits zu tief im Herzen tragend kann er sie nicht 
dieser höchsten Gefahr aussetzen. Mit dem raschen Entschlüsse 
eines starken Gemütes eilt er darum zu ihr hin, nimmt Abschied 
und stürzt nach seinem Schiffe, seinen Matrosen entgegenrufend: 



216 Der Fliegende Holländer. 



„In See! In See! Fflr ewige Zdtenl 
Um deine Treue ist's getan! — 
Um deine Treue, um mein Heill — 
Leb' wohl, Ich will dich nicht verderben!" 

Die Matrosen erscheinen auf dem Verdecke und wiederholen: 

„In See! In See!" — , 

welchem Ausruf der Kapitän hinzufügt: 

„Sagt Lebewohl fOr Ewiglceit dem Land!" 

Senta aber eilt ihm nach, umklammert seinen Arm und hält ihn 
mit dem Vorwurf zurück, daß er an ihrer Treue zweifle. Er aber 
antwortet, wie vernichtet: 

„Ich zweifl' an dir! Ich zweifl' an Gott! 
In See! In Seel Dahin ist alle Treue!" 

Erik, der seine kalte Verlobte zur leidenschaftlichen, uner- 
schrockenen Liebenden geworden sieht, verliert alle Besinnung. 
Er vermag für diesen ungeahnten Widerspruch keine Erklärung zu 
finden und kann nur an ein Eingreifen höllischer JMächte glauben. 
Er stürzt fort, um Beistand zu holen, Senta mit Gewalt von Zauber 
und bösem Höilentrug zu befreien. 

In diesem entscheidenden Momente, wo der Holländer Senta 
der höchsten Gefahr preisgegeben sieht und sein eigenes Heil durch 
ein anderes Weib zu erlangen unmöglich mehr hoffen oder wünschen 
kann und es für alle Ewigkeiten verloren glaubt, kann er nicht 
stillschweigend über sich das geliebte Weib verlassen. Sie soU 
nicht zwischen den Zeilen seines Herzens lesen; er verschmäht die 
Alternative eines Verdachts des Betrugs oder eines Bedauerns ihrer- 
seits und ruft mit einem Tone, dessen deklamatorische Gewalt eines 
außergewöhnlichen Organes bedarf, um vollständig erfaßt und wieder- 
gegeben werden zu können: 

„Erfahre das Geschick, vor dem ich dich bewahre! 
Verdammt bin ich zum gräßlichsten der Lose: 
Zehnfacher Tod war' mir erwünschte Lust! 
Vom Fluch allein ein Weib kann mich erlösen, 
ein Weib, das Treu' bis in den Tod mir weiht • . . 
Wohl hast du Treue mir gelobt, doch vor 
dem Ewigen noch nicht: — dies rettet dich. 



Der Fliegende Holländer. 



217 



Denn wiss', Unsel'ge, welches das Geschick, 

das jene trifft, die mir die Treue brachen: 

Ew'ge Verdammnis ist ihr LosI — 

Zahllose Opfer fielen diesem Spruch 

durch mich: — du aber sollst gerettet sein. 

Leb* wohll — Fahr' hin, mein Heil, in .Ewiglceit!" 

Voll Verzweiflung ringt Senta die Hände und ruft ihm zu: sie 

kenne ihn, sie kenne die Pflicht, die zu erfüllen sie gelobt, sie wolle 

ihn retten. 

Mit Daland, Mary und der ganzen entsetzten Menge eilt jetzt 

Erik herbei. „Nein!" ruft der Holländer, von diesem Kampfe 

zwischen Liebe und Heil, zwischen Liebe und Entsagen zu wilder 

Raserei getrieben: 

„Du kennst mich nicht, du ahnst nicht, wer ich bin! 

Befrag' die Meere aller Zonen, frag' 

den Seemann, der den Ozean durchstrich: — 

er kennt das Schiff, das Schrecken aller Frommen: 

den Flieg e'nden Holländer nennt man michl" 

Die musikalische Deklamation dieser letzten Worte nähert sich dem 

Verdammungsmotiv, ohne es jedoch ganz zu erfassen: 

Nr. 31. 



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nennt man mich! 




218 



Der Fliegende Holländer. 



Seine Mannschaft aber nimmt dasselbe unmittelbar wieder auf und 
singt mit dumpfem Tone: 

;,Johohoe! Johohoel" 
Jetzt gelingt es dem Holländer, sich von Senta loszureißen. 
Heftig legt er sie in die Arme ihres Vaters, springt an Bord und 
läßt das Schiff mit unglaublicher Schnelligkeit abstoßen. Senta 
ringt einen Augenblick mit den sie zurückhaltenden Händen, 
befreit sich, und einen Felsenvorsprung erreichend ruft sie dem Ge- 
liebten zu: 

„Preis' deinen Engel und sein Gebot! 
Hier sieh mich, treu dir bis zum Todt" 

und stürzt sich hinab in die Fluten. 

In diesem Augenblick versinkt das schon fern segelnde Geister- 
schiff in den Wellen. Bald darauf sehen wir den offenen Himmel 
in wunderbarer Helle. Wir erblicken Senta und den Erlösten von 
Wolken getragen, mit Glorie umgeben, den Mittelpunkt eines Nord- 
lichtes bildend. Währenddessen nimmt das Orchester das Balladen- 
motiv in D-dur wieder auf, welches jetzt in versöhntem, über- 
wundenem Schmerz sich zu einem hymnenartigen Rhythmus ver- 
dichtet,, gleich der Peroration zur Ouvertüre: 



Nr. 32. 




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Pauke. 



Der Fliegende Holländer. 219 

Trotz der großen Einfachheit des diesem Gedichte zugrunde 
liegenden Planes erkennt man leicht, daß dessen Ausführung eine 
das Interesse von Szene zu Szene steigernde ist, eine Ausführung, 
welche in stufenweisem Crescendo die Entwickelung der Gefühle bis 
zu dem hochtragischen Schlüsse hinauf führt. In Wirklichkeit be- 
steht dieses Drama aus nur zwei Personen, und von diesen zwei 
Personen beansprucht nur die eine, und zwar insofern, als ihr 
Dazwischentreten einen beseligenden oder unheilvollen Einfluß auf 
die andere ausübt, unsere gespannte Aufmerksamkeit. 

In der Tat ist die Wirkung des ganzen Bildes auf die hohe, 
bleiche Gestalt des Mannes konzentriert, der unter allen Menschen 
vom Schicksale mit einem unauslöschlichen Male gezeichnet ist. 
An der Größe der Strafe zeigt sich die Größe der Schuld, an der 
Gnade der Hoffnung die Barmherzigkeit des Strafenden, an der 
Bedingung des Heils die Seelenhoheit des Opfers. Abyssus abyssum 
clamavit. Die Tiefen unendlicher Schmerzen lassen sich nur durch 
Schätze unendlicher Liebe füllen, und die undurchdringliche 
Finsternis des Abgrundes kann nur der strahlende Glanz der Liebe 
erhellen, die der Irrende seit dem Werden aller Zeiten um Rettung 
anruft. 

Zu vier wiederholten Malen tritt der holländische Kapitän auf, 
und jedesmal weckt er in tieferem Grade unsere Sympathie, jedes- 
mal ist seine Erscheinung von größerer Wirkung. Das erste Mal 
tritt gleichsam nur seine Silhouette, dann sein dunkel gefärbtes 
Bild vor. uns hin; beim dritten Male hören wir ihn sprechen, und 
am Ende sehen wir ihn handeln. Es dürfte selten die Möglichkeit 
gegeben sein, einem Hauptcharakter eine solche szenische Ent- 
faltung zu geben wie hier — um so glücklicher der Dichter, dem es 
vergönnt war! 

In der Ouvertüre gewahren wir ihn von ferne, ein Spielzeug 
der Stürme, die er verachtet wie ein Spiel. Bei seinem ersten 
wirklichen Auftreten erkennen wir die stolze, hohe Seele, die so groß 
die Strafe des Hochmuts erträgt, die Trauer ewiger Einsamkeit 
erduldet. Im zweiten Akte aber bewundem wir an ihm, daß sein 
hartes Los nicht die Macht besaß, ihm die Kraft des Gefühls, die 
ihn vor seinen Begleitern als eine edlere Natur kennzeichnet, zu 



220 Der Fliegende Holländer, 

rauben, — dafi er, der nur die bitteren Täuschungen der Liebe 
erfahren, die Zartheit des Herzens nicht einbüßte, — daß er, dem 
das Mitleid versagt blieb, des Mitleids nicht vergaß, die Hingebung 
nicht verlernte, — daß das Begehren nach Erlösung nicht in ihm 
erlosch, obwohl niemand ihn zu erlösen kam, — daß er, leidend wie 
kein anderer, aus Liebe der Hoffnung auf Erlösung, der Annahme 
des Opfers entsagte und das Tragen seiner Leiden um der Liebe 
willen für alle Ewigkeit vorzog. Im letzten Augenblick, da kein 
Tropfen im Becher der Bitternisse für ihn übrig scheint, geht er 
einem Schmerz entgegen, wilder, als er ihn je getragen. Ein Weib 
soll ihm Erlösung bringen — so hieß die Verheißung. Und nun steht 
dieses Weib vor ihm, opferbereit, aber dieses Weib liebt er. Sie 
kann er der Gefahr ewigen Duldens nicht aussetzen — so entsagt 
er dem Glück ihres Besitzes, entsagt er aller Hoffnung auf Erlösung, 
eine trostlose Ewigkeit als Ersatz für sie hinnehmend. — Der Wett- 
streit edelster Aufopferung zweier Liebender gehört zu jenen Schau- 
spielen, die auf edle Herzen so tief wirken, daß sie Werke, welche 
diese Schönheit enthalten, anderen vorziehen, welche oft reicher 
an augenfälligen Vorzügen sind und von der Kritik höher gehalten 
werden als jene. 

Schon die ganze Anlage des Textbuches verrät einen echten 
Dichter, einen Poeten von Gottes Gnaden, eine Hand, von der 
jede Zeile, jeder Federstrich weit über die bis jetzt gekannten Opem- 
texte sich erhebt. Der erste Teil des dritten Aktes, wenn die nor- 
wegischen Frauen und Matrosen, allmählich mehr und mehr von 
Furcht ergriffen, das Geisterschiff anrufen, bringt durch seine ffir 
den Gedanken kolorierte und für das Ohr rhythmisierte Versif ikation 
ohngefähr einen Eindruck wie die Balladen Bürgers hervor, die 
das Herz mit einem geheimen Beben erfüllen. Der Dialog be- 
wegt sich in Distichen; jedes derselben fügt der von Furcht be- 
völkerten Finsternis einen Schatten mehr hinzu. Die kurzen Gesänge 
und Balladen reihen sich dem Besten an, was in dieser Gattung je 
geschaffen wurde. 

Während seines ersten Aufenthaltes in Paris hatte Wagner 
der Großen Oper das Anerbieten gemacht, diesen Text zum Zwecke 
einer Aufführung komponieren zu wollen. Sein Name hatte aber 



Der Fliegende Holländer. 221 



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noch zu wenig Klang, als daß es Berücksichtigung gefunden hätte. 
Trotzdem fand man das Libretto anziehend genug, um es gegen 
fünfhundert Franken von ihm zu erstehen. Die musikalische Kompo- 
sition desselben vertraute man aber nicht den i-länden seines Autors 
an, sondern dem Chordirektor der Acad^mie royale, Herrn Dietsch. 
Dergestalt erlebte das »Vaisseau fantdme« mehrere Aufführungen 
auf dieser Bühne, doch ohne daß Wagners Name dabei genannt 
worden wäre. 

Wenn aber die Oper „Der Fliegende Holländer" — Text und 
Musik von Wagner — die ganze Wirkung, welche durch ihren 
großartigen Aufbau, durch ihren poetischen Gefühlsgehalt möglich 
Ist, erreichen soll, so müßte ein günstiges Geschick es fügen, daß 
zwei außerordentlich begabte Künstlernaturen, wie sie kaum 
einzeln zu finden sind, zur Besetzung der beiden Hauptrollen sich 
zusammenfänden. Es gibt wohl Werke, bei denen selbst die größten 
Vorzüge auch eine nur mittelmäßige Wiedergabe zur Anschauung 
bringen kann, ähnlich wie sich Gemälde, deren Wert wesentlich 
in der Komposition liegt, auch nach Kupferstichen beurteilen lassen, 
so weit auch der Genuß, den letztere gewähren, hinter dem zurück- 
steht, den uns die Betrachtung des Meisterwerkes selbst gibt — von 
anderen aber sollte man gar nicht reden, wenn man nicht die magische 
Wirkung des Kolorits, das Sprechende des Pinsels gegenüber dem 
Originale vordem empfunden hat. 

Wem zum Beispiel wäre es wohl möglich, die „Joconde" eines 
Leonardo da Vinci, die „IMadonna d'Alba" eines Raffael oder 
den „Diogenes"' Ribeiras, die bei der vollkommensten Einfachheit 
der Konzeption in der idealen Welt des Geistes erhabene Schöpfungen 
und ideale Verklärungen der Materie durch die Kunst sind, zu 
verstehen, ohne vordem das ganze Ausströmen der unmittelbaren 
Gegenwart des Originals eingeatmet zu haben? Was kann für 
den Kupferstich da bleiben, wo die Linien gewissermaßen in der 
Farbe aufgehen und sich verlieren, wo der Kontur nur eine Offen- 
barung der Seele ist? Läßt sich überhaupt eine Kenntnis dieser 
Werke des Genius annehmen, solange nicht der eigene Blick die 
Sonde in die Tiefe des Gedankens, in die Glut der Empfindung 
gesenkt hat, welche in diesen undefinierbaren Farbenmodulationen, 



222 Der Fliegende Holländer. 

in diesen feinsten Rhythmen der Proportion, der Form und Ge- 
staltung lebt? Wer nur den Teil des Wertces geschaut hat, der eine 
Art Bodensatzes desselben bildet, und den die Analyse zersetzen, 
Kenntnis und technisches Geschiclc nachahmen Icann — wer nicht 
sozusagen dem Geiste dieser Werlce Aug' in Aug' geschaut, wer 
nicht ihr Wesen erfaßt hat, das wahrhaftig vor unseren Blicken 
lebt, indem diese Schöpfungen ein Fluidum ausströmen, das uns 
wonnig durchdringt, der kann sich keine Meinung über sie bilden, 
kein Urteil gewinnen; höchstens kann er durch das, was andere 
gesagt haben, durch eine flüchtige Beschreibung ihrer linearen Um* 
risse sich zu denselben hingezogen fühlen. Wie diese Gemälde, 
so können auch gewisse musikalische Werke nur dann ihren inneren 
Sinn enthüllen, im vollen Strahl ihrer Pracht glänzen und die ganze 
JMajestät ihres Ausdruckes offenbaren, wenn die zu ihrer voll- 
kommenen Wiedergabe erforderlichen Bedingungen vorhanden sind 
und vereint zusammentreten, so dafi sie das Ganze, das dem Autor 
im Schaffen vorschwebte, vollständig darzustellen vermögen. Was 
in der Malerei der Anblick eines Originals, das gewährt in der 
Musik die vollkommene Aufführung eines Meisterwerkes. 

Schlagende Beispiele gibt uns für das Gesagte das Schicksal 
ganzer Schulen, die, sobald unter den Ausführenden ihre Tradition 
verloren gegangen ist, ebenfalls verschwinden. Um nur der großen 
kirchlichen Werke zu gedenken: werden nicht die Kompositionen 
eines Palestrina, eines Lassus und anderer ein Gegenstand der 
Wissenschaft, der Archäologie, der überlegten und retrospektiven 
Bewunderung? haben sie nicht aufgehört, auf dem lebendigen Ge- 
biete der Kunst tätig zu sein, und werden sie nicht darum den Massen 
unverständlich, weil den Ausführenden das Geheimnis ihrer Inter- 
pretation abhanden gekommen ist, so daß diese Werke nicht mehr 
in ihrer Integrität erscheinen und wir zurzeit kaum verstehen, was 
auszusprechen sie einst bestimmt waren? In modernen Reproduk- 
tionen erscheinen sie oft so unkenntlich, wie gewisse Bilder großer 
Maler, die mit einem dichten Überzuge von Retouchen, von schwerem 
Firnis oder durchräuchertem Fett bedeckt sind. Das Skelett einer 
Partitur läßt sich wohl wiederherstellen, aber es fehlt die Seele, 
das pulsierende Leben, das Verständnis der Bewegung. Gedenkt 



Der Fliegende Holländen 223 

man der beträchtlichen Anzahl von Werken — selbst solcher, die 
dem modernen Stil der Gegenwart angehören — , deren volles Ver- 
ständnis, deren poetischer Inhalt sich nur durch eine Aufführung 
erreichen und wiedergeben läßt, welche auch die ungreifbaren, 
wir möchten sagen ihre schwebenden Elemente zur Geltung 
bringt, so kann man die der Virtuosität beigelegte Wichtigkeit un- 
möglich als so usurpiert bezeichnen, wie man manchmal es zu tun 
beliebt, nachdem man erfahren, daß, um auf diesem Pfad den Gipfel 
der Kunst zu erreichen, eine von der Ausbildung des Mechanismus 
unabhängige bedeutende geistige Bildung nicht weniger notwendig 
ist, als der Mechanismus als solcher« 

Von allen Werken Wagners dürfte wohl „Der Fliegende Hol- 
länder'', wenn er verstanden werden und seine Wirkung keine ver- 
fehlte sein soll, die dringendste Forderung an geistig begabte und 
hervorragende Sänger, an vollendete Ausführung erheben. Wie 
in Beethovens „Fidelio'', wie in der letzten Szene in Glucks 
■„Orpheus** kann auch hier nur dann der entsprechende über- 
wältigende Eindruck erreicht, die — sozusagen — ganze seelen- 
ergreifende Elektrizität des Werkes zum Ausströmen gebracht 
werden, wenn Sänger von seltenem Talente sich vollständig ihren 
Rollen hingeben. Diese müssen durch das Spiel auf der Bühne 
zum Leben erweckt werden, ja es ist die Aufgabe der Darsteller, 
den Charakteren auf die kurze Dauer eingebildeter Wirklichkeit die 
ganze Lebensfülle einzuhauchen, mit welcher der Autor sie zu un- 
vergänglichen Typen gestaltet hat. 

Wagner hat mehrmals ausgesprochen, „daß der Sänger seines 
Lohengrin erst noch geboren werden müsse". Dieser Ausspruch 
mag anfangs eitel klingen, ist es jedoch keineswegs. Wagner 
fühlt — und mit Recht — , daß er in der dramatischen Musik an dem 
Entwickeiungsmomente angelangt ist, den Gluck und Weber vor- 
bereitet haben. Gleich dem ersteren im Besitze unendlich mannig- 
faltiger Mittel, dabei als denkender und kombinatorischer Kopf 
bedeutender als der letztere, Poet und Musiker zugleich, verfügt er 
noch über die ganze Masse von Hilfsquellen, durch welche der 
große deklamatorische Stil sich in seiner höchsten Vollendung 
offenbaren kann. Dieser Stil muß aber mehr wie jeder andere 



224 Der Fliegende Holländer. 



t«M^^ 



durchdrungen, voligesogen sein von Poesie; keiner steht dem 
Genius der Dichtung so nahe wie er, keiner ist so von ihren Ein- 
flüssen beherrscht, erfordert so ihre Kenntnisse und Vorteile 
wie er. 

Der Dichter und Komponist Wagner ist der Sproß einer neuen 
Verbindung der antiken Gäa mit dem alten Neptun. Er hat ihr 
Doppelreich geerbt, herrscht auf dem Festlande und auf den Fluten 
und dehnt souverän den einen Arm über den Kontinent und den 
anderen über das weite Wogenreich aus. Aus der Machtvoll- 
kommenheit seines Genius steckt er dem festen Erdkörper der Poesie 
seine Grenzen, und dem Überfluten der stürmisch herandringenden 
Tonwellen ruft er das Wort zu: „Bis hierher!" Mit souveräner 
Hand schreibt er die Ordnung seines Reiches vor, despotisch zieht 
sein schöpferisches Wollen den beherrschten Mächten ihre Marken. 
Ef wehrt ihrem chaotischen Ineinanderströmen, er gibt den auf- 
brausenden Schwankungen der Tonfluten den wundervollen Basalt 
der Poesie zum Becken, damit ihr netzender Tau fruchtbringend 
denselben durchdringe. So verbindet er Musik und Poesie, läßt sie 
Eins werden und verbannt die Leere aus der von ihm geordneten 
Welt, dem Drama. Er entfernt alle schwachen Teile, alle Lücken, 
alles, was den Zusammenhang aufhebt und stört, alles, was bis jetzt 
als unentbehrliche Übergänge in einer Oper betrachtet worden ist. 
Er gestattet nie, daß aus Rücksicht auf musikalische Gewohnheiten 
Handlung und Bewegung in Stocken geraten. Reicher an Detail 
und umfassender im Bau, als irgend eines der in demselben Stile 
geschriebenen und den seinen vorangegangenen Werke, erscheinen 
seine Schöpfungen gerade in einer Zeitepoche, in welcher alles zu- 
sammentrifft, um dem ausdrucksvollen, deklamatorischen Stil auf 
der Bühne entschieden das Übergewicht zu geben. 

Die ersten Meister dieser Schule sind im Laufe der Zeiten hin- 
reichend ergründet, verstanden und gewürdigt worden. Unsere 
Generation enthusiasmiert sich nicht mehr für Kompositionen, in 
welchen andere Stile speziell und ausschließlich verherrlicht wurden. 
Durch eine versuchte und gelungene Mischung, Vereinigung und 
Ergänzung beider Prinzipien hat man instinktiv und unwillkürlich, 
getrieben vom Strom der Zeit, eine Art Übergangsepoche gebildet, 



Per Fliegende Holländer. ^ 

der Deklamation ein weiteres Feld eingeräumt und auf ihre Popu<- 
larfsierung hingearbeitet. Und so ist es möglich geworden, mit 
Hilfe der immensen, sinnreichen Hilfsmittel der großen Bühnen, 
des außerordentlichen Fortschritts in der Instrumentation, der Aus- 
dehnung und Mannigfaltigkeit, welche Harmonie und Rhythmus 
erlangt haben, eine bedeutende Erhöhung und Vervielfältigung 
ihrer Wirkung durch eine Fülle der verschiedensten Kombinationen 
zu erreichen. 

Die von Gluck geschaffene Schule, im Vertrauen auf diesen 
starken Rückhalt und gekräftigt durch die Erfahrungen von siebzig 
Jahren der Opposition, kann heute, trotzdem damals alle anderen 
Stile mehr Chancen des Gelingens, mehr Lebensfähigkeit zu besitzen 
schienen, ihren Rivalen, deren Reize zu sichtbar im Stadium des 
Welkens sind, getrost den Kampf bieten und mag in neuem Streite, 
in stetem, stufenweisem Erobern die Mittel finden, ihre gefähr* 
lichste Klippe, die Monotonie, zu vermeiden. In unseren Augen 
unterliegt ihr Sieg keinem Zweifel. Uns ist der Augenblick ihref 
Anerkennung nur noch eine Zeitfrage. Es ist unmöglich, daß sie 
nicht den ersten Rang auf der Bühne einnehme, und die Stile, 
welche letztere bis jetzt beherrscht — die Stile der spezifisch- und 
abstrakt-melodischen Musik — , nicht andere Felder suchen, finden 
und urbar machen sollten, sei es in der Kirche, oder im Konzert, 
oder in der Tanz- und Militärmusik, oder in der Lyrik. Die Tatsache, 
daß moralisch wie physisch der tägliche Genuß reicher, feiner und 
gewürzter Speisen notwendig den Geschmack für weniger ausgewählt 
zubereitete unempfänglich machen muß, genügt, um ohne besondere 
Wahrsagekunst voraussehen zu können, daß zu einem gewissen 
Zeitpunkte, dessen Eintreffen aber sich nicht genau bestimmen 
läßt, weil Zufall und äußere Umstände eine so wichtige Rolle in 
derartigen Angelegenheiten spielen, unser Jahrhundert sich an diese 
Richtung des Schönen gewöhnen, sich mit den geheimen Gesetzen, 
der inneren Logik dieser Schule, die mehr als alle anderen das 
Mittelmäßige abzuwerfen strebt, vertraut machen und ihren vollen 
Wert erkennen wird. 

Nun hat aber jede bedeutende Kompositionsperiode zu gleicher 
Zeit eine ihren Bedürfnissen und Forderungen entsprechende Gesang* 

Liszt, Gesammelte Schriften. U.V.A. 15 



226 Der Fliegende Holländer. 

schule hervorgerufen. Ohne bis zu Tatsachen zurückgehen zu 
wollen, die sich in der Dämmerung femer Zeiten verlieren, ist es 
hinreichend, auf die Veränderung hinzuweisen, welche die Methode 
des Gesangs im Laufe der letzten drei Jahrhunderte erfahren hat, 
um uns zu überzeugen, daß dieselbe immer durch die Komponisten 
und ihre verschiedenen Richtungen bestimmt wurde, je nachdem der 
Genius derselben verschiedene Modifikationen erlitt. Stradella 
verfuhr nach anderen Prinzipien als Carissimi, Farinelli hielt 
sich nicht mehr an die Regeln, weiche Durante am berühmten 
Konservatorium zu Neapel gelehrt hatte, und die von Rossini ge- 
bildeten großen Sänger entfernen sich gänzlich von der im acht- 
zehnten Jahrhundert bewunderten Art des Singens. Der entschie- 
denen Einführung des deklamatorischen Stils wird notwendig früher 
oder später die Entwickelung einer neuen Schule folgen, und da wir 
den Sieg jenes Stils in den Werken Wagners erblicken, so setzen 
wir voraus, daß auch die Änderungen, welche in der artistischen 
Bildung der Ausübenden notwendig folgen müssen, hauptsächUch 
von Deutschland ausgehen und sich hier vollziehen werden. 

Bis jetzt hat sich der Genius germanischer Muse in allen Zweigen 
der Instrumentalmusik und der Benutzung der epischen und lyrischen 
Vokalmusik unter dem schöpferischen Hauche von Meistern tita- 
nischen Geschlechts mit einer solchen Gewalt des Strebens und der 
Begeisterung entwickelt, daß — dank dieser Entwickelung — 
Deutschland in diesem Augenblick alles ernste Interesse der Ton- 
kunst, ja ihre ganze Zukunft in sich konzentriert. >yie früher Italien, 
so ist jetzt Deutschland ihr lodernder Herd. Seit Bach hat eine 
fast ununterbrochene Reihenfolge von Künstlerfürsten höchster 
Majestät, ein geistiger Stamm großer Männer dieses Land musikalisch 
zum ersten der Welt erhoben. Nur ein Zweig der Kunst steht 
noch nicht in voller Blüte und wird nur mit großen Kosten vege- 
tierend, einem exotischen Gewächs gleich, im Treibhause erhalten: 
der dramatische Gesang. 

Indem «Wagner seinem Vaterlande ein Drama schuf, das in 
Übereinstimmung mit dem nationalen Genius desselben steht, l^e 
er ihm zugleich die Pflicht auf, eine eigene, seiner dramatischen 
Weise entsprechende Schule des Gesangs hervorzurufen. 



Der Fliegende Holländer. 227 

Die Oper war seit ihrem Erblühen nach Deutschland mehr 
importiert, als hier einheimisch. War auch Hasse ein Deutscher, 
so war. seine Musik trotzdem eine durchaus italienische. Überhaupt 
sind seit jener Epoche die großen deutschen Opernkomponisten 
ihrem eigenen Lande gewissermaßen fremd geblieben. Obwohl 
Mozart in tragischen Momenten den deklamatorischen Akzent 
merklich seinem Rechte näherte, so verlangen seine Opern darum 
doch Sänger, die nach der italienischen Schule gebildet sind. Gluck 
und Meyerbeer schrieben für das Pariser Publikum, und nicht 
viel hatte gefehlt, so würde Wagner ein gleiches getan haben. 
Es bleiben also unter den Komponisten ersten Ranges nur Beet- 
hoven, der durch eine zwanzigjährige Nichtbeachtung seiner 
einzigen Oper zurückgeschreckt war, eine zweite zu komponieren, 
und Weber, der, hätte er länger gelebt, sehr wahrscheinlich nur für 
England geschrieben haben würde, da seinem „Oberon'' im Aus- 
lande ein besseres Schicksal zuteil ward, als seiner „Euryanthe'' in 
der Heimat. 

Von den vier echt und spezifisch deutschen Werken der beiden 
letztgenannten Meister, welche Germanien als Früchte seines Bodens 
beanspruchen kann, und die in dem Sinne wesentlich deutsch sind, 
daß sie nirgends so verstanden und im Gefühl so begriffen werden 
wie in Deutschland, hat nur der „Freischütz" einen raschen und all- 
gemeinen Erfolg gehabt. Die drei anderen wurden lange Zeit für 
geniale Mißgeburten gehalten. Die Theaterdirektoren überließen 
es den wenigen sie bewundernden Musikern, sie enthusiastisch zu 
loben, und kümmerten sich nicht um sie, als nicht in ihre Sphäre 
gehörend. Sie fristeten das Leben ihres Repertoires mit fremden 
Produkten, aus denen nach ebenso fremden Moden eine beliebige 
m^lange zurecht geknetet wurde. Und trotz alledem — sei es durch 
Zufall oder Instinkt — haben sich gerade in Deutschland die unter 
dem unmittelbaren Einflüsse des deklamatorischen Stils ent- 
standenen oder sich ihm nähernden Werke am längsten erhalten. 
Deutschland ist es, wo dieser Stil sich erfolgreicher als in den übrigen 
musikalischen Ländern geltend gemacht hat, wo er durch Mozart, 
Gluck, Beethoven, Spontini, Weber und andere am tiefsten 
erfaßt worden ist. 

15* 



228 Der Fliegende Holländer. 



Wagner ist das Resultat dieses wohl langsamen, aber steten 
Fortschreitens, eines Fortschreitens, dessen Werke, ja selbst dessen 
Theorien nur von einem Deutschen und für Deutsche entwickelt und 
geschrieben werden konnten. Die Opposition, die dieser Meister 
bis jetzt erfahren mußte, ist in vorübergehenden Ursachen, in künst- 
lerischen, um nicht zu sagen : in künstlichen Gewohnheiten begründet. 
Die Sympathien, welche er erweckt, sind wesentlich deutsch und 
national, und darum werden sie Sieger auf dem Kampfplatze 
bleiben; denn es wäre in den Annalen eines Volkes ein unerhörtes 
Faktum, daß es nachhaltig einen Autor verleugnete, der seine Sagen 
und Geschichte, seine Tradition und Gefühlsweise mit den seinem 
Genius eigentümlichen Kunstformen lebendig in sich aufgenommen 
und verherrlicht hat. Wagner ist der Begründer der deut- 
schen Oper oder des musikalischen Dramas. 

Diese neue Kunstgattung jedoch kann nur durch andere Inter- 
preten als die gegenwärtig ausübenden Künstler ihren vollen Glanz 
erreichen. Es muß sich in Deutschland eine Schule des Gesanges 
bilden: denn gegenwärtig besitzt es kaum Sänger. Die vorhandenen 
sind zufrieden, wenn »e die Vorzüge ihres Organs zur Geltung 
bringen und im besten Falle ,,gut musikalisch'* sind, ohne daß sie 
jemals sich einem anhaltenden, speziellen und gründlichen Studium 
des Gesanges hingegeben hätten. Eine einzige Tatsache wird das 
Gesagte hinlänglich bestätigen, nämlich der gänzliche Mangel an 
Professoren und Konservatorien, die sich, wie in anderen Ländern, 
einen glänzenden Ruf in diesem Kunstfach durch von ihnen gebildete 
Sänger errungen hätten. Die hervorragenden Künstler rühmen sich 
niemals, Schüler dieses oder jenes deutschen Meisters oder dieser 
oder jener deutschen Schule zu sein; denn, um die Wahrheit zu ge- 
stehen, verdanken sie alles sich selbst, falls sie nicht vielleicht im 
Auslande sich ihre Bildung erworben haben. Auch sind sie nicht 
durch Einheit des Stils untereinander verbunden: es dürfte schwer 
sein, mehrere von ihnen unter eine Kategorie zu bringen. Sie haben 
in den wesentlichen Punkten durchaus keine Übereinstimmung. 
Jeder folgt seiner individuellen Neigung und bildet sich, je nachdem 
ihm Lebensstellung und Sympathien erlauben, mehr oder weniger 
Zeit und Fleiß darauf zu verwenden, auf gut Glück hin aus. Ein 



Der Fliegende Holländer. 229 

derartig schlecht vorgebildetes und frühzeitig abgenutztes Organ 
wird dann ohne Regel, ohne Plan, ohne Ziel ausgebeutet und versagt 
dem Sänger meistens vor der Zeit. Solange es noch frisch ist, 
hat er es nicht in seiner Gewalt, und mit der selten erlangten Ge- 
schmeidigkeit ist die jugendliche Fülle dahin. Besitzt es ausnahms- 
weise, ungeachtet häufigen und voreiligen Mißbrauches, die Aus- 
dauer, so ist das nur bei Ausnahmsorganisationen der Fall, die 
aus Eisen oder Gold zu bestehen scheinen, und nach welchen man 
infolgedessen keine allgemeingültige Norm aufstellen kann. 

Im Gegensatz zu der deutschen Schule ist die italienische immer 
methodisch vorgegangen. Der Methode verdankt sie ihre herrliche 
Blüte und anhaltende Lebenskraft. Selbst heute noch, wo sie 
entartet, bleich und kümmerlich dem Vaterlande den Rücken ge- 
wandt hat, um auf gastlichem, aber kaltem Boden ihr Brot zu finden 
— sie, ein Kind des Südens, der Sonne, des Lichtes und der Wärme, 
das im nordischen Eise und mitternächtigen Nebel nicht zu leben 
vermag! -^ noch heute kann sie sich rühmen, in der Fremde fern 
von den Penaten einen eminenten Vertreter zu besitzen: Garcia 
in London 1. 

Es ist in der Tat auffallend und befremdend, daß in Deutschland, 
diesem Lande der Theorien und Systeme, der durchdachtesten 
künstlerischen Tendenzen, im Gegensatz zu diesem Charakter die 
Kunst des Gesanges so ausschließlich der Willkür der Praxis, ja 
des Empirismus überlassen bleibt! Der Grund? Wer kann be- 
haupten, daß er nicht darin liegt, daß die Oper noch nicht natio- 
nalisiert ist und demzufolge noch keine ihrem Charakter ent- 
sprechende Gesangschule hervorgebracht hat? 

Wie wir bemerkt haben, ist der „Freischütz" das einzige Werk 
eines genialen Komponisten, das als wesentlich national sich schnell 
auf allen Bühnen einbürgerte. Aber ein Werk ist noch kein 
Repertoire, und die Sänger sind bis zur Stunde darauf angewiesen, 
von einem Abend zum anderen von Rossini auf Spontini üt>er- 
zugehen, von Meyerbeer auf Auber, von Donizetti auf Hal^vy, 
von Gluck auf Bellini, von Spohr auf Flotow. Und gewiß, 



^ Er ist 1906 verstorben. 



230 Der Fliegende Holländer. 

diese universelle Kultur, diese unbegrenzte Gastfreundschaft gegen 
alle Formen der Kunst könnte nur ehrenvoll für Deutschland sein, 
wenn die bestimmter definierten Gattungen in verschiedene Gruppen 
verteilt wären, wenn man in der Wahl der fremden Nationen an- 
gehörenden Werke nur irgend ein Kriterium einhielte, wenn die 
mit einiger Rücksicht auf Kunstinteressen geleiteten Bühnen Unter- 
schiede zwischen ihren Bestrebungen feststellten. 

Statt dessen stellt die kleinste Bühne einen Mikrokosmos dar^ 
schreckt vor keiner Schwierigkeit zurück: „nichts zu groß, nichts zu 
ferne", nichts, was ihre Kräfte überschritte. Das Ende vom Lied 
ist, daß alle Bühnen — große und kleine — nur ein Potpourri 
der heterogensten Ingredienzien zustande bringen, daß eine solche 
OUa potrida den Geschmack des Publikums verdirbt und einen 
nationalen Stil zu den Unmöglichkeiten verweist. Die Sänger 
Italiens beschränken sich auf ein einziges abgeschlossenes Genre, die 
Sänger Frankreichs unterscheiden zwischen großer Oper und 
komischer Oper, die Sänger Deutschlands aber interpretieren jeder 
die verschiedensten Meister, die entgegengesetztesten Schulen, die 
entgegengesetztesten Rollen. In der Unmöglichkeit, sich nur einer 
Gattung zu widmen, diese oder jene Rolle auszuschlagen, überlassen 
sich letztere dem Zuge ihrer Routine und sind zuletzt dahin ge- 
kommen, bezüglich ihrer Leistungen an nichts mehr zu zweifeln, 
alles zu versuchen, alles zu probieren und — alles zu verpfuschen. 
So lernen sie im Verlauf ihrer theatralischen Laufbahn, je nachdem 
die Umstände es mit sich bringen, ein bischen schreien, ein bischen 
spielen, — alles ein bischen; die einen machen das, die anderen jenes 
etwas besser, ganz nach der zufälligen Art ihres Sterns. QuI trop 
embrasse, mal ^treint. Auf wen könnte man besser als auf die 
Sänger dieses Sprichwort anwenden? 

Die Virtuosität der Kehle, ihre Ausbildung zu einem geschmei- 
digen Instrumente, das alle Bewegungen der Seele wiedergibt, 
läßt sich weniger als irgend eine andere durch unbedachte Praxis 
und ein Vermischen aller Stile erlangen. Dieses empfindliche 
Instrument erträgt nicht, wie das Holz der Tasten oder der Violine, 
alle Irrtümer der Erziehung, alle Tollheiten der Laune. Wird es 
nicht durch sorgsame Pflege und nach festen Prinzipien erzogen, 



Der Fliegende Holländer. 2Sl 

so wird es bald steif, vertrocknet und erlahmt. Kann es dann 
doch noch Dienste leisten, so sind diese nur matt, abgenutzt, leblos — 
nicht darum, weil die Aufgaben im einzelnen genommen zu groß, 
nein, weil sie zu verschieden und entgegengesetzt in ihrer Art waren, 
weil man sich an sie machte, ohne sich vorher durch Übungen, wie 
sie den gegenwärtigen Bedürfnissen unserer Bühne entsprechen, 
darauf vorbereitet zu haben, weil man den Grundsatz vollständig 
vergessen hatte: daß man nur in dem Maße gut und lange singt, als 
man gut und lange zu singen gelernt hat. 

Da sich auf den deutschen Bühnen die Oper mehr und mehr 
in den Vordergrund der szenischen Vorstellungen drängt, so sind 
hier selbstverständlich auch Künstler zu finden, welche singen, 
selbst ganz bedeutende Künstler, deren einige ein seltenes Talent 
mit einem vortrefflichen Organe verbinden. Eigene Sänger aber 
besitzt Deutschland nicht, weil es an einer eigentlich deutschen 
Qesangschule fehlt. .» 

Wagners Opern verlangen sehr schöne, sonore und weiche 
Stimmen, edle Diktion, leidenschaftliche Akzente, zart angedeutete 
und fein ausgeführte Intentionen und ein lebendiges Spiel — alles 
Eigenschaften, die eine umfassende Bildung des Geistes und ein 
von früher Jugend an begonnenes, gewissenhaftes Studium von 
Werken einer Schule voraussetzen, welche hingebenden Ernst und 
hingebende Liebe verlangt. 

Wer diese Ansprüche übertrieben finden sollte, mag sich Einsicht 
in die alten Lektionspläne verschaffen, wie man sie in den Konser- 
vatorien von Rom, Venedig, Neapel anwandte. Alle Stunden der 
Zöglinge waren geregelt, und man forderte fast so viele Eigen- 
schaften von ihnen, wie Cicero von einem guten Redner. Neun 
Stunden des Tages waren zur Einweihung in die große Kunst 
vorgeschrieben, die kirchlichen Übungen und andere noch gar nicht 
mitgerechnet. Den Schülern war es unter anderem anbefohlen, 
ihre Übungen an einem Orte vorzunehmen, wo ein vorzüglich 
deutliches Echo sich befand, damit sie durch diese genaue Nach- 
ahmung ihres Sprechens und Singens ihre Fehler kennen lernen 
sollten. Und nur nach sechs, acht, zehn Jahren eines solchen 
Noviziats wagten es die Künstler, vor die Öffentlichkeit zu treten. 



232 E)er Fliegende Holländer. 

Lassen sich darum auch der hohe Grad ihrer VoUkommenheit, 
ihre tadellose Vortrefflichkeit, die von ihnen erreichten unglaub- 
lichen Effekte bewundem: erstaunen kann man nicht über sie; 
denn sie sind die folgerichtige Frucht ihrer Erziehung. 

Und die heutigen, unsere deutschen Sänger? Holt sich nicht die 
Mehrzahl derselben ihre Erziehung auf den Brettern, zum großen 
Entsetzen musikalischer Ohren und zum Verderb ihres eigenen 
Talentes? Scheint es nicht, daß, je größer die Honorare, desto 
geringer die Studien werden? 

Angesichts dieses Status quo ist die Behauptung keine über- 
triebene, daß erst, wenn einmal in Deutschland für den dekla- 
matorischen Stil Schulen bestehen werden, wie sie in Italien und 
in Frankreich für andere Werke und andere Ziele bestanden haben, 
wenn eine Künstlergeneration herangebildet sein wird, ^e Wagners 
Charaktere sie verlangen, — daß erst dann jene Mängel verschwinden 
werden, welche der nationalen Ausführung nationaler Bühnen- 
werke im Wege stehen, und man sich dann auch ihrer vollen er- 
schütternden Tragweite nicht mehr wird verschließen können. Doch 
schon in unseren Tagen besitzen wir in Frau Schröder - Devrient 
durch das Feuer und die Energie ihres Spieles und Gesanges ein 
Beispiel von dem Reichtum, von der hohen Schönheit des dekla- 
matorischen Stils. Sie lehrt, wie man Charaktere eines Beethoven, 
Weber, Wagner aufzufassen hat. Auch Tichatscheck hat sich 
durch eine feurige Hingabe an solche Rollen und ein tiefes Ein- 
dringen in dieselben, durch das lebensvolle Relief, welches er ihnen 
zu geben wußte, ein glänzendes Verdienst erworben. Ebenso Herr 
und Frau von Milde in Weimar, die vorzugsweise Schöpfungen 
Wagners mit der rühmlichsten Liebe und Gewissenhaftigkeit 
darstellen. Das edle Spiel und die pathetische Deklamation beider 
können als Vorbild gelten. 

Die Hauptrollen des „Fliegenden Holländers** erfordern dringen- 
der als die irgend eines anderen Werkes Eigenschaften, wie die der 
genannten Künstler, wenn anders sie nicht auf dem wogenden Grund 
eines sehr nuanzierten, ja in manchen Momenten überwältigenden 
Orchesters verschallen sollen. Die Künstler, die sich dieselben 
zu ihrer Aufgabe wählen, bedürfen keines so ausgedehnten Stinun- 



Der Fliegende Holländer. 233 

umfangs, wie zur Wiedergabe von Partien wie Bertram oder Fides; 
aber sie müssen eine Stimme von edlem Klang, mächtiger Fülle 
und seltener Kraft und Biegsamkeit besitzen. Das Kolorit derselben 
muß schimmernd, sammetweich, vibrierend sein, gleich den Saiten 
der unter dem Hauche des Sturmes erzitternden Äolsharfe. Der 
Monolog des Holländers, die Bailade Sentas und das große Duett 
im zweiten Akt sind die bedeutendsten Momente dieses Dramas 
und bieten viele und außerordentliche Schwierigkeiten. Doch hieße 
es ihre Wirkung mit der des ganzen Werkes vernichten, würden sie 
nicht mit einer Kraft dargestellt, die keinen Gedanken an Ermüdung 
aufkommen läßt, die, ohne auch nur einen Anflug von Erschöpfung 
zu zeigen, mächtig bleibt von Anfang bis zu Ende. 




DAS RHEINGOLD 



VON 



)jL RICHARD WAGNER <» 



1855 



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G ^ 



Am 1. Januar 1855. 

Worin anders läge wohl die Bedeutung, welche alle Gemüter 
an die nur gedachten Grenzscheiden im Laufe der Zeiten, wie den 
heutigen Tag, knüpfen, wenn nicht in dem von den Mächtigen wie 
von den Schwachen, von den Guten wie von den Bösen, von den 
Glücklichen wie von den Leidenden gleich dringend gefühlten 
Bedürfnis, von der Zukunft zu hoffen, was die Vergangenheit ver- 
sagte? Oder wäre eine einzige veränderte Kalenderziffer ausreichend, 
um diesem Tage, der innerhalb des Kreislaufes unseres Planeten 
nicht einmal seine Wiederkehr an einen und denselben Punkt be- 
zeichnet, eine so besondere Wichtigkeit beizulegen? Das Ende 
eines alten, der Anfang eines neuen Jahres sind an und für sich nicht 
vorhandene Dinge. 

Und doch kehrt dieser willkürliche Zeitabschnitt nie wieder, ohne 
daß wir alle mit einer gewissen Aufregung einen prüfenden Blick 
auf die verflossene, einen fragenden auf die herannahende Zeit ge- 
richtet hätten. Den Grund hierfür werden wir kaum wo anders 
suchen können als in dem Gefühl, das in uns allen lebt, uns allen 
mehr oder minder zum Bewußtsein kommt und uns sagt, daß die 
Zukunft Probleme in sich berge, die ungelöst geblieben, Ver- 
heißungen, die nicht erfüllt worden sind, und deren Inhalt zu ent- 
ziffern den durchlebten Epochen nicht gegeben war. Tritt auch das 
junge Jahr mit einer scheinbaren Monotonie vor uns auf, wiederholt 
es sich auch in gewissen geistigen und physischen Ereignissen, in 
der Folge von Tagen, Festen und Jahreszeiten, von Arbeiten und 
Bestrebungen, die mit dem vorigen eine unverkennbare Ähnlichkeit 
haben, so sind es doch stets andere, nicht vorhergesehene und nicht 
vorherzubestimmende Resultate, die in denselben Tagen keimen und 
reifen und, wenn auch denselben, doch von neuen Entwickelungs- 
phasen der Menschheit bedingten Bestrebungen folgen. 



238 Das Rheingold. 



Auch in der Kunst führt die periodische Wiederkehr ähnlicher 
Aufgaben und Leistungen zu vollständig verschiedenen Wirkungen. 
Denn im Vorwärtseilen der Zeit ändert sich die Anschauung, gleich- 
sam die Perspektive der Dinge, ähnlich wie sich dem Auge der 
Vorüberschiffenden die am Flußgestade gelegenen Häuser unter ver- 
schiedenen Gesichtspunkten darstellen, je nachdem sich jene ihnen 
nähern, ihnen gegenüber sich befinden oder auch von ihnen sich 
entfernen. Die traditionellen Scheidungen, die der Mensch zur 
Berechnung und Messung der gleichmäßig hinströmenden Zeit er- 
findet, sind den Linien gleich, durch welche er die Teile unseres 
Globus voneinander trennt und hierdurch unterscheidet. Und wie 
diese Teile in dem in fremden Landen Reisenden eine Spannung auf 
neue Landschaften und unbekannte Sitten erregen, so fühlen auch 
wir uns erwartungsvoll gespannt auf das, was sich begeben wird, 
wenn wir mit dem Jahresschluß in den Beginn einer neuen Zeit- 
periode eintreten. 

„Welche neue Perspektiven werden sich jetzt dem spähenden 
Blick erschließen? welche Monumente uns neue Formen des Schönen 
offenbaren?'* werden vor allem diejenigen fragen, die sich ins- 
besondere für die Kunst interessieren. Sie möchten vor allem 
wissen, mit welchen bis jetzt unbekannten Werken die anbrechende 
Ära die Kunst bereichern wird? Ihnen könnte man heute zu- 
rufen: 

„Seht Ihr dort den schimmernden Punkt, dort, fem am Horizont? 
Es ist der gigantische Umriß eines majestätisch großartigen Baues, 
wie wir noch keinen im ganzen Lauf unseres Weges erblickt haben — 
eines Baues, der Euch vielleicht befremdet, dessen Stil Euch mög- 
licherweise zu erhaben, dessen Plan zu riesig, dessen Ornamentik 
in ihrer Fülle zu reich erscheinen wird, — und doch werdet Ihr be- 
kennen müssen, daß er in unserer Kunst das großartigste aller be- 
stehenden Monumente ist." 

Dieses Wort möchten wir auch jenen zurufen, welche gespannt 
und neugierig etwas über den von Wagner unternommenen 
kolossalen Kunstbau, von dem wir bis jetzt nur das hohe Gerüste 
in der Ferne zu erblicken vermögen, zu erfahren wünschen. Jere 
imaginären Grenzen, durch welche der Mensch das Zeitmeer teilt. 



Das Rheingold 239 



ein Datum wie das heutige, werden wir noch öfter zu überschreiten 
und zu überleben haben, bis wir das unter den Händen seines 
Genius emporwachsende Gebäude mit seinem vierfachen Portikus in 
seiner ganzen Größe vor uns sich erheben sehen werden, das Werlc, 
welches er den „Ring des Nibelungen" nennt^. 

Eine der vier Säulenhallen steht heute bereits vollendet da: 
„Das Rheingold" ist fertig und entfaltet unter dem klaren blauen 
Himmel Deutschlands seine imposanten Linien. 

„Und was enthält dieses Werk, von dem man sich so Außer- 
ordentliches verspricht?" werden alle fragen, die es nur durch den 
Schleier der dasselbe umgebenden Dämmerung gewahren. 

Wir antworten ihnen: Fragt nach den Gemälden, nach den 
Statuen und Gruppen jenes Domes, von dessen Portalen jedes 
unseren Blicken ein aus Stein gemeißeltes Epos zeigt! Fragt 
nach allen den Hieroglyphen, den verschiedenen Symbolen und 
seltenen Festreigen, die jener ägyptische Obelisk bewahrt! — Im 
„Rheingold" eröffnet, uns die Szene einen Blick auf die Tiefe des 
Flusses. Auf seinem Grunde sehen wir zauberische Nixen, zaube- 
rischer und verlockender in ihren sich entfaltenden Reizen als alle 
die Undinen, welche Heine durch den flüssigen Kristall der grünen 
Wogen versteckt hinter dem ungeweihten Blicken sie verbergenden 
Schilfe belauschte. Eitel und boshaft, zänkisch und mutwillig ver- 
scherzen di^se Törinnen einen Schatz, dessen sich der häßliche, ge- 
hässige Geiz, der ehrsüchtige Egoismus bemächtigt, indem er der 
Seele das Leben, dem Leben die Seele abschwört: die Liebe. 



1 Bekanntlich ist dieses der Titel der Tetralogie, an deren Komposition 
Wagner gegenwärtig arbeitet, und in welcher die hervortretendsten Mythen 
der ,;Edda" dramatisiert sind. Die vier zusammenhängenden Dramen heißen: 
,,R h e i n g 1 d", „D i e W a I k ü r e", „Der j u n g e S i e g f r i e d" und 
„Siegfrieds To d". — Die letztgenannte Dichtung beendete Wagner 
bereits im Jahre 1B49 und übergab das Ganze im Frühjahr 1853 — jedoch nur 
für seine Freunde und Bekannten — dem Druck. Im Herbst 1853 begann er 
die Komposition des „Rheingold" und beendete sie im Frühjahr 1854. „Die 
Walküre" ist gegenwärtig bis zur Hälfte vorgeschritten. A. d. A. 

JVlit ihrem letzten Teil, der „Götterdämmerung", wurde die Tetralogie 1874 
zum Abschluß gebracht. . 



240 Das Rheingold. 



Ewiger Mythus! Ewige Genesis aller Übet! Unheilvoller 
Anfang aller menschlichen Tragödien! — 

Nach den neckischen, lieblichen Geistem des Stromes treten die 
Titanen der nordischen Mythologie auf. Wir erblicken den trauernd 
hehren Wotan, ein thronendes Opfer, gezwungen zu herrschen und 
nur nach Liebe sich sehnend — wir sehen Fricka, das Weib, den 
Inbegriff von Tugend für jene, welche die Drangsale des Hasses den 
Irrtümern der Liebe vorziehen und lieber den Grausamkeiten des 
Neides, den Zerstörungen der Zwietracht als dem verschwenderischen 
Hang des Herzens sich hingeben, — und vor uns trittst Du, Freia! 
Zauberin, berauschende Jugend, Bewußtsein des Lebens, Symbol 
der Unsterblichkeit, vollkommenste Blüte des Daseins! Ohne Dich 
ist Walhalla nicht würdig der Götter! — Zwischen all diesen Ge- 
stalten, gleich dem auf Beute lauernden Feind, gleich der Flamme, 
die züngelnd den Stoff streift, den sie verzehren will, kreist Loge. 

„Und welche Empfindungen flößen uns die Handelnden ein?" 
wird man fragen. 

Niemand kann, trotzdem Gedicht und Partitur uns vorliegen, 
diese Frage zurzeit richtig beantworten; denn noch niemand hat 
den Bau in den Strahlen der hellen Mittagssonne gesehen, in welchen 
die seine riesigen Konturen umwebende Filigranarbeit sichtbar 
wird. Niemand kann es beschreiben, weil die anderen Teile des 
Baues noch nicht bekannt sind und noch niemand zum Ober- 
blick ihrer gegenseitigen Verhältnisse und Beziehungen gelangen 
kann. 

Eines aber steht heute schon fest: daß der Meister dieses Werkes 
einen Plan entworfen, wie noch kein anderer vor ihm ihn je zu 
denken gewagt hat, daß gleich Michel Angelo, welcher das 
vollendetste Werk römischer Kunst in die Lüfte versetzte, indem 
er die Kuppel des antiken Pantheon in enormer Höhe über der Erde 
schweben ließ, Wagner die vorgefundene Oper so erhob, daß ihr 
uns bis jetzt vollkommen erscheinendes Gebäude dem seinigen 
nur als Giebeldach dienen kann. Wenn die antike und moderne 
Tragödie mehrmals eine ähnliche Form in ähnlichen Dimensionen 
— die Trilogie — anwandte, so geschah es nie in Werken, welche 
zweien in ihrer Entfaltung gleich weit gediehenen und gleich hoch 



Das Rheingold. 241 



stehenden Künsten — der Poesie und Musik — ihren Glanz 
verdanken. Denn obschon die letztere an den dramatischen Werken 
der Griechen ihren Anteil gehabt hat, so konnte derselbe sicherlich 
nicht die Oleichberechtigung beanspruchen, zu welcher ihn der 
Musiker unserer Tage zu erheben imstande ist 

Es wird nicht an Tadlern und Vergangenheitsanbetern, an 
Kritikern und Krittlern fehlen, welche Feuer schreien und behaupten 
werden, daß Wagner, indem er die an und für sich schon monu- 
mentale Oper vervierfachte, sie entstellt, ihren Charakter durch alle 
möglichen Änderungen, die er sie erleiden ließ, unkenntlich ge- 
macht habe. 

Wir verweisen diese alle an Michel Angelos Manen. Von 
ihnen mögen sie Rechenschaft über das Wagnis verlangen, durch 
welches das heidnische Kunstwerk in einen Altarhimmel für den 
einigen Gott verwandelt worden ist. Ist — fragen wir — der Stil 
des römischen Tempels und jener der christlichen Kirche derselbe 
geblieben? Und welcher Römer, der plötzlich aus einem der herr- 
lichen die Via Appia zierenden Gräber zum Leben wiedererstünde, 
würde die seinem Blick so vertraute Kuppel auf den von Buonarotti 
entworfenen Mauern wiedererkennen? 

Auch die Oper, wie wir sie gewohnt sind, wird in Wagners 
Plan umgestaltet erscheinen: wird sie dadurch an Schönheit und 
Wirkung verlieren oder gewinnen? That is the question! — Wäre 
in den Tagen Hadrians einem sybaritischen römischen Kunst- 
kenner von Prophetenmunde die Beschreibung des Gebäudes ge- 
macht worden^ das nach Jahrtausenden wie ein Riese neben dem 
Zwerg sich ganz in der Nähe desselben Pantheon erheben sollte, 
welches er als das Maximum aller Kunst betrachtet hatte: würde 
er nicht die Achseln gezuckt haben? Und — könnten wir ihm das 
verargen, da zum vollen Verständnis eines Kunstwerkes keine 
Beschreibung genügt? 

So werden auch wir im voraus kein Urteil über die Wirkung 
aussprechen, die eines Tages dieses Wunder von Kühnheit, diese 
mächtig angelegte architektonische Gruppe hervorbringen wird. 
Wir hegen die innige Überzeugung, daß die Anstrengungen des 
Genius, wenn er alle seine Kräfte zur Erstrebung eines Zieles 

Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 16 



242 Das Rheingold. 



zusammenfaßt, niemals vergeblich sind, und daß, selbst wenn er das 
gesuchte Geheimnis auf Umwegen verfolgt, es nie an Schätzen 
fehlen wird, die er ihm entlockt. 

Wäre die tausendfache Bereicherung an geistigen und materiellen 
Interessen, welche sich für uns an Amerika knüpfen, wäre das be- 
wältigende Umfassen des ganzen Erdenrundes uns zuteil geworden 
ohne die Überzeugung des Columbus, daß sein Weg ihn an Indiens 
Küsten führen müsse? 

„Steure, mutiger Segler! Es mag der Witz dich verhöhnen, t 

Und der Schiffer am Steuer senken die lässige Hand. 
Immer, immer nach West! Dort muß die Küste sich zeigen: 

Liegt sie doch deutlich und liegt schimmernd vor deinem Verstand. 
Traue dem leitenden Gott, und folge dem schweigenden Weltmeer 1 

War' sie noch nicht, sie stieg' jetzt aus den Fluten empor. 
Mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde: 

Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß." 

(Schiller.)