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GESAMMELTE SCHRIFTEN
VON
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FRANZ LISZT
VOLKSAUSGABE
IN VIER BÄNDEN *
I. FRIEDRICH CHOPIN
IL RICHARD WAGNER
III. DIE ZIGEUNER UND IHRE
MUSIK IN UNGARN
IV. AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF 'S) HÄRTEL
1910
GESAMMELTE SCHRIFTEN
VON
FRANZ LISZT
^
I.
FRIEDRICH CHOPIN
ÜBERSETZT VON
LAMARA
NEU DURCHGESEHENE AUSGABE
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF ^ HARTEL
1910
Music
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COPYRIGHT 1910 By BREITKOPF «> HARTEL -LEIPZIG
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Inhalt
Seite
I. Chopins Werke im allgemeinen 1
II. Polonaisen 19
III. Mazurken . 39
IV. Chopins Virtuosität 57
V. Chopins Individualität 83
VI. Chopins Jugend 118
VII. Leiia 139
VIII. Letzte Zeiten und Stunden 158
Vorwort.
Wer das französische Originalwerk kennt, dessen Übertragung
ich auf Wunsch des Autors übernahm, wird zu beurteilen vermögen,
daß es sich hierbei nicht um eine Übersetzung im gewöhnlichen
Sinne des Wortes handeln konnte. Die bilderreiche, poetisch ge-
steigerte Ausdrucksweise, der eigenartige Satzbau forderten, dem
Wesen unserer Sprache angemessen, eine den Geist des Ganzen
vielmehr als den Wortsinn im einzelnen wiedergebende Behand-
lung, machten häufig eine Vereinfachung und Umgestaltung, eine
knappere Darstellung notwendig. Wie das Buch selbst aus einem
dichterischen Geiste hervorgegangen war, schien es mir auch die
Aufgabe des Übersetzers, dasselbe mehr nachzudichten, frei nach-
zuschaffen, als sklavisch nachzuahmen. Den Versuch einer solchen
Nachdichtung übergebe ich der Gunst des Publikums.
Mit diesen Worten geleitete ich meine Verdeutschung im Fe-
bruar 1880 bei ihrem ersten Erscheinen in die Öffentlichkeit. Sie
hatte das Glück, sich als besten Lohn Liszts uneingeschränkte
Zustimmung zu gewinnen. Daß ich mir damit aber nicht genug-
getan, sondern mich nach Kräften bemüht habe, meine Arbeit zu
Ehren des großen Meisters zu vervollkommnen, davon gab die
zweite, gibt gegenwärtig die dritte Auflage ein Zeugnis.
Zusätze, welche Liszts ungenannte Mitarbeiterin aus der Zeit
der Weimarer Altenburg, die ihm für Darstellung der polnischen
Charaktere und Verhältnisse als Quelle diente, bei Korrektur der
zweiten französischen Auflage allzu freigebig eingefügt hatte, wurden,
insoweit sie die Harmonie des Ganzen beeinträchtigten, hier ge-
tilgt und letzteres im wesentlichen auf seine ursprüngliche Fassung
zurückgeführt. ' An den Berichtigungen, die einige, nicht sonderlich
VIII Vorwort
ins Gewicht fallende Angaben Liszts betreffs äußerer Lebens-
umstände Chopins in den späteren Biographien von Karasowski
und Niecks erfuhren, ging ich — von einer kurzen Anmerkung ab-
gesehen — vorüber, wie Liszt selber in der zweiten Auflage des
französischen Originals, dessen Datierung vom Jahre 1850 bei-
behaltend, an den Mitteilungen Karasowskis (Niecks' Buch er-
schien erst später) vorübergegangen war. Nicht eine Biographie
im üblichen Sinn, sondern ein Charakterbild Chopins als Künstler
und Mensch zu geben lag ja in Liszts Absicht. Möge die vorliegende
Neugestalt seinem berühmten Werk zu den zahlreichen alten Freun-
den noch viele neue zuführen!
Leipzig, Februar 1910.
La Mara.
G ^ ^ o )
I.
Weimar 1850.
Chopin 1 sanfter, harmonischer Genius 1 Wen, dem er vertraut,
dessen Herzen er teuer war, überkäme nicht beim Nennen
seines Namens ein geheimer Schauer, wie in der Erinnerung an ein
höheres Wesen, das zu Icennen ihm vom Glück beschieden war?
Doch wie sehr auch all seine Kunstgenossen, all seine zahlreichen
Freunde seinen vorzeitigen Hingang beklagen, wir gestatten uns
dennoch den Zweifel zu äußern, ob bereits jetzt der Augenblick
gekommen sei, wo man ihn, dessen Verlust wir als einen ganz be-
sonders schmerzlichen empfinden, nach seinem vollen Werte wür-
dige und er in der allgemeinen Schätzung den hohen Rang einnehme,
den ihm die Zukunft vorbehalten.
Wenn die Erfahrung lehrt, daß keiner seinem Vaterlande als
Prophet gilt, bestätigt sie es nicht gleicherweise, daß die seherischen
Geister, denen es gegeben, die Zukunft vorauszuempfinden und ihr
in ihren Werken voranzuschreiten, von ihrer Zeit nicht als Pro-
pheten erkannt werden? . . . Und in Wahrheit, könnte es anders
sein? Ohne uns in jene Gebiete zu verlieren, wo Verstandesgründe
der Erfahrung bis zu einem gewissen Punkte als Bürgschaft dienen
dürften, wagen wir zu behaupten, daß im Reiche der Kunst jedes
neuschöpferische Genie, jeder Meister, der die Ideale, Typen und
Formen, an denen sich die Geister seiner Zeit nährten und ent-
zückten, verläßt, um ein neues Ideal anzurufen und neue, unbe-
kannte Typen und Formen zu schaffen, die mitlebende Generation
verletzen wird. Erst das kommende Geschlecht wird seinem Denken
und Empfinden das rechte Verständnis entgegenbringen. Mögen
die jungen Künstler, die sich um einen solchen Neuerer scharen,
LJszt, Oesammelte Schriften. I. V.A. 1
I. Chopins Werke im allgemeinen.
sich so viel sie wollen gegen die Zaudernden verwahren, deren
unverbesserliche Gewohnheit es ist, die Lebenden mit den Toten
umzubringen, gerade in der Musik mehr noch als in jeder anderen
Kunst bleibt es oftmals der Zeit allein vorbehalten, die ganze Schön-
heit und Bedeutung schöpferischer Eingebungen und neuer Formen
zu offenbaren.
Die mannigfaltigen Formen der Kunst gleichen nur einer Art
Beschwörung, deren äußerst verschiedenartige Formeln dazu be-
stimmt sind, die Empfindungen und Leidenschaften, die der Künst-
ler fühlbar, sichtbar, hörbar, ja in gewisser Beziehung, um die innere
Bewegung mitzuteilen, greifbar machen will, in seinem magischen
Kreise erscheinen zu lassen. So bezeugt sich das Genie durch die
Erfindung neuer Formen, die zuweilen in Empfindungen ihren
Ursprung haben, die bis dahin noch niemals in jenem Zauberkreise
auftauchten. In der Musik wie in der Architektur vollziehen sich
Eindruck und Gemütserregung ohne Vermittelung des Gedankens
und der Vernunft, wie sie Rhetorik, Poesie, Skulptur, Malerei,
dramatische Kunst bedingen, die mit der Forderung an uns heran-
treten, daß wir uns mit ihrem Gegenstand vorerst auf vertrauten
Fuß gesetzt haben; ihn muß der Verstand zuvörderst begriffen
haben, ehe er das Herz zu ergreifen vermag. Wie müßte demnach
nicht schon die bloße Einführung ungewöhnlicher Formen und
Arten in dieser Kunst ein Hindernis für das unmittelbare Verständ-
nis eines Werkes sein? . . . Die neue Weise des Gedanken- und
Gefühlsausdruckes, des Fortschreitens, deren Wesen, Reiz und
Geheimnis man noch nicht versteht, ruft fremdartige, ungekannte
Eindrücke hervor, welche überraschend und ermüdend wirken und
die unter so unvermuteten Bedingungen geschaffenen Werke der
großen Menge in einer Sprache geschrieben erscheinen lassen, die
man, eben weil man sie nicht kennt, für eine barbarische hält.
Schon die Mühe, das Ohr daran zu gewöhnen, sich Rechenschaft
über das a + b der Beweggründe abzulegen, aus denen die alten
Regeln anders angewandt und gedeutet, allmählich umgebildet
wurden, um Bedürfnissen zu entsprechen, die, als jene ins Leben
traten, eben noch nicht vorhanden waren, genügt, um viele ab-
zustoßen. Sie wehren sich hartnäckig dagegen, die neuen Werke
Erfindung neuer Formen.
zu studieren und somit zu begreifen, was diese sagen wollten und
gleichwohl nicht zu sagen imstande waren, ohne die künstlerischen
Traditionen umzugestalten. Sie weigern sich in dem frommen
Glauben, aus dem reinen Bereich der geweihten Kunst solchergestalt
eine der erhabenen Meister, welche diese verherrlichten, unwürdige
Sprachweise ausgewiesen zu haben. Lebhafter wird diese Abwehr
bei den gewissenhaften Naturen, die, nachdem sie ihr Wissen mit
schweren Mühen erkauft, sich starr an die Dogmen anklammern,
„außerhalb deren es kein Heil'' für sie gibt; und sie äußert sich
stärker, gebieterischer noch, wenn ein schöpferischer Genius unter
neuen Formen Gefühle und Gedanken in die Kunst einführt, die
bisher noch niemals durch sie ausgesprochen wurden. Dann be-
schuldigt man ihn der Unwissenheit, nicht allein bezüglich dessen,
was die Kunst zum Ausdruck zu bringen vermag, sondern auch
bezüglich der Weise, in der es zum Ausdruck kommen soll.
Die Musiker dürfen nicht einmal jene vorübergehende Steigerung
des Wertes ihrer Arbeiten nach ihrem Tode hoffen, wie sie den
Werken der Maler zuteil wird. Keiner von ihnen könnte daher
zum Besten seiner Manuskripte die List eines der großen nieder-
ländischen Meister anwenden, der bei seinen Lebzeiten schon seinen
zukünftigen Ruhm ausbeuten wollte und durch seine Frau das Ge-
rücht seines Todes verbreiten ließ, um den Preis der Bilder zu
steigern, mit denen er sein Atelier sorglich geschmückt hatte. Die
Streitfragen der Schule können auch in den bildenden Künsten die
richtige Würdigung gewisser Meister bei ihren Lebzeiten verzögern.
Wer weiß es nicht, daß die leidenschaftlichen Bewunderer Raphaels
einst gegen Michel Angelo eiferten, daß man in unsern Tagen in
Frankreich lange Zeit die Verdienste Ingres' mißkannte, dessen
Parteigänger wieder diejenigen Delacroix' herabsetzten, während
in Deutschland die Anhänger von Cornelius und Kaulbach sich
gegenseitig in den Bann taten. Aber in der Malerei kommen der-
artige Schulstreitigkeiten rascher zum Abschluß. Ist ein Gemälde,
eine Statue einmal ausgestellt, so können ja alle sie sehen; die
Menge gewöhnt ihre Augen daran, indes der Denker, der unpartei-
ische Kritiker (dafern es einen solchen gibt) imstande ist, sie ge-
wissenhaft zu prüfen und den wirklichen Wert der Idee und der
1*
I. Chopins Werke im allgemeinen.
noch ungebräuchlichen Formen in ihnen zu entdecken. Es ist
ihm ermöglicht, sie wieder und wieder zu betrachten und, sobald
er den guten Willen hat, in gerechter Weise zu entscheiden, ob
sich Übereinstimmung zwischen Inhalt und Form darin vorfindet
oder nicht.
Anders ist es in der Musik. Die exklusiven Fahnenträger der
alten Meister und ihrer Schreibweise gestatten' es andern. Un-
parteiischen nicht, sich mit den Erzeugnissen einer erst erstehenden
Schule vertraut zu machen. Sie lassen es sich vielmehr angelegen
sein, diese der Kenntnis des Publikums gänzlich zu entziehen*
Soll aus Versehen ein neues, in einem neuen Stil geschriebenes
Werk zur Aufführung kommen, so geben sie sich nicht damit zu-
frieden, dasselbe durch alle ihnen zu Gebote stehenden Organe der
Presse bekämpfen zu lassen, sie verhindern auch, daß man es auf-
führt, und namentlich, daß man es wiederholt. Sie nehmen die
Orchester und Konservatorien, die Konzertsäle und Salons in Be-
schlag, indem sie gegen jedweden Autor, der kein bloßer Nachahmer
ist, ein Verbotssystem einführen, das sich von den Schulen, in denen
Virtuosen und Kapellmeister ihre Geschmacksbildung empfangen,
auf den Unterricht, den Lehrgang, die öffentlichen und privaten,
ja die im engsten Kreise stattfindenden Aufführungen erstreckt,
in denen der Geschmack der Zuhörer sich bildet.
Maler und Bildhauer dürfen billigerweise hoffen, diejenigen ihrer
Zeitgenossen, welche Neid, Groll, Voreingenommenheit nicht dauernd
einer besseren Einsicht unzugänglich machen, allmählich zum
Glauben an sie zu bekehren, da sie durch das Bekanntwerden ihres
Werkes selbst des Beifalls aller Aufrichtigen, wie aller derer gewiß
sind, die über die kleinen Gehässigkeiten von Atelier zu Atelier
erhaben sind. Der Tonkünstler, sobald er neue Bahnen betritt,
ist dagegen verurteilt, erst eine kommende Generation abzuwarten,
um überhaupt gehört und darnach verstanden zu werden. Außer-
halb des Theaters, das seine eigenen Bedingungen, Gesetze und
Regeln hat, mit denen wir uns hier nicht beschäftigen, bleibt ihm
wenig Hoffnung, das Publikum bei seinen Lebzeiten zu gewinnen;
das heißt, das Gefühl, das ihn begeisterte, die Absicht, die er ver-
lebendigte, den Gedanken, der ihn leitete, allgemein verstanden
Schwierigkeit des Verständnisses von Neuerungen. 5
und von jedem richtig erfaßt zu sehen, der seine Werlce liest oder
aufführt. Er muß im voraus mutig darauf verzichten, vor Ver-
lauf eines Vierteljahrhunderts, oder besser gesagt, vor seinem Tode
die Bedeutung und Schönheit der Form, in die er sein Denken und
Empfinden kleidete, allgemein gewürdigt und von seinen Kunst-
genossen erkannt zu sehen. Der Tod bringt zwar eine bemerkens-
werte Wandlung des Urteils hervor; sei es auch nur insofern er all
den niederen, kleinlichen Empfindlichkeiten lokaler Nebenbuhler-
schaft Gelegenheit gibt, den Ruf des Künstlers zu bemängeln, an-
zugreifen und zu untergraben, indem man den Werken dessen, der
nicht mehr ist, die eigenen seichten Erzeugnisse gegenüberstellt.
Aber wie weit entfernt ist jene nachträgliche Beachtung, die der
Neid von der Gerechtigkeit borgt, von dem sympathischen, wohl-
wollenden, liebevollen und bewundernden Verständnis, das wir dem
wahren Genius oder dem Talente schulden!
Nichtsdestoweniger sind gerade die auf musikalischem Gebiet
Zurückbleibenden vielleicht minder schuldig als jene meinen, deren
Anstrengungen sie ihrer Erfolge berauben, deren Ruhmesernte sie
vertagen. Muß man nicht in der Tat die Schwierigkeit in Anschlag
bringen, die es kostet, das von ihnen mißkannte Schöne zu ver-
stehen, die von ihnen mit solcher Hartnäckigkeit verneinten Ver-
dienste zu schätzen? Das Gehör ist ein viel empfindlicherer, ner-
vöserer, feinerer Sinn als das Gesicht. In dem Augenblick, wo les
aufhört, den einfachen Bedürfnissen des Lebens zu dienen, und die
an die sinnliche Wahrnehmung gebundene Erregung, den durch
Melodie, Rhythmus und Harmonie (vermitteis Aufeinanderfolge,
Gruppierung und Zusammenklang der Töne) formulierten Ge-
danken dem Gehirn zuführt, ist es unvergleichlich schwieriger,
sich an seine neuen Formen zu gewöhnen, als an die, weiche das
Auge aufnimmt. Dies letztere gewöhnt sich ziemlich rasch an
dürftige oder üppige Umrisse, an eckige odei* runde Linien, an eine
grelle oder matte Farbengebung und erfaßt darin, ungeachtet der
„Manier" eines Meisters, den Ernst und das Pathos seiner Inten-
tionen. Dagegen befreundet sich das Ohr schwieriger mit Disso-
nanzen, die ihm um so abscheulicher erscheinen, als es ihre Moti-
vierung nicht versteht, mit Modulationen, deren Kühnheit ihm um
I. Chopins Werke im allgemeinen.
so schwindelerregender dünkt, als es das geheime Band nicht heraus-
fühlt, das nicht minder logisch und ästhetisch ist als die Übergänge
eines Stils in der Architektur, die in diesem einen bestimmten Stil
gesetzmäßig, in einem andern aber unmöglich sind. Überdem be-
dürfen die Musiker, die sich nicht an den herkömmlichen Schlendrian
binden, mehr als andereKünstler der Hilfe der Zeit ; denn da ihreKunst
sich an die zartesten Fibern des Menschenherzens wendet, verletzt sie
dasselbe und schafft ihm Leiden, wenn sie es nicht mit Entzücken füllt.
In erster Linie sind es die jüngsten und lebhaftesten Naturen,
die, durch den Reiz der Gewohnheit — einen gewiß achtenswerten
Reiz, selbst wenn er zum Tyrannen wird — am wenigsten gefesselt,
sich zunächst aus Neugier, in der Folge aber mit leidenschaftlicher
Verehrung der neuen Sprachweise zuwenden, die naturgemäß durch
das, was sie sagt, wie durch die Weise, wie sie es sagt, dem neuen
Ideal einer neuen Epoche, den neu aufkeimenden Typen einer Pe-
riode entspricht, welche einer andern eben entschwindenden folgt.
Dank dieser jungen Phalanx, die sich für das begeistert, was ihre
eigenen Eindrücke schildert, ihren Ahnungen Leben verleiht, durch-
dringt die neue Sprache die widerstrebenden Kreise des Publikums;
dank ihr erfaßt dieses letztere endlich Sinn, Tragweite und Kon-
struktion derselben und entschließt sich, ihrem Wesen und Gehalt
Gerechtigkeit angedeihen zu lassen.
So populär auch bereits ein Teil der Schöpfungen des Meisters
sein mag, von dem wir sprechen wollen, und dessen Kraft schwere
Leiden schon lange Zeit vor seinem Ende gebrochen hatten, wir
dürfen voraussetzen, daß man in fünfundzwanzig oder dreißig
Jahren seinen Arbeiten eine minder oberflächliche und leicht-
wiegende Würdigung schenken wird als gegenwärtig. Wer sich in
Zukunft mit der Geschichte der Musik beschäftigt, wird ihm darin
den Platz anweisen, der dem gebührt, der sich durch ein so seltenes
melodisches Genie, durch so wundersame rhythmische Inspirationen,
durch so glückliche und wesentliche Erweiterungen des harmo-
nischen Gewebes hervortat, und dessen Schöpfungen man mit
Recht manchem Werk größeren Umfangs voranstellen wird, das
die großen Orchester spielen und wieder spielen,'das zahllose Prima-
donnen singen und wieder singen.
Würdigung Chopins.
Chopins Genie war tief und erhaben, war vor allem reich genug,
um von dem weiten Gebiet orchestraler Kunst Besitz ergreifen
zu können. Seine musikalischen Gedanken waren groß, bestimmt,
fruchtbar genug, um sich über die volle Breite des instrumentalen
Rahmens zu erstrecken. Hätten ihm die Pedanten den Mangel
an Polyphonie zum Vorwurf gemacht, so hätte er, billig ihrer
spottend, ihnen beweisen können, daß die Polyphonie, obwohl
eines der überraschendsten, mächtigsten, ausdruckvollsten Hilfs-
mittel des musikalischen Genies, doch eben nichts weiter als ein
Hilfsmittel ist, eine Ausdrucks- und Stilform, deren sich dieser
Autor, diese Epoche, dieses Land je in dem Maße bedient, als sie
dem Empfinden eben dieses Autors, dieser Epoche, dieses Landes
bedürfnisgemäß ist oder war. Da aber die Kunst nicht dazu da ist,
um ihre Mittel nur um der Mittel selber willen, ihre Formen um
der Formen selber willen zur Geltung zu bringen, liegt es auf der
Hand, daß der Künstler sie nur anzuwenden braucht, wenn diese
Formen und Mittel dem Ausdruck seiner Idee oder seines Gefühls
förderlich oder notwendig sind. Fordert die Natur seines Genies,
60 wie die des von ihm erwählten Gegenstandes dieselben jedoch
nicht, so läßt er sie beiseite, wie er die Pfeife oder Baßklarinette,
die große Trommel oder die Viola d'amour beiseite läßt, wenn er
mit ihnen nichts zu tun hat.
Sicherlich nicht durch Anwendung bestimmter, besonders schwie-
riger Effekte bezeugt sich der künstlerische Genius. Er offenbart
sich durch das Gefühl, das er singen und erklingen läßt, durch die
Noblesse der Gestaltung, durch eine so völlige Einheit von Idee
und Form, daß man die eine nicht ohne die andre zu denken ver-
mag, da die eine eben als das natürliche Gewand, die freiwillige
Ausstrahlung der andern erscheint. Der beste Beweis dafür, daß
Chopin seine Gedanken sehr wohl dem Orchester hätte anvertrauen
können, ist die Leichtigkeit, mit der sich die schönsten und be-
deutendsten für dasselbe übertragen lassen. Gebrauchte er also zur
Kundgebung seines Innern niemals die symphonische Form, so
geschah dies, weil ihn nicht darnach verlangte. Weder falsche Be-
scheidenheit noch übel angebrachte Geringschätzung leiteten ihn
hierbei, sondern das klare und sichere Bewußtsein, daß die von ihm
8 I. Chopins Werke im allgemeinen.
gewählten Formen seinem Empfinden am eigentlichsten entsprachen.
Dieses Bewußtsein aber ist eins der wesentlichsten Kennzeichen
des Genies in allen Künsten und zumal in der Musik.
Indem Chopin sich ausschließlich auf das Bereich des Klaviers
beschränkte, betätigte er eine der wertvollsten Eigenschaften des
Komponisten: die richtige Erkenntnis der Form, in der er berufen
ist, Hervorragendes zu leisten. Gleichwohl schädigte das, was wir
ihm als Verdienst anrechnen, die Bedeutung seines Rufs. Wohl
schwerlich hätte ein anderer, im Besitz gleich hoher melodischer
und harmonischer Fähigkeiten, der Versuchung widerstanden, alle
Kräfte des Orchesters zu entfesseln, vom Gesang des Bogens, dem
schmachtenden Laut der Flöte bis zum Schmettern der Trompete,
in der wir beharrlich das Attribut der alten Gottheit erblicken, deren
rasch gewährte Gunst wir anrufen. Welcher Gereiftheit der Er-
kenntnis bedurfte er nicht, um sich auf einen dem Anschein nach
unfruchtbareren Kreis zu begrenzen, den er gleichwohl durch sein
Genie und seine Kraft mit Erzeugnissen schmückte, die, oberfläch«
lieh betrachtet, einen anderen Boden zu fordern schienen, um da-
selbst ihre ganze Blütenpracht zu entfalten! Welchen Scharf-
blick verrät er nicht in dieser Ausschließlichkeit, indem er gewisse
Orchestereffekte ihrer eigentlichen Domäne entriß und sie in eine
eng umgrenztere aber idealere Sphäre übertrug! Welch zuversicht-
liches Bewußtsein der künftigen Gewalt seines Instrumentes mußte
nicht dem freiwilligen Verzicht auf eine Behandlungsweise voraus^
gegangen sein, die dergestalt verbreitet ist, daß andere es wahr-
scheinlich als Widersinn betrachtet hätten, so bedeutende Ge-
danken ihren gewohnten Interpreten zu entziehen! Wir müssen
in Wahrheit diese seltene Hingabe an das Schöne um seiner selbst
willen an Chopin bewundern, die ihn der herkömmlichen Neigung,
jedes Körnchen Melodie zwischen hundert Orchesterpulte zu ver-
teilen, entsagen ließ und ihm gestattete, die Mittel seiner Kunst
zu bereichern, indem er lehrte, dieselben auf den geringsten Raum
zu konzentrieren.
Weit entfernt, den geräuschvollen Lärm des Orchesters anzu-
streben, begnügte sich Chopin, seine Gedanken voll und ganz durch
die Tasten des Klaviers wiederzugeben. Und er erreichte seinen
Chopins Selbstbeschränkung auf Klavierkompositionen. 9
Zweck. Der Gedanke verlor nichts an Energie, ohne doch die
Massenwirkungen und den Pinsel des Dekorateurs zu beanspruchen.
Nicht ernst und nachdrücklich genug hat man bisher noch den Wert
der Zeichnung dieses äußerst feinen Griffels anerkannt. Hat man
sich doch in unseren Tagen gewöhnt, nur diejenigen als große
Komponisten zu betrachten, die mindestens ein halb Dutzend
Opern, ebensoviel Oratorien und einige Symphonien hinterlassen
haben; verlangt man doch von jedem Musiker nicht weniger als
alles, ja womöglich noch etwas mehr! Mag die Manier, das Genie,
das seinem Wesen nach eigentlich eine unmeßbare Größe ist, nach
der Zahl und Ausdehnung seiner Werke abzuschätzen, noch so
verbreitet sein, sie ist nichtsdestoweniger von sehr zweifelhafter
Berechtigung.
Niemand wird den Epikern, deren schöpferische Tätigkeit weitere
Kreise umschreibt, den schwerer zu erlangenden Ruhm und ihre
tatsächliche Übermacht bestreiten wollen. Wir wünschten jedoch,
daß man den äußeren Proportionen in der Musik die gleiche Be-
deutung beimäße, wie in allen andern Zweigen der schönen Künste.
Wer z. B. stellte in der Malerei eine Leinwand von zwanzig Qua-
dratzoll, wie die „Vision Ezechiels", oder den „Kirchhof" von
Ruysdael, die zu den geschätztesten Meisterwerken zählen, nicht
höher als dieses oder jenes Gemälde weit größeren Umfangs, habe
es selbst einen Rubens oder Tintoretto zum Urheber? Gilt in der
Literatur Larochefoucauld etwa darum nicht als Schriftsteller
ersten Ranges, weil er seine „Gedanken" in solch kleinen Rahmen
einschloß? Raubt es Uhland und Petöfi etwas von ihrer Bedeutung
als nationale Dichter, daß sie über die lyrische Poesie und die Bal-
lade nicht hinausgekommen sind? Verdankt Petrarca seinen Ruhm
nicht seinen Sonetten, und wie viele von denen, die ihre lieblichen
Reime immer von neuem lasen, wissen von der Existenz seiner Dich<»
tung „Afrika"?
Wir sind überzeugt, daß die Vorurteile bald schwinden werden,
welche dem Künstler, der, wie Franz Schubert oder Robert Franz,
fast ausschließlich in Liedern zu uns gesprochen, seinen Vorrang
vor anderen streitig machen, die die seichten Melodien zahlreicher
Opern, die wir hier nicht aufzählen wollen, in Partitur setzten.
10 I. Chopins Werke im allgemeinen.
Auch in der Musik wird man endlich dahin gelangen, bei Beur-
teilung der verschiedenen Kompositionen hauptsächlich die Meister-
schaft und das Talent in Anschlag zu bringen, mit denen die Ge-
danken und Empfindungen des Tondichters zum Ausdruck kamen,
welchen Raum und welche Mittel er im übrigen auch zu ihrer
Kundgebung wählte.
Man kann die Schöpfungen Chopins nicht mit Aufmerksamkeit
studieren und analysieren, ohne Schönheiten sehr erhabener Art,
Empfindungen von vollständig neuem Charakter, Formen von eben-
so originellem als tiefsinnigem harmonischen Gewebe darin zu ge-
wahren. Die Kühnheit ist bei ihm stets eine gerechtfertigte, der
Reichtum, ja Überfluß schließt die Klarheit nicht aus, die Eigen-
tümlichkeit artet nicht aus in Bizarrerie, die Feinheit der Aus-
arbeitung ist allenthalbefc eine wohlgeordnete, nirgend überwuchert
der Luxus der Omamentation die Eleganz der Hauptlinien. Seine
besten Werke enthalten zahlreiche Kombinationen, die man in der
Behandlung des musikalischen Stils geradezu als epochemachend
bezeichnen darf. Kühn, glänzend, berückend, verbergen sie ihre
Tiefe hinter so viel Anmut, ihre Gelehrsamkeit hinter so viel Reiz,
daß man sich nur mit Mühe ihrem hinreißenden Zauber zu ent-
ziehen vermag, um sie kalten Blutes nach dem Maß ihres theore-
tischen Wertes zu beurteilen. Dies ward von selten der Kunst-
gelehrten schon mannigfach empfunden; aber es wird zu immer all-
gemeinerer Erkenntnis kommen, wenn man den künstlerischen
Errungenschaften der von Chopin durchlebten Periode eine ein-
gehende Betrachtung schenken wird.
Ihm danken wir die Erweiterung der voll angeschlagenen so-
wohl als der gebrochenen und figurierten Akkorde, die chroma-
tischen und enharmonischen Wendungen, von denen seine Werke
so überraschende Beispiele bieten ; die kleinen Gruppen von Zwischen-
noten, die wie bunt schimmernde Tautröpfchen über die melo-
dische Figur fallen. Er verlieh dieser Art Schmuck, deren Vorbild
man bisher nur in den Fiorituren der großen alten italienischen
Gesangschule gefunden, das Unerwartete und Wechselreiche, das
die menschliche Stimme nicht erlaubte, die bis dahin in den stereo-
typ und monoton gewordenen Verzierungen durch das Pianoforte
Chopins Errungenschaften, 11
nur sklavisch nachgeahmt worden war. Er erfand jene bewunderns-
würdigen harmonischen Fortschreitungen, mittels deren er selbst
den Musikstücken einen ernsten Charakter aufprägte, deren minder
gewichtiger Vorwurf irgend welche tiefere Bedeutung nicht be-
anspruchen zu dürfen schien.
Aber was bedeutet der Vorwurf? Ist es nicht vielmehr die aus
ihm hervorgehende Idee, die ihn durchzitternde Empfindung, die
jenen in eine höhere Sphäre erhebt, ihn adelt und ihm Größe ver-
leiht? Welche Melancholie, welche Feinheit, welcher Scharfsinn
und insbesondere welche Kunst herrscht in den Meisterwerken
Lafontaines, und doch wie alltäglich sind die darin behandelten
Gegenstände, wie bescheiden ihre Titel! Die Namen: Etüden und
Präludien sind es gleicherweise. Dessenungeachtet bleiben die
also bezeichneten Stücke Chopins nicht minder Typen der Voll-
kommenheit in einem Genre, das er erst geschaffen, und das er wie
alle seine Werke mit seinem poetischen Geist beseelt hat. Seinen
fast der ersten Zeit seines Schaffens entstammenden Etüden ist
ein jugendlicher Schwung eigen, der in einigen seiner späteren
kunstreicheren, mehr kombinierten Arbeiten zurücktritt, um sich
in seinen letzten Erzeugnissen zu verlieren, deren verfeinerte Emp-
findsamkeit man lange Zeit der Überreiztheit und dadurch der
Künstelei beschuldigte. Man kommt jedoch zu der Überzeugung,
daß diese Zartheit in Behandlung der Nuancen, diese unendliche
Feinheit in Anwendung der leisesten Tinten und flüchtigsten
Kontraste nur eine scheinbare Ähnlichkeit mit den Gesuchtheiten
ermattender Schaffenskraft hat. Bei näherer Prüfung gelangt
man hier, gleichsam hellsehend, zur Erkenntnis der Übergänge,
die zwischen Gefühlen und Gedanken bestehen, die aber die große
Menge ebensowenig bemerkt, als ihr beschränkter Blick all die
Farbenübergänge, all die Abstufungen der Tinten erfaßt, welche
die unaussprechliche Schönheit und Harmonie der Natur aus-
machen.
Hätten wir hier in Schulausdrücken über die Entwickeiung der
Klaviermusik zu reden, wir würden die wunderbaren Werke, die
der Beobachtung ein so reiches Feld darbieten, im einzelnen zer-
gliedern. Wir würden in erster. Linie die Nocturnes, Balladen,
12 I. Chopins Werke im allgemeinen.
Impromptus, Scherzi untersuchen, die sämtlich eine Fülle
ebenso unerhörter als ungehörter harmonischer Raffinements ent-
halten. Wir würden gleicherweise in seinen Polonaisen, Ma-
zurken, Walzern, Boleros Umschau halten. Doch ist hier
weder Zeit noch Ort für ein solches Unternehmen, das nur den
Adepten des Kontrapunktes und bezifferten Basses Interesse ge-
währen würde. Es ist das allen seinen Werken innewohnende
überquellende Gefühl, das diesen ihre Ausbreitung und Popu-
larität gewann; ein Gefühl, das, seiner Natur nach romantisch,
eminent individuell, dem Autor spezifisch eigen ist und gleichwohl
nicht nur dem Land, das ihm eine Berühmtheit mehr verdankt,
sondern allen denen tief sympathisch erscheint, die das Unglück
der Verbannung und das Leid der Liebe jemals zu rühren vermögen.
Chopin begnügte sich indes nicht allein mit den Rahmen, inner-
halb deren er seine Umrisse mit voller Freiheit entwerfen konnte;
es gefiel ihm zuweilen auch, seine Gedanken in klassische Formen
zu bannen. Er schrieb schöne Konzerte und Sonaten; doch
fühlen wir aus denselben leicht mehr Absicht als Inspiration heraus.
Seine Eingebungen waren mächtig, phantastisch, impulsiv; seine
Formen konnten keine andern als freie sein. Er mußte, so glauben
wir, seinem Genie Gewalt antun, sooft er versuchte, es Regeln
und Anordnungen zu unterwerfen, die nicht die s6tnigen waren
und mit den Anforderungen seines Geistes nicht übereinstimmten.
Gehörte er doch zu jenen, deren Anmut sich vornehmlich dann ent-
faltet, wenn sie von den gewohnten Wegen abweichen.
Solch doppelten Erfolg zu erstreben mag Chopin durch das
Beispiel seines Freundes Mickiewicz veranlaßt worden sein. Nach-
dem dieser zuerst seiner Heimatsprache eine romantische Dichtung
geschenkt hatte und seit 1818 durch „Dziady" und seine phan-
tastischen Balladen in der polnischen Literatur Schule bildete,
bewies er in der Folge durch seine Werke „Graiyna" und „Wallen-
rod", daß er auch über die Schwierigkeiten triumphiere, welche die
Schranken der klassischen Form der Inspiration entgegenstellen,
und er sich auch auf der Lyra der Alten als Meister behaupte. Cho-
pins analoge Versuche gelangen nach unserer Meinung nicht ebenso
vollkommen. Er konnte der engen, starren Form das Schwebende,
Verschiedene Kompositionsgattungen Chopins. 13
Unbestimmte der Umrisse nicht anpassen, was den Reiz seiner Weise
ausmacht. Er vermochte nicht, die ihm eigene gewisse nebelhafte Ver-
schwommenheit in dieselbe einzuschließen, die, alle Grenzen fester Ge-
staltung zerstörend, sie mit langem Faltenwurf umhüllt, den Flocken
gleich, wie sie Ossians Schönheiten umgaben, wenn sie den Sterblichen
inmitten wechselnden Gewölks ein holdes Antlitz erscheinen ließen.
Dessenungeachtet glänzen die klassischen Versuche Chopins
durch eine seltene Vornehmheit des Stils; sie umschließen Passagen
von hohem Interesse, Teile von überraschender Größe. Wir er-
innern nur an das Adagio des zweiten Konzertes, für das er selbst
eine sichtliche Vorliebe bezeigte, und das er häufig zu spielen pflegte.
Das figurative Nebenwerk vergegenwärtigt aufs schönste die Weise
des Meisters. Die Hauptphrase ist von bewundernswerter Ge-
sangesfülle. Sie wechselt mit einem Rezitativ in Moli ab, das ge-
wissermaßen als Gegenstrophe auftritt. Das ganze Stück ist von
idealer Vollendung. Sein bald strahlender, bald rührender Inhalt
versetzt uns in eine herrliche, lichtgetränkte Landschaft, in irgend
ein glückliches Tempe-Tal, das zum Schauplatz einer traurigen
Erzählung, einer betrübenden Szene auserwählt ist. Wir sehen
angesichts einer unvergleichlichen Natur das menschliche Herz
von einem schweren Unglück betroffen. Dieser Kontrast ist durch
eine Verschmelzung der Töne, ein Verschwimmen der zartesten
Tinten getragen, welche verhüten, daß irgend etwas Verletzendes oder
Rauhes den rührenden Eindruck störe, den er hervorruft, und der
gleichzeitig die Freude melancholisch, den Schmerz weicher stimmt.
Wie könnten wir femer unterlassen, von dem seiner ersten
Sonate eingefügten Trauermarsch zu sprechen, der gelegentlich
seiner eigenen Totenfeier orchestriert und aufgeführt wurde? Man
hätte fürwahr keine herzergreifenderen Akzente finden können, um
der Trauer und den Tränen Ausdruck zu geben, die den zu seiner letzten
Ruhe geleiteten, der tiefes Leid in so erhabener Klage austönte.
„Das konnte nur ein Pole schreiben!" hörten wir einmal einen
seiner jungen Landsleute sagen. In der Tat, alles, was der Leichen-
zug eines seinen eigenen Tod beweinenden Volkes Feierliches und
Herzzerreißendes haben kann, klingt aus dem dumpfen Glocken-
klang heraus, der ihm hier das letzte Geleite zu geben scheint. Das
14 L Chopins Werke im allgemeinen.
ganze Gefühl mystischer Hoffnung, frommen Anrufs einer himm-
lischen Barmherzigkeit, eines unendlichen Friedens, das ganze
verzückte Leid, das mit märtyrergleichem Heroismus getragene
Mißgeschick hallt wider in diesem Gesänge, dessen Flehen Trost-
losigkeit atmet. Was es Reinstes und Entsagungsvollstes, Gläubig-
stes und Hoffnungsreichstes im Herzen der Frauen, der Kinder
und Priester gibt, das ertönt und erzittert darin mit unaussprech-
licher Erregung. Man empfindet, daß man hier nicht den Tod
eines einzelnen Helden beweint, den zu rächen noch andere Helden
zurückblieben, sondern vielmehr den Untergang einer ganzen Gene-
ration, die nur noch Frauen, Kinder und Priester überleben.
Die antike Auffassung des Schmerzes ist dabei gänzlich aus-
geschlossen. Hier erinnert nichts an Kassandras Zorn, an die
Demütigung des Priamus, an das Rasen Hecubas, an die Ver-
zweiflung der gefangenen Trojanerinnen. Kein greller Schmer-
zensschrei, kein heiseres Schluchzen, keine Gotteslästerung noch
wütende Verwünschung stört einen Augenblick die Totenklage,
die man für seraphische Seufzer zu halten versucht wäre. Ein
stolzer Glaube tilgt in den Überlebenden dieses christlichen llium
die Bitterkeit des Leidens, wie die Zaghaftigkeit des Kleinmuts;
keine irdische Schwäche haftet mehr an ihrem Schmerz. Er reißt
sich los von dieser mit Blut und Tränen gedüngten Erde, er schwingt
sich himmelan und wendet sich dem höchsten Richter zu, um ihn
in so inbrünstigem Gebete anzuflehen, daß das Herz dessen, der es
vernimmt, in Mitgefühl erbebt. Dieser Trauergesang ist, ob auch
klagend, von so hehrer Sanftmut, daß er nicht von dieser Erde zu
stammen scheint. Klänge, wie aus verklärter Feme kommend, flößen
heilige Andacht ein, wie wenn sie, von den Engeln selber gesungen,
schon droben in den Regionen des göttlichen Thrones schwebten.
Man würde indessen mit Unrecht glauben, daß alle Kompo-
sitionen Chopins der Erregtheit entbehren, deren er sich hier ent-
äußerte. Ist doch der Mensch nicht wohl fähig, einen so erhabenen
Aufschwung mit so energischer Selbstverleugnung und entschlosse-
ner Sanftmut dauernd festzuhalten. Heimlicher Wut, unterdrückter
Leidenschaft begegnen wir in manchen Stellen seiner Werke. Einige
seiner Etüden sowohl als seiner Scherzi atmen eine bald ironische,
Chopin in Darstellung des Schmerzes. 15
bald stolze Verzweiflung. Diese düsteren Auslassungen seiner JVluse
sind ungekannter und unverstandener geblieben als seine Dich-
tungen von ruhigerem Kolprit. In den Gefühlskreis, dem sie ent-
sprangen, sind eben wenige eingedrungen, wenige nur kennen diese
Gebilde von tadelloser Schönheit, denen er das Dasein gab. Der
persönliche Charakter Chopins trug hierzu das seine bei. Wohl-
wollend, freundlich, anmutig im persönlichen Verkehr, von gleich-
mäßiger und heiterer Stimmung, ließ er die geheimen Zuckungen,
die sein Inneres erregten, wenig ahnen.
Nicht leicht war dieser Charakter zu ergründen. Er war aus
tausend Nuancen zusammengesetzt, die, indem sie sich kreuzten,
sich gegenseitig auf eine für den ersten Blick unentzifferbare Weise
verhüllten. Man konnte sich leicht über seine eigentlichen Ge-
danken täuschen, wie im allgemeinen bei den Slawen, bei denen
die Offenheit und Mitteilsamkeit, die Zutraulichkeit und bestechende
Ungezwungenheit der Manieren keineswegs doch wahres Vertrauen
und Hingebung bedingen. Ihre Empfindungen offenbaren und
verbergen sich gleich den Windungen einer sich um sich selbst
zusammenringelnden Schlange. Nur bei sehr aufmerksamer Be-
trachtung erkennen wir die Verschlingung ihrer Ringe. Es wäre
Naivität, die höflichen Komplimente der Slawen, ihre vermeint-
liche Bescheidenheit beim Wort zu nehmen. Die äußeren Formen
dieser Höflichkeit und Bescheidenheit gehören zu ihren Sitten,
die sich eigentümlicherweise auf ihre alten Beziehungen zum Orient
zurückführen. Ohne von der Schweigsamkeit des Muselmannes
das Geringste anzunehmen, lernten die Slawen von ihm die miß-
trauische Zurückhaltung über alles, was die zarteren und innersten
Saiten des Gemüts berührt. Man kann ziemlich sicher sein, daß,
sprechen sie von sich selbst, sie sich dem Fragenden gegenüber
stets in absichtliches Schweigen hüllen, das ihnen über diesen nach
Seiten des Verstandes wie des Gefühls ein Übergewicht einräumt.
Sie lassen ihn über dieses oder jenes Geheimnis, diesen oder jenen
Umstand, mag ihnen derselbe nun Bewunderung oder Gering-
schätzung eintragen, in Unwissenheit; es gefällt ihnen, unter einem
feinen Lächeln einen unmerklichen Spott zu verstecken. Unter
allen Umständen an Mystifikationen, seien es die geistreichsten
16 I. Chopins Werke im allgemeinen.
oder die komischsten, die bittersten oder traurigsten, Geschmack
findend, sehen sie — so möchte man behaupten — in einer der-
artigen Überlistung den verächtlichen Ausdruck einer Überlegen-
heit, welche sie sich im Innern zuerkennen, aber mit der Sorgfalt
und Schlauheit der Unterdrückten verbergen.
Da die zarte und schwächliche Organisation Chopins ihm nicht
den energischen Ausdruck seiner Leidenschaft gestattete, gab er
seinen Freunden nur das preis, was von Sanftmut und Wohlwollen
in ihm war. In der schneilebenden, vielbeschäftigten Welt unserer
großen Städte, wo keiner Muße hat, über das Rätsel des Daseins
anderer nachzudenken, wo jeder nur nach seiner äußeren Stellung
beurteilt wird, nehmen sich gar wenige die Mühe, auf andere einen
Blick zu werfen, der mehr als die bloße Oberfläche des Charakters
streift. Diejenigen aber, die ein inniger und häufiger Verkehr dem
polnischen Tonkünstler nahe brachte, hatten des öfteren Gelegen-
heit, seine Ungeduld und Langeweile zu bemerken, wenn man seine
Worte allzu genau nahm. Der Künstler, ach leider! konnte den
Menschen nicht rächen! Von zu schwacher Gesundheit, um diese
Ungeduld durch das Ungestüm seines Spiels zu verraten, suchte
er sich dadurch zu entschädigen, daß er anderen zuhörte, wenn sie
mit der Kraft, die ihm selbst gebrach, diejenigen seiner Kompo-
sitionen spielten, in denen der leidenschaftliche Groll des Mannes,
den gewisse Wunden tiefer getroffen, als er es eingestehen möchte,
immer von neuem auftaucht, wie bei einer im Untergang begriffenen
Fregatte die Fetzen ihrer Flagge, die ihr die Wogen entrissen,
noch auftauchen aus den Fluten.
Eines Nachmittags waren wir nur zu Dreien beisammen. Cho-
pin hatte lange gespielt. Eine der vornehmsten Frauen von Paris
fühlte sich mehr und mehr von einer frommen Andacht überwältigt,
wie sie uns etwa beim Anblick der Leichensteine ergreift, welche
jene Fluren in der Türkei bedecken, deren schattige Bäume und
Blumenbeete dem erstaunten Wanderer von fem einen lachenden
Garten verheißen. Sie fragte ihn, von diesem Gefühl bewegt,
warum sich sein Herz wohl mit so unwillkürlicher Verehrung vor
Denkmälern neige, die dem Blick nur liebliche und anmutige
Gegenstände zeigen? Mit welchem Namen er die außergewöhnliche
Chopins körperliche Organisation. , 17
Empfindung benenne, die er in seinen Kompositionen, gleich un»
bekannter Asche in kostbarer Alabaster-Urne, verschließe? . . .
Die schönen Tränen, die so schöne Augen benetzten, besiegten
Chopin, und er, der sonst die geheimen Regungen seines Innern
mißtrauisch in den glänzenden Schrein seiner Werke verschloß,
erwiderte mit seltener Aufrichtigkeit, daß ihr Herz sich nicht Qber
seine Schwermut täusche; denn ob er auch vorübergehend heiter
erscheine, er sei doch nie von einem Gefühle frei, das gewisser-
maßen den Grund seines Empfindens bilde, und für welches er nur
in seiner eigenen Sprache Ausdruck finde, da keine andere ein ana-
loges Wort besitze für das polnische »Zal!« Er wiederholte es
in der Tat häufig, wie wenn sein Ohr gierig diesem Klange lausche,
der für ihn die ganze von einer herben Wehklage erzeugte Skala
der Gefühle von der Reue bis zum Haß — gesegnete oder giftige
Früchte derselben bitteren Wurzel — umschloß.
Zalf Seltsames Wort von seltsamer Vieldeutigkeit und noch
seltsamerer Philosophie! Verschiedenen Sinnes, umfaßt es alle
Rührung und demütige Ergebung eines resignierten und klaglosen
Schmerzes, wenn es direkt auf Tatsachen und Dinge angewandt
wird. Sich sozusagen mit Sanftmut dem Gesetz einer göttlichen
Schickung beugend, läßt es sich in diesem Fall als „untröstlicher
Schmerz nach einem unwiederbringlichen Verlust" übersetzen.
Sobald es jedoch auf den Menschen angewandt und seine Beziehung
indirekt wird, es zugleich auch die Bedeutung einer Präposition
annimmt, die sich gegen diesen oder diese richtet, ändert sich als-
bald sein Ausdruck, und weder in den romanischen noch in den
germanischen Sprachen findet sich ein Synonym für dasselbe.
Von erhabenerem, edlerem, umfassenderem Sinn als das Wort
»grief«, bedeutet es das Gären des Hasses, der Vorwürfe, den
Vorsatz der Rache, die Drohung, die unversöhnlich im Innern
grollt, sei es auf Wiedervergeltung lauernd, oder sich von unfrucht-
barer Bitterkeit nährend. In Wahrheit, dies ial färbt alle
Arbeiten Chopins mit einem bald milden, bald glühenden Wider-
schein. Es spricht selbst aus seinen süßesten Träumereien.
Diese Eindrücke waren für Chopins Leben von um so größerer
Wichtigkeit, als sie sich deutlich in seinen letzten Werken kund-
Liszt, Gesammelte Schriften I. V.A. 2
20 II. Polonaisen.
schönen Untertaninnen, für die man den Thron wagte und verlor,
— ähnlich, wie es bei einer grausamen Sforza, einer intriganten
d'Arquien, einer koketten Gonzaga geschehen — einen unver-
gänglichen Ruhm.
Einer mäinlichen Entschlossenheit vereint sich bei den Polen
vergangener Zeit jene glühende Hingabe an den Gegenstand ihrer
Liebe, wie sie Sobieski erfüllte, der, angesichts der Standarten des
Halbmondes, die ihn „so zahlreich wie die Ähren eines Feldes''
umringten, allmorgendlich die zärtlichsten Briefe an sein Weib
schrieb. Ihr Auftreten hatte einen eigentümlich imposanten An-
strich, ihre Haltung war vornehm bis zu einer leichten Emphase.
Die gewisse Feierlichkeit des Gebahrens nahmen sie von den An-
hängern des Islam an, die ihnen hierin als Vorbild dienten, und deren
Eigenschaften sie schätzen und sich aneignen lernten, während sie
ihre kriegerischen Einfälle bekämpften. Gleich diesen pflegten sie
ihren Taten eine reifliche Überlegung voranzuschicken. Der Wahl-
spruch des Fürsten Boleslav von Pommern: „Erst wäg's, dann
wag*s!" schien einem jeden von ihnen geläufig. Gern verliehen
sie ihren Bewegungen eine gewisse anmutige Würde, einen ge-
wissen pomphaften Stolz, der sie doch keineswegs der Leichtigkeit
der Formen und Freiheit des Geistes beraubte, welche den leisesten
Sorgen ihrer Zärtlichkeit, den flüchtigsten Bekümmernissen ihres
Herzens, den geringfügigsten Interessen ihres Lebens zugänglich
blieb. Wie sie ihre Ehre darein setzten, ihr Leben teuer zu ver-
kaufen, so liebten sie auch dasselbe zu verschönern; ja mehr noch,
sie verstanden zu lieben, was dies Leben verschönte, und zu ver-
ehren, was es wertvoll machte.
Ihr Heldengeist wurde durch stolze Würde und überlegtes Wesen
getragen. Vielseitiger Verstandestätigkeit festen Willen verbindend,
sahen sie sich von jung und alt, von ihren Gegnern sogar bewundert.
Eine Art tollkühner Klugheit, verwegner Vorsicht, fanatischer
Prahlerei war ihnen eigen. Als berühmteste historische Mani-
festation ihrer Tapferkeit erscheint Sobieskis Heereszug, der, Wien
errettend, der ottomanischen Herrschaft den Todesstoß versetzte
und somit diesem langen, mit so viel Glanz und gegenseitiger Ach-
tung geführten Kampf zwischen zwei im Streite ebenso unver-
Heldengeist der alten Polen. 21
söhniichen als im Waffenstillstand großmütigen Feinden ein Ende
machte.
Lange Jahrhunderte hindurch bildete Polen einen Staat, dessen
eingeborene hohe Zivilisation keiner andern glich und einzig in
ihrer Art bleiben sollte. Gleicherweise verschieden von der feu-
dalen Organisation des ihm im Westen benachbarten Deutschlands
als von dem despotischen, eroberungssüchtigen Sinn der Türken,
die ohne Unterlaß seine östlichen Grenzen bedrohten, näherte es
sich einesteils Europa durch sein ritterliches Christentum, seinen
Eifer in Bekämpfung der Ungläubigen, während es andernteils
von den neuen Herren von Byzanz bezüglich ihrer schlauen Po-
litik, ihrer kriegerischen Taktik und sentenziösen Redeweise Be-
lehrung schöpfte. Diese verschiedenartigen Elemente führte es
einer Gesellschaft zu, die, indem sie sich die heroischen Eigenschaften
muselmännischen Fanatismusses und die erhabenen Tugenden
christlicher Frömmigkeit assimilierte, den Keim zu ihrem Nieder-
gange legtet. Die allgemein verbreitete Pflege der lateinischen
Sprache, die Kenntnis und Vorliebe für italienische und franzö-
sische Literatur überdeckten diese wunderlichen Kontraste mit
einem glänzenden klassischen Firnis. Eine solche Zivilisation
mußte notwendig auch der geringsten ihrer Kundgebungen ein
unterscheidendes Gepräge aufdrücken. Den Romanen der irrenden
Ritterschaft, Turnieren und Waffenspielen wenig günstig, wie es
bei einem fortwährend in Kriege verwickelten Volke, das seine
Heldentaten für den Feind aufsparte, natürlich erscheint, ersetzte
sie die prunkhaften Freuden derartiger Lanzenspiele vielmehr durch
Feste, deren hauptsächlichste Zier in prächtigen Aufzügen bestand.
Es ist eine bekannte Tatsache, daß sich in den Nationaltänzen
eine wesentliche Seite des Volkscharakters abspiegelt. Doch meinen
^ Es ist bekannt, mit wie vielen ruhmreichen Namen Polen den Kalender
und die Märtyrergeschichte der Kirche bereicherte. Dem Orden der Trinl-
tarier (Redemptoristen-Brüder), welcher die Christen aus der Sklaverei der
Ungläubigen loszukaufen bestimmt war, erteilte Rom das ausschließliche
Vorrecht für dieses Land, über dem weißen Gewand einen roten Gürtel zu
tragen, in Erinnerung an die zahlreichen Märtyrer, die namentlich in den den
Grenzen nächstgelegenen Orten, wie Kamieniec-Podolskl, aus ihm hervor-
gegangen waren.
22 II. Polonaisen.
wir, daß es wenige solcher Tänze gibt, in denen, wie bei der Polo-
naise, bei solcher Einfachheit der Umrisse, die Trieblcräfte, die
sie ins Leben riefen, in ihrer Gesamtheit so vollständig zum Aus-
druck kommen und sich zugleich so mannigfaltig in den einzelnen
Episoden verraten, welche innerhalb des allgemeinen Rahmens
der Improvisation eines jeden vorbehalten sind. Seit diese Epi-
soden verschwanden, seit der Sinn dafür abhanden gekommen
und man nicht mehr die Phantasie bei Gestaltung dieser kurzen
Intermezzi walten läßt, sondern sich damit begnügt, die übliche
Promenade durch den Salon maschinenmäßig auszuführen, blieb
nur noch das Skelett des ehemaligen Pompes übrig.
Der ursprüngliche Charakter dieses spezifisch polnischen Tanzes
ist heutzutage schwer genug zu erraten, so völlig entartete er nach
dem Zeugnis derer, die ihn noch zu Anfang vorigen Jahrhunderts
aufführen ^ahen. Man begreift, wie abgeblaßt er ihnen erscheinen
muß, wenn man bedenkt, daß die Mehrzahl der Nationaltänze
ihr&*4trsprüngliche Originalität kaum zu behaupten vermag, nach-
dem die ihnen angepaßte Tracht außer Brauch gekommen ist.
Zumal die Polonaise, die der raschen Bewegungen, der eigent-
lichen Pas im choreographischen Sinne, der schwierigen und gleich-
förmigen Stellungen gänzlich entbehrt, der ein mehr ostentativer
als verführerischer Charakter innewohnt, und die als bezeichnende
Ausnahme vorzugsweise bestimmt war, die Männer in den Vorder-
grund treten zu lassen, ihre Schönheit, ihr edles Ansehen, ihre zu-
gleich kriegerische und ritterliche Haltung ins rechte Licht zu setzen.
Selbst der Name des Tanzes (Polsky) ist in der Ursprache männ-
lichen Geschlechts. Nur durch ein offenbares Mißverständnis hat
man ihn ins weibliche übertragen. Notwendigerweise mußte die
Polonaise von ihrer stolzen Selbstgefälligkeit ein gut Teil einbüßen,
um sich in eine wenig interessante Rujidpromenade umzugestalten,
sobald die Tänzer sich des erforderlichen Zubehörs beraubt sahen,
vermittels dessen ihr Gebärdenspiel die an sich so einfache, heu-
tigestages entschieden monoton gewordene Form zu beleben
vermochte.
Hören wir einige der Polonaisen Chopins, so glauben wir den
gewichtigen Schritt kühner Männer zu vernehmen. Zuweilen meint
Ursprünglicher Charakter der Polonaise. 23
man prächtige Gruppen, wie Paul Veronese sie gemalt, vorüber-
schreiten zu sehen. Die Einbildungskraft bekleidet sie mit der
reichen Tracht vergangener Jahrhunderte: schwerem Goldbrokat,
venetianischem Samt, Atlasdamast, weichen Zobelpelzen, die Ärmel
gefällig über die Schulter zurückgeworfen; damaszierten Säbeln,
blendenden Juwelen, arabeskenverzierten Türkisen, blutroter oder
goldgelber Fußbekleidung — oder mit züchtigen Busenschleiem,
flandrischen Spitzen, rauschenden Schleppen, wallenden Federn,
edelsteingeschmücktem Kopfputz, kleinen, mit Bernstein gestickten
Schuhen, Handschuhen, die nach den Wohlgerüchen des Serails
duften. Diese Gruppen lösen sich los vom farblosen Hintergrund
entschwundener Zeiten, umgeben von köstlichen persischen Tep-
pichen, von Smymaer Perlmutter-Möbeln, von konstantinopoli-
tanischen Goldschmied-Arbeiten, von all der prunkvollen Ver-
schwendung jener Magnaten, die mit kostbaren Silberbechern den
Tokaier aus künstlichen Fontänen schöpften, die beim Einzug
in fremde Städte ihre arabischen Renner mit Silber beschlugen,
damit, wenn sie die Hufeisen längs des Weges verloren, sie ihre
fürstliche Freigebigkeit den erstaunten Völkern bezeugten. Ver-
ächtlich blickten die Stolzesten unter ihnen auf die andern herab,
und ihre Wappenschilder zierten sie mit der gleichen Krone, die,
traf sie die Wahl, zu einer königlichen werden konnte. Sie führten
sie nur als Zeichen ihrer glorreichen Gleichberechtigung über ihrem
Wappen, das sie das „Familienjuwer' nannten; denn die Ehre
jedes einzelnen Gliedes war für die Unbeflecktheit desselben ver-
antwortlich. Auch hatte — eine in ihrer Art einzige Eigentüm-
lichkeit der polnischen Wappen — jedes seinen Namen, der sich
gewöhnlich auf irgend welchen anekdotischen Ursprung zurück-
führen ließ, und den andere ähnliche, ja selbst gleiche, aber einem
andern Geschlecht angehörige Wappen anzunehmen nicht das
Recht hatten.
Von der Mannigfaltigkeit der Nuancen und der ausdrucks-
vollen Mimik, welche der mehr gespielten als getanzteh Polonaise
einst eigen waren, könnte man sich ohne die Berichte und leben-
digen Beispiele einiger Greise, die bis auf diesen Tag die alte Na-
tionaltracht tragen, keine Vorstellung machen. Der ehemalige
24 11. Polonaisen.
Kontusz war eine Art K^ftan, der bis zu den Knien verlcürzt ist.
Er erinnert an das Kleid der Orientalen, wie es durch die Gewohn-
heiten eines tätigen, der fatalistischen Entsagung abgewandten
Lebens seine veränderte Gestalt erhielt. Bei feierlichen Gelegen-
heiten von ebenso reichem Stoff als blendender Farbe, ließen seine
offenen Ärmel das darunter getragene Gewand, den Zupan, her-
vorsehen. Derselbe bestand aus einfarbigem Atlas, wenn der
Kontusz gemustert, aus geblümtem oder durchwirktem Stoff, wenn
jener einfarbig war. Oft mit kostbarem Pelz, dem Lieblingsluxus
jener Zeit, garniert, verdankte letzterer einen Teil seiner Ori-
ginalität dem Umstand, daß er zu einer häufigen, der Grazie und
Koketterie dienenden Gebärde Anlaß bot. Warf man nämlich
die Scheinärmel hinter sich zurück, so konnte man die mehr oder
weniger glückliche, zuweilen symbolische Zusammenstellung der
beiden Farben besser enthüllen, aus denen die Toilette des Tages
bestand.
Wer niemals diese ebenso glänzende als prunkvolle Tracht ge-
tragen, vermag sich kaum die Haltung, das gemessene Verbeugen
und rasche Wiederaufrichten, alle die Feinheiten des stummen
Mienenspiels zu vergegenwärtigen, wie sie den Ahnen der Polen
geläufig waren, während sie in der Polonaise wie bei einer mili-
tärischen Parade defilierten; wobei auch ihre Hände nie müßig
blieben, sei es, daß sie ihre langen Schnurrbarte strichen oder mit dem
Griff ihres Säbels spielten. Beides war ein wesentlicher Bestandteil
ihrer Tracht, ein Gegenstand der Eitelkeit für jedes Alter, mochte
der Bart nun blond oder weiß, der Säbel noch unberührt und ver-
heißungsvoll, oder bereits schartig und vom Blute der Schlachten
gerötet sein. Karfunkel, Hyazinthe und Saphire schimmerten oft
an der vom Gürtel herabhängenden Waffe. Dieser Gürtel aus
befranstem Kaschmir oder golddurchwirkter Seide oder Silber-
schuppen, von Spangen mit dem Bildnis der Jungfrau, des Königs
oder dem Nationalwappen geschlossen, hob die fast immer ein
wenig korpulente Taille. Den Effekt der seltensten Edelsteine
aber übertraf oft eine Narbe, die der Bart verhüllte, ohne sie ganz
zu verbergen. Die Pracht der Stoffe, der Juwelen, der lebhaften
Farben wurde von den Männern nicht weniger weit getrieben als.
Nationale Tracht der alten Polen. 25
von den Frauen. Wie in der Tracht der Ungarn^ fanden sich die
kostbaren Steine auf den Knöpfen des Kontusz und Zupan, den
Hals-Agraffen, den zur Gala gehörenden Ringen, den Reiherfedern
der Baretts, die in allen Farben prangten, unter denen das Amarant,
das dem weißen Adler Polens, und das Dunkelblau, das dem Pogon,
dem litauischen Reiter > als Wappengrund diente, vorherrschten.
Das Barett, in dessen Samtfalten sich diamantene Schnallen ver-
steckten, während der Polonaise zu halten, es mit einem eigen-
tümlich pikanten Qebärdenspiel in die Hand zu nehmen und zu
schwenken, war eine besondere Kunst, die vorzugsweise bei dem
Kavalier des ersten Paares, der als Vordermann der ganzen Tanz-
reihe die Losung erteilte, zur Geltung kam.
Mit diesem Tanz eröffnete der Herr des Hauses jeden Ball, nicht
mit der jüngsten, noch der schönsten, sondern mit der geehrtesten,
oft der bejahrtesten der anwesenden Frauen. Hatte man doch nicht
allein die Jugend zur Phalanx herbeigerufen, deren Bewegungen
das Fest einleiten sollten, und wollte man doch als erstes Vergnügen
eine Revue der versammelten Gesellschaft in ihrem ganzen Glänze
darbieten. Dem Hausherrn zunächst folgten die angesehensten
Männer, welche teils die von ihnen Bevorzugten, teils die Einfluß-
reichsten wählten. Der Wirt hatte eine minder leichte Aufgabe
zu erfüllen als heutigestages. Es lag ihm ob, die gesamte Tänzer-
schar in tausend, kapriziösen Verschlingungen durch sämtliche
Räume hindurchzuleiten, in denen die übrigen später hinzukom-
menden Gäste sich beeilten, an dem glänzenden Zuge teilzunehmen.
Man wußte es ihm Dank, wenn er bis zu den entferntesten Galerien,
bis zu den von erleuchteten Bosketts begrenzten Blumenbeeten
des Gartens vordrang, wo nur ein leises Echo der Musik noch das
Ohr erreichte. Mit verdoppelter Stimme empfingen ihn dann hei
seiner Rückkehr in den Hauptsaal die Fanfaren. Indessen solcher»
1 In England erinnert man sich noch der ungarischen Nationaltracht,
die Fürst Nikolaus Esterhazy bei der Krönung Georgs IV. trug, und deren
Wert auf einige Millionen Gulden geschätzt wurde.
> Als die Mörder des heiligen Stanislaus, Bischofs von Krakau, verurteilt
wurden, verbot man ihren Nachkommen, durch mehrere Generationen hindurch
in ihrer Kleidung das Amarant, die polnische Nationalfarbe, zu tragen.
26 IL Polonaisen.
gestalt fortwährend die Zuschauer wechselten, die, in Reihe und
Glied aufgestellt, seinen Zug unablässig beobachteten — denn die-
jenigen, welche nicht zu demselben gehörten, folgten ihm unver-
wandten Blickes, wie der Bahn eines strahlenden Kometen — ver-
säumte der Hausherr, der Führer des ersten Paares, nicht, seiner
Haltung und seinem Ansehen die mit Mutwillen vermischte Würde
zu geben, die die Frauen zu bewundem, die Männer zu beneiden
pflegen. Eitel und lustig zugleich, hätte er gegen seine Gäste etwas
zu versäumen geglaubt, wenn er nicht mit einer gewissen spöttischen
Naivität den Stolz zur Schau getragen hätte, mit dem es ihn er-
füllte, so berühmte Freunde, so angesehene Genossen bei sich zu
sehen, die alle sich beeilten, ihn zu besuchen und sich zur Ehre seines
Hauses reich zu schmücken.
Von ihm geführt, genoß man während dieser ersten Wanderung
bei unvermuteten Wendungen den Anblick allerlei architektonischer
oder dekorativer Überraschungen, deren Ornamente, Transparente,
verschlungene Schrift- und Namenszüge den Vergnügungen des
Tages angepaßt waren. Enthielten diese irgend eine Gelegenheits-
anspielung, irgend eine Huldigung, die den „Tapfersten'' oder die
„Schönste" feierte, so machte der Schlofiherr damit die Honneurs
in liebenswürdigster Weise. Je mehr Unerwartetes diese kleinen
Exkursionen darboten, je mehr Phantasie und glückliche Erfindung
sie bekundeten, um so lebhafter wurde der Beifall des jugendlichen
Teils der Gesellschaft, um so lauter klangen Jubelrufe und Gelächter
an das Ohr des Anführers, welcher damit an Ansehen gewann und
ein bevorzugter und gesuchter Partner wurde. Hatte er bereits
ein gewisses Alter erreicht, so empfing er häufig bei der Rückkehr
von derlei Entdeckungszügen Deputationen von jungen Mädchen,
die ihm in aller Namen Dank und Beifall aussprachen. Ihre Er-
zählungen gaben der Neugier der Gäste neue Nahrung und er-
höhten die Lebhaftigkeit der Teilnahme an den nächstfolgenden
Polonaisen.
Es war in diesem Land aristokratischer Demokratie, stür-
mischer Wahlen keineswegs gleichgültig, die Bewunderung des
Tribünen-Publikums des Ballsaals zu gewinnen. Dort stellten sich
die zahlreichen Untergebenen der großen Herrenhäuser auf, die
Phantastische Mannigfaltigkeit der Polonaise. 27
alle von Adel, oft selbst von älterem als ihre Herren, aber nur zu
arm waren, um Kastellan oder Wojewode, Kanzler oder Hetman,
Hof- oder Staatsmann zu werden. Diejenigen unter ihnen, die
an ihrem eigenen Herd blieben, riefen, kehrten sie vom Felde in
ihre htittenähnlichen Häuser zurück, voll Stolz aus: „Jeder Edle
hinter seiner Hecke ist ebenbürtig seinem Palatin!" Szlachciö
na zagrodzie, röwien wojewodzie. .Viele dagegen zogen es vor,
dem Glücke nachzujagen und sich selbst oder ihre Familie, Söhne,
Schwestern, Töchter bei den reichen Herren und ihren Frauen in
Dienst zu geben. Nur der Mangel an festlichem Putz, ihr frei-
williges Verzichten schlössen sie bei großen Festtagen von dem
Vorrecht aus, sich dem Tanze zu einen. Die Herren vom Hause
verschmähten es nicht, vor ihnen zu prunken, wenn sie die bunte,
regenbogenfarbige Pracht des Zuges vorüberftihrten an ihren
begierigen Blicken, aus denen neben der Bewunderung zuweilen
auch der Neid hindurchsah, ob auch hinter schmeichlerischem
Beifall und dem äußeren Schein der Ehrerbietung und Anhäng-
lichkeit verborgen.
Den schillernden Ringen einer langen Schlange gleich, ent-
faltete die lachende Gesellschaft, die über die Parketts dahinglitt,
bald ihre ganze Ausdehnung, bald zog sie sich zusammen, um in
ihren Windungen das mannigfaltigste Farbenspiel schimmern zu
lassen. Dazu rauschten in dumpfem Getön die goldenen Ketten,
die Schleppsäbel, die schweren perlengestickten, diamantenbe-
säeten, mit Schleifen und Bändern besetzten Damaststoffe, der
alle Augen auf sich lenkende Flittertand. Von weitem schon kün-
digte sich das Gemurmel der Stimmen an, dem Wogengebraus
eines bewegten Stromes nicht unähnlich.
Der Geist der Gastfreundschaft, der in Polen ebensosehr von
dem durch die Zivilisation entwickelten Feingefühl als von der
Einfachheit der angestammten, wohlanständigen Sitten hervor-
gerufen schien, mußte er nicht auch in den Einzelheiten ihres Tanzes
par excellence eine Stelle finden? Nachdem der Wirt seinen Gästen
die gebührende Ehre erwiesen, indem er mit der edelsten, gefeiert-
sten, hervorragendsten der anwesenden Frauen das Fest eröffnete,
hatte jeder seiner Gäste das Recht, in seine Stelle bei seiner Dame
28 IL Polonaisen.
einzutreten und sich somit an die Spitze des Zuges zu stellen. Vor-
erst in die Hände klatschend, um diesen einen Augenblick anzu-
halten, verneigte er sich vor der, welche er vor sich hatte, und er-
suchte sie, ihn anzunehmen, während der, dem er sie entführte,
das Gleiche bei dem nächstkommenden Paare tat, ein Beispiel,
dem alle folgten. So wechselten die Frauen ihre Tänzer so oft,
als ein neuer von der ersten derselben die Ehre erbat, sie zu führen;
sie blieben indes in der gleichen Reihenfolge, wogegen die Männer
sich beständig ablösten, so daß es vorkam, daß der, welcher den
Tanz begonnen hatte, sich gegen Ende desselben als der letzte,
wenn nicht völlig ausgeschlossen fand.
Der Kavalier, der sich an die Spitze der Kolonne stellte, be-
mühte sich, seinen Vorgänger durch ungewöhnliche Kombinationen
und Verschlingungen noch zu überbieten, die, wenn auf einen ein-
zigen Saal beschränkt, sich durch Zeichnung graziöser Arabesken
und sogar Namenszeichen hervortun konnten. Er bezeugte seine
Kunst und sein Anrecht auf die erwählte Rolle, indem er die kom-
pliziertesten, anscheinend unentwirrbarsten Touren ersann, die-
selben aber mit so viel Genauigkeit und Sicherheit durchführte,
daß das lebendige Band, das sich nach allen Richtungen hin ver-
schlang und kreuzte, doch nie zerriß, daß keine Verwirrung, kein
Anstoß dabei vorkam. Den Frauen und denen, die nur die Be-
wegung der übrigen fortzusetzen brauchten, war es jedoch keines-
wegs gestattet, dabei nachlässig über das Parkett zu schlendern.
Ihr Schritt mußte vielmehr ein rhythmischer, wogender sein, er
mußte dem ganzen Körper ein harmonisches Gleichgewicht auf-
prägen. Nicht in Hast und Eile schritt man vor oder wechselte
den Platz; man hütete sich, in der Bewegung einem scheinbaren
Zwange zu folgen. Wie die Schwäne abwärts der Flut glitt man
dahin,, als ob unsichtbare Wogen die schmiegsamen Gestalten
trügen»
Bald bot der Herr seiner Dame die eine, bald die andere Hand,
bisweilen streifte er nur die Spitzen ihrer Finger, um sie dann
wieder fest zu umfassen; jetzt war er ihr zur Linken, dann zur
Rechten, ohne sie zu verlassen, und diese Bewegungen durchliefen,
von jedem Paare nachgeahmt, wie ein Fieberschauer die volle Aus-
Prunkhaftes der Polonaise. 29
dehnung der gigantischen Schlange. Während dieser kurzen Minute
hörte man das Gespräch verstummen, die Stiefelabsätze, den Takt
bezeichnend, aufstoßen, die Seide knistern, die Ketten, wie sacht
berührte Glöckchen, klingen. Darauf ward das unterbrochene Ge-
plauder wieder laut, die leichten und schweren Schritte begannen
von neuem, Armbänder und Ringe stießen klirrend aneinander,
die Fächer streiften die Blumen, das heitere Gelächter setzte sich
wieder fort, und der Widerhall der Musik verschlang alles Geflüster.
Obwohl durch die mannigfaltigen Manöver, die er ersinnen oder
nachahmen mußte, scheinbar gänzlich in Anspruch genommen,
fand der Tänzer doch noch Zeit, sich zu seiner Dame zu neigen
und, jeden günstigen Augenblick nützend, ihr; war sie jung, ein
süßes Wort, war sie es nicht mehr, eine vertrauliche Mitteilung,
eine Bitte oder interessante Neuigkeit ins Ohr zu flüstern. Stolz
sich wieder aufrichtend, ließ er dann das Gold seiner Sporen, den
Stahl seiner Waffe klirren, liebkoste seinen Schnurrbart und wußte
seinen ganzen Gebärden einen Ausdruck zu geben, der seine Dame
nötigte, ihm durch eine geist- und verständnisvolle Haltung zu
entsprechen.
So war es keine banale, sinnlose Promenade, die man ausführte,
sondern eher ein Defil^, in dem die gesamte Gesellschaft sich pfauen-
gleich daran ergötzte, daß sie sich zu ihrer eigenen Bewunderung
so schön, so vornehm, so prunkreich und höflich sah. Es war eine
beständige Inszenesetzung ihres Glanzes und ihrer Berühmtheiten.
Bischöfe, hohe Prälaten und Geistliche^, Männer, die im Feldlager
^ Ehemals beteiligten sich die Primaten, die Bischöfe, die Prälaten an
der Polonaise und nahmen darin während der ersten Touren den obersten
Rang ein. Die Schicklichkeit gestattete nicht, daß man sie ablöste und ihnen
ihre Dame entführte; man erwartete daher, daß sie, nachdem sie die Tour
durch den Saal beendet, dieselbe an ihren Platz zurückgeleiteten, bevor sie sich
von ihr trennten. Die Würdenträger der Kirche blieben dann einfache Zu-
schauer, indes sich die Promenade vor ihren Augen fortsetzte. In neuerer Zeit,
wo die diesen Sitten ganz besonders eigene Feinheit der Lebensart unter dem
Einfluß der lebendigeren sozialen Berührung mit andern Völkern verschwand,
wo dem Klerus in allen Ländern eine größere Zurückgezogenheit auferlegt
ward, enthalten sich die geistlichen Herren der Teilnahme an dem National-
tanz, ja selbst des Erscheinens auf Bällen, die mit diesem eröffnet zu werden
pflegten.
30 II. Polonaisen.
oder im Kampfspiel der Beredsamkeit ergraut waren, Krieger, die
öfter den Küraß als das Friedenskleid getragen, Großwürdenträger
des Staats, bejahrte Senatoren, streitbare Palatine, ehrgeizige
Kastellane waren die begehrtesten Tänzer, um welche die Jüngsten,
Glänzendsten, Ausgelassensten sich stritten; denn bei solch ephe-
merem Band behaupteten Ehren und Würden vor der Jugend,
ja selbst oft vor der Liebe den Vorrang. Aus dem, was uns jene
Alten, die den 2upan und Kontusz niemals ablegten, und die, wie
ihre Voreltern, das Haupthaar bis zu den Schläfen geschoren trugen,
über die in Vergessenheit geratenen Evolutionen und verschwunde-
nen Intermezzi dieses majestätischen Tanzes berichteten, lernten
wir verstehen, welch lebhafter Instinkt für Repräsentation diesem
selbstbewußten Volke angeboren war, wie sehr ihm letztere zum
Bedürfnis wurde, und wie es, dank der ihm von Natur verliehenen
Grazie, diese prunksüchtige Neigung durch edle Empfindungen
und feine Intentionen poetisch verklärte.
Während unseres Aufenthaltes im Vaterlande Chopins, dessen
Andenken uns, wie ein unsere Teilnahme beständig anregender
Führer, geleitete, war es uns vergönnt, einigen dieser traditionellen
historischen Persönlichkeiten zu begegnen, die wie allerwärts von
Tag zu Tag seltner werden, da die europäische Zivilisation, wenn
sie nicht den Nationalcharakter von Grund aus verändert, min-
destens die Rauheiten seiner Außenseiten verwischt und abfeilt.
Wir hatten das Glück, einigen dieser Männer näherzutreten, denen
ein überlegener, gebildeter, durch ein tatenreiches Leben geübter
Verstand zu eigen war, deren Horizont aber sich nicht über die
Grenzen ihres Landes, ihrer Gesellschaft, ihrer Literatur, ihrer
Traditionen hinaus erstreckte. Während unserer durch einen Dol-
metscher mit ihnen vermittelten Unterhaltung hat uns ihre Art,
über Wesen und Formen neuerer Sitten zu urteilen, einen Einblick
in die vergangene Zeit und das, was ihre Größe, ihren Reiz und
ihre Schwäche bedingte, eröffnet. Interessant ist es, diese unnach-
ahmliche Originalität eines völlig exklusiven Gesichtspunktes zu
betrachten. Schwächt sie auch nach vielen Richtungen hin den
Wert der Meinung ab, so verleiht sie dem Geiste doch eine eigen-
tümliche Kraft, einen verschärften Sinn in betreff ihm teurer
Ursprüngliche Polonaisenmusik. 31
Interessen, eine Energie, die nichts von ihrem Ziele abzulenken
vermag, da alles, was außerhalb desselben liegt, ihr fremd bleibt.
Nur die, welche eine solche Originalität bewahrten, können wie
ein treuer Spiegel das genaue Bild der Vergangenheit vergegen-
wärtigen, indem sie ihr richtiges Licht, ihr Kolorit, ihren malerischen
Rahmen festhalten. Sie allein spiegeln gleichzeitig mit dem Ritual
der verschwindenden Gebräuche auch den Geist wider, der diese
einst ins Leben rief.
Chopin war zu spät geboren und hatte zu früh den heimischen
Boden verlassen, um eine solche Exklusivität des Gesichtspunktes
zu besitzen; doch hatte er zahlreiche Beispiele derselben gekannt,
und durch die Erinnerungen seiner Kindheit nicht minder als durch
die Geschichte und Poesie seines Vaterlandes fand er vermittels
Induktion das Geheimnis seiner alten Zauber, so daß er sie der
Vergessenheit entreißen und in seinen Gesängen mit ewiger Jugend
schmücken konnte. Wie aber jeder Dichter von denen besser ver-
standen und gewürdigt wird, welche die Stätten, die ihn begeisterten,
durchwanderten und daselbst den Spuren seiner Visionen nach-
gingen, wie Pindar und Ossian von denen tiefer begriffen werden,
welche die sonnendurchleuchteten Reste des Parthenon, die nebel-
umschleierten Landschaften Schottlands besuchten, so offenbaren
sich die begeisterten Eingebungen Chopins nur denjenigen völlig,
die sein Vaterland kennen und den Schatten wahrgenommen haben,
den verflossene Jahrhunderte daselbst zurückgelassen, den Schatten
einstigen Ruhmes, der, wie ein ruhelos Gespenst, umgeht auf seinem
väterlichen Erbe. Wenn man es am wenigsten erwartet, erscheint
er, um die Herzen mit Schreck und Betrübnis zu erfüllen, und
verbreitet, sooft er in den Sagen und Erinnerungen der Vorzeit
auftaucht, Grausen, wie die schöne Jungfrau Mara, die, totenbleich
und von roter Schärpe umgürtet, den Landleuten der Ukraine
erscheint und mit einem Blutfleck die Türen der Dörfer zeichnet,
die der Zerstörung anheimfallen.
Sicherlich hätten wir Anstand genommen, nach den schönen
Versen, die Mickiewicz der Polonaise gewidmet, und der bewun-
dernswürdigen Schilderung, die er im letzten Gesang des Pan
Tadeusz von ihr entworfen, von diesem Tanze zu reden, fände sich
32 II. Polonaisen.
jene Episode nicht in einem Werke verschlossen, das bis jetzt
unübersetzt geblieben und nur den Landsleuten des Dichters be-
kannt geworden ist^. Es müßte ein Wagnis erscheinen, selbst unter
veränderter Form einen Gegenstand zu behandeln, dem ein solcher
Pinsel bereits in diesem epischen Roman Gestalt und Farbe lieh.
Sind daselbst doch Schönheiten erhabenster Art in einer Landschaft
eingerahmt, wie sie Ruysdael malte, als er zwischen Gewitter-
wolken hindurch einen Sonnenstrahl auf eine vom Blitz zerschmet-
terte Birke fallen ließ, deren klaffende Wunde die weiße Rinde
mit Blut zu röten scheint. Ohne Zweifel ließ Chopin sich vielfach
durch Pan Tadeusz inspirieren, der einer Stimmungsmalerei, wie
Chopin sie liebte, mannigfaltige Anregung bot. Die Handlung
spielt zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, zu einer Zeit, wo
man noch vielen, welche die Empfindungsweise und die feierlichen
Manieren der alten Polen bewahrten, neben andern moderneren
Typen begegnete, die unter der Napoleonischen Herrschaft einer
feurigen aber flüchtigen Leidenschaft huldigten; zwischen zwei
Feldzügen flammte sie auf, um während des dritten, nach fran-
zösischer Art, zu erlöschen, öfters noch gewahrte man während
der in Rede stehenden Epoche den Gegensatz, den die an der Sonne
des Südens gebräunten und nach fabelhaften Siegen etwas groß-
sprecherisch gewordenen Krieger zu den gemessenen und stolzen
Männern der alten Schule bildeten, die unter dem Einfluß kon-
ventioneller Rücksichten, welche die vornehme Gesellschaft aller
Länder beherrschen und modeln, gegenwärtig ganz verschwinden.
In dem Maße, als jene, die das nationale Gepräge noch aufrecht
erhielten, seltener wurden, verlor sich der Geschmack an Schilde-
rung der ehemaligen Sitten, der einstigen Empfindungs-, Hand-
lungs-, Sprech- und Lebensweise. Doch würde man dies mit
Unrecht als Gleichgültigkeit deuten. Dieses Zurückdrängen oder
Verblassen noch frischer, aber schmerzlicher Erinnerungen gemahnt
an den Jammer der Mutter, die nichts von alledem, was einem ihr
durch den Tod entrissenen Kinde einst angehörte, — nicht einmal
1 Inzwischen ist 1882 (2. Auflage im Jahre 1898) eine deutsche Übersetzung
des Pan Tadeusz von Siegfried Lipiner im Verlage von Breitkopf & Hflrtel
in Leipzig erschienen. [Anmerkung des ObersJ
Nationalgepräge der Polonaise. 33
ein Kleid, oder ein Juwel — mehr zu betrachten imstande ist.
Heutigestages begegnen die Romane von Czaykowski — diesem
podolischen Walter Scott, den die Literaturkundigen, der Bedeu-
tung und dem nationalen Charakter seines Talentes wie der Menge
der von ihm behandelten Themen nach, dem fruchtbaren schotti-
schen Schriftsteller fast an die Seite stellen — : Owruczanin,
Wernyhora, Powiesci Kozackie, nicht mehr vielen Leserinnen und
Lesern. Nicht mehr zu Tränen gerührt werden sie durch Land-
schaftsschilderungen, deren tiefempfundene Poesie an leuchten«
der Frische nichts einbüßt neben den köstlichsten Bildern der
berühmtesten Maler, von Hobbema bis zu Dupr^, von Berghem
bis zu Morgenstern. Wenn aber der Tag der Auferstehung
kommt, wenn der geliebte Tote sein Leichentuch abwirft, wenn
das Leben den Tod besiegt, dann wird man alsbald die ganze be-
grabene, aber nicht vergessene Vergangenheit schauen und wider-
gestrahlt sehen in Herzen und Phantasie, durch die Feder der
Dichter und Musiker, wie sie schon der Pinsel der Maler wider-
strahlte! .
Die ursprüngliche Polonaisen-Musik, von der uns keine Probe
erhalten blieb, die über ein Jahrhundert zurückreicht, hat für die
Kunst nur geringen Wert. Die Kompositionen, die keinen Autor-
namen tragen, deren Entstehungszeit uns jedoch die Namen der
Helden verraten, zu deren Verherrlichung sie ein günstiges Geschick
berufen, sind der Mehrzahl nach ernst und anmutig. Die soge-
nannte Kosciuszko- Polonaise ist hiervon das verbreitetste Beispiel.
Sie ist so eng verknüpft mit dem Gedächtnis ihrer Epoche, daß es
Frauen gab, die sie nicht hören konnten, ohne, um der wachge-
rufenen Erinnerungen willen, in Schluchzen auszubrechen. Die
Fürstin F. L., die von Kosciuszko einst geliebt wurde, war in ihren
letzten Tagen, als das Alter schon alle ihre Sinne geschwächt hatte,
nur noch für den Eindruck dieser Akkorde empfänglich, die ihre
zitternden Hände auf dem Klavier fanden, obgleich ihre Augen
nicht mehr die Tasten zu unterscheiden vermochten. Einige
andere jener Zeit entstammende Tanzweisen sind von so trau-
rigem Charakter, daß man sie für eine Leichenmusik zu halten
versucht wäre.
Li szt, Gesammelte Schriften. I. V.A. 3
34 II. Polonaisen.
Die Polonaisen des Fürsten Oginski^, letzten Großschatz-
meisters des Großherzogtums von Litauen, die zunächst folgten
und dem düsteren Gepräge jener noch einen schmachtenden Zug
beimischten, erlangten bald eine große Popularität. Die dunkle
Färbung jener früheren teilend, sänftigen sie dieselbe durch einen
naiv zärtlichen und melancholischen Reiz. Rhythmus und Modu-
lation werden ruhiger, wie wenn ein Festzug, dessen bunte Lust man
eben vernahm, sich stillschweigend sammelt, kommt er an Gräbern
vorüber, in deren Nachbarschaft Hochmut und Lachen verstum-
men. Die Liebe allein überlebt den Tod; sie irrt umher an Grabes-
hügeln und wiederholt, was der irische Barde den Lüften seiner
Insel ablauschte:
Love born of sorrow, like sorrow, is truel
[Liebe, die der Schmerz gebar, ist, dem Schmerze gleich, auch wahrl]
In den bekannten Motiven Oginskis glaubt man ein Distichon
verwandten Sinnes zu hören, wie es zwischen dem Odem zweier
Liebenden schwebt, oder sich erraten läßt aus tränenerfüllten Augen.
Später weichen die Gräber zurück; nur von weitem noch erblickt
man sie. Leben und Lebensmut fordern wieder ihr Recht, die
schmerzensvollen Eindrücke verwandeln sich in Erinnerungen und
kehren nur noch als Echo wieder. Keine Schatten mehr ruft die
Phantasie herbei; leise gleitet sie dahin, als möchte sie die Toten
nicht wecken in ihrem Schlummer. Schon in Lipinskis Polonaisen
fühlt man das Herz freudig, sorglos schlagen ... so, wie es vor der
Niederlage schlug! Die Melodie entfaltet sich mehr und mehr,
sie verbreitet einen Duft von Jugend und Lenzesglück, sie blüht
auf in einem ausdrucksvollen, zuweilen träumerischen Gesang.
Sie ist nicht mehr bestimmt, die Schritte hoher und ernster Per-
sönlichkeiten zu regeln, die nur noch wenig Anteil an den Tänzen
nehmen, für welche diese Musik geschrieben ward; sie spricht nur
mehr zu den jungen Herzen, um ihnen poetische Vorstellungen
^ Eine derselben in F-Dur ist besonders berühmt geworden. Sie wurde
mit einem Titelbild veröffentlicht, das den Autor darstellt, wie er sich mit
einem Pistolenschuß das Gehirn zerschmettert — ein romantischer Kommentar,
den man lange Zeit mit Unrecht für eine wirkliche Tatsache. nahm.
Oginskis, Lipinskis, Webers Polonaisen. 35
und Träume zuzuflüstern. Sie wendet sich an eine romantische,
lebendige, mehr auf Lust als auf Pomp bedachte Einbildungs-
kraft. Mayseder folgte, durch kein nationales Band zurückge-
halten, dieser Bahn; er gelangte am Ende zur mutwilligen Ko-
ketterie, zur reizvollsten Konzertmusik. Seine Nachahmer tiber-
fluteten uns mit Musikstücken, die sie Polonaisen nannten, deren
Charakter jedoch ihren Namen nirgend rechtfertigt.
Da gab ein Mann von Genie ihr mit einem Mal ihren ritter-
lichen Glanz zurück. Weber machte die Polonaise zur Dithyrambe,
in der sich ihre ganze verschwundene Herflichkeit wiederfand und
zu blendender Entfaltung kam. Um die Vergangenheit in einer
Formel widerzustrahlen, deren Sinn sich so wesentlich verändert
hatte, vereinigte er die verschiedenen Hilfsmittel seiner Kunst.
Nicht die alte Musik wollte er aufs neue ins Leben rufen, sondern
das alte Polen, so wie es einst gewesen war, widerspiegeln in seiner
Musik. Er betont den Rhythmus, behandelt die Melodie mehr
rezitierend und verleiht ihr vermittels der Modulation eine ver-
schwenderische Farbenpracht, welche der Gegenstand nicht allein
zuläßt, sondern gebieterisch heischt. Mit Leben, Wärme, Leiden-
schaft erfüllt er die Polonaise, ohne sie der stolzen Art, der zere-
moniösen Würde, der zugleich natürlichen und gemachten Majestät
zu berauben, die von ihrem Wesen unzertrennlich scheinen. Die
Kadenzen sind durch Akkorde markiert, die an das Geklirr von
Säbeln erinnern. Das Murmeln der Stimmen läßt statt lauer
Liebesgespräche Baßtöne hören, so voll und tief, wie sie der Brust
entströmen, die zu befehlen gewohnt ist. Ihnen antwortet das
entfernte Wiehern der edlen Steppenrosse, die, ungeduldig tänzelnd,
sich mit klugen und feurigen Augen umsehen und mit Grazie die
von Türkisen oder Rubinen besetzten Schabracken tragen, mit
denen die vornehmen polnischen Herren sie bedeckten i. Kannte
^ Im Hausschatze der Fürsten Radzlwill im Ordinat von Nieswirz sah
man zu ihrer Glanzzeit zwölf mit Edelsteinen besetzte Roßdecken, deren jede
von anderer Farbe war. Auch zeigte man dort die zwölf Apostel in Lebens-
größe, von massivem Silber ausgeführt. Dieser Luxus setzt nicht in Erstaunen,
wenn man bedenkt, daß diese Familie, vom letzten Pontifex Litauens ab-
stammend (dem bei seiner Bekehrung zum Christentum sämtliche Wälder und
3*
36 II. Polonaisen.
Weber das Polen von ehemals? Beschwor er ein schon geschautes
Bild herauf, um dessen Gruppierung zu entlehnen? Müßige
Fragen! Sieht das Genie nicht mit den Augen des Hellsehenden,
und offenbart die Poesie ihm nicht, was zu ihrem Bereiche gehört?
Sobald Webers feurige und nervöse Einbildungskraft sich auf
einen Gegenstand warf, gewann sie ihm seinen ganzen poetischen
Gehalt ab. Sie bemächtigte sich seiner in so unumschränkter
Weise, daß es schwierig war, sich nach ihm dem gleichen Thema
mit der Hoffnung auf ähnliche Erfolge zuzuwenden: Und den-
noch, was Wunder! übertraf ihn Chopin gleicherweise durch die
Menge und Mannigfaltigkeit seiner Erzeugnisse dieser Gattung
wie durch seine leidenschaftlichere Schreibart und seine harmo-
nischen Neuerungen. Seine Polonaisen in A- und As-Dur nähern
sich an Schwung und Form der E-Dur Webers. Bei anderen ver-
ließ er diese breite Manier, er behandelte dieselbe Aufgabe ver-
schieden. Fragen wir, ob immer mit größerem Glücke? Ein Urteil
in derlei Dingen ist bedenklich. Wie wollte man das Recht des
Dichters, seinen Stoff auf verschiedene Weise aufzufassen, ein-
schränken? Soll es ihm verwehrt bleiben, trübe und niedergedrückt
zu sein selbst inmitten der Lust, vom Schmerz zu singen, nachdem
er vom Ruhme sang, das Mißgeschick der Besiegten, Trauernden
zu beweinen, nachdem er zuvor dem Glücke Ausdruck geliehen?
Fluren, welche dem Kultus der heidnischen Gottheiten geweiht gewesen waren,
zum Eigentum gegeben wurden), noch gegen Ende des vergangenen Jahrhun-
derts 800 000 Leibeigene besaß, obgleich ihre Reichtümer sich bereits ansehn-
lich vermindert hatten. Ein nicht weniger merkwürdiges Stück des in Rede
stehenden Schatzes existiert noch in einem Gemälde, das Johannes den Täufer
darstellt, von einem Bandstreifen umgeben, der in lateinischen Worten die
Inschrift trägt: „Im Namen des Herrn, Johannes, wirst du siegen!'* Es wurde
durch Johann Sobieski nach dem unter den Mauern Wiens von ihm erfoch-
tenen Siege im Zelte des Großveziers Kara-Mustapha gefunden und nach
seinem Tode von seiner Witwe, Marie d'Arquien, einem Fürsten RadziwUl,
mit einer eigenhändigen Widmung, welche zugleich seines Ursprungs erwähnt,
geschenkt. Die mit dem königlichen Siegel versehene Handschrift befindet
sich auf der Rückseite der Leinwand. Dieselbe war 1843 noch in Werki bei
Wilna in den Händen des Fürsten Louis Wittgenstein, der die Tochter des
Fürsten Dominik RadziwUl, die einzige Erbin seiner ungeheueren Güter, ge-
heiratet hatte.
Chopins Polonaisen in A, As-Dur und Fis-Moll. 87
Chopins Überlegenheit bezeugt sich fürwahr nicht zum gering-
sten Teile darin, daß er dieses Thema in allen Beleuchtungen dar-
stellte, deren es fähig ist. In seinem ganzen schimmernden Glanz,
wie in seinem ganzen erhabenen Pathos führte er es uns vor. Die
von ihm selbst durchlebten Phasen trugen dazu bei, ihm diese
Vielseitigkeit der Gesichtspunkte zu eröffnen. Man kann ihre Um-
wandlung, ihre häufige Verdüsterung in der Reihe seiner Polonaisen
nicht beobachten, ohne die Fruchtbarkeit seiner tondichterischen
Begeisterung selbst da zu bewundern, wo sie nicht mehr von den
Lichtseiten seiner Inspiration getragen und gehoben wird. Nicht
immer ließ er den Gesamteindruck der Bilder auf sich wirken, die
Phantasie und Erinnerung ihm darboten. Oft auch fühlte er sich,
wenn er die Gruppen der glänzenden, sich vor seinen Augen ver-
lierenden Menge betrachtete, von einer vereinzelten Erscheinung
angezogen; sie fesselte ihn durch den Zauber ihres Blickes, und es
gefiel ihm, dessen geheimnisvolle Enthüllungen zu erraten. Nur
für sie allein erklangen dann seine Weisen.
Zu seinen energievollsten Schöpfungen kann man die große
Fis-MoU- Polonaise zählen. Ihr findet sich eine Mazurka eingefügt;
eine Neuerung, die zu einer geistreichen Tanz-Kaprice führen konnte,
hätte er die frivole Mode nicht gleichsam dadurch erschreckt, daß er
sie in so finster bizarrer Weise in dieses phantastische Tonbild ver-
webte. Man könnte es der Erzählung eines Traumes nach schlaf-
loser Nacht, bei den ersten Strahlen einer trüben grauen Winter-
Morgendämmerung vergleichen, einem Traumgedicht, wo Ein-
drücke und Gegenstände mit seltsamer Zusammenhanglosigkeit
und fremdartigen Übergängen einander folgen, gleich denen, die
Byron schildert:
Die Träume, die vom Schlaf gebomen, haben Odem
Und Leid und Tränen und der Freude Antlitz;
Schwer lasten sie noch auf dem wachen Geist . . .
Und Boten gleichen sie der Ewigkeit ^. (Ein Traum.)
1 „Dreams in their development have breath.
And tears, and tortures, and the touch of joy;
They have a weight upon our waking thoughts.
And look like heralds of etemity." (A Dream.)
38 II. Polonaisen.
Das Hauptmotiv ist stürmisch, unheildrohend, wie die Stunde,
die einem ausbrechenden Orkan vorangeht. Das Ohr glaubt er-
bitterte Ausrufe zu vernehmen, eine trotzige Herausforderung
aller Elemente. Die Wiederkehr des Grundtons beim Beginn jedes
Taktes mahnt an immer sich wiederholende Kanonendonner, die
aus fernem Schlachtgetümmel zu uns herüberklingen. Im Gefolge
dieser Note entwickeln sich Takt für Takt wundersame Akkorde.
Wir kennen in den Werken der größten Meister nichts, was der
ergreifenden Wirkung dieser Stelle gleichkäme, die eine ländliche
Szene, eine Mazurka idyllischen Stils, welche den Duft der Menthe
und des Majorans auszuhauchen scheint, jäh unterbricht. Aber
weit entfernt, die Erinnerung an die tief unglückliche Empfindung
zu verwischen, die uns zuvor ergriff, erhöht sie vielmehr durch ihren
bitter ironischen Kontrast die peinliche Erregung des Hörers. So
fühlt er sich fast erleichtert, wenn das erste Motiv und mit ihm das
imposante und traurige Schauspiel eines verhängnisvollen Kampfes
wiederkehrt, da er sich mindestens von dem störenden Gegensatz
eines naiven und ruhmlosen Glückes befreit sieht. Wie ein Traum
verklingt diese Improvisation ohne andern Schluß als ein schwer-
mütiges Erzittern, das die Seele unter der Herrschaft dunkler
Trostlosigkeit zurückläßt.
In der Polonaise- Phantasie, die schon der letzten Periode
Chopins und den Werken angehört, in denen eine fieberhafte Un-
ruhe das Übergewicht gewinnt, findet man keine Spur von kühnen,
lichtvollen Bildern. Man vernimmt nicht mehr den heiteren Schritt
einer sieggewohnten Reiterschar, nicht mehr Gesänge, die keine
Ahnung einer möglichen Niederlage aufkommen lassen, nicht mehr
Worte , welche die Kühnheit bekunden, die dem Sieger wohl ansteht.
Elegische Traurigkeit herrscht darin vor, nur unterbrochen von
ungestümen Bewegungen, von bangem Erzittern, wie die es emp-
finden, die, von einem Überfall überrascht, auf allen Seiten ein-
geschlossen, keinen Hoffnungsschein anbrechen sehen am weiten
Horizonte, und denen die Verzweiflung zu Kopfe gestiegen ist, wie
ein übervoller Zug zyprischen Weines, der zu einer fast an Wahn-
sinn grenzenden Erregtheit führt.
Es sind dies Bilder^^ die der Kunst wenig günstig sind, wie die
Polonaise-Phantasie. 39
Schilderung aller extremen Momente, der Agonie, wo die Muskeln
jede Spannkraft verlieren und die Nerven, nicht mehr Werkzeuge
des Willens, den Menschen zur passiven Beute des Schmerzes
werden lassen. Ein beklagenswerter Anblick fürwahr, den der
Künstler nur mit äußerster Vorsicht aufnehmen sollte in sein
Bereich!
III.
Die Mazürken Chopins unterscheiden sich in betreff des Aus-
drucks beträchtlich von seinen Polonaisen. Ihr Charakter ist ein
wesentlich anderer. Sie bewegen sich in einem anderen Empfin-
dungskreis, in dem zarte, matte, wechselnde Schattierungen an die
Stelle eines reichen und kräftigen Kolorits treten. Statt vom ein-
mütigen Geist eines ganzen Volkes erfüllt zu sein, danken sie indi-
viduellen, mannigfaltigen Eindrücken ihr Dasein. Das weibliche
und weichere Element tritt hier nicht in ein geheimnisvolles Halb-
dunkel zurück, es macht sich vielmehr in erster Linie geltend.
Es gewinnt vom ersten Augenblick an so große Bedeutung, daß
die anderen Elemente verschwinden, um ihm Platz zu machen,
oder ihm wenigstens nur als Begleitung dienen.
Vorüber sind die Zeiten, wo man, um ein Weib als reizend zu
bezeichnen, dasselbe dankbar (wdzi§czna) nannte, wo das Wort
Reiz selbst von dem Wort Dankbarkeit (wdzi^ki) abstammte.
Die Frau erscheint nicht mehr als die Beschützte, sondern als
Königin; sie scheint nicht mehr nur der bessere Teil des Lebens,
sie schafft jetzt das ganze Leben selbst. Der Mann ist aufbrausend,
stolz, anmaßend, dem Schwindel des Lebensgenusses hingegeben.
Immer jedoch durchzieht diesen Genuß eine Ader von Melancholie;
denn seine Existenz hat nicht mehr in dem unerschütterlichen
Boden der Sicherheit, der Kraft und Ruhe ihre Stütze. Er hat
kein Vaterland mehr! . . . Fürder sind alle Geschicke nur noch die
nach einem ungeheueren Schiffbruch umhertreibenden Trümmer.
Die Arme des Mannes gleichen einem Floß, das auf seinem schwachen
Holzgerüst eine wehklagende Familie trägt. Dies Floß wurde
hinausgeschleudert ins weite, unruhige Meer, dessen Wogen es
zu verschlingen drohen. Ein Hafen zwar ist immer vorhanden,
40 11 1. Mazurken.
immer offen. Aber dieser Hafen ist der Abgrund der Schande,
der kalte Zufluchtsort der Ehrlosigkeit. Manch müdes und er-
mattetes Menschenherz hat vielleicht gemeint, dort die ersehnte
Ruhe zu finden. Doch vergebens! Kaum wendet sich der irrende
Blick ihm zu, so halten ihn die Schreckensrufe von Mutter oder
Weib, Schwester oder Tochter, Freundin oder Braut, Enkelin
oder Ahne zurück. Lieber als dem Hafen der Schmach zu nahen,
soll er sich zurückwerfen lassen in die hohe See, in der sichern
Voraussicht, dort zu verderben, verschlungen zu werdefi von schwar-
zer Nacht, ohne einen Stern am Himmel, ohne eine Klage auf der
Erde, zwischen Fluten, finster wie der Erebus, um beseligt im Tode,
weil er Glauben und Vaterland Treue gehalten, aus tiefster Seele
auszurufen: Jeszcze Polska nie zginelä! [Noch ist Polen nicht
verloren I] . . .
Während der Mazurka entscheidet sich in Polen häufig das
Schicksal eines ganzen Lebens. Die Herzen prüfen einander, ewige
Gelübde werden ausgesprochen, das Vaterland wirbt hier seine
Märtyrer und Heldinnen. In ihrer Heimat ist die Mazurka eben
nicht nur ein Tanz, sie ist ein Volksgedicht und, wie alle Dich-
tungen besiegter Völker, geschaffen, die lodernde Flamme patrio-
tischer Gefühle unter dem durchsichtigen Schleier einer populären
Melodie hindurchschimmern zu lassen. Auch erscheint es be-
greiflich, daß die Mehrzahl derselben, musikalisch sowohl wie in
den beigegebenen Strophen, in den zwei Haupttonarten moduliert,
die im Herzen des modernen Polen vorherrschen: Liebeslust und
Schwermut, wie sie die Gefahr erzeugt. Viele dieser Weisen tragen
den Namen eines Kriegers, eines Helden. Die Kosciuszko- Polo-
naise ist historisch minder berühmt als die Dombrowski-Mazurka,
die zufolge der begleitenden Worte zum Volkslied ward, so wie
die Chtopicki-Mazurka, dank ihrem Rhythmus und ihrer Ent-
stehungszeit, 1830, dreißig Jahre lang populär war. Einer neuen
Sintflut von Tränen, einer neuen Bevölkerung Sibiriens bedurfte
es, um das letzte Echo ihrer Töne, den letzten Widerschein ihrer
Erinnerung zu ersticken.
Seit dieser letzten Katastrophe — der schwersten von allen,
laut den Versicherungen der Zeitgenossen, ob sie auch nichtsdesto-
Das Symbolische der Mazurka. 41
weniger, wie jedes Herz bestätigt, jede Stimme murmelt, keine ver-
nichtende war — verhielt sich Polen schweigsam, oder besser ge-
sagt, stumm. Keine nationalen Polonaisen, keine volkstümlichen
Mazurken gab es mehr. Um von ihnen zu reden, muß man über
die gegenwärtige Epoche zurückgreifen in die damalige, wo Musik
und Text gleicherweise den Widerspruch zwischen einem heroischen
und anmutigen Eindruck, zwischen Liebeslust und ahnungsvoller
Schwermut darstellen, aus dem das Bedürfnis hervorgeht, sich
„des Elendes "ZU erfreuen'' (cieszyc bide), so daß man Betäubung
sucht in den Grazien des Tanzes und seinen geheimen Deutungen.
Die Verse, die man zu den Melodien der Mazurka singt, geben ihr
überdies den Vorzug, sich inniger als andere Tanzweisen der Er-
innerung anzuschmiegen. Frische, wohlklingende Stimmen wieder-
holten sie oftmals in der Einsamkeit, zur Morgenstunde, in fröh-
licher Mußezeit. Man trällerte sie auf Reisen, im Walde, auf dem
Kahn, in Momenten plötzlicher Rührung, wie sie das Herz über-
kommt, wenn eine Begegnung, ein Bild, ein unverhofftes Wort
mit unvergänglichem Glänze Stunden erhellen, die noch in fernen
Jahren, im Dunkel der Zukunft leuchtend im Gedächtnis fortleben.
Chopin bemächtigte sich dieser Inspirationen mit einem seltenen
Glück, um ihnen den vollen Wert seiner Arbeit und seines Stils
zu verleihen. Sie in tausend Facetten schleifend, förderte er alles
in diesen Diamanten verborgene Feuer ans Licht, und kein Stäub-
chen von ihnen verloren gehen lassend, faßte er sie zu einem klin-
genden Geschmeide. In welchem anderen Rahmen auch als in
dem dieser Tänze, darin so viele Anspielungen, so viel schwung-
volle Begeisterung und stumme Gebete Raum finden, hätten seine
persönlichen Erinnerungen besser vermocht Dichtungen zu schaffen,
Szenen und Stimmungen festzuhalten, die nun, dank seinem
Genius, weit hinausklingen über die Grenzen ihrer Heimat und für
alle Zeit zu den Idealgebilden zählen, welche die Kunst mit ihrem
Strahlenglanze weiht?
Um zu begreifen, wie sehr dieser Rahmen den Gefühlstinten
angepaßt war, die Chopins irisfarbiger Pinsel darin wiedergab,
muß man die Mazurka in Polen tanzen gesehen haben. Nur dort
lernt man verstehen, welch stolzes, zartes, herausforderndes Wesen
42 III. Mazurken.
diesem Tanze eignet. Während Walzer und Galopp die Tänzer
isolieren und dem Zuschauer nur ein verworrenes Bild darbieten;
während der Contretanz als eine Art harmlosen Waffenspiels er-
scheint, wo man sich mit derselben Gleichgültigkeit angreift und
ausweicht, wo man eine nachlässige Anmut zur Schau trägt, der
ein nicht minder nachlässiges Entgegenkommen entspricht; während
die Lebhaftigkeit der Polka leicht ins Zweideutige ausartet, während
Menuett, Fandango, Tarantella kleine Liebesdramen verschiedenen
Charakters vergegenwärtigen, die .nur die Ausführenden inter-
essieren, und darin dem Manne nur die Aufgabe zufällt, die Dame
zur Geltung zu bringen, indes das Publikum gelangweilt den
Koketterien folgt, deren Gebärdensprache sich nicht an seine
Adresse wendet — tritt in der Mazurka die Rolle des Tänzers weder
an Bedeutung noch an Anmut hinter der seiner Tänzerin zurück,
und auch das Publikum geht nicht leer dabei aus.
Die langen Pausen zwischen Beteiligung der einzelnen Paare
am Tanze sind deren Geplauder vorbehalten; trifft sie aber die
Reihe, so spielt sich die Szene nicht mehr zwischen ihnen allein,
sondern zwischen ihnen und dem Publikum ab. Vor diesem letzteren
zeigt der Mann sich stolz auf die Dame, deren Bevorzugung er zu
erringen gewußt, vor ihm soll die Erwählte ihm zur Ehre gereichen,
bestrebt auch sie sich zu gefallen ; denn der Beifall, den sie erwirbt,
fällt auf ihren Tänzer zurück und wird für ihn zur schmeichelnd-
sten Koketterie. Am Ende scheint sie den Beifall förmlich auf
ihn zu übertragen : sie schwingt sich zu ihm hin und ruht auf seinem
Arme, eine Bewegung, die mehr als jede andere der verschieden-
sten Nuancen — vom leidenschaftlichen Aufschwung bis zur zer-
streutesten Hingebung — fähig ist.
Zum Beginn reichen sich alle Paare die Hand und formen eine
große lebendige'^und bewegte Kette. Indem sie sich in einen Kreis
ordnen, dessen rasche Umdrehung das Auge blendet, bilden sie
einen Kranz, darin jede Dame eine in ihrer Art einzige Blume ist,
während die gleichförmige Tracht der Männer, gleich schwarzer
Blätterfolie, die verschiedenen Farben hervorhebt. Darauf setzen
sich alle Paare, eins nach dem andern dem ersten, dem Ehren-
paare, folgend, in Bewegung und bieten voll sprühender Lebendig-
Eigenart der Mazurka. 43
keit und eifersüchtiger Rivalität dem Zuschauer eine interessante
Revue dar. Nach Verlauf einer oder zweier Stunden bildet sich
derselbe Kreis von neuem, um den Tanz mit einer Runde von
schwindelnder Schnelligkeit zu beschließen, während welcher,
fühlt man sich nur irgend unter sich, der erregteste und enthu-
siastischste der jungen Leute oftmals den Gesang der Melodie an-
stimmt, die das Orchester spielt. Tänzer und Tänzerinnen ver-
einigen sich ihm alsbald im Chor und wiederholen den gleichzeitig
Liebe und Vaterlandsbegeisterung atmenden Refrain. An Tagen,
wo sich die Lust bis zur exaltierten Heiterkeit steigert, die wie
Rebenholzfeuer in den leicht entzündlichen Gemütern sprudelt
und blitzt, wird die allgemeine Promenade wieder aufgenommen.
Ihr beschleunigter Schritt läßt nicht die leiseste Ermüdung bei
den Frauen ahnen, die bei aller Zartheit doch eine Ausdauer
zeigen, als ob ihre Glieder die Biegsamkeit des Stahls besäßen.
Es gibt kaum ein entzückenderes Schauspiel als das eines Balles
in Polen, wenn nach Beginn der Mazurka und nach Beendigung
der allgemeinen Runde und des großen Defil^s die Aufmerksamkeit
des ganzen Saales — statt wie im übrigen Europa durch eine Menge
nach allen Seiten sich drängender und stoßender Personen zer-
streut zu werden — sich nur einem einzigen Paare zuwendet, das,
von gleichmäßiger Schönheit, den weiten Raum durchfliegt. Wie
viel verschiedene Momente auch bieten sich während der einzelnen
Touren im Ballsaal dar! Schüchtern und zögernd zuerst vor-
schreitend, bewegt sich die Dame anfangs in leisem Wiegen, wie
der Vogel, wenn er seinen Flug beginnt. Lange Zeit auf einem
Fuße gleitend, streift sie, wie die Schlittschuhläuferin das Eis, die
Spiegelfläche des Parketts. Dann gibt sie sich, impulsiv wie ein
Kind, einen plötzlichen Schwung, von den Flügeln eines langen
pas de basque getragen. Ihre Augenlider heben sich, und Dianen
gleich, mit hocherhobener Stirn, schwellendem Busen, elastischen
Sprüngen, teilt sie die Luft, wie die Barke die Welle teilt, und
scheint mit dem Räume zu spielen. Alsbald nimmt sie ihr kokettes
Dahingleiten wiederum auf, spendet den Umherstehenden ein
Lächeln, den Begünstigtsten ein Wort und reicht ihre Hand den^
Kavalier, der sich ihr vereint, um ihre nervösen Schritte von neuem
44 III. Mazurken.
zu beginnen und mit zaubergleicher Geschwindiglceit von einem
Ende des Saales zum andern zu fliegen. Sie gleitet, sie läuft, sie
fliegt; die Anstrengung färbt ihre Wange, leuchtet aus ihrem Blick,
verzögert ihren Schritt, bis sie ermattet und atemlos in die Arme
ihres Tänzers sinkt, der, sie mit starker Hand umfassend, sie einen
Augenblick noch emporhebt, bevor er den trunkenen Wirbel mit
ihr beendet.
Der Mann dagegen, den eine Dame zum Tänzer annahm, be-
mächtigt sich derselben wie einer Eroberung, auf die er stolz ist.
Er läßt sie von seinen Rivalen erst bewundem, bevor er sie sich in
jener kurzen wirbelnden Umarmung aneignet, durch welche hin-
durch man noch den trotzigen Ausdruck des Siegers, die errötende
Eitelkeit der Dame bemerkt, deren Schönheit seinen Triumph
ausmacht. Der Tänzer akzentuiert zuvörderst in herausfordernder
Weise seinen Schritt, verläßt seine Tänzerin einen Augenblick, als
wolle er sie besser betrachten, und dreht sich, wie freudeberauscht
und von Schwindel erfaßt, um sich selbst, um sich alsbald mit
leidenschaftlicher Hast wieder mit ihr zu vereinigen. Die ver-
schiedenartigsten und zufälligsten Figuren variieren diesen Sieges-
lauf, der uns manche Atalante schöner zeigt, als Ovid sie träumte.
Zuweilen treten zwei Paare gleichzeitig vor, die Herren tauschen
ihre Dame, ein Dritter gesellt sich, unversehens in die Hände klat-
schend, dazu und entführt eine derselben ihrem Partner, als sei er
unwiderstehlich hingerissen von ihrer Schönheit und Anmut. Ist
es eine der Königinnen des Festes, die also begehrt ward, so be-
werben sich die hervorragendsten jungen Leute der Reihe nach um
die Ehre, ihr die Hand zu reichen.
Allen Polinnen ist die magische Kunst dieses Tanzes angeboren.
Selbst die wenigst glücklich begabten vermögen hier neue Reize
zu gewinnen. Schüchternheit und Bescheidenheit werden da
ebensowohl zu Vorzügen als die Majestät derer, die sich bewußt
sind, zu den Beneidetsten zu zählen. Erklärt sich dies vielleicht
dadurch, daß dieser Tanz mehr als irgend einer die keuscheste
Liebe ausspricht? Daß die Tanzenden sich nicht gleichgültig
gegen das Publikum verhalten, sondern sich im Gegenteil an das-
selbe wenden, macht ihn zu einem Gemisch von Zärtlichkeit und
Das Dramatische der Mazurka. 45
gegenseitiger Eitelkeit, dem ebensoviel Zurückhaltung als hin-
reißende Gewalt innewohnt. .
Kann überdies nicht jede Polin anbetenswert sein, sobald man
sie nur anzubeten versteht? Heiße, unauslöschliche Liebe flößten
selbst die minder schönen ein; die schönsten aber haben durch
einen Aufschlag ihrer Augenwimpern, durch einen Seufzer ihrer
Lippen, die sich dem Flehen neigten, nachdem sie ein hochmütiges
Schweigen versiegelt, ganze Lebensschicksale entschieden. Welch
fieberhafte Worte, welch unbestimmte Hoffnungen, welch süßer
Glückesrausch, welche Täuschungen und Verzweiflung mußten
nicht da, wo solche Frauen herrschen, während der Kadenzen
dieser Mazurken einander folgen! Hallen sie nicht noch im Ge-
dächtnis der Polinnen wieder, wie das Echo einer entschwundenen
Leidenschaft, einer schwärmerischen Liebeserklärung? Und wo
wäre die Polin, deren Wangen nach Beendigung einer Mazurka
nicht mehr von Erregung als von Ermüdung glühten?
Wie viele unerwartete Bündnisse wurden während dieser langen
t&te-ä-t§te's, inmitten einer glänzenden Menge, beim Klang einer
Musik geschlossen, die meist irgend einen kriegerischen Namen,
irgend eine historische Erinnerung, welche sich den Worten ver-
knüpfte und in der Melodie Gestalt gewonnen hatte, wieder auf-
leben ließ! Wie viele Gelübde wurden da getauscht, deren letztes
Wort, den Himmel zum Zeugen anrufend, nimmermehr vergessen
ward von dem Herzen, das getreu auf den Himmel wartete, um
droben ein Glück wiederzufinden, das das Verhängnis hienieden
vertagte! Wieviel schmerzliche Lebewohls wurden da gewechselt
zwischen einem Paar, das füreinander geschaffen schien, hätte das
gleiche Blut in beider Adern gerollt, und müßte der liebestrunkene
Anbeter von heute sich nicht schon morgen in einen Feind, ja in
einen Verfolger verwandeln! Wie oftmals gaben sich Liebende dort
das Versprechen eines baldigen Wiedersehens; aber der Herbst
ihres Lebens folgte dem Frühling, bevor sie ihr Versprechen ein-
lösen konnten, da sie eher an ihre Treue durch alle Stürme des
Daseins, als an die Möglichkeit eines Glückes glaubten, dem der
väterliche Segen gebrach! Wie viele unglückliche, heimlich ge-
nährte Neigungen zwischen Herzen, die die unüberschreitbare
46 III. Mazurken.
Kluft des Reichtums und Ranges trennte, offenbarten sich nicht
während jener flüchtigen Augenblicke, wo die Welt mehr als den
Reichtum die Schönheit, mehr als den Rang den Reiz der Erschei-
nung bewundert! Wie viele Schicksale, die Geburt und die Schuld
ihrer Väter auseinanderrissen, näherten sich zu kurzem Glücke
nur in diesen vorübergehenden Begegnungen, deren bleicher, ferner
Widerschein das einzige Licht blieb, das ihnen eine lange Reihe
dunkler Jahre erhellte! Denn, wie der Dichter sagt: „Trennung*
ist eine Welt ohne Sonnenschein."
Wie viele kurze Liebesbande wurden da am gleichen Abend ge-
knüpft und wieder gelöst zwischen solchen, die sich nie zuvor ge-
sehen, auch niemals wiedersehen sollten, und die doch ahnten,
daß sie einander nicht vergessen könnten! Wieviele Gespräche,
die während der verwickelten Figuren und Pausen der Mazurka
harmlos begonnen, spöttisch fortgeführt, aufgeregt unterbrochen
und mit jenem erratenden Verständnis wieder aufgenommen wur-
den, in dem sich die Zartheit und Feinheit der Slawen auszeichnet,
haben zu tiefen Neigungen geführt! Wieviel Vertrauen wurde
da verschwendet vom Freimut, der keine Grenzen kennt, wenn er
sich von der Tyrannei erzwungener Vorsicht befreit fühlt! Aber
auch wie viele trügerisch lächelnde Worte, wie viele Versprechun-
gen, Wünsche, ungewisse Hoffnungen wurden da gleichgültig dem
Lufthauch preisgegeben, wie das herabfallende Taschentuch der
Tänzerin, das der Ungeschickte aufzunehmen verfehlte!
Chopin entfesselte die unbekannte Poesie, die in den Original-
themen der echt nationalen Mazurken nur angedeutet lag. Ihren
Rhythmus beibehaltend, veredelte er die Melodie, erweiterte die
Verhältnisse und führte ein harmonisches Helldunkel ein, das eben-
so neu war als die Gegenstände, denen er es anpaßte; denn in diesen
Schöpfungen, die er uns gern als „Staffeleibilder" i bezeichnen hörte,
schilderte er die tausendfältigen Erregungen, welche das Herz hie-
nieden bewegen, wie den Tanz selbst und zumal die langen Pausen,
während welcher der Tänzer nicht von der Seite seiner Dame weicht.
^ »Tableaux de chevalets.« (Chevalet bedeutet zugleich den Steg der
Musikinstrumente.)
Chopin, Vollender der nationalen Mazurka. 47
Koketterie, Eitelkeit, Phantasien, Elegien, Leidenschaften, erste
Liebesregungen, Eroberungen, von denen Wohl oder Wehe eines
andern abhängen kann, alles das drängt sich da bunt durchein-
ander. Wie schwer aber ist es, sich einen vollständigen Begriff
von den unendlichen Abstufungen der Gefühlsregungen in diesen
Ländern zu bilden, wo man vom Palast bis zur Hütte die Mazurka
mit derselben leidenschaftlichen Hingebung, demselben zugleich
verliebten \md patriotischen Interesse tanzt; wo die der Nation
eigenen Vorzüge und Fehler so eigentümlich verteilt sind, daß sie
sich zwar ihrem Wesen nach fast bei allen gleichartig finden, aber
doch in ihrer Mischung bis zur Unkennbarkeit verschieden zum
Ausdruck kommen. Hieraus entspringt eine außerordentliche
Mannigfaltigkeit der launisch zusammengesetzten Charaktere, die
der Neugier einen ihr anderwärts mangelnden Sporn gibt, aus jeder
neuen Beziehung eine pikante Forschung macht und selbst dem
geringsten Vorfall Bedeutung verleiht.
Hier ist nichts gleichgültig, nichts unbemerkt, nichts banal.
Die Gegensätze vervielfältigen sich unter diesen Naturen von be-
ständiger Beweglichkeit in ihren Eindrücken, von feinem, durch-
dringendem Geist, von einer Reizbarkeit, die das Unglück nährt.
Indem es unerwartete Schlaglichter in das Gemüt wirft, wie der
Widerschein einer Feuersbrunst in das nächtige Dunkel.
Hier kann der nichtigste Zufall diejenigen einander eng ver-
binden, die gestern sich noch völlig fremd gewesen, wie eine Minute
nur, ein Wort dort oft lang verbundene Seelen trennt. Hier öffnen
sich die Herzen in raschem Vertrauen, und unheilbares Mißtrauen
wird im geheimen genährt. Man spielt nach dem Ausspruch einer
geistreichen Frau „häufig Komödie, um die Tragödie zu vermeiden".
Man läßt gern das ahnen, was man nicht auszusprechen wünscht.
Die Allgemeinheiten dienen dazu, die Frage zu verschärfen, indem
sie sie verstecken.
Ihre wahre Poesie, ihren eigentlichen Zauber entfaltet die Ma-
zurka nur zwischen Polen und Polinnen. Sie allein wissen, was
es bedeutet, eine Tänzerin ihrem Partner zu entführen, noch bevor
er seine erste Tour durch den Saal zur Hälfte beendet, um sie als-
bald zu einer Mazurka von zwanzig Paaren, das ist von zweistün-
48 III. Mazurken.
diger Dauer, aufzufordern. Sie allein wissen, was es bedeutet,
wenn er einen Platz in der Nähe des Orchesters einnimmt, dessen
Lärm alle Worte zu einem leisen, mehr verstandenen als ausge-
sprochenen Geflüster herabstimmt; oder wenn sie befiehlt, ihren
Sessel zu dem Ruhesitz der alten Damen zu rücken, die jedes Spiel
der Physiognomie erraten. Nur Pole und Polin wissen, daß man
in der Mazurka die Achtung des andern verlieren, oder sich seine
Zuneigung erwerben kann. Aber der Pole weiß auch* daß nicht
er es ist, der in diesem öffentlichen t^te-ä-t^te die Situation be-
herrscht. Will er gefallen, so fürchtet, liebt er, so zittert er. In
dem einen oder andern Fall, ob er nun zu blenden oder zu rühren,
den Geist zu berücken oder das Herz zu bewegen hofft, immer
stürzt er sich in ein Labyrinth von Reden, deren Wärme verrät,
was sie sich auszusprechen hüten, die heimlich forschen, ohne je-
mals zu fragen, die leidenschaftliche Eifersucht atmen, ohne sie zu
bekunden, die, um das Richtige zu erfahren, das Falsche verteidigen,
oder das Richtige enthüllen, um sich gegen das Falsche zu sichern,
ohne doch dabei die blumigen Pfade eines Ballgesprächs zu ver-
lassen. Er sagte alles, legte zuweilen die ganze Seele und ihre
Wunden bloß, ohne daß die Tänzerin, sei sie hochmütig oder kalt,
zuvorkommend oder gleichgültig, sich rühmen dürfte, ihm ein Ge-
heimnis entrissen oder Stillschweigen auferlegt zu haben.
Bei einem derartigen geistigen Versteckensspiel sind die Ge-
danken, wie die beweglichen Sandbänke mancher Meere, selten an
derselben Stelle wieder zu finden, wo man sie verließ. Das allein
würde genügen, auch dem unbedeutendsten Geplauder ein eigen-
tümliches Relief zu geben, wie wir denn mehrere Männer dieser
Nation kannten, welche die Pariser Gesellschaft durch ihr Talent
zu paradoxen Wortgefechten in Staunen setzten. Jeder Pole be-
sitzt diese Gabe in höherem oder geringerem Grade, je nachdem er
an Ausbildung derselben Interesse oder Vergnügen findet« Diese
unnachahmliche geistige Beweglichkeit, die ihn treibt, Wahrheit
und Dichtung beständig ihr Kostüm vertauschen und wechselnd
sprechen zu lassen, die beim geringsten Anlaß ein Übermaß von
Geist vergeudet — wie Gil Blas, um einen Tag zu leben, ebensoviel
Intelligenz verbrauchte als der König von Spanien zur Regierung
Pole und Polin in der Mazurlca. '49
seiner Lande — , diese Beweglichkeit wirkt peinlich wie jene Spiele,
in denen die unerhörte Geschicklichkeit der berühmten indischen
Gaukler eine Menge spitziger und schneidiger Waffen in die Luft
wirft, die beim mindesten Versehen zu Mordinstrumenten werden.
Sie verbirgt und verursacht wechselweise Angst und Schrecken,
wenn inmitten der drohenden Gefahren der Denunziation, der Ver-
folgung, des Hasses oder persönlichen Grolles, zu denen noch der
Nationalhaß und die politische Gegnerschaft hinzukommen, schon
an sich verwickelte Positionen durch jegliche Unvorsichtigkeit
und Inkonsequenz ins Verderben geraten, oder aber in einem un^-
beachteten, vergessenen Individuum eine mächtige Hilfe finden
können.
' Ein dramatisches Interesse kann dann plötzlich aus den gleich-
gültigsten Begegnungen hervorgehen und jede Beziehung in einem
unvorhergesehenen Lichte erscheinen lassen. Selbst auf den un*
bedeutendsten derselben schwebt daher eine nebelhafte Ungewiße
heit, die nicht gestattet, ihre Umrisse, Linien und Tragweite Ztt
erkennen, da sie zu verwickelt, zu unfaßbar erscheinen. Purdit;
Schmeichelei und Sympathie zugleich bewegen die Herzen; eine
dreifache Triebfeder, die sie mit einer Wirrnis patriotischer, eitler
und verliebter Gefühle erfüllt.
Was Wunder, wenn Aufregungen ohne Zahl sich in den durch
die Mazurka herbeigeführten zufälligen Annäherungen konztx^
frieren, da sie, die leisesten Anwandlungen des Herzens mit dem
Reiz der Toilette, des nächtigen Lichterglanzes, der BallatmosphSre
umgebend, selbst die flüchtigsten, entferntesten Begegnungen zur
Einbildungskraft reden läßt? Könnte es wohl anders sein in Gegend
wart von Frauen, welche der Mazurka eine Bedeutung geben, die
zu verstehen oder nur zu erraten man sich in andern Ländern ver-^
gebHch mühen würde? Sind sie nicht eben unvergleichlich, diese
polnischen Frauen? Es gibt unter ihnen manche, deren absolute
Vorzüge und Tugenden sie den besten aller Zeiten und Völker ver«i
wandt zeigen. Doch derartige Erscheinungen sind selten, immer
und allerwärts. Der Mehrzahl nach zeichnet sie eine abwechslungs«*
reiche Originalität aus. Halb Alm^en, halb Pariserinnen, von
Muttfir. auf Tocht^ wohl das in den Harems bewahrte Geheimnis
L i s z t , Qesammelte Schriften. I. V. A. 4
50 III. Mazurken.
der Liebestränke vererbend, sind sie verführerisch durch ihr asia-
tisches Schmachten, die Hurif lammen ihrer Augen, die orientalische
Indolenz, die blitzähnliche Kundgebung unsagbarer Zärtlichkeit,
durch schmeichelnde und doch nicht ermutigende Gebärden, durch
in ihrer Gemessenheit entzückende Bewegungen, durch ihre sich
gehen lassende Haltung, welche magnetisch wirken. Sie sind ver-
führerisch durch die Geschmeidigkeit ihres Wuchses, die nichts
vom Zwang, nicht-s von der Unnatur der Etikette weiß, durch die
Biegsamkeit ihrer Stimme, durch die plötzlichen Impulse, die an
die Spontaneität der Gazelle erinnern. Sie sind abergläubisch,
genußsüchtig, kindisch, leicht zu unterhalten und zu interessieren,
wie die schönen und unwissenden Geschöpfe, die den arabischen
Propheten anbeten; gleichzeitig aber intelligent, unterrichtet.
Schnell und leicht erfassen sie, was sich nicht sehen, sondern nur
erraten läßt; klug bedienen sie sich ihres Wissens, klüger noch
verstehen sie auf lange, ja auf immer zu schweigen. Seltsam geübt
sind sie in Erkenntnis der Charaktere, die ein einziger Zug ihnen
enthüllt, ein Wort ihnen erhellt, eine Stunde ihnen überliefert.
Großmütig, unerschrocken, enthusiastisch, von exaltierter
Frömmigkeit, Gefahr und Liebe liebend, von welcher letzteren
sie viel fordern, ohne viel zu geben, schwärmen sie hauptsächlich
für Glanz und Ruhm. Heldenmut erregt ihr Wohlgefallen, und
eine große Tat fürchtet wohl keine zu teuer zu bezahlen. Gleich-
wohl — wir bekennen es mit schuldiger Ehrerbietung — üben viele
von ihnen ihre schönsten Opfer, ihre heiligsten Tugenden im ver-
borgenen. Und wie musterhaft auch ihr häusliches Leben sei,
nimmer, so lang ihre Jugend währt (und sie ist von ebenso langer
Dauer als früher Reife), vermögen weder die Leiden des inneren
Lebens, noch die geheimen Schmerzen, welche ihr feuriges, nur zu
leicht verwundbares Gemüt zerreißen, die wunderbare Elastizität
ihrer patriotischen Hoffnungen, die jugendliche Reinheit ihrer oft
getäuschten Begeisterung, die Lebhaftigkeit ihrer Empfindungen,
die sie mit der Unfehlbarkeit des elektrischen Funkens mitzuteilen
verstehen, zu vermindern.
Ihrer Natur, wie ihrer Lage zufolge verschwiegen, handhaben
sie mit unglaublicher Gewandtheit die Waffe der Verstellung. Sie
Charakter der Polin. 61
sondieren die Seelen anderer und hüten ihre eigenen Geheimnisse
so gut, daß niemand überhaupt Geheimnisse bei ihnen mutmaßt.
Gerade die edelsten derselben verschweigen sie oft mit einem Stolz,
der es verschmäht, sich zu offenbaren. Die innere Geringschätzung,
die sie für diejenigen empfinden, welche sie nicht erraten, sichert
ihnen Überlegenheit über alle, die sie zu berücken und zu beherr-
schen verstehen, bis sie sich eines Tages für einen Einzigen ent-
flammen, mit dem sie dann treu, zärtüch, ergeben Verbannung,
Gefängnis und Tod teilen.
Die Huldigungen, die man den Polinnen darbrachte, waren
stets um so eifriger, je weniger sie selbst darnach trachteten. Sie
nehmen sie hin als pis-aller, als bloßes Vorspiel, als bedeutungs-
losen Zeitvertreib. Was sie wollen, ist Anhänglichkeit, was sie
hoffen, Hingebung, was sie verlangen, ist Vaterlandsliebe. Sie alle
erfüllt ein poetisches Ideal, das sich infallen ihren Gesprächen
widerspiegelt. Das fade, wohlfeile Vergnügen, zu gefallen, ver-
schmähen sie. Sie begehren das edlere Glück, die, welche sie lieben,
bewundern zu dürfen, durch sie einen Traum von Heldenmut und
Ruhm verwirklicht zu sehen, der aus jedem ihrer Brüder, Geliebten,
Freunde, Söhne einen neuen Vaterlandshelden macht, dessen Name
vWderhallt in allen Herzen, die bei den ersten Klängen der sein
Gedächtnis zurückrufenden Mazurka erbeben. Diese romantische
Nahrung ihrer Wünsche behauptet in der Existenz der Mehrzahl
von ihnen eine Bedeutung, die sie sicher weder bei den Frauen des
Morgen-, noch bei denen des Abendlandes hat.
Ein polnisches Sprichwort charakterisiert die Verschmelzung
des Welt- und des Glaubenslebens mit drei Worten besser, als alle
Beschreibungen vermöchten, wenn es, um ein weibliches Tugend-
muster zu schildern, sagt: „Sie tanzt ebenso vortrefflich als sie
betet." Man kann einem jungen Mädchen, einer jungen Frau
kein höheres Lob spenden, als wenn man die kurze Phrase auf sie
anwendet: I do tanca, i do rozanca! [Sie taugt zum Tanzen wie
zum Rosenkranz.] Dem echten Polen gilt die fromme, aber un-
wissende und anmutlose Frau, deren Reden nicht Funken sprühen,
deren Bewegungen nicht wie von einem süßen Duft durchhaucht
sind, nicht als magnetisch anziehendes Wesen, mag sie nun in
4*
52 III. Mazurken.
vergoldeten Gemächern, unterm Strohdach, oder hinterm Kloster«
gitter weilen.
Zu Chopins Zeit liebte der Mann, um zu Heben; er war bereit,
für eine Schöne, die er zweimal gesehen hatte, sein Leben zu wagen,
eingedenk dessen, daß die nie gepflückten, nie entblätterten Blumen
am lieblichsten duften. Damals liebte der IVlann, wo er sich zum
Güten angespornt und durch Frömmigkeit gesegnet fand; seinen
höchsten Stolz setzte er darein, Opfer zu bringen; zu großen Hoff-
nungen fühlte er sich begeistert durch das JVlitgefühl der Frauen.
Denn jegliche Zärtlichkeit der Polin durchzittert das Mitgefühl.
Dem hat sie nichts zu sagen, den sie nicht zu bemitleiden vermag.
Daher kommt es, daß Empfindungen, die sich anderwärts nur
als Eitelkeit und Sinnlichkeit herausstellen, sich bei ihr in an-
derem Lichte zeigen: im Lichte einer Tugend, die, zu sicher ihrer
selbst, um sich hinter Vie künstlichen Barrikaden ihrer Prüderie
zu verstecken, es verschmäht, eine rauhe Außenseite zu zeigen, und
für den Enthusiasmus, den sie einflößt, empfänglich bleibt, wie für
alle Gefühle, welche sie vor Gott und den Menschen kundgeben kann.
Fürwahr, ein unwiderstehlich anziehendes, verehrungswür-
diges Wesen! Balzac verherrlichte es in der antithesenreichen
Schilderung: „Tochter einer fremden Welt, Engel an Liebe, Dämon
an Phantasie, Kind an Glauben, Greis an Erfahrung, Mann an
Verstand, Weib an Gemüt, Riesin an Hoffnung, Mutter an Schmerz,
Dichterin in ihren Träumen I"i
Berlioz, dies Shakespearesche Genie, das alle Extreme erfaßte,
mußte natürlich aus Chopins Spiel und Musik alle die darin ver-
schlossenen poetischen Zauber herausfühlen. Er nannte sie die
„göttüchen Katzenschmeicheleien''' dieser halbasiatischen Frauen,
welche die des Okzidentes nicht ahnen. Sie sind ja zu glücklich,
um das schmerzliche Geheimnis derselben zu erraten. „Göttliche
Katzenschmeicheleien'' in Wahrheit, großmütig und geizig zu
gleicher Zeit, geben sie das liebende Herz dem unsicheren Schwan-
ken eines rüder- und steuerlosen Nachens preis. Mit ihnen werden
1 Widmung von »Modeste Mignon«.
* »DWines cbatteries«.
Grazie der Polin. 63
die Männer von ihren Müttern getiätsclielt, von iliren Scliwestern
gelieblcost, von ihren Freundinnen, Bräuten und Göttinnen be*
striclct. Durch diese ,,göttiichen Katzenschmeicheleien'' gewinnen
die Heiligen sie zum Martyrium für ihr Vaterland. Man begreift
wohl, daß im Vergleich zu ihnen die Koketterie anderer Frauen plump
oder geschmacklos erscheint, und daß die Polen mit gerechtem
Stolz ausrufen: Nien\a iak polki [Nichts gleicht der Polin 1]^
Das Geheimnis dieser „göttlichen Katzenschmeicheleien'' macht
diese Frauen unantastbar, teurer als das Leben. Aus ihnen schuf
die dichterische Phantasie Chateaubriands während der schlaf-
losen Nächte seiner Jugend die Gestalt eines Dämons und einer
Zauberin, als er in einer sechzehnjährigen Polin eine plötzliche
Ähnlichkeit mit seiner unmöglichen Vision „einer unschuldigen
und gefallenen Eva, die nichts und alles weiß, Jungfrau und Ge-
liebte zugleich ist", entdeckte*. „Ein Gemisch von Odaliske und
Walküre, verschieden an Alter und Schönheit, eine wiederbelebte
Sylphide . . . eine neue, vom Joch der Jahreszeiten befreite Flora»."
— Der Dichter bekennt, daß er, verfolgt von seinen Träumen,
berauscht von der Erinnerung an diese Erscheinung, sie nicht
wiederzusehen wagte. Er fühlte unbestimmt aber zweifellos, daß
er in ihrer Gegenwart aufhöre, ein trauriger R6n6 zu sein, um nach
ihrem Willen von ihr gemodelt und emporgehoben zu werden.
Er war töricht genug, sich vor dieser schwindelnden Höhe zu fürch-
ten; denn die Chateaubriands machen zwar Schule in der Literatur,
aber eine Nation machen sie nicht. Der Pole scheut keineswegs
die Zauberin, seine Schwester, die „neue, vom Joch der Jahres-
zeiten befreite Flora". Er liebt und achtet sie, er stirbt für sie
— und diese einem unvergänglichen Duft vergleichbare Liebe
verhütet, daß der Schlaf der Nation zu einem ewigen werde. Um
dieser Liebe willen erhält er sein Leben und bereitet somit die glor-
reiche Wiederauferstehung des Vaterlandes vor.
i Die ehemalige Gewohnheit, die Gesundheit der Frau, die man feierte,
aus ihrem eigenen Schuh zu trinken, ist eine der originellsten Überlieferungen
der enthusiastischen Galanterie der Polen.
> M6moires d'outre-tombe. H'vol. — Incantation.
* Idem. III« vol. — Atala.
54 III. Mazurken.
Die Polin von ehedem war, als die edle Gefährtin des sieg-
haften Helden, eine andere, als die Polin von heute, der Trostengel
des besiegten Heiden, es ist. Der gegenwärtige Pole ist nicht ver-
schiedener vom ehemaligen Polen als die moderne Polin von der
der Vergangenheit. Die angesehene Patrizierin von einst glich
der christlich gewordenen römischen Matrone. Jede Polin, mochte
sie' reich oder arm sein, am Hof oder in der Stadt leben, in Palästen
oder auf dem Felde herrschen, war vornehme Frau. Sie war es
mehr noch durch die Stellung, die ihr die Gesellschaft zuerkannte,
als durch den Adel ihres Blutes und ihres Wappenschildes. Zwar
hielten die Gesetze das ganze schwache Geschlecht (das infoige
harter Lebenserfahrungen so häufig das starke wird) unter strenger
Vormundschaft; selbst die „hohen und mächtigen Schloßherrinnen"
mitinbegriffen, die man bialogiowe [Weißkopf] nannte; denn die
verheirateten Frauen trugen das Haupt bedeckt und die Wangen
von weißen, duftigen Spitzen eingerahmt — eine zivilisierte, keusche
und christliche Nachahmung des barbarischen muselmännischen
Schleiers. Aber ihre gesetzliche Gebundenheit und Ohnmacht,
der Sitten und Empfindungen ein Gegengewicht gaben, hob sie,
anstatt sie herabzusetzen, vielmehr empor, indem sie die Ruhe
ihrer Seele bewahrte, die sie vom herben Kampf der Interessen
unberührt ließ.
Sie konnten nicht selbständig über ihr Vermögen, ihren Willen
verfügen; aber sie liefen auch keine Gefahr, sich in dieser Beziehung
fortreißen und täuschen zu lassen. Das war für sie ein Vorteil
von unschätzbarem Wert, dessen Ausflüchte und Hilfsmittel sie
sehr wohl kannten. Hatten sie nicht die Macht, Übeles zu tun,
so entschädigten sie sich für diesen durch die Verhältnisse ge-
botenen Zustand beständiger Überwachung durch die fast unbe-
grenzte Macht, welche sie im Privatleben behaupteten. Hier ent-
falteten sie all ihre trefflichen Eigenschaften. Die ganze Würde
des Familien-, die ganze Annehmlichkeit des häuslichen Lebens
war ihnen anvertraut. Hier herrschten sie unumschränkt und ver-
breiteten aus diesem engen Kreise heraus ihren frommen und
friedlichen Einfluß auf die öffentlichen Angelegenheiten. Von
frühester Jugend an waren sie ja die Gefährtinnen ihres Vaters,
Die unselbständige und doch herrschende Polin. 55
der sie in seine Bestrebungen und Sorgen, in die Schwierigkeiten
und Glorie der res publica einweihte; sie waren die ersten Ver-
trauten ihrer Brüder, oft lebenslang deren beste Freundinnen.
Sie wurden für ihren Gatten, für ihre Söhne verschwiegene, treue,
scharfsinnige, entschlossene Berater. Die Geschichte Polens und
seiner alten Sitten stellt uns den Typus dieser mutigen und klugen
Frauen dar, von denen uns England im Jahre 1683 ein glänzendes
Beispiel lieferte, als Lord Russe! in einem Prozeß, wo sein Kopf
auf dem Spiele stand, keinen andern Anwalt als seine Gattin be-
gehrte.
Ohne diesen antiken Typus, der ernst und sanft, doch nie trocken
und eckig, innig fromm, doch niemals bigott und langweilig, frei-
denkend und großsinnig, aber nie krankhaft eitel ist, wäre die echte
moderne Polin nicht das geworden, was sie ist. Sie fügte dem
feierlich gemessenen Ideal des Großvaters noch die französische
Anmut und Lebhaftigkeit hinzu, die sie bereitwillig angenommen
hatte, als das unwiderstehlich Anziehende der Versaiiler Sitten,
nachdem es in Deutschland Eingang gefunden, auch an die Weich«
sei kam. Wahrlich, eine verhängnisvolle Errungenschaft; denn
man kann sagen: Voltaires Lehren untergruben Polen und wurden
die Urheber seines Untergangs. Als sie ihre männlichen Tugenden
verloren, die, wie Montesquieu sagt, die Stütze der freien Staaten
sind, und die tatsächlich acht Jahrhunderte lang die Stütze Polens
gewesen waren, verloren die Polen ihr Vaterland.
Die Polinnen dagegen, fester im Glauben, minder des Geldes
bedürftig, dessen Wert sie nicht kannten, da sie nicht damit um-
zugehen gewohnt waren, durch einen angeborenen instinktiven
Abscheu vor allem Unreinen weniger der Unsittlichkeit zugäng-
lich, widerstanden besser der tödlichen Ansteckung des achtzehnten
Jahrhunderts.
Polens Dichter haben nicht andern die Ehre überlassen, das
Ideal ihrer Landsmänninnen in leuchtenden Farben hinzustellen.
Alle haben es besungen und gefeiert; alle kannten die Geheimnisse
ihrer Herzen und bebten in stiller Seligkeit vor ihren Freuden,
sammelten pietätvoll ihre Tränen. Begegnet man in der Geschichte
und Literatur der „vergangenen Tage" (Zygmuntowskie czasy)
56 MI. Mazuiicem
■■■■
auf Schritt und Tritt der antiken Matrone dieses kriegerischen
Adels, wie dem Abdruck einer schönen Kamee im Goldsand eines
Flusses, iiber den die Fluten der Zeit dahinrauschen, so malt die
moderne Dichtung die gegenwärtige Polin rührender. In erster
Reihe treten die epische, königliche Figur Grazynas, das edle
Profil der einsamen heimlichen Braut Wallenrods, die Rose der
Dziady, die Sophie des Pan Tadeusz hervor. Von welch reizenden
und rührenden Köpfen sehen wir sie umgeben! Wir begegnen
ihnen auf jedem Schritt inmitten rosenumsäumter Pfade, wie sie
die polnischen Schriftsteller schildern, ia deren Sprache das Wort
wieszcz Dichter und Seher zugleich bedeutet.
Man muß, wir sagten es schon, die Landsleute Chopins wohl
näher kennen, um die Empfindungen zu verstehen, von denen seine
Mazurken und viele andere seiner Kompositionen durchtränkt
sind. Sie alle fast sind erfüllt von dem gleichen poetischen Liebes-
duft, der über seinen »Pr^ludes«, seinen »Nocturnes«, seinen »Im-
promptus« schwebt. In denselben spiegein sich alle Phasen der
Leidenschaft reiner und vergeistigter Seelen wider: das reizende
Spiel unbewußter Koketterie, heimliche, kaum bemerkbare Liebes-
regungen, launische Phantasiegebilde, kurze, kaum geboren, schon
ersterbende Wonnen, schwarze Trauerrosen, oder Winterrosen,
weiß wie der sie umgebende Schnee, deren Duft selbst traurig
stimmt, da der leiseste Lufthauch sie entblättert; Funken ohne
Widerschein, durch weltliche Eitelkeit entzündet, gleich dem
Glanz faulen Holzes, das nur in der Dunkelheit leuchtet; Freuden
ohne Vergangenheit und Zukunft, nur einer Zufallsbegegnung,
wie der glücklichen Vereinigung zwei entfernter Gestirne, ent-
sprungen; Täuschungen, abenteuerliche Neigungen, seltsam wie
der Geschmack halbreifer Früchte, die uns behagen, während sie
die Zähne stumpf machen — Gefühlsregungen, deren Stufenleiter
unendlich ist, und die durch die angeborene Erhabenheit, Schönheit
und Vornehmheit derer, die sie empfinden, sich zu wahrer Poesie
entfalten, wenn einer der in raschen Arpeggien nur hingehauchten
Akkorde plötzlich sich zu einem feierlichen Thema gestaltet, dessen
feurige und kühne Modulationen von einer ewig währenden Leiden-
schaft zu reden scheinen.
Charakter der Mazurka Chopins, 57
In den zahlreichen Mazurken Chopins herrscht eine außer-
ordentliche Mannigfaltigkeit der Motive und Eindrücke. In ein*
zelnen glauben wir das Rasseln der Sporen zu vernehmen; in der
Mehrzahl aber unterscheiden wir das leise Rauschen von Tüll und
Gaze unter dem leichten Wehen des Tanzes, das Geräusch der
Fächer, das Geklirr von Gold und Steinen. Einige scheinen das
mit Bangigkeit gemischte Vergnügen eines Balles am Vorabend
eines Angriffs zu malen. Aus dem Rhythmus des Tanzes hört man
die Trennungsseufzer heraus, die sich hinter der Lust verbergen.
Andere scheinen die Angst und geheimen Sorgen zu offenbaren,
die selbst das heitere Festgeräusch nicht zu betäuben vermag.
Zuweilen tönen unterdrückte Schrecken wieder, Befürchtungen
und Ahnungen kämpfender und überdauernder Liebe, die, von
Eifersucht verzehrt, sich besiegt sieht, doch nur bemitleidet, wo
sie zu fluchen verschmäht. Dann ist es ein Wirbel, ein Delirium,
das eine atemlose Melodie durchzieht, unterbrochen, wie der Schlag
eines übervollen und vor Liebe brechenden Herzens. Weiterhin
klingen ferne Fanfaren, wie Erinnerungen einer ruhmreichen Ver-
gangenheit wider. Anderwärts ist der Rhythmus so unbestimmt,
so schwebend, wie das Gefühl, mit welchem zwei Liebende einen
Stern betrachten, der einsam aufging droben am Firmament.
IV.
Wir sprachen zunächst vom Tondichter und seinen Werken.
Unsterbliche Gefühle klingen in ihnen wider. Bald siegend, bald
besiegt rang hier sein Genius im Kampf mit dem Schmerze —
diesem furchtbaren Element der Wirklichkeit, dessen Versöhnung
mit dem Himmel eine Mission der Kunst ist. Alle Erinnerungen
seiner Jugend, alle Entzückungen seines Herzens, alle Aufwallungen
seiner stillen Leidenschaftlichkeit erscheinen hier gesammelt wie
Tränen in einem Tränenkrug, und die Schranken unsrer, im Ver-
gleich zu den seinen matteren Empfindungen und Wahrnehmun-
gen überschreitend, drang er ins Bereich der Dryaden, Oreaden,
Nymphen und Okeaniden ein. Noch bliebe uns nun übrig, Chopin
als ausübenden Künstler zu betrachten, besäßen wir den traurigen
58 rv. Chopins Virtuosität.
Mut dazu, vermöcliten wir es, Empfindungen, die mit unseren
innersten Erinnerungen verwoben sind, aus der Tiefe unsres Herzens
hervorzurufen, um sie mit den geziemenden Farben zu schmücken.
Wir fühlen nicht die müßige Neigung hierzu, dehn welches
könnte der Erfolg unserer Bemühungen sein? Gelänge es wohl,
denen, die ihn nicht gehört, den Zauber einer unaussprechüchen
Poesie begreiflich zu machen? Einen Zauber, fein und durch-
dringend wie der exotische Duft der Verbena und Calla aethiopica,
der sich nur in menschenleeren Räumen verbreitet, als schrecke
er zusammen vor der lauten Menge, inmitten deren die verdichtete
Luft nur noch den lebhaften Geruch vollblühender Tuberosen
oder brennender Harze bewahrt.
Chopin hatte in seiner Einbildungskraft und in seinem Talent
etwas, was, durch die Reinheit seiner Ausdrucksweise, durch seinen
vertrauten Umgang mit der »f^e aux miettes« und dem »lutin
d'Argail«, durch seine Begegnungen mit „Seraphine'' und „Diana'',
die ihm ihre vertraulichsten Klagen, ihre unausgesprochensten
Träume ins Ohr raunten, an den Stil Nodiers erinnerte, dessen Werke
man oftmals auf seinem Schreibtisch liegen sah. In der Mehr-
zahl seiner Walzer, Balladen, Scherzos ruht die Erinnerung
an irgend welches flüchtige Gedicht festgebannt, zu der ihn eine
dieser flüchtigen Erscheinungen begeisterte. Er idealisiert sie
bisweilen derart, leiht ihnen eine so zarte, zerbrechliche Gestalt,
daß sie nicht mehr unsrer Natur anzugehören, sondern sich viel-
mehr der Feenwelt anzunähern scheinen und uns die Geheimnisse
der Undinen, der Titanias, der Ariels, der Königinnen Mab, der
mächtigen und launischen Oberone, aller Genien der Luft, des
Wassers und des Feuers enthüllen, die kaum minder als die Sterb-
lichen bitteren Täuschungen und unerträglichen Sorgen unter-
worfen sind.
Fühlte sich Chopin von derartigen Eingebungen erfaßt, so nahm
sein Spiel einen eigentümlichen Charakter an, welchem Genre im
übrigen auch das von ihm ausgeführte Musikstück angehören
mochte, ob der Tanzmusik oder der träumerischen, ob den Ma-
zurken oder Nocturnes, Präludien oder Scherzos, Walzern oder
Tarantellen, Etüden oder Balladen. Allem gab er eine eigenartige
Chopins dichterisches Kiavierspiel. 69
Farbe, ein nicht zu beschreibendes Gepräge, einen mehr vibrieren-
den Pulsschlag, der das Materielle nahezu abgestreift hatte und
mehr auf das Innerste des Hörers denn auf seine Sinne zu wirken
schien. Bald^ glaubt man das Getrippel einer neckisch verliebten
Peri zu vernehmen, bald hört man samtartige, in ihrem Farben-
schiilern an das Kleid des Salamanders erinnernde Modulationen;
bald wiederum Töne tiefer Entmutigung, wie wenn die armen Seelen
umsonst auf barmherzige Gebete hoffen, deren sie zu ihrer end-
lichen Erlösung bedürfen. Zu andern Malen hauchten seine
Finger eine so düstere Trostlosigkeit aus, daß man meinte, Byrons
Jacopo Foscari wieder aufleben und die Verzweiflung dessen vor
sich zu sehen, der, aus Liebe zum Vaterland sterbend, den Tod
der Verbannung vorzog, da er es nicht zu ertragen vermochte,
Venezia la bella zu verlassen.
Bisweilen überließ sich Chopin auch burlesken Phantasien.
Er beschwor gern eine Szene ä la Jaques Caliot herauf, voll phan-
tastisch umherspringender, lachender und gesichterschneidender
Figuren und musikalischer Spaße, die von Geist und englischem
humour sprühten wie ein Feuer von grünem Reisig. In der fünften
Etüde wurde uns eine dieser pikanten Improvisationen aufbewahrt,
wo ausschließlich die schwarzen Tasten des Klaviers berührt
werden, wie die Heiterkeit Chopins nur die obersten Tasten des
Geistes berührte. Stets dem feinsten Geschmack huldigend, schrak
er zurück vor gemeiner Lustigkeit, grobem Gelächter, gleichwie
gewisse sensitive Naturen vor dem Anblick garstiger Tiere scheu
und widerwillig zurückweichen.
In seinem Spiel gab der große Künstler in entzückender Weise
jenes bewegte, schüchterne oder atemlose Erbeben wieder, welches
das Herz überkommt, wenn man sich in der Nähe übernatür-
licher Wesen glaubt, die man nicht zu erraten, nicht zu erfassen,
nicht festzuhalten weiß. Wie ein auf mächtiger Welle getragenes
Boot ließ er die Melodie auf- und abwogen, oder er gab ihr eine
unbestimmte Bewegung, als ob eine luftige Erscheinung unver-
sehens einträte in diese greifbare und fühlbare Welt. Er zuerst
führte in seinen Kompositionen jene Weise ein, die seiner Virtuo-
sität ein so besonderes Gepräge gab, und die er Tempo rubato
60 IV. Chopins Virtuosität.
benannte: ein geraubtes, regellos unterbrochenes Zeitmaß, geschmei-
(iig> abgerissen und schmachtend zugleich, flackernd wie die Flamme
unter dem sie bewegenden Hauch, schwankend wie die Ähre des
Feldes unter dem weichen Druck der Luft, wie der Wipfel des
Baumes, den die willkürliche Bewegung des Windes bald dahin,
bald dorthin neigt. *
Da indes diese Bezeichnung dem, der sie kannte, nichts lehrte
und dem, der sie nicht kannte, ihren Sinn nicht verstand und her-
ausfühlte, nichts sagte, unterließ Chopin später, sie seiner Musik
beizufügen, überzeugt, daß, wer überhaupt Verständnis dafür habe,
nicht umhin könne, das Gesetz dieser Regellosigkeit zu erraten.
Alle seine Kompositionen aber müssen in dieser schwebenden,
eigentümlich betonten und prosodischen Weise, mit jener mor-
bidezza wiedergegeben werden, deren Geheimnis man schwer bei-
kommt, wenn man ihn nicht oftmals selber zu hören Gelegenheit
hatte. Er schien bedacht, diese Vortragsart auf seine zahlreichen
Schüler und namentlich auf seine Landsleute zu übertragen, denen
er vor andern den Hauch seiner Begeisterung mitzuteilen wünschte.
Diese und zumal seine Landsmänninnen erfaßten sie mit der Ge«
wandtheit, die ihnen für alle Gegenstände poetischer Empfindung
eigen ist. Ein ihnen angebomes Verständnis für seine Gedanken
befähigte sie, allen Schwankungen im Wogenspiel seiner Stim«
mungen zu folgen.
Chopin wußte nur zu wohl, daß er nicht auf die Menge wirkte,
daß sein Spiel die Massen nicht traf, die, gleich einem Meer von
Blei, nur im Feuer zu schmelzen und nicht minder schwer zu be^
wegen sind. Sie verlangen den mächtigen Arm einer athletischen
Kraft, um in eine Form gegossen zu werden, in der das flüssige
Metall plötzlich zu dem ihm vorgeschriebenen Ausdruck einer Idee,
einer Empfindung wird. Chopin war sich bewußt, daß er nur in
jenen leider wenig zahlreichen Kreisen vollkommen gewürdigt
werden konnte, wo alle darauf vorbereitet waren, ihm überallhin
zu folgen, wohin er sie führte, sich mit ihm in jene Sphären zu er-
heben, in die man nach der Vorstellung der Alten nur durch das
Elfenbeintor der glücklichen Träume gelangt, das diamantene, in
tausend buntfarbigen Feuern strahlende Pfeiler umgeben. Es ge-
Chopins Rhythmik, Tempo rubato. 61
währte ihm Vergnügen, diese» Tor zu übersteigen, zu dem der Ge-
nius den geheimen Schlüssel bewahrt, und über dem sich eine
Kuppel wölbt, in der alle Strahlen des Prismas mit einem jener
täuschenden Lichter spielen wie das des mexikanischen Opals,
dessen kaleidoskopische Lichtzentren sich in einem Nebel ver-
stecken, der sie wechselnd verhüllt und entschleiert. Durch dieses
Tor öffnete er den Zugang in eine Welt, wo alles holdes Wunder,
ungeahnteste Überraschung, lebendig gewordener Traum erscheint.
Aber man muß zu den Eingeweihten gehören, um diese Schwelle
überschreiten zu können.
Chopin flüchtete sich gern in diese Traumregionen, in die er
nur auserlesene Freunde einführte. Ihm galten sie mehr als die
rauhen Schlachtfelder seiner Kunst, wo man zuweilen in die Hände
eines unvermuteten Siegers, eines törichten und prahlerischen Er-
oberers fällt, dessen Herrschaft zwar nur einen Tag lang währt,
für den aber dieser eine Tag hinreicht, um ein Beet von Lilien
und Asphodelien niederzumähen, um den Zugang zum geheiligten
Hain Apollos zu verhindern. Während dieses Tages fühlt sich
der „glückliche Soldat" zwar den Königen ebenbürtig; aber nur
den Königen der Erde — und genügte dies wohl der Einbildungs-
kraft, die mit den Gottheiten der Lüfte verkehrt und mit dea
Geistern, die in Wipfeln und Gipfeln wohnen?
Auf diesem Boden ist man überdies den Launen der Reklame,
der Kameraderie, einer zweideutigen Mode von zweifelhafter Ge-
burt anheimgegeben. Ist aber schon die Mode als ehrlich Ge-
borenCj als Standesperson immer eine törichte Göttin, wie vielmehr
eine Mode ohne anerkannte Eltern I Fein organisierte Künstler-
naturen werden sicherlich einen nur zu natürlichen Widerwillen
dagegen empfinden, sich mit einem jener als Kunstprinzen ver-
kleideten Jahrmarktsherkulesse zu messen, welche dem Virtuosen
von Geblüt auf seinem Wege auflauern, wie ein Dorftölpel, der den
auf edle Abenteuer ausgehenden bewaffneten Kavalier mit Stock-
schlägen zu überfallen bereit ist. Gleichwohl würden sie sich im
Kampfe gegen einm so armseligen Gegner vielleicht weniger er**
iiiedrigt finden als durch die Nadelstiche einer feilen, handel-
treibenden, industriellen Mode, der frechen Courtisane, die sich.
62 !V. Chopins Virtuosität.
erdreistet, den Olymp mit den Sitten des Salons belehren zu wollen.
Sie möchte, die Wahnwitzige, sich selbst aus der Schale der Hebe
sättigen, die, bei ihrer Annäherung errötend, bald Venus, bald
Minerva um Hilfe anruft, um sie mit ihrem Blitzstrahl zu treffen.
Doch vergebens! Weder streift ihr die höchste Schönheit die markt-
schreierische Schminke ab, noch entreißt ihr die mit voller Rüstung
geschmückte Weisheit den Narrenstab, aus dem sie sich ein ge-
teertes Strohzepter gemacht. In dieser Not bleibt der Göttin
der Unsterblichkeit kein anderer Ausweg als sich von dem Einr
dringling aus niederer Sphäre unwillig abzukehren. Und das tut
sie. Da sieht man die Schönheitsmittel sich denn alsbald ablösen
von den aufgeblasenen, gemeinen Wangen, die Runzeln hervor-
treten, und — verjagt ist die zahnlose Alte, noch ehe sie Zeit hatte,
sich verlassen zu finden.
Chopin genoß fast täglich das zwar nicht sonderlich dramatische,
aber zuweilen bis zum Possenhaften komische Schauspiel des Miß-
geschickes irgend eines Schützlings dieser schleichhändlerischen
Mode, obwohl zu seiner Zeit die Dreistigkeit der „Unternehmer
künstlerischer Reputationen", der Elefantenführer mehr oder minder
merkwürdiger oder künstlicher Tiere — wie „des einzigen Pro-
duktes von Karpfen und Kaninchen" — noch weit entfernt war
von der schamlosen Frechheit und der unglaublichen Verbreitung,
die sie mittlerweile angenommen hat. Doch mochte auch die Kunst
noch in der Kindheit liegen , die Spekulation wagte sich schon so
weit heraus auf das den Musen vorbehaltene Gebiet, daß er, der
ausschließlich mit ihnen verkehrte, der nächst dem verlorenen
Vaterland nur sie liebte, sich nur bei ihnen über den Verlust dieses
Vaterlandes tröstete, gleichsam von Furcht vor dieser gewaltigen
Teufelin erfaßt wurde. Unter dem Eindruck des Widerwillens, den
sie ihm einflößte, äußerte der Tondichter eines Tages zu einem ihm
befreundeten Künstler, den man seitdem oftmals hörte: „Ich
eigene mich nicht dazu, Konzerte zu geben; die Menge schüchtert
mich ein, ihr rascher Atem erstickt, ihre neugierigen Blicke lähmen
mich, ich verstumme vor den fremden Gesichtern. Ab^r du bist
dazu berufen; denn wenn du dein Publikum nicht gewinnst, bist
du imstande, es dir zu unterwerfen."
Chopins Reizbarkeit. 63
Indes auch abgesehen von der Konkurrenz mit Künstlern, die
keine Künstler sind, mit Virtuosen, die auf den Saiten ihrer Violine,
ihrer Harfe oder ihres Pianos tanzen, fühlte Chopin sich unbehag-
lich vor dem „großen Publikum", diesem Publikum von Unbe-
kannten, von dem man nicht zehn Minuten vorher weiß, ob man
es gewinnen oder unterwerfen muß; ob man es, kraft dem unwider-
stehlichen Magnet der Kunst, emporreißen soll in Höhen, deren
verdünnte Luft die gesunde und reine Lunge erweitert, oder ob
man vielmehr die Zuhörer, die voll kleinlichen Tadelbedürfnisses
herbeikamen, durch seine gigantischen, frohlockenden Offenbarungen
betäuben soll. Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Konzert-
tätigkeit weniger Chopins physische Organisation ermüdete, als
vielmehr seine Reizbarkeit als Künstler herausforderte. Hinter
seinem freiwilligen Verzicht auf rauschende Erfolge verbarg sich
ein inneres Verletztsein. Ungeachtet eines sehr entschiedenen Be-
wußtseins seiner angeborenen Überlegenheit (wie es allen zu eigen
ist, welche dieselbe aufs höchste entwickeln und zur Geltung bringen),
entbehrte der polnische Pianist doch zu sehr des entsprechenden
verständnisvollen Echos von außen, um sich dem sicheren Gefühl
überlassen zu können, daß er nach seinem vollen Wert gewürdigt
werde. Er hatte vom Beifall der Menge genug gesehen, um dieses
zuweilen intuitive, zuweilen offen und edel empfindende, öfter noch
launische, starrsinnige, halb wilde und dumme vielköpfige Unge-
heuer zu kennen, das sich an dem ihm zugeworfenen bunten Glas-
werk ergötzt und die kostbarsten Kleinodien nicht beachtet, das sich
über Kleinigkeiten ereifert und sich durch die fadesten Schmeiche-
leien betören läßt. Doch seltsam getiugl Chopin kannte es nur
zu gut, er verabscheute es und bedurfte nichtsdestoweniger doch
seiner! Er vergaß das ihm innewohnende wilde Element über den
ihm sympathischen naiven Regungen, nach Art eines Kindes, das
bei der Erzählung von erdichtetem Leiden. und Entzücken weint
und sich von ganzer Seele begeistert.
Je mehr „dieser Feinfühlige", dieser Epikuräer des Spiritualis-
mus, der Gewohnheit entsagte, das „große Publikum" zu bändigen
und ihm Trotz zu bieten, desto mehr Furcht flößte ihm dasselbe
ein. Nicht um die Welt hätte er vor ihm eine Niederlage erleben.
64: IV. Chopins Virtuosität
mögen bei einem jener Kämpfe, wo der Künstler, gleich einem
tapfern Kämpen im Turnier, Herausforderung und Handschuh
jedwedem zuwirft, der ihm die Schönheit und den Vorrang seiner
Dame — das ist seiner Kunst — streitig macht. Er sagte sich
vermutlich und sicher mit Recht, daß er auch als ein in weitesten
Kreisen bewunderter Sieger nicht mehr geliebt und gewürdigt
werden konnte, als er es bereits in jenem engen Kreise war, der
sein „kleines Publikum'' bildete. Und er fragte sich vielleicht
nicht mit Unrecht — denn so unsicher sind eben die Meinungen,
so wankelmütig die Neigungen der Menschen — ob er, erführe er
eine Niederlage, nicht an der Liebe und Schätzung seiner eifrigsten
Bewunderer Einbuße erleiden würde? La Fontaine sagt sehr richtig:
„Die Feinfühligen sind unglücklich!''
Sich somit der Bedürfnisse bewußt, die die Natur seiner Be-
gabung mit sich brachte, spielte er nur selten öffentlich. Außer
einigen Erstlingskonzerten im Jahre 1831, in denen er sich in Wien
und München hören ließ, gab er nur noch einige wenige in Paris
und London. Schon aus Rücksicht auf seine Gesundheit vermochte
er nicht viel zu reisen. Wiederholt erlitt er sehr gefährliche Krank-
heitsanfälie, in deren Folge er schwächlich blieb und der größten
Vorsicht bedurfte; doch ward ihm dessenungeachtet noch manches
Jahr der Frist und wieder erstarkender relativer Kraft geschenkt.
Allerdings gestattete ihm seine Gesundheit nicht, sich an allen
Höfen, in allen Hauptstädten Europas, von Lissabon bis St. Peters-
burg, bekannt zu machen. Doch würde sein Befinden ihn wenig-
stens nicht verhindert haben, sich da, wo er sich aufhielt, öfter
hören zu lassen. Seine zarte Konstitution war eben weniger ein
Grund als ein Vorwand zur Verzichtleistung, um immer erneuten
Fragen und Aufforderungen aus dem Weg zu gehen.
Warum sollten wir es nicht bekennen? Bekümmerte es Chopin,
daß er an jenen öffentlichen und feierlichen Künstlerwettkämpfen
nicht teilnahm, wo des Volkes JubehrUf den Triumphator grüßt;
bedrückte es ihn, daß er sich von ihnen ausgeschlossen sah, so ge-
schah dies darum, weil er das, was er besaß, nicht hoch genug
anschlug, um über das, was er nicht besaß, heiter hinwegzugehen.
Obgleich durch das „große Publikum" «ingeschüchtert,. bemerkte
Chopins seltenes Auftreten. 65
er wohl, daß dieses, indem es sein eigenes Urteil ernsthaft nahm,
auch andere zwang, es also zu nehmen; während das „kleine
Publikum'', die Salonwelt, sich als ein Richter bezeugt, der damit
anfängt, seine eigene Autorität nicht anzuerkennen,.der heute seinen
Göttern Weihrauch streut und sie morgen verleugnet. Die Ex-
zentrizitäten des Genies fürchtet es, vor den Kühnheiten einer
großen, überlegenen Individualität, einer großen Seele zieht es sich
zurück, da es sich nicht sicher genug fühlt, um diejenigen heraus-*
zuerkennen, welche hierzu durch das innere Gebot einer Inspira-
tion berechtigt sind, die ihren eigenen Weg geht und dabei ohne
Zögern alle zurückstößt, die nur kleinen Leidenschaften frönen
und unter dem leeren Anschein der Außerordentlichkeit kein
höheres Ziel anstreben als Gelderwerb und eine behäbige Ver-^
sorgung für die Zukunft.
Die Salonwelt unterscheidet diese so verschiedenen, einander
völlig antipodisch gegenüberstehenden Persönlichkeiten nicht, weil
sie sich nicht die Mühe nimmt, selbständig zu urteilen, ohne die
Vormundschaft des Feuilletonisten, der, wie der Gewissensrat die
religiösen Meinungen, die künstlerischen Meinungen dirigiert. Sie
unterscheidet die mächtige Bewegung, den Sturm und Drang der
Gefühle, mit dem jene den Ossa auf den Pelion türmen, um zu den
Sternen emporzusteigen, nicht von den Äußerungen niedriger
Eigenliebe, egoistischer Selbstgefälligkeit und verächtlicher Wohl-
dienerei, die dem vornehmen Laster der unmoralischen Mode, der
herrschenden Sittenlosigkeit huldigt. Sie unterscheidet die Ein-
fachheit großer Gedanken, die keiner gesuchten „Effekte'' be-
dürfen, nicht von den verjährten Konventionalitäten eines Stils,
der seine Zeit erfüllt hat, und über den nun die alten Weiber das
Wächteramt führen, in Ermangelung eines verständnisvollen
Auges, das den unaufhörüchen Wandlungen der Kunst zu folgen
versteht.
Um sich die Sorge zu sparen, die Gedanken und Empfindungen
des Künstlers, dessen Stern am Firmament der Kunst aufzugehen
scheint, mit Sachkenntnis zu würdigen; um der Mühe zu entgehen,
es mit der Kunst ernst zu nehmen, damit man die Versprechungen,
welche die jungen Leute mit sich bringen, und die Eigenschaften,
Liszt, Qesammelte Schriften. I. V.A. 5
66 IV. Chopins Virtuosität
welche sie zur Verwirklichung derselben befähigen, mit einigem
Verständnis zu beurteilen vermöge, unterstützt, oder vielmdir
protegiert man in den Salons hartnäckig nur die schmeichlerische
Mittelmäßigkeit. Von ihr hat man ja keine in V^legenheit setzende
Neuerung, kdne Genialität zu gewärtigen; sie darf man von oben
herab behandeln, sie nach Belieben auch mißhandeln, da man hier
weder einen lästigen Fehler noch einen unauslöschlichen Glanz zu
fürchten braucht.
Dies vielgepriesene „kleine Publikum'^ hat wohl die Macht,
einen Ruf in Umlauf zu setzen; doch ein solcher Ruf von vielleicht
berauschendem Zauber hat nicht mehr Realität denn eine Stunde
des Rausches, wie ihn der moussierende Trank erzeugt, welchen
man in Kaschmir aus Rosen- und Neikenblättem bereitet Ein
solcher Ruf ist ein ephemeres, armseliges Ding, ohne Dauer, ohne
wirkliches Leben, immer bereit, sich zu verflüchtigen, da er den
Grund seines Daseins nicht kennt und oft auch tatsächlich eines
solchen entbehrt. Das „große Publikum'' dagegen, das liäufig
auch nicht weiß, wie und warum es sich ergriffen, durchschauert,
elektrisiert, „gepackt" — wie der entzückte Plebejer sagt — fülilt,
schließt wenigstens die „Leute vom Handwerk" ein, welche wissen,
was sie sagen und warum sie es sagen, solange die Tarantel des
Neides sie nicht gestochen hat und sie, wie die böse Fee in Per-
raults Märchen, nicht bei jedem Worte die Schlangen und Kröten
der Lüge ausspucken, statt der feinen Perlen und duftenden Blomen
der Wahrheit, wie dies die edle Frau Justitia gebieten würde.
Nicht ohne geheime Betrübnis schien Chopin sich oftmals zu
fragen, bis zu welchem Grad die Elite der Gesellschaft iiim durch
ihre dislaeten Beifallsbezeigungen die Menge und Massen ersetzte,
von denen er sich freiwillig abkehrte? Wer in seinem Antlitz zu
lesen wußte, konnte erraten, wie häufig er bemerkte, daß taiter
all den schönen, wohlfrisierten Herren, unter all den schöne» und
geschmückten Damen ihn keines verstand. Und war er nicht noch
viel weniger dessen sicher, ob die geringe Zahl derer, die ihn ver-
standen, ihn auch recht verstand? Ein Mißbehagen bemächtigte
sich infolgedessen seiner, das ihm selbst, mindestens nach seiner
wahren Quelle, vielleicht unklar blieb, aber heimlich an ihm nagte.
Das grofie und tlas kleine Ptiblikum. 67
Fast verletzt sah man ihn durch Lobpreisungen, die hohl oder
falsch an sein Olir klangen. Da die, welche er mit Recht bean-
spruchen durfte, ihm nicht in reicher Fülle zuströmten, war er
geneigt, vereinzelte Huldigungen beleidigend zu finden, wenn sie,
nidit vom rechten Verständnis getragen, den wesentlichen Punkt
nur durch Zufall berührten — was der feine Blick des Künstlers
selbst unter den Spitzen des feuchten Taschentuches und unter
den koketten rhythmischen Bewegungen des Fächers zu unter-
scheiden wußte.
Aus den höflichen Phrasen, mit denen er, gleich vergoldetem
aber lästigem Staub, häufig die Komplimente abschüttelte, die ihm
80 unnatürlich erschienen wie die auf Draht gebundenen Blumen
der Buketts, welche die hübschen Hände nur mühsam umfaßten,
konnte man mit geringem Scharfsinn erkennen, daß ihn weder
Quantität noch Qualität des empfangenen Beifalls befriedigten.
Er zog demgemäß vor, In der Einsamkeit seiner inneren Betrach-
tungen, seiner poetischen Phantasien und Träume ungestört zu
sein. Viel zu bewandert in witzigen Ausfällen, selbst ein zu geist-
reicher Spötter, um dem Sarkasmus eine Blöße zu bieten, gab er
sich nicht etwa als verkanntes Genie. Unter scheinbarer Befrie-
dung und liebenswürdiger FreundlichlMit verbarg er die Wunde,
die seinem berechtigten Stolze geschlagen worden war, so völlig,
daß man deren Existenz kaum bemerkte. Nicht mit Unrecht
dürfte man }edoch die sich allmählich ste^;emde Seltenheit der
Gelegenheiten, bei denen er sich zum Spielen bewegen ließ, mehr
noch dem Wunsche beimessen, Huldigungen zu fliehen, die ihm
nicht den schuldigen Tribut eintrugen, als seiner zunehmenden
Köq^erschwäche, die ja durch sein andauerndes häusliches Spiel,
wie durch die Unterrichtsstunden, die er beständig erteilte, auf
nicht mhider harte Proben gestellt wurde.
Zu bedauern Ist es, wenn die zweifellosen Vorteile, die für den
Künstler darauf erwachsen sollten, daß er nur ein gewähltes Pu-
blikum kultiviert, solchergestalt durch den zu sparsamen Ausdruck
der Sympathien des letzteren und den vollständigen Mangel eines
w^ren Verständnisses für das Wesen des Schönen an sich, wie
fOr die Mittel, die dasselbe offenbaren und somit die Kunst aus-
5«
68 IV. Chopins Virtuosität
machen, vermindert werden. Die Wertschätzung des Salons ist nur
ein ,,ewiges Ungefähr", wie Sainte-Beuve in einem seiner von
witzigen Einfällen übersprudelnden Feuilletons sagt, die an jedem
Montag seine Leser ergötzten. Die feine Welt sucht, da sie keine
Wurzel in vorhergegangener Erkenntnis, keinen Halt und keine
Zukunft in einer aufrichtigen und dauernden Teilnahme hat, nur
oberflächliche Eindrücke, so flüchtiger Natur, daß man sie mehr
physische als moralische nennen kann. Zu beschäftigt mit den
kleinen Tagesinteressen, mit politischen Vorkommnissen, den Er-
folgen hübscher Frauen, den Bonmots auf Wartegeld gesetzter
Minister oder müßiger Mißvergnügter, mit einer eleganten Heirat,
mit Kinderkrankheiten oder zarten Liaisons, mit Lästereien, die
man als Verleumdung, oder Verleumdungen, die man als Lästeret
behandelt, begehrt die große Welt in der Tat von Poesie und Kunst
nichts weiter als Aufregungen, die wenige Minuten währen, die
sich im Laufe eines Abends erschöpfen und am andern Morgen
vergessen sind.
So hat die große Welt am Ende nur Künstler zu beständigen
Tafelgenossen, die um so eingebildeter und unterwürfiger sind, als
sie des Stolzes und der Geduld ermangeln. Sich an ihnen den Ge-
schmack verderbend, verliert sie allmählich die Originalität und
ursprüngliche Natürlichkeit ihres Empfindens und infolgedessen
auch das rechte Auffassungsvermögen für das Was? und Wie?
echt künstlerisch-poetischen Ausdruckes. Welch hohen Rang sie
daher auch behaupte, die hohe Poesie, die hohe Kunst thronen
doch über ihr! In den mit rotem Damast behangenen Gemächern
friert die Kunst,- sie schwindet dahin in den goldgelb oder bläulich
schimmmernden Salons. Das empfand wohl jeder wahre Künstler,
obgleich nicht alle sich davon Rechenschaft zu. geben wußten.
Ein Virtuos von einigem Ruf, der, mit den Veränderungen des
geistigen Thermometers je nach den verschiedenen gesellschaft-
lichen Kreisen mehr als andere vertraut, diese immer frische, zu-
weilen eisige, ja den Gefrierpunkt erreichende Temperatur wohl
kannte, sagte öfters: „Bei Hofe muß man kurz sein.'' [A la cour
il faut 6tre court.] Und unter Freunden fügte er hinzu: „Es han-
delt sich ja gar nicht darum, uns zu hören, sondern nur darum^
Das Unverständnis der Hörer. 69
uns gehört zu haben! . . Was wir sagen ist gleichgültig, wenn
nur der Rhythmus bis in die Fußspitzen dringt und die ange-
nehme Vorstellung eines vergangenen oder zukünftigen Walzers
hervorruft."
Ist der Künstler seiner einsamen Inspiration einmal entrissen,
so kann er sie nur durch den mehr als aufmerksamen, lebendigen
und belebenden Anteil wiedergewinnen , den seine Zuhörer dem
Edeln, was er empfindet, dem Weihevollen, was er erstrebt, dem
Erhabenen, was er träumt, dem Göttlichen, was er erkennt, ent-
gegenbringen. Soll er ganz auf der Höhe sein, soll er sich über sich
selbst erheben, soll er seine Zuhörer, begeistert und erleuchtet
durch das göttliche Feuer, Testro poetico, mit sich emportragen,
so muß er fühlen, daß er die, die ihn hören, bewegt und erschüttert,
daß seine Empfindungen verwandte Saiten in ihnen berühren,
daß er sie auf seinem Wanderfluge ins Unendliche mit sich fort-
reißt, wie der Führer geflügelter Scharen, dem, wenn er zum Auf-
bruch mahnt, die Seinigen alle nach schöneren Gestaden folgen.
Ein richtiges Vorgefühl leitete den Grafen Joseph de Maistre,
als er den „aufgeklärten Patrizier" als geeigneten Richter im Reiche
des Schönen bezeichnete. Nur ließ er seinen Gedanken unvoll-
ständig. Die Aristokratie als solche hat keineswegs die soziale
Aufgabe, nach englischer Weise Glossen über Homer, Monogra-
phien über diesen vergessenen arabischen Dichter oder jenen wieder-
aufgefundenen Troubadour zu verfassen; oder gründliche Studien
über Phidias, Apelles, Michel Angelo, Raphael, eingehende Nach-
forschungen über Josquin des Pr^s, Orlando di Lasso, Monteverde,
Feo usw. anzustellen. Ihr Vorrecht besteht vielmehr darin, die
ihre Zeit erfüllende Begeisterung, die dem gegenwärtigen Ge-
schlecht eigenen Bestrebungen, Schmerzen und Empfindungen,
welche ihren eindringlichsten und weitesttragenden Ausdruck in
den Akzenten des Musikers oder Dramatikers, den Visionen des
Malers und Bildhauers finden, eigenhändig zu leiten. Sie vermag
sich diese Leitung freilich nur zu erhalten, wenn sie zur wahren
Vorsehung von Poesie und Kunst wird. Eben darum aber auch
dürfte sie die Protektion, die sie dem Künstler und Dichter schuldet,
nicht dem zufälligen Geschmack eines jeden überlassen. Sie müßte
70 IV. Chopins Virtuosität.
Männer in ihrer Mitte haben, die nicht minder als mit der Qe»
schichte ihres Landes, ihrer Familie und verschiedener Wissen-
schaften mit der der schönen Künste, mit ihren Epodien und
Stilen, ihren Umwandlungen und Kämpfen vertraut wären, damit
dem vomdimen Mann bei der kürzesten Unterhaltung nnt einem
Künstler nicht allerhand artistisch-orthographische Fehler, naive,
gegen Syntax und Grammatik schlimm verstoßende Betrach-
tungen entschlüpfen; — eine Gefahr, der er gewöhnlich nur dadurch
entgeht, daß er sich hinter eine Unbedeutendheit verschanzt, die
den Künstler nur noch mehr reizt.
Eine geheiligte Tradition auch müßte es dem Patriziat zum
Gesetz machen, all die kleinen, wohlfeilen künstlerischen Erzeug-
nisse, welche in Form banaler Lieder, seichter Klavierkomposi-
tionen, bunter Photographien, schlechter Bilder und Skulpturen,
gemaHer, steinerner, gesungener und gespielter Splel^eien zur
Unehre der Künstler selber fabriziert werden, zu verachten und, sie
in niedrigere Sphären verweisend, aus seinen Häusern zu verbannen,
deren Portal ein hundertjähriges Wappen schmückt. Eine ver-
ständige Tradition müßte es ihm zur Pflicht machen, sich nur in
der edelsten Kunstrichtung zu gefallen; nur die Oichter und
Künstler zu beschützen, welche die heldenmütigsten und zartesten,
die reinsten und selbstlosesten Empfindungen, kurz alles das zum
Ausdruck bringen, was die Seele in jene höheren, durchgeistigteren
Regionen emporträgt, die über den eigennützigen und epikurä-
ischen Vorurteilen erhaben sind, welche die Pflege materieller oder
spezieller Interessen in anderen Gesellschaftsklassen erweckt und
nährt. Ja sogar in denen der Wissenschaft, wo die Leidenschaften
nicht immer die Ungerechtigkeiten der Reizbarkeit und die Ge-
lüste ungezügelter Eitelkeit genügend zurückweisen, um zu den
erhabeneren und reinen Sphären der hohen Poesie und Kunst zu
gelangen.
Femer müßte das Patriziat sich von dem törichten Joch der
Mode frei machen, deren unedle Abkunft es nicht zu kennen vor-
gibt, und deren unnatürlichen Despotismus es in seinen extrava-
ganten „Kostümen'', seinen trivialen Belustigungen, seinen jeder
Vornehmheit b^en Manieren, die keinen Unterschied mehr zwischen
Künstlerische Pflichten der bevorzugten Stände. 71
denen der „guten Bürger von Paris" erlcennen lassen, ohne Murren,
ja mit Bereitwilligkeit erträgt. Es müßte endlich, sich zu der
ihm zukommenden Höhe erhebend, sein angeborenes Recht, ,,den
Ton anzugeben", wieder aufnehmen, um in der Tat den „guten
Ton'' dnzuiführen, dessen Wesen es ist, Achtung und Ehrerbietung
vor denjenigen einzuflößen, die zu denken und zu urteilen ver-
stehen; gleichzeitig aber Panurgs großer Schafherde von Salon-
Nullen, denen bereitwillige Bewunderer und einträgliche Renten
zu Gebote stehen, eine Richtschnur zu geben.
Doch wäre es bei Chopin auch anders gewesen, als es tatsächlich
^ Fall war, hätte er in jenen berühmten Salons, wo nur der gatt
Qesdimack herrschen soll, in jenen höchsten Kreisen, deren Glieder
sich einbilden, aus anderem Ton als die übrigen Sterblichen ge-
formt zu sein, das ihm gebührende volle Maß von Huldigungen
und Bewunderung empfangen; hätte er, wie so viele andere, vor
allen Nationen, in allen Zonen seme glänzenden Triumphe ge-
feiert; wäre er von Tausenden gerührter Zuhörer statt nur von
Hunderten gekannt und anerkannt worden: wir würden uns doch
nidit bei diesem Teil seiner Laufbahn aufhalten, um deren Erfolge
aufzuzählen.
Was gelten Bhmien dem, dessen Stirn nach unsterblichem
Lorbeer verlangt? Vorübergehende Sympathien, gelegentliche
Ijobspenden sind kaum des Nennens wert angesichts eines Grjd)es,
das reicheren Ruhm heischt. Chopins Schöpfungen sind berufen,
fernen Völkern und Zeiten die Freudoi und Tröstungen, all die
w^ltuenden und erhebenden Empfindungen zuzuführen, welche
die Werke der Kunst in den leidenden und kranken oder gläubig
ausharrenden Gemütern erwecken, denen sie gewidmet sind. Sie
bilden solchergestalt ein stetes Band zwischen den höher angelegten
Naturen, die, in welcher Epoche oder in welchem Erdenwinkei sie
auch lebten, von ihren Zeitgenossen in ihrem Schweigen wie in
ihrem Reden n^ßverstanden wurden.
„Es gibt verschiedene Kränze'', sagt Goethe; „es gibt selbst
solche, die man bequem während eines Spazierganges pflücken kann!''
CHese können wohl für einige kurze Augenblicke durch ihre bal-
samische Frische entzücken; doch dürfen wir sie nicht mit denen
72 IV. Chopins Virtuosität
vergleichen, die Chopin durch unablässige Arbeit, durch ernste
Kunstliebe und schmerzliches Durchleben der so schön von ihm
dargestellten Gemütsbewegungen sich mit schweren Mühen er-
worben hat. Nicht mit kleinlicher Gier trachtete er nach jenen
billigen Kränzen, mit denen mancher von uns sich bescheiden
genug brüstet. Als ein reiner, großsinniger, guter und mitfühlen-
der Mensch, den die edelste aller irdischen Empfindungen: die
Vaterlandsliebe, beseelte, hat er gelebt; als ein geweihter Schatten
alles dessen, was Polen an Poesie besitzt, wandelte er unter uns;
— darum hüten wir uns, seinem Gedächtnis die gebührende Ehr-
erbietung schuldig zu bleiben ! Nicht Gewinde künstlicher Blumen
laßt uns ihm flechten! Nicht vergängliche Kränze niederlegen
auf sein Grab! Erheben wir unsere Gefühle angesichts dieses
Sarges!
Wir alle, die wir zum Künstlertum „von Gottes Gnaden" be-
rufen, zu Verkündem des ewig Schönen von der Natur auserwählt
wurden, die wir durch Eroberungs- wie durch Geburtsrecht unsres
geweihten Amtes walten, sei es, daß unsere Hand den Marmor
oder die Bronze gestaltet, daß sie den glänzenden Pinsel oder den
schwarzen Stichel führt, der langsam seine Linien für die Nach-
welt eingräbt, sei es, daß sie über die Tasten gleitet oder mit dem
Dirigentenstab den Orchestermassen gebietet, daß sie den Urania
entliehenen Kompas des Architekten, oder Melpomenes blutge-
tränkte Feder, oder Polyhymniens tränenfeuchte Rolle, oder die
von Wahrheit und Gerechtigkeit gestimmte Leier Klios hält: lernen
wir von ihm, den wir verloren, alles von uns zu weisen, was nicht
den höchsten Bestrebungen der Kunst gilt, und unsere ganze
Kraft auf Ziele zu richten, die die Woge des Tages nicht spurlos
hinwegspült! Entsagen wir in der traurigen Zeit künstlerischer
Seichtheit und Verderbtheit, in der wir leben, auch für uns selber
allem, was der Kunst unwürdig ist, was nicht die Bedingungen
der Dauer, nichts vom Wesen der ewigen idealen Schönheit in sich
trägt, deren leuchtenden Glanz die Kunst zu verbreiten hat, da-
mit sie selber leuchte und glänze!
Gedenken wir des alten Gebetes der Dorier, dessen einfache
Formel von so frommer Poesie erfüllt war, wenn sie die Götter
Chopin von seinen Kunstgenossen bewundert. 73
anflehten» ihnen „das Gute durch das Schöne" zu spenden! Anstatt
uns so sehr zu mühen, die Menge anzuziehen und ihr um jeden
Preis zu gefallen, bestreben wir uns lieber gleich Chopin, ein himm-
lisches Echo dessen, was wir empfunden, geliebt und gelitten,
zurückzulassen! Lernen wir endlich von ihm und seinem Beispiel,
uns das abzufordern, was der Kunst und uns selber in ihrem
mystischen Reich zur Ehre gereicht; nicht aber, ohne Achtung
vor der Zukunft, um die wohlfeilen Kränze der Gegenwart zu
werben, die, kaum gesammelt, schon verwelkt und vergessen
sind! . . .
Statt ihrer wurden die schönsten Palmen, die der Künstler bei
Lebzeiten empfangen kann, durch gefeierte Kunstgenossen in Cho-
pins Hände gelegt. Enthusiastische Bewunderung ward ihm von
einem noch ausschließlicheren Publikum als dem der musikalischen
Aristokratie, deren Salons er besuchte, dargebracht. Es bestand
aus einer Gruppe berühmter Namen, die sich vor ihm neigten, wie
Könige verschiedener Reiche, welche sich versammeln, um einen
ihresgleichen zu feiern, um in die Geheimnisse seiner Macht ein-
geweiht zu werden und die Herrlichkeit seiner Schätze und Lande,
die Werke seiner Schöpfung zu betrachten. Sie zollten ihm voll
und ganz den schuldigen Tribut. Wie konnte es auch anders in
Frankreich sein, dessen Gastfreundschaft mit so feinem Takt den
Rang seiner Gäste unterscheidet?
Die hervorragendsten Geister von Paris begegneten sich häufig
in Chopins Salon. Wenn auch nicht in jenen periodisch wieder-
kehrenden phantastischen Künstlervereinigungen, wie sie die müßige
Einbildungskraft gewisser zeremoniös gelangweilter Zirkel sich vor-
stellt, und wie sie doch nie existierten, da Frohsinn, Aufgelegtheit
und Begeisterung niemandem und wohl am wenigsten dem wahren
Künstler zu festgesetzter Stunde kommen. Alle leiden sie ja mehr
oder weniger an der „heiligen Krankheit", verletztem Ehrgeiz,
oder menschlicher Ohnmacht, deren Betäubung und Lähmung sie
erst abschütteln, deren Schmerzen sie vergessen müssen, um sich an
jenen Feuerwerkspielen zu zerstreuen, durch die sie sich auszeichnen,
und die das Staunen der gaffenden Menge erregen, wenn sie von
weitem ein buntes bengalisches Licht, eine Flammenkaskade,
74 IV, Chopins Virtuosität
einen harmlosen feurigen Drachen erblickt, ohne doch den Oetst
zu verstehen, der sie hervorrief.
Leider sind Frohsinn und Aufgelegtheit auch bei Dichter und
Künstler dem Zufall unterworfen. Einige Bevorzugte unter ihnen
haben allerdings die glückliche Gabe, ihr inneres Mißbefa^s^en zu
überwinden, sei es, um ihre Last leichter zu tragen und mit ihren
Reisegefährten über die Beschwerden des Weges zu scherzen, oder
sei es, um eine milde Heiterkeit zu bewahren, die als Pfand der
Hoffnung und des Trostes die Traurigsten belebt, die JVlutlosesten
aufrichtet und ihnen, solange sie in dieser linden Atmosphäre ver-
weilen, eine Freiheit des Geistes verleiht, die um so leichter über-
schäumt, je mehr sie mit ihrer gewohnten Bekümmernis und Übel-
launigkeit kontrastiert. Doch die allzeit offenen und heiteren
Naturen sind Ausnahmen, sie bilden die schwache iMinderheit
Die große Überzahl der mit Einbildungskraft B^abten, der allen
Eindrücken leicht Zugänglichen und dieselben künstlerisch Ge-
staltenden bleibt unberechenbar in allen Dingen, zumal bezüglich
der Heiterkeit.
Chopin gehörte im Grunde weder zu denen, cfie beständig auf-
gelegt sind, noch zu denen, die die Aufgelegtheit anderer beständig
anzuregen wissen. Aber er besaß jene angeborene Grazie des pol-
nischen Bewillkommnens; die den, der Besuche empfängt, nicht
allein den Gesetzen und Pflichten der Gastfreundschaft unter-
wirft, sondern ihn auch nötigt, allen Rücksichten auf die eigene
Person zu entsagen, um sich den Wünschen und Neigungen seiner
Gäste anzupassen. Man kam gern zu ihm, weil man sich bei ihm
überaus wohl und behaglich fühlte. Man fühlte sich aber so wohl,
weil er seine Gäste gleichsam zu Herreti seines Hauses madite,
sich selbst und alles, was er besaß, zu ihren Diensten stellte. Er
tat dies mit jener rückhaltlosen Freigebigkeit, die selbst der ein-
fache Bauer slawischer Rasse nicht verleugnet, wenn er, eifriger
noch als der Araber unter seinem Zelt, Gäste in seiner Hütte be-
wirtet und das, was seinem Empfang an Glanz abgeht, durch einen
Sinnspruch ersetzt, den auch der Reiche nach dem üppigsten Gast-
mahl nicht zu wiederholen versäumt: »Cz3nm bohat, tym radle
Vier Worte, deren Sinn dahin lautet: „Mein ganzer beschetdentr
Chopins Zurückgezogenheit, seine Gastfreundschaft. 75
Besitz gehört Euchl^". Dieser Spruch wird mit der eigenen natio-
nalen Anmut und Würde von jedem Hausherrn, der die umständ-
lichen aber romantischen Gewohnheiten der alten pohlischen Sitten
beibehält, zu seinen Gästen gesprochen.
Kennt man die gastfreundlichen Gebräuche seines Vaterlandes,
so gibt man sich besser von alledem Rechenschaft, was unseren
Zusammenkünften bei Chopin die Ungezwungenheit und reizvolle
Belebtheit gab, die keinen faden oder bitteren Nachgeschmack
hinterläßt und keine Reaktion übler Laune hervorruft. Obgleich
er sich schwer von der Welt heranziehen ließ und noch weniger
geneigt war, sie zu empfangen, legte er eine liebenswürdige Zuvor-
kommenheit an den Tag, wenn man ihn in seinem Hause aufsuchte.
Während er sich scheinbar um niemanden bekümmerte, gelang es
ihm, }eden auf die ihm angenehmste Weise zu beschäftigen und
ihm einen Beweis seiner Höflichkeit und Dienstfertigkeit zu geben.
Es galt eine fast misanthropische Abneigung zu überwinden,
bevor man Chopin dahin vermochte, sein Haus und sein Klavier
wenigstens seinen näheren Freunden zu öffnen, die ihn dringend
darum angingen. Mehr als einer der Beteiligten erinnert sich ohne
Zweifel noch der ersten, trotz seines Sträubens bei ihm improvi-
sierten Abendgesellschaft, als er noch in der Chaussde-d'Antin
wohnte. Sein Zimmer, darin man ihn plötzlich überfiel, war nur
von einigen Kerzen erleuchtet, die an einem Pleyelschen Flügel
brannten, welche Instrumente er wegen ihres silbernen, ein wenig
verschleierten Klanges und leichten Anschlags besonders liebte.
Ihm entlockte er Töne, die einer jener Harmonikas anzugehören
schienen, welche die alten Meister durch Vermählung von Kristall
und Wasser so sinnreich konstruierten, und deren poetisches Monopol
das romantische Deutschland bewahrt.
^ Der Pole behält in seinem Höflichkeitsformular die Übertreibungen
der orientalischen Sprache bei. Der Titel „sehr mächtiger" und „sehr er-
leuchteter Herr" (Jasnie Wielmozny, Jasnie Oswiecony Fan) sind noch jetzt
gebräuchlich. Im Gespräch redet man einander mit „Wohltäter" (Dobrodzlj)
an, und der übliche Gruß zwischen Männern oder Mann und Frau lautet:
„Ich lege mich Ihnen zu Füßen" (padam de nög). Dagegen ist der des Volkes
von antiker Feierlichkeit und Einfachheit: „Ehre sei Qottl" (Slawa Bohu.)
76 IV. Chopins Virtuosität ^^^
Die dunkel gelassenen Ecken schienen den Raum bis ins Grenzen-
lose auszudehnen; es war, als ob er in der Finsternis zerflösse. Im
Halbdunkel nahmen die lichten Möbel gespenstische Formen an.
Das um den Flügel konzentrierte Licht fiel auf das Parkett. Gleich
einer sich ergießenden Welle glitt es darüber hin und vereinigte sich
dem unruhigen Leuchten des Kaminfeuers, das zuweilen in rot-
gelben Flammen aufflackerte und sich zur Gestalt neugieriger
Gnomen zu verdichten schien, die die Laute ihrer Sprache herbei-
lockten. Nur ein einziges Porträt, das eines Pianisten, eines ihm
sympathischen und ihn bewundernden Freundes, der diesmal
gegenwärtig war, schien eingeladen, der beständige Zuhörer der auf-
und abflutenden Töne zu sein, die singend und träumend, seufzend
und grollend auf den Tasten des Instrumentes erstarben, neben
dem es seinen Platz hatte. Durch ein geistreiches Spiel des Zufalls
strahlte der Spiegel, um es vor unsem Augen zu verdoppeln, nur
das schöne Oval und die blonden Seidenlocken der Gräfin d*Agoult
wider, die so viele Maler abbildeten, und die auch der Kupferstich
für die Verehrer ihrer eleganten Feder vervielfältigte.
In dem Lichtkreise rings um den Flügel unterschied man mehrere
Köpfe von außergewöhnlicher Bedeutung. Heine, der trübsinnigste
der Humoristen, lauschte mit dem Anteil eines Landsmannes
Chopins Erzählungen über das geheimnisvolle Land, in dem auch
seine ätherische Phantasie gern verweilte, und dessen liebliche
Gefilde sie durchstreift hatte. Chopin und er verstanden sich schon
mit halb ausgesprochenen Worten und Tönen. Der Musiker be-
antwortete in seiner Sprache die leise gestellten Fragen des Dich-
ters nach den unbekannten Regionen, von denen er Kunde be-
gehrte; nach der „lächelnden Nymphe" i, von der er hören wollte,
ob sie „noch immer ihr grünliches Haar so reizvoll kokett mit dem
Silberschleier umhülle?" Vertraut mit dem Geplauder und der
galanten Chronik jenes Reichs, verlangte er zu wissen, „ob der
Meergott mit langem weißen Bart die widerspenstige Najade noch
immer mit seiner lächerlichen Liebe verfolge?" Bekannt mit all
der feenhaften Herrlichkeit, die man „da unten" schaut, fragte
^ Heine, Salon. Chopin.
Eine Soiree bei Chopin: Gräfin d'Agoult, Liszt. 77
er: „ob die Rosen dort noch immer in so stolzem Feuer erglühten,
ob die Bäume im Mondenschein noch immer so harmonisch
rauschten?"
Chopin antwortete. Nachdem sie sich lange und vertraulich
von den Reizen dieses luftigen Reichs unterhalten, versanken sie
in trübeis Schweigen, vom Heimweh übermannt, das Heine heim-
suchte, als er sich dem holländischen Kapitän des „Geisterschiffes"
verglich, das mit seiner Mannschaft ewig umhertreiben muß auf
den kalten Wogen. „Vergebens nach den Gewürzen, den Tulpen,
Hyazinthen, Meerschaumpfeifen und holländischen Porzellantassen
sich sehnend, ruft er aus: „„Amsterdam, Amsterdam l Wann sehen
wir dich wieder?"" während der Sturm im Takelwerk heult und
ihn bald dahin, bald dorthin wirft über dem wässerigen Höilen-
schlund." — „Ich begreife", fügt Heine hinzu, „die Verzweiflung,
mit der der unglückliche Kapitän eines Tages in die Worte aus-
brach: „„0, sollte ich je nach Amsterdam zurückkehren, so will
ich lieber ein Prellstein an einer seiner Straßenecken werden, als
diese Straßen jemals wieder verlassen!"" Armer van der Decken I
Sein Ideal war Amsterdam I" ...
Heine glaubte auf Haaresbreite die Leiden und Erfahrungen
des „armen van der Decken" während seiner end- und rastlosen
Fahrt über den Ozean zu kennen, der seine Krallen in das unver-
wüstliche Gewände seines Schiffes hineingrub und es festgebannt
hielt an seinen schwankenden Grund mit unsichtbarem Anker,
dessen Kette der kühne Seemann nicht zu finden und zu zerbrechen
vermochte. War der satirische Dichter aufgelegt, so erzählte er
uns von den Schmerzen und Hoffnungen, den verzweifelten Qualen
der Unglücklichen, die dies unselige Schiff bewphnten. Er selbst
hatte ja seine fluchbeladenen Planken unter Führerschaft einer
verliebten Undine betreten, die an Tagen, wo der Gast ihres
Korallenhains und Perlmutterpalastes sich noch mürrischer und
beißender als gewöhnlich vom Lager erhob, ihm zur Erheiterung
irgend ein Schauspiel bot, das dessen würdig war, der reichere
Wunder noch zu träumen verstand, als ihr Königreich umschloß.
Von solch gefeitem Kiele getragen, durchschifften Heine und
Chopin gemeinsam die Polarkreise, wo das Nordlicht, die strahlende
78 IV. Chopins Virtuosität
Leuchte der langen Nächte, seinen weiten Lichtkreis in den riesigen
Stalaktiten des ewigen Eises spiegelt; die Tropen, wo während
der kurzen Dunkelheit des Zodiakallichts wundersamer Glanz den
brennenden Sonnenschein ersetzt. Sie durchzogen im Fluge die
Breiten, wo das Leben verkümmert und wo es sich rasch verzehrt,
und lernten unterwegs all die Himmelswunder kennen, welche die
Bahn der Seefahrer bezeichnen, die kein Hafen erwartet. Von
ihrem steuerlosen Schiffe aus betrachteten sie die zahllosen Stern-
bilder, von den beiden Bären, die den nördlichen Himmel be-
herrschen, bis zu dem prächtigen Kreuz des Südens, wonach sich
zu Häupten und Füßen die Wüste des Südpols zu dehnen begannt,
die dem Auge nur noch einen öden, lichtlosen Himmel über ufer-
losen Meeresfluten zeigt. Zuweilen verfolgten sie die flüchtigen
Spuren der Sternschnuppen, dieser Leuchtkäfer des Himmels,
am azurnen Gewölbe; oder die Kometen mit ihrer unberechenbaren
Bahn, deren fremdartigen Glanz man fürchtet, und deren einsamer
Irrwandel doch so traurig und harmlos ist. Sie schauten Alde-
baran, dies ferne Gestirn, das, wie ein feindselig funkelndes Auge,
unserem Erdball aufzulauern scheint, aber ihm doch nicht zu naiwn
wi^ und wiederum die strahlenden Plejadai, die dem fragenden
Blick einen freundlich tröstenden Lichtgruß wie eine rätselhafte
Verheißung hemiedersenden.
Alles das hatte Heine in wechselnder Mannigfaltigkeit geschaut.
Und dazu noch vieles andere, wovon er uns in dunklen Gleichnissen
berichtete. Der rasenden Kavalkade der Herodias hatte er bel^
gewohnt und an Erlkönigs Hofe Zutritt gehabt; er hatte manch
goldnen Apfel im Garten der Hesperiden gepflückt und verkehrte
vertraulich an alt den Orten, die dem SterbMchen nur zugänglich
sind, wenn ihm eine Fee zur Patin geworden, welche es sich zur
Lebensaufgabe macht, die bösen Mächte in Schach zu halten und
die Kleinodien ihres Zauberschreitis über ihn auszustreuen. Da
er Chopin häufig von seinen Streifereien im übernatürüchen Reich
der Poesie unterhielt, wiederholte uns dieser in Tdnen seine Ge-
spräche und Schilderungen, offenbarte uns das Vernommene, und
Heine ließ ihn gewähren und vergaß unsere Gegenwart, während
er ihm lauschte.
Heine, Meyerbeer, Nourrit, Hiller. 79
An jenem Abend, von dem wir sprechen, saß an Heines Seite
Meyerbeer, für den alle Ausdrücke der Bewunderung längst er-
sehet sind. Er, der Urheber harmonischer Zyklopenbauten,
konnte stundenlang mit Wohlgefallen dem leichten Spiel der Ara-
besken folgen, die Chopins Gedanken wie mit einem durchsichtigen
Gewebe umhüllten.
Etwas entfernter saß Adolf Nourrit, der edle, enthusiastische
und doch so strenge Künstler. Ein aufrichtiger, ja fast asketischer
Katholik, träumte er mit der Inbrunst eines mittelalterlichen
Meisters von einer Zukunft der Kunst, die das Schöne in all seiner
Reinheit wiedergestalten und verherrlichen sollte. Während seiner
letzten Lebensjahre verweigerte er bei allen seichteren Opern seine
Mitwirkung, um in keuscher und begeisterter Andacht der Kunst
zu dienen, deren mannigfache Manifestationen er stets wie ein
heiliges Tabernakel betrachtete, „dessen Schönheit in der Wahrheit
berobt''. Heimlich unterwühlt von einer melancholischen Leiden-
schaft für das Schöne, schien auf seiner marmorbleichen Stirn schon
der verhängnisvolle Schatten zu lagern, über den die ausbrechende
Verzweiflung leider immer zu spät erst die Menschen aufklärt, die
so neugierig nach den Geheimnissen des Herzens forschen und sie
doch so wenig zu erraten vermögen.
Auch Hiller war zugegen. Seine Begabung war der der da-
maligen Neuerer, insbesondere Mendelssohn verwandt. Wir kamen
'läufig bei ihm zusammen. Indes er seine später veröffentlichten
großen Kompositionen, als erste derselben sein bemerkenswertes
Oratorium „Die Zerstörung Jerusalems" vorbereitete, schrieb er
die Klavierstücke: »Fantömes«, »R^veries« und seine Meyerbeer
gewidmeten vierundzwanzig Etüden. In ihrem kraftvollen Ent-
warf und ihrer vollendeten Zeichnung erinnern diese letzteren an
jene Baumschlagstudien, in denen die Landschaftsmaler oft in
einem einzigen Baum, einem Haidekraut, einem Büschel Wald*
blumen oder Moose, einem einzigen glücklich behandelten Motiv
ein ganzes kleines Gedicht von Licht und Schatten hinwerfen.
Eugene Delacroix, der Rubens der damaligen romantischen
Schule, stand verwundert und in sich gekehrt vor den Erschei-
nungen, weicht die Luft ringsum erfüllten, und deren leise Be*
^ IV. Chopins Virtuosität
rührung man zu spüren vermeinte. Fragte er sich, welche Palette,
welche Pinsel und Leinwand er wählen müsse, um ihnen das Leben
seiner Kunst zu leihen? Ob er dazu wohl einer von Arachne ge-
webten Leinwand, eines aus den Augenwimpern einer Fee ge-
fertigten Pinsels, einer mit dem Farbenduft des Regenbogens
bedeckten Palette bedürfe? Lächelte er über sich selbst bei solchen
Gedanken, oder gefiel es ihm, sich ganz dem Eindruck, der sie her-
vorrief, hinzugeben, da auch er, gleich andern großen Talenten,
sich gerade durch die mit ihm kontrastierenden Erscheinungen
angezogen fühlte?
Mit finster schweigendem Ernst und marmorner Bewegungs-
losigkeit hörte der bejahrte Niemcewicz, der unter uns allen dem
Grab am nächsten zu stehen schien, seinen eigenen „historischen
Gesängen'' zu, die Chopin für ihn, den zurückgebliebenen Zeugen
einer vergangenen Zeit, mit dramatischem Leben beseelte. In den
volkstümlichen Versen des polnischen Barden hallen Waffenlärm;
Siegeslieder, festliche Hymnen, Wehklagen erlauchter Gefangenen,
Preisgesänge gefallener Helden wider. Sie rufen vereint eine lange
Reihe von Ruhmestaten und Siegen, von Königen, Königinnen,
Hetmans in die Erinnerung zurück — und vor dem Geiste des Greises
entschwand die Gegenwart wie ein Trugbild, er glaubte die Ver-
gangenheit wieder auferstanden, so belebt erschienen ihre Schatten
unter Chopins Händen 1 —
Von den andern getrennt, düster und stumm, hob sich Mickie-
wicz' unbewegliche Silhouette ab. Dem Dante des Nordens dünkte
stets „bitter das Salz der Fremde und ihre Stufen schwer zu er-
klimmen". Umsonst mochte ihn Chopin an »Grazyna« und » Wallen-
rodft mahnen — dieser „Konrad'' blieb anscheinend taub für seine
schönen Melodien; seine Gegenwart allein bezeugte, daß er sie ver-
stand. Mehr, so meinte er mit Recht, dürfe niemand von ihm
verlangen.
Mit aufgestütztem Arm in einen Sessel zurückgelehnt, sah man
Frau George Sand, in regster Aufmerksamkeit gefesselt. Auf alles,
was sie hörte, verbreitete sich der Widerschein ihres feurigen Genius,
dem die nur wenigen Auserwählten verliehene Fähigkeit gegeben
war, in allen Gestaltungen der Kunst und Natur das Schöne heraus-
Delacroix, Niemcewicz, Mickiewicz, O. Sand. 81
zuerkennen. War dies vielleicht jenes Hellsehen, dessen höhere
Kräfte primitive Nationen in ihren Priesterinnen erkannten?
Jener Zauberblick des geistigen Auges, vor dem alle Hüllen herab-
fallen, um die darin inkamierte Seele des Dichters, das Ideal, das
der Künstler in Tönen oder Farben, in Marmor oder Stein, inLiedern
oder Dramen heraufbeschwor, in seiner innersten Wesenheit zur
Anschauung zu bringen? Die meisten von denen, die sie besitzen,
ahnen diese Gabe kaum, deren höchste Offenbarung sich durch
eine Art divinatorischen Orakels bezeugt, das, der Vergangenheit
bewußt, die Zukunft prophetisch kündet. Weit weniger verbreitet,
als man annehmen möchte, enthebt sie die von ihr Erleuchteten
der lästigen Bürde technischen Wissens, mit der andere mühselig
zu den geheimen Regionen empordringen, die sie im ersten An-
lauf erreichen. Weniger dem Studium der Geheimnisse wissen-
schaftlicher Analyse als dem vertrauten Verkehr mit den wunder-
reichen Synthesen der Natur und Kunst dankt diese Fähigkeit
ihren Aufschwung.
Im intimen Umgang mit der Schöpfung, der den eigentlichsten
Reiz des Landlebens bildet, gewinnt man der Natur und zugleich
der Kunst die Lösung der Rätsel ab, die sie in der unendlichen
Harmonie ihrer Linien, Töne und Lichter, ihres Donners und
Säuseins, ihrer Lust und ihrer Schrecken birgt. Unternimmt es
der Mut, der vor keinem Geheimnis, keiner Schwierigkeit zurück-
bebt, der Fülle dieser Erscheinungen nachzuforschen, so gelingt es
zuweilen, diesen Verwandtschaften und Gleichförmigkeiten, den
Wechselbeziehungen zwischen unseren Sinnen und Empfindungen
auf die Spur zu kommen und gleichzeitig mit dem verborgenen
Band, welches das Verwandte und doch Unähnliche, das Gleiche
und doch Widersprechende miteinander verknüpft, auch die Ab-
gründe zu erkennen, die durch eine schmale aber unüberschreit-
bare Kluft voneinander trennen, was sich nahen, aber nicht ver-
einen, gleichen, aber nicht vermischen soll. Frühzeitig die leisen
Stimmen der Natur zu vernehmen, durch welche sie ihre Lieblinge
in ihre Mysterien einweiht, ist des Dichters beneidetes Vorrecht.
Von ihr aber gelernt zu haben, auch in die Träume des Menschen
einzudringen, wenn er auf seine Weise den Schöpfer spielt und
LUzt, Gesammelte Schriften, l. V,Ar 6
82 IV. Chopins Individualität
ihr in seinen Werlcen die T<^e des Schrecicens und der Lust ab-
lauscht, ist eine noch subtilere Gabe, weldte die Diditerin, ver-
möge eines zwiefachen Rechts: der Intuition ihres Herzens und
ihres Genius, besitzt.
Nachdem vnr diejenige genannt, deren energische Persönlich-
keit und zaubermächtiges Wesen der schwachen und zarten Natur
Chopins eine Bewunderung einflößte, die ihn verzehrte — gleich-
wie zu feuriger Wein das zerbrechliche Gefäß zersprengt, darin er
aufbewahrt wird — wollen wir keine anderen Namen mehr aus dem
Schattenreich der Vergangenheit heraufrufen. Ach! wie viele von
all den Interessen, Bestrebungen und Wünschen, Neigungen und
Leidenschaften, die eine Epoche erfüllen, während welcher der Zu-
fall mehrere hochgeartete Geister zusammenführte, tragen ge-
nügende Lebenskraft in sich, um die mannigfachen Vernichtungs-
gefahren siegreich zu überwinden, wie sie die Wiege einer jeden Idee,
eines jeden Gefühls, eines }eden Individuums umstehen? Wie
viele sind ihrer denn, auf die nicht zu irgend einer Zeit ihres längeren
oder kürzeren Daseins das traurige Wort Anwendung gefunden
hätte: „Wohl ihm, wenn er tot, und mehr noch, wenn er nie ge-
boren wäre!" Wie viele von all den Empfindungen, die ein edles
Herz höher schlagen ließen, verfielen denn nicht diesem grau-
samen Fluche? Es gibt vielleicht keinen einzigen, der, wenn er
emporstiege aus seinem Grabe, um, wie der als Selbstmörder ge-
fallene Liebhaber im Gedicht von Mickiewicz, am Allerseelentage
sein Leben von neuem zu beginnen und seine Leiden noch einmal
zu erdulden, ohne Wundenmale und Verstümmelungen erscheinen
würde, die seine ursprüngliche Schönheit und Reinheit entstellten
und befleckten.
Wie viele aber fänden sich wohl unter diesen wiederkehrenden
Schatten, deren Schönheit und Reinheit bei ihren Lebzeiten solch
mächtigen Zauber und himmlischen Glanz ausstrahlten, daß sie
nicht fürchten müßten, nach ihrem Tode von d^^n verletzet
zu werden, deren Freude und Qual sie gewesen? Welch unabseh-
barer Leichenschau bedürfte es nicht, um alle einzeln aufzurufen
und ihnen Rechenschaft abzufordern über das Gute und Böse, was
sie an den sie bereitwillig aufnehmenden Herzen anderer und an
^ Das OöttHche im Genius. 88
deren Welt getan, die sie verschönten oder verunstalteten, ver-
heniiditen oder verwüsteten, jt nach ihrer Laune Spiel!
Wenn aber unter den Menschen, die diese Gruppen bildeten,
von denen jeder einzelne die Aufmerksamkeit vieler auf sich zog
und in seinem Gewissen den Sporn großer Verantwortlichkeit trug,
einer ist, der diese Ausstrahlungen vereinter Geister vor Vergessen-
heit bewahrte, der, alles Unreine aus seinem Gedächtnis verban-
nend, der Kunst nur das unberiUirte Erbteil seiner heiligsten Emp-
findungen hinterließ, so erkennen wir in ihm einen jener Auser-
wählten, deren Existenz die Volkspoesie durch den Glauben an
,,gute Geister'' bestätigt. Wird, wenn sie solchen den Menschen
zugetanen Wesen eine höhere Natur als den gewöhnlichen zuschreibt,
dies nicht durch einen Ausspruch des großen italienischen Dichters
M^oizoni bekräftigt, der in dem Genius einen „stärker ausge-
prägten Stempel der Göttlichkeit'* erblickt? Beugen wir uns so-
mit vor allen^ die mit dem mystischen Siegel gezeichnet sind;
aber bringen wir vornehmlich denen unsere Liebe und Verehrung
dar, lue wie Chopin ihre Überlegenheit nur dazu anwandten, den
schönsten Empfindung^ Leben und Ausdruck zu verleihen I
V.
Eine natürlidie Neugier wendet sich dem äußeren Leben her-
vorragender Menschen zu, deren Denken und Empfinden in Werken
der Kunst Gestalt gewann, in denen es meteorengldch vor den
Augen einer erstaunten und entzückten Menge glänzt.
Gern überträgt diese letztere die von ihnen erregten bewundern-
den und sympathischen Eindrücke auf ihre Namen , die sie alsbald
vergöttra-t und zum Symbol der Vornehmheit und Größe machen
möchte, zu dem Glauben geneigt, daß die, welche so reine, schöne
Gefühle ausgesprochen, überhaupt keiner anderen fähig seien.
Diesem wohlwollenden Vorurteil aber verbindet sich notwendig
das Bedürfnis, es durch das Leben derer, auf welche es «ich bezieht,
gerechtfertigt zu sehen. Wenn man in den Werken des EHchters
seinen sedenvollen Schilderungen der zartesten und verschwiegen-
sten Cmpänduttgen folgt, wenn man seinen Genius belauscht, wie
6*
84 V. Chopins Individualität.
er, große Situationen beherrschend, sich ruhig über der Menschen
Schicksale erhebt, die Verschlingungen der scheinbar unentwirr-
barsten Knoten löst und über alle Größen und Katastrophen der
Welt sich zu höchsten Höhen emporschwingt, wenn man ihn mit
dem Geheimnis der ganzen Gefühlsskala und ihren Modulationen
vertraut sieht: so liegt die Frage wohl nahe, ob diese staunenswerte
Divination das Wunder des aufrichtigen Glaubens an diese Ge-
fühle, oder vielmehr eine geschickte Abstraktion des Gedankens,
ein Spiel des Geistes sei?
Man fragt und forscht unwillkürlich, worin das Dasein dieser
in den Dienst des Schönen gebannten Menschen sich von dem des
gemeinen Haufens unterschied? Wie sich der dichterische Stolz
in ihnen bewährte, sobald er mit der Prosa des Lebens und den
positiven Interessen in Widerstreit geriet? Ob die Liebesgefühle,
von denen der Dichter singt, sich in Wahrheit rein erhielten von
Bitterkeit und Eigensucht, die sie gemeinhin vergiften? Ob sie
nichts von Flüchtigkeit und Unbestand gewußt, die sie im alltäg-
lichen Leben so häufig des Wertes berauben? Man begehrt zu
wissen, ob sie, die so gerechte Entrüstung empfanden, selbst allzeit
gerecht gedacht? Ob sie, die die Unbestechlichkeit priesen, niemals
ihr eigenes Gewissen verkauften? Ob sie, die die Ehre feierten,
sich nie verzagt gezeigt? Ob sie, die die Tapferkeit so bewunderns-
wert schilderten, sich nicht mit ihren eigenen Schwächen abzu-
finden hatten?
Viele haben ein Interesse daran, die Verträge zu kennen, die
auf Kosten von Ehre, Redlichkeit und Zartgefühl, zugunsten ehr-
geiziger Bestrebungen und materiellen Gewinns von denen ge-
schlossen wurden, welchen die schöne Aufgabe zufiel, unseren Glau-
ben an edle und große Gefühle aufrecht zu erhalten, indem sie
diesen, auch wenn ihnen anderwärts keine Zuflucht mehr bliebe,
in der Kunst eine dauernde Stätte bereiten. Denn vielen dienen
ja jene traurigen Verträge, denen sich Geister unterwerfen, die
das Erhabene so hehr darzustellen, das Niederträchtige so zu brand-
marken wissen, als unwiderlegUcher Beweis dafür, daß es Unmög-
lichkeit oder Torheit wäre, dieselben von sich zu weisen. Sie machen
diesen Beweis zur willkommenen Grundlage ihrer Behauptung,
Widerstreit des Künstlers mit der Lebensprosa. 86
daß derlei Übereinkünfte zwisclien dem Edlen und Unedlen,
zwischen dem Großen und Armseligen, dem Häßlichen und dem
sittlich Schönen von der Schwachheit unseres Wesens und der
zwingenden Macht der Dinge unzertrennlich seien, da sie zugleich
aus der Natur der Menschen und der Dinge hervorgingen.
Bieten nun unselige Beispiele den „Realisten" in der Moral
eine beklagenswerte Stütze für ihre lächerlichen Behauptungen,
wie schnell sind sie dann damit fertig, die schönsten Eingebungen
des Dichters als eitle Truggebilde zu bezeichnen! Wie überweise
dünken sie sich, wenn sie die Lehre von einer honigsüßen und doch
rohen Heuchelei, von einem beständigen geheimen Zwiespalt
zwischen Worten und Taten predigen! Mit welch grausamer
Freude führen sie diese Beispiele den Schwachen und Schwanken-
den vor, deren jugendliche Bestrebungen oder abnehmende Be-
deutung sich, dank einer bessern Überzeugung, noch solchem
Vertrag zu entziehen suchen! Wie tief entmutigend aber wiÄt
es auf letztere, wenn sie bei jeder durch eine Wendung des Lebens-
wegs bedingten Entscheidung oder Lockung daran gemahnt wer-
den, daß die, welche dem Schönen, Guten und Wahren so ganz hin-
gegeben schienen, doch in ihren Taten den Gegenstand ihres Kultus
und ihrer künstlerischen Begeisterung verleugneten! Müssen sie
angesichts solch schreiender Widersprüche nicht peinvolle Zweifel
ergreifen?
Am schmerzlichsten freilich wohl berührt der bittere Spott, der
sich über ihre Qualen ergießt, wenn jene anderen, die Kunst lästernd
und verneinend, sagen: „Poesie ist etwas, was sein könnte, aber
nicht ist!** Und doch! Die Gottheit bezeugt, jedes Gewissen wieder-
holt es, die Gerechten erkennen, alle fühlenden Herzen empfinden
es, alle Helden und Heiligen tun es kund: die Poesie ist nicht nur
ein Schatten, den unsere Einbildungskraft in ungemessener Ver-
größerung auf den luftigen Grund des Unmöglichen wirft. Poesie
und Wirklichkeit, „Dichtung und Wahrheit" sind nimmermehr
zwei unvereinbare Elemente, die nur nebeneinander hergehen, aber
sich niemals durchdringen können! Zeugt doch selbst Goethes
Wort dafür, wenn er von einem zeitgenössischen Dichter sagt:
„Er lebte dichtend und dichtete lebend." Goethe selbst war viel
86 V. Chopins Individualität
zu sehr Dichter, um nicht zu wissen, daß die Poesie ihren Daseins-
grund und ihre ewige Wahrheit in den schönsten Trieben des mensch-
lichen Herzens findet. Das eben ist das Geheimnis, das der y,olym-
pische Greis'* in seinen alten Tagen „hineingeheimniste*' in sein
mächtiges Faus^edicht, dessen letzte Szene uns zeigt, wie die Poesie,
durch die Phantasie emporgetragen, sich den Erdball gewinnt, alle
Gebiete der Geschichte beherrscht und in himmlische Sphären
zurückkehrt, von Buße und Fürbitte geleitet.
Wir haben früher einmal an anderer SteUe ausgesprochen:
„Nicht minder als der Adel verpflichtet das Genieß." Heute möch-
ten wir sagen: „Mehr noch als der Adel verpflichtet das Genie."
Denn der Adel ist wie alles, was von Menschen kommt, seiner
Natur nach unvollkommen; das Genie dagegen würde wie alles
von Gott Kommende naturgemäß vollkommen sein, wenn nicht
eben der Mensch es unvollkommen machte. Er allein entstellt es
und würdigt es herab, seinen Leidenschaften und Illusionen zu Ge-
fallen. Der Genius hat seine Mission; schon sein Name besagt es,
der an die himmlischen Wesen gemahnt, die zu Boten der Vor-
sehung ausersehen sind. Es ist nicht -die Aufgabe des dem Künst-
ler und Dichter verliehenen Genies, das Wahre zu lehren, das Gute
zu gebieten. Einer göttlichen Offenbarung allein steht eine s(^che
Macht zu, und eine edle Philosophie bringt sie dem menschlichen
Verstand und Gewissen näher. Der Genius der Poesie und Kunst
hat vielmehr die Mission, die Schönheit der Wahrheit vor der ent-
zückten und erhobenen Einbildungskraft leuchten zu lassen; durch
das Schöne zum Guten alle anzuregen, die sich zu jenen hohen Re-
gionen des sittlichen Lebens hingezogen fühlen, wo die Großmut
zur Freude, das Opfer zur Lust, der Heldenmut zum Bedürfnis
wird, wo das Mitleiden an die Stelle der Leidenschaft tritt tmcl die
Liebe nichts fordert, da sie in sich selbst genug zum Geben findet.
Kunst und Poesie sind eben die Bundesgenossen der Philosophie,
und sie sind ihr geradeso unentbehrlich, als der Glanz der Farben
und die Harmonie der Töne es der vollkommenen Einheit der
Natur sind.
^ Über Paganiiii, nach seinem Tode.
Das Genie ven>fSfchtei 87
Gleich dem Verkünder des Wahren und göttlich Guten, dem
Dolmetscher des menschlichen Verstandes und Gewissens, soll auch
der Vermittler des Schönen in Poesie und Kunst nicht allein durch
die Werke seines Verstandes und seiner Einbildungskraft, sondern
auch durch die Taten seines Lebens handein; er soll sein Singen
und Sagen, sein Denken und Tun in Übereinstimmung bringen.
Das schuldet er sich selbst, schuldet er seiner Kunst und Muse,
dafem man seine Poesie nicht eine Truggestalt, seine Kunst nicht
ein kindisches Spiel heißen soll. Ohne das Beispiel des Künstlers
und Diehters wird die Majestät der Kunst erniedrigt und verhöhnt,
die Wahrtfcit der Poesie angezweifelt und verleugnet
Die kalte Erhabenheit oder Uneigennützigkeit einiger strenger
Charaktere mag der Bewunderung ruhiger und überlegter Naturen
gentigen. Leidenschaftlichere, beweglichere Organisationen jedoch,
denen jedes laue Mittelmaß abgeschmackt dünkt, die die Freuden
der Ehre oder die um jeden Preis erkaufte Lust eifrig erstreben,
lassen es nicht bei Beispielen bewenden, deren steifer Form der
Reiz des rätselhaft Anziehenden so ganz gebricht. Zu jenen anderen
vielmehr wenden sie den fragenden Blick, die vom siedend heißen
Quell des Schmerzes getrunken, der am Fuße der Klippen hervor-
sprudelt, auf denen sich die Seele ihren Horst erbaut. Sie sagen
sich gern los von den greisenhaften Autoritäten und bestreiten
deren Kompetenz. Sie klagen sie an, daß sie zugunsten ihrer ver-
trockneten Ansichten die Welt an sich reißen, daß sie über Wir-
kungen gebieten wollen, deren Ursachen sie nicht kennen, daß
sie Gesetze ausrufen in Sphären, die ihnen doch unzugänglich
sind» Und an denen g^hen sie vorüber, die mit schweijgsamer
Würde das Gute üben, aber der Begeisterung für das Schöne nicht
fähig sind. Nimmt sich die heißblütige Jugend wohl Zeit, ihr
Schweigen zu deuten, ihre Probleme zu lösen? Zu rasch ist der
Schlag ihres Herzens, um ihr einen tieferen Einblick in die geheim«,
nisvölten Kämpfe und Leiden, das einsame Ringen zu verstatten,
die sich zuweilen hinter dem ruhigen BKck des Gerechten verbergen.
Seme stille Einfalt, sein stoisches Lächeln verstehen diese erregten
Gemüter kaum. Exaltation, Aufregungen sind ihn^ Bedürfnis.
E^ Bild überredet, Gleichnisse überzeugen sie, Tränen gelten
88 V. Chopins Individualität
ihnen als Beweise. Lieber als ermüdenden Gründen geben sie der
Sprache der Begeisterung Gehör. So wie sich aber der Sinn für
Recht und Unrecht nur langsam bei ihnen abstumpft, gehen sie
auch nicht ungestüm vom einen zum andern über. Sie richten
ihren neugierigen Blick auf die Dichter und Künstler, deren Bilder-
reichtum sie hinriß, deren Gestalten und Gedankenschwung sie be-
wegte und entzückte. Von ihnen begehren sie Aufschluß über die
Kräfte, die in ihnen wirken.
In Stunden der Verzweiflung versäumt wohl keiner, die Schatten
ruhmreicher Verstorbenen anzurufen, um von ihnen zu erfahren,
ob ihre Bestrebungen immer aufrichtig und dauernd gewesen, um
zu unterscheiden, was bei ihnen nur Spekulation des Geistes, oder
was eine stete Gewohnheit ihrer Empfindungen war? Zu solchen
Stunden taucht auch die Verleumdung, die zu anderen Zeiten
zurückgewiesen wurde, wieder auf. Gierig bemächtigt sie sich
der Schwächen, der Fehler und Versäumnisse derer, welche die
Fehler und Schwächen geißelten — und nicht eine einzige entgeht
ihrem Scharfblick. Sie reißt ihre Beute an sich und spürt den
Handlungen nach, um mit scheinbarem Recht die Begeisterung
verachten zu dürfen, der sie keinen anderen Zweck zugesteht,
als uns eine angenehme Unterhaltung, eine Zerstreuung für Fein-
schmecker zu gewähren, wie sie sich die Vornehmen aller Länder
zu Zeiten einer erhöhten Zivilisation verschaffen. Hartnäckig be-
streitet sie der Inspiration des Dichters und Künstlers die Macht,
unser Handeln und Entschließen, unser Wollen und Versagen zu
beeinflussen.
Die höhnische, schamlose Verleumdung versteht es trefflich,
der Geschichte Ernte zu sichten! Das gute Korn läßt sie fallen,
indes sie die Spreu sorglich sammelt, um sie über die glanzvolle
Schöpfung des Dichters auszustreuen, aus der das reinste Herzens-
. verlangen, die edelsten Phantasiegebilde sprechen. Dann fragt
sie in spöttischer Siegesgewißheit: „Was nützen diese Abschwei-
fungen in ein Gebiet, auf dem man keine Frucht erntet? Welchen
Wert haben diese Aufregung, diese Begeisterung, die nur auf Be-
rechnung des Vorteils hinauslaufen, während sie die eigennützige
Absicht verdecken? Was ist's um diese reine Saat, der nur die
Einheit zwischen Denken und Tun des Künstlers. 89
Hungersnot entkeimt? Was ist's um diese schönen Worte, die nur
unfruchtbare Gefühle erzeugen? Ein Zeitvertreib für Paläste,
den Bürgerstand und Hütte teilen, wenngleich nur naive Gemüter
das Erdichtete für Ernst Aehmen, im gutmütigen Glauben, daß
Pc^ie zur Wirklichkeit werden könne l"
Mit welch anmaßendem Spott weiß die Verleumdung dann
wieder den edlen Aufschwung und die unwürdige Herablassung
des Dichters, den schönen Gesang und die strafbare Leichtfertig-
keit des Künstlers hervorzuheben! Wie überlegen blickt sie herab
auf den löblichen Fleiß der „guten Leute'', die sie wie Schaltiere
betrachtet, die über die Unbeweglichkeit einer dürftigen Organi-
sation nicht hinauskommen; nicht minder auf den Stolz der Stoiker,
die es noch weniger als jene ersten über sich gewinnen, der atem-
losen Jagd nach dem Glücke mit seinen eitlen Freuden und Augen-
blicksgenüssen zu entsagen I Wie bevorzugt fühlt sich die Ver-
leumdung in der logischen Übereinstimmung ihres Strebens und
Vemeinens! Wie rasch triumphiert sie über das Zaudern, die Un-
entschiedenheit derer, welche die Gaben der Phantasie, des Geistes
und Herzens für vereinbar mit einem unbescholtenen Charakter
und einem Wandel halten, der in seiner makellosen Reinheit nie
das poetische Ideal verleugnet!
Wie müßte uns demnach nicht tiefe Traurigkeit überkommen,
sooft wir den Dichter widerstreben sehen gegen die Eingebungen
der Musen, die ihm doch so gut lehren könnten, aus seinem Leben
das schönste seiner Gedichte zi) gestalten? Welch unglückselige
Zweifelsucht, welche Entmutigung und Glaubensuntreue haben oft
die Schwächen des Künstlers zur Folge! Wie viele, die an der
göttlichen Offenbarung, die sie nicht kennen, zweifeln, belächeln
voll bittrer Verachtung die menschliche Philosophie und wissen
nicht mehr, woran sie sich halten, an was sie glauben sollen, wenn
nicht an die Macht des Schönen, nicht an den Genius!
Und dennoch wäre es Gotteslästerung, wollte man gegen der-
artige Verirrungen den gleichen Bannstrahl schleudern, der die
Sklavendemut der Gemeinheit oder die prahlerische Schamlosig-
keit trifft. Es wäre Gotteslästerung; denn wenn die Tat des Dich-
ters zuweilen auch seinen Gesang Lügen strafte, hat sein Gesang
90 V. Chopins Indtvtdualitat
nicht mehr noch seine Tat beschämt? Vermag sein Werk nicht
viel entschiedener noch heilsam und tugendförderlich zu wirken
als seine Handlung vielleicht nachteilig wirkt? Es ist wahr, das
Böse ist ansteckend; das Gute aber ist fruchtbar! Und wenn audi
die Zeitgenossen das frevelnde Genie, den durch unrechtmäßig
erworbenen Luxus befleckten Dichter, den durch seine Taten sein
Ideal beschimpfenden Künstler verurteilen) die Nachwett vergißt
diese bösen Könige im Reiche des Gedankens, wie sie den Namen
des bösen Königs vergaß, der in Uhiands Ballade die geweihte
Person des Sängers mißkannte. Sie überantwortet ihr Gedächtnis
dem Hochgericht des Nicht-Seins. Ihre Erlebnisse kennt keiner
mehr, während ihre erhabenen Werke von Jahrhundert zu Jahr-
hundert die Seelen erquicken, die nach dem Schönen dürsten.
Der seinem Glauben abtrünnige Dichter und Künstler ist dem-
gemäß nimmermehr mit denen zu vergleichen, deren Tod nur die
schlimme Spur ihrer Laster, nur die Trümmer hinterläßt, die sie
aufhäuften, als sie, die „den Wind gesäet, den Sturm ernteten''.
Sie sühnen nicht das vergängliche Unrecht, das sie getan, durch
einen bleibenden Segen, den sie gestiftet. Ungerecht wäre es also.
Dichter und Künstler zu schmähen, ohne zuvor auf die schwere
Schuld derer hinzuweisen, die ihnen erst den Weg dazu bahnten.
Selbst wenn der Dichter, statt seinen Adlerflug zur Sonne zu
nehmen, seine Überzeugungen unwürdigen Leidenschaften und
Vorteilen unterordnet, hat er darum doch nichtsdestoweniger Ge-
sinnungen verherrlicht, die, auch wenn sie nicht im Einklang mit
seinem Leben stehen, diesem doch einen ungleich weitertragenden
Einfluß als seinem Privatleben verleihen. Selbst wenn der Künst-
ler den Versuchungen einer unreinen oder strafbaren Liei>e tmter-
liegt, wenn er Wohltaten und Gunstbezeigungen annimmt, die ihn
beschämen und demütigen, hat er doch nichtsdestoweniger das
Ideal der Liebe, entsagungsvoller Tugend und unschuldiger Reinheit
mit einem unsterblichen Glorienschein geschmückt. Seine Schöp-
fungen überleben ihn. Sie werden die Liebe zum Wahren, das Stre-
ben zum Guten noch in Tausenden von Seelen verbreiten, nachdem
die seine anderwärts die hier begangenen Sünden abgebüßt hat
und sich im Lichte des Guten sonnt^ das sie geträumt, bi Wahrheit,
Die Kunst ist mächtiger als der Künstler. 91
mehr Trost und Erhebung haben des Dichters und Künstlers Werke
gespendet als die SchwaMkungen ihres äußeren Daseins Unheil zu
wirken vermochten.
Die Kunst ist mächtiger als der Künstler. Seine Gestalten
und Helden haben ein von seinem unsteten Willen unabhängiges
Leben; denn sie sind eine Offenbarung des unwandelbar Schiinen.
Minder vergänglich als er, gehen sie in unverwelklicher Jugend
von Geschledit zu Geschlecht über, eine erlösende Kraft für ihren
Urheber in sich tragend. Wie man jede gute Tat auch eine schöne
nennen kann, kann man jedes schöne Werk ebensowohl als ein
gutes bezeichnen.
Wenn nun leider manche von denen, welche die Taten ihrer
künstlerischen Begeisterung unsterblich machten, gleichwohl ihre
Begeisterung erstickten und ihr Ideal mit Füßen traten, so daß ihr
trauriges Beispiel vielen verderblich ward, so haben sie dagegen
vielen anderen durch ihr Genie Kräftigung und Ermutigung,
Stärkung im Wahren und Guten geboten. Nachsicht wäre darum
ihnen gegenüber wohl nur Gerechtigkeit. Wie schwer aber ist es,
Gerechtigkeit zu fordern! Wie mißlich ist es, verteidigen zu sollen,
wo man nur bewtmdem, entschuldigen, wo man nur verehren
möchte!
Welche Genugtuung gewährt es daher dem Freund, ein Leben
ins Gedächtnis zurückzurufen, in dem man keinen verletzenden
Mißlaut, keinen Nachsicht erheischenden Widerspruch, keinen
schwer entschuldbaren Irrtum, keine störenden Extreme zu be-
klagen hat! Wie stolz nennt der Künstler den Namen dessen,
des Leben bezeugt, daß nicht nur die apathischen Naturen —
die, keiner Verführung wie keiner Täuschung fähig, sich leicht
auf die strenge Beobachtung ehrbarer Gesetze beschränken —
eine Seelengröße zu behaupten imstande sind, welche keinem
Schicksalsschlage unterliegt und sich in keinem Augenblick des
Lebens verleugnet! Das eben macht Chopins Andenken nicht
aHein den Freunden und Künstlern, denen er auf seinem Lebens«
weg begegnete, doppelt teuer, sondern auch den unbekannten
Freunden seines Schaffens, wie den Künstlern, die seiner Nachfolge
Yftrt zu sein trachten.
92 V. Chopins Individualität
Nicht in der verstecktesten Falte seines Herzens barg Chopin
eine Regung, einen Gedanken, die nicht ly^om zartesten Ehrgefühl,
von der edelsten Harmonie der Empfindungen eingegeben gewesen
wären. Und doch schien nie eine Natur mehr berufen, sich wunder-
liche 'Einfälle, plötzliche Sonderbarkeiten, verzeihliche aber uner-
trägliche Schwächen vergeben zu lassen. Seine Einbildungskraft
war glühend, sein Empfinden steigerte sich bis zur Heftigkeit —
seine körperliche Organisation war schwach und kränklich. Wer
mag die aus solchem Gegensatz entspringenden Leiden ergründen?
Sie waren sicherlich peinvoll genug, und dennoch trug er sie nie
zur Schau. Wie ein Heiligtum hütete er sein eigenes Geheimnis
und verbarg seine Leiden vor aller Blicken unter der undurch-
dringlichen Heiterkeit einer stolzen Resignation.
Die Zartheit seines Körpers wie seiner Seele legte ihm das
weibliche Märtyrertum nie eingestandener Qualen auf und gab
seinem Schicksal einige weibliche Züge. Durch seine schwache
Gesundheit vom Kampfplatz gewöhnlicher Tätigkeit ausgeschlossen,
ohne Neigung, sich dem unnützen Schwärm summender Hornissen
und Bienen zu einen, die den Überfluß ihrer Kraft vergeuden,
schuf er sich eine Zelle abseits der gebahnten und betretenen Wege.
Er vereinfachte sein Leben nach Kräften, so wenig günstig sich
ihm hierbei die Umstände erwiesen. Seine Empfindungen und
Eindrücke bildeten für ihn die Ereignisse, die ihm wichtiger und
bedeutsamer erschienen als die Wechselfälle der Außenwelt. Mit
den Stunden, die er regelmäßig und beharrlich erteilte, erfüllte
er gleichsam seine tägliche häusliche Aufgabe, der er mit Gewissen-
haftigkeit und Befriedigung oblag. Er ergoß sein ganzes Herz
in seine Tongedichte, wie andere es im Gebet ergießen. Da strömte
er die zurückgedrängten Gefühle, die unaussprechliche Traurigkeit
und Bekümmernis aus, die fromme Seelen im stillen Zwiegespräch
mit ihrem Gotte laut werden lassen. Was jene nur stammeln,
das künden uns seine Werke: die Geheimnisse der Leidenschaft
und des Schmerzes, die der Mensch ohne Worte versteht, da es
ihm nicht gegeben ward, sie mit Worten zu benennen.
Die Sorgfalt, mit der Chopin das unruhige (den Deutschen
wohl als unästhetisch geltende) Hin und Her des Lebens, jede über*
Chopins vornehme, doch widerspruchsvolle Natur. 93
flüssige Abschweifung und Zersplitterung vermied, hat es mit sich
gebracht, daß das seine arm an äußeren Ereignissen blieb. In
unbestimmten Linien erscheint sein Bild, wie von einem Duft um-
flossen, der sich verflüchtigt, wenn ihn eine indiskrete Hand zu
fassen vermeint. An keiner hervorragenden Tat, an keiner Knoten-
schürzung und -lösung hat er sich beteiligt. Auf keine Existenz
hat er entscheidenden Einfluß geübt. Seine Leidenschaft griff
nie in anderer Wünsche ein, seines Geistes Herrschaft schädigte
und unterdrückte niemanden. Den Despotismus des Herzens hat
er nie geübt, nie die erobernde Hand an ein fremdes Schicksal ge-
legt: er begehrte nichts, und etwas zu fordern hätte er verschmäht.
Wie von Tasso konnte man von ihm sagen:
Brama assai, poco spera, nulla chiede.
[Viel ersehnt er, wenig hofft er, nichts verlangt er.]
Aber er entschlüpfte auch allen Verbindungen, allen Freund-
schaftsverhältnissen und Fesseln, die ihn mit fortzureißen und in
unruhvollere Kreise zu ziehen drohten. Bereit, alles zu geben,
gab er sich selbst doch nicht. Vielleicht war er sich bewußt, welch
rückhaltlose Hingebung und Liebe er verdiene und zu teilen fähig
sei. Vielleicht dachte er, wie manche hochstrebende Seele, daß Liebe
und Freundschaft nichts sind, wenn sie nicht alles sind. Wer weiß,
ob es ihm nicht mehr kostete, sich mit solcher Teilung zu begnügen,
als es ihm gekostet haben würde, an diesen Gefühlen vorüber-
zugehen und sie nur in unrealisierbarem Ideale zu kennen 1 War
dem also, so hat doch keiner sicher darum gewußt; denn er sprach
kaum von Liebe und Freundschaft. Er war nicht anspruchsvoll,
gleich jemandem, dessen Rechte und begründete Anforderungen
alles weit übersteigen würden, was man ihm zu bieten vermöchte.
In das Allerheiligste seines Herzens drangen selbst seine nächsten
Bekannten nicht ein und, dem äußeren Leben abgekehrt, verschloß
er es sorglich vor aller Blicken.
Im geselligen Verkehr und Gespräch schien er sich nur für das
zu interessieren, was die anderen beschäftigte; er hütete sich, sie aus
dem eigenen Kreis in den seinigen hinüberzuziehen. Opferte er
wenig von seiner Zeit, so gab er die, weiche er opferte, auch ganz
94 V. Chopins IndividuaHtät.
und ohne Vorbehalt. Was er geträumt und gewünscht, erstrebt
und errungen hätte, wenn seine schlanke weiße Hand den goldenen
Saiten seiner Leier eherne zu vermählen vermocht hätte, darnach
fragte ihn niemand, niemand behielt ja in seiner Gegenwart Muße,
daran zu denken. Seine Unterhaltung wandte sich selten auf-
regenden Gegenständen zu. Et glitt über dieselben hinweg, und
da er haushälterisch mit seinen Minuten umging, war das GespräcJ»
leicht durch die Ereignisse des Tages ausgefüllt. Sorglich wehrte
er namentlich jede Redewendung ab, die ihn zum Gegenstand nehmen
konnte. Doch forderte seine Individualität die fraglustige oder
grübelnde Neugier keineswegs heraus. Das Wohlgefallen an ihm
war ein zu unwillkürliches, als daß es zur Überlegung Zeit ließ.
Seine ganze persönliche Erscheinung schien in ihrer Harmonie
keines Kommentars zu bedürfen. Sein blaues Auge war mehr
geistvoll als träumerisch, sein Lächeln fein und mild, nie bitter.
Sein Teint war zart und durchsichtig, sein blondes Haar seiden-
artig, seine gebogene Nase ausdrucksvoll, seine Gestalt von mittlerer
Größe, sein Gliederbau schwach. Er war von anmutiger Beweg-
lichkeit. Seine Stimme klang ein wenig gedämpft, oft fast erstickt.
Seine Haltung trug ein so vornehmes Gepräge, daß man ihn unwill-
kürlich wie einen Fürsten behandelte. Seine ganze Erscheinung er-
innerte an die Winde, deren auf zartem Stiel sich wiegender Kekh
von wunderbarer Farbenpracht, aber von so duftigem Gewebe ist,
daß es bei der leisesten Berührung zerreißt.
Im Verkehr mit der Welt bewahrte er eine Gleichmäßigkeit der
Stimmung, die sich durch keinen Verdruß stören läßt, da sie sich
auf keinen Wunsch, keine Erwartung stützt. Meist war er heiter.
Rasch entdeckte sein scharfer Verstand das Lächerliche, auch wo
es keineswegs allen Augen sichtbar auf der Oberfläche lag. Im
Gebärdenspiel entfaltete er eine nicht leicht zu erschöpfende spaß-
hafte Laune. Er vergnügte sich oft damit, in scherzhaften Im-
provisationen die musikalischen Formeln und eigentümlichen Ge-
wohnheiten gewisser Virtuosen wiederzugeben, ihre Bewegungen
und Gebärden, wie ihren Gesichtsausdruck mit einer Geschicküdi-
keit nachzuahmen, die at^enblicklich die ganze Persönlichkeit
vergegenwärtigte. Seine Züge wurden dann völlig unkenntlich,
Chopins persönliche Ersäfiefaiung, seine Verkehrsweise. 95
$0 fremdartig wu&te er sie umzuwandeln. Aber selbst wenn er
das HäfiJiche und Oroteske darstellte, verlor er nicht seine natür-
liche Anmut; selbst der Grimasse gelang es nicht, ihn unschön er-
scheinen zu lassen. Seine Heiterkeit war um so pikanter, als er sie
stets innerhalb der maß- und taktvollsten Grenzen hielt. Ein un-
passendes Wort, eine T^Uctlosigkeit erachtete er selbst im ver-
trauten Kreis für anstößig.
Schon in seiner Eigenschaft als Pole war Chopin nicht ohne
Malice. Sein beständiger Umgang mit Berlioz, Hiller und anderen
nicht weniger schlagfertigen und sarkastischen Berühmtheiten der
Zeit verfehlte nicht, seine schneidenden Bemerkungen, seine iro-
nischen und dopf^lsinnigen Antworten noch mehr zu verschärfen.
Beißende Entgegnungen hatte er unter anderem für solche bereit,
die sein Talent in indiskreter Weise auszubeuten suchten. So er-
zählte sich ganz Paris eines Tages die Abfertigung, die er einem
übelberatenen Gastgeber zuteil werden ließ, als dieser ihm, nach-
dem man den Speisesaal verlassen, ein geöffnetes Klavier zeigte.
Für sein voreiliges Versfprechen, seinen Gästen das seltene Dessert
einiger von Chopin ausgeführter Musikstücke vorzusetzen, mußte
er erfahren, daß er die Rechnung ohne den Wirt gemacht hatte.
CMspin schlug es erst ab; des unbescheidenen Drängens müde
aber sagte er endlich mit fast erstickter Stimme, wie um die Wir-
\amg seiner Worte noch zu verstärken: „Ach, mein Herr, ich habe
ja kaum etwas gegessenl'' — Gleichwohl war diese Art Schlag-
fertigkeit bei ihm mehr angeeignet als angeboren. Er verstand
das Rappier und den Degen zu führen, anzugreifen und zu parieren.
Hatte er seinem Gegner aber die Waffe entwunden, so warf er Hand-
schuh und Visier hinweg und dachte nicht weiter daran.
Dadurch, daß er das Gespräch von seiner eigenen Person ein
für allemal abwandte und über sein Empfinden unverbrüchliches
Schweigen beobachtete, gelang es ihm stets, den der vornehmen
Meoige 80 willkommenen Eindruck einer Persönlichkeit zu hinter-
lassen, die uns unwiderstehlich anzi^t, ohne daß wir hinter ihren
Lichtseiten dunkle Schatten, im Gefolge ihrer liebenswürdigen
Heiterkeit unbequeme Schmerzensausbrüche befürchten müßten
-* eme Reaktion, wie sie bei jenen Naturen unvermeidlich ist.
96 V. Chopins Individualität
von denen das Wort gilt: Ubi mel, ibi fei [Wo Honig ist, ist Galle].
Obgleich die Welt dem eine derartige Reaktion verursachenden
Schmerz eine gewisse Ehrerbietung nicht versagen kann, obgleich
er sogar den Reiz des Unbekannten auf sie übt und ihr eine Art
Bewunderung abfordert, hält sie sich ihn doch lieber fem. Sie
flieht seine ruhefeindliche Nähe und legt zwar bei seiner Erwähnung
tiefe Rührung an den Tag, kehrt aber seinem Anblick den Rücken.
Chopins Gegenwart war daher jederzeit hochwillkommen. In dem
Wunsch, unerraten zu bleiben, jede Mitteilung über sein Jch
verschmähend, beschäftigte er die Gesellschaft mit allem, nur nicht
mit sich selbst; so daß seine innere Persönlichkeit unberührt und
unter ihrer glatten Außenseite, die bei aller Höflichkeit keine An-
näherung gestattete, unzugänglich blieb.
Ob auch selten, gab es doch Augenblicke, wo wir ihn in tiefer
Bewegung überraschten. Wir sahen, wie er sich bis zur Leichen-
blässe entfärbte. Selbst in der tiefsten Erregtheit blieb er jedoch
gefaßt. Mit keinem Wort, wie es seine Gewohnheit war, verriet
er, was in ihm stürmte. Rasch gesammelt, verbarg er sofort das
verratene Geheimnis des ersten Eindruckes. Seine unmittelbar
darauf folgenden Bewegungen schon — eine so anmutige Natür-
lichkeit er denselben auch zu geben verstand — waren das Ergebnis
einer Reflexion, deren energischer Wille den Widerstreit zwischen
moralischer Gewalt und physischer Schwäche beherrschte. Diese
seiner inneren Heftigkeit beständig gebietende Herrschaft er-
innerte an die melancholische Überlegenheit mancher Frauen,
die ihre Kraft in der Zurückhaltung und Isolierung suchen, da
sie die Unfruchtbarkeit ihrer Zomesausbrüche kennen und das
Geheimnis ihrer Leidenschaft zu eifersüchtig hüten, um es ohne
Not preiszugeben.
Chopin war großmütig im Verzeihen. Kein Groll gegen den,
der ihn beleidigt hatte, blieb in seinem Herzen zurück. Wie aber
derartige Kränkimgen ihm tief in die Seele schnitten, gärten sie in
unbestimmten Schmerzen und Qualen in ihm fort, so daß, auch
wenn er des Anlasses längst nicht mehr gedachte, er noch die ver-
borgene Wunde fühlte. Dessenungeachtet gelangte er, kraft des
Zwanges, den er seinem Empfinden in strenger Pflichtübung auf-
Chopins Selbstbeherrschung, seine Religiosität. 97
erlegte, selbst dahin, für die Dienste einer mehr wohlwollenden
als feinfühligen Freundschaft dankbar zu sein, auch wenn dieselbe
ihn im stillen verletzte. Gerade die Kränkungen der Taktlosigkeit
sind am schwersten für nervöse Naturen zu ertragen, die durch be-
ständige Unterdrückung ihrer Gefühlsregungen einer Reizbarkeit
verfallen, welche, obgleich sie sich nie gegen die wahren Motive
richtet, doch mit Unrecht für eine unmotivierte gelten würde. Die
Linie der feinen Sitte nur um eines Schrittes Breite zu überschreiten,
war eine Versuchung, die Chopin, wie es scheint, nicht kannte,
und sorglich hütete er sich, gegenüber stärkeren, barscheren Na-
turen als die seine, das Mißbehagen spüren zu lassen, das ihm die
Berührung mit ihnen verursachte.
Seine Zurückhaltung im Gespräch erstreckte sich auf alle Gegen-
stände, an die sich der Fanatismus der Meinungen heftet. Einzig
daraus, daß er sie nicht in den engen Kreis seiner Wirksamkeit
zog, konnte man seine Ansicht über eine Sache folgern. Auf-
richtig religiös und dem Katholizismus ergeben, berührte Chopin
doch nie diese Dinge; er behielt seinen Glauben für sich, ohne ihn
nach außen zur Schau zu tragen. Man konnte lange mit ihm be-
kannt sein und doch von seinen Ansichten in dieser Beziehung
keine genaue Vorstellung haben. Es ist selbstredend, daß er in
den Kreisen, in die er durch seine näheren Bekannten allmählich
hineingezogen wurde, darauf verzichten mußte, die Kirche zu be-
suchen, mit der Geistlichkeit zu verkehren, kurz seinem religiösen
Drange zu genügen, wie dies in seinem Vaterlande üblich ist, wo
jeder anständige Mensch erröten und es als ärgste Beleidigung be-
trachten würde, wenn man ihn für einen schlechten Katholiken
hielte oder von ihm sagte, daß er nicht als guter Christ handle.
Andererseits ist es natürlich, daß, wenn man sich häufig und lange
der religiösen Gebräuche enthält, man denselben notwendig endlich
mehr oder weniger entfremdet. Obgleich er nun, um seinen neuen
Bekannten durch Begegnung mit einer Soutane in seinem Hause
kein Ärgernis zu bereiten, seinen Verkehr mit den in Paris lebenden
polnischen Geistlichen einstellte, hörten diese doch nie auf, in ihm
einen ihrer edelsten Landsleute zu verehren und durch ihre ge-
meinsamen Freunde Kunde von ihm zu empfangen.
Liszt, Gesammelte Schriften L VA 7
98 V. Chopins Individualität.
Sein Patriotismus bezeugte sich in der Richtung seines Talentes,
in der Wahl seiner Freunde, der Vorliebe für seine polnischen
Schüler, in den häufigen und wichtigen Diensten, die er seinen Lands-
leuten erwies. Wir erinnern uns jedoch nicht, daß er je Vergnügen
daran gefunden hätte, seine patriotischen Gefühle auszusprechen,
von Polen, seiner Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft des
längeren zu reden oder historische Fragen, die sich daran knüpften,
zu berühren.
Unterhielt er sich ja zuweilen über die in Frankreich so viel-
fach erörterten Ereignisse, über die ebenso lebhaft angegriffenen
als warm verteidigten Meinungen und Ideen, so geschah dies mehr,
um das ihm daran falsch und irrig Erscheinende zu bezeichnen,
als um eine eigene Ansicht geltend zu machen. Zu mehreren der
hervorragendsten Fortschrittsmänner unserer Tage in fortgesetzte
Beziehung gebracht, ging er im Verkehr mit denselben, trotz der
Übereinstimmung ihrer Ideen, nicht über eine wohlwollende Gleich-
gültigkeit hinaus. Oft genug ließ er sie stundenlang untereinander
das Wort führen und sich erhitzen, indes er dabei im Zimmer auf
und ab spazierte, ohne nur die Lippen zu öffnen. Manchmal wur-
den seine Schritte ungleichmäßig; doch achtete niemand darauf
als die minder vertrauten Gäste dieses Kreises. Sie beobachteten
auch, wie er beim Anhören gewisser Ungeheuerlichkeiten nervös
zusammenzuckte. Seine Freunde aber erstaunten, wenn man ihnen
davon sprach. Sie bemerkten nicht, daß er nur neben, aber nicht
mit ihnen lebte und ihnen weder etwas von seinem „besseren Ich'*
gab, noch auch immer das annahm, was man ihm gegeben zu haben
meinte.
Wir sahen ihn oft inmitten der lebhaftesten Gespräche in Schwei-
gen versunken. Die Aufregung der Redenden ließ diese seine An-
wesenheit vergessen. Wir aber verloren häufig den Faden ihrer
Auseinandersetzungen, um unsere Aufmerksamkeit seinem Antlitz
zuzuwenden. Unmerkbar verzog und umdüsterte es sich, wenn
Gegenstände, welche die ersten Bedingungen der sozialen Existenz
betreffen, vor ihm mit einem energischen Eifer verhandelt wurden,
als hinge die augenblickliche Entscheidung unseres Schicksals, Tod
und Leben davon ab. Hörte er Unvernünftiges so ernsthaft
Chopins Vaterlandsliebe, seine politische Haltung. 99
besprechen, leere und falsche Argumente so unerschütterlich vor-
bringen, so schien er körperlich zu leiden, als habe er eine Folge
von Dissonanzen, eine musikalische Kakophonie gehört. Zu andern
Malen auch ward er traurig und träumerisch. Dann erschien er
wohl wie ein Reisender am Bord eines Schiffes, das der Sturm
auf hoher See dahintreibt. Horizont und Sterne betrachtend,
vom fernen Vaterlande träumend, folgt er den Bewegungen der
Matrosen; er gewahrt ihre Fehlgriffe, aber er schweigt, da ihm
die Kraft gebricht, mit eigner Hand in die Taue des Segelwerks
einzugreifen.
Sein feiner Verstand hatte ihn bald von der Unfruchtbarkeit
der meisten politischen, philosophischen und religiösen Reden und
Erörterungen überzeugt. So gelangte er frühzeitig dahin, die
Lieblingsmaxime eines ausgezeichneten Mannes auszuüben, die
wir, als Ergebnis der misanthropischen Weisheit seines Alters,
häufig von ihm aussprechen hörten, und die, während sie damals
unsere Unerfahrenheit in Staunen setzte, uns späterhin durch ihre
traurige Wahrheit überrascht hat. „Sie werden sich eines Tages
gleich mir überzeugen, daß es kaum möglich ist, über irgend etwas
mit irgend jemandem zu reden'', pflegte der Marquis Jules de
Noailles den jungen Leuten, die er mit seinem Wohlwollen beehrte,
zuzurufen, wenn sie sich in naiven Meinungskämpfen zu allzu-
großem Eifer hinreißen ließen. II mondo va da se! [Die Welt
geht von selbst] schien Chopin zu sich selber zu sagen, sooft er die
vorübergehende Neigung, ein Wort in den Streit hineinzuwerfen,
unterdrückte.
Die Demokratie stellte sich seinen Augen als ein Gemisch zu
verschiedenartiger, unruhiger und wilder Elemente dar, um ihm
sympathisch zu sein. Zwei Jahrzehnte früher bereits hatte man
das Auftauchen der sozialen Fragen einem neuen Barbareneinfall
verglichen. Chopin ward besonders peinlich von diesem ihn er-
schreckenden Vergleich getroffen. Er sah von den modernen Hun-
nen und ihren Attilas nicht das Heil Roms und das mit diesem
zusammenhängende Heil Europas kommen. Er gab sich nicht der
Hoffnung hin, daß unter ihren Zerstörungen und Verwüstungen
die zur europäischen gewordene christliche Zivilisation erhalten-
7*
100 V. Chopins Individualität.
bleiben werde. Er verzweifelte daran, daß vor ihren Verheerungen
die Kunst mit ihren Denkmälern, die Möglichkeit Jenes verfeinerten
Lebens zu retten sei, das Horaz besingt. Aus der Feme verfolgte
er die Ereignisse, und eine Schärfe des Blicks, die man ihm kaum
zugetraut hätte, ließ ihn oftmals Dinge voraussagen, die selbst
Besserunterrichteten unerwartet kamen. Entschlüpften ihm Be-
merkungen dieser Art, so pflegte er dieselben doch nicht weiter
auszuführen. Erst nachdem sie ihre tatsächliche Bestätigung er-
fahren, ward man auf sie aufmerksam.
In einem einzigen Falle nur wich Chopin von seiner vorsätzlichen
Schweigsamkeit und Neutralität ab. In Sachen der Kunst ent-
sagte er der gewohnten Zurückhaltung; hier gab er unter allen
Umständen sein Urteil klar und bündig kund, machte er seinen
Einfluß und seine Überzeugung geltend. Es war gleichsam ein
stummes Zeugnis seiner großen Künstlerautorität, deren er sich
in diesen Fragen vollbewußt war. Indem er den letzteren durch
seine Kompetenz zu erhöhtem Ansehen verhalf, ließ er über seine
Auffassungsweise derselben niemals in Zweifel. Mehrere Jahre
hindurch legte er bei Verteidigung seiner Sache einen leidenschaft-
lichen Eifer an den Tag. Es war dies zur Zeit des auf beiden Seiten
mit gleicher Lebhaftigkeit geführten Kampfes zwischen der roman-
tischen und klassischen Richtung. Offen gesellte er sich den Ver-
tretern der ersteren bei, ob er auch nichtsdestoweniger den Namen
Mozarts auf seine Fahne schrieb. Gewohnt, sich mehr an den
Grund der Dinge als an Worte und Namen zu halten, genügte es
ihm, in dem unsterblichen Schöpfer des Requiem, der Jupiter*
Symphonie und anderer großer Werke die Grundlagen, Keime und
Anfänge aller der von ihm selbst reichlich gebrauchten Freiheiten
zu erkennen, um in ihm einen der ersten zu ehren, die seiner Kunst
neue Gesichtskreise eröffneten. Erweiterte er dieselben doch selbst
durch Entdeckungen, die die alte Welt mit einer neuen bereicherten.
Im Jahre 1832, kurz nach seiner Ankunft in Paris, bildete sich
in der Musik wie in der Literatur eine neue Schule, und junge
Talente traten hervor, die in aufsehenerregender Weise das Joch
der alten Formen abschüttelten. Kaum war die politische Gärung
der ersten Jahre nach der Julirevolution gedämpft, als sie sich
Chopin und die Romantik. 101
mit all£r Macht auf die Fragen der Literatur und Kunst übertrug,
die sich der Aufmerksamkeit und Teilnahme aller bemächtigten.
Die Romantik war an der Tagesordnung, und mit Erbitterung
wurde der Kampf für oder wider dieselbe geführt. Da gab es keinen
Waffenstillstand zwischen denen, die keine andere Schaffensweise
als die bisher übliche zulässig fanden, und jenen anderen, die be-
züglich der Wahl der seiner Idee anzupassenden Form volle Frei-
heit für den Künstler forderten, von der Meinung ausgehend,
daß, wenn das Gesetz der Form in deren Übereinstimmung mit
dem auszudrückenden Gefühl zu finden sei, jede verschiedene
Oefühlsweise auch notwendig eine verschiedene Ausdrucksweise
bedinge.
Die einen, die an die Existenz einer unwandelbaren Form, die
in ihrer Vollkommenheit das absolut Schöne repräsentiert, glaubten,
beurteilten jedes Werk aus diesem voreingenommenen Gesichts-
punkt. Mit der Behauptung, daß die großen Meister bereits die
äußersten Grenzen der Kunst und deren höchste Vollendung erreicht
hätten, ließen sie den ihnen nachfolgenden Künstlern keine andere
Ruhmesaussicht übrig, als sich durch Nachahmung jenen mehr
oder minder zu nähern. Selbst um die Hoffnung, ihnen ebenbürtig
zu werden, betrog man sie; da die Vervollkommnung eines Stils
doch nimmer dem Verdienst der Erfindung gleichkommen kann.
Die anderen dagegen stellten in Abrede, daß dem Schönen eine
feste und absolute Form beizumessen sei. Die verschiedenen in
der Geschichte der Kunst auftretenden Stile erschienen ihnen wie
Zelte, die man auf dem Weg zum Ideal errichtete: zeitweilige
Ruhepunkte, die das Genie von Epoche zu Epoche erreicht, und
die seine Erben bis zur letzten Konsequenz ausnutzen, die aber
seine rechtmäßigen Nachkommen zu überspringen berufen sind.
Die einen wollten die Erzeugnisse der verschiedensten Zeiten und
Naturen in den gleichen symmetrischen Raum einzwängen. Die
anderen begehrten für jede derselben das Recht, sich ihre eigene
Sprache und Ausdrucksweise zu schaffen. Einzig nur der Regel
mochten sie sich unterwerfen, die sich aus der unmittelbaren Wech-
selbeziehung zwischen Idee und Form ergibt und die Gemäßheit
bdder gebietet.
102 V. Chopins Individualität
So bewundernswert die vorhandenen Muster auch sind und
sein mögen, den hellsehenden Augen Chopins schien es doch, als
ob in ihnen weder alle Empfindungen, denen die Kunst ihr ver-
klärendes Leben zu verleihen vermag, noch alle Formen, über die
sie verfügt, erschöpft seien. Nicht bei der Vortrefflichkeit der Form
an sich verweilte er. Er erstrebte sie nur insoweit, als ihre tadel-
lose Gestaltung für die vollkommene Offenbarung des Gefühls-
inhaltes unentbehrlich ist; denn er wußte, daß dieser letztere
nur mangelhaft zum Ausdruck gelangt, wenn eine unvollkommene
Form, gleich undurchsichtigem Schleier, seine Ausstrahlung auf-
fängt. Der poetischen Inspiration ordnete er die Arbeit des Hand-
werks unter, indem er dem Genie die mühereiche Aufgabe stellte,
selbstschöpferisch eine Form zu bilden, die den Erfordernissen
des auszusprechenden Gefühls genügt. Seinen klassischen Gegnern
aber machte er den Vorwurf, daß sie die Begeisterung in ein Pro-
krustesbett zwängen, wenn sie nicht zugestehen, daß gewisse Ge->
danken und Empfindungen innerhalb gewisser vorausbestimmter
Formen unausdrückbar sind. Er klagte sie an, daß sie die Kunst
somit von vornherein aller der Werke berauben, welche ihr neue
Ideen in Gestalt neuer Formen zugeführt haben würden, wie solche
sich aus der immer fortschreitenden Entwickelung des Menschen-
geistes, der seinen Gedanken verbreitenden Mittel, der materiellen
Hilfsquellen der Kunst ergeben.
Chopin wollte ebensowenig, daß man mit dem griechischen
Giebel auch den gotischen Turm niederreiße, oder zugunsten der
phantastischen maurischen Bauten die reine Grazie italienischer
Architektur zerstöre, als er an Stelle der Birke die Palme, statt der
tropischen Agave die nordische Lärche zu setzen wünschte. Er
behauptete, den „Ilyssus" des Phidias und Michel Angelos „Pen-
sieroso", ein „Sakrament" Poussins und den „Danteskischen Nachen"
von Delacroix, Palestrinas „ Improperien" und die „Königin Mab"
von Berlioz unbeeinträchtigt nebeneinander genießen zu können.
Für alles Schöne forderte er das Daseinsrecht, und den Reichtum
der Mannigfaltigkeit bewunderte er nicht minder als die Vollkommen-
heit der Einheit. Von Sophokles und Shakespeare, Homer und
Firdusi, Racine und Goethe verlangte er gleicherweise die Moti-
Chopin als Fortschrittler. 103
Vierung ihres Daseins aus der Schönheit ihrer Form, der Erhaben-
heit ihrer Idee.
Diejenigen, die das alte, wurmstichige Formengerüst von den
Flammen des Talents unmerklich verzehrt sahen, schlössen sich der
musikalischen Schule an, deren begabtester und kühnster Reprä-
sentant Berlioz war. Chopin verband sich derselben rückhaltlos
und zählte zu denen, die sich am beharrlichsten der sklavischen
Herrschaft des konventionellen Stils, wie dem Charlatanismus
entzogen, der an Stelle der alten Mißbräuche nur neue, noch lästigere
setzt; — oder wäre die Extravaganz nicht unerträglicher noch als
die Monotonie? Fields Nocturnes, Dusseks Sonaten, Kalkbrenners
lärmende und äußerliche Virtuosenstücke dünkten ihm unzu-
länglich und antipathisch; er konnte sich weder von der blumigen,
zierlichen Weise der einen angezogen finden, noch die wirre Art
der anderen gutheißen.
Solange der sich über mehrere Jahre erstreckende Feldzug
des Romantismus währte, aus dem statt bloßer Versuche Meister-
taten hervorgingen, blieb Chopin in seiner Vorliebe wie in seiner
Abneigung unveränderlich. Ohne Verlangen, die Kunst zugunsten
des Handwerks auszubeuten, ohne Streben nach billigen, der Über-
raschung der Zuhörer abgewonnenen Effekten und Erfolgen, be-
zeigte er sich unnachsichtig gegen die, die seiner Ansicht nach den
Fortschritt nicht genügend vertraten, ihm nicht aufrichtig genug
anhingen. Er zerriß selbst ihm werte Bande, wenn er sich durch
sie in seiner Bewegung behindert fühlte und sie als alt und morsch
geworden erkannte. Andrerseits weigerte er sich entschieden,
mit jungen Leuten Beziehungen anzuknüpfen, deren nach seiner
Meinung übertriebener Erfolg ihr zweifelhaftes Verdienst zu sehr
in den Vordergrund stellte. Nicht das leiseste Lob brachte er über
die Lippen, wenn er sich nicht einer wirklichen Errungenschaft
für die Kunst, einem ernsten Erfassen der Aufgabe des Künstlers
gegenüber sah.
In seiner Uneigennützigkeit lag seine Stärke; sie bildete eine
Art von Festung um ihn. Denn da er die Kunst nur um der Kunst
willen wollte, wie man das Gute um des Guten willen erstrebt,
war er unverwundbar und somit unerschütterlich. Weder von den
104 V. Chopins Individualitat.
einen noch von den anderen mochte er gepriesen sein oder jene
heimlichen Rücksichten und Konzessionen geübt sehen, weiche die
verschiedenen Schulen sich in ihren leitenden Persönlichkeiten an-
gedeihen zu lassen pflegen. Führen dieselben doch, inmitten der
Rivalitäten, der Ein- und Übergriffe der verschiedenen Stile in
den verschiedenen Kunstzweigen, Unterhandlungen und Vergleiche
herbei, die, ebenso wie die davon unzertrennlichen Kunstgriffe
und Überlistungen, an die Art der Diplomaten erinnern. Indem
er es verschmähte, für die günstige Aufnahme seiner Schöpfungen
irgend welche äußere Hilfe in Anspruch zu nehmen, gab er deutlich
kund, daß er ihrem Werte hinlänglich vertraue, um sicher zu sein,
daß sie sich selbständig Geltung verschaffen würden. Es lag ihm
wenig daran, ihre unmittelbare Anerkennung zu erleichtem und zu
beschleunigen.
Gleichwohl war Chopin so innerst und ganz von den Empfin-
dungen durchdrungen, die er ausschließlich der Kunst anzuver-
trauen liebte, und deren verehrungswürdigste Typen er in seiner
Jugend gekannt zu haben glaubte; er betrachtete die Kunst so un-
veränderlich aus einem und demselben Gesichtspunkte, daß seine
künstlerischen Neigungen notwendig davon beeinflußt werden
mußten. In den großen Vorbildern und Meisterwerken der Kunst
fragte er einzig nach dem, was seiner Natur entsprach. Was sich
derselben näherte, gefiel ihm; dem aber, was ihr ferner lag, ließ er
kaum Gerechtigkeit widerfahren. Die oft unvereinbaren Gegen-
sätze von Leidenschaft und Anmut in seiner Person wie in seinem
Schaffen vereinend, besaß er eine große Sicherheit des Urteils und
hütete sich vor kleinlicher Parteilichkeit. Doch selbst die größten
Schönheiten und Verdienste fesselten ihn nicht, sobald. sie die eine
oder andere Seite seiner poetischen Auffassung verletzten. So
große Bewunderung er auch für Beethovens Werke hegte, einzelne
Teile derselben dünkten ihm zu massig gestaltet. Ihr Bau war
zu athletisch, ihr Donnergrollen zu elementar für seinen Geschmack.
Die Leidenschaft schien ihm eine zu aufwühlende, alles überflutende.
Die Löwenklaue, die jede seiner musikalischen Phrasen kenn-
zeichnet, war ihm zu wuchtig, und die seraphischen Töne, die in-
mitten der mächtigen Schöpfungen dieses Genies auftauchen,
Chopins Urteil über Beethoven, Schubert. 105
berührten ihn zufolge des schneidenden Kontrastes zeitweise nahe-
zu peinlich.
Ungeachtet des Zaubers, den er einigen Schubertschen Gesängen
zuerkannte, hörte er doch jene nicht gern, deren Umrisse seinem
Ohr zu scharf dünkten, wo das Gefühl sich gleichsam entblößt
zeigt und man sozusagen den körperlichen Ausdruck des Schmerzes
fühlt. Alles Harte, Wilde flößte ihm Abneigung ein. In der Musik,
wie in der Literatur und im Leben, war ihm alles, was an das Melo-
drama erinnert, ein Greuel. Die wahnwitzigen Ausschreitungen
des Romantismus waren ihm zuwider; Überraschungen durch
sinnlose Effekte und Exzesse däuchten ihm unerträglich. „Er liebte
Shakespeare nur mit starken Einschränkungen» Seine Charaktere
fand er zu sehr dem Leben abgelauscht, die Sprache, die sie redeten,
zu wahr; er zog die epischen und lyrischen Synthesen vor, die die
armseligen Kleinlichkeiten der Menschheit im Schatten lassen.
Darum auch sprach er wenig und hörte selten aufmerksam zu, da
er nur dann seine Gedanken in Worte fassen oder die anderer auf-
nehmen mochte, wenn sie auf eine gewisse Bedeutung Anspruch
erheben konnten i."
Diese sich selbst so vollkommen bemeisternde, so zart zurück-
haltende Natur, die für den poetischen Reiz des nur halb Ausge-
sprochenen so empfänglich war, konnte gegenüber einer gewissen
Unkeuschheit des Empfindens, die nichts zu erraten, nichts zu er-
gänzen übrigläßt, nur Mißbehagen fühlen. Hätte er sich in diesem
Punkte geäußert, so würde er, glauben wir, bekannt haben, daß
nach seinem Dafürhalten Gefühle nur so weit zum Ausdruck kommen
dürfen, daß ihr bester Teil zu erraten bleibt. Wenn das, was man
in der Kunst als „klassisch'* zu bezeichnen pflegt, ihm zu metho-
dische Beschränkungen aufzuerlegen schien, wenn er sich weigerte,
sich durch Fesseln binden und sein Empfinden durch ein konven-
tionelles System gleichsam vereisen zu lassen, wenn er nicht in einen
symmetrischen Käfig eingesperrt sein mochte, so geschah es, weil
er sich aufwärts zu den Wolken schwang, um dort, dem Himmel
näher, wie die Lerche aus votler Brust zu singen und nie aus reineren
^George Sand, Lucrczia Ftoriani»
106 V. Chopins Individualität.
Höhen hemiedersteigen zu müssen. Dem Paradiesvogel gleich,
von dem man ehemals behauptete, daß er nur mit ausgebreiteten
Flügeln, vom Hauch der Lüfte gewiegt, im blauen Äthermeer
schlummere, wollte auch er nur in höheren Regionen schwebend
der Ruhe genießen. Weder in die von tierischen Lauten erfüllten
Höhlen des Waldes begehrte er einzudringen, noch die schreckens-
reichen Wüsten zu durchforschen und Wege daselbst zu bahnen,
die ein treuloser Wind hinter den Schritten des verwegenen Pfad-
finders spottend verweht.
Alles, was in der italienischen Musik so natürlich und lichtvoll,
so frei von künstlicher Mache und gelehrtem Apparat erscheint,
alles, was in der deutschen Kunst den Stempel einer populären,
wenn auch mächtigen Energie trägt, behagte ihm gleich wenig.
In bezug auf Schubert äußerte er eines Tages: „das Erhabene werde
verdunkelt, wenn das Gemeine oder Triviale ihm folge". Unter
den Klavierkomponisten gehörte Hummel zu denen, mit deren
Werken er sich am liebsten beschäftigte. Sein Ideal, der Dichter
par excellence, war ihm Mozart; denn seltener als irgend einer ließ
er sich herab, die Linie zu überschreiten, welche die Vornehmheit
von der Flachheit trennt. Gerade das liebte er an Mozart, was die-
sem nach einer Vorstellung des „Idomeneo" den Tadel seines Vaters
zuzog: „Du hast unrecht, daß du nichts für die Langohren hinein-
gebracht!" An der Heiterkeit Papagenos entzündete sich die seine;
Taminos Liebe und die geheimnisvollen Proben, auf die sie gestellt
wird, schienen ihm seiner Teilnahme würdig; Zerline und Masetto
vergnügten ihn durch ihre raffinierte Naivität. Donna Annas
Rache war ihm verständlich, da sie ihre Trauer mit noch dich-
terem Schleier umhüllt. Daneben ging sein Purismus, seine Emp-
findlichkeit gegen Gemeinplätze so weit, daß er selbst im „Don
Juan", diesem unsterblichen Meisterwerk, Stellen entdeckte, deren
Vorhandensein er uns gegenüber beklagte. Seine Verehrung für
Moeart wurde dadurch nicht vermindert, sie erschien nur gleich-
sam getrübt. Er konnte, was ihn abstieß, wohl vergessen; sich
damit auszusöhnen aber war ihm unmöglich. Unterlag er hierin
nicht der unversöhnlichen Macht eines Instinktes, der keine Über-
redung, keine Beweisführung, jemals auch nur die Nachsicht der
Chopin über die Italiener, über Hummel, Mozart 107
Gleichgültiglceit für etwas abzugewinnen vermochte, was ihm
antipathisch war und eine an Idiosynl^rasie grenzende Abneigung
in ihm erregte?
c. Unseren Versuchen, unseren damals noch unsicheren, an Irrungen
und Übertreibungen reichen Kämpfen, die mehr „kopfschütteln-
den Weisen'' als ruhmvollen Gegnern begegneten, gab Chopin die
Stütze einer seltenen Überzeugungsfestigkeit, eines unerschütter-
lich ruhigen Verhaltens, einer gegen Lässigkeit wie gegen Ver«-
lockung gleicherweise gewappneten Charakterstärke, wie den wirk-
samen Nachdruck seiner unsere Sache vertretenden hochbedeuten-
den Werke. Die Kühnheiten Chopins traten mit so viel Reiz,
Maß und Wissen auf, daß das Vertrauen auf sein einziges Genie
durch die unmittelbare Bewunderung, die er erregte, gerechtfertigt
schien. Die soliden Studien und ernsten Gewohnheiten seiner
Jugend, der Kultus für das klassisch Schöne, in dem er erzogen
worden, bewahrten ihn davor, seine Kraft an unglücklichen und
halben Versuchen zu vergeuden, wie sich deren mehr als ein Ver-
treter der neuen Ideen schuldig gemacht hat.
Der ausdauernde Fleiß, den er auf Ausarbeitung und Voll-
endung seiner Kompositionen verwandte, schützte ihn vor einer
unbilligen Kritik, die die Meinungsverschiedenheit böswillig ver-
schärft, indem sie kleine Nachlässigkeits- und Unterlassungssünden
2u ihrem Vorteil ausnutzt und damit leichte Siege erringt. Früh-
zeitig an Gesetz und Regel gewöhnt, sich selbst in mancher seiner
schönen Schöpfungen streng an dieselben bindend, streifte er sie
doch zur rechten Zeit mit weise erwogener Berechtigung ab. Seinen
Prinzipien getreu schritt er immer vorwärts, ohne sich zu Über-
treibungen hinreißen, noch zu Verträgen verlocken zu lassen; die
theoretischen Formeln gab er gern preis, um einzig ihre Resultate
au verfolgen. Sich weniger mit den Streitigkeiten der Schule
und ihren Schlagwörtern als vielmehr mit der praktischen Beweis-
führung durch seine Werke befassend, hatte er das Glück, persön-
liche Feindseligkeiten und verdrießliche Verhandlungen zu ver-
meiden.
Später, nachdem der Sieg seiner Ideen das Interesse an seiner
Führerrolle vermindert hatte, suchte er nie wieder Gelegenheit,
108 V. Chopins Individualittt
sich an die Spitze irgend einer Partei zu stellen. In jenem einzigen
Faiie aber, wo er sich selbst tätig am Kampfe beteiligte, gab er
Beweise absoluter, unbeugsam fester Oberzeugungen, wie alle lel>-
haft Empfindenden, die sich selten Luft zu machen pflegen. So-
bald er sah, daß seine Ansicht hinreichende Anhänger gefunden
hatte, um Gegenwart und Zukunft zu beherrschen, zog er sich
aus dem Gedränge zurück und überließ es seinen Mitkämpfern,
sich in Scharmützeln zu ergehen, die weniger der Sache nützten,
als vielmehr denen angenehm waren, die sich gern um jeden Preis
schlugen, selbst auf die Gefahr hin, geschlagen zu werden. Als
echter grand seigneur und echter Parteiführer hütete er sich,
einen im Rückzug begriffenen Feind zu überfallen und zu ver-
folgen; er verhielt sich wie ein siegreicher Fürst, dem es genügt,
seine Sache außer Gefahr zu wissen, um sich nicht weiter unter die
Kämpfenden zu mischen.
In modernerer, einfacherer, minder ekstatischer Form weiht
Chopin seiner Kunst den Kultus, den ihr die ersten Meister des
Mittelalters zollten. Wie diesen galt auch ihm die Kunst als schöner,
heiliger Beruf. Wie sie war auch er stolz darauf, zu ihm erwählt
zu sein , und mit frommer Andacht gab er sich ihrem Dienste hin.
In seiner Todesstunde noch offenbarte sich dies in einer Anord-
nung, über deren volle Bedeutung uns die polnischen Sitten Auf-
klärung geben. Einem in unseren Tagen wenig verbreiteten, aber
doch noch hin und wieder vorkommenden Brauch zufolge wählten
Sterbende häufig die Kleider, in denen sie begraben zu werden
wünschten, und die man oft lange im voraus hergerichtet hatte K
Ihre liebsten, tiefinnersten Gedanken verrieten sich da zum letzten
Male. Weltliche Personen wählten oftmals Klostergewänder; die
Männer begehrten oder verbaten sich ihre Amtstracht, je nach-
dem sich ruhmvoUe oder unfrohe Erinnerungen daran knüpften.
^ Der Verfasser von »Julie et Adolphe« (einem der „Neuen Heloise'*
nachgebildeten Roman, der bei seinem Erscheinen viel Aufsehen erregte),
General Km der, über achtzig Jahre alt, zur Zeit unseres Aufenthaltes in jener
Gegend auf einem Qut im Gouvernement Wolhynien lebte, hatte sich nach
oben erwähntem Brauch seinen Sarg anfertigen lassen, der schon seit dreißig
Jahren neben der TQr seines Schlafgemachs stand.
Chopin in Beziehung zur Gesellschaft, zu seiner Familie. 109
Chopin, der, zu den ersten Künstlern seiner Zeit gehörend, doch
die wenigsten Konzerte gab, wollte gleichwohl in den Kleidern,
die er bei denselben getragen hatte, ins Grab gelegt sein. Ein
natürliches, dem unversieglichen Quell seiner Kunstbegeisterung
entstammendes Gefühl gab ihm ohne Zweifel diesen letzten Wunsch
ein, als er, die letzten Pflichten des Christen fromm erfüllend, von
allem Irdischen Abschied nahm. Lange schon, bevor der Tod
ihm nahte, hatten seine Liebe zur Kunst, sein Glaube an dieselbe
ihn unsterblich gemacht« Nun wollte er noch einmal, als er sich
zur letzten Ruhe niederlegte, durch ein stummes Symbol Zeugnis
geben von der Begeisterung, die er rein erhalten hatte sein ganzes
Leben hindurch. Er starb sich selber treu , in inbrünstiger Ver-
ehrung der mystischen Größe der Kunst und ihrer noch mystischeren
Offenbarungen.
Indem Chopin sich, wie bereits erwähnt, aus dem Strudel der
Gesellschaft zurückzog, übertrug er seine ganze Sorge und Zärt-
h'chkeit auf den Kreis seiner Familie, seiner Jugendfreunde und
Landsleute. Mit ihnen unterhielt er einen ununterbrochenen,
eifrigen Verkehr. Vor allen war ihn seine Schwester Louise teuer;
eine gewisse Ähnlichkeit ihrer Geistes- und Gefühlsart brachte
sie einander besonders nahe. Zu wiederholten Malen unternahm
sie die Reise von Warschau nach Paris, um ihn zu sehen, und
während der drei letzten Monate seines Lebens umgab ihn ihre
treue Fürsorge.
In den Beziehungen zu den Seinigen legte Chopin eine gewin-
nende Liebenswürdigkeit an den Tag. Nicht nur, daß er mit ihnen
einen lebhaften Briefwechsel unterhielt, er benutzte auch seinen
Pariser Aufenthalt, um ihnen durch allerhand Neuheiten und zier-
liche Kleinigkeiten tausenderlei Überraschungen zu bereiten. Er
suchte alles heraus, was, wie er glaubte, in Warschau erfreuen
werde, und schickte fortwährend bald dieses, bald jenes neue Nichts,
irgend ein Putzstück oder eine Spielerei. Er hielt darauf, daß
man diese Dinge, so geringfügig sie sein mochten, aufbewahrte,
als sollten sie ihn selber dem Kreise derer vergegenwärtigen, denen
sie zugedacht waren. Aber auch er seinerseits legte auf Jeden Be-
weis von Zuneigung, den er von seinen Angehörigen empfing,
110 V. Chopins Individualität.
großen Wert. Eine Nachricht, ein Erinnerungszeichen von ihnen
bereitete ihm eine wahre Festfreude. Teilte er dieselbe auch mit
niemandem, so verriet sie sich doch durch die Sorgfalt, mit der
er alle ihm von dieser Seite kommenden Gegenstände bewahrte.
Selbst die unbedeutendsten derselben waren ihm kostbar, ja er
wehrte nicht nur anderen, sich ihrer zu bedienen, die bloße Be-
rührung derselben schon war ihm sichtlich unangenehm.
Wer immer aus Polen kam, bei ihm war er willkommen. Ob
mit oder ohne Empfehlungsbrief, er ward mit offenen Armen auf-
genommen, als ob er zur Familie gehöre. Selbst Unbekannten,
wenn sie aus seiner Heimat kamen, gestattete Chopin, was er
keinem unter uns gewährt haben würde: das Recht, ihn in seinen
Gewohnheiten zu stören. Er tat sich um ihretwillen Zwang an,
führte sie spazieren, besuchte zwanzigmal hintereinander dieselben
Orte, um ihnen die Sehenswürdigkeiten von Paris zu zeigen, ohne
in seinem Amt als Cicerone oder müßiger Zuschauer jemals Er-
müdung oder Langeweile zu bekunden. Landsleute, von deren
Existenz er tags zuvor noch nichts gewußt, lud er zum Speisen ein;
er sparte ihnen alle kleinen Ausgaben und lieh ihnen Geld. Und
mehr noch als das. Man sah ihm an, wie gern er es tat, wie glück-
lich er war, seine Muttersprache zu sprechen, sich unter den Sei-
nigen zu wissen und durch sie in die heimatliche Atmosphäre zurück-
versetzt zu fühlen, die er an ihrer Seite noch zu atmen vermeinte.
Man sah, mit welcher Teilnahme er ihren traurigen Berichten
lauschte, welche Freude es ihm gewährte, sie in ihrem Schmerz
zu zerstreuen und von ihren blutigen Erinnerungen abzulenken,
indem er ihren Kummer durch die Verheißungen beredter Hoff-
nung tröstete.
Seinen Angehörigen schrieb Chopin regelmäßig, aber auch nur
ihnen. Eine seiner Sonderbarkeiten bestand darin, sich im übrigen
jedes Brief- oder Billettwechsels zu enthalten. Man hätte glauben
mögen, er habe ein Gelübde getan, nie eine Zeile an Fremde zu
richten. Zu allen erdenklichen Auskunftsmitteln nahm er seine
Zuflucht, nur um der Nötigung zu entgehen, einige Worte auf das
Papier zu werfen. Oftmals durchmaß er lieber Paris von einem
Ende zum anderen, um eine Einladung zum Mittagessen abzulehnen
Chopin und seine Landsleute. 111
oder irgend eine unwesentliche Nachricht mitzuteilen, statt sich
mittelst eines schriftlichen Wortes diese Mühe zu ersparen. Der
Mehrzahl seiner Freunde blieben seine Schriftzüge fast unbekannt.
Nur zugunsten seiner schönen in Paris ansässigen Landsmänninnen,
in deren Besitz sich mehrere polnische Autographen von ihm finden,
wich er, so sagt man, von seiner Gewohnheit ab. Diese Ausnahme
von der Regel erklärt sich durch seine Vorliebe für seine Mutter-
sprache, die er besonders gern gebrauchte, und deren ausdrucks-
vollste Redensarten er anderen gern verdolmetschte. Wie die Slawen
im allgemeinen, war er des Französischen vollkommen mächtig;
in Betracht seiner französischen Abkunft hatte man ihn darin
überdies mit besonderer Sorgfalt unterrichtet. Aber die Sprache
sagte ihm nicht zu, und er warf ihr vor, daß sie frostigen Geistes
und geringen Wohlklangs sei.
Dies Urteil über die französische Sprache ist übrigens unter
den Polen ziemlich verbreitet. Sie bedienen sich derselben zwar
mit großer Leichtigkeit, sprechen sie viel untereinander, ja oft
besser als ihre eigene, hören aber gleichwohl nie auf, denen, welche
nicht Polnisch verstehen^ zu versichern, daß sie ihr Denken und
Fühlen in keinem anderen Idiom als dem ihren wiederzugeben ver-
mögen. Bald ist es die Majestät, bald die Leidenschaft, bald die
Anmut, die nach ihrer Ansicht den französischen Ausdrücken
mangelt. Fragt man sie nach dem Sinn eines von ihnen zitierten
polnischen Wortes oder Verses, so lautet die erste, dem Fremden
zuteil werdende Antwort unausbleiblich: „0, das ist unübersetzbar!"
Zur Erläuterung derselben folgen dann Kommentare, weichet alle
Feinheiten, versteckten Andeutungen und Gegensätze, die in den
„unübersetzbaren" Worten enthalten sind, erklären. Wir nannten
bereits einige Beispiele, die in Verbindung mit anderen uns zu der
Annahme verleiten, daß diese Sprache den Vorzug hat, die ab-
strakten Hauptwörter zu versinnlichen, und daß sie es im Laufe
ihrer Entwickelung dem poetischen Geist der Nation verdankt,
wenn sich durch Ableitungen und Synonyme eine überraschend
richtige Wechselbeziehung der Ideen bildete. So fällt, wie Licht
oder Schatten, auf jeden Ausdruck gleichsam ein farbiger Wider-
schein.
112 V. Chopins Individualität
Man könnte demnach behaupten, daß die Worte dieser Sprache
notwendig einen ungeahnten enharmonischen Ton, oder vielmehr
den korrespondierenden Ton einer Terz, der sofort den Dur- oder
Mollcharakter des Gedankens bestimmt, im Geiste in Schwingung
versetzen. Ihr Reichtum an Worten läßt die Wahl des Tones frei ;
doch dieser Reichtum gerade bringt seine Schwierigkeiten mit sich,
und nicht mit Unrecht dürfte dem in Polen so verbreiteten Ge-
brauch fremder Sprachen die Trägheit des Geistes zuzuschreiben
sein, die dem mühsamen Gebrauch einer Ausdrucksgewandtheit
entrinnen möchte, welche gleichwohl unentbehrlich ist in einer
Sprache, deren Tiefe und energischer Lakonismus dem Ungefähr
und der Banalität wenig oder keinen Raum läßt. Die unbe-
stimmten Anklänge unklarer Gefühle lassen sich nicht dem starken
Gefüge ihrer Grammatik einordnen. Der Gedanke kommt über
eine eigentümliche Armut und Blöße nicht hinaus, solange er
diesseits der Grenzen des Gemeinplatzes bleibt; hinwiederum er-
heischt er eine seltene Bestimmtheit des Ausdruckes, um nicht,
sobald diese Grenzen überschritten sind, barock zu erscheinen.
Die polnische Literatur hat weniger klassische Autoren aufzuweisen
als andere; fast jeder einzelne derselben jedoch beschenkte sie mit
einem Werke unvergänglichen Wertes. Dem stolzen, anspruchs-
vollen Charakter ihres Idioms mag sie es verdanken, daß die Zahl
ihrer Meisterwerke im Verhältnis zu der ihrer Schriftsteller sich
größer als anderwärts herausstellt. Man fühlt sich als Meister,
sobald man diese schöne und reiche Sprache zu beherrschen wagt^.
' Mangel an Harmonie und musikalischem Reiz läßt sich dem Polnischen
nicht zum Vorwurf machen. Die Härte einer Sprache wird keineswegs immer
und unbedingt durch die Überzahl der Konsonanten, sondern vielmehr durch
deren Verbindungsweise bewirkt; man könnte sogar behaupten, daß das man-
chem Idiom eigene matte, kalte Kolorit auf den Mangel an bestimmten und
stark markierten Lauten zurückzuführen ist. Nur die unharmonische Ver-
bindung ungleichartiger Konsonanten verletzt ein feines und gebildetes Ohr
in empfindlicher Weise. Die öftere Wiederkehr gewisser, wohl aneinander
gefügter Konsonanten gibt der Sprache Schattierung, Rhythmus, Kraft; wäh-
rend das Vorwiegen der Vokale einö gewisse bleiche Färbung erzeugt, die durch
dunklere Tinten gehoben zu werden verlangt. Die slawischen Sprachen ver-
wenden allerdings viel Konsonanten, jedoch im allgemeinen mit wohlklingen-
der Zusammenstellung, die dem Ohr zuweilen schmeichelt und, selbst wo sie
Die polnische Sprache. 113
Die äußerliche Eleganz war Chopin nicht minder natürlich als
die geistige. Sie verriet sich ebensowohl in den ihm angehörenden
Gegenständen als in seinem vornehmen Auftreten. In der Ein-
richtung seiner Zimmer entfaltete er eine gewisse Koketterie.
Immer waren dieselben mit Blumen, die er sehr liebte, geschmückt.
Doch trieb er diesen Luxus nicht so weit wie einige Pariser Be-
rühmtheiten jener Zeit; auch in dieser Beziehung wie in der Lieb-
haberei für kostbare Stöcke, Nadeln, Knöpfe, damals modische
mehr überraschend als melodisch wirkt, ffist nirgend entschieden mißtönend
auftritt. Ihre Laute sind reich, voll, sehr nuanciert. Sie bewegen sich nicht
innerhalb der Grenzen einer engen Tonlage, sondern breiten sich mit der Man-
nigfaltigkeit bald höherer, bald tieferer Intonationen über einen weiten Umfang
aus. Je mehr man sich dem Orient nähert, um so auffälliger wird dieser philo-
logische Zug. Man begegnet ihm in den semitischen Sprachen; im Chine-
sischen z. B. nimmt dasselbe Wort, je nach dem höheren oder tieferen Ton,
in dem man es ausspricht, einen völlig verschiedenen Sinn an. Das slawische L,
dieser für alle, die ihn nicht von Kindheit an erlernten, kaum auszusprechende
Buchstabe, hat nichts Trockenes. Es übt auf das Ohr einen Eindruck, wie
ihn die Berührung rauhen und doch geschmeidigen Wollensamts auf unseren
Pinger übt. Da die Verbindung rasselnder Konsonanten im Polnischen selten,
die Assonanz dagegen sehr vielfältig vorkommt, dürfte sich dieser Vergleich,
auf den Oesamteindruck, den es auf den Fremden hervorbringt, anwenden
lassen. Wir begegnen hier vielen Worten, die das eigentümliche Geräusch
der von ihnen bezeichneten Gegenstände nachahmen. Die häufigen Wieder-
holungen des ch (unser deutsches h), des sz (unser seh), des rz, cz, die dem
uneingeweihten Auge so fürchterlich dfinken, und deren Klang doch meist
nichts Barbarisches an sich hat (sie werden ungefähr wie das französische g
vor e und i und tche ausgesprochen), erleichtern diese Nachahmung. Das
Wort dzwi^k, Ton (man lese dzwienque), bietet hierzu ein charakteristisches
Beispiel. Schwerlich vermöchte man die Empfindung, die das Anschlagen
der Stimmgabel dem Ohre erregt, treffender durch den Klang eines Wortes
zu bezeichnen. Zwischen die Konsonanten-Gruppen, die sehr verschieden-
artige, bald metaUische, bald summende, brummende oder pfeifende Töne
eizeugen, mischen sich zahlreiche Diphthonge sowie oft etwas nasal klingende
Vokale, indem das von einer c6dille begleitete a und e, s( und q, wie das fran-
zösische on und in ausgesprochen werden. Neben dem sehr welch gesproche-
nen c (tse), zuweilen auch 6 (tsle) hat das akzentuierte s, k etwas Zwitscherndes.
Das z ist, dem Dreiklange eines Tones vergleichbar, dreifach verschiedenen
Lautes: z (franz. jals), z (franz. zed) und i (franz. zled). Das y ist ein Vokal
von eigentümlich ersticktem Laut (franz. eu), der ebensowenig als das } in an-
derer Sprache wiedergegeben werden kann, der aber ebensowohl wie dieses
dem Polnischen ein nicht auszudrückendes Schillern verleUit. — Diese feinen,
Liszt, Gesammelte Schriften L V.A. 8
Il4 V. Chopins Individualität.
Schmuckgegenstände, hielt er zwischen dem Zuviel und Zuwenig
die rechte Mitte, die feine Grenze des comme il faut ein.
Gewöhnt, seine Zeit, seine Gedanken, seine Wege von denen
anderer abzuschließen, war ihm der Umgang mit Frauen oft be-
quemer, insofern er ihn weniger zu fortgesetzten Beziehungen ver-
pflichtete. Wie er den Adel seiner Seele in den Stürmen des Lebens
unbefleckt erhielt, wie der Sinn für das Edle, der Glaube an das
Heilige nie von ihm wichen, so verlor Chopin auch nie die jugend-
ungebundenen Elemente gestatten den Frauen, im Gespräch einen singenden
oder gedehnten Akzent anzunehmen, den sie gewöhnlich auch auf andere
Sprachen übertragen, wobei aber der Reiz, zum Fehler werdend, weniger an-
ziehend als ungünstig wirkt. Wie viele Menschen und Dinge vertragen es eben
nicht, aus ihrem natürlichen Boden in einen fremden versetzt zu werden!
Was zuvor gewinnend, ja unwiderstehlich an ihnen war, wird nun reizlos und
befremdend, einzig der veränderten Beleuchtung zufolge, in der die Schatten
an Tiefe, die Lichtreflexe an Glanz und Klarheit Einbuße erleiden. Sprechen
die Polinnen ihre Sprache, so pflegen sie — war der sie beschäftigende Gegen-
stand ernst und melancholisch — einer Art improvisierter Rezitative und
Threnodien ein dem Geschwätz der Kinder nicht unähnliches, lispelndes, un-
artikuliertes Geplauder folgen zu lassen. Wollen sie vielleicht im selben Augen-
blick, wo sie sich dazu verstehen, ernst wie ein Senator, weise wie ein Staats-
minister, tiefsinnig wie ein Gottesgelahrter, spitzfindig wie ein deutscher
Philosoph zu sein, die Privilegien ihrer weiblichen Oberherrlichkeit beweisen
und bewahren? Ist aber die Polin nur einigermaßen heiter gelaunt und ge-
stimmt, den Duft ihres Geistes ausströmen zu lassen — wie die Blume, die
ihren Kelch dem Strahl der Frühlingssonne neigt, um die Luft mit ihrem
Wohlgeruch, man möchte sagen mit ihrer Seele zu erfüllen, die der Sterb-
liche gern wie einen Glückshauch aus paradiesischen Gefilden einatmen möchte
— so scheint sie sich nicht mehr die Mühe zu nehmen, ihre Worte deutlich
auszusprechen, wie andere demütige Bewohner dieses Jammertals. Der Nach-
tigall gleich beginnt sie zu flöten; die Phrasen werden zu Läufen, die zur höch-
sten Höhe eines wunderbaren Soprans emporsteigen ; oder vielmehr die Perioden
wiegen sich auf Trillern, die man dem Zittern eines Tautropfens vergleichen
möchte. Welch reizende Triumphe und noch reizendere Unterbrechungen!
Dazwischen kurze Ausrufe und perlendes Gelächter. Dann folgen iji den
höchsten Tönen der Stimmlage kleine Kadenzen, die plötzlich, man weiß
nicht in welcher chromatischen Folge von Halb- und Viertelstönen, herab-
gleiten, um auf einer gehaltenen Note zu verweilen und sich in endlosen, ori-
ginellen Modulationen zu ergehen, welche das an solches Gezwitscher nicht
gewöhnte Ohr durch einen dem Gesang der Spottvögel abgelauschten Ausdruck
irreleiten. Wie die Venezianerinnen zwitschern die Polinnen gern, und pikante
Intervalle, undeutliche Laute, reizvolle Tonübergänge mischen sich völlig
Chopins Eleganz, sein Umgang mit Frauen. 115
liehe Naivität, die sich in Kreisen wohl fühlt, die Tugend und
Rechtschaffenheit als beste Reize zieren. Das harmlose Geplauder
von Leuten, die er achtete, mochte er gern; er vergnügte sich an
den kindlichen Freuden der Jugend. Ganze Abende brachte er
damit hin, mit jungen Mädchen Blindekuh zu spielen, ihnen kurz-
weilige, drollige Geschichten zu erzählen und ihnen jenes aus-
gelassene Lachen zu entlocken, dem man noch lieber als dem Ge-
sang der Grasmücke lauscht.
Alles das vereint bewirkte, daß Chopin, obgleich mehreren der
hervorragendsten Persönlichkeiten der damaligen künstlerischen
und literarischen Bewegung so nahe verbunden, daß er mit ihnen
eins zu sein schien, nichtsdestoweniger inmitten derselben ein
Fremdling blieb. Mit keiner anderen Individualität verschmolz
naturgemäß ihrem lieblichen Geplauder, das ihren Lippen Worte entgleiten
läßt, die bald wie Perlen, die man auf silbernem Becken ausstreut, bald wie
Funken »-scheinen, deren Aufleuchten und Erlöschen man neugierigen Blickes
folgt Immer aber, in welcher Weise sie sich ihrer auch bedienen mögen,
klingt die polnische Sprache im Munde der Frauen ungleich süßer und ein-
schmeichelnder als in dem der Männer. Bemühen sich diese letzteren, mit
Eleganz zu reden, so verleihen sie ihr einen männlichen Wohlklang, der sich
der vormals in Polen so gepflegten Kunst der Beredsamkeit energisch anpaßt.
Die Poesie schöpft aus diesem reichen und vielgestaltigen Material eine Mannig-
faltigkeit des Rhythmus und der Prosodie, einen Überfluß an Reimen und
Qleichklängen, die es ihr ermöglichen, gewissermaßen musikalisch dem Kolorit
der von ihr geschilderten Empfindungen und Szenen nicht nur in kurzen
Klangnachahmungen, sondern selbst in langen Reden zu folgen. — Mit Recht
hat man das Verhältnis der polnischen zur russischen Sprache mit dem der
lateinischen zur italienischen verglichen. Die russische hat in der Tat etwas
Melismatischeres, Schmachtenderes. Ihr Tonfall eignet sich so vorzugsweise
zum Gesang, daß ihre schönen Dichtungen — wie beispielsweise diejenigen
Joukowskis und Puschkins — eine durch das Metrum der Verse bereits vor-
gezeichnete Melodie zu enthalten scheinen. Von manchen Stanzen, wie „der
schwarze Schal", der „Talisman" und vielen anderen, meint man ein Arioso
oder ein liebliches Kantabile einfach ablösen zu können. — Wesentlich ver-
schiedenen Charakters ist das alte Slawonisch, die Sprache der griechisch-
katholischen Kirche. Majestät ist ihr Gepräge. Reicher an Gutturallauten
als die anderen von ihr abstammenden Idiome, ist sie streng und von erhabener
Monotonie, wie die byzantinischen Gemälde, die der mit ihr verwachsene
Kultus aufbewahrt. Sie trägt die Physiognomie einer heiligen Sprache, die
nur einem einzigen Gefühl diente und nicht durch profane Leidenschaften
gemodelt und entnervt, nicht durch gemeine Bedürfnisse herabgewürdigt wurde.
8*
116 V. Chopins Individualität.
sich die seine. Niemand unter den Parisern war imstande, die in
den höchsten Regionen des Seins vollzogene Einigung zwischen
den Bestrebungen des Genies und der Reinheit der Wünsche zu
begreifen, wie sie ihm vorschwebte. Und noch weniger vermochte
man den Reiz dieser angeborenenVornehmheit und männlichen
Keuschheit zu verstehen, die um so größer war, je weniger sie selbst
sich ihrer Verachtung der gemeinen Sinnenlust da bewußt ward,
wo doch alle ringsum glaubten, daß die Einbildungskraft sich nur
in die Formen eines Meisterwerkes ergießen könne, wenn sie zuvor
in den Schmelzöfen der Sinnlichkeit in Glut gebracht worden sei.
Aber wie es eins der köstlichsten Vorrechte innerer Lauterkeit
ist, das Raffinement nicht zu erraten, am Zynismus der Scham-
losigkeit achtlos vorüberzugehen, so fühlte sich Chopin zwar wohl
bedrückt durch die Nähe gewisser Menschen, deren Blick stumpf,
deren Atem unrein war, deren Lippen sich satyrartig kräuselten;
aber er war weit entfernt zu mutmaßen, daß Handlungen, die er
als Verirrungen des Genies bezeichnete, auf den Schild erhoben
wurden und dem Kultus der Göttin Materie zur Verherrlichung
dienten. Hätte man es ihm tausendmal gesagt, man hätte ihn doch
nimmer überzeugt, daß die Roheit der Manieren, der ungezügelte
Ausdruck unwürdiger Gelüste, die mißgünstige Beurteilung der
Reichen und Vornehmen etwas anderes seien, als Mangel an Er-
ziehung, wie er sich in unteren Klassen äußert. Nie hätte er ge-
glaubt, daß jeder schlüpfrige Gedanke, jeder habsüchtige Wunsch,
jedes mörderische Gelübde der diesem gemeinen Götzen darge-
brachte Weihrauch sei, und daß jeder seiner übelriechenden Dämpfe
in den scheingoldenen Rauchgefäßen einer lügnerischen Poesie als
Huldigung der gotteslästerlichen Apotheose aufgenommen ward.
Das Leben auf dem Lande sagte ihm derart zu, daß er, um das-
selbe zu genießen, auch eine Gesellschaft, die ihm nicht behagte,
in den Kauf nahm. Man könnte daraus schließen, daß es ihm
leichter fiel, seinen Geist von den ihn umgebenden Menschen und
ihrem geräuschvollen Geschwätz, als seine Sinne von der drücken-
den Luft, dem trüben Licht, den prosaischen Bildern der Stadt
abzulenken, wo die Leidenschaften auf jedem Schritt gereizt und
tiberreizt werden und dem Sinn wenig Erfreuliches begegnet.
Chopins Lauterkeit, seine Liebe zum Landleben. 117
Was man hier sieht, hört und fühlt, regt auf, statt zu beruhigen;
bringt uns außer uns, statt uns zu uns selber kommen zu lassen.
Chopin litt darunter, ohne sich Rechenschaft darüber zu geben,
solange man in befreundeten Kreisen seiner harrte und der lite-
rarische und artistische Meinungskampf ihn lebhaft beschäftigte.
Die Kunst konnte ihn zeitweise die Natur vergessen machen.
Die Schönheit menschlicher Schöpfungen konnte ihm vorübergehend
für die Schönheit der Schöpfungen Gottes Ersatz bieten; auch liebte
er Paris. Und dennoch war er glücklich, sooft er dasselbe weit
hinter sich zurücklassen konnte.
Kaum war er auf dem Lande angekommen, kaum sah er sich
von Gärten, Bäumen, Gräsern und Blumen umgeben, so schien er
verwandelt, eine anderer Mensch. Der Appetit kam ihm zurück,
seine Heiterkeit, sein Witz sprudelten über. Er vergnügte sich an
allem mit allen und war erfinderisch in neuer Kurzweil und
wechselvoller Ausschmückung eines Aufenthaltes, den er, im Ge-
nuß frischer Luft und der Freiheit des Landlebens, als einen wohl-
tätig belebenden empfand. Spaziergänge unterhielten ihn; er
konnte viel gehen, auch fuhr er gem. Selten äußerte er sich über
ländliche Gegenden; doch konnte man leicht bemerken, welch
tiefen Eindruck sie auf ihn machten. Aus wenigen Worten, die
ihm entschlüpften, hörte man heraus, daß er sich inmitten von
Feld und Wiese, Hecke und Wald, die ja überall den gleichen Duft
aushauchen, seiner Heimat näher fühlte. Lieber sah er sich unter
Landleuten, Mähern und Schnittern, die in allen Ländern eine ge-
wisse Ähnlichkeit haben, als zwischen den Straßen und Häusern,
den Gossen und der Straßenjugend von Paris, die sicherlich nirgend
ihresgleichen finden und keine Erinnerung ins Gedächtnis zurück-
rufen; so erdrückend wirkt das riesige, oft unharmonische Ganze
der „Weltstadt" auf sensitive Naturen.
Überdem liebte Chopin, auf dem Lande zu arbeiten. Sein Or-
ganismus, der in der Dunst- und Staubatmosphäre der Stadt ver-
kümmerte, kräftigte sich in der reinen, gesunden Luft. Mehrere
seiner besten Werke, die während solch sommerlichen Aufenthaltes
geschaffen wurden, umschließen wohl das Andenken an seine glück-
lichsten Tage damaliger Zeit.
118 VI. Chopins Jugend.
VI.
Chopin wurde im Jahre 1810 zu 2eIazowa-Wola bei Warschau
geboren. Durch einen bei Kindern seltenen Zufall war er sich
während seiner ersten Lebensjahre seines Alters nicht bewußt,
und lediglich durch eine Uhr, die ihm die berühmte Catalani im
Jahre 1820 mit der Inschrift: ,, Madame Catalani dem zehnjährigen
FrM^ric Chopin" zum Geschenk machte, wurde, wie es scheint,
das Datum seiner Geburt in seinem Gedächtnis festgehalten. Das
Vorgefühl der großen Künstlerin gab dem schüchternen Kinde
vielleicht die erste Ahnung seiner Zukunft. Nichts Außergewöhn-
liches bezeichnete im übrigen den Verlauf seiner Kindheit. Seine
Innere Entwickelung durchlief wahrscheinlich nur wenig Phasen,
tat sich nur in wenig Äußerungen kund. Da er zart und kränk-
lich war, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit seiner Familie
auf seine Gesundheit. Schon damals ohne Zweifel eignete er sich
jene Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit des Wesens, jene Ver-
schwiegenheit über alles, was ihm Schmerzen verursachte, an,
die in dem Wunsche, anderen Sorgen zu ersparen, ihren Ursprung
fanden.
Keine frühzeitige Reife der Befähigung, kein Vorzeichen einer
auffallenden Entfaltung stellte in seiner ersten Jugend eine künftige
Überlegenheit der Seele, des Geistes oder des Talentes in Aussicht.
Sah man dies kleine leidende und lächelnde, immer geduldige und
heitere Wesen, so wußte man es ihm dermaßen Dank, daß es nie
übellaunig, noch eigensinnig ward, daß man sich wohl damit be-
gnügte, diese seine Vorzüge zu lieben, ohne darnach zu fragen, ob
es sein Herz auch ohne Rückhalt öffne und das Geheimnis aller
seiner Gedanken offenbare. Es gibt Seelen, die beim Eintritt in
das Leben reichen Wanderern gleichen, welche das Schicksal zu
einfachen Hirten führt, die außerstande sind, den hohen Rang
ihrer Gäste zu erkennen. Solange diese höher gearteten Wesen
bei ihnen weilen, überhäufen dieselben sie mit Gaben, die zwar
im Verhältnis zu ihrem eigenen Überfluß wenig bedeuten, dennoch
aber die Bewunderung unschuldiger Herzen erregen und über ihr
stilles Leben Glück verbreiten. Diese Bevorzugten geben an Liebe
Chopins Kindheit, seine Musik- und Gymnasialstudien. 119
m
ungleich mehr als die anderen, die ihre Umgebung bilden; man
empfängt es darum dankbar und glücklich, man hält sie für groß-
mütig, während sie doch in Wahrheit wenig verschwenderisch
mit ihren Schätzen sind.
In den Gewohnheiten eines ruhigen, tätigen Familienlebens
wuchs Chopin, wie von sicherer Wiege umfangen, auf, und die
Vorbilder der Einfachheit, der Frömmigkeit und Vornehmheit, die
ihm als Kind voranleuchteten, blieben ihm sein Leben lang über
alles lieb und teuer. Häusliche Tugenden, religiöse Gebräuche,
werktätige Liebe, strenge Bescheidenheit bildeten die reine Lebens-
luft, in der seine Einbildungskraft die sammetartige Zartheit der
Pflanzen gewann, die nie dem Staub der großen Heerstraße aus-
gesetzt wurden.
Frühzeitig unterrichtete man ihn in der Musik. Mit neun
Jahren begann er sie zu erlernen und wurde alsbald einem be-
geisterten Anhänger Sebastian Bachs, Zywna mit Namen, anver-
traut, der seine Studien jahrelang nach den Grundsätzen einer streng
klassischen Schule leitete. Als seine Familie in Obereinstimmung
mit seinem eigenen Wunsch und Beruf ihn zur Laufbahn eines
Musikers bestimmte, blendete vermutlich kein phantastisches
Traumbild einer ruhmreichen Zukunft ihre Augen und Hoffnungen.
Man hielt ihn zu ernster, gewissenhafter Arbeit an, damit er einst
ein tüchtiger und erfahrener Meister werde; aber man sorgte sich
nicht übermäßig um den mehr oder minder lauten Erfolg, den die
Früchte dieses Unterrichts und dieser pflichttreuen Arbeit einst
ernten würden.
Ziemlich jung ward er, dank der edlen und verständnisvollen
Protektion, die Fürst Anton Radziwill stets den Künsten und
jungen Talenten gewährte, deren Tragweite er mit dem Scharf-
blick eines ausgezeichneten Menschen und Künstlers erkannte,
einem der ersten Gymnasien Warschaus übergeben. Fürst Radzi-
will betrieb die Musik nicht nur als Dilettant; er war ein bemerkens-
werter Komponist. Seine vor vielen Jahren veröffentlichte schöne
Musik zum „Faust" wird noch allwinterlich von der Berliner Sing-
akademie aufgeführt. Durch die innige Art, mit der sie sich der
Qefühlsweise der Epoche anpaßt, welcher der erste Teil der
120 VI. Chopins Jugend.
Dichtung entstammt, scheint sie uns anderen ähnlichen Versuchen
ihrer Zeit überlegen.
Indem er den ziemlich beschränkten Verhältnissen der Familie
Chopins zu Hilfe kam, verlieh der Fürst diesem den unschätzbaren
Segen einer guten, nach keiner Richtung hin vernachlässigten Er-
ziehung. Denn er, dessen hochherziger Sinn ihn in den Stand
setzte, alle Erfordernisse der Laufbahn eines Künstlers zu ermessen,
war es, der vom Eintritt seines Schützlings ins Lyzeum an bis zur
gänzlichen Vollendung seiner Studien die Kosten der Pension
durch Vermittlung eines Freundes, Anton Korzuchowski, der in
dauernden herzlichen Beziehungen zu Chopin blieb, bestritt^. Oft
auch zog der Fürst den letzteren zu den von ihm veranstalteten
Landpartien und Festlichkeiten zu, und manche Anekdote ver-
knüpfte sich im Gedächtnis des Jungen Mannes jenen reizvollen
Stunden, die das ganze Feuer polnischer Heiterkeit belebte. Er
spielte durch seinen Geist wie sein Talent dort oftmals eine pikante
Rolle und nahm die Erinnerung an mehr als eine flüchtig an ihm
vorüberschwebende Schönheit mit sich hinweg. Unter ihnen die
junge Prinzessin Elise, die Tochter des Fürsten, die, in erster Jugend-
blüte sterbend, ihm das liebliche Bild eines Engels, der nur für kurze
Zeit auf diese Welt verbannt war, zurückließ.
Der liebenswürdige, verträgliche Charakter, den Chopin «in die
Schule mitbrachte, gewann ihm rasch die Liebe seiner Kameraden,
insbesondere die des Fürsten Calixt Czetwertynski und seiner Brü-
der. Mit ihnen gemeinsam verlebte er oft die Fest- und Ferienzeit
bei ihrer Mutter, der Fürstin Idalie Czetwertynska, die die Musik
mit feinem Verständnis pflegte und in dem Musiker gar bald den
Poeten zu entdecken wußte. Sie auch war es wohl, die Chopin
zuerst den Reiz kennen lehrte, zu gleicher Zeit gehört und verstanden
zu werden. Die Fürstin war noch immer schön, und ihren hohen
1 Seitens der Verwandten und der Biographen Chopins wurde dem wider-
sprochen, insofern Fr6d6rics Eltern in der Lage gewesen seien, aus eigenen
Mitteln für Erziehung ihres Sohnes zu sorgen. Andernseits erscheint die von
Liszt angeführte Quelle verläßlich, da Korzuchowski, ein polnischer Edel-
mann, lange Jahre der geschäftiiche Berater der russischen Linie Radziwill
war. [A. d, 0.]
Chopin in der Warschauer Aristokratie. 121
Tugenden und reizvollen Eigenschaften verband sich ein sympa-
thischer Geist. Ihr Salon war einer der glänzendsten und gesuch-
testen Warschaus. Chopin begegnete daselbst den vornehmsten
Frauen der Hauptstadt. Dort lernte er die verführerischen Schön-
heiten kennen, die dazumal, als man Warschau noch um die Pracht,
die Eleganz und Anmut seiner Gesellschaft beneidete, einer euro-
päischen Berühmtheit genossen. Durch Vermittelung der Fürstin
Czetwertynska ward er bei der Fürstin von Lowicz eingeführt,
wie er auch der Gräfin Zamoyska, der Fürstin Micheline Radziwill,
der Fürstin Therese Jablonowska, all jenen Zauberinnen näher-
trat, die von so vielen anderen, minder berühmten Schönheiten
umgeben waren.
Sehr jung noch gab er mit seinem Klavierspiel ihren Schritten
den Takt an. Während dieser festlichen Vereinigungen, die der
Versammlung von Feen glichen, enthüllten sich ihm im Wirbel
des Tanzes rasch die süßesten Herzensgeheimnisse. Mühelos konnte
er in den Seelen derer lesen, die sich freundschaftlich und ver-
lockend zu seiner Jugend herabneigten. Hier erfuhr er, aus welch
bittersüßer Mischung sich das poetische Ideal der Frauen seines
Volkes zusammensetzt. Wenn seine Finger zerstreut über die
Tasten glitten und ihnen plötzlich ein paar rührende Akkorde ent-
lockten, ward er der Zeuge verstohlener Tränen, die die Augen
liebeglühender junger Mädchen, vernachlässigter junger Frauen,
verliebter und ruhmdurstiger junger Männer benetzten. Stahl
sich nicht aus den zahlreichen Gruppen manchmal ein holdes Kind
in seine Nähe, um ihn um ein einfaches Präludium zu bitten? Auf
den Flügel gelehnt, ihr träumerisches Antlitz mit ihrer schönen
Hand stützend, deren feine Durchsichtigkeit durch die Juwelen
ihrer Ringe und Armbänder noch gehoben ward, ließ sie unbewußt
in einem tränenfeuchten Blick oder dem begeistert funkelnden Auge
das Sehnen ihres Herzens erraten. Geschah es nicht auch oft, daß,
um einen Walzer von schwindelnder Geschwindigkeit von ihm zu
erlangen, eine ganze Schar, mutwilligen Nymphen gleich, ihn lächelnd
umringte, als wolle sie an ihrer Heiterkeit die seine entzünden?
Als Chopin in den späteren Jahren seines kurzen Lebens eines
Tages eine seiner Mazurken einem befreundeten Musiker vorspielte.
122 Vi. Chopins Jugend.
der das magnetische Hellsehen, das sich aus seiner Erinnerung
loslöste und auf seinem Klavier Gestalt gewann, mehr fühlte
als begriff, unterbrach er sich plötzlich und flüsterte die Verse
Soumets, des damals beliebten Dichters:
Ich liebe dich,
Semida, und mein Herz folgt deinen Wegen,
Bald fliegt's auf Weihrauchs-, bald auf Sturmesschwingen dir entgegen M
Sein Blick schien durch eine Vision aus vergangenen Tagen
gefesselt, die keiner sieht, als der Eine, der sie wieder erkennt,
weil er sie sich während ihrer kurzen Dauer einst unvergeßlich
in die Seele prägte. Es war leicht zu erraten, daß Chopin irgend
eine Schönheit in hellem Gewände, schlank und graziös, mit weißem
Arm und gesenkten Lidern vor sich sah, deren blaue Augensterne
ihr Licht verstohlen über den vor ihr knienden Tänzer ergossen,
dessen halbgeöffneten Lippen sich ein Seufzer zu entringen schien:
„Bald fliegt's auf Weihrauchs-, bald auf Sturmesschwingen dir entgegen!''
Gern erzählte Chopin später, wenn auch in scheinbarem Oleich-
mut, so doch mit der unwillkürlichen inneren Erregtheit, die das
Andenken an unsere frühesten Schwärmereien begleitet, daß er
den ganzen in den Melodien und Rhythmen der Nationaltänze
zum Ausdruck komfnenden Gefühlsreichtum zuerst in jenen Tagen
erfaßte, wo er bei irgend einem prächtigen Fest die vornehme
weibliche Welt Warschaus mit all ihrem blendenden Glänze, all
der Koketterie geschmückt sah, deren Feuer das Herz versengt und
die Liebe entzündet, aber auch blind und unglücklich macht. Statt
der duftigen Rosen und Kamelien, die ihre Treibhäuser zeitigten,
zierte sie schimmerndes Geschmeide. Der bescheidenere durch-
sichtige Stoff, den die Griechen als „Luftgewebe'' bezeichneten,
war durch den Prunk golddurchwirkter Gaze, silbergestickten
Crepes, durch Brabanter und Alengoner Spitzen verdrängt. Und
dennoch schien es Chopin, als ob sie beim Klang des Orchesters,
mochte es auch noch so vortrefflich sein, minder rasch das Parkett
* Je t'alme, j
Semida, et mon couer vole vers ton Image,
Tantöt comme un encens, tantöt comme un oraget
Chopins Jugendeindrücke. 123
streiften, als ob ihr Lachen minder hell, ihr Blick minder strahlend
sei, als ob sie schneller ermüdeten denn an Abenden, wo der Tanz
improvisiert worden war, wo er, sich an das Klavier setzend, die
Zuhörer unversehens elektrisierte. Übte er solch elektrisierende
Wirkung, so geschah es, weil er in den seinem Volke eigenen mysti-
schen Tönen^ in den dem vaterländischen Boden entsprossenen
Tanzweisen, leicht verständlich für die Eingeweihten, das wieder-
zugeben verstand, was sein Ohr aus der heimlichen leidenschaft-
lichen Sprache dieser Herzen herausgehört hatte.
Täuschende Phantasiebilder, wundersame Visionen schaute er
in diesem ätherischen Lichtkreise. Er erriet, welch ein Schwärm
von Leidenschaften hier ohne Unterlaß umherschwirrt und auf
und nieder flutet in den Seelen. Mit erregtem Blick verfolgte er
diese Leidenschaften, die immer bereit sind, sich miteinander zu
messen, einander zu verstehen, zu verwunden, zu veredeln und zu
beseligen, ohne daß ihre geheime Glut und ihr zitternder Herzschlag
nur einen Augenblick das schöne Gleichmaß der äußeren Anmut,
die imposante Ruhe der äußeren Erscheinung störten. So lernte
er den Wert edlen und maßvollen Benehmens schätzen, sobald
es sich mit einer Kraft des Empfindens paart, welche verhütet,
daß das Feingefühl in Fadheit, die Zuvorkommenheit in Zudring-
lichkeit, die Konvenienz in Tyrannei, der gute Geschmack in Steif-
heit ausarte und das Gemütsleben nicht, wie dies häufig geschieht,
jenen harten, kalkigen Pflanzenarten gleiche, die man unter dem
symbolischen Namen „Eisenblumen" — flos ferri — kennt.
Die strenge Beobachtung des Schicklichen in diesen Kreisen
diente nicht dazu, ein hohles oder mißgestaltetes Innere dahinter
zu verbergen ; sie brachte im Gegenteil die Nötigung mit sich, alle
Berührungen und Beziehungen zu vergeistigen und zu erhöhen,
alle Eindrücke zu adeln. Was Wunder demnach, wenn seine
frühesten, in so vornehmer Umgebung angenommenen Gewohn-
heiten Chopin zu dem Glauben führten, daß die gesellschaftliche
Sitte, anstatt eine einförmige Maske zu sein, die unter der Sym-
metrie der gleichen Linien den Charakter aller Eigenart beraubt,
vielmehr dazu dient, die Leidenschaften in Zaum zu halten, ohne
sie zu unterdrücken, und sie vor Ausschreitungen zu bewahren,
124 VI. Chopins Jugend.
indem sie „den Schwärmern für das Unmögliche'' lehrte alle die
Tugenden, welche die Erkenntnis des Übels erzeugt, denen zu
vereinen, die „sein* Dasein in der Liebe vergessen lassen*' ^ und
somit die unmögliche Verwirklichung einer „Eva", die „unschul-
dig und gefallen. Jungfrau und Geliebte zugleich" ist, nahezu zu
ermöglichen.
In dem Maße, als jene ersten Jugendeindrücke Chopins in seiner
Erinnerung zurücktraten, gewannen sie in seinen Augen noch an
Anmut und Zauber und hielten ihn nur um so mehr in Fesseln,
als keine damit in Widerspruch stehende Wirklichkeit diesen heim-
lich in seiner Einbildungskraft verborgenen Zauber zu brechen
versuchte. Je mehr diese Epoche der Vergangenheit angehörte,
je mehr er sich zeitlich von ihr entfernte, um so mehr begeisterte
er sich für die Gestalten, die er aus seinem Gedächtnis heraufbe-
schwor. Es waren prachtvolle lebensgroße Porträts oder lächelnde
Pastellköpfe, umflorte Medaillons oder Kameen-Profile, Wasser-
farbenbilder dunklen Kolorits neben blassen, zarten Bleistift-
skizzen. Diese Galerie von Schönheiten verschiedenster Art war
seinem Geiste fort und fort gegenwärtig und yermehrte seinen
Widerwillen gegen die Freiheit des Wesens, die brutale Herrschaft
der Laune, die Gier, den Becher der Phantasie bis zur Hefe zu
leeren und sich von jeglichem Zufall des Lebens abenteuernd um-
hertreiben zu lassen, denen man in dem fremdartigen, stets be-
weglichen Kreise begegnet, welcher als die Pariser Boheme be-
zeichnet wird.
Indem wir von dieser, inmitten des Glanzes der damaligen
vornehmen Gesellschaft Warschaus verbrachten Periode seines
Lebens sprechen, wollen wir es uns nicht versagen, einige Zeilen
anzuführen, die Chopins Weise treffender als andere schildern,
in welchen letzteren wir nur das Zerrbild einer auf elastischen
Stoff gezeichneten und nun vielfach verzogenen Silhouette zu er-
kennen vermögen.
„Sanften, feinfühligen, in jeder Hinsicht ausgezeichneten We-
sens, verband er mit fünfzehn Jahren die Anmut der Jugend mit
1 Sand, Lucrezia Florian!.
Chopins Wesen. 126
der Würde des reiferen Alters. An Körper und Geist blieb er
zart. Für die mangelnde Muskelkraft aber entschädigte ihn Schön-
heit, eine außergewöhnliche Physiognomie, die sozusagen weder
Alter noch Geschlecht hatte. Nicht das männliche kühne Äußere
eines Abkömmlings der alten Magnaten, die nur zu trinken, zu
jagen und Krieg zu führen verstanden, noch die weibliche Lieb-
lichkeit eines rosigen Cherubs war ihm eigen. Etwas den idealen
Geschöpfen, welche die mittelaiterliphe Poesie zur Ausschmückung
der christlichen Gotteshäuser schuf. Verwandtes haftete ihm an.
Ein Engel schön von Angesicht, wie ein erhabenes, schmerzerfülltes
Weib, edel und schlank an Gestalt wie ein junger, olympischer
Gott — so sehen wir ihn vor uns, und diese Erscheinung krönte
ein Ausdruck, der zärtlich und streng, keusch und leidenschaft-
lich zugleich war.
„Und dies war der Grund seines Wesens. Es gab nichts Reineres
und dabei doch Exaltierteres als seine Gedanken, nichts Beharr-
licheres, Ausschließlicheres, Ergebeneres als seine Zuneigungen. . •
Aber nur das ihm Gleichgeartete begriff er; alles übrige existierte
für ihn nur wie eine Art lästigen Traums, dem er sich, obwohl in-
mitten der Welt lebend, zu entziehen trachtete. Allezeit in seine
Träumereien verloren, blieb er der Wirklichkeit abhold. Als Kind
konnte er kein schneidiges Instrument berühren, ohne sich zu ver-
wunden; als Mann vermochte er nicht einem anders gearteten Men-
schen gegenüberzustehen, ohne sich durch diesen lebendigen Wider-
spruch verletzt ztf fühlen. . . .
„Vor einem fortwährenden Antagonismus bewahrte ihn nur
die freiwillige und bald festgewurzelte Gewohnheit, nichts von
alledem zu sehen und zu hören, was ihm im allgemeinen und ohne
seine persönlichen Neigungen zu berühren mißfiel. Die Menschen,
die anders als er dachten, stellten sich seinen Augen wie eine Art
Phantom dar; da ihm aber eine liebenswürdige Artigkeit eignete,
konnte man für höfliches Wohlwollen nehmen, was bei ihm nur
kalte Geringschätzung, ja selbst unüberwindliche Abneigung
war, . , •
„Nie gestattete er sich eine Stunde der Mitteilsamkeit, ohne
sie durch mehrere Stunden der Zurückhaltung zurückzukaufen.
126 VI. Chopins Jugend.
Die moralischen Ursachen dessen waren kaum erkennbar. Es
hätte eines Mikroskops bedurft, um in seiner Seele zu lesen, in
deren Tiefe so wenig vom Lichte der Lebendigen drang. . . .
„Befremdend erscheint es, daß er bei einem derartigen Cha-
rakter Freunde haben konnte. Und dennoch besaß er deren, und
zwar nicht nur die Freunde seiner Mutter, die in ihm den würdigen
Sohn einer edlen Frau schätzten, sondern auch junge Leute seines
Alters, deren feurige Liebe er mit Liebe vergalt. . . . Von der
Freundschaft hatte er eine ideale Vorstellung, und gern gab er
sich in den Jahren der ersten Illusionen dem Glauben hin, daß er
und seine Freunde, die in der gleichen Weise fast und in denselben
Grundsätzen erzogen worden waren, niemals ihre Ansichten ändern
und in Widerspruch miteinander geraten könnten. . . .
„Sein Äußeres war zufolge seiner guten Erziehung und seiner
natürlichen Anmut so einnehmend, daß er selbst denen, die ihn
nicht kannten, gefallen mußte. Sein liebliches Antlitz stimmte
von vornherein für ihn günstig. Die Zartheit seiner Konstitution
machte ihn in den Augen der Frauen interessant; die reiche Bildung
seines Geistes, die ruhige und einschmeichelnde Originalität seiner
Gesprächsweise wendete ihm die Aufmerksamkeit unterrichteter
Männer zu. Leute minder feinen Schlags gewann er durch seine
ausgesuchte Höflichkeit, für die sie um so empfänglicher waren,
als sie in ihrer arglosen Gutmütigkeit nicht begriffen, daß sie ledig-
lich die Ausübung einer Pflicht für ihn war, an der die Sympathie
keinen Anteil hatte.
„Hätten sie ihn durchschauen können, so würden sie ihn mehr
liebenswürdig als liebevoll gefunden haben und hätten von ihrem
Standpunkte aus recht gehabt. Doch wie konnten sie auf solche
Gedanken kommen, da in den seltenen Fällen, wo er sich an andere
anschloß, seine Zuneigung so lebhaft und tief war. . . .
„Bei den kleinen Vorkommnissen des Lebens betätigte er die
gewinnendsten Umgangsformen. Der Ausdruck des Wohlwollens
nahm bei ihm eine ungewöhnliche Grazie an, und wenn er seiner
Dankbarkeit Worte verlieh, geschah dies mit einer inneren Be-
wegtheit, welche die empfangene Freundschaft mit Wucherzinsen
zurückzahlte.
Chopins Äußeres, seine Erstlingsliebe. 127
,,Er lebte in der Einbildung seines tagtäglich zu erwartenden
Todes. Darum ließ er sich die Fürsorge eines Freundes gefallen,
ob er ihm auch verhehlte, wie kurze Zeit er derselben zu bedürfen
meinte. Ein starker Mut war ihm nach außen hin eigen, und wenn
er den Gedanken eines nahen Todes nicht mit der heroischen Sorg-
losigkeit der Jugend pflegte, so hegte er doch die Erwartung des-
selben mit einer Art bitterer Wollust*"
••••••••••••••••»••••••••••••••••••••••
In diese erste Zeit seiner Jugend fällt seine Neigung für ein
junges Mädchen, das ihn lebenslang mit frommer Pietät im Herzen
trug. Der Sturm, der Chopin, gleich einem auf dem Gezweig eines
fremden Baumes überraschten Vogel, auf seinen Schwingen in
weite Ferne führte, trennte diese erste Liebe und beraubte den Ver-
bannten zu gleicher Zeit der Heimat wie der künftigen treuen Ge-
fährtin seines Lebens. Nie fand er das Glück, das er mit ihr geträumt,
wohl aber den Ruhm, an den er vielleicht nicht einmal gedacht
hatte. Sie war schön und lieblich, wie die Madonnen Luinis mit
den ernsten und doch so zärtlich blickenden Augen. Ruhig, doch
voll Trauer trug sie ihr Geschick, zumal als sie gewahrte, daß keine
andere Neigung das Dasein dessen versüßen sollte, den sie mit
jener naiv erhabenen Hingebung verehrte, die das Weib in einen
Engel verwandelt.
Diejenigen Frauen, welche die Natur mit den schwer zu tragen-
den Gaben des Genies — einer ungewöhnlichen Verantwortlichkeit
und steten Versuchung, dieselbe doch zu vergessen — belastet,
haben wohl, auch wenn sie die Sorgen um ihren Ruhm denen ihrer
Liebe nicht opfern dürfen, das Recht, ihrer Selbstverleugnung
Schranken zu setzen. Gleichwohl kann es geschehen, daß man selbst
angesichts der glänzendsten Genialität die aus rückhaltloser Hingabe
entspringenden göttlichen Gefühlsregungen vermißt; denn allein
die volle Liebeshingebung, welche das Weib mit seinem ganzen
Dasein, seinem Willen und Namen in dem des geliebten Mannes
aufgehen läßt, berechtigt den Mann, wenn er aus dem Leben scheidet,
zu dem Bewußtsein, daß er dasselbe mit der Frau geteilt, und daß
^ Lucrezia Floriani.
128 VI. Chopins Jugend.
seine Liebe ihr besser als jedwede zufällige oder vorübergehende
Verbindung die Ehre ihres Namens und den Frieden ihres Herzens
zu sichern vermochte.
Unvermutet von Chopin getrennt, blieb das junge Mädchen,
das ihm zur Braut bestimmt war und ihm doch niemals angehören
sollte, seinem Andenken und allem, was ihr von ihm zurückblieb,
treu. Mit kindlicher Freundschaft umgab sie seine Eltern, und
Chopins Vater duldete nicht, daß ein in jenen hoffnungsvollen Tagen
von ihr gezeichnetes Porträt seines Sohnes jemals durch ein an-
deres vollendeteres bei ihm ersetzt werde. Viele Jahre später
noch sahen wir die bleichen Wangen dieses trauernden Weibes
sich leise röten, wie den Alabaster ein plötzlicher Lichtschein färbt,
als beim Anschauen dieses Bildes sein Blick dem eines aus Paris
angekommenen Freundes begegnete.
Nach Ablauf der Gymnasialjahre begann Chopin seine Har-
moniestudien bei Professor Joseph Eisner. Bei ihm lernte er, was
am schwersten zu erlernen ist und am seltensten ausgeübt wird:
streng in den Anforderungen gegen sich selbst zu sein und Geduld
und Fleiß bei der Arbeit zu bewähren. Als er dann auch seinen
musikalischen Kursus zu glänzendem Abschlüsse gebracht hatte,
sollte er auf Wunsch der Eltern reisen, um berühmte Künstler
sowohl als gute Aufführungen der Meisterwerke der Tonkunst
kennen zu lernen. Zu diesem Zweck nahm er in verschiedenen
Städten Deutschlands einen kurzen Aufenthalt. Im Jahre 1830
hatte er, um solch flüchtigen Ausflugs willen, Warschau verlassen,
als die Revolution vom 29. November zum Ausbruch kam.
In Wien zu bleiben genötigt, ließ er sich daselbst in mehreren
Konzerten hören. Gerade in diesem Winter aber war das sonst
so verständnisvolle, von allen Feinheiten des Gedankens und der
Ausführung rasch entzündete Wiener Publikum zerstreut. Nicht
in dem Maße, als er es mit Recht erwarten durfte, erregte der junge
Künstler Aufsehen. Er verließ Wien, um sich nach London zu be-
geben, ging zuvor aber nach Paris, in der Absicht, nur kurze Zeit
dort zu verweilen. Seinem nach England visierten Passe hatte er
beifügen lassen: »passant par Paris«. Dieses Wort umschloß
seine Zukunft. Viele Jahre später, als er in Frankreich nicht nur
Chopin in Wien, in Paris. 129
akklimatisiert, sondern naturalisiert schien, sagte er noch lächelnd:
,,Ich bin nur en passant hier."
Nach seiner Ankunft in Paris gab er zwei Konzerte, in denen
er sofort die lebhafte Bewunderung der eleganten Gesellschaft wie
der jungen Künstler auf sich zog. Wir erinnern uns noch seines
ersten Auftretens bei Pleyel, wo der rauschendste Beifall gegenüber
diesem Talente, das nach der ideellen wie der formellen Seite seiner
Kunst hin eine neue Richtung offenbarte, unserer Begeisterung
kaum genugtat. Im Gegensatz zur Mehrzahl junger Debütanten,
zeigte er sich keinen Augenblick durch seinen Triumph berauscht
oder geblendet. Ohne Stolz und ohne falsche Bescheidenheit nahm
er ihn hin, frei vom Kitzel knabenhafter Eitelkeit, wie sie die Em-
porkömmlinge des Erfolgs an den Tag legen.
Alle seine Landsleute, die sich zu jener Zeit in Paris befanden,
bereiteten ihm den entgegenkommendsten Empfang. Kaum an-
gelangt, zählte er zu den vertrauten Freunden des Hotel Lambert,
wo der alte Fürst Adam Czartoryski mit Frau und Tochter die
Trümmer der polnischen Gesellschaft, die der letzte Krieg weit
umher geworfen hatte, um sich vereinigte. Mehr noch zog ihn die
Fürstin Marcelline Czartoryska in ihr Haus. Sie gehörte zu seinen
liebsten Schülerinnen, ja sie war, wie man sagt, die Bevorzugte,
der er die Geheimnisse seines Spiels als rechtmäßiger Erbin seiner
Erinnerungen und Hoffnungen zurückließ.
Häufig besuchte er die Gräfin Louis Plater, geborene Gräfin
Brzostowska, „Pani Kasztelanowa" genannt. Bei ihr hörte man
viel gute Musik; verstand sie es doch, alle die Talente, welche
damals ihren Aufschwung zu nehmen und als glänzende Stern-
bilder zu leuchten versprachen, in ermutigender Weise um sich
zu versammeln. Da fühlte sich der Künstler nie unedler, ja zu-
weilen barbarischer Neugier oder Indiskretion preisgegeben, die
im stillen überrechnet, wie viele Besuche, Diners und Soupers jede
Berühmtheit repräsentiert, um ja nicht zu verfehlen, eine solche,
falls sie gerade in der Mode ist, „bei sich zu haben*', ohne an einen
weniger bekannten Namen ihre Großmut zu verschwenden. Als
echte grande dame im alten Sinne des Worts, demzufolge sie sich
als die Beschützerin eines jeden betrachtete, der ia ihren auser-
Liszt, Qesammelte Schriften. I. V.A. 9
130 VI. Chopins Jugend.
wählten Kreis eintrat, empfing Gräfin Plater die Gäste ihres Hauses.
Bald Fee, bald Muse, Schutzengel, zarte Wohltäterin, jede Gefahr
erkennend, stets das rechte Auskunftsmittel erratend, war sie jeg-
lichem von uns eine ebenso geliebte als verehrte liebenswürdige
Protektorin, die unser Streben erwärmte uiid erhob und unserem
Leben fehlte, als sie nicht mehr war.
Viel verkehrte Chopin auch mit Frau von Komar und ihren
Töchtern, Fürstin Ludmilla von Beauveau und Gräfin Delphine
Potocka. Der letzteren Schönheit und unbeschreibliche Geistes-
anmut erhoben sie zu einer der gefeiertsten Königinnen des Salons.
Ihr widmete er sein zweites Konzert, mit dem von uns bereits an
anderer Stelle erwähnten Adagio. Bei der Schönheit ihrer reinen
Linien glich sie noch auf ihrem Totenbett einer ruhenden Statue.
Immer von Schleiern, Schals, Wolken durchsichtiger Gaze um-
hüUt, die ihr ein eigentümlich ätherisches Ansehen gaben, war die
Gräfin von einer gewissen Affektiertheit nicht frei; was sie aber
affektierte, war so ausgesucht fein, sie affektierte es in so vornehmer
Weise, war in der Wahl ihrer ihre angeborene Überlegenheit noch
erhöhenden Anziehungsmittel eine so raffinierte Aristokratin, daß
man nicht wußte, sollte man an ihr mehr die Natur oder die Kunst
bewundern. Ihr Talent, ihre unvergleichliche Stimme übten auf
Chopin einen Zauber, dessen holder Macht er sich leidenschaftlich
hingab. Diese Stimme aber sollte noch in seinen letzten Stunden
an sein Ohr klingen und für ihn die süßesten Töne der Erde mit
den ersten Akkorden himmlischer Musik verschmelzen.
Auch mit vielen jungen Polen stand er in Beziehung: Fontana,
Orda, dem eine große Zukunft zu winken schien, und der doch mit
zwanzig Jahren in Algier fiel; die Grafen Plater, Grzymala, Os-
trowski, Szembeck, Fürst Casimir Lubomirski u. a. Da auch
die später in Paris eintreffenden polnischen Familien sich beeilten,
seine Bekanntschaft zu machen, so verkehrte er fortdauernd vor-
zugsweise mit einem Kreis, der zum größten Teil aus seinen Lands-
leuten bestand. Durch ihre Vermittelung ward er nicht nur von
allen Vorkommnissen in seinem Vaterland unterrichtet, er blieb
auch in einer Art musikalischer Verbindung mit demselben. Gern
ließ er sich die neuen. Dichtungen und Gesänge zeigen, die die Neu-
Chopin und die polnische Aristokratie in Paris. 131
ankommenden nach Frankreich mitbrachten. Gefielen ihm die
Worte derselben, so unterlegte er ihnen oftmals eine eigene Melodie,
die sich rasch in seiner Heimat verbreitete, ohne daß der Name
ihres Urhebers immer bekannt geworden wäre. Nachdem diese
nur der Eingebung seines Herzens entsprungenen Melodien all-
mählich zu beträchtlicher Anzahl angewachsen waren, dachte
Chopin in seiner letzten Lebenszeit daran, sie zur Veröffentlichung
zusammenzustellen. Leider gebrach ihm die nötige Muße dazu,
und so bleiben sie nun verloren und verstreut, wie der Duft von
Blumen, die an unbewohnten Orten blühen und nur den einsamen
Pfad des vom Zufall dahin geführten Wanderers mit Wohlgeruch
erfüllen. Wir hörten in Polen mehrere solcher ihm zugeschriebener
Melodien, die in der Tat auch seiner würdig wären. Wer aber
wollte es gegenwärtig wagen, unter den Eingebungen des Dichters
und seines Volkes eine unsichere Auslese zu halten?
Polen darf sich vieler Sänger rühmen, selbst solcher, die neben
den ersten Dichtern der Welt zu nennen sind. Mehr denn je lassen
es sich seine Schriftsteller angelegen sein, die merkwürdigsten und
ruhmreichsten Blätter seiner Geschichte, die ergreifendsten und
malerischsten Charakterzüge des Landes und seiner Sitten hervor-*
zuheben. Chopin aber, der nicht wie sie planmäßig vorging. Über-
ragte sie alle an Originalität. Er hat dies Resultat nicht gesucht
und gewollt; nicht von vornherein schuf er sich ein solches Ideal.
Seine Kunst schien sich zuvörderst für eine „nationale Poesie*'
nicht zu eignen ; auch forderte er ihr nicht mehr ab, als sie zu leisten
vermochte. Nur was er singen konnte, sollte sie schildern. Ab-
sichtslos, ohne in die Vergangenheit zurückzugreifen, gedachte
er der vaterländischen Ruhmestaten; ohne sie im voraus zu ana-
lysieren, verstand er seiner Zeitgenossen Liebe und Tränen. Nicht
das Resultat langen Sinnens und Grübelns war seine polnische
Musik; er wäre vielleicht erstaunt gewesen, sich einen polnischen
Musiker neanen zu hören. Und dennoch war er ein nationaler
Musiker par excellence!
Sehen wir nicht zuweilen einen Dichter oder Künstler auf-
tauchen, der den poetischen Sinn und Gehalt einer Gesellschaft
und E|>oche in sich zusammenfaßt und samt den Typen, die sie
9*
132 VI. Chopins Jugend.
umschloß oder zu verwirklichen trachtete, in seinen Schöpfungen
darstellt? Was man durch Homers Epen, durch Horaz* Satiren,
Calderons Dramen, Terburgs Bilder, Latours Pastelle bestätigt
findet, könnte es sich, nur in anderer Weise, nicht auch in der
Musik wiederholen? Warum vermöchte nicht auch der Tonktinstler
in seinem Stil und Kunstwerk Geist und Empfinden, Leben und
Ideal einer Gesellschaft widerzuspiegeln, die innerhalb einer be-
stimmten Zeit und eines bestimmten Landes eine besondere cha-
rakteristische Gruppe bildete? Chopin war der Dichter des Landes
und der Zeit, die ihn geboren. Das seinem Volk ureigene und unter
allen seinen Zeitgenossen verbreitete poetische Empfinden faßte
er in seiner Phantasie zusammen und brachte es durch sein Talent
zu künstlerischem Ausdruck.
Wie alle echten Nationaldichter sang Chopin wähl- und ab-
sichtslos, was die Gunst des Augenblicks ihm freiwillig gewährte.
So wurden in natürlichster Weise und idealisiertester Form die
Empfindungen, die seine Kindheit belebt, sein Jünglingsalter be-
wegt, senie Jugend verschönt hatten, in seinen Gesängen wieder
lebendig. So auch gewann das „wirkliche Ideal'* der Seinen,
wenn man so sagen darf, das einst in Wahrheit existierende Ideal,
dem alle im allgemeinen und jeder im besonderen sich in irgend
einer Weise näherten, unter seiner Feder Gestalt. Anspruchslos
vereinigte er die in seinem Vaterland allenthalben unklar emp-
fundenen und fragmentarisch zerstreuten Gefühle zu einer glänzenden
Strahlengarbe. Erkennt man den nationalen Künstler nicht eben
an der Gabe, die seinem Volke eigenen, wenn auch vielfältig zer-
streuten und unbestimmten Bestrebungen in eine allen Völkern
verständliche poetische Formel zusammenzufassen?
Ist man gegenwärtig nicht ohne Grund bemüht, die in den ver-
schiedenen Ländern heimischen Melodien sorgfältig zu sammeln,
so möchte es uns noch interessanter dünken, dem Charakter, der
auf das Talent der ganz besonders durch das Nationalgefühl in-
spirierten Virtuosen und Komponisten bestimmend wirkt, einige
Aufmerksamkeit zu schenken. Nur wenige sind es bisher, deren
hervorragende Werke sich der allgemeinen Einteilung in italienische,
französische, deutsche Musik nicht einordnen lassen. Dessen-
Chopiq als rtationaler Tondichter. 133
ungeachtet läßt sich vermuten, daß bei der erstaunlichen Ent-
wickelung, die dieser Kunst in unserem Jahrhundert bestimmt zu
sein scheint (und die vielleicht die glorreiche Ära der Malerei des
cinque cento für uns erneuert), Künstler hervortreten werden,
deren Individualität eine feinere, verzweigtere Klassifizierung be-
dingt; deren Werke den Stempel einer aus der Verschiedenheit
der Wesenheiten geschöpften Originalität tragen, wie sie die Ver-
schiedenheit der Rassen, des Kümas und der Sitten in jedem Lande
hervorbringt. Die Zeit wird kommen, wo ein amerikanischer Pia-
nist sich von einem deutschen, ein russischer Symphoniker von
einem italienischen wesentlich unterscheiden wird. Es ist voraus-
zusehen, daß, wie in allen Künsten so auch in der Musik, die Ein-
wirkungen des Vaterlandes auf große und kleine Meister, dii mi-
nores, erkennbar werden; daß man in den Produktionen aller den
Volksgeist vollständiger, poetisch wahrer und interessanter für
das Studium abgespiegelt finden wird, als in dem abgeleierten, un-
künstlerischen populären Klingklang, so rührend derselbe auch den
Zeitgenossen erscheinen möge.
Chopin wird dann den ersten Musikern beigezählt werden, die
in dieser Weise, unabhängig vom Einfluß einer Schule, den poeti-
schen Gehalt einer ganzen Nation in sich individualisierten. Und
zwar nicht nur, weil er sich des Rhythmus der „Polonaisen", der
„Mazurken" oder „Krakowiaks" bediente und mit ihrem Namen
viele seiner Arbeiten benannte. Hätte er sich darauf beschränkt,
sie zu vermehren, so würde er stets nur dasselbe Bild, die Erinne-
rung an denselben Gegenstand, an dieselbe Tatsache dargestellt
haben — eine Reproduktion, die bald langweilig geworden wäre,
da sie nur der Verbreitung einer einzigen, leicht mehr oder minder
monoton werdenden Form gedient hätte. Sein Name wird als der
eines wesentlich polnischen Dichters fortdauern, weil er alle die
von ihm benutzten Formen als Ausdruck einer seinem Volke eigenen,-
anderwärts nahezu unbekannten Empfindungsweise anwandte;
weil der Ausdruck der gleichen Empfindungen sich unter allen
Formen und allen Namen wiederfindet, die er seinen Werken gab.
Seine „Präludien", seine „Etüden", seine „Nocturnes" zumal,
seine „Scherzi", selbst seine „Sonaten" und „Konzerte" — seine
134 VI. Chopins Jugend.
kürzesten, wie seine umfangreichsten Kompositionen — atmen
die gleiche Empftndungsweise, die, in verschiedenen Steigerungen
dargestellt, tausendfach umgestaltet und variiert, doch immer eine
und dieselbe bleibt. Als ein im höchsten Grade subjektiver Künst-
ler beseelte Chopin alle seine Schöpfungen mit dem gleichen Leben,
nämlich mit dem ureigenen Leben ihres Schöpfers selbst. Durch
die Einheit des Gegenstandes sind demnach alle seine Werke mit-
einander verbunden. Ihre Schönheiten wie ihre Fehler sind die
Folge einer immer gleichen und zwar einer exklusiven Gefühlsweise.
Diese aber ist die erste Bedingung für den Dichter, wenn seine
Gesänge einen Widerhall finden sollen in den Herzen seines Volkes^.
1 Wir führen hier einige Zeilen des Grafen Zaluskl, des Enkels jenes
Fürsten Oginski an, dessen wir als Autors der erwähnten, mit der seltsamen
Vignette versehenen Polonaise gedachten. Besser wohl als viele Landsleute
Chopins wußte Graf Zaluski, ein vortrefflicher Musiker, Sinn, Geist und Seele
seiner Werke zu erfassen. In einem interessanten Aufsatz über Chopin, den
eine Wiener Zeitschrift „Die Dioskuren", II. Band, veröffentlichte, äußert
der als Dichter wie als Orientalist sich auszeichnende Diplomat sich folgender-
maßen:
„Kein Werk des Meisters ist aber geeigneter, einen Einblick in den er-
staunlichen Reichtum seiner Gedanken zu gewähren, als seine Präludien.
Diese zarten, oft ganz kleinen Stücke sind so stimmungsvoll, daß es kaum mög-
lich ist, beim Anhören derselt>en sich der herandringenden poetischen Anre-
gungen zu erwehren. An und für sich bestimmt, musikalische Intentionen
mehr anzudeuten als auszuführen, zaubern sie lebhafte Bilder hervor, oder
sozusagen von selbst entstandene Gedichte, die dem Herzensdrang entsprechen-
den Gefühlen Ausdruck zu geben suchen. Bewegt, leidenschaftlich, zuletzt
so wehmütig ruhig ist das Pr61ude in Fis-MoII, daß man unwillkürlich daran
einen deutlichen Gedanlcen IcfiUpft, indem man sagt:
Es rauschen die Föhren in heri)stlicher Nacht,
Am Meer die Wogen erbrausen.
Doch wildere Stürme mit böserer Macht
Im Herzen der Sterblichen hausen.
Denn ruht wohl die See bald und seufzet kein Ast,
Das Herz, ach! muß grollen und klagen,
Bis daß ein Glöcklein es mahnet zur Rast
Und jetzo es aufhört zu schlagen!
„Zwei reizende Gegenstücke erinnern an eine Theokrittsche Landschaft,
an einen rieselnden Bach und Hirtenflötentöne. Der Absicht, die Rollen
. Chopins Subjektivität. 185
Nichtsdestoweniger darf man fragen, ob diese eminent nationale,
ausschließlich polnische Musik bei ihrem Erscheinen seitens derer,
die sie besang und verherrlichte, einer gleich verständnisvollen und
eifrigen Aufnahme begegnete als Mickiewicz', Slowackis, Krasinskis
Dichtungen? Ach! die Kunst trägt einen so rätselhaften Zauber
in sich, ihre Wirkung auf die Herzen ist eine so geheimnisvolle,
daß selbst die, welche am meisten von ihr beherrscht werden, das,
was sie singt und sagt, nicht allsogleich in Worten oder Bildern
wiederzugeben vermögen. Ganze Generationen müssen diese Poesie
erst in sich aufzunehmen, ihren Duft einzuatmen gelernt haben,
um endlich ihren ganzen lokalen Reiz zu erfassen und daraus ihre
Abkunft zu erraten.
Chopins Landsleute umdrängten ihn. Sie nahmen Anteil an
seinen Erfolgen, freuten sich seiner Berühmtheit, rühmten sich
seines Namens als eines ihnen Angehörenden. Wußten sie aber,
inwieweit seine Musik ihnen angehörte? Gewiß, sie ließ ihre Herzen
höher schlagen, entlockte ihren Augen Tränen; aber wußten sie
wohl immer warum? Vielleicht ist einer, der viel mit ihnen ver-
kehrt, sie besonders geliebt und bewundert hat, zu der Annahme
berechtigt, daß sie nicht Künstler und Musiker genug, nicht ge-
nügend scharfsinnige Beurteiler der künstlerischen Intentionen
unter beide Hände zweifach zu verteilen, entsprang die doppelte Darstellung
deren Analogien und Kontraste in fast mikroskopischen Verhältnissen wunder-
bar erscheinen. Sie erinnern an jene wundervollen Gebilde der Natur, die
im kleinsten Raum eine so erstaunliche Zahlenmenge aufweisen. Man zähle
nur die Noten des zuerst erwähnten Präludiums, ihre Zahl beträgt gegen fünf-
zehnhundert, die kaum eine Minute ausfüllen. — Anderswo rollen Orgeltöne
im weiten Domesraum, oder es erzittern im fahlen Mondlichte Friedhofsklage-
töne, während Irrlichter geisterhaft vorbeihuschen. Dort wandelt der Sänger
am Meeresufer, und der Atemzug des bewegten Elementes umweht ihn wie
mit unbekannten Stimmungen aus fernen Welten.
„Es fehlt nicht an traditionellen Auslegungen mancher Schöpfungen
Chopins. Wer denkt da nicht gleich an das Pr61ude in Des-Dur, das an einem
stürmischen Tage auf den Balearen entstand? Gleichmäßig und immer wieder-
kehrend fallen bei Sonnenschein Regentropfen herab; dann verfinstert sich
der Himmel, und ein Gewitter durchbraust die Natur. Nun ist es vorüber-
gezogen,, und wieder lacht die Sonne; doch die Regentropfen fallen noch
immer I ..."
136 VI. Chopins Jugend.
waren, um sich über den letzten Grund ihrer tiefen Bewegung beim
Anhören ihres Barden Rechenschaft zu geben. Aus der Weise,
wie einige seine Kompositionen spielten, sah man, daß sie zwar stolz
auf Chopin als ihren Stammesgenossen waren, aber keine Ahnung
davon hatten, daß seine Musik ausdrücklich von ihnen sprach,
sie in Szene setzte und dichterisch verklärte.
Eine andere Zeit, ein anderes Geschlecht freilich war mittler-
weile herbeigekommen. Das Polen, das Chopin gekannt, hatte,
tapfer und ritterlich, seine ersten europäischen Lorbeeren auf den
sagenhaften Schlachtfeldern des ersten Napoleon gepflückt. Es
hatte mit dem schönen unglücklichen Fürsten Joseph Poniatowski,
der sich in die Fluten der Elster stürzte, einen heroischen Glanz
um sich verbreitet, und noch immer scheinen jene Fluten erstaunt
über die Kühnheit, mit der sie ihn verschlungen, wie über den Welt-
ruf, der sich an ihre prosaischen Ufer knüpft, seit eine mächtige
Trauerweide die berühmten Manen überschattet. Das Polen
Chopins war noch das von Ruhm und Lustbarkeit, Tanz und Liebe
berauschte Polen, das heldenmütig auf den Wiener Kongreß gehofft
hatte und töricht genug auch unter Alexander L noch hoffte. —
Inzwischen* war Kaiser Nikolaus zur Regierung gekommen! —
Wer freilich unter den Eindrücken einer so düsteren Wirklichkeit
dem Vaterland entflohen war, vermochte, in Paris anlangend, den
Faden der Erinnerungen Chopins nicht leicht da wieder aufzu-
nehmen, wo er abgerissen worden war.
Gern hätten wir hier durch Analogie von Wort und Bild die
inneren Eindrücke verständlich gemacht, die einer so auserlesenen
Feinfühligkeit und Reizbarkeit entsprechen, wie sie feurigen und
leicht beweglichen, in ihrem Stolz tief verwundeten Naturen eigen
ist. Doch schmeicheln wir uns nicht, daß es uns gelungen wäre,
eine so ätherische Flamme in den engen Raum des Wortes zu
bannen. Wäre die Lösung dieser Aufgabe überhaupt möglich?
Wird neben den machtvollen oder lieblichen Eindrücken, wie andere
Künste sie hervorrufen, das Wort nicht immer matt, kalt und dürftig
erscheinen? Äußerte eine Frau, deren Feder viel gesagt, gemalt,
gemeißelt und gesungen hat, nicht oft mit Recht: „daß von allen
Arten, ein Gefühl zum Ausdruck zu bringen, das Wort die unzu-
Chopin will ausdauernd studiert sein. 137
länglichste sei?'' Wir bilden uns nicht ein, in diesen Blättern die
Weichheit der Pinselführung erreicht zu haben, die erforderlich
wäre, um die mit unnachahmlicher Leichtigkeit entworfenen Ton-
bilder Chopins wiederzugeben.
Da ist alles zart und fein, bis hinauf zur Quelle des Zorns und
der Leidenschaft. Da verschwinden die freien, raschen Impulse.
Bevor sie ans Licht treten, mußten sie alle die strenge Musterung
einer fruchtbaren, geist- und anspruchsvollen Phantasie bestehen,
die sie zusammenstellte und ihre Gestalt bestimmte. Sie alle wollen
mit Scharfsinn erfaßt, mit Feingefühl künstlerisch verlebendigt
werden. Das eben, daß er sie mit ausgesucht wählerischer Hand
erfaßte und mit wunderbarer Kunst verlebendigte, hat Chopin zum
Künstler ersten Ranges gemacht. Nur wenn man ihn lange und
ausdauernd studiert, seinen Gedanken durch ihre vielfältigen Ver-
zweigungen nachgeht, lernt man vollkommen verstehen und wür-
digen, wie er sie förmlich sichtbar und greifbar zu machen wußte,
ohne daß sie je schwerfällig oder kalt erschienen.
Zu jener Zeit brachte ein befreundeter Musiker, ein entzückter
und begeisterter Zuhörer, ihm täglich eine sozusagen intuitive
Bewunderung dar; denn erst viel später erschloß sich ihm das ganze
Verständnis dessen, was Chopin gesehen und geliebt, was ihn in
seinem Vaterlande erregt und entflammt hatte. Er hätte ohne
Chopin, selbst wenn er Polen und die Polinnen gekannt hätte,
wohl nie erraten, was Polen war, und was die Polinnen und ihr Ideal
sind. Hinwiederum hätte er Chopins Ideal: Polen und die Polinnen,
wohl nicht so zu verstehen vermocht, hätte er nicht seine Heimat
aufgesucht und dort der Fülle von Hingebung, Großmut und
Heldenmut, die das Frauenherz umschließt, bis auf den Grund
geschaut. Alsbald begriff er, daß der polnische Künstler seine
Verehrung des Genies dadurch kundgab, daß er es als Vorrecht
der Geburt betrachtete. . . .
Als Chopins Aufenthalt in Paris sich verlängerte, wurde er in
Kreise hineingezogen, die sich antipodisch zu denen verhielten,
in deren Mitte er aufgewachsen war. Sicherlich dachte er nie
daran, den Umgang mit den schönen und geistvollen Beschütze-
rinnen seiner Jugend aufzugeben, und dennoch — er wußte nicht,
138 VI. Lelila.
wie es geschah? — kam eine Zeit, wo seine Besuche bei ihnen sel-
tener wurden. Dem Kreise, in den er nun eingetreten war, war
das polnische Ideal und vollends das Ideal irgend welchen Geburts-
vorrechtes gänzlich fremd. Wohl begegnete er daselbst der könig-
lichen Erscheinung des Genies, die ihn angezogen hatte. Aber sie
versammelte keinen Adel, keine Aristokratie um sich, die imstande
gewesen wären, sie auf den Schild zu erheben und' mit grünem
Lorbeer oder funkelndem Diadem zu krönen. Wandelte ihn ein-
mal die Lust an, sich selber Musik zu machen, so redeten die Liebes-
lieder seines Klaviers eine Sprache, die keiner ringsumher verstand.
Berührte ihn vielleicht der Kontrast zwischen dem Salon, in
dem er gegenwärtig war, und jenen anderen, wo man ihn vergeb-
lich erwartete, zu peinlich, als daß er der bösen Macht zu ent-
rinnen vermochte, die ihn in einer seiner vornehmen Natur so
fremdartigen Umgebung festhielt? Oder dünkte ihm im Gegen-
teil dieser Kontrast nicht stark genug, um ihn dem Genuß unseliger
Liebeslust zu entreißen, nun sein Vaterland ihm inmitten seiner
verbannten oder unglücklichen Töchter nicht mehr jene magischen
Feste zu bieten vermochte, wie er sie in seinen Jugendjahren ge-
schaut? Wer von den Seinen hätte es denn gewagt, sich in jener
Zeit an einem Feste zu beteiligen? Wer also von denen, die seine
Landsleute nicht kannten, wußte und ahnte etwas von der Welt,
die diese polnischen Sylphiden und Peris belebten und als züchtig
fromme Zauberinnen beherrschten? Und hätte man auch wirklich
ihre duftigen Schattenrisse mit staunendem Auge geschaut, was
würden die, deren Haar und Bart so wenig von Pflege als ihre Hände
von Handschuhen wissen, davon verstanden haben? Rasch hätten
sie sich abgekehrt, wie wenn der zerstreut emporgerichtete Blick
weißen oder purpurnen Wolken begegnet, die mit ihren wech-
selnden Farbentönen ^ine Landschaft am luftigen Himmelsge-
wölbe malen, die freilich den wütenden Politiker sehr gleichgültig
läßt.
Mit welch geheimer Angst mag Chopins Blick sich aus der
unschönen, ihn bedrückenden Wirklichkeit der Gegenwart oftmals
in die Poesie der Vergangenheit zurückgeflüchtet haben, wo er nur
Leidenschaft und Anmut um sich sah, die die Seele befriedigen und
George Sands Kreise. 139
den Willen stählen, aber sie nie verweichlichen lassen! Beredter
als alte menschlichen Worte wirkt die Zurückhaltung in einer Luft,
wo man Feuer, aber ein belebendes, durch Tugend, Ehre, Geschmack,
Noblesse der Wesen und der Dinge geläutertes Feuer einatmet.
Gleich van Dyck vermochte auch Chopin seiner Natur nach nur
ein einer höheren Sphäre angehörendes Weib zu lieben. Doch
minder glücklich als der Lieblingsmaler des vornehmsten Adels
der Welt, verfiel er den Fesseln einer Macht, die den Anforderungen
seines Wesens nicht entsprach. Er begegnete nicht dem edeln
jungen Mädchen, das glücklich war, sich in einem von Jahrhunder-
ten bewunderten Meisterwerk verewigt zu sehen, wie van Dyck
die blonde Hebliche Engländerin verewigte, deren schöne Seele in
ihm erkannte, daß der Adel des Genies noch über dem des Stamm-
baumes steht.
Lange Zeit hielt Chopin sich von den gefeiertsten Berühmt-
heiten der französischen Hauptstadt fern; der laute Schwärm ihrer
Anhänger war ihm lästig. Er seinerseits forderte weniger als sie
ilie Neugier heraus, da sein Charakter und seine Gewohnheiten
mehr wahre Originalität als augenfällige Exzentrizität bekundeten.
Da wollte es das Unglück, daß er eines Tages vom Zauberbann
eines Blickes getroffen ward, der, als er ihn seinen Flug zu den
Wolken nehmen sah, sich ihm zuwandte und ihn in seine Netze
fallen ließ. Man wähnte diese Netze wohl anfangs vom feinsten
Golde und mit Perlen übersät; aber jede ihrer Maschen ward für
ihn zur Fessel. Vermochte diese auch seinen Genius nicht zu
schädigen, sie zehrte doch an seinem Leben und entrückte ihn
vor der Zeit der Welt, seinem Vaterlande, der Kunst!
VIL
Im Jahre 1836 hatte Frau George Sand nicht nur »Indiana«,
»Valentine« und »Jacques«, sondern auch »L61ia« veröffentlicht
— eine Dichtung, von der sie später sagte: „Wenn ich bedauere,
sie geschrieben zu haben, so ist es, weil ich sie nicht noch einmal
schreiben kann. In einer ähnlichen Geistesverfassung wie damals,
würde es mir heute eine große Erleichterung gewähren, sie wieder
140 VIL Lelila.
anfangen zu können^/' In der Tat, die Aquarellmalerei des Romans
mußte George Sand fad erscheinen, nachdem sie Meißel und Hammer
des Bildhauers geführt und diese gewaltige Statue modelliert hatte,
der in ihrer monumentalen Unbeweglichkeit ein verführerischer
Reiz' innewohnt, und die bei längerer Betrachtung uns schmerz-
lich bewegt, wie wenn, durch ein dem des Pygmalion entgegen-
gesetztes Wunder, eine lebendige Galathea durch den von Liebe
erfaßten Künstler in Stein verwandelt worden wäre, um ihre Schön-
heit und Vergänglichkeit zu schützen. Statt daß wir aber an-
gesichts der zum Kunstwerk verwandelten Natur die Liebe sich
der Bewunderung gesellen sehen, verstimmt uns vielmehr die Wahr-
nehmung, daß Liebe in Bewunderung übergehen kann.
Bleiche Lelia! Einsame Gegenden hat dein Fuß durchwandert,
düster wie Lara, zerrissenen Gemütes wie Manfred, rebellisch wie
Kain, so warst du; doch wilder, unbarmherziger, trostärmer noch
als jene. Denn kein Männerherz fand sich, das weiblich genug
fühlte, um dich zu lieben, wie sie geliebt wurden, um deinen herben
Reizen den Tribut blind vertrauender Unterwerfung, stummer und
heißer Hingebung zu zollen, um seine Fügsamkeit unter den Schutz
deiner Amazonenkraft zu stellen! Heldenweib, wie jenes kriege-
rische Geschlecht warst auch du tapfer und kampfbegierig und
scheutest dich nicht, dein sammetweiches Antlitz durch Sonne
und Sturm bräunen zu lassen, deine mehr geschmeidigen als kräf-
tigen Glieder an Beschwerden zu gewöhnen und ihnen so die Macht
ihrer Schwachheit zu rauben! Wie jene Heldinnen mußtest auch
du mit einem dich blutig verletzenden Panzer die Brust bedecken,
die, hold wie das Leben, verschwiegen wie das Grab, dem Manne
heilig ist, wenn sein Herz den ausschließlichen undurchdringlichen
Schild derselben bildet!
Nachdem sie mit stumpferem Meißel dies Antlitz geglättet,
dessen Hoheit und Stolz, dessen düster umschatteter Blick und
flutendes Haar an die griechischen Marmorbilder der Gorgone
erinnern, deren herrliche Züge und schöne, verhängniskündende
Stirn wir bewundern, ob auch ihr sardonisches Lächeln das Blut
* Lettres d'un voyageur.
G. Sand auf der Höhe des Ruhms. 141
erstarren macht — suchte George Sand vergebens nach einer anderen
Form für das Gefühl, das ihre unbefriedigte Brust durchwühlte.
Nachdem ihre hohe Kunst diese Gestalt geschaffen, welche alle
männlichen Tugenden in sich vereinte, um die einzig von ihr ver-
schmähte: die Selbstaufopferung in der Liebe, zu ersetzen, die der
Dichter als „das ewig Weibliche" unter allen Tugenden am höchsten
feiert; nachdem sie Don Juan verdammen und doch eine Hymne
auf das Genußverlangen von dem Weibe singen ließ, das gleich
Don Juan die einzige Lust, welche das Verlangen stillen kann:
die Entsagung, verschmähte; nachdem sie, indem sie Stenio schuf,
Elvira gerächt und, mehr als Don Juan die Frauen erniedrigt,
die Männer verachtet hatte — schilderte George Sand in den „Briefen
eines Reisenden'* die Abspannung und Betäubung, die den Künstler
ergreifen, wenn, obwohl er die ihn beunruhigende Empfindung
in einem Werke verkörperte, seine Phantasie doch fortdauernd
in ihrem Banne bleibt, ohne daß er sie in anderer Form zu ideali-
sieren vermöchte. Es sind dies Dichter quälen, die Byron wohL
verstand, als er den von ihm wieder auferweckten Tasso heiße Tränen
weinen ließ, nicht über Kerker und Ketten, die ihn fesselten, noch
über seine körperlichen Schmerzen oder die Schmach der Mensch-
heit: sondern darüber, daß sein Epos beendigt und er nun seiner
Traumwelt entrückt, der grausamen Wirklichkeit zurückgegeben sei.
Durch einen Chopin befreundeten Musiker, einen von denen,
die ihn bei seiner Ankunft in Paris aufs freudigste begrüßt hatten,
hörte George Sand zu jener Zeit häufig von diesem exzeptionellen
Künstler sprechen. Mehr noch als sein Talent wurde ihr sein
poetisches Genie gepriesen. Sie lernte seine Werke kennen und
bewunderte ihre süße Schwärmerei. Sie erstaunte über den Ge-
fühlsreichtum, der diese Dichtungen und Herzensergüsse lauterster
Edelart erfüllte. Dazu kam, daß einige Landsleute Chopins ihr von
den Frauen ihrer Nation mit einem Enthusiasmus sprachen, der
ihnen bei diesem Thema eigen ist und durch die frische Erinnerung
an die im letzten Kriege von ihnen bewiesene Opferfähigkeit noch
erhöht ward; Aus ihren Erzählungen und den poetischen Einge-
bungen des Künstlers erkannte sie ein Ideal der Liebe, das sich
zum Kultus der Frau gestaltet. Sie glaubte, daß das Weib, vor
142 VII. Lelila.
jeglicher Abhängigkeit und Unterordnung geschützt» sich in Polen
zur Macht eines höheren, dem Mann befreundeten Wesens erhebe.
Freilich ahnte sie sicherlich nicht, welch eine Kette verschwiegener
Leiden und Entsagung, Langmut, Nachsicht und mutvoUer Aus-
dauer dies Ideal geschaffen hatte, das, stolz und resigniert, neben
der Bewunderung die Wehmut des Betrachters weckt, wie |ene
rotblühenden Blumen, deren Stiele, sich zu einem Netz langen grünen
Geäders verschlingend, den Ruinen Leben leihen. Aus dem bröckeln-
den Kitt morschen Gesteins läßt sie Natur hervorsprießen, und
über den Verfall menschlicher Werke breitet ihr unerschöpflich
sinniger Reichtum den Schleier der Schönheit.
Als sie sah, daß der polnische Künstler, statt seine Phantasie
in Porphyr und Marmor zu verkörpern und wuchtige, weithin
leuchtende Gestalten hinzustellen, seinen Schöpfungen vielmehr
alle Schwere benahm, ihre Konturen verwischte und nötigenfalls
sie selbst ihrem Boden entrückt hätte, um ^e gleich den Luft-
schlössern der Fata morgana in die Wolken zu versetzen, fühlte
sich George Sand von der unfaßbaren Leichtigkeit dieser Gebilde
nur noch mehr zu dem Ideal hingezogen, das sie darin zu erblicken
meinte. Obgleich die Kraft ihres Arms wohl ausgereicht hätte,
um Gestalten in voller K^perlichkeit zu schaffen, war ihre Hand
doch zart genug, um jene kaum sichtbaren Reliefs zu formen, in
denen der Künstler dem Stein nur den Schatten einer unverwisch-
baren Silhouette anzuvertrauen scheint. Sie war der übernatür-
lichen Welt nicht fremd; schien die Natur doch vor ihr, wie vor
einer Lieblingstochter, ihren Gürtel gelöst zu haben, um ihr alle
die Launen und Reize zu enthüllen, die sie der Schönheit verleiht:
Selbst die oft kaum wahrzunehmende Anmut blieb ihr nicht
verborgen. Sie, deren Blick unabsehbare Weiten zu umfassen
liebte, verschmähte es nicht, die Farbenpracht des Schmetterlings-
flügels zu beobachten, das wunderbar symmetrische Netzgewebe
zu studieren, welches das Farnkraut als Baldachin über die Wald-
erdbeere spannt; dem Rieseln des Bachs im feuchten Rasen zu
lauschen, wo sich das Zischen der ,,verliebten Viper" vernehmen
läßt. Dem Tanze der Irrlichter am Saum von Sümpfen und Wiesen
hatte sie zugesehen und die chimärischen Ziele erraten, zu deaeh
G. Sands Phantasiewelt. 143
ihr verräterisches Hüpfen den verspäteten Wanderer lockt. Sie
hatte dem Konzert, das die Grille und ihre Genossinnen in den
Stoppeln des Brachfeldes anstimmen, ihr Ohr geliehen,, und die
Bewohner der geflügelten Waldrepublik waren ihr ebensowohl
dem Namen als ihrem Federkleid und Gesang oder Klageruf nach
bekannt. Sie wußte, wie weich das Fleisch der Lilie, wie blendend
ihr Teint ist, und verstand die Verzweiflung Genovevas, des ija die
Blumen verliebten Kindes, dem es nicht gelingen wollte, ihrer
holden Pracht zu gleichen^.
In ihren Träumen besuchten sie ]ene „unbekannten Freunde",
die, „wenn sie angsterfüllt an verlassenem Ufer saß; ein reißender
Strom auf mächtiger Barke herbeiführte. Dahinein schwang sie
sich, um nach den unbekannten Ufern des Traumlandes zu schiffen,
welches das wirkliche Leben nur wie ein Nebelbild an denen vor-
überführt, die von Kindheit an die Zaubermuscheln kennen, die
zu den glücklichen Inseln geleiten, wo alle schön und jung sind,
wo Männer und Frauen im lang herabwallenden Haar Blumen-
kränze tragen, seltsam geformte Becher und Harfen in der Hand;
wo sie in Stimmen und Gesängen reden, die nicht von dieser Welt
sind, und alle die gleiche, himmlische Liebe erfüllt; wo silberne
Becken die duftenden Wasserstrahlen auffangen, in chinesischen
Vasen blaue Rosen wachsen, wo zauberische Fernsichten winken,
wo man nackten Fußes auf samtnen Moosteppichen wandelt und
sich singend im balsamischen Grün des Hains verliert" >.
So wohlbekannt waren ihr diese „unbekannten Freunde", daß,
wenn sie dieselben wiedergesehen hatte, „sie den ganzen Tag nicht
ohne Herzklopfen an sie zurückdenken konnte". In Hoffmanns
Geisterwelt war sie eingeweiht. Hatte sie doch die Bilder der Toten
lächeln 8 und manches Haupt von einem Glorienschein umflossen
gesehen, wenn Sonnenstrahlen, wie ein Arm Gottes, leuchtend
und unfaßbar, von wirbelnden Atomen umgeben, sich aus der Höhe
eines gotischen Fensters herniedersenken. Hatte sie nicht im
* Andr^.
* Lettres d*un voyageur.
3 Spiridfon.
144 VII. Lelila.
Gold- und Purpurglanz der untergehenden Sonne die hehrsten
Erscheinungen erblickt? Keinen Mythus gab es im Reich des
Phantastischen, dessen Geheimnis ihr nicht vertraut war.
So verlangte sie denn darnach, den Mann kennen zu lernen,
den seine Flügel zu „jenen Gefilden trugen, die sich unmöglich
beschreiben lassen, und die doch irgendwo auf Erden oder auf
einem der Planeten existieren müssen, deren Licht wir beim Nieder-
gang des Mondes so gern im Waidesdunkel betrachten" i. Mit
eigenen Augen wollte sie den sehen, der, nachdem er gleich ihr
dies schönere Land entdeckt hatte, es nie wieder verlassen, nie
wieder Herz und Phantasie zu dieser wirklichen Welt zurück-
wenden wollte, die den finnländischen Küsten vergleichbar ist,
wo man den schlammigen Morästen und Sümpfen nur entgehen
kann, wenn man zum nackten Granit einsamer Felsen emporklimmt.
Müde vom schweren Traum, den sie Lelia genannt, müde, einem
gewaltigen, aus irdischem Stoff gebildeten , »Unmöglichen" nach-
zusinnen, war sie begierig, dem Künstler zu begegnen, der einem
unkörperlichen, wolkenverhüllten, an das Überirdische grenzenden
„Unmöglichen" schwärmend nachjagte.
Doch ach! bleiben diese Regionen auch von den Miasmen unserer
Atmosphäre befreit, unser Leid, unsere Verzweiflung dringen auch
in ihre Ferne. Wer sich zu ihnen aufschwingt, schaut aufgehende,
aber auch erlöschende Sonnen. Eins nach dem andern schwindet
von den glänzendsten Gestirnen. Gleich leuchtenden Tautropfen
sinken die Sterne herab in das Nichts, dessen gähnenden Abgrund
wir nicht ermessen, und während sie die Weiten des Äthers, die
Sahara mit ihren wandernden Oasen betrachtet, gewöhnt sich die
Einbildungskraft an eine Schwermut, die keine Begeisterung noch
Bewunderung fortan zu bannen vermag. Die Seele versenkt sich
in diese Bilder, sie nimmt sie in sich auf, ohne doch selbst von ihnen
bewegt zu werden, wie die schlummernden Wasser eines Sees
Rahmen und Bewegung der Ufer auf ihrer Oberfläche widerspiegeln,
ohne aus ihrer tiefen Ruhe zu erwachen. „Diese Schwermut schwächt
selbst die freudigen Aufwallungen des Glückes durch die Ermattung
1 Lettres d'un voyageur.
G. Sand lernt Chopin durch Liszt kennen. 145
ab, welche die Anspannung der sich über ihre natürliche Sphäre
erhebenden Seele nach sich zieht. Sie bringt die Unzulänglichkeit
der menschlichen Sprache zuerst denen zur Empfindung, die sie
erforschen und beherrschen. Sie führt weit abseits von allen tätigen
und kämpfenden Neigungen, um im unendlichen Raum umher-
zuschweifen und sich auf abenteuerlichem Flug weit über die Wolken
hinaus ins Unermeßliche zu verlieren, wo man von der Schönheit
der Erde nichts mehr gewahrt, da man nur den Himmel schaut,
wo die Wirklichkeit nicht mehr mit der poetischen Empfindung
des Verfassers von „Waverley" betrachtet wird, sondern wo man,
die Poesie selbst idealisierend, das Unendliche, wie Manfred, mit
seinen eigenen Geschöpfen bevölkert^."
Fühlte George Sand wohl die unsagbare Melancholie, den starren
Willen, die unabweisliche Ausschließlichkeit voraus, die den Hinter-
grund solch beschaulicher Gewohnheiten bilden und sich der Phan-
tasie bemächtigen, welche sich in Träumen zu ergehen liebt, deren
Urbilder weit außerhalb ihres natürlichen Lebenskreises liegen?
Ahnte sie wohl, welche Gestalt für solche Naturen die Zuneigung
des Herzens annimmt, und daß nur das gänzliche Aufgehen im
anderen ihnen gleichbedeutend mit Liebe ist? Man muß, in gewisser
Beziehung wenigstens, sich unwillkürlich nach ihrer Weise ver-
stellen, um von Anbeginn das Geheimnis dieser verschlossenen
Charaktere zu ergründen, die sich — wie manche Pflanzen, die
ihre Blätter beim leisesten Windzug schließen und sie nur im Sonnen-
schein wieder öffnen — plötzlich in sich selbst zurückziehen. Man
hat diese Charaktere, im Gegensatz zu denen, die „reich durch
Oberfülle" sind, „reich durch Ausschließlichkeit" genannt. „Be-
gegnen und nähern sie sich einander", sagt die von uns angeführte
Romandichterin, „so können sie sich doch nie miteinander ver-
schmelzen; eins von beiden muß notwendig das andere vernichten
uiid nur die Asche von ihm übrig lassen." Sensitive Naturen, wie
die des Meisters, dessen Leben wir uns vergegenwärtigen, gehen
sich selbst verzehrend zugrunde, da sie einzig dem Verlangen
ihres Ideals gemäß leben können und wollen.
^ Lucrezia Floriani.
Liszt, Gesammelte Schriften. I. VA 10
146 VII. Lelia.
Chopin schien eine'gewisse Scheu vor der Frau zu empfinden,
die sich anderen ihres Geschlechts so überlegen zeigte und wie eine
delphische Priesterin Dinge aussprach, von denen jene nichts
wußten. Lange vermied er eine Begegnung mit ihr. George Sand
wußte und ahnte — dank der reizenden Einfalt, die zu den liebens-
würdigsten Zügen ihres Wesens gehörte — nichts von dieser Geister-
furcht. Sie kam ihm entgegen, und bald zerstreute ihr Anblick
die Vorurteile, die er bis dahin hartnäckig gegen die schriftstellern-
den Frauen gehegt hatte.
Im Herbst des Jahres 1838 ward Chopin von den beängstigen-
den Anfällen eines Übels heimgesucht, das ihn fast der Hälfte
seiner Lebenskräfte beraubte. Besorgniserregende Symptome
zwangen ihn, um der Strenge des Winters zu entgehen, zu einer
Keise nach dem Süden. George Sand, die sich den Leiden ihrer
Freunde gegenüber immer aufmerksam und teilnehmend bezeigte,
wollte ihn in einem Zustand, der die sorglichste Pflege erheischte,
nicht allein reisen lassen. Sie entschloß sich, ihn zu begleiten. Als
Ziel wählten sie die balearischen Inseln, deren gleichmäßig mildes
Klima in Verbindung mit der Seeluft sich namentlich für Brust-
kranke heilbringend erweist. Als Chopin abreiste, war sein Be-
finden ein so beunruhigendes, daß man in den Hotels, in denen er
nur ein paar Nächte zugebracht hatte^ mehr als einmal die Be-
zahlung des von ihm benutzten Bettes verlangte, um es sofort zu
verbrennen, da man ihn in dem Stadium der Brustkrankheit
glaubte, wo dieselbe leicht ansteckend wirkt.. Auch seine Freunde
wagten kaum, als sie ihn bei der Abreise so entkräftet sahen, der
Hoffnung auf seine Rückkehr Raum zu geben. Und dennoch!
Obgleich er auf der Insel Majorca, wo er sechs Monate, vom Herbst
bis zum Frühjahr, verweilte, eine lange und schmerzhafte Krank-
heit bestehen mußte, ward seine Gesundheit dort doch so weit
wieder hergestellt, daß sie mehrere Jahre hindurch eine leidliche
schien.
War es das KHma allein, was ihn dem Leben zurückgab? Hielt
ihn nicht vielmehr der höchste Reiz des Lebens fest? Vielleicht
blieb er nur leben, weil er leben wollte; denn wer mag sagen, wie
weit sich die Macht des Willens über unseren Körper erstreckt? Wer
Chopins Erkrankung, Reise nach Majorca mit G. Sand. 147
weiß, welch inneres Arom sie entfesseln kann, um diesen vor Verfall
zu schützen, welche Kraft sie den erschlafften Organen einzu-
hauchen vermag? Wer weiß, wo die Herrschaft des Geistes über
die Materie ihr Ende findet? Wer will bestimmen, inwieweit unsere
Einbildungskraft unseren Sinnen gebietet, deren Kräfte verdoppelt
oder ihr Erlöschen beschleunigt, je nachdem sie ihre Herrschaft
durch lange und strenge Übung ausdehnt, um sie in einem einzigen
Augenblick zu konzentrieren? Wenn die Spitze eines Kristalls
die Strahlen der Sonne auffängt, entzündet dann dieser zerbrech-
liche Brennpunkt nicht eine Flamme himmlischen Ursprungs?
Alle Strahlen des Glückes vereinigten sich in dieser Lebens-
epoche Chopins. War es ein Wunder, wenn sie die Flamme seines
Lebens wieder anfachten und zu jener Zeit in ihrem lichtesten
Glänze leuchten ließen? Die von den blauen Fluten des Mittel-
meers umspülte, von Lorbeeren, Orangen- und Myrtenbäumen um-
schattete Einsamkeit schien schon durch ihre Lage dem Verlangen
der Jugend zu entsprechen, die voll naiver Illusionen und Hoffnungen
von dem „Glück auf einer wüsten Insel" schwärmt. Dort atmete
er die Luft, nach der die auf Erden heimatlosen Naturen so bitteres
Heimweh empfinden, und die man, je nach Art derer, die sie mit
uns teilen, überall und nirgends finden kann: die Luft jenes Traum-
landes, das man, der Wirklichkeit und ihren Hemmnissen zum
Trotz, so leicht entdeckt, wenn man es zu zweien sucht; jenes
Heimatlandes des Ideals, zu dem man mit dem Geliebten des
Herzens flüchten möchte, mit Mignon ausrufend: „Dahin, dahin
laß uns ziehn!''
Während der Dauer seiner Krankheit wich George Sand keinen
Augenblick vom Lager des Freundes, der sie mit einer Hingebung
liebte, die, selbst als sie ihre Freuden einbüßte, nichts an Innig-
keit verlor. Er blieb ihr treu, auch als seine Liebe nur noch Schmer-
zen für ihn hatte; „schien es doch, als ob dieses zarte Wesen sich
im Feuer der Bewunderung verzehrte. . . . Andere suchen das Glück
im Liebesgenuß. Finden sie es da nicht mehr, so erstirbt allmäh-
lich auch die Liebe, Darin gleichen sie eben der großen Menge»
Er aber liebte um zu lieben. Kein Leid schreckte ihn zurück.
Wohl konnte er, nachdem er die Phase berauschenden Glückes
10*
148 VIL Lelia.
erschöpft hatte, in eine neue, die des Schmerzes, treten; die des
Erkaltens aber konnte nie für ihn kommen. Es wäre denn die
des physischen Todeskampfes gewesen. Denn seine Liebe war sein
Leben, und ob süß, ob bitter, es war ihm nicht gegeben, sich ihr
nur einen Augenblick lang zu entziehen^.** Seit jener Zeit hörte
George Sand in der Tat nie auf, für Chopin die Zauberin zu sein,
die die Schatten des Todes von ihm hinweggebannt und seine Leiden
in ein nie gekanntes Glück verwandelt hatte.
Um ihn zu retten und einem vorzeitigen Ende zu entreißen,
kämpfte sie mutig gegen seine Krankheit. Sie umgab ihn mit
einer zart erfinderischen Fürsorge, die oft heilsamer als die Mittel
der Wissenschaft wirkt. Tag und Nacht über ihn wachend, kannte
sie weder Müdigkeit, noch Abspannung oder Langeweile. Weder
Kraft noch Laune versagten ihr bei Erfüllung ihrer Aufgabe. Sie
glich einer starken Mutter, die ihrem schwachen Liebling, der ihrem
Herzen um so teuerer ist, }e mehr er ihre Sorge beansprucht, einen
Teil der eigenen Kraft magnetisch zu übertragen scheint. Endlich
wich das Übel. „Der tiefe Trübsinn, der am Geist des Kranken
nagte und keine ruhig befriedigte Stimmung in ihm aufkommen
ließ, schwand nach und nach. So blieb es dem leichtlebigen, liebens-
würdig heiteren Charakter seiner Freundin überlassen, seine finsteren
Gedanken und Ahnungen zu verscheuchen, um sein geistiges Wohl-
befinden aufrecht zu erhalten«."
Der dtistern Sorge folgte das Glück, wie der Tag, der nach
dunkler, schreckensreicher Nacht in siegreichem Glänze empor-
steigt. So undurchdringlich wölbt sich zuvor die Finsternis über
den Häuptern, daß man sich auf ein nahes Ende vorbereitet und
auf keine Rettung zu hoffen wagt. Da erspäht das geängstete
Auge plötzlich einen Punkt, wo das Dunkel sich wie unter der
Macht einer unsichtbaren Hand zu lichten beginnt. Der erste
Hoffnungsstrahl dringt in die Seele. Man atmet freier, wie wenn
man, in dunkler Höhle gefangen, endlich einen Lichtschimmer,
sei er auch noch so unbestimmt, wahrnimmt. Dieser Lichtschein
^ Lucrezia Floriani.
« Lucrezia Floriani.
^ G. Sand, Chopins treue Pflegerin. 149
ist der erste Anbruch des Tages, der so farblose Tinten um sich
verbreitet, daß man vielmehr das Sinken der Nacht, das Erlöschen
der ersterbenden Dämmerung zu schauen vermeint. Doch die
Morgenröte kündigt sich durch die kühlen Lüfte an, die, als ge-
segnete Vorläufer, die Botschaft des Heils in ihrem reinen Odem
tragen. Balsamischer Blumenduft erfüllt die Luft wie mit neuem
Hoffnungsleben. Ein früh erwachter Vogel läßt sein muntres
Morgen lied ertönen, das tröstlich verheißungsvoll im Herzen wider-
klingt. Kaum wahrnehmbare, doch untrügliche, sich immer meh-
rende Anzeichen dienen als Gewähr, daß im Kampf zwischen
Finsternis und Licht, Tod und Leben doch die Nacht am Ende
unterliegen muß. Die Beklemmung mindert sich. Hebt man den
Blick zur bleiernen Himmelskuppel empor, so glaubt man sie minder
schwer und drückend; es ist, als habe sie ihre furchtbare Unbe-
weglichkeit verloren. Nun mehren und verlängern sich nach und
nach die schmalen grauen Lichtstreifen am Horizonte. Unauf-
haltsam wächst ihre Ausdehnung; sie durchbrechen das Dunkel.
Scharf abgegrenzte Gegensätze bilden sich. Wolkenmassen häufet^
sich gleich Sandbänken an, als wollten sie den vordringenden Tag
eindämmen und zurückhalten. Aber mit elementarer Gewalt durch-
bricht sie das Licht, es tilgt und verschlingt sie und rötet sie, je
weiter es emporsteigt, mit purpurnem Schimmer. Dies Licht,
jetzt strahlt es in überwältigender und doch schüchterner Anmut,
vor deren keuscher Schönheit wir in stummer Dankbarkeit das
Knie beugen. Der letzte Schreck ist überwunden, der Mensch
fühlt sich neu geboren.
Als ob sie aus dem Nichts erstanden, gewahrt nun das Auge
plötzlich die Gegenstände. Ein rosiger Schleier scheint sie alle
gleichmäßig zu überdecken, bis das Licht ihn tiefer färbt, hier und
dort fast hochrote Schatten bildet, indes es auf andere Stellen
einen weiß strahlenden Widerschein wirft. Mit einem Mal über-
flutet der weite Lichtkreis das Firmament. Je weiter er sich aus-
breitet, um so glanzreicher erscheint sein Mittelpunkt. Die Dünste
verdichten und teilen sich, wie Vorhänge, nach rechts und links.
Alles gewinnt Atem, Leben und Bewegung, alles singt und klingt;
die Töne mischen und kreuzen sich und klingen zu einem viel-
150 VII. Lelia.
stimmigen Geräusch zusammen. Die starre Ruhe weicht der Be-
wegung, die sich in schnellem Kreislauf verbreitet. Wie Tränen der
Rührung perlen die Tränen des Taus zitternd hervor; eine nach
der anderen sieht man sie funkeln im feuchten Grase: diamanten,
die des belebenden Sonnenfeuers harren. Immer höher und weiter
aber öffnet sich im Osten des Lichtes riesiger Fächer. Goldstreifen,
Silberflimmer, violette Fransen, Scharlachschnüre bedecken ihn
mit reicher Stickerei. Braunrote Reflexe übersprenkeln seine Falten.
Inmitten leuchtet in rubinartiger Durchsichtigkeit das glühendste
Karmin, das, wie Kohlenfeuer, in Orange übergeht, sich zu einer
Fackel und endlich einem Flammenkranz erweitert, der höher und
höher, von Glut zu Glut emporsteigt.
Und nun erscheint er, der Gott des Tages! Die leuchtende Stirn
von Strahlen umflossen, steigt er langsam empor. Kaum aber
zeigt er sich in seiner vollen Herrlichkeit, so schwingt er sich auf,
löst sich los von seiner Umgebung und nimmt den Himmel in Besitz,
die Erde weit hinter sich zurücklassend.
• .*.....•««.«•.■...•.•«•...*....*..••.*'
Die Erinnerung an die auf der Insel Majorca verlebten Tage
wurzelte fest in Chopins Herzen, wie das Andenken an ein seliges
Glück, das das Schicksal seinen Lieblingen nur einmal gewährt.
„Er war nicht mehr auf Erden. Er schwebte in einem Himmel
von goldenen Wolken und zauberischen Düften. Im Gespräch mit
Gott schien seine reine Phantasie zu schwelgen, und wenn an der
Lichtwelt, in der er sich selbst vergaß, der Zufall zuweilen die
kleine laterna magica der Erdenwelt vorübergleiten ließ, überkam
ihn ein tiefes Mißbehagen, wie wenn sich einem erhabenen Konzert
der schrille Klang einer alten Leier mischte, und ein gemeines
musikalisches Motiv die göttlichen Gedanken der großen Meister
unterbräche^." Sooft er später jener Zeit gedachte, geschah es
mit solch dankbarer Rührung, als spräche er von einer jener Wohl-
taten, die genügen, das Glück eines ganzen Lebens zu begründen.
Es schien ihm unmöglich, je anderwärts eine Seligkeit wieder-
zufinden, in der die Liebe des Weibes und die Geistesblitze des
^ Lucrezia Floriani.
Chopins" Liebesglück. 161
Genies wechselnd die Zeit bestimmen, wie jene ^on Linn^ in seinen
Glashäusern zu Upsala aufgestellte Blumenuhr, die durch das
aufeinanderfolgende Erwachen der einzelnen Blumen — deren
jede einen andern Duft aushauchte und andere Farben entfaltete
— die Stunden bezeichnete.
Die herrlichen Gegenden, die Dichterin und Musiker gemeinsam
durchstreiften, ließen in der Einbildungskraft der ersteren den leb-
hafteren Eindruck zurück. Auf Chopin wirkten die Schönheiten
der Natur, wenn auch nicht minder stark, so doch minder offen-
kundig. Sein Gemüt ward von denselben ergriffen und durch ihre
erhabenen oder sanften Reize unmittelbar harmonisch gestimmt,
ohne daß sein Geist sie zu zergliedern und zu bestimmen brauchte.
Seine Seele fühlte sich im Einklang mit den bewunderten Land-
schaftsbildern, ohne daß er sich vom letzten Grunde jeden Ein-
drucks sofort Rechenschaft geben mochte. Als echter Musiker be-
gnügte er sich damit, den den geschauten Bildern innewohnenden
Gefühls- oder Stimmungsgehalt sozusagen herauszulösen; wo-
gegen er die plastische Seite, das Malerische, das sich der Form seiner
einer geistigeren Sphäre angehörenden Kunst nicht assimilierte, an-
scheinend unbeachtet ließ. Je mehr er sich indessen (wir können an
ihm verwandten Naturen häufig dieselbe Wirkung beobachten)
zeitlich und räumlich. von jenen Bildern und Szenen entfernte, bei
deren lebendigem Anblick ihm innere Erregung die Sinne verdunkelt
hatte — wie Weihrauchwolken das Opfergefäß umhüllen — , desto
klarer und bestimmter traten ihre Umrisse vor seine Augen. Wäh-
rend der folgenden Jahre sprach er von dieser Reise, dem Aufent-
halt in Majorca, den Ereignissen, die sich daran knüpften, mit der
Begeisterung einer glücklichen Erinnerung. Damals jedoch, als
er im Vollgenusse seines Glückes war, gab er dies Glück nicht in
trockenen Aufzeichnungen kund.
! Warum auch sollte Chopin den Gegenden Spaniens, die zu seinem
poetischen Glück den Rahmen bildeten, eine eingehendere Beob-
achtung schenken? Fand er sie nicht in den begeisterten Schilde-
rungen seiner Reisegefährtin verschönert wieder? Wie durch rotes
Glas gesehen alle Gegenstände, ja die Atmosphäre selbst in flam-
menden Farben erglühen, so sah er, vom Widerschein ihrer feurigen
152 VII. Lelia.
Phantasie verRTftrl^ das Geschaute von neuem an sich vor-
überziehen. Denn war die so aufopfernd« Krankenpflegerin nicht
zugleich eine große Künstlerin? Fürwahr, eine seltene Ver-
einigung! Wenn die Natur, um ein Weib zu schmücken, den
glänzendsten Geistesgaben die Gefühlsinnigkeit und Hingebung,
gesellt, in der seine eigentliche unwiderstehliche Macht beruht —
eine Macht, ohne welche das Weib ein ungelöstes Rätsel bliebe — ,
so erneut sich durch die Vermählung von Phantasieglut und Her-
zenswärme bei ihm gleichsam das wunderbare Schauspiel der grie-
chischen Feuer, deren Leuchtflammen ehemals über der Untiefe
des Meeres schwebten, ohne in den Fluten zu versinken.
Aber vermag das Genie immerdar sich zur Seelengröße der
Demut, zu einer Opferfreudigkeit aufzuschwingen, die Vergangen-
heit und Zukunft, ja sich selber in zeitloser Treue zum Opfer
darbringt, und die der Liebe erst ein Anrecht auf den Namen „Hin-
gebung" verleiht? Glaubt das Genie, selbst wenn es sich seiner
göttlichen Kräfte begibt, nicht auch seine gerechten Ansprüche
geltend machen zu dürfen, wogegen die Macht des Weibes doch
gerade darin besteht, jeder persönlichen und egoistischen Forderung
zu entsagen? Kann der Königspurpur und die Flammenkrone
des Genies unverletzt über einem Frauendasein schweben, das nur
mit den Freuden dieser Erde rechnet und auf keine höheren hofft,
das, vom Glauben an sich selber erfüllt, nicht an die Liebe glaubt,
die „stärker als der Tod" ist? Muß man, um die Forderungen des
Genius mit den Entbehrungen der Liebe zu einem nahezu über-
irdischen Ganzen zu vereinen, nicht in kämpf- und kummervollen
Tagen und Nächten dem Chor der Engel manch übermensch-
liches Geheimnis abgelauscht haben?
Unter seinen köstlichsten Gaben verlieh Gott dem^Menschen die
Macht, nach seiner Weise — nämlich nicht wie er als Schöpfer und
Urheber alles Guten, des Urstoffs und der Substanz, sondern wie
er als Bildner und Urheber alles Schönen — Gestalten und Harmo-
nien aus dem Nichts hervorzubringen, um in denselben seinen
Gedanken darzustellen und ein unkörperliches Gefühl in körper-
lichen Umrissen zu verlebendigen, welche seine Einbildungskraft
schafft, und die entweder durch das Gesicht oder durch das Gehör
Egoismus des Genies. 153
erfaßt werden. Es ist dies die wahre Sciiöpf ung in der schönsten
Bedeutung des Wortes, insofern die Kunst Ausdruck und Mit-
teilung einer Empfindung mittelst eines Eindruclces, ohne Ver-
mittelung des zur Darlegung von Tatsachen und Beweisgründen
notwendigen Wortes ist. Weiter verlieh Oott dem Künstler eine
andere Gabe: die der Verklärung; die Gabe, eine unvollkom-
mene, schmerzzerrissene Vergangenheit in eine Zukunft unver-
gänglicher Herrlichkeit zu verwandeln, die so lange währt als die
Menschheit selber.
Wohl darf die ihm verliehene göttliche Macht den Menschen
wie den Künstler mit Stolz erfüllen! Beruht doch in ihr das Ge-
heimnis der angebornen Herrschergewalt des schwachen Menschen
über die unermeßliche Natur, wie der berechtigten Überlegenheit
des Künstlers über seinesgleichen. Aber der Mensch übt seine
Herrschergewalt nur wahrhaft aus, wenn er das Gute innerhalb
der Grenzen des Wahren erstrebt. Der Künstler rechtfertigt seine
Überlegenheit nur dann, wenn er in die Form des Schönen das
Gute einschließt.
Gleich der Mehrzahl der Künstler gefiel sich Chopin nicht in
allgemeinen Abstraktionen. Mit der Philosophie des Schönen be-
faßte er sich nicht, er hatte nicht einmal viel davon reden hören.
Wie alle echten und großen Künstler erreichte er das Ziel des Guten,
zu dem der Denker nur Schritt für Schritt auf dem rauhen Pfad
der Wahrheit emporklimmt, im raschen Flug durch das Strahlen-
reich des Schönen.
Der ihm völlig neuen Situation, die sich ihm auf Majorca er-
öffnete, gab Chopin sich mit einer Unkenntnis und mangelnden
Voraussicht zukünftigen, schon im Keime vorbereiteten Herze-
leids hin, wie wir sie alle mehr oder weniger aus unseren Kinder-
jahren kennen, wo Mutterliebe uns blind vergötterte und unser
Herz mit Glückseligkeit erfüllte, indes sie den Keim zu seinem
künftigen Unglück legte. Der Einwirkung unserer Umgebung sind
wir alle unterworfen, ohne uns davon Rechenschaft zu geben, und
erst in viel späterer Zeit finden wir in unserem Gedächtnis das
traute Bild jeder Minute und jedes Gegenstandes wieder. Für
einen im höchsten Grade subjektiven Künstler wie Chopin aber
154 VII. Leiia.
kommt der Moment, wo sein Herz ein gebieterisches Bedürfnis
fühlt; das Glück, das die Flut des Lebens hinweggespült, wieder
zu empfinden, seine Freuden von neuem zu genießen und ihren
Zauberrahmen wiederzusehen, indem man sie zwingt, aus dem
dunklen Schatten der Vergangenheit, darin ihr farbenreiches Bild
versunken, herauszutreten, um sie endlich durch den geheimnis-
vollen Prozeß, weichen der Magnetismus des Herzens der Elektri-
zität der Inspiration vermittelt, und den die Muse ihren Auser-
wählten lehrt, der lichten Unsterblichkeit der Kunst zuzuführen.
Da wird jede Auferstehung zur Verklärung. Da kehrt alles,
was zweifelhaft, gebrechlich, makelhaft, mehr empfunden als ver-
wirklicht war, was fast auf der Höhe seines Glanzes verdunkelt,
auf dem Gipfel seiner Entfaltung verunstaltet ward, in glorreicher,
unvergänglicher Schönheit zurück. Nicht mehr an Zeit und Ort
seiner einstigen Existenz gebunden, lebt das solchergestalt Ver-
klärte fortan auf immerdar ein übernatürliches, unzerstörbares
Leben, das Geschlechter und Zeitalter überdauert und, kraft der
ihm eigenen Gabe der Allgegenwart, überall erscheint und in alle
Herzen dringt.
fr. Bemerkenswert gewiß erscheint es, daß Chopin die Zeit des
höchsten Glückes, die der Aufenthalt auf Majorca in seinem Leben
bezeichnet, nie künstlerisch auferweckt und verklärt hat. Er ent-
hielt sich dessen, ohne weiter darüber nachgedacht oder vor dem
Tribunal seines Urteils den Grund dafür angeführt, ja ohne sich
selbst darnach gefragt und erforscht zu haben. Instinktiv unter-
ließ er es. Der angeborenen Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit seiner
Seele, die unwürdige Paradoxen nie zu verführen vermochten,
widerstrebte die Verherrlichung eines Etwas, „was hätte sein können,
aber nicht war". Chopin erzählte uns nichts von seinem fremd-
artigen Glück auf jener Zauberinsel, das er so gern in die Sterne ver-
setzt hätte, und das doch so bald sein Ende fandl Doch nein!
Einmal, ein einziges Mal während seines Aufenthaltes auf jener
seligen Insel versetzte er sich, durch Liebe, Bewunderung und Dank-
barkeit hingerissen und überwältigt, mittelst seines Zauberstabes
in die reinen Höhen der Kunst — aber es war eine Stunde der
Herzensangst und Trübsall George Sand erzählt davon in ihren
Des-Dur- Präludium. 155
Berichten über diese Reise, nicht ohne die Ungeduld zu verraten,
die ihr bereits eine allzu ausschließliche Zuneigung erregte, welche
es wagte, sich soweit mit ihr zu identifizieren, daß sie bei dem Ge-
danken, sie zu verlieren, außer sich geriet; während sie selber doch
sich das ungeschmälerte Eigentumsrecht über ihre Person vor-
behielt und ihr Leben durch die Lust an Abenteuern rücksichtslos
in Gefahr brachte. — Chopin konnte sein Zimmer noch nicht ver-
lassen, indes Frau Sand viel in der Umgegend umherstreifte. In
seiner Wohnung eingeschlossen, um vor lästigen Besuchen sicher
zu sein, blieb er dann einsam zurück. Eines Tages hatte sie ihn
verlassen, um in einem unbewohnten Teil der Insel auf Entdeckun-
gen auszugehen. Ein fürchterliches Ungewitter brach los, eins
jener südlichen Unwetter, die alles zerstören und die Grundfesten
der Natur zu erschüttern scheinen. Chopin, der seine geliebte
Gefährtin inmitten der entfesselten Gießbäche wußte, fühlte eine
Unruhe, die sich bis zur heftigsten nervösen Krise steigerte. Als
jedoch die Elektrizität^ welche die Luft tiberfüllte, sich verzog,
ging die Ktisis vorüber^ und er erholte sich noch vor Wiederkehr
der unerschrockenen Spaziergängerin. Da er nichts Besseres zu
tun wußte, setzte er sich wieder ans Klavier und improvisierte
das wundervolle Präludium in Des-Dur i. Bei Rückkehr der
geliebten Frau fiel er in Ohnmacht. Sie war mehr gereizt als ge-
rührt durch diesen Beweis einer Anhänglichkeit, welche die Freiheit
ihres Handelns, ihr zügelloses Verlangen nach neuen, gleichviel
wo oder wie gefundenen Eindrücken einschränken, ihr Leben
binden, ihre Bewegungen durch die Rechte der Liebe fesseln zu
wollen schien.
Tags darauf spielte ihr Chopin sein Des-Dur- Präludium vor.
Sie aber begriff nichts von der darin geschilderten Herzensangst.
Er spielte es seitdem oftmals in ihrer Gegenwart; doch sie verstand
nicht, welch eine Welt von Liebe sich in diesen Tönen kundgab.
Alles Unvereinbare, Entgegengesetzte zweier Naturen, die sich nur
durch eine plötzliche Anziehungskraft vereinigt zu haben schienen,
1 Statt dieses von Liszt als Regenpräludium bezeichneten Stückes wurde
durch seine Mitarbeiterin in der Ausgabe von 1880 versehentlich das Fis-Moll-
Präludium genannt. lA. d. Ü.l
156 VIL Lelia.
um sich nach langen Anstrengungen mit der ganzen Gewalt heftigen
Schmerzes und Überdrusses abzustoßen, spricht sich in diesem
Ereignis aus. Ihm brach der Gedanke, daß er sie, die ihn dem
Leben zurückgegeben, verlieren könne, das Herz. Sie sah in einer
abenteuerlichen Fahrt, deren Gefahr nicht den Reiz der Neuheit
aufwog, nur einen unterhaltenden Zeitvertreib. Was Wunder,
wenn diese Episode die einzige aus Chopins französischer Periode
blieb, deren Eindruck sich in seinen Werken wiederfindet? Hinfort
teilte er sein Dasein in zwei Hälften. Noch lange Zeit litt er unter
der allzu realistischen, wenig zartfühlenden Umgebung, in die sich
sein sensitives Naturell verirrt hatte; aber er flüchtete sich aus der
Gegenwart in das Gebiet der Kunst, zu den Erinnerungen seiner
Jugend, zu seinem geliebten Polen, das seine Gesänge allein nun
unsterblich machten.
Trotz alledem ist es dem unter seinesgleichen lebenden Men-
schen nicht gegeben, sich dergestalt von den ihn umgebenden Ein-
drücken loszureißen und über seine täglichen schmerzvollen Leiden
zu erheben, daß er in seinen Werken alles, was er empfindet, vergißt,
um nur von dem, was er einst empfunden hat, zu singen. Darum
möchten wir annehmen, daß Chopin in seinen letzten Jahren einer
Art rastloser Tätigkeit oder vielmehr einer verzehrenden Unruhe
anheimfiel, deren er sich selber nicht bewußt war; obgleich ihm
nicht verborgen blieb, daß der Genius mehr als eines großen
Dichters und Künstlers durch ähnliche Leiden zerstört worden war.
Große Seelen leben, um der Qual ihrer irdischen Hölle zu entrinnen,
in einer selbstgeschaffenen Welt. Wir sehen es an Milton, Tasse,
CamoSns, Michel Angelo u. a. Ist aber ihre Einbildungskraft auch
mächtig genug, sie über das Irdische emporzutragen, so vermag sie
doch nicht, sie von dem Pfeil zu befreien, der ihre Brust durchbohrt.
Weit ihre Flügel ausbreitend, schweben sie empor; aber selbst im
Fluge fühlen sie die Schmerzen der vergifteten Wunde, die sie verzehrt.
Daher hören wir das Weh verkannter Liebe aus Miltons Paradies,
hören wir Liebesklagen aus Sophronias und Olindos Scheiterhaufen,
schmerzliche Empörung aus der Florentinischen Nacht heraus.
Nicht mit den Leiden jener anderen großen Meister verglich
Chopin das seinige. Der außergewöhnliche Glanz des Geistes-
Gegensätze zwischen Chopin und G. Sand. 157
quells, wo er es geschöpft, ließ ihn glauben, daß es eben mit nichts
zu vergleichen sei. Allein mit seinem Leid, hoffte er, es genugsam
zu beherrschen, um seinen bleichen Widerschein und Gespenster-
blick von den luftigen, in Frühlings-Morgenfrische strahlenden
Regionen fem zu halten, wo er seiner Muse zu begegnen pflegte.
Indessen so fest er entschlossen war, nur das reine Ideal seiner
Jugendbegeisterung in der Kunst zu suchen, vermischte er ihm
doch unwissentlich Schmerzenslaute, die nichts mit jenem Ideal
zu schaffen hatten. Er quälte seine Muse, um komplizierte, raffi-
nierte, unfruchtbare Leiden zum Ausdruck zu bringen, die sich
in einer dramatischen, elegisch-tragischen Lyrik selbst verzehrten,
welche außerhalb der Natur des Gegenstandes und seines Geftihls-
kreises lag.
Wir sagten es bereits: alle die seltsamen Formen, die in seinen
letzten Werken so lange Zeit die Verwunderung der Künstler er-
regten, stimmen mit seinen Inspirationen im allgemeinen nicht
überein. Dem Liebesgeflüster, den Heldenklagen, den Jubel-
hymnen und Triumphgesängen, die der polnische Meister in ver-
gangenen Tagen vernommen hatte, mischen sie die Seufzer eines
kranken Herzens, den Aufruhr einer aus dem Gleichgewicht ge-
brachten Seele, die Eifersuchtsqualen, die ihn in der Gegenwart
bedrückten. Dennoch verstand er es so gut, ihnen seine Gesetze
vorzuschreiben, sie zu bemeistem und als sieggewohnter Herrscher
zu behandeln, daß es ihm, im Gegensatz zu manchem Koryphäen
der zeitgenössischen romantischen Literatur, im Gegensatz auch
zu dem auf musikalischem Gebiet durch einen großen Künstler
gegebenen Beispiel, gelang, die Vorbilder und die geheiligten For-
men des Schönen nie zu verletzen, welches auch die Gemütsbe-
wegungen waren, die er in ihnen niederlegte.
Er war fern davon. In dem unbewußten Drange, Eindrücke
wiederzugeben, die des Idealisierens unwert waren, und dem Vor-
satz, die Muse nie zur Sprache der Leidenschaften des Lebens
herabzuwürdigen, mit denen er seinem Herzen Berührung ver-
stattet hatte, erweiterte er die Mittel und Grenzen seiner Kunst
derart, daß keine seiner Errungenschaften von einem seiner recht-
mäßigen Nachfolger verleugnet und zurückgewiesen werden wird.
158 VII!. Letzte Zeiten und Stunden.
Denn so unsagbar er auch gelitten, niemals opfert er das Schöne
in der Kunst dem Bedürfnis, seinen Schmerz frei ausströmen zu
lassen; niemals wird sein Gesang zum Weheschrei; niemals erlaubt
er sich, die brutale Wirklichkeit in die Kunst — die ausschließliche
Domäne des Ideals — zu übertragen, ohne sie zuvor ihrer Bruta-
lität entkleidet und zu der Höhe emporgehoben zu haben, wo sie
sich zur Wahrheit verklärt. Möge er allen, die die Natur mit einer
gleich schönen Seele, einem gleich edlen Genius begabte, als Bei-
spiel voranleuchten, wenn sie, wie er, vom Schicksal ausersehen
sind, einem Glücke zu begegnen, das ihnen lehrt, das Leben zu
verwünschen!
So kurz auch die Lebensfrist schien, die Chopin bei der Schwäche
seiner Konstitution gegeben war, sie hätte nicht noch durch seelische
Leiden verkürzt zu werden brauchen. Zärtlich und feurig zugleich,
voll feinsten, weiblich keuschen Zartgefühls, waren ihm unbesieg-
bare Abneigungen eigen, die zwar die Leidenschaft ihn überwinden
ließ, die aber zurückgedrängt sich rächten, indem sie die zarten
Fibern seines Herzens wie glühende Eisendornen zerrissen. Sich
Täuschungen und Hoffnungen hingebend, die sich nicht zu ver-
wirklichen vermochten, blieb er beim Erwachen aus trügerischem
Traume gebrochen und verblutend zurück.
VIIL
Seit dem Jahre 1840 schwand Chopins Gesundheit unter be-
ständigen Schwankungen mehr und mehr dahin. Am wohlsten
fühlte er sich während der Wochen, die er mehrere Jahre hindurch
allsommerlich bei George Sand auf ihrem Landgut Nohant zu-
brachte, trotz der traurigen Eindrücke, die für ihn auf die aus-
nehmend glückliche Zeit ihrer spanischen Reise folgten.
Die Berührung der Schriftstellerin mit den Vertretern der
Öffentlichkeit, den ausführenden Bühnenkräften, wie mit denen,
die sie, ihren Verdiensten oder ihrer Vorliebe zufolge, auszeichnete,
das Durcheinander der Einwürfe und Meinungen mit seinen unver-
meidlichen Reibungen war freilich seiner Natur innerst zuwider.
Lange versuchte er, die Augen davor zu schließen und nichts von
Chopins Bruch mit G. Sand. 159
alledem zu sehen. Doch kam es am Ende'^zu Ereignissen, die, da
sie sein moralisches und gesellschaftliches Schicklichkeits- und Zart-
gefühl allzusehr beleidigten, schließlich seine Gegenwart in Nohant
unmöglich machten, obwohl es anfangs schien, als ob er dort mehr
Erholung als irgendwo genieße. Da er daselbst, sobald er sich
von seiner Umgebung zu isolieren vermochte, gern arbeitete, brachte
er alljährlich mehrere Kompositionen mit sich heim. Der Winter
aber hatte regelmäßig eine Steigerung seiner Leiden zur Folge.
Mit immer größerer Anstrengung nur war er imstande, sich zu be-
wegen. Von 1846 zu 1847 ging er fast gar nicht mehr aus, da er
keine Treppe steigen konnte, ohne es mit den ärgsten Beklemmun-
gen zu büßen. Fortan erhielt ihn nur die sorglichste Vorsicht und
Pflege noch am Leben.
Gegen das Frühjahr 1847 verschlimmerte sich sein Zustand
von Tag zu Tag, und er verfiel in eine Krankheit, von der man
kaum glaubte, daß er sie überstehen werde. Noch einmal ward
er gerettet; doch lebte er, durch ein ihn vernichtendes Ereignis
im Innersten getroffen, nur noch mit dem Tod im Herzen weiter.
Nicht lange überlebte er den in diese Zeit fallenden Bruch seiner
Beziehungen zu George Sand.
Frau von Stagl, die edle, gemüt- und geistvolle Frau, die nur
den Fehler hatte, die Grazie ihrer Empfindung häufig durch die
Schwerfälligkeit ihres Ausdrucks zu beeinträchtigen, äußerte ein-
mal, als sie über der Lebhaftigkeit ihres Empfindens ihre Genfer
Steifheit und Feierlichkeit vergaß; „In der Liebe gibt es nur An-
fänge!" — ein Ausspruch, in dem sich bittere Erfahrung über die
Unzulänglichkeit des menschlichen Herzens, den Träumen der
Einbildungskraft zu entsprechen, Luft machte.
Zwischen dem polnischen Künstler und der französischen Dich-
terin hatten sich die „Anfänge", von denen Frau von Stagl sprach,
längst erschöpft. Sie hatten sich, bei dem einen kraft der Achtung
für das einst in goldnem Glänze strahlende Ideal, bei der andern
vermöge einer falschen Scham, welche Beständigkeit ohne Treue
bewahren zu können meinte, selbst überlebt. Genug, es kam der
Moment, wo das unnatürliche Verhältnis, dessen Lebenskraft kein
künstliches Mittel mehr aufzufrischen vermochte, dem Künstler
160 VI IL Letzte Zeiten und Stunden.
die Grenze dessen zu überschreiten schien, was er in Rücksicht
auf seine Ehre unbemerkt lassen durfte. Niemand wußte, was
den Anlaß oder Vorwand zu dem plötzlichen Bruche gegeben hatte;
man sah nur Chopin, nachdem er gegen die Heirat der Tochter
des Hauses heftigen Einspruch getan, Nohant ungestüm verlassen,
um nie mehr dahin zurückzukehren.
Dessenungeachtet sprach er häufig und beharrlich von Frau
Sand, ohne Bitterkeit und ohne Vorwürfe. Er erzählte nicht von
ihr, er rief sie gleichsam zurück. Unaufhörlich erwähnte er, was
sie tat, wie sie es tat, was sie gesagt hatte, was sie zu wiederholen
pflegte. Die Tränen traten ihm oftmals in die Augen, wenn er
ihrer gedachte, die er verlassen mußte, und von der er sich doch
nicht trennen konnte.
Trotz der Ausflüchte, die seine Freunde anwandten, um den
aufregenden Gegenstand seinem Gedächtnis fernzuhalten, kam er
doch immer wieder darauf zurück, als wolle er sein Leben durch
die gleichen Gefühle zerstören, die es einst neu belebt hatten. Mit
einer Art bittersüßer Selbstpein gab er sich der Erinnerung ai\ ver-
gangene Zeiten hin, ob sie jetzt auch ihres Glanzes beraubt waren,
Es war ihm ein letzter Genuß, seine nahe Auflösung zu fühlen,
während er die Vereitelung seiner letzten Hoffnungen betrachtete.
Vergebens suchte man seine Gedanken von der geliebten Frau
abzulenken. Immer und immer wieder sprach er von ihr; und
wenn auch seine Lippen sie nicht nannten, waren seine Träume
nicht bei ihr? Es schien, als schlürfe er das Gift mit gierigen Zügen,
um es um so kürzer einatmen zu müssen.
Chopin fühlte es und sprach es oftmals aus, daß mit diesem
Liebesband zugleich der schwache Faden seines Lebens zerriß.
Während seiner Krankheit im Jahre 1847 verzweifelte man mehrere
Tage an seinem Wiederaufkommen. Gutmann, einer seiner hervor-
ragendsten Schüler und der vertrauteste Freund seiner letzten
Lebensjahre, überschüttete ihn mit Beweisen seiner Anhänglich-
keit; seine Fürsorge und Aufmerksamkeit waren unvergleichlich.
„Ist Gutmann auch nicht zu ermüdet?'' fragte Chopin mit dem
ihm eigenen Zartgefühl die Fürstin Marcelline Czartoryska, die
ihn täglich besuchte utid mehr als einmal fürchtete, ihn am nächiten
Chopin erkrankt schwer. 161
Morgen nicht mehr lebend zu finden. Er zog seine Gegenwart
jeder anderen vor; aber so sehr ihm davor bangte, ihn zu verlieren,
lieber wollte er ihn entbehren, als seine Kräfte mißbrauchen. Äußerst
langsam nur schritt Chopins Genesung vor, und nur einem schwachen
Hauch glich sein Lebensodem. Bis zur Unkenntlichkeit fast hatte
sich sein Aussehen zu jener Zeit verwandelt. Der darauffolgende
Sommer brachte ihm die scheinbare Besserung, die die schöne
Jahreszeit den Dahinsterbenden häufig gewährt. Um nicht nach
Nohant zu gehen oder, dafern er sich einen anderen Aufenthalt
wählte, nicht die greifbare Gewißheit vor Augen zu haben, daß
Nohant ihm kraft seines eigenen unerbittlichen Entschlusses ver-
schlossen sei, wollte er Paris nicht verlassen. So beraubte er sich
selbst der wohltätigen Wirkung der Landluft.
Der Winter von 1847 zu 1848 war eine fortwährende traurige
Wechselfolge von kurzer Besserung und erneuten Rückfällen«
Gleichwohl beschloß er, im Frühjahr seinen alten Plan: eine Reise
nach London, zur Ausführung zu bringen. Unter den Nebeln des
nordischen Klimas hoffte er Befreiung von den ihn ohne Unter-
laß umdrängenden Erinnerungen an den sonnigen Süden zu finden.
Als die Februar- Revolution ausbrach, war er noch bettlägerig;
doch schien er sich gewaltsam für die Tagesereignisse interessieren
zu wollen und sprach mehr als gewöhnlich über dieselben. In
Wahrheit jedoch behauptete nur die Kunst noch ihre unum-
schränkte Macht über ihn. In den immer kargeren Augenblicken,
wo es ihm noch möglich war, sich mit ihr zu beschäftigen, erfüllte
die Musik sein ganzes Wesen so völlig, wie einst, da er noch voll
Leben und Hoffnung war. Sein intimster, treuester Gesellschafter
blieb Gutmann, dessen sorglicher Pflege er sich bis an sein Ende
am liebsten überließ.
Im Monat April hatte sich sein Befinden so weit gebessert, daß
er ernstlich den Gedanken faßte, die beabsichtigte Reise zu unter-
nehmen, um das Land kennen zu lernen, das er einstmals zu be-
suchen gedachte, als noch Jugend und Leben ihm ihr lächelndes
Angesicht zeigten. Bevor er Paris verließ, gab er noch ein Konzert
bei Pleyel, einem seiner ältesten und liebsten Freunde, der gegen-
wärtig durch den Eifer, mit dem er die Ausführung eines Grab«
Liszt, Gesammelte Schriften. I. V.A. 11
162 VIII. Letzte Zeiten und Stunden.
denkmals für Chopin betreibt, seinem Gedächtnis eine pietätvolle
Huldigung darbringt. In diesem Konzert hörte ihn sein ebenso
gewähltd^ als treu ergebenes Publikum zum letzten Male. Fast
ohne das Echo seiner letzten Töne abzuwarten, reiste er darauf
schleunigst nach England ab. Es war, als wolle er sich nicht durch
den Gedanken an ein letztes Lebewohl weich machen lassen oder
dem, was er verließ, durch unnütze Schmerzen nur noch fester
verbinden.
In London hatten sich seine Werke bereits einen verständnis-
vollen Kreis gewonnen. Sie waren dort allgemein bekannt und
bewundert^. Er verließ Frankreich in einer Geistesverfassung, die
1 Seit mehreren Jahren schon waren Chopins Kompositionen in England
sehr verbreitet und beliebt. Die besten Virtuosen brachten sie häufig zur
Aufführung. In einer zu dieser Zeit unter dem Titel: »An Essay on the works
of F. Chopin« bei Wessel und Stappleton in London erschienenen Broschüre
finden wir einige treffende Urteile. Das Motto der kleinen Schrift ist sinn-
reich gewählt; denn auf niemand besser als auf Chopin lassen sich Shelleys
Verse aus Peter Bell III. anwenden:
He was a mighty poet and
A subtle-souled psychologist.
[Er war ein großer Dichter
Und feiner Seelenkenner.]
Mit Begeisterung spricht der Verfasser der Broschüre von diesem ;,durch
keine Konventionalitäten gehemmten, durch keine Pedanterie gefesselten»
originellen Genius"; von den „Ergüssen einer der Welt abgekehrten, schwer-
mutsvoUen Seele, von den musikalischen Tränenfluten und Sonnenstrahlen,
der unvergleichlichen Verkörperung flüchtiger Gedanken, der minutiösen Zart-
heit", die den kleinsten Skizzen Chopins so großen Wert geben. „Eins", sagt
er, „ist gewiß. Um Chopins , Präludien' und , Etüden Vmit^der erforderlichen
Empfindung und in der richtigen technischen Ausführung wiederzugeben,
ist ein vollendeter Pianist vonnöten. Um sie aber völlig zu verstehen und
ihren zahllosen, überaus beredten Ausdrucksfeinheifen Leben und Sprache
zu verleihen, bedarf es eines Pianisten, der in nicht geringerem Maße zugleich
Dichter, Denker und Musiker ist. Gemeinplätze sind in den Werken Chopins
instinktiv^vermieden. Vergebens würde man ein langweiliges Thema oder eine
verbrauchte Sequenz, eine veraltete Kadenz oder Fortschreitung, eine ge-
wöhnliche Melodiephrase oder Passage, eine magere Harmonie oder eine kon-
trapunktische Ungeschicklichkeit in der Reihe derselben suchen, deren'cha-
rakteristische Kennzeichen eine ebenso ungewöhnliche als edle Empfindung,
eine so originelle wie glückliche Behandlung und eine in ihrer Neuheit und
Chopin in London und Edinburg. 163
man in England als low spirits bezeichnet. Das zeitweise Interesse
an den politischen Umwandlungen, das er sich abgezwungen hatte,
war gänzlich geschwunden. Er war schweigsamer denn jemals
geworden; entschlüpften ihm aber ein paar Worte, so war es ein
Ausruf der Klage. Bei seiner Abreise nahm seine Liebe für die
wenigen Freunde, mit denen er noch verkehrte, den rührenden Aus-
druck an, der sich mit dem Vorgefühl des letzten Abschiedes ver-
bindet. Allem übrigen gegenüber zeigte er sich immer gleichgültiger.
In London angekommen, wurde er mit einer Begeisterung emp-
fangen, die ihn elektrisierte und eine Zeitlang über seine Schwermut
Herr werden ließ. Man begann fast zu hoffen, seine Mutlosigkeit
könne sich heben. Er selbst glaubte vielleicht oder stellte sich
doch, als ob er es glaube, daß er sie zu überwinden vermöge, wenn
er alles, was hinter ihm lag, selbst seine alten Gewohnheiten, ver-
gäße und die ärztlichen Vorschriften und Vorsichtsmaßregeln, die
ihn an seinen krankhaften Zustand erinnerten, vernachlässige.
Zweimal spielte er öffentlich und mehrmals in Privat-Soireen.
Bei der Herzogin von Sutherland ward er der Königin vorgestellt,
und um so eifriger begehrte man fortan in den erlesensten Kreisen
den Vorzug seiner Gegenwart. Er ging viel in Gesellschaft, begab
sich spät zur Ruhe und setzte sich ohne Rücksicht auf seine Gesund-
heit allen Anstrengungen aus. Suchte er auf diese Weise unbemerkt
sein Ende herbeizuführen? Wollte er sterben, ohne durch seinen
Tod ein anderes Herz mit Vorwürfen zu erfüllen?
Auch nach Edinburg reiste er noch, dessen Klima sich ihm als
besonders nachteilig erwies. Bei der Rückkehr von Schottland
Frische zugleich kraftvolle und wirksame Melodik und Harmonik sind. Wir
sehen uns in Chopins Werken ein Zauberreich erschlossen, das bisher noch
keines Menschen Fuß, außer dem großen Komponisten selber, betreten. Gläu-
bige Hingebung, der ernste Wille, sie zu verstehen und zu würdigen, sind un-
bedingt erforderlich, um dieser Musik Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. . . .
Seinen Polonaisen und Mazurken gab Chopin die charakteristischen Züge,
welche die Nationalmusik seines Vaterlandes von der aller anderen Länder
merklich unterscheidet: jene seltsame Idiosynkrasie, jene phantastische Wild-
heit, jene anziehende Mischung von Schmerz und Lust, die der Musik der nor-
dischen Volksstamme, deren Sprache sich in Konsonantenverbindungen ge-
fiUt, ihr Gepräge geben.**
164 VIII. Letzte Zeiten und Stunden.
fühlte er sich sehr geschwächt. Die Arzte rieten ihm, England so
bald als möglich zu verlassen; doch verzögerte er seine Abreise
noch längere Zeit, Er spielte noch in einem zum Besten der Polen
veranstalteten Konzert, und dies war das letzte Liebeszeichen,
das er seinem Vaterland sandte. Mit Ehren- und Beifallsbezeigungen
umringten ihn seine Landsleute. Er sagte ihnen allen Lebewohl;
aber sie glaubten noch nicht, daß es ein ewiges sein sollte.
Welche Gedanken ihn wohl geleiten mochten, als er wieder übers
Meer dahin, nach Paris zurückfuhr, das jetzt so wenig mehr dem
Paris glich, das er vor siebzehn Jahren gefunden hatte, ohne es
zu suchen? . . .
Bei der Rückkehr harrte seiner eine traurige Überraschung.
Dr. Molin, dessen geschickter Behandlung er nicht nur seine Rettung
im Winter 1847, sondern die Erhaltung seines Lebens seit einer
Reihe von Jahren allein zu danken glaubte, starb plötzlich. Tief
schmerzlich ward Chopin von diesem Verlust berührt, und eine
Entmutigung überkam ihn schließlich, die bei dem Einfluß, den die
Gemütsstimmung auf das Fortschreiten dieser Krankheit übt, um
so gefährlicher wirkte. Er behauptete, daß er zu keinem. anderen
Arzt wieder Vertrauen fassen und keiner ihm Molin ersetzen könne.
Fortwährend wechselte er von nun an seine Ärzte, mit jedem un-
zufrieden und auf keines Wissenschaft mehr bauend. Ein Zustand
vollkommener Erschlaffung bemächtigte sich seiner. Es war, als
sähe er nun sein Ziel erreicht; als habe er auch die letzten Lebens-
kräfte erschöpft, da kein Band, das stärker als das Leben war,
keine Liebe, die den Tod besiegte, gegen diese bittere Apathie mehr
ankämpfte.
Seit dem Winter 1848 war Chopin nicht mehr fähig, anhaltend
zu arbeiten. Er legte wohl von Zeit zu Zeit an einige Skizzen die
nachbessernde Hand, doch gelang es ihm nicht, seine Gedanken
zu sammeln. Damit sie nicht in verstümmelter oder unfertiger
Gestalt als seiner unwürdige nachgelassene Werke an die Öffent-
lichkeit gelangten, ließ die Sorge um seinen Ruhm ihn das Ver-
brennungsurteil über sie sprechen. Nur ein letztes Nocturne und
ein gan; kurzer Walzer wurden als vollendete Manuskripte von
ihm hinterlassen.
Rückkehr nach Paris. 165
In letzter Zeit beschäftigte ihn der Plan, eine Klavierschule
zu schreiben, in der er seine Gedanken über die Theorie und Tech-
nik seiner Kunst, das Ergebnis seiner langjährigen Arbeiten, seiner
glücklichen Neuerungen und Erfahrungen niederzulegen gedachte.
Die Aufgabe war ernst und erforderte doppelte Anstrengung, selbst
für einen so emsigen Arbeiter als Chopin. Wollte er, als er sich
diesem trockneren Gebiet zuwandte, vielleicht selbst den Auf-
regungen der Kunst entfliehen, die so mannigfaltig sind wie die
Gefühle und Dramen des Herzens, die sich in ihnen spiegeln? Nur
noch eine gleichförmige, ihn abziehende Beschäftigung suchte er
und verlangte von ihr nichts weiter, als was Manfred von den
Kräften der Magie vergebens begehrte: „Vergessen!" — jenes Ver-
gessen, das weder Zerstreuung noch Betäubung zu gewähren ver-
mögen, welche vielmehr, was sie dem Schmerz an Zeit rauben,
arglistig durch Intensität zu ersetzen scheinen. In der täglichen
Arbeit, die „der Seele Sturm beschwört", indem sie das Gedächt-
nis zwar nicht vernichtet, aber doch einschläfert, wollte er Ver-
gessenheit suchen. Suchte doch auch Schiller, der wie Chopin
trostloser Schwermut und einem vorzeitigen Tod zur Beute ward,
Beruhigung in der Arbeit, die er, als letzte Zuflucht in der Bitternis
des Lebens, am Ende seiner Dichtung „Die Ideale" anruft:
„Beschäftigung, die nie ermattet,
Die langsam schafft, doch nie zerstört,
Die zu dem Bau der Ewigkeiten
Zwar Sandkorn nur für Sandkorn reicht,
Doch von der großen Schuld der Zeiten
Minuten, Tage, Jahre streicht."
Zur Ausführung seines Planes reichten gleichwohl Chopins
Kräfte nicht mehr aus: die Beschäftigung war ihm zu abstrakt,
zu ermüdend. Er gestaltete im Geiste die Hauptzüge des Ganzen,
sprach auch zu wiederholten Malen davon; doch die Verwirk-
lichung seines Gedankens wurde ihm unmöglich. Wenige Seiten
nur wurden niedergeschrieben, um das Vemichtungsschicksal der
übrigen Skizzen zu teilen.
Endlich verschlimmerte sich das Übel so sichtlich, daß seinen
Freunden alle Hoffnung zu schwinden begann. Er vermochte das
166 VIII. Letzte Zeiten und Stunden.
Bett nicht mehr zu verlassen und sprach fast gar nicht mehr. Seine
Schwester, die auf Kunde dessen von Warschau herbeigeeilt war,
wich nicht mehr von seinem Krankenlager. Er gewahrte die Angst,
die schmerzlichen Befürchtungen um ihn her, ohne den Eindruck,
den sie ihm selbst erregten, zu verraten. Mit männlicher Ruhe
und Ergebung unterhielt er sich von seinem Ende, indes er vor allen
und vielleicht vor sich selber zu verbergen trachtete, daß er das-
selbe selbst herbeigeführt oder doch beschleunigt hatte. Auch traf
er noch immer Veranstaltungen für die Zukunft. Wie er von je
gern öfters die Wohnung wechselte, so wählte er auch jetzt wieder
eine andere, um, wie er sagte, den Unbequemlichkeiten der gegen-
wärtigen zu entgehen. Er ordnete ihre neue Möblierung an und
beschäftigte sich auf das eingehendste mit der betreffenden Ein-
richtung. Obwohl er schwer krank war und sich sicherlich keiner
Täuschung über seinen Zustand hingab, bestand er doch darauf,
die getroffenen Veranstaltungen nicht abzubestellen. In der Tat
begann man bereits mehrere Gegenstände zu räumen, ja es fügte
sich, daß man selbst an seinem Todestage verschiedene Möbel nach
den Zimmern schaffte, die er nicht mehr beziehen sollte.
Fürchtete er, daß der Tod sein Versprechen nicht halten, daß,
nachdem ihn seine Hand berührt hatte, er ihn noch einmal auf
der Erde zurücklassen und das Leben ihm noch grausamer erscheinen
würde, wenn er es wieder aufnehmen müsse, nun alle ihn dem-
selben verknüpfenden Fäden zerrissen waren? Empfand er jene
doppelte Einwirkung, welche manche höhergeartete Naturen am
Vorabend von Ereignissen fühlten, die über ihr Los entschieden:
jenen Widerspruch zwischen dem Herzen, das das Geheimnis der
Zukunft ahnt, und dem Verstand, der es nicht vorauszusehen wagt,
so daß Worte und Handlungen einander Lügen zu strafen scheinen,
während sie doch der gleichen Überzeugung entspringen? Wir
glauben vielmehr, daß, nachdem er sich von dem unwidersteh-
lichen Wunsch, dies Leben zu verlassen, überwältigen ließ, nach-
dem er in England alles getan hatte, um seine letzten Tage abzu-
kürzen, er nun alles fernhalten wollte, was diese seine Schwäche ver-
raten konnte, die seine eigene Lebensanschauung an jedem anderen
als romantisch, theatralisch, lächerlich verurteilt haben würde.
Dem Ende entgegen. 167
Er wäre errötet, wie einer der ihm verhaßten Melodramenheiden,
wie ein Bocage auf der Bühne^ oder eine der ihm so verächtlichen
Romanfiguren zu handeln. Konnte er nun trotz alledem der ver-
führerischen Lockung des Todes, dem letzten Rausch der durch
den bittern Trank der Verzweiflung Vergifteten nicht widerstehen,
so suchte er doch sorgsam eine Schwäche zu verhehlen, die allen
gemeinsam ist, denen Frauenhand eine Wunde schlug, von der man
nur sterbend genest.
In Abwesenheit eines polnischen Geistlichen, der früher Chopins
Beichtvater gewesen, sprach Abb6 Alexander Jelowicki, einer der
angesehensten Emigranten, auf die Nachricht seiner schweren Er-
krankung bei ihm vor, obgleich ihre Beziehungen sich während der
letzten Jahre gelockert hatten. Durch die Umgebung des Kranken
dreimal zurückgewiesen, kannte er denselben doch zu gut, um sich
abschrecken zu lassen und nicht sicher zu sein, daß er ihn, sobald
er von seiner Nähe wisse, vorlassen werde. Er wurde in der Tat,
nachdem er Mittel und Wege gefunden, ihn von seiner Gegenwart
zu unterrichten, unverzüglich angenommen. Zuerst war im Emp-
fang des armen sterbenden, des Lebensodems wie des Lebensmutes
beraubten Freundes eine gewisse Kühle, oder vielmehr eine aus
innerer Erregung hervorgehende Verlegenheit bemerkbar, wie man
sie immer empfindet, wenn man, sich ehedem zu Gott bekennend,
sich ihm entfremdete und nun mit einem seiner Diener in Berührung
kommt, dessen Anblick schon uns an seine väterliche Liebe und
an unser undankbares Vergessen mahnt.
Tags darauf kam Abb^ Jelowicki wieder und so alle Tage zur
selben Stunde; er tat, als sei nie irgend welche Unterbrechung in
ihren Beziehungen eingetreten. In polnischer Sprache unterhielt
er sich mit ihm, als hätten sie sich tags zuvor gesehen, als wäre
nichts in der Zwischenzeit vorgefallen, als lebten sie in Warschau
statt in Paris. Er erzählte ihm von all den kleinen Begebenheiten
im Kreise der emigrierten Geistlichen, von den neuen Religions-
verfolgungen in Polen, von den ihrem Kultus entzogenen Kirchen.
* Bocage, einer der hervorragendsten Schauspieler aus der Zeit von
Mme Dorval, war einer der berilhmtesten Repräsentanten der ausschweifenden
Romantik und als solcher eine Zeitlang in Nohant sehr gern gesehen.
168 VIII. Letzte Zeiten und Stunden.
Es läßt sich denken, wie sehr sich diese Erzählungen ausdehnen
ließen.
Täglich wurden die Besuche des Pater Jelowicki dem armen
an das Lager gebannten Kranken interessanter. Sie versetzten ihn
auf die natürlichste Weise, ohne Anstrengung und Erschütterung,
in seine heimatliche Atmosphäre. Sie verknüpften ihm Gegenwart
und Vergangenheit und führten ihn gewissermaßen in sein Vater-
land, sein geliebtes Polen, zurück, das er trauriger denn jemals
wiedersah. Eines Tages teilte Chopin seinem Freunde ohne Um-
schweif mit, daß er seit langer Zeit nicht gebeichtet habe und es
zu tun wünsche. Es geschah auch sofort, da Beichtiger und Beicht-
kind, ohne sich darüber zu äußern, schon längst auf diesen großen
und feierlichen Augenblick vorbereitet waren.
Kaum hatte der Priester <Ias letzte Wort der Absolution ge-
sprochen, als Chopin, wie befreit, tief aufseufzend und zugleich
lächelnd, ihn nach polnischer Art mit beiden Armen umschlang
und ausrief: „Dank, Dank, mein Lieber! Dank Ihnen werde ich
nicht wie ein Schwein sterben (iak swinia)!" Wir erfuhren die
genaueren Umstände durch den Abb6 Jelowicki selbst, der sie
später auch in einem seiner »Lettres spirituelles« veröffentlichte.
Er sagte uns, wie tief ihn der Gebrauch dieses gemein energischen
Ausdrucks im Munde eines Mannes erschüttert habe, der durch
die Gewähltheit und Eleganz seiner Redeweise bekannt war. Mit
diesem auf seinen Lippen so seltsam klingenden Wort schien er
seine Seele von dem ganzen, unermeßlichen Ekel zu entlasten,
der sie erfüllte.
Von Woche zu Woche, von Tag zu Tag lagerten sich die Schatten
des Todes dichter über ihm. Die Krankheit näherte sich ihrem
Ende. Immer heftiger wurden die Leiden, immer häufiger die
Krisen, die einen letzten Kampf in nahe Aussicht stellten. Sobald
sie ihm Ruhe ließen, fand Chopin seine Geistesgegenwart und
Willenskraft wieder. Die Klarheit des Bewußtseins und der Ge-
danken verließ ihn nicht bis zuletzt. Die Wünsche, die er in schmer-
zensfreieren Augenblicken aussprach, bezeugen den ruhigen Ernst,
mit dem er dem Tod ins Angesicht schaute. Zur Seite Bellinis,
mit dem er, während dessen Pariser Aufenthaltes, in intimem Ver-
Abb6 Jelowicki. Chopins Pfleger. 169
kehr gestanden, begehrte er zur Ruhe bestattet zu werden. Bellinis
Grab ist auf dem Friedhof P^re-Lachaise neben dem Cherubinis
gelegen; der Wunsch aber, diesen letzteren, von früh an von ihm
bewunderten großen Meister kennen zu lernen, war einer der Be-
weggründe, die Chopin, als er 1831 Wien verließ, um sich nach
London zu begeben, bestimmten, über Paris zu reisen, wo ihn sein
Schicksal, ohne daß er es ahnte, festhielt. Nun ruht er zwischen
Bellini 1 und Cherubini, jenen beiden so verschieden gearteten
Tongenien, denen Chopin sich doch gleicherweise näherte, indem
er die Gelehrsamkeit des einen nicht minder schätzte, als er sich
dem natürlich fortreißenden Zug und Feuer des anderen zuneigte.
Ihn verlangte, das poetisch Duftige des eigenen spontanen Emp-
findens in großer, erhabener Weise den Verdiensten der vollendeten
Meister: dem melodischen Gefühl des Autors der „Norma'S wie
der harmonischen Bedeutung des gelehrten Greises, der „Medea''
schuf, zu vereinen.
Mit der ihm bis zuletzt eigenen Zurückhaltung wünschte er
keinen seiner Freunde zum letzten Male zu sehen; aber er bezeigte
denen, die ihn besuchten, seine Dankbarkeit in der ergreifendsten
Weise. Die ersten Tage des Oktober ließen keine Hoffnung übrig.
Der verhängnisvolle Augenblick nahte; der nächste Tag, die nächste
Stunde schon konnte ihn bringen. Chopins Schwester und Gut-
mann standen dem Kranken beharrlich bei und wichen keinen
Moment mehr von seiner Seite. Die Gräfin Delphine Potocka,
die von Paris abwesend war, kehrte auf die Nachricht von der
drohenden Gefahr sofort zurück. Wer an das Sterbebett trat,
konnte sich von dem Anblick dieser schönen, in der Weihe des Augen-
blicks doppelt großen Seele nicht trennen.
Welche heftige oder frivole Leidenschaften auch das Menschen-
herz erregen, welche Stärke oder Gleichgültigkeit es auch angesichts
plötzlicher Zufälle, die als die ergreifendsten erscheinen müßten,
entfalte, im Anblick eines langsam herannahenden Todes liegt
^ Bellinis Asche wurde 1876 nach seinem Qeburtsort Catania überführt
und im Dom daselbst beigesetzt. Chopins Herz wurde am 6. März 1880 dem
ihm in der Heillgengelst-Kirche zu Warschau errichteten, kurz zuvor, an
seinem Geburtstag, dem 22. Februar, eingeweihten Denkmal eingefügt. [A. d. Ü.]
170 VÜI. Letzte Zeiten und Stunden.
eine imposante Majestät, die selbst die zu solch heiliger Andacht
am wenigsten gestimmten Gemüter rührt und erhebt. Der all-
mähliche Heimgang eines der Unsrigen in das unbekannte Jenseits,
der geheimnisvolle Ernst semer Ahnungen und Offenbarungen,
seiner Rückschau auf sein Denken und Tun auf der schmalen
Schwelle, die Vergangenheit und Zukunft, Zeit und Ewigkeit
trennt, bewegt uns tiefer als irgend etwas auf dieser Welt. Die
Katastrophen, die Abgründe, welche die Erde unter unseren Füßen
öffnet, die Feuersbrünste, die ganze Städte mit ihrem Flammenband
umschlingen, die elementaren Gewalten, denen das dem Sturm
zum Spielzeug dienende zerbrechliche Schiff unterliegt, das Blut,
das Armeen auf dem dampfenden Schiachtfeld vergießen, das
schreckliche Beinhaus selbst, in das eine ansteckende Krankheit
die Wohnungen der Menschen verwandelt: alles das entfernt uns
weniger von allen den unwürdigen irdischen Banden, „die ver-
gehen, schwinden und brechen*' i, als der Anblick einer klar be-
wußten Seele, die schweigend die vielgestaltigen Bilder der Zeit
und die stumme Pforte der Ewigkeit überschaut. Der Mut, die
Ergebung und Erhebung, die sie mit der unserem Wesen so wider-
strebenden unvermeidlichen Auflösung vertraut machen, üben
auf die Umstehenden eine tiefere Wirkung als das plötzlichste,
gewaltsamste Ende, dem dieser Ausdruck des Schmerzes und der
stillen Sammlung fehlt.
In dem Salon neben Chopins Schlafgemach waren fortwährend
mehrere seiner Freunde versammelt; sie kamen abwechselnd, um,
nachdem seine Sprache schon fast erloschen, einen Blick, einen
stummen Gruß noch von ihm zu empfangen. Die unermüdlichste
unter ihnen war die Fürstin Marcelline Czartoryska, die, als die
Lieblingsschülerin des Tondichters und Vertraute seiner Kunstge-
heimnisse, täglich einige Stunden bei dem Sterbenden zubrachte.
In seiner letzten Stunde verließ sie ihn erst, nachdem sie lange
an der Seite dessen gebetet hatte, der nun aus dieser Welt der
Täuschungen und Schmerzen in eine Welt des Lichtes und der
Seligkeit entfloh.
^ »Qui passent, qui lassent, qui cassent.«
Letzte Klänge. 171
Sonntag, den 15. Oktober hatte er schmerzvollere und andauern-
dere Zufälle denn je zuvor zu erdulden. Er ertrug sie mit Geduld
und großer Seelenstärke. Die anwesende Gräfin Delphine Potocka
war tief ergriffen, ihre Tränen strömten. Er sah sie am Fuß seines
Lagers stehen. Groß, schlank, weiß gekleidet, den schönsten
Engelsgestalten gleichend, die je ein frommer Maler ersann, durfte
er sie wohl für eine himmlische Erscheinung halten. Als ihm die
Schmerzen einen Augenblick der Ruhe gönnten, bat er sie zu singen«
Man glaubte anfangs, er phantasiere; aber er wiederholte seine
Bitte dringlicher. Wer hätte gewagt, sich ihm zu widersetzen?
Das im Salon stehende Klavier wurde an die Tür seines Schlaf-
zimmers gerollt, und die Gräfin sang mit schluchzender Stimme.
Tränen überfluteten ihre Wangen, und niemals sicherlich hörte man
diese vielbewunderte Stimme voll pathetischeren Ausdruckes singen.
Chopin schien weniger zu leiden, während er ihr lauschte. Sie
sang die berühmte Hymne an die Jungfrau, die Stradella das Leben
gerettet haben soll. „Wie schön das ist! Mein Gott, wie schön
das ist!" sagte er. „Noch einmal . . . noch einmal!" Obwohl von
Rührung überwältigt, hatte die Gräfin dennoch die Kraft, dem
letzten Wunsch ihres Freundes zu willfahren. Sie setzte sich
noch einmal an das Klavier und sang einen Psalm von Marcello.
Chopin befand sich indessen schlechter. Alle wurden von Schreck
ergriffen und warfen sich, einer unwillkürlichen Regung folgend,
auf die Knie. Niemand wagte zu sprechen; man vernahm nur die
Stimme der Gräfin, die wie eine himmlische Melodie über dem
Seufzen und Schluchzen schwebte, das ihre düstere Begleitung
bildete. Und die Nacht brach herein, und ein Halbdunkel breitete
seine geheimnisvollen Schatten über dieses traurige Bild. Chopins
Schwester kniete, in Gebet und Tränen versunken, an seinem Bett;
sie verließ diese Stellung kaum mehr, so lange ihr geliebter Bruder
lebte ...
Während der Nacht verschlimmerte sich der Zustand des Kran-
ken; am Montag früh aber befand er sich etwas besser. Als ob
er im voraus den günstigsten Augenblick erkannt hätte, verlangte
er ungesäumt nach Empfang der Sterbesakramente. In Abwesen-
heit des priesterlichen Freundes, der ihm seit ihrer gemeinsamen
172 VI IL Letzte Zeiten und Stunden.
Verbannung verbunden war, wurde natürlich Abb6 Jelowicki ge-
rufen. Mit tiefer Andacht empfing er das heilige Abendmahl und
die letzte Ölung in Gegenwart aller seiner Freunde. Dann winkte
er einen nach dem andern derselben an sein Bett, um einem jeden
ein letztes Lebewohl zu sagen und Gottes Segen auf seine Wünsche
und Hoffnungen herabzuflehen. Alle senkten die Knie und neigten
das Haupt mit tränenfeuchtem Auge, die Herzen schmerzgepreßt
und doch erhoben.
Immer peinvoller traten die Beklemmungen auf und währten
den ganzen Tag über. In der Nacht vom Montag zum Dienstag
sprach er kein Wort mehr, auch schien er die ihn umgebenden
Personen nicht mehr zu erkennen. Erst gegen elf Uhr abends
fühlte er zum letzten Mal ein wenig Erleichterung. Abb6 Jelo-
wicki hatte ihn nicht verlassen. Kaum war Chopin der Sprache
wieder mächtig, so wünschte er mit ihm die Litaneien und Sterbe-
gebete herzusagen. Er tat dies in lateinischer Sprache, mit voll-
kommen vernehmlicher Stimme. Dann ließ er sein Haupt auf der
Schulter Gutmanns ruhen, der ihm im ganzen Verlauf der Krank-
heit seine Tage und Nächte gewidmet hatte.
Eine krampfhafte Schlafsucht währte bis zum 17. Oktober.
Gegen zwei Uhr begann der Todeskampf; kalter Schweiß entströmte
seiner Stirn. Nach kurzem Schlummer fragte er mit kaum hörbarer
Stimme: „Wer ist bei mir?" Darauf neigte er sein Haupt, um
Gutmanns Hand, die es gestützt hatte, zu küssen, und hauchte
mit diesem letzten Beweis von Freundschaft und Dankbarkeit
seine Seele aus. Wie sein Leben Liebe gewesen, so war es auch sein
Sterben!
Als die Türen des Salons geöffnet wurden, drängten sich alle
um die entseelte Hülle, und lange Zeit flössen die Tränen, die man
über ihn weinte.
Da seine Liebe zu den Blumen allgemein bekannt war, wurden
dieselben am anderen Tag in solcher Fülle herbeigebracht, daß das
Bett, auf dem er lag, und das ganze Zimmer unter der bunten
Blütenpracht verschwanden. In einem Garten schien er zu
ruhen. Sein Antlitz hatte eine ungewohnte Jugend, Reinheit,
Ruhe zurückgewonnen; seine. durch langes Leiden entstellte Jugend-
Tod und Bestattung. 173
liehe Schönheit trat wieder hervor. Der Bildhauer Cl^singer hielt
diese Züge, denen der Tod ihre ursprüngliche Anmut wiedergegeben,
in einer Skizze fest, die später modelliert und für Chopins Grab in
Marmor ausgeführt wurde.
In seiner hohen Verehrung für Mozarts Genius hatte der Ver-
blichene die Aufführung seines Requiems bei seiner Bestattung
erbeten. Sein Wunsch ward erfüllt. Die Leichenfeier fand in der
Kirche la Madeleine am 30. Oktober 1849 statt, da sie, um eine
des Meisters wie des Jüngers würdige Aufführung des großen Werkes
zu veranstalten, bis zu diesem Tag verschoben worden war. Die
ersten Pariser Künstler verlangten an derselben teilzunehmen.
Mit dem Trauermarsch des Verklärten, der von Reber zu diesem
Zweck instrumentiert worden war, ward die Feier eröffnet. So
geleitete die Erinnerung an das Vaterland, die er demselben ein-
gehaucht hatte, den edlen polnischen Sänger zu seiner letzten Ruhe.
Zum Offertorium trug Lefebure-V61y Chopins bewundernswürdige
Präludien in H- und E-Moll auf der Orgel vor. Die Solopartien
im Requiem hatten sich die Damen Viardot und Castellan erbeten;
Lablache, der im Jahre 1827 bei Beethovens Beerdigung das Tuba
mirum desselben Werkes gesungen hatte, sang es auch diesmal
wieder. Meyerbeer, der damals die Paukenpartie spielte, führte
jetzt mit dem Fürsten Adam Czartoryski den Trauerzug. Die
Zipfel des Bahrtuches trugen Fürst Alexander Czartoryski, der
Maler Delacroix und die Musiker Franchomme und Gutmann.
So unzulänglich die vorliegenden Blätter auch erscheinen mögen,
um unseren Wünschen entsprechend von Chopin zu reden, wir
hoffen doch, daß der Reiz, den sein Name mit Recht ausübt, das
ihnen Mangelnde ersetzen wird. Nur die Aufrichtigkeit des
Schmerzes, der Hochachtung und Begeisterung, die wir für ihn
empfinden, kann diesen dem Andenken seiner Werke und allem,
was ihm teuer war, gewidmeten Zeilen eine überzeugende und
sympathische Wirkung verleihen. Sollen wir nun, zur Einkehr
in uns selber gedrängt, zu der jeder Todesfall uns veranlaßt, welcher
uns eines Genossen unserer Jugend beraubt und die ersten vom
vertrauenden Herzen geschlossenen, aber diese Jugend überlebenden
174 VIII. Letzte Zeiten und Stunden.
Bande zerreißt, noch einige Worte hinzufügen, so möchten wir
dessen gedenken, daß wir im Laufe ein und desselben Jahres die
beiden liebsten Freunde verloren, denen wir während unserer
künstlerischen Wander jähre begegneten.
Der eine fiel als Opfer des Bürgerkriegs! Als tapferer, aber
unglücklicher Held erlag er einem grauenvollen Tod, dessen ent-
setzliche Qualen gleichwohl seinen heißen Mut, seine unerschrockene
Kaltblütigkeit und ritterliche Kühnheit keinen Augenblick zu beugen
vermochten. Als jugendlicher Fürst voll überschäumenden Lebens,
vpn seltenem Verstand und außerordentlicher Tätigkeit, mit hervor-
ragenden Gaben ausgestattet, hatte er durch seine unermüdliche
Energie bereits alle Hindernisse besiegt, um sich einen Wirkungs-
kreis zu schaffen, wo seine Fähigkeiten sich im Wortgefecht und
Staatsgeschäft mit gleichem Erfolg entfalten konnten, wie er seinen
glänzenden Waffentaten schon zuteil geworden war. — Der andere
verzehrte sich langsam in seinen eigenen Flammengluten. Sein
außerhalb der öffentlichen Ereignisse stehendes Leben war gleich-
sam ein körperloses Etwas, das sich uns nur durch die Spuren seiner
uns hinterlassenen Tondichtungen offenbart. In fremdem Lande
beschloß er seine Tage: ein Dichter mit schmerzenreicher, tief in
sich verschlossener Seele.
Mit dem Tod des Fürsten Felix Lichnowsky ging uns das un-
mittelbare Interesse an der Bewegung der Parteien verloren, zu
denen er in Beziehung stand. Chopins Tod hingegen beraubte
uns eines verständnisvollen Freundes und Kunstgenossen. Die
warme Sympathie für unsere Empfindung und Kunstanschauung,
von der uns der überaus exklusive Künstler so viel unverkennbare
Beweise gab, würde, wie sie unsere ersten Bestrebungen und Ver-
suche ermutigte und kräftigte, uns auch in Zukunft manche herbe
und ermüdende Erfahrung versüßt haben.
Da es uns beschieden ward, jene Freunde zu überleben, drängte
es uns wenigstens, Zeugnis abzulegen von dem Schmerz, der uns
erfüllt, und dies Zeugnis als gebührende Huldigung am Grabe des
edlen Meisters niederzulegen, der unter uns lebte und dahin ging.
Heutigentages, wo die Musik zu solch allgemeiner und großartiger
EntWickelung gelangt, scheint er uns in mancher Beziehung jenen
Chopin — Fürst Felix Lichnowsky. 175
Malern des vierzehnten und fünfzehnten Jahrhunderts vergleichbar,
die die Erzeugnisse ihres Genies auf den Raum eines Pergament-
randes beschränkten, aber in ihren Miniaturen Züge einer so glück-
lichen Eingebung entfalteten, daß sie, die byzantinische Steifheit
zuerst durchbrechend, die Vorbilder hinterließen, die ein Francia,
Perugino, Raphael später auf ihre Staffelei- und Wandgemälde
übertrugen*
Es gab Völker, bei denen man, großen Männern und Taten zum
Gedächtnis, Pyramiden aus Steinen errichtete, zu denen Jeder Vor-
übergehende den seinen beitrüg, so daß dieselben unmerkbar, als
das namenlose und gemeinsame Werk aller, zu unerwarteter Höhe
anwuchsen. Auch in unseren Tagen noch werden mittelst eines
ähnlichen Verfahrens Denkmäler geschaffen; nur daß man sich,
statt an Erbauung eines unförmigen Steinhaufens, vielmehr an
Ausführung eines Kunstwerks beteiligt, das nicht allein das stumme
Andenken, welches man ehren wollte, verewigen, sondern zugleich,
mit Hilfe der Poesie des Meißels, die Empfindungen der Zeitge-
nossen in zukünftigen Geschlechtern wach erhalten soll. Die Sub-
skriptionen, welche eröffnet werden, um Menschen, die ihrem Land
und ihrer Zeit zum Ruhm gelebt, Statuen oder reiche Grabmäler
zu widmen, erzielen ein solches Resultat.
Alsbald nach Chopins Hingang faßte Camillo Pleyel einen der-
artigen Plan und veranstaltete, um ihm auf dem Pöre-Lachaise
ein Marmor-Monument von Cl^singer ausführen zu lassen, eine
Subskription, die, der Erwartung gemäß, binnen kurzem eine an-
sehnliche Summe ergab.
Wir unsererseits aber gedachten unserer langjährigen Freund-
schaft für Chopin und der außerordentlichen Bewunderung, die
wir ihm seit seinem Erscheinen in der musikalischen Welt entgegen-
gebracht; wir gedachten dessen, daß wir, Künstler wie er, ein häu-
figer, von ihm geliebter und bevorzugter Interpret seiner Schöpfun-
gen waren; daß wir öfter als andere die Prinzipien seiner Methode
aus seinem Munde vernommen und uns mit seinen Ansichten über
die Kunst und seinen in ihr verlebendigten Empfindungen durch
176 Ein Denkstein.
die Assimilation, wie sie zwischen Schriftsteller und Übersetzer
besteht, gewissermaßen identifiziert hatten. Darum fühlten wir
uns verpflichtet, zu der ihm bereiteten Huldigung nicht nur einen
rohen Stein als namenlose Spende beizutragen. Es dünkte uns,
daß die Rücksicht der Freundschaft und Kollegialität ein be-
sonderes Zeichen unserer Trauer und Bewunderung erheischte, ja
wir glaubten, uns einer Versäumnis gegen uns selber schuldig zu
machen, wollten wir auf die Ehre verzichten, unseren Namen seinem
Grabstein als Trauerzeichen einzugraben, wie es denen gestattet
ist, welche die Leere, die ein unersetzlicher Verlust in ihrem Herzen
zurückließ, nie wieder ausgefüllt zu sehen hoffen! . . .
F. Liszt
GESAMMELTE SCHRIFTEN
VON
FRANZ LISZT
VOLKSAUSGABE
IN VIER BÄNDEN
I. FRIEDRICH CHOPIN
IL RICHARD WAGNER
III. DIE ZIGEUNER UND IHRE
MUSIK IN UNGARN
IV. AUSGEWÄHLTE SCHRIFTEN
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF ® HARTEL
1910
GESAMMELTE SCHRIFTEN
VON
FRANZ LISZT
II.
RICHARD WAGNER
ÜBERSETZT VON
L. RAMANN
NEU DURCHGESEHENE AUSGABE
LEIPZIG
DRUCK UND VERLAG VON BREITKOPF ® HARTEL
1910
CX>PyRIGHT 1910 BV BREITKOPF 'S) HARTBL -LBIPEIO
Inhaltsverzeichnis.
Seite
Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg 1849 3—59
I. AUgemeineBemerkungen UberWagnersDoppelgenie 3
und die sicti tiieran Icnüpfenden Folgen für seinen Operntext und
die musilcalische Wiedergabe. Die ttiüringer Fürsten als Be-
schützer der Künste. Die Großherzogin Maria Paulowna. Die
Prinzessin Wilhelm. Weimar. — Die Tannhäusersage. Die
Göttinnen Venus und Holda. Erzählung der Opemdichtung
„Tannhäuser" von Wagner.
II. Musikalisch-ästhetische Analyse der Ouvertüre. — 14
Der Pilger- und Sirenenchor als Hauptgegensätze und als ideelle
Träger derselben. Die dramatische Gewalt und Schärfe der Charak-
teristik dieser Gegensätze.Die instrumentale Zeichnung derSirenen,
der Venusgrotte. Wagner und Rubens als Maler der Göttin der
Schönheit. Das religiöse Thema und seine Entwickelung in der
Tannhäuser-Ouvertüre. Über das Bedenkliche poetischer Inter-
pretationen instrumentaler Werke. Der Künstler als fühlender
Kritiker. Notenbeispiele aus dem Pügerchor. Das AUegro der
Ouvertüre und die Entwickelung des Lustmotivs. Notenbei-
spiele. Die Coda. Der Sieg des religiösen Motivs über das Lust-
motiv. — Die Tannhäuser-Ouvertüre als solche. Ihre Selb-
ständigkeit als Kunstwerk gegenüber der Oper.
III. Musikalisch-ästhetische Analyse der Oper „Tann-
häuser" 33
I. Akt. — Der Bacchantenchor. Tannhäusers Loblied auf
die Venus. Sirenengesang. Der Pilgerchor. Das Schluß-Septett.
II. Akt. — Das Duo zwischen Tannhäuser und Elisabeth. 37
Die Märsche in H- und G-dur. Der Sängerkrieg. „Ein Engel
stieg aus lichtem Äther", Schlußchor.
I IL Akt. — Elisabeths Gebet. Das Lied an den Abendstem. 41
Die Erzählung Tannhäusers. Die Erlösung.
IV. Bemerkungen über Wert, Studium und Aufführung des „Tann- 46
häuser". Seine dramatische Anlage. Die musikalische Charak-
teristik der Personen. Das Phantastische des Stoffes. Die
V I Inhaltsverzeichnis.
Seite
Behandlung des Guten und des Bösen von selten Wagners. Die
Nebenpersonen. Die Venusmythe in der germanischen Phan-
tasie. Die sinnliche Leidenschaft in Wagners Oper. Die dra-
matische Charakteristik Wagners durch Leitmotive. Ihre Be-
deutung für das musikalische Drama. Drei Abgrün^ie des Men-
schen und ihre Formen. Die Musik als bevorzugte Darstellerin
der leidenschaftlichen Liebe. „Tannhäuser" ihr Repräsentant
Das religiöse Prinzip und seine Macht im ,,Tannhäuser'
p«
Lohengriti, große romantische Oper von R. Wagner und ihre
erste Aufführung in Weimar bei Gelegenheit der Herder-
und Goethe-Feste 1850 61—142
Historische Notizen zu obigen Festen 63
L DasHerder-undGoethe-Fest. — Die Genies und ihre Auf- 64
f assung in der Geschichte. Ihre Verherrlichung durch Statuen und
die hieraus entspringende Au^abe für den Bildhauer. Das Herder-
Monument in Weimar modelliert von Schaller. Die Inaugu-
ration desselben. ,,Der befreite Prometheus" gedichtet von
Herder, komponiert von Liszt. Die Dichtung. Die Aufführung.
Anwesende Gäste. Die Herder-Zimmer In Weimar. Reliquien.
,,Licht, Leben, Liebe." Dingelstedts Prolog zur Aufführung des
;,Lohengrin" am Goethetag, dem 28. August 1850.
n. DieOper„Lohengrin". — Die Drama- Idee Wagners. Drama- 80
tische Sänger als Vorläufer. Das Zusammenwirken aller Künste
zur Idee Wagners. Der Text zum „Lohengrin". Wolfram von
Eschenbach. Der heilige Gral. Die Verschiedenheit der „Tann-
häuser-Ouvertüre" und der Einleitung zum „Lohengrin". Das
Leitmotiv des heiligen Gral und seine Entwickelung. Die Rolle
des Marcei („Hugenotten") als Voriäufer zu Wagners Leitmotiv-
system.
I. Akt des „Lohengri n". — Das Elsamotiv. Elsas 93
Vision. Das Gottesurteilmotiv. Das Lohengrinmotiv. Die
Chöre Wagners. Die musik. Darstellung der Ankunft Lohen-
grins. Sein Gebet und dessen Motiv. Finale des ersten Aktes.
II. Akt. — Instrumental-Einleitung und seine zwei Motive: 105
das Ortrud- und Gottesurteilmotiv. Die Ortrud- und Friedrich-
szene. Das Dämonische Ortruds. Die Balkonszene. Zug zum
Münster.
III. Akt. — Seine Instrumental-Einleitung. Brautgemach- 117
szene. Psychologische Deutung des Wortbruches Elsas. Die
weibliche Neugierde als Mittel dramatischer Knotenschürzung
in unseren Epopöen. Wagner dichtet als Poet und nicht als
Philosoph. Über das Wesen und die Intentionen des Poeten.
Inhaltsverzeichnis. V 1 1
Seite
Der Glaube der Liebe. Das Finale des ,,Lohengrin'^. Vergleich
zwischen der Erzählung Lohengrins und der Tannhäusers in den
Schlußakten beider Opern.
II I. Charakteristik der Gestalten Lohengrin, Elsa, Ortrud, Friedrich. 132
Wagner als Dichter. Einheit der Konzeption und des Stils der
Oper. Die Leitmotive. Wagner als Neuerer. Glucks Dedi-
kation zur ,,Alceste". Wagners Stellung zu Gluck und Weber.
Seine Instrumentation. Die Aufführung in Weimar.
Der Fliegende Holländer von Richard Wagner. 1859 143—233
I. Der ,,Fliegende Holländer^' als erster Repräsentant des drama- 145
tischen Prinzips Wagners. Der Text. Die dramatisch-musika-
lischen Motive (Leitmotive). Der „Fliegende Holländer" im Ver-
gleich zum „Tannhäuser" und „Lohengrin". Parallele zwischen
dem Holländer und Lohengrin.
II. DieOuvertüre. — Musikalische und poetische Schilderung der- 150
selben. Der Holländer, das Geisterschiff und ihre musikalischen
Motive. Die zeitgenössische Kritik. Über ihre Verpflichtung, Wer-
ken neuer Richtung Geltung zu verschaffen. Was die Menge liebt.
Tiefe und Wahrheit des Ausdrucks im „Fliegenden Holländer".
Das Erhaben-Nächtliche des Holländers. Die Haupttypen Wag-
ners: Tannhäuser, Lohengrin, der Holländer. Das Übernatür-
liche als ihre Eigenschaft. Typen der Kunst — Phidias* Jupiter,
die Venus von Milo. Die Höhe der Idee bestimmt die Höhe der
Typen. Wagners Werke als typische Monumente. Die ideale
Einheit und Verschiedenheit der Typen: Tannhäuser, Lohengrin,
Holländer.
HL Der erste Akt derOper. — Die drei ersten Szenen als sichtbare 171
Darstellung der Ouvertüre. Wagner als Marinemaler. Oulibi-
cheff über Mozarts Sturm im „Idomeneo". Das Verdammungs-
motiv. Der Monolog des Holländers. Der Dialog zwischen Hol-
länder und Daland. Die Charakterzeichnung Dalands. Ver-
gleich des Dialogs zwischen Holländer und Daland mit dem
zwischen Manfred und dem Alpenjäger (Byron). Schluß.
IV. Der zweite Akt. — Das Instrumental-Intermezzo als Anfang 188
desselben und Wagners Behandlung. Die Ballade. Der Eintritt
des Holländers. Die Veriobung. Wagners Orchesterbehand-
lung. Das Duett. Dasselbe ein Seitenstück zu dem Duett des
III. Aktes im „Lohengrin". Goethe und Wagner als Darsteller
des Ewig-Weiblichen. Das Finale.
V. D e r d r i 1 1 e A k t. — Die Orchester-Einleitung. Das Volksfestartige 207
der Hafenszene. Das Geisterschiff mit seinen Matrosen und das
Dämonische in der Zeichnung Wagners. Letzterer als musika-
lischer Maler von Sturmszenen. Senta und Erik. Die hohe
VIII Inhaltsverzeichnis.
Seite
Tragik und Ethik in der Entsagung des Holländers. Sentas
Opfer. — Die großartige Architektonik in der durch alle Akte
sich hindurchziehenden Steigerung bis zum Schluß der Oper.
Der Holländer als Hauptcharakter ihrer Durchführung. Der
Text Wagners zu dem ,,Vaisseau Fantöme" von Dietsch. —
Über die von den Gestalten Wagners geforderte Bildung seitens
der Darsteller. Die Entwicklung des deklamatorischen Gesang-
stils als erste Bedingung dieser Bildung. Die historischen Modi-
fikationen in der Methodik des Kunstgesanges. Mangel emer
nationalen Gesangschule und eines nationalen Oesangstils in
Deutschland. Wagner als Begründer der deutschen Oper und
des musikalischen Dramas. Die den deutschen Sängern fehlende
Begrenzung bezüglich der Wahl ihrer Rollen. Ihre unzureicheU'
den Gesangsstudien. Die Anforderungen der altitalienischen
Meister des Gesanges. Gegenwärtig (1855) hervorragende deut-
sche dramatische Sänger und Sängerinnen als Interpreten der
Hauptrollen Wagners.
Das Rheingold. Zum 1. Januar 1855 235—242
Erwartungen und Hoffnungen beim Beginn eines neuen Jahres.
Hinweis auf das ,,Rheingold" und die „Nibelungen-Trilogie"
Wagners. Das „Rheingold" und seine Gestalten. Wagner und
Michel Angelo als Meister von Riesenmonumenten der Kunst.
Die Wandlung der Kunststile. — ,,Steure, mutiger Segler".
Zuruf an Wagner.
Personenverzeichnis 243
TANNHÄUSER
UND DER SÄNGERKRIEG
AUF WARTBURG
o
W GROSSE ROMANTISCHE OPER W
f\ VON p
R. WAGNER
1849
Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 1
G ^^ ^
I.
ES sind jetzt vier Jahre, daß R. Wagner , Kapellmeister des
Königs von Sachsen, zum ersten Male seine Oper: ,,Tannhäuser
und der Sängerkrieg auf Wartburg'' in Dresden zur Aufführung
gebracht hat.
Das Genie dieses Komponisten, eines Meisters verschiedener
Kunstarten, gestattete ihm, den Text seiner Opern selbst zu ver-
fassen und so zugleich der Dichter seiner Musik und der Musiker
seiner Dichtung zu sein — ein für die harmonische Einheit seiner
dramatischen Konzeptionen höchst wichtiger Punkt. Ähnlich, wie
man sich einst auf dem Gebiet der Malerei nicht mehr mit dem Aus-
druck begnügte, welchen die Bilder der Meister der ältesten Schulen
aussprachen, sondern Wahrheit der Zeichnung, Wahrheit des Kolorits
und der Perspektive verlangte, so begehrt man von der Oper unserer
Zeit ein vollkommenes Zusammenwirken ihrer möglichst vollkomme-
nen Einzelteile — eine Forderung, welche vor allem die Aufmerk-
samkeit auf die Gestaltung des Textbuches lenkt.
Aber nicht nur dieses, nein, alle Einzelteile scheinen bei Wagner
hervorragend und von neuer Behandlung. Wie der Text des „Tann-
häuser" mit tiefem poetischem Gefühle geschrieben ist und schon an
und für sich ein ergreifendes Drama, voll der feinsten Stimmungs-
Nuancen des Herzens und der Leidenschaft bildet, wie sein Plan
originell und kühn erdacht, die Verse schön, oft sehr schön, voll von
plötzlichem Aufblitzen erhabener und gewaltsamer Regungen sich
zeigen, so ist die Musik ebenfalls in allem neu und verlangt beson-
dere Beachtung. Auch erfordert die Aufführung dieses Werkes ein
durch und durch geübtes Orchester, gute Sänger, gutgeübte Chöre
und einen großen Aufwand szenischer Mittel, wobei jedoch zu
Tannhäuser.
bemerken ist, daß man seine Erfordernisse tibertrieben hat und sich
darum mit Unrecht bis jetzt noch keine Bühne dazu verstand, die
Oper zur Aufführung zu bringen. Die Schwierigkeiten, die sie dar-
bietet, sind für Bühnen ersten Ranges leicht zu überwinden, was
durch das erzielte Resultat des eben gemachten Versuches hin-
reichend bewiesen ist
Es gibt eine kleine, wenig bevölkerte und wenig belebte deutsche
Residenz, welche aber reiche Erinnerungen an große Geister, die hier
lebten, an hervorragende ausgezeichnete Fürsten, die hier regierten,
besitzt und diese Erinnerungen mit Pietät hegt und pflegt. Diese
kleine Residenzstadt, in der man leicht das stets dem Schönen und
Erhabenen gastfreundliche Weimar erkennen wird, war die erste,
welche den Enthusiasmus Deutschlands für dieses schöne Werk
inaugurierte. Hier wurde es zum ersten Male am Geburtstage Ihrer
K.K. Hoheit dei* Frau Großherzogin Marie Paulowna^ aufgeführt,
den man dort alljährlich mit der aufrichtigsten Freude begeht.
Diese Fürstin wird allgemein hoch verehrt, dank der vielen Wohl-
taten, die sie dem Lande angedeihen läßt, wie wegen ihrer hohen und
zarten Würdigung alles dessen, was hervorragend ist, und der könig-
lichen Aufnahme, die sie jeder Größe der Seele und des Verstandes
angedeihen läßt.
Die Handlung des „Tannhäuser" spielt auf der Wartburg bei
Eisenach, einer dem Gebiete des Großherzogs angehörenden und jetzt
durch den Erb-Großherzog ^ mit dem vollkommensten Geschmacke
restaurierten Burg. Diese Burg war im Mittelalter berühmt. Hier
hatten die Landgrafen von Thüringen glänzenden Schutz den
Sängern ihrer Zeit gewährt, hier herrschte einst die heilige Elisabeth,
deren wunderkräftige Tugenden noch jüngst durch die dichterisch
fromme Gelehrsamkeit Montalemberts in die Erinnerung der
Gläubigen zurückgerufen worden sind.
An dem Abend, von dem wir reden, dem der Aufführung des
„Tannhäuser" zu Ehren einer edlen Fürstin, wurde es allen in die
^ Die russische Großfürstin, zu deren Empfang in Weimar 1803 S c h i 1 1 e r
die „Huldigung der Künste" dichtete. O: H.
* Der spätere Großherzog KarlAlexander. D. H.
Tannhäuser.
Vergangenheit zurückblickenden Zuhörern klar, daß ihre Herrscher
noch jetzt wie damals jener alten Tradition der Achtung und Liebe
für Poesie und Kunst treu geblieben, wofür Dichter und Künstler
ihnen den eigenen Ruhm alis Huldigung darbringen. Die Erinnerung
an Wieland, an Goethe, Schiller, Jean Paul, Hummel lenkte
die Blicke des Auditoriums voll Dankbarkeit gegen die Loge, in der
sich um die Frau Großherzogin Prinzen und Prinzessinnen scharten,
welche das Genie zu würdigen verstehen und seinen freien Auf-
schwung begünstigen. Besonders ihre beiden Töchter, Prinzessinnen
von Preußen, haben aus der heimischen Atmosphäre seit ihrer
frühesten Jugend die sie auszeichnende edle Anmut geschöpft.
Dichterische Weihe hat um die edle Stirn der Frau Prinzessin
Wilhelm^ einen strahlenden Kranz gewoben ; denn ihr hoher Sinn
bringt jedem edlen Streben Verständnis und Anerkennung entgegen.
Den Stoff der Oper „Tannhäuser" ergab eine der alten Landes-
sagen Thüringens. Aus einzelnen Tatsachen, die der Verfasser aus
verschiedenen Chroniken zusammengesucht und verbunden hat,
wußte er eine Episode voll poetischer, phantastischer und drama-
tischer Elemente zu bilden. Im dreizehnten Jahrhundert hatte das
noch nicht ganz verschwundene Heidentum seine Spuren in dem
Aberglauben zurückgelassen, der den christlichen Kultus mit Er-
innerungen an die griechische Mythologie vermengte und durch
verwirrte Deutungen der Gelehrten hindurch selbst bis zum Volke
gelangte. So geschah es, daß eine Göttin Hol da, die einst die
Schönheit versinnbildlicht und über den Frühling, über die Blumen
und die Wonne der Natur geherrscht hatte, sich allmählich in der
Phantasie des Volkes mit der hellenischen Venus verschmolz und
zuletzt die Verlockungen sündhafter Lust und die Reize der sinn-
lichen Vergnügungen darstellte.
Diese mythische Person, Frau Venus genannt, hatte ihre Wohn-
sitze im Innern der Berge. Einer der berüchtigtsten befand sich im
Hörseiberge, in der Nähe der Wartburg. Dort hielt sie in einem
Feenpalaste offenen Hof, umgeben von ihren Nymphen, ihren
Najaden und Sirenen, deren Gesang man bis in weite Ferne vernahm
1 Später die deutsche KaiserinAugusta. D. H.
Tannhäuser.
— für die, welche ihn hörten, verhängnisvoll. Diese Unglücklichen,
verführt vom Lockruf der Sirenen, gelangten auf unbekannten Wegen
zu der Grotte, wo sich die Hölle unter umstrickenden Reizen barg
und alle, die sich ihren Verlockungen und der unreinen Begierde
hingaben, dem ewigen Verderben entgegen führte.
Tannhäuser, Ritter und Sänger, hatte in einem Wettstreit um
die Palme der Kunst einen glänzenden Sieg errungen. Die Tochter
des regierenden Landgrafen, Elisabeth von Thüringen, liebte
ihn, der aber ihre schüchterne Huldigung nicht zu verstehen ver-
mochte. Bald darauf verschwand er, und niemand konnte sich seine
Abwesenheit erklären. Da, eines Tages, als der Landgraf von der
Jagd heimkehrte, umgeben von den Sängern, die Tannhäusers Neben-
buhler gewesen und die hellschimmernden Sterne seines Hofes bil-
deten, fanden sie ihn, den Vermißten, nicht fem vom Schlosse,
kniend an der Heerstraße und sein inbrünstiges Gebet mit dem
Gesänge, von Pilgern vereinend, die durch das Tai gen Rom zogen.
Sogleich erkannt und befragt, antwortet er nur mit Mühe und Zurück-
haltung. „Von ferne her komm' ich", entgegnet er ihnen, „von
Landen, wo weder Friede noch Ruhe zu finden." Traurig und nieder-
geschlagen weigert er sich, den Freunden zu folgen, um einsam seinen
Weg fortzusetzen.
Wolfram von Eschenbach, der berühmteste Sänger jenes
Kreises, sucht ihn mit Gewalt zurückzuhalten und ruft, ihn an Elisa-
beth erinnernd:
i>
Als du in kühnem Sänge uns bestrittest,
Bald siegreich gegen unsre Lieder sangst,
Durch unsre Kunst Besiegung bald erlittest:
Ein Preis doch war's, den du allein errangst
War's Zauber, war es reine Macht,
Durch die solch' Wunder du vollbracht.
An deinen Sang voll Wenn' und Leid
Gebannt die tugendreichste Maid?
Denn, achl als du uns stolz verlassen,
Verschloß ihr Herz sich unsrem Lied;
Wir sahen ihre Wang' erblassen,
Für immer unsren Kreis sie mied.
O kehr' zurück, du kühner Sänger,
Dem unsren sei deiti Lied nicht fem, —
Tannhäuser.
Den Festen fehle s i e nicht länger,
Aufs neue leuchte uns i h r Stern r*
Tannhätiser wiederholt den Namen Elisabeth mit dem Aus-
drucke unerwarteter Freude, und endlich besiegt in seinem Wider-
stände, ruft er aus: „Zu ihr! zu ihr! O führet mich zu ihr!"
Nach dieser ungehofften Rückkehr des Sängers wendet sich die
Teilnahme der jungen Landgräfin wieder dem höfischen Leben zu.
Ihr Vater aber faßt in seiner zärtlichen Liebe zu ihr die Idee eines
neuen Sängerkampfes, zu dessen Königin er sie erklärt. Überzeugt,
daß Tannhäuser abermals den Sieg davontragen werde, verspricht
er keinen Preis dem Wunsche desjenigen zu verweigern, der den
Sieg erringen würde, und wählt die Liebe als Thema der
Lieder.
Wolfram beginnt. Auch er liebt Elisabeth, aber mit jener innigen
Liebe, die im Opfern genießt und nur das Glück des geliebten Wesens
will, wäre es auch auf Kosten des eigenen : er hatte den vergessenden
Geliebten zurückgeführt zu ihr, von der er selbst kein anderes Ge-
ständnis zu erwarten hatte, als das in der Ballade Schillers Aus-
gesprochene:
„Ritter, treue Schwesterliebe
Widmet euch dies Herz;
Fordert keine andre Liebe,
Denn es macht mir Schmerz.
Ruhig mag ich euch erscheinen,
Ruhig gehen seh'n,
Eurer Augen stilles Weinen
Kann ich nicht verstehen."
Aber gleich dem Ritter Toggenburg hört er nicht «auf zu liebeii,
ohne Gegenliebe zu verlangen. Sein reiner Sinn schwelgt in der
Resignation, welche die verborgene Energie seiner edlen Seele zwar
beugt, aber sein Lied verklärt.
Nun erhebt sich Tannhäuser und singt:
;,Auch ich darf mich so glücklich nennen
Zu schau'n, was, Wolfram, du geschaut 1
Wer sollte nicht den Bronnen kennen?
Hör*, seine Tugend preis' ich laut! —
8 Tannhäuser.
Doch ohne Sehnsucht heiß zu fühlen.
Ich seinem Quell nicht nahen kann:
Des Durstes Brennen muß ich Icühlen;
Getrost leg' ich die Lippen an —
In vollen Zügen trink' ich Wonnen,
In die kein Zagen je sich mischt:
Denn unversiegbar ist der Bronnen,
Wie mein Verlangen nie erlischt.
So, daß mein Sehnen ewig brenne,
Lab' an dem Quell ich ewig mich:
Und wisse, Wolfram, so erkenne
Der Liebe wahrstes Wesen ich!"
Walther von der Vogelweide singt:
„Den Bronnen, den uns Wolfram nannte,
Ihn schaut auch meines Geistes Licht;
Doch, der in Durst für ihn entbrannte,
Du, Heinrich, kennst ihn wahrlich nicht.
Laß dir denn sagen, laß dich lehren:
Dem Bronnen ist die Tugend wahr;
Du sollst in Inbrunst ihn verehren
Und opfern seinem holden Klar.
Legst du an seinen Quell die Lippen,
Zu kühlen frevle Leidenschaft,
Ja, wolltest du am Rand nur nippen.
Wich' ewig ihm die Wunderkraft 1
Willst du Erquickung aus dem Bronnen haben,
iVlußt du dein Herz, nicht deinen Gaumen laben.".
Tannhäuser, mit Heftigkeit auffahrend:
;,0 Walther, der du also sangest,
Du hast die Liebe arg entstellt 1
Wenn du in solchem Schmachten bangest.
Versiegte wahrlich wohl die Welt.
Zu Gottes Preis in hoch erhab'ne Femen
Blickt auf zum Himmel, blickt zu seinen Sternen!
Anbetung solchen Wundern zollt.
Da ihr sie nicht begreifen sollt!
Doch, was sich der Berührung beuget.
Euch Herz und Sinnen nahe liegt,
Was sich, aus gleichem Stoff erzeuget.
In weicher Formung an euch schmiegt, —
Dem ziemt Genuß in freud'gem Triebe,
Und im Genuß nur kenn' ich Liebe!"
Tannhäuser.
Biterolf unterbricht ihn lebhaft, und mit kriegerischem Un-
gestüm, verächtlich und vielleicht eifersüchtig, fordert er ihn zu
einem ernsteren Kampfe auf:
„Heraus zum Kampfe mit uns allen I
Wer bliebe ruhig, hört er dich?
Wird deinem Hochmut es gefallen,
So höre, Lästerer, nun auch mich!
Wenn mich begeistert hohe Liebe,
Stählt sie die Waffen mir mit Mut:
Daß ewig ungeschmäht sie bliebe,
Vergöss' ich stolz mein letztes Blut.
Für Frauenehr' und hohe Tugend
Als Ritter kämpf ich mit dem Schwert;
Doch, was Genuß beut deiner Jugend,
Ist wohlfeil, keines Streiches wert."
Mit Beifallsturm wird Biterolf unterbrochen, wie alle Gegner
Tannhäusers, der mit Bitterkeit erwidert:
„Ha, tör'ger Prahler, Biterolf!
Singst du von Liebe, grimmer Wolf?
Gewißlich hast du nicht gemeint.
Was mir genießenswert erscheint.
Was hast du Ärmster wohl genossen?
Dein Leben war nicht liebereich
Und, was von Freuden dir entsprossen.
Das galt wohl wahrlich keinen Streich!
«
Der Tumult mehrt sich. Das Klirren der Schwerter folgt den
Akkorden der Harfen. Wolfram bemüht sich, den Frieden herzu-
stellen, alle Störungen aus dem Saale, aus dieser geheiligten Nähe
zu bannen, und ruft in höchster Begeisterung die Liebe an, diese
„heilige Himmelsgabe, die allein uns emporzieht":
„O Himmel, laß dich jetzt erflehen.
Gib meinem Lied der Weihe Preis!
Gebannt laß mich die Sünde sehen
Aus diesem edlen, reinen Kreis!
Dir, hohe Liebe, töne
Begeistert mein Gesang,
Die mir in Engels-Schöne
Tief in die Seele drang!
10 Tannhäuser.
Du nahst als Qottgesandte,
Ich folg' aus holder Fern' —
So führst du in die Lande,
Wo ewig strahlt dein Stern."
Tannhäuser, außer sich durch den Spott, die Wut, die Bos-
heit, deren Ziel er ist, hört ihm kaum zu und stimmt in entfesseltem
Hohne ein Lied zum Lobe der heidnischen Göttin an:
jiDir, Göttin der Liebe, soll mein Lied ertönen!
Gesungen laut sei jetzt dein Preis von mir!
Dein süßer Reiz ist Quelle alles Schönen,
Und jedes holde Wunder stammt von dir.
Wer dich mit Glut in seinen Arm geschlossen,
Was Liebe ist, kennt er, nur er allein: —
Armsel'ge, die ihr Liebe nie genossen.
Zieht hin, zieht in den Berg der Venus ein!"
Ein Schrei des Entsetzens entfährt jeder Brust. Die Edelfrauen,
aufgescheucht durch den ihre Ehre beleidigenden Namen, fliehen
davon — die Männer ziehen ihre Schwerter und stürzen sich alle auf
den verwegenen Verbrecher, dessen lange Abwesenheit sich plötzlich
erklärt. In diesem Augenblick wirft sich Elisabeth, die bei dieser
grausamen Enthüllung anfangs zusammenzubrechen drohte, dann
aber hoch aufgerichtet dasteht, zwischen die Schwerter, deckt ihn
mit ihrem jungfräulichen Leib wie mit glänzendem Schilde und
ruft, sie von ihrer blinden Wut zurückhaltend:
;,Zurück! Des Todes achte ich sonst nicht!
Was ist die Wunde eures Eisens gegen
Den Todesstoß, den ich von ihm empfing?"
Als alle staunen über den Mut, den zu verteidigen, der sie ver-
raten, ruft sie:
;,Was liegt an mir? Doch er — sein Hell!
Wollt ihr sein ewig Heil ihm rauben?"
Sie verlangt für ihn das Recht der Reue, die Wohltat des für die
Sünden der Menschheit vergossenen göttlichen Blutes, unter Be-
rufung auf die göttliche Barmherzigkeit, welche mehr vergibt, als
der Mensch sündigen kann:
„Seht mich, die Jungfrau, deren Blüte
Mit einem jähen Schlag er brach, —
Tannhäuser. 11
Die ihn geliebt tief im Oemüte,
Der jubelnd er das Herz zerstach: —
Ich fleh' für ihn, ich flehe fflr sein Leben,
Zur Buße lenk' er reuevoll den Schritt!
Der Mut des Glaubens sei ihm neu gegeben,
Daß auch für ihn einst der Erlöser litt!"
Und die heldenstarke Jungfrau gewinnt das Leben des Geliebten.
Welcher Zorn des Himmels und der Menschen hätte dieser über-
redenden, in Liebe flehenden Tugend zu widerstehen vermocht?
Bewegt, gerührt, bestürzt ziehen alle sich zurück. Und Tannhäuser,
niedergeschmettert durch solche Liebe, deren reine Glut selbst aus
dem Abgrunde der Verzweiflung die Hoffnung neu erstehen heißt,
stürzt fort, um sich den Pilgern anzuschließen, die nach Rom wallen,
dorthin, wo er auf Vergebung für sein Vergehen hofft.
Während langer Tage und langer Nächte harrte Elisabeth
seiner Rückkehr — betend, weinend, hoffend. Als sie eines Abends
in demselben Tale, wo der Landgraf ihn wiedergefunden hatte, zu
Füßen eines Muttergottesbildes betete, kamen die Pilger, mit denen
er fortgezogen, desselben Weges in die Heimat zurück. Atemlos
späht sie, ihn unter jenen zu entdecken. Sie findet ihn nicht ... Da
sinkt sie vor der heiligen Jungfrau, der Trösterin der Betrübten,
nieder und fleht in einem die Seele emportragenden Gebete um Tod
für sich, um Heil für ihn:
;;Allmacht'ge Jungfrau, hör' mein Flehen!
Zu dir, Qepries'ne, rufe ichl
Laß mich im Staub vor dir vergehen.
O, nimm von dieser Erde mich!
iVlach', daß ich rein und engelgleich
Eingehe in dein selig Reich! —
Wenn je, in tOr'gem Wahn befangen,
iVlein Herz sich abgewandt von dir.
Wenn je ein sündiges Verlangen,
JEin weltlich Sehnen keimt' in mir:
So rang ich unter tausend Schmerzen;
Daß ich es tot' in meinem Herzen.
Doch, könnt' ich jeden Fehl nicht büßen;
So nimm dich gpädig meiner an,
12 Tannhäuser.
Daß ich mit demutvollem OrOßen
Als würd'ge Magd dir nahen kann,
Um deiner Gnaden reichste Huld
Nur anzuflehen für s e i n e Schuld!" —
Als sie sich erhob, um den Hügel des Schlosses hinanzuschreiten,
und Wolfram sich erbat, sie begleiten zu dürfen, wies sie ihren Weg
fortsetzend ihn stumm zurück — allein auf Erden will sie nur Ein-
samkeit: kein Trost blüht von nun an mehr für sie.
Jetzt wankt der unglückliche, der verfemte Schuldige daher.
Doch wer würde in den zerfetzten Kleidern dieses Pilgers mit dem
verstörten Blick und wankenden Schritt den glänzenden Sieger über
so viele Nebenbuhler suchen! Nur mit Mühe erkennt Wolfram in
der fahlen Blässe dieses Antlitzes die Züge seines ehemaligen Ge-
nossen, und ihm in den Weg tretend fragt er nach seinem Geschick.
Tannhäuser aber antwortet nur, ihn ironisch um den Weg zu der ver-
wünschten Grotte fragend.
Von Grauen ergriffen weicht Wolfram zurück; und dennoch
gibt er den nicht auf, den Elisabeth liebt. Er fragt fort und fort,
bis der entkräftete Pilger ihm in der bitteren Zerknirschung seines
Herzens eine Schilderung seiner Wallfahrt macht:
„Inbrunst im Herzen, wie kein Büßer noch
Sie je gefühlt, sucht' ich den Weg nach Rom.
Ein Engel hatte, ach! der Sünde Stolz
Dem Übermütigen entwunden! —
Für ihn wollt' ich in Demut büßen,
Das Heil erfleh'n, das mir verneint.
Um ihm die Träne zu versüßen.
Die er mir Sünder einst geweint!
Wie neben mir der schwerstbedrückte Pilger
Die Straße wallt', erschien mir allzuleicht:
Betrat sein Fuß den weichen Qrund der Wiesen,
Der nackten Sohle sucht' ich Dom und Stein; —
Ließ Labung er am Quell den iVlund genießen.
Sog ich der Sonne heißes Glühen ein; —
Wenn fromm zum Himmel er Gebete schickte.
Vergoß mein Blut ich zu des Höchsten Preis; —
Als das Hospiz die Wanderer erquickte,
Die Glieder bettet' ich in Schnee und Eis: —
Verschloss'nen Aug's, ihr Wunder nicht zu schauen.
Durchzog ich blind Italiens holde Auen. —
Tannhäuser. 13
leb tat's •— denn in Zerknirschung wollt' ich büßen.
Um meines Engels Tränen zu versüßen!
Nach Rom gelangt' ich so zur heil'gen Stelle,
Lag betend auf des Heiligtumes Schwelle. —
Der Tag brach an: — da läuteten die Glocken,
Hernieder tiHiten himmlische Gesänge;
Da jauchzt' es auf in brünstigem Frohlocken,
Denn Gnad' und Heil verhießen sie der Menge.
Da sah ich ihn, durch den sich Gott verkündigt:
Vor ihm all' Volk im Staub sich niederließ,
Und Tausenden er Gnade gab, entsündigt
Er Tausende sich froh erheben hieß. —
Da naht' auch ich; das Haupt gebeugt zur Erde,
Klagt' ich mich an mit jammernder Geberde
Der bOsen Lust, die meine Sinn' empfanden.
Des Sehnens, das kein Büßen noch gekühlt 1
Und um Erlösung aus den heißen Banden
Rief ich ihn an, von wildem Schmerz durchwühlt. —
Und er, den so ich bat, hub an:
„„Hast du so böse Lust geteilt,
Dich an der Hölle Glut entflammt.
Hast du im Venusberg geweilt:
So bist nun ewig du verdammt!
Wie dieser Stab in meiner Hand
Nie mehr sich schmückt mit frischem Grün,
Kann aus der Hölle heißem Brand
Erlösung nimmer dir erblüh'n!""
Da sank ich in Vernichtung dumpf darnieder,
Die Sinne schwanden mir. — Als ich erwacht,
Auf ödem Platze lagerte die Nacht, —
Von fern her tönten frohe Gnadenlieder: —
Da ekelte mich an der holde Sang;
Von der Verheißung lügnerischem Klang,
Der eiseskait mir durch die Seele schnitt.
Trieb Grauen mich hinweg mit wildem Schritt. —
Dahin zog's mich, wo ich der Wonn' und Lust
So viel genoß an ihrer warmen Brust!
Zu dir, Frau Venus, kehr' ich wieder,
' In deiner Zauber holde Nacht,
Zu deinem Hof steig' ich darnieder.
Wo nun dein Reiz mir ewig lacht !'*
Die Pilgerfahrt — wie sie erzählt ist, — so voll Inbrünstiger Liebe,
Reue und Zerknirschung» so voll zerstörter Hoffnungen, gehört zu
den ergreifendsten. Sizeneq, die jemals geschriet^^n worden sind«
14 Tannhäuser.
Die den Ausspruch des Bischofes meldenden Chroniken fügen
hinzu, daß, nachdem der mit so unerbittlicher Strenge zurüclcgewie-
sene Ritter in sein Vaterland zurückgekehrt war, er sich seinen Ver-
irrungen aufs neue hingegeben habe, daß aber eines Tages der
Priester der Härte anstatt der Liebe seinen Hirtenstab aus Mandel-
holz sprossend gefunden, zum Zeichen, daß, wie selbst totes Holz
neu belebt werden könne, auch für ein reuevolles Herz Vergebung
zu gewärtigen sei.
Tannhäuser, von dem unerbittlichen Urteil zur Verzweiflung
getrieben, dem Mitleid unzugänglich, sucht wieder die Grotte der
Venus. Er will den geheimen Pfaden nachspüren . . . und der Gesang
der Sirenen, die Stimme der Göttin lassen sich hören. Mit der Ver-
zweiflung des mit dem Anathema Beladenen wendet er sich ihnen
zu. Wolfram hält ihn mit aller Kraft zurück, kann aber den fluch-
würdigen Zauber nur bannen, indem er den Namen: „Elisabeth"
ausspricht. Noch übt dieser seine magische und heilbringende Gewalt
— die unreine Vision verschwindet, die Melodien voll so verfüh-
rerischer Anmut verklingen, und Tannhäusers Lippen entringt sich
als letzter Laut in Liebe und überirdischer Hoffnung der heilige
Name.
In diesem Momente sieht man den Leichenzug sich nähern, der
zu ihrer letzten Ruhestätte sie trägt, welche nur für ihn leben und
sterben wollte. Am Sarge sinkt er nieder, in dem ein Opfer ruht,
das alle Leiden erduldet, um seine Sünden zu sühnen. Er sinkt hin,
er stirbt — gerettet! ...
IL
Die Ouvertüre dieser außerordentlichen Oper ist an und für
sich nicht weniger bewunderungswert als diese selbst. Sie faßt den
Gedanken des Dramas kurz zusammen.
Der Pilger- und der Sirenenchor derselben sind wie zwei Sätze
hingestellt, die zum Schluß ihre Gleichung finden. Wie der Natur-
laut des schönsten und größten unserer Gefühle, so erscheint das
religiöse Motiv erst ruhig, tief, mit langsamen Pulsschlägen. Doch
Tannhäuser. 15
nach und nach wird es von den einschmeichelnden Modulationen
der Sirenenstimmen überflutet, welche voll entnervenden Schmach-
tens und voll fieberischer und aufgeregter Verheißungen sind —
eine verlockende Mischung von sinnlicher Lust und Unruhe.
Über diesem zischenden, schäumenden, fortwährend steigenden
Wogen erheben sich die Motive des Tannhäuser und der Venus.
Der Ruf der Sirenen und Bacchanten wird lauter und gebieterischer.
Die Aufregung erreicht ihren Höhepunkt und läßt keine Saite, keine
Fiber unseres Seins unberührt. Bald zittern und zucken die Töne,
bald stöhnen und gebieten sie in einer regellosen Wechselfolge, bis
das überwältigende Sehnen nach dem Unendlichen — das religiöse
Thema — nach und nach wieder eintritt, sich aller dieser Klänge
bemächtigt, sie in eine erhabene Harmonie verschmilzt und die
breiten Fittiche einer Triumph-Hymne entfaltet.
Diese große Ouvertüre bildet für sich ein symphonisches Ganze,
das als ein von der Oper, der sie vorangeht, unabhängiges Tonstück
betrachtet werden kann. Die beiden Hauptgedanken, welche, ehe
sie sich zusammen verschmelzen, sich hier entwickeln, sprechen
ihren Charakter klar aus: der eine mit stürmischer Leidenschaft,
der andere mit so unwiderstehlicher Gewalt, daß alles in seiner un-
bezwinglichen Macht untergeht.
Diese Motive sind so charakteristisch, daß sie den ganzen er-
greifenden Sinn, welcher hier musikalisch nur den Instrumenten
anvertraut ist, in sich fassen. Sie malen die von ihnen interpretierten
Aufregungen so lebendig, daß es keines erklärenden Textes bedarf,
um ihre Natur zu erkennen, ja es ist nicht einmal nötig, die Worte
zu wissen, die sich später mit ihnen verbinden. Wollte man be-
haupten, daß diese zum Verständnisse dieser Symphonie notwendig
seien, so hieße das so viel als diejenigen nachahmen, von denen
Shakespeare ausspricht, daß sie die „Lilien bleichen, die Veilchen
malen und das Gold vergolden wollen", oder zum wenigsten jenen
chinesischen Schriftstellern ähnlich sein, welche, um ihren Lesern
die Intentionen ihres Stils klar zu machen, es für nützlich erachten,
an den Rand ihrer Bücher zu schreiben: Tiefer Gedanke ...
Metapher. .. Anspielung usw., sobald man deren in ihren
Werken findet. In Europa dürfen Schriftsteller und Komponisten
16 Tannhäuser.
mehr von der Fassungsgabe ihres Publikums, von der Beredsam-
keit ihrer Kunst und der Klarheit ihrer Diktion voraussetzen. Und
man würde sich mit Skrupeln — der Gelehrten des himmlischen
Reiches würdig — plagen, wenn man nicht bisweilen die Ouvertüre
zum „Tannhäuser" von der Oper trennen wollte, aus Furcht, sie
könnte unverstanden und ohne Interesse bleiben. Die Glut ihres
Kolorits schildert die Leidenschaften zu verständlich, um einer ähn-
lichen Besorgnis nur irgend Raum geben zu können.
Affekte und Effekte — wie reich und neu treten sie uns entgegen !
Da sind rhythmische und harmonische Figuren, an Altvioten,
Violinen (in durchdringenden Lagen und in mehrere Pulte getrennt)
und Blasinstrumente (pianissimo) verteil!, durch leichte Pauken-
schläge akzentuiert, geschieden in abgebrochene Perioden und
schnelle, spiralartig steigende, in unentwirrbaren Verschlingungen
sich bald verlierende, bald wiederfindende Notengruppen, die end-
lich in einem beinahe ununterbrochenen Gewebe häufig und lebendig
modulierter Tremoli und Triller sich lösen. Sie lassen uns durch eine
neue Wirkung von so zärtlich schmachtendem Wohllaut die Zauber-
künste der Sirenen vernehmen, daß wir trotz des reichen Repertoires
dieser Musikgattung noch nie ein so kühnes Bild, einen so ergreifen-
den Reflex, eine so erregende Anziehungskraft der Sinnlichkeit,
ihrer schwindelerregenden Begeisterung und prismatischen Blen-
dungen gehört zu haben meinen. Es huschen Töne am Ohre vorbei,
wie gewisse Phantome vor dem Auge schillern . . . anhaltend, durch-
dringend, — treulos! Unter ihrer künstlichen Sanftheit gewahrt
man despotische Intonationen, fühlt man das Erhabene des Zornes.
Hie und da erklingen Violintöne, schneidig blitzend wie phospho-
rische Funken. Das Einfallen der Pauken macht uns erzittern, wie
das ferne Echo einer in Raserei ausgearteten Orgie. Dazwischen
treten Akkorde von tobender Trunkenheit hervor und erinnern uns
daran, daß die Cleopatren ihre Festlichkeiten durch die Grausam-
keit nicht entwürdigt fanden, daß sie in ihrem Liebesrausch sich
die blutigsten Schauspiele nicht versagten, daß sie barbarische
Vergnügungen mit dem Kultus der Schönheit zu verbinden wußten.
Die Mänaden und ihre ungestümen Reigen in der Venusgrotte
bestätigen alsbald diesen Eindruck. Gerade dadurch, daß sie den-
Tannhäuser. 17
selben hervorbringen, zeichnet sich diese bis zu ihrer höchsten
Gewalt gesteigerte Entwickeiung der sinnlichen Lust in originellster
Weise vor allen anderen musikalischen Kompositionen aus, die sie
so oft schon zu schildern versucht haben. Einmal von diesen zaube-
rischen, wild aufregenden Wirkungen hingerissen, überschreitet man
die Sphäre gewöhnlicher Versuchungen. Wagner hat sich keines-
wegs mit den leichten und freien Motiven begnügt, wie die meisten,
deren Verve dem Geschmacke und den Neigungen folgt, welche in
den Szenen eines Rubens, wenn diese die fesselnden und tyran-
nischen Verführungen der Mutter und Königin der Liebe schildern
wollten, zum Ausdruck kamen. Er erlauschte die unbeschreibliche
Zartheit der anmutigen Töne, welche an Cytherens Hofe erklingen,
die nur die kleine Zahl der von den Grazien Geweihten vernehmen
kann. Die Freuden, die aus den von liebestrunkenen Nymphen
dargebotenen Schalen geschöpft werden, üben einen zwar fremd-
artig prickelnden, verhängnisvollen Reiz, berauschen aber nicht
zu grober Sinnlichkeit. Ein Genie deutschen Ursprungs bedurfte
etwas von der universellen Anschauung eines Shakespeare, um
sich vom Blute des Altertums durchdringen und zu einer den
düsteren Gärungen des Nordens so fremden Glut begeistern zu
lassen.
Die Sinneslust ist hier mit den ungestümen Genüssen und der
verfeinerten Wollust dargestellt, welche kalte und schwerfällige
Naturen nicht einmal sich vorzustellen befähigt sind, die aber ge-
träumt und gesucht wird von energischen, niehr als alltägliche Ein-
drücke verlangenden Wesen von hohen und zugleich zarten Organi-
sationen, welche jedem Zufall die Überfülle quellender Lebenskraft
preisgeben, ohne ihren stürmischen Leidenschaften einen Zügel
anzulegen, bis sie ^in Strombett gefunden, breit und tief genug, um
ihre brausenden, nie besänftigten Wogen zu fassen. Bei dieser
Schöpfung Wagners ist nicht genug zu bewundern, daß die Gewalt
der Behandlung nie ihre Zartheit vernichtet. Es war nicht leicht,
diese beiden Momente aufrecht zu erhalten. Und doch konnte nur
durch diese Art der Verbindung das wilde und zugleich schmachtende
Entzücken ausgedrückt werden, dessen Geheimnis der Mensch gern
der stürmischen Begierde entreißen möchte.
Li szt, Gesammelte Schriften. II. V<A. 2
18 Tannhäuscr.
Aus dieser Harmonie, die betäubend, fein, unfaßbar und glühend,
wie die Fäden und Schlingen verbotener Lust, dahinströmt uxid
funkelt und allmählich zu immer blendenderer Spiegelung sich ent-
faltet, reißt uns plötzlich ein dramatisches Interesse heraus: die
bisher unbestimmten Töne formen sich zu zwei melodischen Sätzen,
deren einer uns wie ein Triumphschrei, gemischt mit trotziger
Herausforderung, entgegen klingt, während der andere uns einlullt,
wie das Locken einer verführerischen Stimme nach stummem Um-
fangen.
Um diese in Lust und Freuden erglänzenden Gegensätze zu über-
brücken, mußte sich der Tondichter zu einer nicht gewöhnlichen
Höhe erheben. Schon einmal war das religiöse Thema dem, das
Ohr wie glühender Atem streifenden, nervenverwirrenden Zauber-
getön zum Opfer gefallen. Jetzt mußte es, so scheint es, abermals
vor dem Delirium sinnlicher Halluzinationen stehend, noch mehr
Gefahr laufen, düster und trocken, ja leer zu erscheinen, wie eine
Negation angesichts lebendiger Seligkeit, nichtssagend wie ein grober
Kontrast, nicht wie ein logischer Schluß. Doch dem ist nicht so.
Das heilige Motiv erhebt sich nicht einem harten Meister gleich,
der den jene fürchterliche Freudenhöhle durchzitternden Klängen
mit Strenge Stillschweigen gebietet. Klar und sanft fließt es daher;
aller Saiten, so verlockend sie erklangen, bemächtigt es sich trotz
verzweifelter Abwehr. Weiter und weiter, alle entgegengesetzten
Elemente umwandelnd und verschmelzend, dehnt es sich. |n
Trümmer zerfallen die Massen der glühenden Töne, immer pein-
licher, ja abstoßend werden ihre Dissonanzen. Doch endlich — vde
befreit von tiefer Qual — sehen wir diese sich auflösen in der hehren
Herrlichkeit heiligen Gesanges, der den ganzen vorangegangenen
Zauber überflutet und sich gleich flüssigem Sonnenscheine aus^
breitet, glänzend wie ein ungeheurer Strom, der unsere ganze Seele,
unser ganzes Sein an sich zieht — ein Ozean der Glorie!
Wir wissen wohl, <Jaß es der Kritik nicht genügt, von den Ein-
drücken zu sprechen, die gewisse Kunstwerke auf uns gemacht
haben. Diese will sie beurteilt, geordnet, klassifiziert sehen. Doch
sind wir weit entfernt, ihre Forderungen für unrichtig zu erklären;
denn wir kennen die Nachteile, welche es mit sich bringt, Kunst-
Tannhäusera 19
werke mehr nach den Ideen, die sie hervorrufen, als nach denen,
welche wirklich zum Ausdruck gekommen sind, zu beurteilen. Hier
Hegt eine jener Klippen, denen ein Teil des gebildeten Publikums
selten entgeht, und woraus sich erklärt, warum mittelmäßige Werke
so leicht gelobt und Werke von hohem Werte, welche aber mehr
Tiefe als Fläche besitzen und, um verstanden zu werden, gediegenere
Kenntnisse und tieferes Eindringen in verschiedene Kunstformen
verlangen, oft so gleichgültig behandelt werden. In unseren Tagen
befindet sich unter dem Publikum eine große Anzahl Gebildeter,
welche sich nicht damit begnügen, ein unbestimmtes Vergnügen zu
empfinden und sich einem angenehmen Schauer zu überlassen, son-
dern den Sinn jeder Musik durch analoge Gedanken und Bilder
deuten wilK Einer lebendigen und empfindenden Phantasie wird e3
infolgedessen ebenso leicht, denselben zu vervollständigen wie zi^
entstellen. Wird sie nicht durch ein solides Wissen und ein gesundes
Verstehen der ersten Elementarbegriffe der Kunst geleitet und
zurückgehalten, so ist sowohl die Richtigkeit, wie der Irrtum ihrer
Konzeption nur eine Sache des Zufalls. Es liegt auf der Hand, daß,
wenn man, anstatt die vom Komponisten meisterhaft beherrschte
Form und die Vortrefflichkeit seines Verfahrens, sowie den Schwung
oder die Anmut der von ihm entwickelten Gefühle zu beachten, aus-
schließlich die Ideen, die er durch die Wahl seines Sujets anregt,
genießt, es kaum zu vermeiden ist, zu den am wenigsten begründeten
Urteilen hingerissen zu werden.
Auch wir würden uns nicht erlauben, im Namen unserer eigenen
Bewunderung, unserer persönlichen Anerkennung und innigsten
Sympathien zu reden. Doch verzichten wir durchaus nicht auf das
Recht, sie auch außerhalb der Regeln, welche der Kritik dienen, zu
empfangen: denn der Künstler hört nie auf Mensch zu sein und in
dieser Eigenschaft ebenfalls zu dem Publikum zu gehören, welches
sich vom ersten Eindrück hinreißen läßt. Wir gestehen, daß wir sein
Los als ein hartes und widerwärtiges betrachten müßten, wenn er
dem Rechte, entzückt zu sein, ehe er Kritik geübt, hingerissen zu
sein, ehe er seinen Beifall nach Grammen abgewogen, entsagen
sollte; oder auch, wenn er gegenüber den Versuchen jugendlicher
Phantasien seine eigenen Träume nicht mehr träumen und der
2*
20 Tannhäuser.
Ursache dieser Träume erst in später Zukunft seinen Dank entrichten
dürfte. Vergessen, wie man überrascht und meinungsios durch einen
noch nicht analysierten Reiz gewonnen wird, wie man die unbewußten
Schauer der Menge mit ihr teilt, dürfte selbst für denjenigen von
ärgerlichem Resultat sein, der zu seinem eigenen Nachteil sich ihr
nicht ganz entfremden kann, wiewohl er gezwungen ist, die Eindrücke
noch einer strengen Prüfung zu unterziehen, was jene nicht tut.
Aber wir wissen, daß diese gleichsam angesteckte Bewunderung
nicht über das Gebiet der individuellen Psychologie hinaus darf, und
daß es überflüssig wäre, das Publikum davon zu unterhalten, weil
es überflüssig ist, die gerechterweise mit Beifall gekrönten Werke zu
loben, und weil man dem Erfolge mittelmäßiger Schöpfungen, die
sich seines augenblicklichen Beifalls erfreuen, nur Palliativmittel
entgegenstellt. Man wirkt gegen das Symptom, nicht gegen das
Übel. Überdrüssig einer Form, adoptiert das Publikum eine andere
von gleichem oder noch geringerem Werte.
Wenn wir uns so eingehend über die neue Oper Wagners aus-
sprechen, so geschieht es, weil wir die Überzeugung hegen, daß dieses
Werk ein Prinzip der Lebensfähigkeit und des Erfolges in sich birgt,
welches dereinst allgemein anerkannt werden wird. Die Neuerungen,
welche es enthält, sind aus der echten Kraft der Kunst geschöpft
und rechtfertigen sich sämtlich als Errungenschaften des Genies.
Um nochmals von der Ouvertüre zu sprechen, machen wir darauf
aufmerksam, daß keine Symphonie in einer den Regeln klassischen
Zuschnittes mehr entsprechenden Weise geschrieben sein und keine
in der Exposition, in der Entwicklung und proportionalen Lösung
eine vollkommenere Logik besitzen kann als sie. Ihre Anordnung
ist, obwohl reicher, doch eben so klar, eben so präzis wie die der
besten Vorbilder dieser Gattung.
Die erste Hälfte des religiösen Themas — sechzehn Takte — .
in E-dur ist den unteren Lagen der Klarinetten, Hörner und Fagotte
übergeben und kadenziert auf der Dominante:
Tannhäuser.
21
Nr. L Andante maestoso J = 50.
Klarinett«. _^ _,^. I I 1 I .
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22.
Tannhäuser.
Der zweite Teil desselben, welcher bewunderungswürdige Modu-
lationen enthält, wird von den Violoncellen, denen sich beim neunten
Takte die Violinen anschließen, weitergeführt:
Nr. 2.
Klarinette.
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Fagott a. Yiolen.
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Das ganze Thema wird hierauf fortissimo von den Blechinstru-
menten in derselben Tonart, aber mit viel bewegterem Rhythmus
in Achtel-Triolen wiederholt und beständig von einer abwärts-
gehenden diatonischen Figur in Sechzehntel-Triolen begleitet. Wäh-
rend der sechzehn folgenden Takte wird die zweite Hälfte des
Themas von den Blasinstrumenten mit demselben Triolen-Rhyth-
mus mezzoforte, diminuendo und piano beendigt, wobei die Triolen-
figur sich nur bei jedem zweiten Takte wiederholt, was zugleich
eine Abnahme des Rhythmus hervorbringt, die der Abnahme der
Kraft und Fülle entspricht. Die vollständige Wiederholung— bloß in
den sechzehn ersten Takten gemäßigt — bildet mit einer Umkehrung
des verminderten Septimen-Akkordes das Ende dieser Einleitung.
Das Allegro beginnt mit der Andeutung des Lock- und Lust-
motivs, über welches sich sofort ein Glied einer rhythmischen Phrase
breitet, das ihm als Zusatz dient — das Motiv des folgenden Noten-
24
Tannhäuser.
beispiels — , sich dann vollständig in der Ouvertüre entwickelt und
erst bei dem als Finale wieder aufgenommenen religiösen Thema
verschwindet. Das anfangs nur angedeutete Lockmotiv entwickelt
sich vollkommen erst nach etwa dreißig Takten zugleich mit den
Figuren, deren wir schon gedachten, als wir von dem Charakter
sprachen, den Wagner der Verführungsszene der Sirenen gab;
Nr. 3, Allegro 1 = 80.
Flöten. 8va -
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^
2p
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4
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Hoboen. P
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Violinen. J^
Viol.. t±^^
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Hoboen u. Klar, ^^(rf l^*v h
V jqT "*-^ V "' V .
Tannhäuser.
25
Dieses Motiv ist unterhalb eines Tremolo der Violinen an die Alt-
violen und Klarinetten verteilt und weicht — nachdem es sich völlig
entwickelt hat — in einen Übergangssatz ab, dessen Crescendo
einer kühn-entschlossenen Melodie, welche sich zur Dominante
(H-dur) bewegt und fortissimo von dem ganzen Orchester begleitet
wird, gleichsam als elektrischer Leiter dient:
Nr. 4. Allegro.
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26
Tannhäuser.
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Die Melodie dauert mehr als zwanzig Takte — Tannhäuser singt
sie im ersten Akte zum Preise der Venus — und wird durch den
Ausbruch der alimählich durch drei aufsteigende Akkorde gestei-
gerten Zusatzphrase gekrönt, deren bacchischer Mißklang Ohr und
Sinne betäubt:
Tannhäuser.
27
Nr. 5. AUegro.
8va
^^
i^ ■ g tfag
//
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5r # #
-&-
8ya
8ya
28
Tannhäuser.
8ya
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i
I
8va —
"M j> ^ j ^i ^
^
Die vorhergehenden Figuren werden wieder pianissimo auf-
genommen bis zur Erscheinung einer Melopoe in G-dur -r- später
der Venus beigelegt — :
Nr. 6.
Yiolinen.
m
^jg^j^y g f
Violinen.
^m
f ^ f . f f
1
&^
k
fe
pp
Violinen mit Dkmpfern.
1
IT äv ^ —
3.
i
E
PP
Klarinette.
Solo.
A
I
fe
-<5^
■i9-
Tannhäuser.
29
7i
i^^y g g 1^^ ff J:gj^gg g
Fagott
kleine Flöte n. Violine.
8ya - — — .
Klarin.
30
Tannhäuser.
8va — — — —
Zuerst der Klarinette überlassen, wird diese Melopoe von einer
Violine in dem Register der höchsten Flageolettöne fortgesetzt^
dann durch eine phantastische Arabesice des von einer Altviola aus-
geführten Lustmotivs (Beispiel Nr. 3) weitergeführt, welches, von
einem Tremolo der Violinen gleichsam in Halbschatten gehüllt, in
Fis verhaucht. Sie macht der Übergangsphrase, welche die Melodie
in H eingeleitet hatte, Platz — ein schreiender Klageruf, der dieses
Mal auf dem Grundtone von Fis durch ein chromatisches Fort-
schreiten bei der Rückkehr derselben Melodie auf der Tonika endigt.
Die Coda der Ouvertüre nimmt die Hauptljnien des Anfangs
des Allegro wieder auf und erreicht den höchsten Grad der Raserei
durch ein chromatisches Abwärtsgehen auf den Grundton von H,
operierend mit der letzten Wiederholung der Zusatzphrase. In die«
sem Augenblicke kehrt auf einem dissonierenden Akkorde, den wir
beim Einfallen des lebhafteren Tempos im Vier- Vierteltakte notierten
(E, G, Ais, Cis, aber jetzt auf dem Grundtone H), die schon gehörte
Tannhäuser. 31
Figur in Sechzehntein mit dem religiösen Thema wieder, welches
Jetzt mit zunehmender Beschleunigung durch verschiedene Um-
kehrungen dieses Akkordes steigt und zwar ohne Einschnitte oder
irgend eine Pause, um decrescendo durch eine absteigende chroma-
tische Tonleiter zurückzugehen und auf dem Tone E zu kadenzieren.
Darauf erscheint das religiöse Thema wieder in seiner Vollständig-
keit, aber vergrößert durch einen Zusatz (zwei Vier-Vierteltakte
gegen einen Drei-Vierteltakt) und getragen von der ganz besonders
leidenschaftlichen Sechzehntelfigur, welche wie ein Feuerstrom
dahinbraust. Nach sechzig Takten dieses Rhythmus beginnt das
Thema von neuem, von neuem vergrößert (drei Vier-Vicrteltakte
gegen einen Drei- Vierteltakt) und von allen Blech- und Blasinstru-
menten fortissimo eingesetzt. Der Schluß steht also mit dem Ein-
gang in einem vollständig symmetrischem Verhältnis. Während
aber die Vergrößerung des Themas in so gigantischem Umriß, wie
wir noch kein Beispiel in irgend einem analogen Werke besitzen,
desgleichen die ungewohnte Beschleunigung des Rhythmus der Be-
gleitung des Schlusses verglichen mit der Wirkung des Anfangs diese
verhundertfältigt, erreicht der Schluß jene imposante Höhe des
Gedankens und Gewalt der Kunst, durch welche Meisterwerke sich
die Bewunderung der Jahrhunderte sichern i.
Obwohl wir schon bemerkten, daß der Verfasser des „Tann-
häuser" den in seinem Werke unter dem Namen „Venus" darge-
stellten Leidenschaften einen Charakter gegeben hat, der mit diesem
dem schönen Griechenlande so teuren Namen übereinstimmt, so
wiederholen wir dennoch, daß es durchaus nicht der Kenntnis der
Oper selbst noch der Abenteuer des Ritters Tannhäuser, noch des
Mythus der so bizarr in das Mittelalter verpflanzten „Frau Venus"
bedarf, um in dieser Ouvertüre das musikalische Drama erfassen zu
können. Sie ist keineswegs nur eine Art breiten, die Seele zu den
Aufregungen des nachfolgenden Dramas vorbereitenden Vorspiels,
keineswegs nur eine notwendige Einleitung, ein feierlicher, kurzer
1 In seiner Pariser Bearbeitung des „Tannhäuser" (1861) ließ Wagner
die in Ihrer ersten Gestalt abgeschlossene Ouvertüre nach der Venusberg-
musik, ohne Wiederaufnahme des Pilgerchors, gleich in die Anfangsszene
übergehen und erweiterte diese In großartiger Weise.
32 Tannhäuser.
Prolog, der sich darauf beschränkt, den Geist des Auditoriums in
die Region der Gefühle zu versetzen, die ihn ergreifen sollen. Sie hat
nichts mit den Orchesterstücken gemein, die, ohne auch nur ein
Motiv der angekündigten Oper zu enthalten oder, selbst wenn sie
einige derselben aufnahmen, doch immer nur ein integrierender Teil
des Ganzen sind und die Vorstellung des Hörers bald mitten in die
Berge und in die von ihnen angeregten religiösen Betrachtungen
oder in eine Alpennatur versetzen, deren Kräuterduft man einzu-
atmen wähnt; dabei aber einen düsteren Schimmer verbreiten, der
inmitten der vorüberfliehenden Heiterkeit die Seele in Bangen
erhält. Nein, nicht in dieser Weise ist Wagners Ouvertüre ge-
schrieben: sie ist ein Gedicht über denselben Gegenstand wie seine
Oper, ebenso umfassend wie diese.
Wagner hat mit einem und demselben Gedanken zwei ver-
schiedene Werke geschaffen, jedes so faßlich, jedes so vollkommen
wie das andere, beide unabhängig voneinander. Infolgedessen
würden sie, selbst getrennt, gar nicht Gefahr laufen, etwas von ihrer
Bedeutung einzubüßen. Sie sind durch die Identität ihres Gefühls-
ausdrucks verbunden, aber eben dieser Identität wegen bedürfen
und brauchen sie einander nicht zu ihrer gegenseitigen Erklärung.
Sollten wir eine Tatsache und eine Erfahrung zur Begründung
unserer Behauptung zitieren, so würden wir sagen, daß wir diese
Ouvertüre als solche aufführen ließen und sie mit bewunderndem
Enthusiasmus aufgenommen wurde, ohne daß jemand unter den
Aufführenden noch unter dem ihr Beifall zollenden Publikum die
geringste Kenntnis vom Sujet oder von der Partitur der Oper gehabt
hatte. Auch sind wir der festen Überzeugung, daß es, um diese
Ouvertüre den Tonwerken einzureihen, welche dem Repertoire aller
großen musikalischen Anstalten einverleibt sind, in unseren Tagen
keiner so langen Zeit bedarf, als die Quartette von Mozart bedurften,
um nicht als unausführbar von ihren Exekutanten zerrissen, und
Beethovens Meisterwerke, um nicht als barocke Neuerungen be-
handelt zu werden.
Eine Bestätigung unserer Meinung, daß Wagner trotz seiner
eigenen Theorien sich mehr hingezogen fühlte, ein schönes sympho-
nisches Werk zu komponieren, als daß er besorgt gewesen, seinem
Tannhäuser. 33
Drama einen. Prolog anzupassen, glauben wir in der Verletzung zu
sehen, die er durch die breite Entfaltung des IVIotivs, das beim Auf-
rollen des Vorhangs sogleich wieder aufgenommen werden mu6,
gegenüber den Regeln der »^akustischen Perspektive*' — man ver-
zeihe diesen Ausdruck — sich erlaubt hat. Die den szenischen Wir-
kungen unumgänglichen Gesetze der Steigerung würden dadurch
verletzt worden sein — denn welches rinforzando bliebe noch dem
Sirenengesang übrig, wenn das Crescendo seine Höhe schon lange
vor der Vorstellung erreicht hätte? — , wenn die offene Szene, der
Tanz und die menschliche Stimme diese Schvderigkeit nicht ver-
deckten, wenn sie nicht durch ihren Zauber, ihr Zusammenwirken
die Neugierde reizten, nicht das wogende Ungestüm des Orchesters
erhöhten, das Publikum nicht dem Bedürfnisse der Ruhe, das be-
sonders die am meisten Erregten empfinden, entrissen und das bei-
nahe erschöpfte Interesse wieder neu belebten, wenn — mit einem
Wort — das Schlußwort der noch darzustellenden Tragödie schon
in so mächtiger Weise ausgesprochen wäre«
III.
Die erste Szene führt uns in die geheime Grotte, welche nach der
Sage sich im Hörseiberge befand. Wir sehen in einem rosigen Hell-
dunkel die Nymphen, Dryaden, Bacchantinnen ihre Thyrsusstäbe
und Weinranken zu dem Klange der Rhythmen schwingen, welche
die fünfzig ersten Takte des Allegro der Ouvertüre bildeten. Sie
umgeben die auf ihrem Lager hingegossene Göttin, bekleidet mit
der griechischen Tunika, deren Faltenwurf ihre Gestalt umfließt,
als wäre das leichte Gewebe nur die in noch rosigeren Duft getränkte
Atmosphäre, welche die Grotte füllt. In den Vertiefungen der
letzterjcn spiegeln die ruhigen Wasser der Seen die Schatten der
Gebüsche wider, unter denen glückliche Paare wandeln — da auch
erblickt man die verführerischen Sirenen.
Zu den Füßen der Venus sitzt ihr Geliebter, traurig, düster, in
seinen Händen zerstreut die Harfe haltend. Warum er so mißmutig?
fragt sie. Da seufzt er tief auf, wie erwachend aus einem Traume,
Liszt, Gesammelte Schriften. IL V.A. 3
34 Tannhäuser.
der ihn weit weg von seiner Umgebung entführt. Beunruhigt fährt
sie dringender fort zu fragen. ,,Freiheit! . . .'' erwidert jetzt der
Gefangene. Und rasch seine Harfe ergreifend stimmt er einen Sang
an, in welchem er ihre Reize preist und ewig zu preisen gelobt, doch
fügt er hinzu, daß Sehnsucht ihn verzehre — Sehnsucht nach der
Oberwelt:
„Doch ich aus diesen ros'gen Düften
Verlange nach des Waldes Lüften,
Nach unsres Himmels klarem Blau,
Nach unsrem frischen Grün der Au,
Nach unsrer Vöglein liebem Sänge,
Nach unsrer Glocken trautem Klange: —
Aus deinem Reiche muß ich flieh'n,
O Königin, Göttin! Laß mich zieh'nt'
I«
Diesen Gesang, voll männlicher Energie, gibt die Melodie wieder,
die wir bereits zweimal bei Besprechung der Ouvertüre angedeutet
haben (Notenb^spiel Nr. 4), und deren Worte ein Lob der Venus
sind. Dieser Strophe folgt jedoch sogleich eine Gegenstrophe, deren
schmerzhafte, halb erschreckt klingende Modulation wie ein gellender
Schrei der Brust entfährt — : der Schrei des gefangenen Adlers, der
nach den Regionen der Stürme und der Sonne zurückverlangt, der
Schrei der Seele, die, herniedergezogen, wieder emporstrebt zum
Licht.
Dreimal wird diese Strophe und Gegenstrophe, stets einen
halben Ton höher, wiederholt, was ihren leidenschaftlichen Aus-
druck steigerte
Durch ein einziges Wort, aber durch eines der Worte, die hin-
reichen, um der Poesie die Majestät ihrer Schwester, der Wahrheit,
zu leihen, entschleiert Wagner die Größe der im Schöße der
süßesten Untätigkeit unbefriedigten Seelen, indem er Tannhäuser
ausrufen läßt:
„ — sterblich, acht bin ich geblieben.
Und übergroß ist mir dein Lieben:
Wenn stets ein Gott genießen kann.
Bin ich dem Wechsel Untertan;
Nicht Lust allein liegt mir am Herzen,
Aus Freuden sehn* ich mich nach Schmeirzen.'*
Tannhäuser. 35
Sich sehnen nach Schmerzen — heißt das nicht: sich
sehnen nach dem Unendlichen? Denn woher entstehen diese Schmer-
zen, als von den Verletzungen, welche die Seele davonträgt, wenn sie
die Grenzen des Irdischen zu überschreiten sucht und doch ihrer
menschlichen Wesenheit nicht entsagen will?
Die beleidigte Zauberin springt auf, gleich einer verwundeten
Tigerin. Seiner Hand die Harfe entreißend, unterbricht sie ihren Ge-
fangenen, und der eiteln Reue des Wahnsinnigen spottend, ruft sie
eine Wolke herauf, welche beide einschließen soll. Sie erinnert ihn
daran, daß er verflucht sei . . . daß er durch alle Mächte ewiger Ver-
dammnis ihr gehöre . . . daß er nicht mehr an eine Welt denken
dürfe, die ihn mit Abscheu verstoßen würde, wenn er je wieder dahin
zurückkehren sollte. Doch der stolze Ritter trotzt der Hochmütigen
und erwidert:
„Vom Bann werd' ich durch Büß' erlöst 1*'
Ihr wechselseitiger Widerstand spricht sich in einem Duo aus,
voll Erregung, Zorn, Haß, die ihre Flammen aneinander entzünden,
bis Frau Venus plötzlich zu den Waffen zärtlicher Schmeichelei ihre
Zuflucht nimmt. Sie läßt der Sirenen Gesänge ertönen, welche in
der Entfernung nur noch schmachtender und verführerischer zu
werden scheinen, und sich zu ihm neigend, scheint sie ihm tropfen-
weise das unheilbare Gift in die Adern zu träufeln, jene Ohnmacht
der Sinnlichkeit, die mit unauflöslichen Ketten die schwindenden
Kräfte umschlingt. Der ziemlich lange Gesang der Venus nimmt,
aber einen halben Ton tiefer, das Motiv der Ouvertüre, welches wir
Melopoä nannten (Notenbeispiel Nr. 6), wieder auf. Er wird eben-
falls pianissimo begleitet und durch das Tremolo der Violinen um-
schleiert.
Wer dem musikalischen Symbolismus huldigt, kann in dieser
Szene die Schilderung eines jener inneren Kämpfe finden, welche
die menschliche Brust zerreißen — Kämpfe, während welcher die
Seele in inneren Zwiespalt mit sich selbst gerät. Er würde statt
der verschiedenen Personen die verschiedenen Stimmen der Leiden-
schaften zu hören vermeinen, die in heftigem Streit aneinander
prallen, ohne daß ihr verhängnisvoller oder wundertätiger Ausgang
3*
36 Tannhäuser.
vorauszusehen wäre. Tannhäuser entwindet sich mit Gewalt den
Armen der Göttin und ruft in fieberhaftem Aufwallen:
,,Mein Heil! Mein Heil ruht in Maria!"
Kaum, daß er diesen Namen gerufen, verschwinden Göttin,
Nymphen, Sirenen und Bacchantinnen. Alles verweht. .
Statt der Grotte im Innern des Berges sehen wir den Berg von
außen, in den die Volkssage jene versetzt hatte, mit ihm die land-
schaftliche Umgebung der Wartburg und in deren Mitte den Ritter,
der statt des rosigen Dämmerlichts einer Nacht der Wonne ohne
Ende plötzlich einen frischen und reinen Frühlingsmorgen um sich
schaut. *
Dem betäubenden Geräusche der vorhergehenden Szenen folgt
eine vollständige Stille des Orchesters, und nur das sanfte, träume-
rische Lied eines Hirten, der auf einem benachbarten Felsen sitzt,
tönt an unser Ohr. Der Refrain seiner Schalmei, den das englische
Hörn glücklich nachahmt, bringt zu demselben einen wohltuenden
Gegensatz. Bald hört man von weitem einen sich nähernden Chor
. von Pilgern. Während seiner Pausen bildet die Stimme des sich ihrem
Gebet empfehlenden Hirten einen neuen Kontrast; ihn führt die
Wiederkehr des kontrapunktartig figurierten Refrains fort, der die
Pastoralmelodie umspielt und den frommen, tief ernsten Gesang
wie mit einem schlichten Gewinde von Feldblumen umschlingt.
Die Pilger nähern sich, sie treten auf. Ihr Gesang, in welchen die
zweite Hälfte des religiösen Themas der Ouvertüre eingeschaltet ist,
trägt einen feierlich frommen Charakter. *Doch vibriert darin ein
begeisterter Aufschwung, eine anhaltende Ekstase. Sie bleiben vor
einem Madonnenbilde stehen, und Tannhäuser wirft sich bei ihrem
Gesänge auf die Knie. Ebenso bestürzt über das Wunder des Er-
barmens, das ihn gerettet, als betroffen, seinen kühnen Wunsch so
plötzlich erhört und seine Befreiung so unversehens vollbracht zu
sehen, wiederholt er die Worte der Pilger:
„Ach, schwer drückt mich der Sünden Last,
Kann länger sie nicht mehr ertragen;
Darum will ich auch nicht Ruh' noch Rast
Und wähle gern mir Müh' und Plagen.**
Tannhäuser. 37
Die Glocken der fernen Kirchen rufen die Gläubigen zum Morgen,
gebete, und die Signale der aus verschiedenen Entfernungen er-
tönenden Jagdhörner (abwechselnd zwischen F-dur und Es-moll)
erhöhen den Eindruck dieser Stunde ländlicher Ruhe und Wald-
einsamkeit.
Bald darauf zieht der Landgraf mit seinem Jagdgefolge dieses
Weges und, einen Ritter gewahrend» der demselben nicht angehört;
nähert er sich ihm und erkennt Tannhäuser. — Es wurde bereits
erzählt, daß Wolfram von Eschenbach, sein Nebenbuhler in Gesang
und Liebe, darauf bestand, ihn zu Elisabeth, die ihn liebt, zu führen
und ihn endlich bestimmt, seinen alten Platz unter den Sängern,
die er so oft besiegt, und die dennoch seine Abwesenheit beklagten,
wieder einzunehmen. Dieses reizend melodische, zarte und innige
Rührung atmende Motiv wird in seinen ersten acht Takten wieder
aufgenommen und in dem Andante eines durch die fünf Sänger und
den Landgrafen gebildeten Sextetts dialogisiert, indem dieselben
in Tannhäuser dringen, wieder zu ihnen zurückzukehren. Bei dem
Namen Elisabeth ruft letzterer, wie von einem belebenden Strahle
getroffen, aus:
„Ha, jetzt erkenne ich sie wieder,
Die schöne Welt, der ich entrückt!
Der Himmel blickt auf mich hernieder,
Die Fluren prangen reich geschmückt.
Der Lenz mit tausend holden Klängen
Zog jubelnd in die Seele mir;
In süßem, ungestümem Drängen
Ruft laut mein Herz: Zu ihrl Zu ihr!"
Sobald seine Stimme sich mit den anderen vereinigt, setzt das
Septett ein freudig bewegtes, hinreißendes Allegro ein, dessen Finale,
von den Fanfaren der Jäger unterbrochen, den Schluß des ersten
Aktes bildet. Die verschiedenen Klangfarben der Stimmen sind so
meisterhaft gruppiert und ihre Partien in diesem Ensemble mit
solcher Feinheit gezeichnet, daß man darin unmöglich die Auf-
forderung edler Nebenbuhler zu edlem Kampfe verkennen kann.
Dieses Finale ergreift auch die Hörer unwiderstehlich, und der
vollste Beifall hallt im Saale wider.
38 Tannhäuscr.
Nichts natürlicher und keuscher, als die allem eifersüchtigen
Grolle femstehende, aufjubelnde Freude, mit der Elisabeth den ihr
von Wolfram zugeführten Ritter empfängt. Leichten Schrittes, mit
dem glücklichen Lächeln erster Jugend, eilt sie in die Halle, wo sie
die Gesänge vernommen, die sich so tief in ihr Herz gegraben, und
deren Schwelle sie, seit dem Verschwinden ihres Sängers, nicht mehr
überschritten hatte. Mit ausgebreiteten Armen tritt sie ein, als
wolle sie über ihre ganze Umgebung den hellen Schein ihres Glückes,
die Strahlen ihrer eigenen inneren Seligkeit verbreiten. Schon ge-
schmückt zum bald beginnenden Feste zweifelt sie nicht daran, daß
ihr Ritter-Sänger sie als Sangespreis erringen werde. Ein einfacher
Goldreif, eher einem Heiligenscheine als einem Diademe gleichend,
umgibt ihr blondes Haupt; ihre langen Flechten fallen unter einem
leichten Schleier herab auf den Faltenwurf des weißen Atlas, von
dem sich das silbergestickte, malerische Mieder abhebt, das die
Frauen zu jener Zeit trugen. Ein auf den Schultern festgehaltener
Mantel von blauem Sammet umwallt, wie Himmels Azur, diese
Erscheinung verkörperter Unschuld.
Entfaltete die Liebesgöttin, ihr schwarzes Gelock über dem sinn-
lich sich senkenden Nacken mit Rosen umkränzt, unter den halb
geschlossenen Lidern, hinter dem verführerisch blinkenden Gürtel
verborgene Reize, schien sie dem lustberauschten Sänger die Schön-
heit selbst, ja die absolute, unvergleichbare Schönheit, so mußte
die jungfräuliche Elisabeth seine Seele durch ihre wunderbare Hoheit
hinreißen, die, gleichsam aus himmlischen Regionen stammend, zu
ihm niedersteigt, um ihn der streitig zu machen, die aus der Tiefe
salziger Fluten zum Aufenthalt der Sterblichen gekommen war.
Das Duo zwischen Tannhäuser und Elisabeth im zweiten Akte
läßt sich, was Gefühl und musikalische Schönheit betrifft, mit dem
Duo des Achilles und der Iphigenie von Gluck vergleichen. Dasselbe
Einatmen gegenwärtigen Glückes, dasselbe keusche Hingeben, das-
selbe einfache Geständnis einer tiefen Leidenschaft, dasselbe Wieder-
aufnehmen des stets variierten, und sich doch stets gleichbleibenden
Themas — des Themas einer so glücklichen Liebe, daß man glauben
möchte, es könne, ein Echo himmlischer Wonne, nie unterbrochen,
nie gestört werden! ... Es schließt mit einem AUegro, in dem der
Tannhäuser. 39
ganze Jubel der beglückten Seele wie ein hehres Hosianna der Liebe
erschallt.
Der Sängerkrieg, dessen Vorwurf wir schon andeuteten, und der,
wenn auch ein wenig abstrakt und metaphysisch, doch innig mit
dem Knoten des Dramas verbunden ist, erscheint als eine Episode,
deren musikalische Partie Wagner mit ebenso großem Kraftauf-
wand, wie mit bemerkenswerter Überlegenheit behandelt hat.
Ihm geht ein Marsch voraus, während dessen die vornehmen
Gäste des Landgrafen mit dem ganzen Zeremoniell der Etikette
ihrer Zeit die Halle betreten, um sich je nach ihrem Range auf den
ringsum angebrachten Sesseln niederzulassen, indes die Mitte der
Halle der Sängergruppe vorbehalten bleibt. Da erscheinen die
hohen Barone, ihre Mäntel sind mit ihren Wappenschildern bestickt.
Die Edelfrauen, in die Farben ihrer Geschlechter gekleidet, lassen
von Edelknaben ihre Schleppen tragen. Der hierbei ausgeführte
Marsch ist von einem glücklich erfundenen Rhythmus — weder zu
sehr akzentuiert, noch zu charakterlos. Er deutet bewunderungs-
würdig die gemessene und emphatische Haltung dieser Edelherren
an, für welche es ebenso glorreich war, die Harfe wie das Schwert zu
handhaben.
Dem Marsche in H-dur folgt ein zweiter in G-dur, dem Eintritt
der Sänger bestimmt. Von feierlicherem Takte als jener, ist er von
ernsterem, vornehmerem Charakter — eines jener fein durchdachten
Details, wie sie Wagners Kompositionen so reich und gehaltvoll,
ihr Studium so fesselnd machen.
Sobald die zahlreichen Gäste und die ihnen folgenden Sänger
sich geordnet haben, tritt tiefe StiUe ein. Wolfram erhebt sich vor
den anderen; denn seinen Namen hatte Elisabeth aus der Urne ge-»
zogen, da das Los den ersten zum Kampfe Berufenen bestimmen
sollte. Gleich den übrigen Sängern hält er in seiner Hand die Harfe.
Diese begleitet alle ihre Gesänge und spielt nicht allein in diesem
Akte, sondern in der ganzen Partitur eine große Rolle, die einen
tüchtigen Künstler fordert, um die ihr zugeteilten Icomplizierten
Passagen — die zu sehr hervortreten, um abgekürzt werden zu
können — auszuführen.
40 Tannhäuser.
Das Rezitativ Wolframs ist geistreich ausgeführt Es ist der
Gesang einer Icontemplativen Seele, die weder von innerer Erre-
gung noch von äußerem Sporn getrieben wird. In dem Moment, wo
Tannhäuser sich vorbereitet, um ihm zu antworten, nimmt das
Orchester die ersten Töne des der Ouvertüre entnommenen, Sinnes-
lust atmenden Motivs wieder auf, welches den Bacchantentanz
rhythmisierte, als er, von Venus die „Freiheit'' verlangend, ihr
versprach, daß er trotzdem nie aufhören werde, ihre Reize zu preisen.
Als ob das schwache Band dieses beim Scheiden hingeworfenen
Versprechens genügte, um ihn in das Verderben zu ziehen, wird der
Hörer, sowie das Motiv auftaucht, instinktiv von Schrecken er-
griffen, der sich von Minute zu Minute steigert, gleich den Schauem,
die einer Katastrophe vorhergehen. In dem Maße, als die Aufregung
des Kampfes zunimmt und Widersprüche hervorruft, die mit der
Erbitterung des schuldigen Ritters endigen, werden diese Töne
deutlicher und höher. Immer schärfer trifft die verhängnisvolle
Reminiszenz das Ohr, bis endlich Tannhäuser, auffahrend, außer
sich, die Strophe des ersten Aktes vollständig wiederholt und der
Liebesgöttin ohne Hehl sein Loblied singt.
Der Bestürzung, der Verwirrung der jetzt eintretenden tragischen
Situation wird durch Elisabeths sich der Gefahr entgegenwerfende
Bewegung Einhalt getan. Sie verteidigt in rührender Weise die
Sache ihres Ungetreuen und hält die Tränen nicht zurück, die ihr
die Brust beklemmen. Bald erstirbt ihre Stimme in langgetragenen
Tönen, als wollten ihre physischen Kräfte sie verlassen, bald erneuert
sich ihre Seelenstärke, und in immer herzergreifenderen Akzenten
ruft sie Himmel und Erde zu Zeugen dessen auf, daß Unbeugsamkeit
hier ein Sakrilegium sei. Wie von einer höheren Macht inspiriert,
gebietet sie im Namen des Erlösers den Kämpfenden, von der Un-
gerechtigkeit eines voreiligen Urteilsspruches abzustehen. Bei der
ersten Erwiderung, die Tannhäuser dem Wolfram gegeben, hatte
ihr Herz in leidenschaftlicher Übereinstimmung gepocht» sie hatte«
um ihm das zu gestehen, sich zu ihm geneigt, was von ihm unbemerkt
geblieben war; doch niemand hatte sich ihr angeschlossen. Als sie
aber erfuhr, daß der Vertobte ihrer Seele der Sünde anheimgefallen
war, bemitleidete sie ihn wie einen Irrenden. Kein Zweifel, weder
Tannhäuser. 41
an seiner angeborenen Größe, noch an den Qnadenmitteln des Heiles,
stieg in ihr auf.
Nun Elisabeth die Schwerter zurück in ihre Scheiden gebannt
hat, bricht die herausfordernde Haltung Tannhäusers in trostloser
Niedergeschlagenheit zusammen, und er sinkt zu ihren Füßen hin.
Indes ihre Stimme in Ermattung erstirbt, gipfelt sich ihr Flehen
der höchsten Liebe und des höchsten Schmerzes. Alle senken in
bewunderndem Staunen die Waffen und sprechen:
,,Ein Engel stieg aus lichtem Äther,
Zu künden Gottes heil'gen Rat!*'
Diese Worte sind von einer Melodie getragen, die, mild sich er-
hebend und einige Takte dahinschwebend, gleichsam ein engelhaftes
Wesen veranschaulicht. Der beredte Gesang Elisabeths, der in den
empörten Seelen der rauhen Ritter Milde erweckt, ist sehr lang und
In einer sich dem Kirchenstil nähernden Weise geschrieben. Man
begegnet hier dem außergewöhnlichen Rhythmus, der sich in dem
folgenden Ensemblestück aus dem unregelmäßigen Pochen der er-
griffenen, begeisterten und zugleich bestürzten Herzen zu bilden
scheint, die sich einer so erhabenen Offenbarung selbstloser Liebe
nicht zu widersetzen wagen. Dieses große Finale wiederholt gleich-
falls das Hauptthema der Arie der Elisabeth und endigt mit Wieder-
aufnahme der Melodie: „Ein Engel stieg aus lichtem Äther.''
Es hat Wagner gefallen, die melodische Entfaltung dieses
Chores bis zu den äußersten Grenzen der musikalischen Wirkung zu
führen. Nur für Männerstimmen und eine einzige Sopranstimme
komponiert, welche jene mit sich fortreißt und emporzieht, ist der
Chor von einem tiefen Ernste und verbreitet die fromme Sammlung,
die man nur an heiligen Stätten zu finden gewohnt ist. Der Akt
schließt mit einem Ausruf Tannhäusers, der mit den eben am
Schlosse vorbeiwallenden und den Anfang ihres Morgengesanges
wiederholenden Pilgern nach Rom zieht. —
Beim Beginn des dritten Aktes, nach der Rückkehr der Pilger,
die diesmal über die Szene schreitend das ganze religiöse Thema
der Ouvertüre wiederholen, kniet Elisabeth vor dem Muttergottes«*
bilde, das wir im ersten Akte schon gesehen haben, und betet ihr
42 Tannhäuscr.
letztes Gebet, in welchem sie ihre Seele für den auszuhauchen
scheint, den sie so leidensvoll geliebt.
Die langgehaltenen Töne der Blasinstrumente, verdüstert durch
das halberstickte Stöhnen des Bassethorns, lassen uns ihre tödliche
Ohnmacht fühlen. Man könnte sagen, Wagner habe keine Stufe
dieses Todeskampfs der Hoffnung überspringen wollen, indem er
Jeden Klageruf, alle Momente, die noch einmal in ihrer Erinnerung
aufflackerten, gleichsam gesammelt und so, wie sie im Gedächtnisse
der Sterbenden erstehen mußten, durch das Orchester wiedergibt.
Wir vernehmen Reminiszenzen ihrer Begegnung mit Tannhäuser,
ihres Zwiegesangs mit ihm im zweiten Akte, ihres Flehens, das sein
Leben gerettet, sowie des Gesanges Wolframs, als er versucht, die
Eintracht unter den Sängern wiederherzustellen und Tannhäuser
seinem Wahnsinne zu entreißen. Wohl hätte manches Frauenherz
in solcher Stunde noch einmal zurückgeschaut auf eine so selbstlose
Hingebung. Aber die Liebe bleibt sich treu, und Elisabeth versagt
dieser rührenden Neigung selbst das Mitleid.
Wolfram, nachdem sie sich zurückgezogen, allein zurückbleibend,
wendet sich an den Abendstern, daß er geheimnisvollen Trost ihr
bringe, die ohne Tröstung bleiben will:
„Wie Todesahnen Dämmerung deckt die Lande,
Umhüllt das Tal mit schwärzlichem Gewände;
Der Seele, die nach jenen Höh'n verlangt,
Vor ihrem Flug durch Nacht und Grausen bangt: —
Da scheinest du, o lieblichster der Sterne,
Dein sanftes Licht entsendest du der Ferne:
Die nächt'ge Dämmerung teilt dein lieber Strahl,
Und freundlich zeigst den Weg du aus dem Tal. —
O du, mein holder Abendstem,
Wohl grüßt' ich immer dich so gern;
Vom Herzen, das sie nie verriet,
Grüß' sie, wenn sie vorbei dir zieht.
Wenn sie entschwebt dem Tal der Erden,
Ein sel'ger Engel dort zu werden! — "
Dieses Lied für Bariton ist eine der melancholischsten Liebes-
klagen, es gewährt uns einen jener Ruhemomente, wo die gehemmte
und durch die Handlung des Dramas selbst zerstreute Aufmerk-
samkeit sich ganz einem rein lyrischen Erguß hingeben kann. Dieser
Tannhäuser. 43
Ruhepunkt vor dem Schlüsse der Oper war unumgänglich und leitet
eine der erstaunenswertesten Schöpfungen des Genies Wagners
ein: nämlich die Szene, in der Tannhäuser von Wolfram erkannt
wird und diesem von seiner Pilgerfahrt berichtet.
Die Verse dieser Erzählung sind besonders schön; aber Wagner
hat zugleich das seltene Geheimnis gefunden, sie dem Gesänge in
einer so völlig adäquaten Weise anzuschmiegen und zu verschmelzen,
daß, während es einerseits unmöglich ist, an ihnen, ohne sie zu be-
achten, vorüberzugehen — so sehr ist ihre geistvolle Deklamation
durch die musikalischen Intonationen hervorgehoben — man
andererseits die Musik nicht als eine Nebensache betrachten kann,
die nur dazu bestimmt ist, sie klarer hervortreten zu lassen. Wagner
Ist weit davon entfernt, sich einer Verleumdung auszusetzen, wie
man sich einer solchen Gluck gegenüber schuldig machte, indem
man behauptete, der große Meister pflege vor dem Komponieren
auszurufen: „Gott, laß mich vergessen, daß ich Musiker binT'
Ganz Musiker, wie er ist, bleibt Wagner dennoch nicht weniger
ein vornehmer Dichter und Prosaist; aber so sehr er Dichter ist,
so findet er nur in der Musik den vollen Ausdruck seines Gefühles
und zwar so vollkommen, daß auch nur er einzig imstande, ist uns
zu sagen, ob er seine Worte seinen Melodien anpaßt, oder ob er
Melodien zu seinen Worten sucht. Die Erzählung der Pilgerfahrt
Tannhäusers besteht, von schmerzlichen Sarkasmen durchzogen,
welche die Verzweiflung über die Lippen des unglücklichen Ex-
kommunizierten treibt, aus einer Reihenfolge so herzzerreißender
Aufschreie, daß mancher Theaterbesucher ihr nicht bis zu Ende
folgen konnte. Sie kündet all die erlittenen Leiden : die getäuschten
Hoffnungen, die nagenden Gewissensbisse, denen das ersehnte Mitleid
hartnäckig verweigert wurde, die zurückgestoßenen inständigen
Bitten, die verschmähte brennende Reue und endlich die Schrecken
vor dem unwiderruflichen Verderben.
In dieser Vielgestaltigkeit der von den grausamsten Qualen er-
preßten Bekenntnisse folgen und vermischen sich Gesang, Rezitativ,
Ausruf, Schrei, sardonisches Lachen mit einer solchen pathologischen
Wahrheit, einem solchen Wechsel verzweifelter und empörter Er-
regung, daß diese Erzählung selbst ein Drama im großen Drama
44 Tannhduser.
bildet. Durch ihre düsteren Farben, die geschilderte Todesangst,
trennt sich diese Szene sowohl von dem, was vorhergegangen, wie*
von dem, was folgt, scharf ab, wie eine Beschwörung, welche das
Siegel des Abgrundes der Leiden bricht, um vor unseren starren
Blicken die ganze Unendlichkeit des Schmerzes zu entschleiern.
Die Schrecken dieser grauenhaften Nachtgebilde erreichen ihren
Gipfel, als Tannhäuser des Aufenthaltes bei Frau Venus gedenkt,
deren Berg sich in diesem Moment öffnet, um seine Beute zu ver-
schlingen, und die Göttin selbst erscheint, um ihr Opfer an sich zu
reißen. Das Bild der sinnlichen Freuden, welche unauslöschliche
Gluten schüren, indem sie den konvulsivischen Klagen des Unglück-
lichen hypnotische Lockungen entgegenstellen, treibt das Schauer-
liche dieses Momentes auf seinen Höhepunkt und offenbart uns die
ungeheuren Qualen, die der menschliche Geist mit dem B^iff der
Hölle verbindet.
Während des Zwischenspiels der Erscheinung der Venus, das
unseren Sinnen nur anziehende Formen darbietet und nichtsdesto-
weniger unseren Abscheu erregt, indem es dem Sabbat, an dem
die Sterblichen mit den Dämonen verkehren, einen poetisch wahreren
Charakter verleiht als die häßlichen, burlesken und widerlichen
Malereien, die durch die verschiedensten Künste zur Darstellung
kamen, wird das Allegro der Ouvertüre hinter der Szene aufgeführt,
als wenn es aus dem Innern des Berges erklänge. Da nimmt Tann-
häuser, im äußersten Paroxysmus der Verzweiflung Venus anrufend,
die Phrase der Ouvertüre auf, welche dort die dominierende Melodie
einführte und sich jetzt im Orchester durch ein schauderndes Tre-
molo der Violinen verlängert. Dieses betäubende Ausströmen der
Sinneslust wird durch eine absolute Stille unterbrochen, als Wolfram
den Namen Elisabeth ausspricht, den Tannhäuser mit einer Art
starrer Bestürzung wiederholt. Das schillernde Zwielicht erlöscht.
Der Berg schließt sich, und der Zuschauer spricht aufatmend: „Die
Erde hat ihn wiederT' . . . Die Erde hat ihn wenigstens noch
einmal zurückerobert.
Sobald der Leichenzug Elisabeths, die ausgestreckt auf ihrer
Bahre liegt, erscheint, sinkt der Sünder sterbend an derselben
nieder mit den Worten: „Heilige Elisabeth, bitte für mich!" — um
Tannhäuser. 45
im Tode sich mit ihr unlösbar zu vereinen. Sobald der lange Trauer-
zug, an seiner Spitze der Landgraf, nach ihm Priester, Ritter und
Edelfrauen, die ganze Bühne mit einer dichtgedrängten Menge füllt
und der ganze Raum von Sterbegesängen und den düsteren Klängen
der Glocken widerhallt, steigt die Sonne über dem in Trauer ver-
senkten Tale empor.
In demselben Augenblicke stimmen alle — gleichsam ein sicht-
bares Zeichen, daß das ewige Licht den beiden Liebenden leuchte
— einen mächtigen Chor nach den ersten acht Takten des religiösen
Themas der Ouvertüre an: ein ^,Allelujal er ist erlöst! Allelujar'
Ihm vereinen sich die Stimmen einer Gruppe von Pilgern, die eiben
von Rom kommen und das Wunder des ergrünten Stabes des un-
erbittlichen Bischofs als Zeichen der Gnade verkünden. Dieses
Alleluja überströmt uns durch seine erhabene Feierlichkeit und
seinen strahlenden Glanz wie mit himmlischer Erquickung.
Die Liebenden, deren Geschick wir mit so ängstlicher Spannung
verfolgten, haben aufgehört zu leben : das Übermaß des Schmerzes
hat beide getötet. Doch sobald das große Drama vor unseren Augen
vorübergezogen ist und nur noch in unserem Herzen nachzittert,
ist unsere Seele getröstet. Beruhigt sind die Schmerzen, die es ver-
ursachte. Wir glauben das duldende Paar, nun Elisabeths Gebet
Erhörung fand, im Besitz einer unverlierbaren Glückseligkeit. Wir
fühlen, beinahe greifbar, wie man sich rettet, indem man sich ver-
liert: so überwältigend ist die Kraft des religiösen Aufschwungs im
Finale der Oper.
Auf diese Weise, mit Hilfe der gebieterischen Hoheit der Kunst,
den Geist eines frivolen Publikums über die seiner Phantasie ge-
wöhnlich gezogenen Grenzen hinauszuheben und in ihm kraft hin-
reißender Ausdrucksgewalt aus Trauer Befreiung und Freude er-
stehen zu lassen : ist das nicht einer der schönsten Siege, nach dessen
Ruhm zu streben Dichtern und Künstlern verliehen ist? . . .
46 Tannhäuser.
IV.
Die Verhältnisse der Oper sind sehr glücklich getroffen. Sie ist
weder zu kurz für das Sujet, noch zu lang für das Publikum. Die
Szenen sind gut eingeteilt, und obgleich weit ausgesponnen, ermüden
sie keineswegs durch unnützes Ausdehnen der Situationen. Die
Einzelteile sind im Interesse der Gesamtwirkung gruppiert, woraus
ein harmonischer Eindruck hervorgeht. Eine derartige Struktur
ist im aligemeinen nur das Vorrecht solcher Werke, deren verschie-
dene Teile gleichzeitig mit der Grundidee, also unter der Gewalt der
ersten Begeisterung ausgearbeitet und vollendet worden sind.
Gerade hierdurch wurde ihnen die exakte Verbindung untereinander
bewahrt, die eine der notwendigsten Eigenschaften ist, um großen
Konzeptionen die Anziehungskraft zu sichern. Oft geht während zu
langer Arbeit die Genauigkeit dieser Verbindung verloren; denn
leicht gibt sich der Künstler an irgend eine der Nebensachen hin,
die er auf Kosten der allgemeinen Harmonie vergrößert. Auch sind
die Werke selten, die dem ersten Erguß des poetischen Gefühles ent-
strömen und wie Minerva fertig, in Wehr und Waffen dem Geiste
ihres Schöpfers entsprungen sind. Um dieselben hervorzubringen,
bedarf es eines glücklichen Zusammenfreffens von tausenderlei
ebenso unentbehrlichen als seltenen Umständen. Mit ihrem Schaffen
ist es, wie mit dem Entstehen der Diamanten, das sich nach Be-
dingungen vollzieht, welche sämtlich der Wissenschaft zwar bekannt,
aber so außerordentlich schwer in Übereinstimmung zu bringen
sind, daß der Zufall noch immer die Bildung dieses wunderbaren
Edelsteines beeinflußt.
Wer es vorzieht, Partituren vom rein technischen Standpunkte
aus zu beurteilen, wird die des „Tannhäuser" mit besonderer Auf-
merksamkeit lesen. Sie ist gelehrt geschrieben; iHr harmonisches
Gewebe ist fest, kompakt; das Relief der Melodien ist ausgeprägt,
die instrumentale Verteilung äußerst geschickt; tonmalende Effekte,
sowie das haushälterische Benutzen einzelner Instrumente, sind mit
Besonnenheit und gutem Geschmacke behandelt. Ihre Ausführung
verlangt die äußerste Präzision, ein feines Zusammenstimmen der
Nuancen, sowie ein gutgeschultes und schmiegsames Orchester,
Tannhäuser. 47
das von der leisesten Bewegung des Taktstockes seines Dirigenten
beschleunigt oder zurückgehalten, schwächer oder stärker wird. Sie
verlangt eine Begeisterung, die über der Tonmasse schwebt, wie
der Hauch der Luft über großen Gewässern, deren Fläche er bald
unmerklich leise erzittern, bald sich erheben läßt zu brandenden,
donnernden Wogen.
„Wie viele Noten!" sagte Kaiser Joseph II. zu Mozart, als er
eine seiner Opern zum erstenmal hörte. „Wie viele Noten I" könnte
man auch ausrufen beim Anhören der Oper Wagners. Aber wie
Mozart, so hätte auch Wagnex das Recht zu antworten: „Nicht
eine zu viel!"; denn er gestattet weder dem erregten Zuschauer,
noch dem aufmerksamen Musiker, auch nur einen einzigen Augen-
blick gleichgültig und ermüdet zu. sein. Nichtsdestoweniger ist
dieses Werk von so erhabenem Charakter, daß es eine gewählte, die
ernsten Schönheiten der Kunst würdigende Zuhörerschaft verlangt,
die gewohnt und befähigt ist, ihnen die volle Aufmerksamkeit, die
sie fordern, zu widmen. Wenn es erst bekannter sein wird, wird
man das Skelett dieses schönen Werkes zerlegen und nicht verfehlen,
alle seine Glieder zu zählen. Doch wird eis noch einigen Widerspruch
zu überwinden haben, ehe es unwiderrufliche Anerkennung findet.
Es läßt sich nicht verkennen, daß sein deklamatorischer Stil
diejenigen, welche in der Kunst des Gesanges nur die Virtuosität
der Kehle anerkennen, verletzen wird, und daß diese vortreffliche
Gründe geltend machen werden, um gegen deren Verbannung von
der Bühne zu protestieren. Aber man kann ihnen erwidern, daß,
wenn auch Rouladen und Vokalisen hier keinen Platz finden, es in
der Kunst verschiedene Manieren gibt, von denen jede ihre Ent-
wickelung verfolgen kann, ohne dabei zu verlangen, daß eine gegen-
seitige Verbannung oder Vernichtung damit verbunden sei.
Die Freunde leichter Arien, Cabaletten, Ritornelle, die man so
bequem beim Verlassen des Theaters nachträllern kann, werden
nur eine magere Ernte im „Tannhäuser" finden. Mit Ausnahme
des von Wolfram gesungenen Liedes an den Abendstern, das einen
ebenso großen Erfolg wie die Lieder Schuberts erreichen kann,
sowie des großen Marsches im zweiten Akte, der sich sehr für Militär-
musik eignet, lassen sich vielleicht keine anderen Stücke vorteilhaft
48 Tatinhäuser.
aus der Partitur herausnehmen. Alles fügt und verkettet sich in
dem dramatischen Knoten; alles strebt namentlich dahin, die
Charaktere der Personen zu zeichnen.
Und hierin scheint Wagner mit seiner individuellen Auffassung
der Oper einen weit besseren Erfolg zu haben als seine Vorgänger.
Er will, daß in der Musik geradeso wie in der TragOdie die Charaktere
gewissenhaft studiert werden, daß die Gespräche und Handlungen
der Personen wahr erscheinen, sich mit Konsequenz folgen und ein
treues Bild des menschlichen Herzens darbieten.
Um diese Treue zu erreichen, scheut er keine Arbeit, ja er ver-
birgt sie zuweilen in so feinen Zügen, daß sich befürchten läßt, sie
könnten manchem Auge unbemerkt bleiben. So beispielsweise nach
der ersten Begegnung Elisabeths mit Tannhäuser. Hier nimmt in dem
Augenblick, da dieser sie verläßt und sie, um ihm noch ein Liebefr-
zeichen zu geben, sich dem Fenster nähert, das Orchester eine der
anmutigsten Stellen ihres Duo kurz wieder auf, nämlich die, wo sie
ihm freudig für seine Rückkehr dankt. Befriedigt in dem Bewußt-
sein, daß ein Wunder ihn ihrer Liebe zurückgegeben, glaubt sie zu
fest an ihn, um in sein Schweigen dringen, ja nur versuchen zu wollen,
das Geheimnis zu lüften, das dieses Wunder bewirkt.
Viele derartige Feinheiten würden sich anführen lassen, doch
wollte man ihrer keine übergehen, so müßte eine Erklärung fast
aller Gespräche folgen. Der Dichter hat es verstanden, dem Räume,
über den er zu verfügen hat, selbst bei den engsten Grenzen jeglichen
Vorteil abzugewinnen. Er hat es verstanden, die prosaischen Verse
zu vermeiden, die häufig notgedrungen der Entwickelung der Hand-
lung entspringen. Nirgends ermangeln die Verse in dieser Oper der
erhabenen oder notwendigen Gedanken. Diejenigen, welche während
der Musik den Text nachlesen, werden die exzeptionellen Eigen-
schaften zu würdigen wissen, die hier nur angedeutet werden können,
weil sie sich der Aufgabe eines einfachen Berichtes entziehen.
Doch liegt es nahe zu fragen: „liegen diese so zarten Gefühls-
wendungen im Bereich des Dramas?'' — Wir gestatten uns nicht,
darüber zu entscheiden. Wer würde der entzückenden Feinheit der
Blumen eines van Huysum oder dem Baumschlag eines Berghem
seine Bewunderung versagen? Bedarf es auch einiger Mühe, sich
Tannhäuser. 49
ihnen hinreichend zu nähern, um sie in ihrem vollen Lichte be-
trachten zu können: wer von denen, die das Schöne lieben, suchen
und finden, würde sich dieser Mühe entziehen?
Man kann nicht umhin zu bemerken, wie vorteilhaft für die
Inszenierung dieser Oper das ihr zugrunde liegende Phantastische
der Sage ist. Man möchte glauben, es sei für die Bühne erfunden.
Ohne zu große Ansprüche an die Wunder des Maschinisten zu stellen
oder die Dekoration einem so häufigen Wechsel zu unterwerfen,
daß die Augen schließlich mehr als die Ohren beschäftigt sind, eignet
es sich dennoch zu vielen optischen Effekten. Das Innere der Venus*
grotte, die ihr folgende FrühUngs- und Morgenlandschaft, die in
derselben Gegend spielende Nachtszene, wo man die Gestalt Wolf-
rams von der des die Leiden seiner Pilgerfahrt erzählenden Tann-
häuser kaum unterscheiden kann, die plötzliche und rasch vorüber-
gehende Erscheinung der Zauberhöhle im Innern des sich teilenden
Berges können ebenso wie die Architektur des noch auf der Wart-
burg befindlichen Saales Stoff zu schönen Gemälden geben.
Den neuen und scharfen Kontrast, der in der Zusammenstellung
des antiken Kostümes mit dem mittelalterlichen liegt, wird man
bereits bemerkt haben« Die Phantasie, welche die schönen Zeich-
nungen eines Fl ax mann, dessen Stichel uns mit den Umrissen
der schönen Göttin vertraut gemacht, neu belebt vor sich zu sehen
glaubt, vermag nur mit Mühe dieser Elisabeth den Namen einer
Heiligen zu versagen, die aus den Malereien eines Legenden-Manu-
skripts ihrer Epoche zum Leben erstanden zu sein scheint.
Zu den großen Vorzügen der Tannhäuser-Dichtung ist ebenfalls
zu rechnen, daß sie zu denen gehört, bei welchen das Gute und das
Böse, sich personifizierend, nicht nur ein lebendigeres Interesse ge-
winnen als bei anderen Operndichtungen, sondern auch beständig in
gewissem Sinne, wie das Gute und das Böse selbst, vor den Ein-
flüssen der Zeit, vor langwierigen Wiederholungen, vor den Ver-
änderungen des Geschmackes und der poetischen Konzeptionen ge-
schützt sind, daß sie mit anderen Worten ihre Vorzüge aus dem
Nichtvorhandensein einer ausgesprochenen Intrige geschöpft
und den Knoten nicht durch die Verschlingungen der niedrigen und
aft . abgenutzten Triebfedern geschürzt hat. Die Begebenheiten
LUzt, Gesammelte Schriften. IL V.A. 4
50 Tannhäuser.
entströmen hier unmittelbar ihrer ersten Quelle: dem menschlichen
Herzen* Stets durch den selbsttätigen inneren Trieb erzeugt, ent-
wickeln sie sich aus diesem notwendig und fatalistisch, doch nie
unter dem Drucke der List, nie der Falschheit erliegend.
Durch das Fehlen und in zweiter Linie Stehen der Werkzeuge
des Verderbens, auf welche die erste Schuld und das schnellfertige
Urteil zurückfällt, werden wir zu einer eingehenderen und tieferen
Untersuchung der Hauptcharaktere, zu einer mehr motivierten Ver-
teilung unserer Bewunderung, unserer Sympathien, unseres Tadels
gezwungen. Da kein Vermittler zwischen dem Irrtum und dem
Unglück des Menschen besteht, so folgen die Konsequenzen gebie-
terisch ihren Prämissen, und tief ergriffen verfolgen wir diese von
Leidenschaften durchlaufene Bahn — Leidenschaften, 'die sich nur
am Gegner von gleicher Natur, von gleicher Größe entzünden und
nur mit Gefühlen kämpfen, die denselben Regungen des Herzens
entsprungen sind.
Die Nebenpersonen, weit entfernt, eine Verwickelung gemeiner
Interessen und niedrigen Hasses darzubieten, zeigen sich im Gegen-
teile von Gefühlen beseelt, die selbst in ihrem Übermaße erhaben
bleiben. Diese Anordnung des Dramas gibt seiner ganzen Dar-
stellung etwas eigentümlich Edles. Man atmet frei in so guter und
ehrlicher Gesellschaft, wo die heftigsten Leidenschaften und die
beweinenswertesten Vergehen keineswegs aus niedriger Gesinnung
und rohen Begierden hervorgehen. Wir wissen wohl, daß wenige
Sujets solche Vornehmheit aufweisen, und daß es zurzeit vielleicht
unmöglich wäre, dieselbe von einem nichtmusikalischen Stücke zu
verlängern
Im Altertume vermochte die Schilderung großer Affekte sowie
die Schönheit der Sprache, wenn von einem begeisterten und fähigen
Darsteller vorgetragen, schon an und für sich eine herrliche, mit
Beifall gekrönte Tragödie zu schaffen. In unserer Zeit wäre sogar
der Musik ein ähnlicher Erfolg kaum erreichbar, und gewöhnlich
wagt sie es nicht einmal, sich auf solche alleinige Verdienste zu be-
schränken. Indem sie auf der Bühne stets die verschiedenen Re-
gungen des Herzens am unmittelbarsten zum Ausdruck bringt,
fürchtet sie sich mehr und mehr, das Schauspiel allein, ohne Jene
Tanhhäuser. 51
Hilfsmittel auszufüllen» die ihren Reiz für die Menge erhöhen, indem
sie die Neugierde und Überraschung derselben anregen und unauf-
hörlich — selbst im Notfalle künstlich — das Vergnügen der Ab-
wechslung nähren. Es ist daher ein Werk um so freudiger zu
begrüßen, je mehr es allen Erwägungen der Gegenwart und des
augenblicklichen Erfolgs femesteht und in dem gewissenhaften und
selbstlosen Streben nach dem Schönen um des Schönen willen ent-
worfen worden ist.
Die Mythe der Frau Venus charakterisiert in einer schlagenden
Weise das Nebelhafte der germanischen Phantasie. Wenn die letztere
in ihren Träumen wagt, sich jener poetischen Sinnlichkeit hinzu-
geben, welche den mythologischen Fiktionen, den Oden Anakreons
entströmt, in denen tropfenweise Rosenessenzen, Liebestränen und
Wein von Skio gemischt destilliert sind, oder welche die Verse
Sapphos aushauchen, die zart sind wie Küsse, die der Abendwind
'den Saiten der Lyra entlockt, so wagt sie nicht anders sich den ge-
träumten Genüssen hinzugeben als im geheimnisvollen Dunkel
irgend einer verborgenen Höhle. Welche andere Nation würde die
sinnliche Leidenschaft und die Wonne gestillter Begierde so der
liebkosenden Sonne, des Gottes, von dem fern die Musen schweigen,
der lauen Küsse des Zephirs beraubt haben?
Es bedurfte des unzerstörbaren Spiritualismus des deutschen
Geistes, um instinktmäßig die Datur von diesen unlauteren Freuden
zu trennen und ihre keuschen Schönheiten vor der Berührung
schamloser Sinnlichkeit und vor zynischer Entweihung zu bewahren.
Wagner hatte^ als er diese im Staube alter Chroniken verborgene
Legende hervorsuchte und sie zum Stoff seiner Dichtung wählte,
eine glückliche Hand, ähnlich wie alle, die ihr Glück nehmen, wo
sie es finden, weil sie eben Glück im Finden haben.
Die naive Kühnheit und volkstümliche Eigenart dieser Sage
lieferten Wagner eine noch unbenutzte Form, durch welche er der
Unbequemlichkeit unvermeidlicher Vergleiche entging. Er verstand
einen Stoff zu verjüngen and einen Gedanken wieder aufzunehmen^
der schon öfters von Meisterhand und aus mehr als einem Gesichts-
punkte behandelt worden war. Die OriginaUtät dieses Entwurfs
erlaubte ihm, sein Sujet zu betrachten, als hätte er noch keine
4*
52 Tannhäuser.
Vorgänger gehabt; sie erlaubte ihm femer, sich zu den Regionen
eines noch unentweihten Symbolismus zu erheben.
Es ist ein gewagtes Unternehmen, sich au! den schwankenden
Sprossen der Allegorie zu den höchsten Höhen erheben zu wollen.
Wagner hat sich auf ihnen erhalten. Mit außerordentlicher Ge-
schicklichkeit folgteer der gegebenen Linie und wandelte die schmale
Brücke, welche die Poesie zwischen Tatsache und Mythe zu schlagen
imstande ist. Er hat seinen Personen genug des zum Dr^ma erfor-
derlichen Lebens verliehen und hat ihre Konturen genugsam von
Nebel umspielen lassen, so daß jeder Verständnis Entgegenbringende
seine eigenen Züge hineinzeichnen konnte. So hat er das Mittel ge-
funden, in neuer Weise das geheime Band, das wirre Gefühle an
sinnliche Begierden knüpft, anzudeuten, und hat den unschätz-
baren Vorzug gehabt, sich der Notwendigkeit entziehen zu können,
in welcher man sich bis dahin stets befand, wenn man den Typus
des Lüstlings nur durch die Vielfältigkeit seiner Liebschaften charak-
terisieren zu können meinte.
In Wagners Gedicht erscheint uns die Sinnlichkeit nicht mehr
unter den Bildern, welche der Leidenschaft als Vorwand dienen,
sondern wie die fleischgewordene Leidenschaft selbst, die sich zu-
gleich Zweck und Gegenstand ist. Infolgedesssen sind wir hier von
dem obligaten Gefolge ungereimter Namen, von der Liste von »mille
e tre « befreit, die in ihrer geschmacklosen Gespreiztheit und dummen
Eitelkeit alles das raubt, was es Großes, Melancholisches und Er-
habenes in dem ungeduldigen Sehnen nach unmittelbarer Seligkeit
geben kann — einem Sehnen, von dem einige reich begabte Organi-
sationen, die niemand wagen würde mit gewöhnlichen Lüstlingen
zu verwechseln, verzehrend durchdrungen sind. Dank dieser Wieder-
belebung der allegorischen Schönheit der Venus sind wir der ge-
meinen Einzelheiten, der Lokalfarben, der Sittenschilderungen,
dieses ganzen Ballastes mikroskopischer Tatsachen enthoben,
welche, sooft eine von diesen unseligen Gluten beleuchtete Ge-
stalt auf der Szene, im Gedichte oder im Romane wiedergegeben
wurde, unvermeidlich das Gemälde überluden und seinen poe-
tischen Eindruck durch Übertreibung der malerischen Wirkung
erstickten.
Tannhäuser. 53
Es ist gewiß, daß diese Details, diese bunten Anekdoten, diese
Lokalfarben, diese Einzelzüge der Sitten dazu dienen, die Ergötz-
lichkeiten zu unterhalten, die geistreiche und amüsante Erzähler
hervorzurufen suchen. Aber unwürdigerweise berauben sie die in
ihren unheilvollen Genüssen so viele Qualen bergenden schmerzlichen
Freuden ihres verhängnisvollen Wesens, ohne daß diejenigen,
welche sich ihnen hingeben, die Ansprüche auf unsere Teilnahme
verlieren, die sie stets siegreich in Anspruch nehmen werden, so-
lange das Leiden die geheime Gefährtin ihrer Delirien bleibt, so-
lange sie im Jagen nach einer unerreichbaren Befriedigung durch
das Gefühl eines niegefundenen Ideals angespornt werden« Es gibt
kein noch so hohes Gesetz, kein noch so niederschmetterndes Urteil,
das ihnen den unstillbaren Reiz des Sehnens rauben könnte. Sie
werden ihn bewahren, solange in ihren Herzen der erhabene Kampf
währt, den Wagner in der großen Szene, wo sich Tannhäuser von
der Venus losreißt, geschildert hat. Denn wer sagt uns, daß die
Alcibiades, die Cäsars, die Don Juans, eingeschlossen in einem un-
überschreitbaren Kreise unbefriedigter Wünsche, nicht mehr denn
einmal Freiheit! ... in dem Augenblick gerufen haben, „wo sie
die besangen, die sie doch fliehen wollten l'*
Um jedoch diesen furchtbaren, von kraftvollen Seelen zu er-
reichenden Moment zu seiner höchsten dramatischen Größe zu er-
heben, um die Hindernisse zu besiegen, welche seiner künstlerischen
Darstellung der Kontrast entgegenstellt, der sich zwischen der Un-
freiheit der begehrenden Leidenschaft und der Herrschaft des Willens
über die Handlungen gestaltet, bedurfte man einer Vereinfachung
der sie inszenierenden Mittel, mußte man weniger wirklich als wahr
sein, war man genötigt, die Strahlen der Leidenschaft, welche man
bis dahin auf eine Masse von Gegenständen verteilte, in einem
Brennpunkt zu sammeln, so wie sie im menschlichen Herzen ver-
einigt sind. Gezwungen, jeden der Strahlen getrennt vom anderen
sich brechen zu lassen, konnte man sich nicht von der Verviel-
fältigung der notwendig in zweiter Linie stehenden Personen dis«
pensieren — Farasitengeschöpfe, welche auf eine undankbare Weise
unsere Aufmerksamkeit ablenkten, indem sie uns ein nur stumpfes
Interesse einflößten, uns rührten, ohne uns^^zu fesseln, und alles
64 Tannhäusen
inneren Wertes bar unseren Geist unentschieden zwischen Mitleid
und Geringschätzung ließen.
Das Genie weist und stößt selten gewisse Wirlcungsmittel, so
wenig sie ihm auch zusagen mögen, zurück, ohne sie nicht sogleich
durch andere, die es nie verfehlt zu entdecken, zu ersetzen«
Wagner, mehr bestrebt, den Lauf der Leidenschaften, als die von
ihnen herbeigeführte Entwickelung darzustellen, hat die Begeben-
heiten vereinfacht und die Darsteller im Drama vermindert, hat
aber zum Ersatz gewissermaßen den Schwung ihrer Seele verkörpert,
indem er ihn in der Melodie inkamierte. Mit dem „Tannhäuser" hat
er eine überraschende Neuerung in die Oper eingeführt, durch welche
die Melodie nicht nur gewisse Erregungen ausdrüclct, sondern auch
darstellt, und zwar dadurch, daß sie stets in dem Moment, wo die-
selben wieder auftreten, zurückkehrt, indem sie sich im Orchester,
unabhängig vom Gesänge auf der Bühne, oft mit Modulationen
wiederholt, welche die Abstufungen der Leidenschaften, denen sie
entspricht, charakterisieren K
Diese Art der Wiederaufnahme der Melodie veranlaßt nicht
allein eine rührende Rückerinnerung: sie enthüllt uns auch, sie ver-
ratend, die Rückkehr der Erregungen, Kaum hindurchschimmernd,
solange diese Eindrücke noch unbestimmt schweben, entfaltet sie
sich energisch, sobald sie mit größerer Kraft wieder auftreten.
Wir haben es nicht unterlassen, die vorzüglichsten Stellen an-
zugeben, wo Wagner diese Neuerung angewendet hat — eine
Neuerung, so fruchtbar, daß sie eine neue Quelle der Effekte werden
und der musikalisch-dramatischen Kunst ein Interesse mehr hin-
zufügen wird. Was kann uns mit den Personen, deren Schicksal zu
betrachten wir uns versammeln, besser vertraut machen, als wenn wir
ihre Empfindungen gleichsam mit ihnen teilen? Und welche andere
Kunst könnte uns gleicherweise mit ihrer Unruhe, ihren Aufregungen
verbinden als die Musik? welche ihr Gehen und ihr Kommen uns
enthüllen? welche die süßen Schauer der Leidenschaft, die Herzens-
^ Das in der Entwickelung begriffene Leitmotiv- System, für welches
man damals diese technische Bezeichnung noch nicht gefunden hatte.
D. H.
Tannhäuser. 55
angst und Beklemmung, die im Geleite des Schmerzes sind, uns so
nachempfinden lassen?
Die Poesie gibt diese Erregungen wieder, wenn sie sich bereits
in unserem Verstände zu Gedanken verdichtet haben und diese in
gegliederten Sätzen zutage treten. Die Musik, in bezeichneter Weise
angewendet, entdeckt uns das Sich-verbreiten und Vertiefen der
Erregungen, ohne daß sie noch gesprochen haben.
Oder gibt es seelische Erregungen, welche dem Schweigen mehr
Schönheit, mehr Erhabenheit verdanken? Würde uns eine Elisa-
beth, die vor die Rampe tritt, um in einer großen Arie ihre Trost-
losigkeit auszudrücken, so rühren, wie sie es tut, wenn sie dem
Wolfram mit einem Wink das Recht versagt, Zeuge ihres Schmerzes
zu sein, und wir zugleich im Orchester den Schatten der traurigen
Erinnerungen vorüberhuschen hören, die in diesem Augenblicke
auf sie eindringen? Wie müßte man die unerschöpflichen Hilfs-
quellen der Kunst, die stets neue Weisen findet und sie in so vielge-
staltige Schönheit kleidet, nicht bewundern? Werden wir denn nie
die kleinliche Neigung überwinden, ihr Grenzen ziehen, sie in diesen
oder jenen Kreis einschränken zu wollen? Befreien wir sie darum
von einem Joche, um ihr ein anderes aufzubürden? Wann werden
wir endlich erkennen, daß es eitel ist, sie von irgend einer ihrer
Offenbarungen zurückhalten zu wollen?
Wie die Natur, umfaßt die Kunst in ihren Gesetzen die verschie-
densten Gebiete, Entwickelungen und Verfahrungsweisen. Das
Wandelbare und das Bestehende gehören ihr gleicherweise an. Wie
die Natur vervielfältigt sich die Kunst durch beständige Umge-
staltungen, die selbst dann sich fortsetzen, wenn ihr Erscheinungs-
leben erstarrt ist. Sie erwacht, sie erneuert sich nach momentanem
Verfall. Sie erhebt sich unter neuen Gesichtspunkten. Begrüßen
wir ihren Frühling, ohne mit Klagen und Trauern beim vergangenen
Herbst zu verweilen, ohne weder die Bäume, deren Laubwerk der
Frost verschonte, noch die bescheidenen Blüten des Mooses zu ver-
achten, die leicht geschützt dahinlebten und ihren Duft bewahrten,
der, so zart er ist, dennoch dazu beiträgt, unsere Atmosphäre zu
durchwürzen.
56 Tannhäuser.
Der Apostel der Liebe hat gelehrt, daß drei Gefahren, drei Ab-
gründe dem Menschen drohen und unter seinen Füßen sich öffnen:
die Fleischeslust, die Augenlust und hoffährtiges Leben.
Führt ihn nicht zu allen dreien ein und dieselbe Hoffnung hin? die
Hoffnung, auf dieser Erde einen unbedingten Genuß zu finden? sei
es in den Freuden, weiche Liebe heucheln, indem sie doch Selbst-
sucht an Stelle der Herzenshingabe setzen, sei es in der Spießbürger-
lichkeit, die leicht zu erreichende Speisen behäbig hinunterschlürft,
sei es in der Größe der ehrgeizigen Intelligenz, welche über die Tat-
sachen herrscht oder sich die Geheimnisse des Unbekannten mit
Hilfe der Wissenschaft erobert? Diese eine Hoffnung — eine drei-
fache Hekate, schöne und grausame Eumenide — stellt sich in der
Tat allen Augen unter einer dieser dreifachen Gestalten dar: als
verführende und trügerische Sirene, als täuschendes Irrlicht, als
glänzende und schreckliche Chimäre.
Von den drei Leidenschaften, welche in diesen drei Gestalten
vergöttert werden, kann die Musik das Tragische derjenigen am
besten schildern, die, indem sie unserem Ohre den süßen Namen
der Liebe zuflüstert, uns den. Flammenbecher darreicht. Sie hält
uns in höheren Gefühlssphären, wohin sie uns besser als irgend eine
andere Kunst auf Sturmesflügeln zu tragen oder auch zu entführen
vermag bis zu den Grenzen des Äthers, ja bis zu den Pforten des
Himmels, die wir sie überschreiten lassen.
Die Musik ist darum nicht nur zu dem Versuche berechtigt, dieses
Aufstreben der Seele auszusprechen, sie darf auch eine gewisse Über-
legenheit beanspruchen, die verschiedenen Phasen der Liebe durch
Werke zu offenbaren, die bedeutend genug sind, um unter den
schönsten Konzeptionen des menschlichen Genies eine Stelle einzu-
nehmen. Unter den an Umfang und Form so verschiedenen Werken,
die bestrebt sind, die Freuden und Qualen der Liebe durch Musik
auszudrücken, wird die Oper „Tannhäuser" stets eine der merk-
würdigsten bleiben, sowohl durch die Superiorität ihrer musikalischen
Inspiration, ihrer neuen Verfahrungsweise, als durch die darin
verwandten praktischen Kunstmittel, ihre bewundernswerte Ver-
teilung der Effekte, sowie den großen Reichtum des Stils und der
Ideen.
Tannhäuser. 57
Wagner hat sich enthalten, übernatürliche Schrecken zu be-
rühren und die Strafe da eintreten zu lassen, wo sie den Irrtum bis
zum Laster erniedrigt oder die Verblendung mit der Korruption ver-
bunden hätte. Er hat sich von abgedroschenen Moralitäten fern-
gehalten und mit fester Hand verstärkt, was wir die philosophisch-
poetische Tragweite seines Sujets nennen möchten.
Der Mensch, der in der ungewissen Nacht seines Daseins sich
noch nicht durch eine plötzliche Divination zum Licht der Wahrheit
gewandt, wird nicht — ein unglückseliges Opfer! — ohne Erbarmen
und vielleicht ohne Gerechtigkeit durch sie vernichtet. Eine uner-
wartete Offenbarung nähert einander, was sich gegenseitig gesucht,
und in Wirklichkeit läßt sich sagen, daß die Wahrheit den Menschen
ebensosehr sucht, als sie von ihm gesucht wird, und daß, wenn sie
sich einerseits seinen Verfolgungen entzieht, sie andererseits oft an
ihm vorübergeht, ohne daß er sie gewahrt.
Hier, im „Tannhäuser", sieht man nichts von den Schrecken einer
ewigen Verdammnis, nichts von der Phantasmagorie einer Feuer
und Schwefel regnenden Hölle, — dafür ist dieses Werk vielleicht zu
sehr von dem Atem unseres Jahrhunderts durchdrungen. Und trotz-
dem 1 Welche Schmerzen könnten noch die Qualen des großen
Sünders vermehren? Sie sind in solchem Maße gegeben, daß keine
absurden Dekorationen, kein Fehler des Maschinisten, keine Knau-
serei des Feuerwerkers imstande sind, die Wirkung der unsäglichen,
sich während seiner langen Agonie kundgebenden Schmerzen zu
neutralisieren. Man könnte glauben, diese Qualen seien dem eigenen
Herzen entrissen und nackt und blutend vor unseren Augen hin-
gestellt!
In der Handlung seines Dramas hat Wagner, wiie in dem
Drama seiner Ouvertüre, das religiöse Prinzip keineswegs als eine
starre Antithese gegenüber dem Heilsbedürfnis, dem Erinnern und
Hoffen auf Glückseligkeit dargestellt, welche zuweilen im mensch-
lichen Herzen in so fremdartige Metamorphosen ausarten und sich
unter einem wunderlichen und unerwarteten Äußern verbergen. Er
hat dasselbe durchaus nicht als eine Autorität gegeben, die sich an
willkürlichem Herrschen ergötzt, um alle Wünsche und alles Sehnen
unserer Natur um so leichter zügeln, ihre edle Glut^um so schneller
58 Tannhäuser.
abkühlen und das Erbeben der Furcht, die passive und entnervte
Unterwerfung um so gewisser einflößen zu können. Er hat im Gegen-
teil das religiöse Prinzip als den wahren Gegenstand des Rufes der
Seele erscheinen lassen» als die Quelle, welche jeden Durst stillt, als
den Schatz, welcher die Mittel in sich birgt, alle Begierden zu löschen.
Er hat es wie eine unermeßliche Synthese hingestellt — einen Riesen-
Akkord, iii welchem sich alle Dissonanzen lösen, keine Saite der
Seele stumm bleibt, in welchem sich alle berühren, nicht um zu
zerreißen, sondern um widerzuklingen in einer ungeheuren Har-
monie.
Wenn Wagner dieses Prinzip tätig einschreiten läßt, bewaffnet
er es nicht mit rächendem Fluche — er läßt es nicht auftreten wie
die monströse Geißel einer Zerstörung bringenden Plage. Unter
seiner Feder läßt es sich nie, selbst wenn es mit den ihm feindlichen
Elementen kämpft, von dem Hasse und der Erbitterung des Kampfes
anstecken. Anfangs tritt es mit einer erhabenen Einfachheit auf;
dann, wenn es wiederkehrt, um so gewaltsame Empörungen zu
dämpfen, verliert es nichts von seiner ernsten Milde. Es wächst,
wird immer deutlicher, immer majestätischer, gebieterischer, dabei
unveränderlich bleibend wie das Licht, das die Finsternis durch-
dringt, — ein strahlendes Licht, welches das Weltall vergoldet,
ohne befleckt von irgend einer Berührung an seinem Glänze zu ver-
lieren. Endlich herrscht, überwindet, triumphiert es, alles nieder-
schmetternd, ohne die Pracht seines Sieges durch den Hader der
Erzürnten oder durch die Strenge eines unversöhnlichen Strafers
zu verdunkeln.
Dieses religiöse Prinzip, dieses weitstrahlende Licht wird in der
Ouvertüre durch ein Thema wiedergegeben, das sich in der Oper
zum Gesänge der Pilger verdichtet. Vernimmt man diesen Gesang
in einem Augenblicke, wo sich der Geist widerstandslos der Illusion
überläßt, wo der Blick sich nicht mehr um die materielle Ökonomie
des Schauspiels, nicht um die Menge auf der einen Seite und um die
Bühnenvorrichtungen auf der anderen Seite kümmert, wo er sich
so ohne Rückhalt an die Kunst verliert, daß er wähnt, das „Unzu-
gängliche*' zu sehen, zu empfinden, zu erfassen, in einem jener
Augenblicke, welche für die Künstler die Visionen der offenen
Tannhäuser. 59
Himmel bedeuten: so hallt dieser Gesang in der Seele wider wie die
klagende, hoffende und sich sehnende Stimme der ganzen Mensch-
heit auf ihrer Pilgerfahrt nach dem großen Rom, dem mystischen
Rom, welches, seit seinem Entstehen, seine Oberpriester geheimnis«
voll und prophetisch mit dem Namen Eqmg bezeichnet — dem Ur-
quell schaffender, welterneuernder Liebe.
Wir alle, die wir als Pilger auf der Schmerzensbahn nach diesem
Rom wallen, vereinen unsere Seufzer mit diesem erhabenen Chore,
der unmittelbar von der Erde emporsteigt zum Himmeil
^^
LOHENGRIN
GROSSE ROMANTISCHE OPER
VON
R. WAGNER
UND IHRE ERSTE AUFFÜHRUNG IN
^ WEIMAR BEI GELEGENHEIT ^
f^ DER HERDER- UND f^
GOETHE-FESTE
1850
:^
38g:
G " ^
Schon im Jahre 1847, als Richard Wagner Kapellmeister des
Theaters in Dresden war, hatte er seine Oper „Lohengrin'' voll-
endet. Im Jahre 1849 verließ er diese Stadt, ohne daß er sein da-
maliges letztes Werk dort zur Aufführung gebracht hatte. —
Zu Anfang des Jahres 1850 beschäftigte man sich in Weimar
damit, den geeignetsten Zeitpunkt und die würdigste Weise fest-
zusetzen, um das Standbild Herders, das eben vollendet war, zu
inaugurieren.
Das mit diesem Auftrage betraute Komitee bestimmte den 25.
August — den Geburtstag Herders — zu dieser Feier.
Dieser Tag lag jedoch dem 28. August, welcher im vorhergehen-
den Jahre als der Tag der Säkularfeier der Geburt Goethes in ganz
Deutschland, besonders aber in Weimar, als eines der schönsten
Nationalfeste begangen worden war, zu nahe, um nicht daran zu
denken, bei dieser Gelegenheit zugleich die Erinnerung jener schönen
Feier durch eine derselben würdige szenische Manifestation zu be-
gehen.
Als man das Programm der beiden Festtage besprach, wurde
beschlossen, am 25. August Herders „Befreiten Prometheus'',
dessen Komposition uns anvertraut wurde, aufzuführen und am
28. August zum ersten Male Wagners letzte Oper „Lohengrin"
zur Aufführung zu bringen.
Diese merkwürdige Schöpfung bildete einen Glanzpunkt der
Festlichkeiten, die sich vom 25. bis zum 28. August verlängerten,
und fügte einen Namen mehr zu der langen Reihe glorreicher Namen,
die mit dem Weimars verknüpft sind. Dieser neue ruhmvolle Name
erbrachte daher in dem Augenblicke, wo man das erste Denkmal
einem jeher hervorragenden Männer setzte, die eine so glänzende
Kette bildeten, einen sicheren Beweis, daß diese Kette weder ge-
sprengt noch zerrissen sei. Durch diese doppelte und gleichzeitige
64 Lohengrin.
Inauguration des Standbildes Herders und der Oper Wagners
forderte Weimar den Genius der Zukunft auf, die Erinnerungen
einer glorreichen Vergangenheit nicht aufzugeben, und gab dieser
Vergangenheit zugleich einen befruchtenden Kultus, indem es seine
Gräber und seine Trophäen mit Leben und Jugend umwob, —
das einzige Mittel, sie vor dem Schleier zu bewahren, mit welchem
Arachne so gern sie umhüllt, sobald Schweigen sie umgibt, und der,
so leicht er auch sei, sie dennoch den Blicken der jungen Genera-
tionen entzieht, die sich überhaupt wenig um das bemühen, was des
Reizes gegenwärtigen Lebens entbehrt.
l.
Menschen, welche der Glanz ihres Genies und die Macht ihrer
Talente über ihre Mitmenschen erhob, so trefflich als „große
Menschen'' bezeichnet, waren zu aller Zeit der Gegenstand eines
Kultus, dessen Charakter und Form der Richtung und Bildungs-
höhe der Epochen entsprach, in denen sie lebten.
In der Kindheit der Völker trug dieser Kultus das Gepräge
religiöser Verehrung. Man glaubte, daß die so außergewöhnliche
Kräfte Offenbarenden schon ihrer Art nach über die Kräfte der
anderen Sterblichen gesetzt seien. Die jugendlichen Völker konnten
für diese glänzenden Erscheinungen, für diese launenhafte Frei-
gebigkeit der Natur, diesen scheinbaren Luxus der Schöpfung, der
doch eines ihrer ersten Bedürfnisse bildet, keine Erklärung finden.
Sie kannten nicht die Erfahrung, diese graukalte Göttin, der noch
niemand Weihrauch gestreut hat, und ohne welche dennoch unser
Geist zu traurigem Stillstand verurteilt bliebe. Infolgedessen waren
sie noch nicht des Farbenschmelzes lebendig jugendfrischer Phan-
tasie beraubt, die den Segnungen gewisser Mysterien des Daseins
eine noch wunderbarere Ursache als die unseres eigentlichen Daseins
zuschreibt. Da sie ohne Kenntnis des Wesens und der Tragweite
jener Kräfte waren, deren Folgen so augenscheinlich und doch so
unerklärlich sind, erhoben sie diese bevorzugten Wesen zu Ver-
mittlern zwischen sich und den Göttern und richteten, um sich
Lohengrin. 65
ihrer Gunst zu versichern, an sie ihre Gelübde, ihre Gebete und
Opfergaben. Ja selbst nach ihrem Tode setzten sie diese Verehrung
zur. Erhaltung ihres schützenden und wohltätigen Einflusses fort.
Doch, da man sie ebenfalls unter dem Elend unserer Hinfälligkeit
leiden sah, wagte man nicht, ihnen göttliches Wesen beizulegen: die
poetische Metapher der Völker nannte sie Halbgötter. Wie viele
Jahrhunderte später rechtfertigte ein christlicher Dichter dieses
primitive Vorgefühl durch das Wort, welches er nachsinnend über
eine dieser den anderen Menschen gegenüber so wunderbaren Er-
scheinungen aussprach: Das Genie zeigt ein stärkeres Ge-
präge (empreinte) der Gottheitl^
Später verlor diese Verehrung einer von kindlicher Dankbarkeit
getriebenen schüchternen und naiven Unwissenheit, die frei von
geizender Genauigkeit das Attribut weder wog noch maß, welches
Erkenntlichkeit oder Angst einem gesegneten oder gefürchteten
Namen beilegte, ihre abergläubische Übertreibung. Aber auch
Furcht und Schrecken mischten sich nicht mehr in die Gebete der
Bittenden und in die Opfer, welche sie denen darbrachten, in
welchen sie eine Macht erkannten, deren Grenzen sie jedoch nicht
ahnten. Dann, als die sozialen Verhältnisse sich mehr und mehr
durch ausgebildetere Institutionen ordneten und sich die indivi-
duelle Schwäche in der Gesamtkraft zu befestigen begann, fand jene
in dem Schöße der letzteren die Garantien für die eigene Sicherheit
immer weniger schwankend. Nun flüchteten sich die Völker nicht
mehr um hervorragende Menschen, wie in das Bereich eines schützen-
den Asyls. Man warf sich nicht mehr vor ihnen nieder wie vor über-
natürlichen Wesen; aber dem Grauen der Überraschung folgte eine
exaltierte Bewunderung, und man verherrlichte sie, indem man sie
Helden und Weise nannte. Ihre Handlungen wurden erzählt,
ihre Worte gesammelt, und das entzückte Erstaunen ihrer Zeit-
genossen vererbte den 4(ommenden Geschlechtern die Kunde ihrer
Taten. Von ihrer Größe ergriffen, gruppierte allmählich die Phan-
tasie des Volkes um ihr Andenken einzelne Taten und Begebenheiten,
welche ihren wirklichen Erlebnissen einigermaßen entsprachen. Sie
^ M a n z n i: n cinque Maggie. Ode auf Napoleon^ Tod.
Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 5
66 Lohengrin.
vervielfältigte so die Urkunden ihres Ruhmes und schuf ihnen ein
reich mit poetisch-allegorischen Reliefs geschmücktes Piedestal, auf
welchem sich das Bild ihrer Helden und Weisen, erhaben und
idealisiert, den Blicken der Nachkommen zeigte.
In dem Maße, als sich das von der Zivilisation entzündete Licht
verbreitete, der Standpunkt der Erkenntnis sich hob, Haß und Neid
auf die Männer der Erfindung und des Fortschrittes sich stürzten,
die Geschichte mit der einen Hand die Mythe von sich wies und mit
der anderen die Gerechtigkeit herbeirief, schwanden auch die auf-
richtig gemeinten Vergötterungen. Man verwarf das Wunder —
man glaubte nicht mehr weder an himmlische Abkunft, noch an
himmlische Offenbarungen — man erörterte kaltblütig die Ver-
dienste und begrenzte den Wert der Taten — man forschte nach
dem Beweggrund der Tugend und ehrte die Menschen von hervor-
ragenden und großen Fähigkeiten durch Denkmale, denen man
ihren Namen gab. So war nach dem Tempel die Dichtung gekommen,
die Dichtung wurde durch die Ehrensäule ersetzt, der lebenden An-
betung folgte der hochherzige Enthusiasmus, und dieser veränderte
sich in ein abstraktes Urteil.
Als die Menschen im Laufe der Zeiten aus ihrem Urzustände der
Ohnmacht und Unerfahrenheit zu dem Wissen des reiferen Alters,
zum Besitz ungeheurer moralischer und materieller Kräfte, zu einer
mächtigen Entwicklung der Zivilisation sich hinaufgeschwungen,
waren sie dermaßen von ihrem Interesse, ihrem Ehrgeize und ihrer
Verweichlichung in Anspruch genommen, daß in ihrem Dasein wenig
Zeit zur Bewunderung des Genies blieb.
Indes wehte ein neuer Hauch über die Erde. Die unter dem
Sporn einer unbekannten Begeisterung erschauernden Völker
trennten sich nicht nur nach verschiedenen Heimatländern, sondern
auch nach verschiedenen Religionen. Der religiöse Fanatismus er-
wachte und warf seinen Haß und seine Zwietracht auch auf die
Nationalitäten. Dieses Unglück, zum Fortschritt werdend, indem
es dem Gefühl ein Übergewicht über das materielle Interesse errang,
mußte notwendig den Zauber des Genies und des Talentes ver-
mindern. Man fuhr wohl fort, ihre Gaben zu benutzen, vernach-
lässigte aber den Dank, den man ihnen schuldete. Den Schreck-
Lohengrin. 67
nissen einer Verwirrung zum Raube, welche die Roheiten der neuen
Barbarei und die Verfeinerungen der alten Verderbnis gleich ent-
setzlich wiedergab, konnte das Mittelalter die Größe nur in der
Frömmigkeit sehen und wollte nichts anbeten als die Heiligkeit,
nichts bewundem als die physische Reinheit. Es sprach die
großen Könige heilig; es kniete auf den Gräbern der Märtyrer; es
bewunderte den keuschen Tapfern und schuf die Ritter des heiligen
Gral.
Wenn das Maß des Schmerzes übervoll ist; wird der Mensch
unempfindlich gegen alles, was ihm nicht unmittelbar Linderung
bringt, und kommen des Schicksals Schläge zu häufig, so kann weder
das Genie noch das Talent eine Linderung schaffen — so wirksam,
als die der Hoffnung auf das Jenseits. So war es im Mittelalter. In
diesem Gewirre so vieler entgegengesetzter Elemente, deren Gären
und Kochen dem Grunde dieses Chaos eine schönere Zivilisation
entriß, beschränkte sogar auf eigentümliche Weise die Gewalt der
Dinge die persönliche Gewalt der Souveräne. Das Genie hatte nur
wenig zu vollbringen: es konnte nur glänzen. Aber selbst der un-
sterbliche Glanz seiner Fackel sollte erst später erkannt werden.
Nur in den ruhigen Betrachtungen eines friedlichen Daseins war es
möglich, ihm die Huldigungen darzubringen, die man den Wohltaten
seines Lichtes, welches es über die Finsternis so vieler blutigen
Kämpfe verbreitet hatte, schuldig ^ar.
Als Ruhe diesen Kämpfen folgte, war es Sache aufgeklärter
Männer, die Vergangenheit zu erforschen, um die Genesis der Ver-
wirrungen und der Unfälle zu enträtseln, in deren Mitte die Ideen
und Probleme sich als irrende, leuchtende, auch als erlöschende
Sterne gedrängt und gestoßen hatten. Jenen Urkultus der „großen
Menschen" hatten sie, wenn auch nicht mehr in seiner grandiosen
und poetischen Mythologie, so doch in der gerechten Anerkennung
wiederherzustellen, welche diesen Erwählten, den Trägern und Ver-
mittlern der von der Vorsehung über die Menschen verbreiteten
Gaben und Wohltaten, gebührt — selbst dann gebührt, wenn sie
weder den Sinn ihrer geheimnisvollen Mission noch die Eigenschaft
der Früchte erkennen, welche die neuen Zweige tragen müssen, die
sie auf den alten Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu
5*
68 Lohengrin.
pfropfen berufen sind — auf diesen Baum, der uns so manches ge-
lehrt hat und dennoch so wenig Aufklärung gibt. .^ .
Von diesem Augenblicke an ging der bewundernde Impuls nicht
mehr vom Volke und von den geblendeten Massen, sondern von
dem gebildeteren, aufgeklärteren Teile der Gesellschaft aus. Der den
hervorragenden Menschen dargebrachte Tribut des Enthusiasmus
mußte sich notwendigerweise von dem fr&heren unterscheiden und
den Charakter eines anderen Gesichtspunktes annehmen.
Ehemals hatte man vor allem die Männer verherrlicht, welche
sich an die Spitze der Nationen gestellt und deren Macht nach
außen und Wohlfahrt nach innen gehoben hatten: die souveränen
Sieger und gesetzgebenden Fürsten, auch Männer, welche ihrem
Lande irgend eine wohltätige Entdeckung oder eine glückliche Er-
findung vermachten. Je mehr sich jedoch der menschliche Gedanke
der Analyse hingab, und je mehr er erwog, wie vorübergehend selbst
die Taten und Gesetze sind, denen die größte Zustimmung geworden,
je weiter das Gebiet der noch zu machenden Entdeckungen vor seinen
Blicken sich dehnte, um so mehr verurteilte er das schon Errungene
als vereinzelt und fragmentarisch. Seine Bewunderung und seinen
Enthusiasmus wandte er nun den Menschen zu, deren Beruf es war,
den Kreis der Ideen zu erweitem, die Gefühle des Schönen zu
beleben, einen höheren Aufschwung zu fördern, glückliche Verbesse-
rungen anzubahnen und das Streben nach dem Edlen anzuspornen.
Größen, die sonst nur sekundär erschienen, errangen sich hiermit
Rang und Platz neben denjenigen, die ursprünglich und ausschließ-
lich die Aufmerksamkeit der Völker auf sich gezogen hatten.
So sehen wir nun in unseren Tagen Männer der Tat und Männer
des Gedankens einen gleichen Teil an den Ehren nehmen, die eine
gerechte Pflicht dem einen wie dem anderen spenden heißt. Die-
jenigen, welche ein in seiner Art hervorragendes Verdienst zu wür-
digen imstande sind, vereinigen sich in dem Bestreben, für die
Männer, welche die ersten auf ihrer Bahn gewesen, ehrende Beweise
der Achtung zu finden. Die weniger gebildeten, aber durch den
Aufruf der Intelligenz aufmerksam gemachten Massen entsprechen
demselben mit Enthusiasmus und unterstützen freigebig jene edlen
Bemühungen. Dieser Doppeltätigkeit, dieser Übereinstimmung
Lohengrin. 69
opferfreudiger Begeisterung verdanken wir die schönen Denkmale,
die sich allerorten zur Erinnerung an die Männer erheben, welche
zur Ehre ihres Vaterlandes beigetragen haben. Und in regem Wett-
eifer möchte jede Stadt ein Zeichen der Dankbarkeit denen widmen,
welche einen Strahl des Ruhmes auf sie geworfen haben.
Will man in unserer Zeit ein solches Denkmal setzen, so bemerkt
man mit wenigen Ausnahmen, daß die Statuen der Männer, deren
Andenken man erhalten und volkstümlicher machen will, an dem
Orte ihrer Geburt, ihres Todes oder ihres gewöhnlichen Aufenthalts
errichtet werden — eine Art der Verherrlichung, welche den Vorteil
hat, daß sie gewissermaßen den kommenden Geschlechtern das per-
sönliche Dasein jener bevorzugten Wesen verlängert. Denn, indem
man den Marmor oder das Erz zwingt, ihre schönen Züge, ihre edle
Haltung festzuhalten und auf immer den Zeitgenossen wieder-
zugeben, scheint man sie gleichsam heraufzubeschwören zu ewigen
Zeugen der Ehren, die ihrem Genie, ihren Werken, ihren Verdiensten
gespendet werden, um auf immer durch ihre feierliche Gegenwart
teil an dem Geschick ihres Vaterlandes zu nehmen, durch ihr An-
denken seinen künftigen Ruhm zu heiligen und ihm in Gefahren
durch ihr Vorbild als Palladium zu dienen. Schwerlich dürfte sich
eine achtungsvollere und zugleich zartfühlendere Gedächtnisfeier
und geeignetere Weise finden lassen, um einem der Liebe zum
Ruhme, zum Schönen und Nützlichen geweihten und oft sogar ge-
opferten Leben die wohlverdienten und schuldigen Huldigungen
darzubringen.
Diese Bevorzugung eröffnet zugleich der Kunst des Bildhauers
eine reiche Quelle der Inspiration. Sie gibt ihm Gelegenheit, öfter
von der Sphäre des Gefühls und des Gedankens in die der Geschichte
zu treten und der Verkörperung bestimmter Ideen nachzugehen,
welche sonst nicht dem Meißel anheimfallen. Gezwungen, nicht nur
die Größe der Männer, die er den Jahrhunderten überliefern soll,
genau zu erkennen, sondern auch in ihr geistiges Wesen einzudringen,,
bis er gleichsam den Strahl auffängt, der sich über ihre Person er-
gießt, den Blick mit mildem, sanftem Widerschein belebt oder auch
den Konturen den Charakter gebieterisch lebendiger Bestimmtheit
aufdrückt, findet der Bildhauer, um zu der Menge zu reden, eine
70 Lohengrin.
Form, die er ihr vertraut, verständlich und teuer macht, und durch
welche er sich mit ihr in unmittelbare Beziehungen setzt.
Da die Statuen meist erst nach dem Tode ihrer Modelle den
Künstlern in Auftrag gegeben werden, so wird hierdurch ihre Aus-
führung teils leichter, teils schwerer. Ist der Künstler der Anforde-
rung einer skrupulös materiellen Ähnlichkeit enthoben, so sieht er
sich dagegen jener so tiefen Beobachtungen beraubt, welche uns
zuweilen im ersten Augenblick schon die verborgensten Eigentüm-
lichkeiten einer erhabenen und eben dadurch geheimnisvollen und
in sich abgeschlossenen Seele begreifen lassen. Er muß Linie für
Linie einer Totenmaske oder einem stummen Bilde nachschaffen, das
Geheimnis ihres Lebens und ihres Ausdrucks aber in der Geschichte
und in den Werken dessen aufsuchen, den er gleichsam in das Leben
zurückzurufen bestimmt ist. Er muß in diese Werke bis in ihr
innerstes Wesen dringen und ihre Schleier kraft einer sympathischen
Divinatioh zu lüften suchen. Er muß Dichter sein, um die Poesie
unter der Prosa des Daseins zu erkennen, und nicht selten muß er
die Prosa aus der Fülle der Poesie zu scheiden wissen. Er muß be-
. greifen, was Werk der Begeisterung, was Werk des Willens war; er
muß die Worte, welche die Konvenienz des Herzens oder des Ver-
standes eingegeben, von denen zu sichten wissen, die sich gleich
einem unwillkürlichen Seufzer aus dem Innersten der Seele hervor-
drängten; ja noch mehr: er muß die von den Zeiten und Ereignissen
bedingten Handlungen bestimmen können und diejenigen ahnen,
die dem natürlichen Impuls entsprangen.
Betrachtet man das Standbild Herders, welches soeben in
Weimar enthüllt wurde, so kann man nicht umhin, das hohe Ver-
dienst des Künstlers zu würdigen, welcher dem Tode zu entreißen
suchte, was derselbe längst verschlungen, und der Gestalt durch
Ehrfurcht einflößende Verhältnisse den Adel und die Schönheit der
Seele zu verleihen wußte. Dieses Standbild, durch Schaller in
München ausgeführt, ist durch die Feinheit seiner Auffassung be-
sonders bemerkenswert. Es bekundet eine volle Kenntnis und
geistige Würdigung dieses großen Mannes, der uns hier so ganz wie
aus seinen Schriften entgegentritt. Die milde Heiterkeit, die von
Falten und Sorgen freie Stirn, das gütig friedfertige Lächeln, der.
Lohengrin. 71
wie wir ihn uns bei Herder vorstellen, mehr intelligente als durch-
dringende Blick — das alles ist mit großem Adel der Haltung, mit
großer Feinheit des Ausdrucks wiedergegeben. In seiner Rechten
hält Herder eine Rolle mit dem von ihm adoptierten Wahlspruch:
,,Licht, Liebe, Leben^^
welchen Karl August auch auf seinen Grabstein eingraben ließ —
eine Inschrift, weniger romantisch, aber inhaltsreicher als die, welche
Wieland für sein Grabdenkmal bestimmte^.
Diese Hand ist nicht allein von großer Schönheit und seltener
Vollendung, auch ihre Bewegung ist voll Festigkeit und Energie,
welche mit der übrigen Stellung harmonierend dem Ganzen die
Haltung der Würde gibt, die den Apostel der Humanität, welcher
er einen so aufrichtigen und glühenden Kultus gewidmet, charakte-
risieren mußte. In der Neigung des Kopfes, in den Linien des Ge-
sichtes, in dem, was die Augen sagen, erkennt man sogleich die so
leicht erregte und beständig bewegte Sensibilität, welche Herder
gleichsam zwang, unermüdlich den verschiedenen Weisen der natür-
lichen Sensibilität nachzuforschen, wie sie sich im ersten Lallen der
Volkspoesie bei den verschiedensten Nationen einen Ausdruck ge-
schaffen hat.
Seh all er hat bei seinem schönen Standbilde auf das glück-
lichste den Eindruck wiederzugeben gewußt, welchen der Dichter-
Philosoph auf seine Zuhörer machen mußte, und welchen er immer
^ Wieland ist in Oßmannstedt, einem kleinen, ihm damals
gehörenden und ohngefähr eine Stunde von Weimar entfernten Landsitze, be-
graben. Auf einem dreiseitigen Obelisk sieht man auf der einen Seite das
Symbol der Unsterblichkeit, einen Schmetterling, über dem Namen seiner
vertrauten Freundin Christine Brentano; auf der anderen zwei
ineinander geschlungene Hände und den Namen seiner Gattin, und
auf der dritten eine Lyra über seinem eigenen Namen. Der Obelisk
ist mit folgender Inschrift umgeben: Die Liebe und die Freund-
schaft im Tode vereinigt. Die Särge der drei Personen sind
wirklich an dieser Stelle beigesetzt. W i e I a n d hatte eine kleine Summe
bestimmt, welche so lange verzinst werden sollte, bis sie hinreichte, um ein
eisernes Gitter um diesen Platz zu bestreiten. Dasselbe ist mehr als dreißig
Jahre nach seinem Tode errichtet worden!
72 Lohengrin.
in der Seele setner Leser hervorrufen wird. Verdanken wir ihm
doch Gedanken, die, groß und warm aus wahrhaftem Herzen kom-
mend, seinerzeit mächtig und erhebend auf die Geister Deutsch-
lands eingewirkt haben und ebenso bewundert wurden wie seine
reizenden Dichtungen voll naiver Grazie, voll frommen Aufschwungs,
voll Begeisterung für die lugend und voll lieblicher Illusionen.
Scheint doch er, der so innig unsere besten Neigungen kannte,
wissentlich ignorieren zu wollen, wie diese sich in der menschlichen
Seele verflüchtigen, um der Herrschaft energischerer und heftigerer
Leidenschaften Platz zu machen.
Das Standbild lehnt sich fast an die Domkirche, in der Herder
gewöhnlich predigte. Erst nach heftigen Debatten wurde, obwohl
viele Personen nicht grundlos eine andere Stelle wünschten, diese
gewählt. Es ist nicht an uns, die dogmatische Orthodoxie dieses
Denkers zu beleuchten, welcher das Christentum als die mildeste
aller Glaubenslehren liebte und die römische Kirche als die festeste
aller Regierungen bewunderte, so daß es beinahe erlaubt ist zu
sagen, er sei nahe daran gewesen, mehr katholisch als christlich zu
sein. Wir begreifen die scheinbare Rücksicht vollkommen, welcher
man nachkam, als man dieses Denkmal nahe an dem Gotteshaus
aufstellte, in dem Herder während einer langen Reihe von Jahren
seine geistlichen Amtspflichten ausgeübt hat; trotzdem können wir
nicht umhin zu bekennen, daß uns der von der anderen Partei vor-
geschlagene Platz zur Errichtung des Denkmals, welcher im Park
gegenüber einer der schönsten Straßen der Stadt Hegt, viel günstiger
für seine moralische und materielle Wirkung geschienen hatte.
Wir kennen die Einwendungen, welche gegen das Projekt, ein
bronzenes Standbild unter Bäumen aufzustellen, gemacht werden.
Dieselben würden jedoch in dem vorliegenden Falle weniger stich-
haltig sein wegen der goldigen, hellen und glänzenden Farbe des zu
Herders Statue verwandten Metalls, welches sich auf einem Hinter-
grunde alter dichter Bäume, deren düsteres Laub einen beinahe
schwarzen Vorhang bildet, vorteilhafter abheben würde als von
einer grauen Mauer, an welche die Statue jetzt gelehnt scheint; denn
die Bestimmung des Platzes als Markt erlaubte nicht, sie in der Mitte
desselben, wie es natürlich gewesen wäre, zu errichten. In einer mit
Lohengrin. 73
dem idyllischen Sinne Herders und seinen so reinen Neigungen für
die Szenen einer lachenden Natur so sehr übereinstimmenden male-
rischen und ländlichen Umrahmung würde das Standbild in seinem
Beschauer nicht das traurige Gefühl erregen, das der stete Gegensatz
zwischen einer vor Jahrhunderten mit so demütigem und feurigem
Glauben erbauten Kirche und dem glänzenden, zur Ehre eines ihrer
Seelsorger errichteten Denkmal erweckt, welcher nur noch einen
Mythus auf denselben Altären suchte; auf denen, wie die anbetenden
und hoffenden Gemüter damals glaubten, Gott selbst herniederstieg.
Die Inauguration dieses Standbildes fand am 25. August, dem
Tage, an welchem Herder 1744 geboren worden, statt. Diesel
Datum, sowie das seines Todes, der 18. Dezember 1803, ist auf das
Piedestal von grünlichem Marmor eingegraben, das außerdem noch
die Worte trägt:
Von Deutschen aller Lande.
Diese Inschrift bezieht sich auf die zahlreichen und bedeutenden
Gaben, welche aus allen Landen, aus Frankreich, England und be-
sonders aus Amerika von daselbst ansässigen Deutschen infolge der
mit dem Jahre 1844 abzuschließenden Subskription eingesandt
wurden. Die Subskription selbst war von den Freimaurerlogen in
Darmstadt und Weimar bei Gelegenheit der hundertjährigen Er-
innerungsfeier der Geburt eines der ersten Philosophen des Hu-
manismus in Anregung gebracht und eröffnet worden.
Am Abende des 24. August, dem Vorabende dieses Festes, wurde
im Theater: „Der befreite Prometheus" aufgeführt, den
Herder für die Szene bestimmt und nebst einigen anderen unter
seinen zahlreichen Schriften allgemein weniger bekannten Gedichten
in Dialogform unter dem Titel: „Dramatische Szenen" zusam-
mengefaßt und herausgegeben hat. Unter diesen schien uns „Der
befreite Prometheus" sich vor den anderen durch das antike Kolorit
und eine Zusammenstellung von Ideen auszuzeichnen, deren er-
habenes und harmonisches Ganze zu den besten Darstellungen
dieses Stoffes zu zählen ist und als eine der besten dieses Dichters
betrachtet werden kann.
74 Lohengrin.
Wie er selbst es angedeutet, mußte der Natur der Dichtung nach
und um die starken in ihr liegenden Affekte ausdrücken zu können
die Musik sich mit ihr verbinden. Ohne eine Verbindung mit Gesang
und Instrumental-Musik, welche die tiefen und erhabenen Gefühle
näher und bestimmter bezeichneten, als es die Worte des Verfassers,
die nur ein Entwurf zu nennen sind, getan haben, wäre es unmöglich
gewesen, dieses Werk in Szene zu setzen. Es läßt sich in seiner frag-
mentarischen Form nur mit den wertvollen Kartons vergleichen, wel-
che die großen Meister als Muster für Teppiche oder Mosaiken gezeich-
net haben, die aber mehr als kostbare Reliquien aufbewahrt werden.
Der Dichtung selbst mußte infolgedessen eine große Ouvertüre
vorausgehen, welcher die Chöre, die wir für diese Gelegenheit kom-
ponierten, verbunden durch von Schauspielern deklamierte Dialoge
folgten. Die Art und Weise, wie das Ganze in Szene gesetzt war, das
Erscheinen der Personen in antikem Kostüme in einer Vorstellung,
f die sich ihrer Natur nach sowie durch das Nichtvorhandensein der
vom Drama bedingten Handlung mehr dem Oratorium als dem
letzteren näherte, brachten eine überraschende Wirkung hervor, die
den ungeteilten Beifall des Publikums errang. Man schien eine Reihe
tönender Gemälde vor sich zu sehen, deren heroische Gestalten der
Gesang zu beleben schien.
Am Morgen des 25. August zogen einige Bataillone der Bürger-
wehr, die Zünfte der Stadt mit ihren im Winde flatternden und mit
alten und seltsamen Wahlsprüchen geschmückten alten Bannern
auf und versammelten sich mit Deputationen der Behörden, des
Magistrates, des Lehrerstandes usw. auf dem Platze, in dessen Mitte,
dem noch verhüllten Standbilde gegenüber, sich die für die groß-
herzogliche Famiüe bestimmte Tribüne erhob. Rat Scholl hielt
als Vorsitzender des Komitees, dem die Leitung des ganzen Unter-
nehmens anvertraut gewesen war, die Festrede, nach welcher die
Statue von ihrer weißen Umhüllung befreit wurde, während Chöre
Verse sangen, aus welchen wie in unendlichem Widerhall die Worte:
Licht, Leben, Liebe hervortönten, welche Herder zu seiner
Devise erhoben, indem er sie um ein Alpha und Omega schlang.
Nachdem das Standbild feieriichst der Obhut des Bürgermeisters
übergeben worden, hielt ein alter Freund und Kollege des großen
Lohengrin. 75
Mannes, der mehr als siebzigjährige Rat Hörn, zum Schluß der
Feier noch eine Rede.
Unter den zahlreichen Gästen, welche dieses Festes wegen nach
Weimar gekommen, nennen wir nur den Autor der Statue, den
Bildhauer Schaller, Ernst Förster aus München, Dingelstedt,
welcher bei Gelegenheit der Erinnerungsfeier des hundertjährigen
Geburtstages Goethes den vor der Aufführung des „Lohengrin*'
gesprochenen schönen Prolog dichtete, Gutzkow, der eben mit der
Herausgabe seines zehn Bände starken Romans „Die Ritter vom
Geiste" beschäftigt ist — einem neuen Orden, bei dem er mit voll-
stem Rechte auf die höchsten Grade Anspruch erheben darf — ,
Chorley, der gewandte und geistreiche Verfasser von »Music and
Manners in Germany«, geschmackvoller Publizist voll feinen und
wohlwollenden Spottes, in seinen Anforderungen in Sachen der
Kunst intelligent und maßhaltend, in seiner Kritik klar und gerecht,
dabei mit seltenem Takte es vortrefflich verstehend, die Notwendig-
keit unumgänglicher Regeln festzuhalten, ohne die Versuche vor-
wärtsstrebender und erfindungsreicher jüngerer Komponisten zu
entmutigen.
Wir hätten gewünscht, daß dem Fest-Programm gemäß Hän-
deis „Messias" am Abende des 25. August in der Domkirche zur
Aufführung gekommen wäre. Die zahlreichen schon jetzt anwesen-
den Tonkünstler, gekommen, um das gigantische Werk Richard
Wagners zu hören, dessen Name schon die Aufmerksamkeit der
gesamten musikalischen Kritik Deutschlands auf sich gezogen, hätten
gewiß gern diesen einfachen und erhabenen Akkorden eines Stils ge-
lauscht, von welchem wir uns so sehr entfernt haben. Vielleicht
wäre es ihnen von besonderem Reiz gewesen, die Eindrücke zu ver-
gleichen, welche diese beiden Meisterwerke hervorbringen, die so
verschieden voneinander sind, wie die dorische Säulenordnung von
der ägyptischen, deren emporragende Kapitale reich und gefällig
von reizendem Laubwerk umwunden sind. Ein bedauernswertes
Mißverständnis verhinderte die Aufführung dieses Oratoriums, das
man besonders gewählt hatte, weil sein in Deutschland gesungener
Text eine von Herder selbst stammende Übersetzung des eng-
lischen Textes ist.
76 Lohengrin.
Bei dieser Gelegenheit waren die einst von Herder bewohnten
Zimmer ausnahmsweise dem Publilcum geöffnet. Herr Röhr,
welcher dieselben als sein Amtsnachfolger bewohnt hatte, aber auch
nicht mehr unter den Lebenden weilt, hatte sie ganz in dem Zustande
erhalten, in welchem sein berühmter Vorgänger sie verlassen hatte.
In einem blauen Saale sah man mehrere Bildnisse Herders, welche,
obwohl nach der Natur gemalt, doch weit davon entfernt sind, uns
den Gefeierten mit solcher Wahrheit wiederzugeben, wie die Statue
Schallers.
Gegenüber dieser Wahrnehmung sagten wir uns, daß, wenn es
dem Dichter, wie dem Künstler überhaupt begegnet, sich zu täuschen
und das Schöne zu suchen, wo sie es nicht finden, ihnen dagegen —
aber nur ihnen allein — als Ersatz die Macht verliehen ist, es da zu
fassen, wo es anderen entflieht, und es den Blicken aller in seinem
lichtesten Glänze zu enthüllen. Beschuldigt man sie auch — und
nicht mit Unrecht — , vor Illusionen die Wirklichkeit zu übersehen,
so können sie hinreichenden Trost in dem Gefühl finden, daß es
noch eine andere und schönere Wirklichkeit gibt, die nur sie allein
zu verstehen und zu entdecken imstande sind.
In diesem Zimmer sah man mehrere mit Sorgfalt erhaltene
Reliquien : unter anderen eine seidene Mütze, von der Großherzogin
Amalie eigenhändig gearbeitet, deren reine und erhabene Seele
für solche von Humanität erfüllte Lehren und für eine so einneh-
mende Persönlichkeit, wie die Herders, eine noch lebendigere
Sympathie empfand als für die kühneren und mächtigeren Geistes-
anlagen der anderen berühmten Männer, mit welchen sie sich um-
gab, und dieser gegenseitig so würdigen Freundschaft das rührendste
Zeugnis der schönsten Regungen ihres Herzens widmete. Neben
diesem Andenken sah man die Feder, welche Herders schwach
werdende Hand zuletzt berührt hatte, sowie seine Bibel, die auf
ihrem verschabten Saffian noch in goldenen Buchstaben die Chiffre:
J. G. Herder erkennen läßt.
Mit einer gewissen Andacht ergriffen wir dieses Buch, und mit
der Ehrfurcht, welche die Überreste der großen Werke großer
Geister gebieten, blätterten wir, ob nicht eines seiner zahlreichen
Zeichen noch an einer der Stellen zu finden sei, über welche er seine
Lohengrin. 77
gelehrten apologetischen, viel bewunderten Glossen geschrieben.
Wir versuchten uns die Stunden zurückzurufen, in welchen der
Philosoph mit vor Kälte starren Fingern diese Blätter umschlug,
deren Bilder von der hebräischen Poesie durchglüht und durch-
f lammt waren; — wir versuchten uns vorzustellen, welchen Ein-
druck wohl diese Verse mit ihrer zitternden Leidenschaft, ihrem
heftigen Schmerz, ihrer so gebieterischen Sehnsucht auf seine milde
Phantasie gemacht haben mußten. Beim 18. Psalm öffnete sich
das Buch vor uns. Indem wir diese düstere und prachtvolle Be-
schreibung des Untergangs der gesamten Natur, der Zerstörung der
Schöpfung beim Herannahen des Herrn lasen, dieses Gottes Israels^
der es nicht verschmäht, in seiner ganzen Majestät, mit Gefolge, auf
den Anruf eines seiner Diener ihm zur Hilfe zu erscheinen, fragten
wir uns: ob der Apostel der Humanität sich wohl ebenso mit der
Glut des Gefühls, welche der königliche Prophet in der üppigen
Fülle seiner Bilder barg, und mit der erhabenen Leidenschaft, welche
diese heilige Ode atmet, wie mit dem ruhigeren lyrischen Ausdruck
des folgenden Psalms innerlich verbinden konnte?
Wenn man in Weimar ist, dieser Stadt, wo sich während der
glänzendsten Periode der deutschen Literatur Männer vereinigt
fanden, die über das Recht hätten streiten können, wer von ihnen
ihr seinen Namen geben sollte, denkt man unwillkürlich über den
Grund nach, welcher für Herder früher als für die anderen ein
Monument bestimmte. Diese Tatsache ist nicht ohne Bedeutung,
und wir möchten glauben, daß ihre Ursache in der Kraft der auf ein
Gefühl der Humanität gegründeten Sympathien zu suchen ist.
Wie groß auch immer das Erstaunen und die Bewunderung sein
mögen, welche das größere dichterische Talent eines Wieland,
die der Leier eines Schiller entströmenden edlen Harmonien,
die universelle Intelligenz eines Goethe in uns erregt: die
Menschen preisen denjenigen zuerst, der sich auf die Wohltaten
des Lichtes, dieser ersten Bedingung unserer Größe, auf die
Rechte des Lebens, der ersten Grundlage der Gesellschaft, auf
die Gesetze der Liebe, der ersten Quelle ihres Glückes und ihrer
Beständigkeit, berief : Licht, Liebe, Leben — Alpha und Omega
der Zivilisation!
78 Lohengrin.
Die Statuen Schillers und Goethes erheben sich bereits in
Stuttgart und Frankfurt, aber es ziemte sich wirklich, daß die
Herders die erste in Weimar wurde, wo man bald — dessen sind
wir gewiß — auch die der anderen großen Männer errichten wird,
deren Vorliebe für diese Stadt ihr Ruhm war, sowie die des Forsten,
dem es eine Ehre gewesen ist, dieselben um sich zu versammeln.
Wenn wir sagen: „es ziemte sich", daß Weimar zuerst Herders
Monument besaß, so liegt der Grund darin, daß die Geschichte
Weimars eine Reihe von Fürsten aufzuzählen hat, die von Huma-
nitätsiiebe auf das innigste und lebendigste durchdrungen waren —
Fürsten, die gut, sorgsam für das materielle Wohl ihres Volkes,
religiös, gewissenhaft waren und der Aufklärung einen so nach-
haltigen Schutz gewährten, daß ihre Regierungen zu verschiedenen
Malen die glänzendsten Epochen der Literatur und der Künste be-
zeichnet haben. Einige der hier folgenden und dem Prologe Dingel-
stedts entnommenen Strophen geben in beredter Sprache die
Ideen wieder, welche wir aussprechen möchten, indem wir von diesem
Thüringen reden, das schon so oft gepriesen und besungen wurde.
„Hoch schimmert über deiner Berge Zinne
Ein dreifach Sternbild der Vergangenheit,
Die Wartburg tönt vom süßen Lied der Minne,
Von Landgraf Hermanns heißem Sängerstrelt;
Aus Herzog Wilhelms fruchtbarlichem Orden
Erklingt dein Lob in preisenden Akkorden,
Und neu ersteht, ein Zeuge dieser Stunde,
Karl Augusts wunderbare Tafelrunde.
„Da nahen sie in feierlichem Zuge:
Des Dichterfürsten hehre Majestät,
Der Sänger mit dem idealen Fluge,
Der Hohepriester der Humanität,
Der Freund antiker Grazien und KamOnen,
Und mitten drin der Schöpfer dieser schönen
Und reichen Welt, der aus der kleinen Raute
Von Weimar Deutschlands ew'gen Lorbeer baute i.
* Anspielung auf den Rautenzweig, welcher das Wappen der sächsischen
Häuser durchkreuzt.
Lohengrin. 79
,fS\e waren unser, alle diese Stertie,
Die einst mit ihrem Licht die Welt erfüllt;
Hier standen sie vereinigt, eh' die Ferne
Des Grabes sie zerrissen und verhüllt.
Im Monument mag Schwaben oder Franken
Den toten Helden spät und reuig danken:
Wir haben die lebendigen besessen
Und nimmermehr verstoßen, noch vergessen!
tt
Und siehe da: den wir zuerst verloren,
Zuerst von allen in die Qruft versenkt.
Der wurde jüngst uns wiederum geboren,
Zum zweitenmal im eh'rnen Bild geschenkt.
Er kommt zurück. O käme mit ihm wieder
Die goldne Zeit der Minn'- und Meisterlieder,
Das reine Alter menschlicher Ideen,
Die wir so tief durch ihn erfaßt gesehen!
„Das, Weimar, sei dein Amt und deine Sendung,
Daß du in solchem Dienst die Hände rührst,
Und deine Überlief rung zur Vollendung,
Den Schatz zutag, ans Ziel das Streben führst I
„Dann wirst du, was du warst zu Goethes Zeiten,
Auch heute sein in gleich bewegter Zeit:
Asyl dem Flüchtling, Tempel dem Geweihten,
Hafen und Eiland in der Woge Streit.
Als Alma Mater wird dich Deutschland segnen
Und gern auf deiner Schwelle sich begegnen.
In deinem würdevoll bescheid'nen Frieden
In sich gesammelt, von der Welt geschieden ^'
ti
Der Prolog, dem wir diese Strophen entnommen, wurde vom
Hofschauspieler Jaffö vot einem zahlreichen Publikum gesprochen
rnid mit dem größten Beifalle aufgenommen. Es war der Abend
1 Das ganze Gedicht: „Theater-Rede vor RlchardWagners
,Lohengrin', nach dem Herderfeste am Goethetage (28. August 1850)
aufgeführt auf der Hofbühne zu Weimar" ist in die Sammlung „Nacht und
M o r g e n", neue Zeit-Gedichte von FranzDingelstedt, aufgenommen
Stuttgart und Tübingen. J. G. Cottascher Verlag. 1851.
80 Lohengrin.
des 28.. August — und man darf behaupten, daß der Gedanke, mit
,,Lohengrin" die Erinnerung an Goethe zu feiern, in jedem Punkte
dieser Feier würdig war. Denn Richard Wagner, ebenso Dichter
wie Musiker, verlieh dem Texte seiner Oper durch die Originalität
seines Stils, die Schönheit seines Versbaues, die geniale Anordnung
der dramatischen Intrige und beredte Sprache der Leidenschaft das
volle Interesse, die ganze literarische Vollkommenheit einer Tragödie.
Diese Oper ist zweifellos als ein Ereignis in der deutschen Musik,
als der Ausdruck eines neuen Systems in der dramatischen Kunst
zu betrachten. Und sicherlich verdiente sie als ein von der Muse
des alten Germaniens inspiriertes dichterisches Erzeugnis jüngster
Zeit, zur Verherrlichung eines Festes beizutragen, dessen Gegen-
stand Goethe war.
IL
Welches auch immer der Grad der Bewunderung, der Sympathie
und der Zustimmung sein mag, den man den musikalischen Werken
Wagners entgegenbringt, so werden doch seine erklärtesten Anta-
gonisten, ja selbst seine Lästerer weder die hervorragenden Eigen-
schaften ihrer Harmonien und ihrei Instrumentation, noch die
große Arbeit und die unermüdlichen Studien, von denen sie zeugen,
noch das Genie des Komponisten, das sie offenbaren, verneinen
können. Jede seiner Schöpfungen ist tief durchdacht, jede kunst-
gerecht ausgearbeitet. Ihr Stil ist erhaben, die Banalität von ihnen
ausgeschlossen. Ihre Sujets sind poesievoll, und die ganze Gewalt
tiefer Empfindungen zum Ausdruck gebracht. Wenn aber seine
Opern bis jetzt noch wenig bekannt sind und die Impresarien noch
Anstand nehmen, sie zur Aufführung zu bringen, so kann es keinem
Zweifel unterliegen, daß die Ursache hiervon nicht in den materiellen
Schwierigkeiten seiner Partituren zu suchen ist — sie wären bald
besiegt! — , sondern in den wirklichen Schwierigkeiten, welche sich
der Einführung eines neuen Systems der dramatischen Komposition
entgegenstemmen, während doch gerade ein solches vor allem die
Gunst des Publikums, das neuen Gewohnheiten gegenüber oft so
widerspenstig ist, dringend verlangt.
Lohengrin. 81
Unter den Ideen, die Wagner in seinen Schriften über die
Kunst und ihre Zukunft entwickelt hat, die jedoch hier in ihren
mannigfaltigen Verzweigungen wiederzugeben nicht in unserer Ab-
sicht liegt, ist die Konzeption des Dramas als solchen, nach noch
unbekannten, neuen Bedingungen, diejenige, welcher die Richtung
seines Genies am unmittelbarsten zustrebt.
Lange Zeit hindurch schöpfte man das Hauptinteresse szenischer
Darstellungen aus einer der Künste, die bei denselben mitwirken,
während man die anderen unter die Nebendinge verwies. Man war
mit einer armseligen Musik in den Zwischenakten einer Tragödie
zufrieden; von den Operntexten verlangte man nur eine mittel-
mäßige Dosis von Wahrscheinlichkeit und poetischer Anlage, und
auf das Spiel sowie die Mimik der Sänger und alles hierher Gehörige
legte man einen nur sehr untergeordneten Wert. Nach und nach
fügten die Komponisten und Darsteller zu wesentlichen Eigen-*
Schäften ihres Berufs noch die Vorzüge eines zweiten und verbanden
die Wirkung der einen Kunst mit der Wirkung einer änderen, die
sie sich in gleich hohem Grade anzueignen gesucht hatten. Hierdurch
erhöhten sie den Reiz ihrer Kunst und weckten den Geschmack des
Publikums für auserlesenere Genüsse.
Nach dieser Seite hin war es Meyer beer, der seinen prächtigen
Partituren einen Einschlag von lebendigstem Interesse einwob,
waren es die Malibran und ihre Schwester Viardot-Garcia, die
nicht nur sangen, sondern als wahre Tragödinnen auftraten. Das
Publikum, obwohl ganz Enthusiasmus und Bewunderung gegenüber
diesen seltenen Ausnahmen, wurde indes nicht ungerecht gegen
solche, welche sich auf die einfachen Anforderungen ihres Faches
beschränkten. Da erschien ein außerordentliches Genie voll glühender
Phantasie, zum Tragen einer Doppelkrone aus Gold und Feuer er-
koren, und träumte ehrgeizig, wie Dichter träumen, von einem
kommenden Fortschritt, der, wenn es je der Kunst verliehen werden
sollte, ihn zu verwirklichen, und der Gesellschaft, ihn zu genießen,
nur in einer Zeit sich verwirklichen konnte, wo das Publikum nicht
mehr aus dieser wankelmütigen, gelangweilten, zerstreuten, un-
wissenden und dünkelhaften Masse zusammengesetzt wäre, die in
Liszt, Qesammclte Schriften. II. V.A. Q
82 Lohengrin.
unseren Tagen das Theater besucht, Urteile fällt und Gesetze dik-
tiert, denen selbst die Kühnsten unterliegen.
Wagner, dieser begeisterte Künstler, dem gegenüber es nicht
ausreichend ist zu sagen, daß er in seiner Liebe zum Schönen ge-
wissenhaft sei — denn an seiner Seele zehrt die edle und geheime
Wunde des Fanatismus der Kunst! — , Wagner, dessen Geist eben-
sosehr durch seltene Fähigkeiten wie durch hohe Bildung für die
Reize aller Künste gleich empfänglich war, und dessen Herz mit
derselben Erregung vor der „Iphigenie" des Euripides wie vor
der Glucks schlug — , Wagner empfand eine stolze Verachtung
vor unseren überkommenen Gewohnheiten. Verletzt von jedenv
Detail, welches nicht der höchsten Schönheit des Hauptelementes
szenischer Wirkung entsprach, glaubte er, daß es nur eines festen
Willens bedürfe, um ein Drama zu schaffen, an dessen Vollendung
alle am Theater vertretenen Künste sich gleichmäßig beteiligten.
Er war der festen Überzeugung, daß das Erscheinen eines solchen
Dramas die bisher aktuelle Methode stürzen würde — diese Methode,
welche zugunsten der einen bevorzugten Kunst die Hilfe mehrerer
anderer herbeiruft, die ihr als Hilfsorgane dienen und bestimmt sind,
nicht sich zu entfalten — o nein! — , sondern derjenigen mehr
Relief zu geben, welcher der Verfasser in seinem Werke die größte
Bedeutung beigelegt hat. Wagner selbst war von der Möglichkeit
überzeugt, die Poesie, die Musik und vor allem die Kunst des
Tragöden fest und innig zu einem Ganzen verweben und sie alle
auf der Szene konzentrieren zu können. Alle diese Künste müssen
nach seiner Ansicht dort verbunden und ausschließlich verschmolzen
sein, um die Effekte hervorzubringen, die sie alle durch ihr wunder-
bar harmonisches Zusammenwirken zu erzielen berufen sind.
Wir sind weit entfernt, über den Wert der Gründe voreilig zu ent-
scheiden, welche sich bereits leidenschaftlich in der musikalischen
Welt Deutschlands kreuzen, indem sie das Bestreben dieser für
großartige szenische Darstellungen noch unübersehbaren Eroberung
entweder angreifen oder verteidigen. Der Gedanke Wagners ist
gewagt, aber schön. Er trägt das Gepräge einer ungewöhnlichen
Kühnheit und ist eines großen Künstlers würdig, selbst dann, wenn
er sich nicht verwirklichen lassen sollte. Wenn ähnliche Bestrebungen
Lohengfin. 83
— und wären sie ein Irrtum — , unterstützt von Genie auf«
tauchen^ wird es ebenso verfrüht wie überflüssig sein, sie preisen
oder mit trockenen Auseinandersetzungen bekämpfen zu wollen.
Plaidieren sie nicht selbst genug zu ihren Gunsten durch das Ziel,
das sie sich gesteckt haben? Haben sie nicht schon an und für sich
hinreichend mit den Tatsachen und natürlichen Hemmnissen zu
tun, die ihnen entgegentreten? Wenn sie siegen sollten — und ließe
sich ihnen nach so manchen unerwarteten Siegen diese Möglichkeit
absprechen? — : weshalb dem Rad eines so stolzen Triumphwagens
einen Hemmschuh anlegen?
Es liegt keineswegs in unserer Absicht, hier alles, was man für
oder gegen Wagners System sagen könnte, zusammenzustellen.
Es werden sich Leute genug finden, welche das mit einer Wärme
und einer Kraft der Parteilichkeit tun, die wir zu einem solchen
Streite nicht mitbringen können, die aber vielleicht notwendig sind,
um alle Vorzüge und alle Fehler irgend eines Systems klar an das
Licht zu stellen. Daß wir die allgemeinen Grundzüge der Idee
dessen, was der Schöpfer des „Tannhäuser" Drama nennt, andeu-
tend mitteilten, hielten wir für unsere Pflicht, weil gerade sein letztes
Werk „Lohengrift", das hier in Weimar und überhaupt zum ersten
Male in Szene ging, diejenige seiner Schöpfungen ist, welche sie am
entschiedensten vertritt, weil es diejenige ist, die aus seinem innig-
sten und lebendigsten Empfinden hervorgegangen zu sein scheint,
diejenige, welche am konkretesten die edelsten Züge seiner Indivi-
dualität wiedergibt, und endlich diejenige, der man unmöglich
gerecht werden kann, wenn man in ihr die alte Faktur einer Oper, die
gewohnte Einteilung der Gesangstücke in Arien, Romanzen, Soli
und Tutti, mit einem Worte, die ganze adoptierte Ökonomie suchen
will, bei der es gilt, nur Sänger und Melodien, und zwar oft in einem
zugunsten der ersteren willkürlichen Verhältnisse zur Geltung
kommen zu lassen.
Wagner hat sich feierlichst von der Berücksichtigung der her-
kömmlichen Ansprüche der prima donna assoluta oder des basso
cantante losgesagt. In seinen Augen gibt es keine Sänger, gibt es
nur Rollen. Infolgedessen findet er es höchst natürlich, eine erste
Sängerin während eines ganzen. Aktes schweigen und nur stumm
6*
84 Lohengrin.
spielen zu lassen, wenn durch ihre Gegenwart die Wahrscheinlich-
keit des Ganzen unterstützt und gehoben wird — eine Art des Auf-
tretens, die von jeder diva Italiens ebenso verachtet wird, als sie
für dieselbe unausführbar scheint.
Man darf nicht erwarten, bei ihm Cabaletten oder irgend ein
Stück zu finden, das sich für die Pulte gewöhnlicher Piano-Dilettan*
ten eignete. Denn es ist in jeder Hinsicht mehr als schwierig, irgend
einen Teil aus der so vollkommenen und gefesteten Einheit, die
seine Opern durch ihren Stil bilden, herauszunehmen und von ihnen
zu sondern. Fortgesetzt in einer noch undurchforschten Region
gehalten, steht sein Stil dem banalen Rezitativ ebenso fem, wie den
kadenzierten Phrasen unserer großen An^n. Man muß vielmehr
darauf gefaßt sein, Personen zu sehen, zu erfüllt von Leidenschaft,
um sich dem Zeitvertreib des Vokalisierens hingeben zu können,
Personen, bei denen der Gesang, wie die gebundene Rede in der
Tragödie, zur natürlichen Sprache wird, welche, weit entfernt die
dramatische Handlung aufzuhalten, diese nur ergreifender gestaltet.
Aber während sie mit einer Einfachheit deklamieren, die sich
bis zum Erhabenen aufschwingt, findet sich die Musik nicht nur
nicht im mindesten in ihrem Bereiche beschränkt, sondern im
Gegenteil ihre Grenzen durch das Orchester Wagners noch weiter
ausgedehnt. Ihm übergibt er es, die Seele, die Leidenschaften, die
Gefühle, ja die geringste Erregung seiner Personen widerzuspiegeln
und uns zu offenbaren. Das Orchester wird bei ihm das Echo, die
zarte Hülle, durch welche wir alle Vibrationen ihrer Herzen ge-
wahren. Man möchte sagen, daß sie in ihm pochen, daß ihr unge-
stümstes Hämmern, wie ihr leisestes Erbeben, durch die bald klang-
vollen, bald leisen Umhüllungen seiner Töne hindurch zu vernehmen
ist. Aus ihm dringt der Schrei des Hasses, das WUten der Rache,
das Flüstern der Liebe, die Ekstase der Anbetung. Es zeichnet wie
in Nebelduft mystische Träume und färbt mit glänzenden Tinten
stolze Triebe.
Jedes Werk Wagners führt einen Schritt dem Ziele näher, das
er verfolgt. „Rienzi'' huldigt noch dem alten Brauche in der
Haltung der Rezitative, der Duos und der Ensemblestücke. Im
„Fliegenden Holländer'' macht dieser Brauch schon merklich
Lohengriti. 85
dem neuen Systeme Platz, und „Tannhäuser" ist schon gänzlich
von dem befreit, was der Verfasser als Vorurteile der Überlieferung
betrachtet.
Welches auch das Geschick sei, das die Zukunft seinem Systeme
vorbehalten: daran ist nicht zu zweifeln, daß die Kenntnis seiner
Tonschöpfungen die Opern-Komponisten früher oder später eines-
teils zu einer klareren, strenger als bisher mit der Natur der Sujets
verbundenen Orchesterbehandlung, und andernteils zu einer Wahl
von Texten führen wird, deren Inhalt ein ernstes und anhaltendes
Interesse bietet, und deren Poesie einen von den Rhythmen, in wel-
chen sie sich bewegt, unabhängigen Reiz besitzt. Angesichts der
schonungslosen und erbärmlichen Verstümmelung und Verarbeitung
der schönsten Tragödien aller Literaturen zu jämmerlichen Szenen
und Versen, sobald es gilt, der Musik Gelegenheit zu schaffen, durch
dramatische Situationen ihre Mittel für den Ausdruck der Leiden-
schaft entfalten zu können, kann man nur die lebendigste Genug-
tuung emflfinden, wenn sich eine Hoffnung zeigt, daß eines Tages
alle diese unleidlichen Unwahrscheinlichkeiten, diese lächerlichen
Reimereien, diese plumpen Mittel, diese Auswüchse der Phantasie,
welche seit so langer Zeit fast immer gut genug schienen, um den
größten Meisterwerken des musikalischen Genies als Unterlage zu
dienen, gänzlich und für immer verbannt sein werden. Ist es denn
noch nicht an der Zeit, daß die Tonsetzer Texte zurückweisen,
denen gleich, welche Voltaire mit blutigem Spotte in dem so oft
wiederholten Bonmot geißelte: »Ce qui serait trop sot pour 6tre dit,
on le chante «? Was uns betrifft, so würden wir, wenn es zum Äußer-
sten käme, oder wenn von zwei Übeln das kleinste zu wählen wäre,
am liebsten alles das, was am schnellsten, am harmlosesten und
kürzesten vernommen würde, von einer natürlichen Stimme sprechen
hören, da dergleichen zu dumm ist, um gesungen zu werden.
Wie wir bereits gesagt, ist der Text zum „Lohengrin" an sich
ein dramatisches Werk voll Schönheiten ersten Ranges. Um jedoch
den szenischen Gang des Stückes zu Verstehen, die Intention und
den Gehalt der Musik von dem ersten Takte der Introduktion an
zu erfassen, muß man zuvor das Geheimnis kennen, um welches sich
die ganze Handlung des Dramas dreht, das sich ^ber erst in der
86 Lohengrin.
letzten Szene enthüllt. Dieses Geheimnis liegt in der Sage des
heiligen Gral, die man in Ritterromanen findet, und die besonders
in den Dichtungen Wolframs von Eschenbach eine hervor-
ragende Rolle spielt. Das Sujet des ,,Lohengrin'' ist ein Extrakt
dieser Dichtungen. Ihnen ist mit wenigen geringfügigen, doch von
der Bühne bedingten Umänderungen die eigentliche Handlung ent-
nommen. Aber mit welcher Poesie hat Wagner sie wiedergegeben!
Wenn Begebenheiten Interesse erregen, so geschieht es durch die
Empfindungen und Schmerzen, die sie im menschlichen Herzen
erwecken, und wer diese am besten schildert, ist ihr wahrer Poet!
Wolfram von Eschenbach war einer der berühmtesten
Minnesänger des 13. Jahrhunderts, einer der Sänger, die sich im
Sängerkriege auf der Wartburg besonders auszeichneten. Er
gehört zur spiritualistischen Schule der Dichter jener Periode und
behauptet einen der ersten Plätze unter denen, welche damals die
Gemüter für die Keuschheit und Reinheit in der Liebe, für den
Glauben und die poetisch-frommsten Gefühle entflammten. Die
Chroniken berichten, daß er das Lied vom Lohengrin zum erstenmal
auf Bitten des Landgrafen Hermann von Thüringen, der an-
wesenden Frauen und selbst seines Feindes, des Magiers Klingsohr,
an einem Tage gesungen habe, an welchem dieser ihn zum Bösen
zu verführen und dem Teufel zu gewinnen suchte, indem er seinen
Neid und seinen Hochmut durch eine seiner eigenen überlegene
Wissenschaft zu erregen hoffte und ihm fremdartige Rätselaufgaben
stellte. Doch Wolfram von Eschenbach, inspiriert von der
heiligen Jungfrau, welcher er so treu diente, löste sie zu Klingsohrs
Verwunderung und Beschämung stets mit einer überraschenden
Leichtigkeit und auf so natürliche Weise, daß er seinen Gegner ganz
verwirrte. Und dieser rätsellösende Dichter-Sänger Wolfram von
Eschenbach ist der Verfasser der berühmten Epopöen „Parzival"
und „Titurel", und Parzivals Sohn, Lohengrin, ist der Held dieser
auf die Sage vom heiligen Gral gegründeten Dichtung.
Der heilige Gral (sanguis realis, sang real, das wahre Blut) war
eine aus einem kostbaren und glänzenden Steine, der bei Luzifers
Sturze aus dessen Krone fiel, gefertigte Schale. In dieser Schale
wurde Brot und Wein von unserem Heiland beim heiligen Abend-
Lohengrin. 87
mahle gesegnet; in ihr fing Joseph von Arimathia das Blut auf,
welches aus der Seitenwunde des am Kreuze Sterbenden floß.
Joseph brachte diese Schale nach England, wo sie später der Obhut
des Königs Artur und der Ritter der Tafelrunde anvertraut wurde.
Dann führte Parzival — der vollkommenste der Ritter — den
heiligen Gral nach Indien, von wo er nach Montsalvatsch kam,
der nach einigen in Aragon, nach anderen in Indien lag. Es war
dies ein geheiligter Berg, umgeben von einem Zypressen- und Zedern-
walde, den niemand durchdringen konnte, wenn er nicht in geheim-
nisvoiler Weise durch Gottes Willen geführt wurde. Dort baute
Titurel einen prächtigen Tempel aus Gold, Holz von Aloe und
kostbaren Steinen, wo der heilige Gral aufbewahrt wurde. Im
Sommer herrschte hier liebliche Kühle, und taue Lüfte wehten im
Winter.
Die Sorge und die Hut dieses Tempels wurde Rittern anvertraut,
vom heiligen Grale selbst gewählt und berufen durch Zeichen, ver-
mittelst deren er alle seine Befehle erteilte. Wer den heiligen Gral
nur einmal gesehen, war nicht mehr dem Tode verfallen; wer ihm
diente, blieb rein von jeder Todsünde. Diese Ritter genossen eine
vollkommene Seligkeit, diejenige vorempfindend, welche der
Himmel den Gerechten vorbehält, nachdem sie diese Erde verlassen.
Am Gründonnerstag jedes Jahres brachte eine Taube eine himm-
lische Hostie, welche sie in die wundertätige Schale niederlegte.
Ritter, die den höchsten Grad der Tugend zu erreichen strebten,
suchten durch alle Lande ziehend den Berg Montsalvatsch und
übten sich in Taten der Tapferkeit und Frömmigkeit. Denn nur
die, welche wahrhaft rein und vorwurfsfrei waren, konnten hoffen,
eines Tages zum heiligen Gral zu gelangen und unter die Zahl seiner
Diener aufgenommen zu werden, deren Schar aus den tapfersten
und frömmsten Rittern bestand. Parzival war ihr König und Lohen-
grin, sein Sohn, einer der tapfersten und edelsten Helden.
Wagner gab seiner Ouvertüre zum „Tannhäuser" die Aus-
dehnung einer großen symphonischen Komposition. Obgleich die
Hauptmotive der Oper deren Inhalt bilden, so kann diese Ouvertüre
doch als ein für sich bestehendes Werk betrachtet werden, das auch
getrennt vom Ganzen seinen intensiven Wert behält und selbst von
88 Lohengrin.
denen, die das Drama, dessen herrlicher Abriß sie ist, nicht kennen,
verstanden und bewundert werden kann. Der Instrumental- Prolog,
welcher dem „Lohengrin" vorangeht, ist anders. Zu kurz — denn
er hat nur fünfundsiebenzig Takte — , um getrennt aufgeführt
werden zu können, ist er gleichsam nur eine magische Formel, die,
wie eine mysteriöse Einweihung, unsere Seelen für ungewöhnliche
Dinge, die von höherer Bedeutung sind als unser irdisches Leben,
vorbereitet. Diese Einleitung enthüllt das mystische Element, das
stets Gegenwärtige und doch stets Verborgene dieses Werkes — ein
göttliches Geheimnis, eine übernatürliche Kraft, das höchste Gesetz
des Geschickes der Personen und der Folge der Begebenheiten, die
sich vor uns entfalten sollen. Um uns die unbeschreibliche Macht
dieses Geheimnisses kennen zu lehren, zeigt uns Wagner zuerst
die unaussprechliche Schönheit des Heiligtums, bewohnt von einem
Gotte, der die Unterdrückten rächt und von seinen Getreuen nichts
verlangt als Liebe und Glauben. Er weiht uns ein in den heiligen
Gral, — vor unserer Phantasie erscheint dieser Tempel, welcher im
Auge des Dichters ein Bau ist von unverweslichem Holze und
goldenen Toren, mit Schwellen von Asbest, mit Säulen von Opal,
mit Fensterwandungen von Onyx, mit Vorhöfen aus Edelsteinen —
Prachthallen, denen sich nur diejenigen nähern dürfen, deren
Herzen erhoben, deren Hände rein sind.
Wagner läßt uns diesen Tempel nicht in seiner gewattigen und
wirklichen Struktur erschauen; als wollte er unsere schwachen Sinne
schonen, zeigt er ihn uns nur in dem Widerschein azurner Wellen,
zurückgestrahlt von irisfarbigen Wolken. Ein breites träumend
Sich-hernieder-senken der Melodie, ein duftiger Äther, der das
heilige Bild, das wir erschauen sollen, umgibt — das ist der Anfang
der Einleitung. Er ist ausschließlich den Violinen vorbehalten,
die vom Komponisten in acht verschiedene Pulte geteilt sind und
sich in den höchsten Lagen ihrer Register bewegen:
Lohengrin.
89
Nr. 1. Langsam.
8ya
ii
-^
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Yloliaen.
Sva
Ife^fej^
W-
%
i
8va
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^"^ -^^ ^ etc.
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8v»
^^^^^m
3
90 Lohengrin.
Das Motiv wird hierauf von den sanftesten Blasinstrumenten
aufgenommen, denen sich die Hörner und Fagotte zugesellen, und
die zusammen das Einfallen der Trompeten und Posaunen vorbe-
reiten. Letztere wiederholen die Melodie zum vierten Male mit
einem wahrhaft blendenden Glänze des Kolorits, als wenn sich in
diesem einzigen Momente der heilige Bau vor unseren geblendeten
Augen in seiner ganzen leuchtenden und strahlenden Pracht erhoben
hätte. Doch rasch, wie ein feuriges Meteor des Himmels, erlischt
das bis zu dieser sonnenartigen Strahlenwerfung stufenweise ge-
steigerte lebhafte Funkeln. Es verdichtet sich der durchsichtige
Duft der Wolken, und nach und nach schwindet die Vision in den-
selben vielfarbigen Dünsten, in deren Mitte es erschienen, womit
das Stück mit den sechs ersten, nur noch ätherischer gewordenen
Takten abschließt. Sein Charakter eines idealen Mystizismus macht
sich durch das im Orchester durchweg vorwaltende piano fühlbar,
welches selbst kaum während des kurzen Augenblicks, wo die Blech-
instrumente die wundersamen Linien des einzigen Motivs dieser
Introduktion noch glänzender hervorheben, unterbrochen wird. —
Das ist das Bild, welches beim Hören dieses unvergleichlichen Ada-
gios sich unseren tiefbewegten Sinnen darstellt.
Schwieriger würde es sein, die Gefühle schildern zu wollen, die
dasselbe erweckt, und die sich dem höchsten Entzücken nähern,
dessen unser Herz fähig ist. Wenn, um uns die Seligkeiten der
höchsten Sphären des Paradieses mit ihrer Schönheit zu schildern,
Dante die in unzähligen Scharen sich zusammendrängenden Chöre
der Seligen mit den Blättern einer Rose verglich, die alle nach dem-
selben Mittelpunkte streben, so möchten wir den Eindruck, den
dieses gleichsam von den mystischen Höhen des Empyreums herab-
kiingende Adagio auf uns macht, in ein anderes Bild übersetzen
und es mit der inbrünstigen Wonnetrunkenheit vergleichen, welche
zweifelsohne der Anblick jener dem Aufenthalte der Seligen an-
gehörenden mystischen Blumen, die — ganz Seele, ganz Göttlich-
keit — ein wonnevolles Schauern des Glückes um sich her ver-
breiten, in uns hervorrufen würde. Die Melodie erhebt sich anfangs
wie der schmächtige, schlanke und zarte Kelch einer geschlossenen
Blume, die sich dann lieblich zu einer breiten Harmonie entfaltet.
Lohengrin. 91
Obwohl der Zuschauer, vorbereitet, darauf verzichtet hat, irgend
eines jener Stüclce zu sehen, die ohne inneren Zusammenhang eine
Begebenheit nach der anderen an den Faden irgend einer Intrige
reiht, was den Gehalt unserer gewöhnlichen Opern bildet, so wird
er dennoch ein eigentümliches Interesse darin finden, während dreier
langer Akte der tief durchdachten, erstaunenswert geschickten und
poetisch verständigen Kombination zu folgen, mit der Wagner
mittelst mehrerer Hauptsätze den melodischen Knoten seines ganzen
Dramas geschürzt hat. Die Wendungen dieser Sätze sind, indem
sie sich an und um die Worte des Gedichtes schmiegen, von er-
greifendster Wirkung. Und doch — greift man, um sich klare
Rechenschaft über das zu geben, was uns bei der lebendigen Dar-
stellung so tief ergriffen hat, nach der Partitur dieses in seiner Art
ganz ueuen Werkes, so ist man erstaunt und überrascht über die
Fülle der Intentionen und feinen Nuancen, die man hier findet, und
die vom Ohr unmöglich unmittelbar alle zugleich erfaßt werden
können. Doch welches wären auch die Epopöen und Dramen großer
Dichter, die keines langen und ernstlichen Studiums bedürften, um
in ihrer ganzen Bedeutung erfaßt zu werden?
Wagner gelang es durch ein von ihm in ganz unerwarteter
Weise angewandtes Verfahren, das Gebiet und die Ansprüche der
Musik zu erweitern.
Wenig von der großen Macht befriedigt, welche sie über die
Gemüter ausübt, indem sie die ganze Tonleiter der menschlichen
Gefühle erklingen läßt und erweckt, macht er es ihr möglich, Ideen
in uns anzuregen, zu unseren Gedanken zu sprechen, ja er verleiht
ihr sogar einen moralischen und intellektuellen Sinn. Wir hatten
schon in den „Hugenotten" die Rolle des Marcel gleichsam in den
Choral Luthers inkrustiert gesehen, welcher nicht allein seinen
Glauben, sondern auch die ganze unbiegsame Exaltation seines
Geistes, den ganzen Sinn seiner Handlungen personifiziert.
Wagner hat diese so glückliche Intention Meyerbeers noch
übertroffen. Er hat den Charakter seiner Personen und ihre vor-
züglichsten Leidenschaften durch Motive und Melodien gezeichnet,
die im Gesänge oder im Orchester jedesmal, wo die von ihnen aus-
gedrückten Leidenschaften und Gefühle in Tätigkeit sind, hervor-
92 Lohengrin.
treten!, worauf schon unser Essay über „Tannhäuser" aufmerksam
gemacht hat. Diese systematische Durchführung ist mit einer
Kunst der Verteilung verbunden, welche durch die hier entwickelte
Feinheit der psychologischen, poetischen und philosophischen An-
deutungen selbst solchen, denen die Achtel- und Sechzehntel-Noten
tote Buchstaben und reine Hieroglyphen sind, ein sehr hohes Inter-
esse einflößen müssen. Wagner zwingt unser Nachdenken und
unser Gedächtnis zu einer fortwährenden Übung, wodurch er die
Wirkung der Musik dem Gebiete unbestimmter Rührungen entreißt
und ihren Reizen Genüsse des Verstandes hinzufügt. Infolge dieser
Methode, welche durch eine Reihe seltener und unter sich geistig
verbundener Gesänge die sonst leicht erzielte Befriedigung erschwert,
fordert er vom Publikum besondere Aufmerksamkeit, berettet aber
zu gleicher Zeit denen, die sich in seine Intentionen zu versenken
vermögen, höhere Kunstfreuden.
Seine Melodien sind gewissermaßen personifizierte Ideen. Ihre
Wiederholung bezeichnet Geftihlsmomente, welche die Worte allein
nicht vollständig aussprechen. Ihnen erteilt Wagner die Aufgabe,
tms alle Geheimnisse des Herzens zu enthüllen. Es gibt einzelne
Sätze, wie beispielsweise der Satz der ersten Szene des zweiten Aktes,
welche die Oper wie eine giftige Schlange durchwinden, sich um
ihre Opfer bald schlingen, bald sie fliehen angesichts ihrer heiligen
Kämpen. Es gibt andere, wie in der Introduktion, die nur selten,
aber in Verbindung mit den erhabensten göttlichen Offenbarungen
wiederkehren. Die Situationen und Personen von irgend einer Wich-
tigkeit sind musikalisch durch eine Melodie — oder ein Motiv —
ausgedrückt, welche das sie beständig begleitende Symbol wird.
Da nun diese Melodien oder Motive von seltener Schönheit sind, so
behaupten wir gegenüber denen, die in der Beurteilung einer Par-
titur sich einzig und allein auf die Beziehungen der Achtel- und
Sechzehntel-Noten untereinander beschränken, daß, selbst wenn
die Musik dieser Oper ihres schönen Textes beraubt wäre, sie den-
noch ein Kunsterzeugnis ersten Ranges bleiben würde.
» Die Leitmotive. D. H.
Lohengrirr. 93
Wenn der Vorhang aufgeht, sehen wir König Heinrich den
Vogelsteller, dör in Brabant angekommen ist, um dessen Adel zu
einem Heerzuge gegen die Ungarn zu entbieten. Die Szene spielt im
10. Jahrhundert an den Ufern der Scheide, wo die Herzöge, Grafen
und Ritter im Geleite ihrer Vasallen und Kriegsmannen sich um ihn
versammelt haben. Heinrich hatte bei seiner Ankunft das Land
durch Zwietracht und Haß der mächtigsten seiner Herren in Parteien
zerrissen vorgefunden und befragt den Grafen Friedrich von Telra-
mund, den tapfersten und ruhmgekröntesten von allen, um die
Ursache dieser Zwiste. Friedrich berichtet;
„Dank, König, dir, daß du zu richten kamst I
Die Wahrheit künd' ich, Untreu' ist mir fremd, —
Zum Sterben kam der Herzog von Brabant,
und meinem Schutz empfahl er seine Kinder,
Elsa, die Jungfrau, und Gottfried, den Knaben:
Mit Treue pflog ich seiner großen Jugend,
sein Leben war das Kleinod meiner Ehre.
Ermiß nun, König, meinen grimmen Schmerz,
als meiner Ehre Kleinod mir geraubt!
Lustwandelnd führte Elsa einst den Knaben
zum Wald, doch ohne ihn kehrte sie zurück;
mit falscher Sorge frug sie nach dem Bruder,
da sie, von ungefähr von ihm verirrt,
bald seine Spur — so sprach sie — nicht mehr fand.
Fruchtlos war all' Bemüh'n um den Verlorenen;
als ich mit Drohen nun in Elsa drang,
da ließ in bleichem Zagen und Erbeben
der gräßlichen Schuld Bekenntnis sie uns seh'n.
Es faßte mich Entsetzen vor der Magd:
Dem Recht auf ihre Hand, vom Vater mir
verliehen, entsagt' ich willig da und gern —
und nahm ein Weib, das meinem Sinn gefiel,
Ortrud, Radbods des Friesenfürsten Sproß.*
«
Nach diesen Worten stellt er dem Könige Ortrud vor, deren
bitteres und spöttisches Lächeln, deren hochmütige Haltung, deren
heuchlerisch demütiger, haßfunkelnder Blick ihre düstere und ehr«
geizige Seele verrät, Friedrich fährt hierauf fort:
94
Lohengrin.
,,Nun führ' ich Klage gegen Elsa von
Brabant: des Brudermordes zeih' ich sie.
Dies Land doch Sprech' ich für mich an mit Recht,
da ich der Nächste von des Herzogs Blut,
mein Weib jedoch aus dem Geschlecht, das einst
auch diesem Lande seine Fürsten gab. —
Du hörst die Klage. König, richte recht!'*
Bei dieser Erzählung erwacht der Argwohn aller gegen Elsa,
und der König bescheidet sie feierlichst vor seinen Richterstuhl.
Kaum ist der Aufruf des Heerrufers verklungen, als auch an
Stelle der stürmischen Diskordanzen des Orchesters eine äußerst
liebliche, im zartesten Rhythmus gehaltene Melodie voll trostlosesten
Schmerzes erklingt:
Nn 2. Mäfiig langsam«
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95
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/^ 3. Fagott. Baßklar.
und uns schon im voraus andeutet, wie rein, wie keusch und heilig die
des Mordes, buhlerischer Liebe und strafbarer Vergehen angeklagte
Jungfrau ist. Weiß gekleidet, umhüllt von einem langen schwarzen
Schleier, schweigend, schüchtern, erschreckt durch das Gepränge,
das sie umgibt, tritt sie vor.
Der König fragt sie, ob sie ihn als ihren Richter anerkenne. Mit
sicherem Blick erhebt sie das Auge zu ihm und antwortet mit be-
jahendem Neigen des Kopfes. Dann fragt er sie, ob ihr bekannt,
welcher Verbrechen sie angeklagt sei. Sich traurig gegen Friedrich
wendend bejaht sie gleicherweise diese Frage.
96 Lohengrin.
„Was entgegnest du der Klage, Elsa von Brabant?"
redet sie der König wieder an. Mit einer stummen Bewegung er-
widert sie: ,,Nichts.'' Der große Kontrast zwischen den Greueln
der genannten Verbrechen und der Erscheinung jungfräulicher Reiur
heit der Prinzessin verwandelt bei den Umstehenden die Entrüstung
in Zweifel. Von neuem fragt der König:
„So bekennst du deine Schuld?"
Ohne zu antworten, spricht sie mit einem Seufzer:
„O mein armer Bruder I"
Nach langem Schweigen fordert der königliche Richter die holde
Angeklagte mit zarter Schonung auf, sich ihm voll Vertrauen zu ent-
decken. Da scheint eine Art Verklärung sich über sie zu ergießen,
und wie im Traum erzählt sie:
;,Einsam in trüben Tagen
hab' ich zu Oott gefleht,
des Herzens tiefstes Klagen
ergoß ich in Gebet.
Da drang aus meinem Stöhnen
ein Laut so klagevoil,
der zu gewaltigem Tönen
weit in die Lüfte schwoll:
Ich hört' ihn fernhin hallen,
bis kaum mein Ohr er traf;
mein Aug' ist zugefallen,
ich sank in süßen Schlaf."
Man glaubt, daß sie fiebere, und der König ermahnt sie, an ihre
Verteidigung zu denken. Sie fährt fort:
„In lichter Waffen Scheine
ein Ritter nahte da;
so tugendlicher Reine
ich keinen noch ersah.
Ein golden Hörn zur Hüften,
gelehnet auf sein Schwert —
so trat er aus den Lüften
zu mir, der Recke wert.
Mit züchtigem Gebaren
gab Tröstung er mir ein:
Des Ritters will ich wahren,
er soll mein Streiter seinl"
Lohengrin.
97
Sowie sie die Worte spricht, welche die Erscheinung des Ritters
schildern und verkünden, nimmt das Orchester, wie gemahnend an
den heiligen Gral, vier Takte der Introduktion auf und geht dann zu
einer Melodie über, die bestimmt ist, die Persönlichkeit Lohengrins
zu kennzeichnen; denn dieselbe kehrt später immer wieder, sobald
dieser tätig an der Handlung teilnimmt. Kriegerisch und doch mild,
erklingt sie mit überwältigender Macht; sie ist meistens von Hörnern
und Trompeten vertreten. —
Friedrich spottet der Vision Elsas, und ihre Reinheit verleum-
dend erbietet er sich, seine Anklage mit den Waffen in der Hand zu
behaupten. Doch keiner der gegenwärtigen Ritter will dem Zorne
Friedrichs verfallen, und keiner wagt darum, für Elsas Unschuld und
für die Sache der Angeklagten in die Schranken zu treten.
Indes gebietet der König, im Inneren schwankend, daß ein
Gottesurteil entscheide, auf welcher Seite die Wahrheit, auf
welcher die Lüge sei. Beifällig stimmen die Mannen diesem Befehle
zu, wobei die Blechinstrumente ein Motiv von energischem und
ernstem Rhythmus ertönen lassen, welches von jetzt an immer
wiederkehrt, sobald sich die Handlung auf das Gottesurteil bezieht :
^WP
Friedrich und Elsa nehmen den Beschluß des Herrschers an, und
als dieser Elsa fragt, wen sie zu ihrem Kämpen wähle, nimmt sie
ihre unterbrochene Erzählung wieder auf und erklärt: dem sich zu
ihrer Verteidigung anzuvertrauen, den sie im Traume gesehen.
„Des Ritters will ich wahren,
er soll mein Streiter seini —
Hört, was dem Gottgesandten
Ich biete für Gewähr:
In meines Vaters Landen
die Krone trage er;
Li szt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 7
98
Lohengrin.
mich glücklich soll ich preisen,
nimmt er mein Gut dahin —
will er Gemahl mich heißen,
geb' ich ihm, was ich bin!"
Der Herold läßt durch Trompeter den Aufruf nach allen vier
Himmelsgegenden verkünden.
Niemand erscheint.
Elsa verlangt, daß man den Aufruf wiederhole, und spricht mit
kindlicher Zuversicht:
„Noch einen Ruf an meinen Ritter!
wohl weilt er fern und hört mich nicht I''
dabei gibt sich das zurückgedrängte Schluchzen in ergreifender
Weise durch die instrumentale Begleitung dieser Worte kund.
Der Aufruf wird wiederholt. — Dasselbe Schweigen. —
Schon beginnt man zu glauben, daß die also Verlassene des
Schutzes Gottes unwürdig sei. Außer sich, in Verzweiflung wirft sie
sich auf die Knie und fleht den Himmel mit erhobenen Händen
an, ihr den verheißenen Verteidiger zu Hilfe zu senden — so, wie sie
ihn im Traume sah. Nach diesen letzten Worten: „Wie ich ihn
sah, sei er mir nahM*' fallen drei Trompeten pianissimo ein und
wiederholen den Satz, den wir schon als ausschließlich Lohengrin
bezeichnend angeführt haben — das Lohengrinmotiv — :
Nr. 4. Mäfiig bewegt;
3Hoboenund3Flöten (später, bei Lohengrin's Ankunft, 3 Trompeten).
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100 Lohengrin.
Plötzlich gewahrt man in noch weiter Feme einen Schwan auf
den Wellen der Scheide, der einen Nachen zieht, in welchem sich
ein Ritter befindet, gerüstet, wie ihn Elsa im Traume gesehen. Die
Anwesenden brechen nach dem letzten Motiv in den Chorruf aus:
„Ein Wunderl ein Wunder! ein Wunder ist gekommen! Ha, un-
erhörtes, nie gesehenes Wunder! Gegrüßt, gegrüßt, du gottgesandter
Held!" Je mehr sich der Nachen dem Ufer nähert, um so gewaltiger
wird der Chor; er schwillt an, stärker und stärker, und erreicht end-
lich eine Wirkung, die zu den mächtigsten gehört, die je die Ton-
kunst hervorgebracht hat.
Wagner behandelt seine Chöre mit der äußersten Sorgfalt. Die
meisten sind achtstimmig in durchgeführten Stimmen geschrieben.
Dieser Chor, welcher am staunenswertesten konzipiert und in seiner
Steigerung am glücklichsten durchgeführt ist, wird außerdem noch
besonders bemerkenswert durch den malerischen Schein der Wahr-
heit, welcher aus diesen verteilten Stimmen hervorgeht. Die stau-
nende Überraschung der einen, der fromme und naive Glauben der
anderen, der Schrecken dritter, die Ergriffenheit aller gleichen indi-
viduellen Ausrufen, und das Motiv, voll Pracht und Majestät, erhält
in dem Crescendo dieser ungeheuren Entwickelung eine Gewalt, die
diesen Moment vielleicht zu dem mächtigsten und dramatisch
interessantesten des ganzen Werkes macht. Von dieser neuen
Gattung der Musik und besonders von diesem bewunderungswür-
digen Stück wurden selbst die Kühlsten und in Vorurteilen Befangen-
sten hingerissen und entzückt.
Sowie der Nachen an das Ufer stößt, wird das Motiv der Intro-
duktion wieder durch zwei Takte angedeutet. Der Ritter wendet
sich, sowie er seinen Fuß auf das Land gesetzt, an den Schwan und
nimmt das Motiv in den ersten Takten eines Gesanges auf, der nur
von einer unterbrochenen Terzenfolge der ersten Violine begleitet
ist. Diese Monodie ist zart, melancholisch und vibrierend. Lohen-
grin nimmt Abschied vom Schwan und gebietet ihm, auf den Fluten,
die ihn hergeführt, wieder zurückzukehren in ihre gemeinsame
glückliche Heimat. Diese Töne tragen so offenbar das Gepräge des
Kummers, und das an seinen Führer gerichtete Lebewohl ist so
von Trauer über sein Scheiden durchdrungen, daß man nicht zu
Lohengrin. 101
wissen braucht, wer der geheimnisvolle Held ist, um zu begreifen,
daß er aus seligen Gefilden in das Land kommt, wo die Unschuld
verfolgt wird und das Verbrechen triumphiert.
Die Musik hat bisher noch niemals diesen Typus, den Maler und
Dichter so oft wiederzugeben versuchten, besessen. Sie hat noch
niemals dieses reine Empfinden, diese heilige Trauer ausgedrückt,
welche die Engel und die dem Menschen überlegenen schuldlosen
Wesen ergreifen mag, wenn sie aus dem Himmel verbannt nach
unserem Aufenthalte der Trauer gesandt werden, um hier segens-
reiche Sendungen zu vollbringen. Wir glauben nicht, daß die Musik
in dieser Beziehung die anderen Künste mehr zu beneiden braucht;
denn wir sind überzeugt, daß noch kein» derselben dieses Gefühl mit
einer so hohen, ja himmlischen Vollendung wiederzugeben im-
stande war. Ein großer Teil der Wirkung, die der Komponist hervor-
gebracht, mag allerdings von dem Schmelz der Klangfarbe des
Tenors abhängen, welcher allein aus der tiefen Stille sich nach dem
Ausbruche der Begeisterung des letzten Chors, von dem der Saal
noch widerhallt, erhebt. Doch wäre der Schmelz der Stimme auch
nicht so zart, biegsam und silbern, wie man es wünschen muß, so
würde die Schönheit der Melodie doch stets einen tiefen Eindruck
hervorrufen.
Indem Lohengrin vortritt, verkündet er, daß er gesandt sei, eine
schwer beschuldigte Jungfrau zu verteidigen. Bei diesen Worten
erklingt das Motiv der Introduktion — das Gralmotiv — , um an den
zu erinnern, der ihn sandte. Er fragt Elsa: ob sie ihn als ihren
Streiter annehme. Überwältigt stürzt sie schluchzend zu seinen
Füßen und wiederholt in leidenschaftlicher Bewunderung ihre
eigenen Worte, die sie einige Augenblicke vorher an ihren unbe-
kannten Rächer gerichtet hatte:
„Mein Heldl mein Retter I nimm mich hini
Dir geb* ich alles, was ich bin!"
Sie knien lassend, fragt er weiter:
„Wenn ich im Kampfe für dich siege,
Willst du wohl, daß ich dein Gatte sei?"
Hier erklingt die an den heiligen Gral erinnernde Melodie zum
letzten Male, wie ein leise verschwimmendes Echo. Erst am Schlüsse
102
Lohengrin.
des Dramas kehrt dieselbe in ihrer ganzen Gewalt wieder. — Lohen-
grin fährt mit steigender Feierlichkert fort und erklärt Elsa:
„Elsa, soll ich dein Gatte heißen,
soll Land und Leut* ich schirmen dir,
soll nichts mich wieder von dir reißen,
mußt eines du geloben mir:
Nie sollst du mich befragen,
noch Wissens Sorge tragen,
woher ich kam der Fahrt,
noch wie mein Nam' und ArtI"
Wie leicht wird es Elsa, dieses Verlangen zu beschwören, und mit
welchem Eifer spricht sie den Eid, nachdem der Ritter zum zweiten
tAsile seine Formel mit gebieterischer Strenge wiederholt!
Dieses Gebot drückt der Gesang in einem Satze aus, der natür-
lich einer der wichtigsten der ganzen Oper sein muß, weil das ganze
dramatische Interesse sich in dem Geheimnisse konzentriert, welches
dasselbe birgt. Es besteht aus acht Takten eines Adagio, welches
außerordentlich ergreifend und leicht erkennbar ist, selbst wenn
nur das erste aus zwei Takten bestehende Glied — das Gebotmotiv
— desselben wiederholt wird:
Nr. 5. Etwas langsam.
Lohengrin,
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Nie sollts du mich be
Blasinstnunente.
fra-gen, noch Wis-sens Sor-ge
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Lohengrin.
103
tra-gen, wo - her ich kam der Fahrt, noch wie mein Nam'und Art.
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dim.
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221
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piü p
Nachdem Elsa ihren Eid mit dem innigen Vertrauen eines de-
mütigen Kindes ihrem mächtigen Verteidiger wiederholt hat^erhelH
sie Lohengrin, und mit einer Bewegung voll triumphierender Frettde,
als hätte sie eben eine Probe bestanden, schließt er sie in seine Arme
und ruft ihr zu:
„Elsa, ich liebe dichl"
Dieses Wort voll Liebe und voll Bewunderung und verborgener
Dankbarkeit ist, trotzdem ihm so große Angst, $6 lebhafte und
stürmische Aufregungen vorausgegangen, außerordentlich einfach.
Es erinnert durch seine beredte Kürze an die feierliche Einfachheit
der alten Tragiker und gehört zu den ergreifendsten Momenten,
welche im Repertoire der modernen Bühne zu finden sind. Lohen-
grin, dessen wunderbare Dazwischenkunft ihn von Anfang an 2U
einem Halbgott stempelt, enthüllt uns zugleich, daß die Macht, die
seinem Arm eine übernatürliche Kraft verliehen, in dem Herzen
ihrer Erwählten weder die Sehnsucht noch die Zärtlichkeit erstickt,
und daß diese Zärtlichkeit so reine und hohe Freuden und Wonnen
in sich birgt, daß sie selbst die Verbannung aus dem Bereiche der
höchsten Seligkeiten ertragen läßt und dieses Tal der Tränen und
Kümmernisse in ein Liebesparadies verwandeln kann.
104 Lohengrin.
Der König befiehlt den Kampf.
Der Heerrufer verkündet ihn.
Die Instrumente setzen wieder das rhythmische Motiv des
Gottesurteils ein, das während des Kampfes einem Kanon ähnlich
von den Blechinstrumenten und den Violoncellen und Kontrabässen
des Orchesters ausgeführt wird, so daß man den wirklichen Kampf
der Streiter zu vernehmen glaubt.
Ehe die Kämpfer beginnen, spricht der König ein Gebet. Alle
knien nieder und flehen die göttliche Gnade an, auf daß die Un-
schuld gerächt und der Schuldige entdeckt werde.
In diesem Augenblicke ist das sich auf der Szene darbietende
Bild in der Tat bewunderungerregend. Elsa, entzückt, erhobenen
Blickes, scheint den Himmel offen zu sehen, während man überrascht
auf der anderen Seite des bis in die Mitte der Gruppe vorgetretenen
Königs ein Haupt erblickt, das sich nicht in Andacht beugt. In der
Nähe Friedrichs, welcher voll Zorn und unwillkürlichen Schreckens,
der noch gemehrt wird durch die Zuflüsterungen seiner Freunde,
die in ihn dringen, einen so fremdartigen Gegner nicht anzuerkennen,
in gedrückter Haltung dasteht, kniet ein junges Weib, dessen Blicke
Haß sprühen, und das, als der wunderbare Schwan erschien, einen
Schrei des Schreckens ausgestoßen hatte. Es ist Ortrud, die des
religiösen Auftritts zu spotten scheint, und deren stolzer und hohn-
voller Gesichtsausdruck, so eigentümlich abstechend von dem aller
anderen, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf sich zieht.
Lohengrin ist Sieger und schenkt das Leben dem Besiegten mit
den Worten:
„Durch Gottes Sieg ist jetzt dein Leben mein:
Ich schenk' es dirl magst du der Reu' es weih'nl"
Sein charakteristisches Motiv, von allen das längste — denn es
hat gegen zwölf Takte Adagio und vierundzwanzig Allegro — , kehrt
mit Fanfaren wieder, und der Schlußchor nimmt es, einen halben
Ton höher, in jubilierender Freude ungekürzt wieder auf.
Elsa, gerettet, von der Schuld freigesprochen, stürzt in die Arme
ihres Beschützers. In dem nun folgenden herrlichen Ensemble
schweben ihre Stimme und ihre schönen Verse beständig über den
anderen Stimmen, welche einerseits die freudige Genugtuung, die
Lohengrin.
106
entzückte Verwunderung des Königs und der Menge ausdrücken,
denen es widerstrebt hatte, dieses schöne Kind so schrecklicher Ver-
brechen schuldig zu glauben, und andererseits die Scham, den ohn-
mächtigen Grimm des besiegten Friedrich, das wütende Staunen,
die Erbitterung und die Verwünschungen Ortruds wiedergeben,
deren Bewegungen und Bücke in einem leidenschaftlichen stummen
Spiele die Furcht und das Gewissenszagen des Grafen verscheucht
und ihn zu diesem gottlosen Kampfe getrieben hatten.
In der kurzen, dem zweiten Akt vorangehenden Instrumental-
Introduktion begegnen sich zwei Motive. Das zum erstenmal auf-
tretende Motiv ist eine jener Hauptphrasen, welche der Rolle Ortruds
entsprechen und sich durch das ganze Drama hindurchziehen:
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Nr. 6. Etwas langsam.
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Es erscheint oft, wie in dieser Introduktion, die es votlständig
bringt, von dem Motiv unterbrochen oder verfolgt, mit dem Lohen-
grin das unwiderrufliche Verbot ausgesprochen hat. Man glaubt
sich dabei vergegenwärtigen zu ifönnen, wie menschliche Boshdt
sich gegen die Al'güte Gottes auflehnt
Gegenüber den hell erleuchteten Fenstern des Palastes, in welchem
man den Vorabend der Hochzeit Elsas festlich begeht, und aus dem
eine Festmusik in einzelnen Stößen ertönt, sitzen auf den Stufen des
Münsters in tiefstem Dunkel Friedrich und Ortrud. Sie »nd ihrer
Güter beraubt, geächtet, elend gekleidet und bereit. In die Ver-
bannung zu wandern. Ortrud, auf den steinernen Stufen nieder-
gekauert, ihre Ellbogen auf die Knie gestützt, wendet kein Auge von
den Fenstern des Palastes, als wolle sie in dem Schmerz angesichts
dieses Schauspiels Gift zur Rache einsaugen.
Der Graf von Telramund, ein Spielball der falschen Wissenschaft
seines in den Künsten der Zauberei erfahrenen Weibes, wendet sich
mit Haß und Verachtung gegen sie und beklagt nichts, als daD Ihm
Lohengrfn. 107
sein Schwert genommen und er nicht imstande sei, ihr Herz zu
durchbohren. Mit meisterhafter Steigerung schildert er ihr die
Schmach, der er verfallen, und wiederholt mit einem verzweifelten
Schrei :
»,Mein' Ehr* hab' ich verloren,
Mein* Ehr*, mein' Ehr* ist hin!"
Ortfud dagegen bewahrt das Übergewicht der über das Ver-
brechen brütenden und die Ausbrüche der Verzweiflung bemit-
leidenden Ruhe. Friedrich, durch diese scheinbare' Gleichgültiglceit
auf das^ Äußerste gebracht, stürzt auf sie zu und will sie von Grauen
ergriffen mit eigener Hand erwürgen; aber sie fragt ihn mit bitterer
Verachtung, „ob er nur Weiber zu bekämpfen wisse". Unmutig
entgegnet ihr der Ritter:
„ — war's nicht dein Zeugnis, deine Kunde,
die mich bestrickt, die Reine zu verklagen?
Die du im düst'ren Waid zu Haus, logst du
mir nicht, von deinem wilden Schlosse aus
die Untat habest du verüben seh'n?
Mit eignen Augen, wie Elsa selbst den Bruder
im Weiher dort ertränkt? — Umstricktest du
mein stolzes Herz durch die Weissagung nicht,
bald würde Radbods alter Fürstenstamm
von neuem grünen und herrschen in Brabant?
Bewogst du so mich nicht, von Elsas Hand,
der reinen, abzusteh'n und dich zum Weib
zu nehmen, weil du Radbods letzter Sproß?"
Dann weiter:
„ — hat nicht durch sein Gericht
Gott mich dafür geschlagen?''
„Gott?" schreit Ortrud, die Heidin, indem sie sich stolz auf-
richtet, dieses Wort mit einem so fürchterlichen Hohne betonend,
daß Friedrich entsetzt von ihr zurückweicht und nach einem unheil-
vollen Schweigen endlich langsam sagt:
„Wie tönt aus deinem Munde furchtbar der Name!"
Ortrud.
„Ha, nennst du deine Feigheit Gott?"
108 Lohengrin.
Friedrich.
„Ortrudi"
r t r u d.
„Willst du mir droh'n? mir, einem Weibe, — droh'n?
O Feigerl hättest du so grimmig ihm
gedroht, der jetzt dich in das Elend schielet,
wohl hättest Sieg statt Schande du erkauft 1 —
Ha^ wer ihm zu entgegnen wüßt', der fand'
ihn schwJicher als ein Kind!"
Friedrich, der endlich von ihr zu dem Glauben gebracht wird,
daß er nur den Künsten bösen Zaubers erlegen sei, fühlt, seinen
Ehrgeiz, seinen Haß neu erwachen und seinen gesunkenen Mut
zurückkehren.
Nach und nach erlöschen die, Lichter im Palast, die Fenster
werden dunkel. Wenn die Grausame zu dem schwachen Manne
sagt: „Ich will dir erklären, wie wir ihre Nächte der Lust und der
Ruhe in Nächte des Kummers verwandeln können", erscheint die
musikalische Phrase wieder, welche die beiden letzten Akte wie ein
ätzendes Gift durchzieht (Notenbeispiel Nr. 6). Ortrud entdeckt
Friedrich, daß sie Elsa noch verderben könne; aber man müsse
sie um jeden Preis dahin bringen, ihren Eid zu brechen und ihren
Gatten nach seinem Namen und nach seinem Vaterland zu fragen.
In diesem Moment erklingt das Gebotmotiv Lohengrins, um aber
sogleich wieder von dem ersten verdrängt zu werden, das sich durch
das ganze Duo bald in langsamer, bald in schneller Bewegung, bald
entwickelt, bald verkürzt hindurchwindet und dem Finale als Ein-
*
leitung dienend über dasselbe einen erschreckenden Glanz breitet.
Friedrich, bewegt von Leidenschaften, die seiner eigentlichen
Natur fremd sind, gibt sich ungestümen Hoffnungen hin. Doch
Ortrud verspottet sie und fordert ihn auf, von ihr zu lernen, die
Freuden wollüstiger Rache mit Ruhe zu genießen. Doch wie
soll man dem Leser die Art von Taumel schildern, welche eine
widernatürliche Verbindung der Worte „Blutgier" und „liebewarm"
hervorbringen muß, wenn beide mit dem ihrem Wesen entsprechen-
den Ausdruck ausgesprochen werden. Dieser schroffe Gegensatz
gibt dem Hasse den Anschein einer so dissonierenden, so schneiden-
den Freude, daß man durch diese Töne ebenso heftig aufgeregt
Lohengrin. 109
wird, wie durch die lästerndste aller Blasphemien. Alles, was dem
Menschen heilig, scheinen sie zu verhöhnen und sich zu weiden am
Unglück und Verderben.
Ortrud führt Friedrich mit einer abstoßenden und grell gegen
die soeben itiit ihrem Gatten gewechselten Verwünschungen ab-
stechenden Hingebung zu den obersten Stufen des Portikus des
Münsters, des heiligen Zeugen dieser Höllenszene, zieht ihn zu sich
nieder, umschlingt ihn verlangend mit ihren Armen, heftet aber ihre
Blicke fest auf die letzten noch in den Fenstern des Palastes schim-
mernden Lichter. So umfangen singen sie Worte der Rache, getragen,
ernst und düster, deren Einklang die empörende Wirkung bestätigt,
welche durch die schauerliche Umarmung hervorgerufen wurde,
aus der Liebeslust das Band des Hasses webt und ihre Fackel an den
Hoffnungen der Mitschuld entzündet.
Nach beendetem Feste will Elsa nochmals in der Einsamkeit die
Überfülle ihres Glückes genießen. Auf den Balkon tretend, wo sie
glaubt, zu so später Stunde allein und unbeobachtet zu sein, trägt
sie die Freude über ihre unerwartete Befreiung in die Stille der
Nacht hinaus, deren Friede ihre Seligkeit einschließt. In einem Ton-
stücke von unendlicher Zartheit vertraut sie dem Hauche der
Abendwinde, die so oft ihre trostlosen Seufzer nach dem fernen
Befreier getragen, die nun empfundenen Wonnen in Strophen an,
deren Poesie nicht weniger ergreifend ist, als es die so berühmten
Verse der Tragödie Schillers sind, die Maria Stuart — ebenfalls
ein Opfer weiblichen Ehrgeizes und weiblicher Eifersucht — wenige
Augenblicke vor der verhängnisvollen, über ihr Verderben ent-
scheidenden Zusammenkunft den mit den Winden dahinfliehenden
Wolken zuruft.
Ortrud, Elsa erblickend, fordert Friedrich auf, sie zu verlassen,
damit sie ihren tückischen Plan ausführen könne. Allein gibt sie
sich Elsa zu erkennen und fleht sie um das Almosen ihres Mitleids
an. Die edle Fürstin, ergriffen von dem Mißgeschick ihrer Ver-
folgerin, will nicht, daß ihr Glück durch das Mißgeschick ihrer Feinde
getrübt werde, und ihrer erbitterten Nebenbuhlerin entgegen-
kommend, bietet sie ihr ein Asyl in ihrem eigenen Palaste an. Wäh-
rend sie den Balkon verläßt, um zu Ortrud herunterzusteigen, ruft
110 Lohengrin.
diese mit einem heiseren Siegesschrei, wie eine Priesterin, die ge«
wohnt ist, ihr Opfermesser in das Herz menschlicher Schiachtopfer
zu tauchen, ihre Götter um Hilfe an, die Götter, die von ihren frü-
heren Anbetern — jetzt Christen — verleugnet wurden. Sie ruft
Wodan an, den Donnerer — Freia, die Zauberin — sie beschwört sie,
ihren Verrat den Christen zum Verderben zu beschützen. Und eine
solche Leidenschaft, ein solcher Zorn entströmt ihrer Seele, als
wäre sie allen Höllengeistern preisgegeben.
Voll heuchlerischer Demut vor Elsa, sobald diese erscheint,
empfängt sie ihre Gaben und ihre Gastfreundschaft mit gleis-
nerischem Dank, hinzufügend:
„Wie kann ich solche Huld dir lohnen,
da machtlos ich und elend bin?
Soll ich in Gnaden bei dir wohnen,
stets bleib' ich nur die Bettlerin.
Nur eine Kraft ist mir gegeben,
sie raubte mir kein Machtgebot;
durch sie vielleicht schütz' ich dein Leben,
bewahr* es vor der Reue Not."
Dann flüstert sie ihr leise zur
„Laß mich für dich zur Zukunft schau'n."
Mit diesen Worten entschleiert die Orchestermusik die Absicht
der gehässigen Zauberin, indem sie den Satz wieder andeutet, welcher
in der letzten Szene das Gebotmotiv des Ritters durchkreuzt hat.
Sie fährt fort:
„Könntest du erfassen,
wie dessen Art so wundersam,
der nie dich möge so verlassen,
wie er durch Zauber zu dir kam!
Empört über diese Einflüsterung wendet sich Elsa stolz von ihr
ab, aber nach einem Augenblick unschuldigen Nachdenkens kommt
sie zurück zu Ortrud und sagt sanft:
„Du Ärmste kannst wohl nie ermessen,
wie zweifellos mein Herze liebt I
Du hast wohl nie das Glück besessen,
das sich uns nur durch Glauben gibtl
Lohengrin. 111
Kehr' bei mir ein! laß mich dich lehren,
wie süß die Wonne reinster Treu'!
Laß zu dem Glauben dich bekehren:
CS gibt ein Glück, das ohne Reu'I"
Ortrud hat die Schwelle der Türe überschritten, welche Elsas
Erbarmen ihr geöffnet hat. Die Ruhe der Nacht tritt ein, bis der
Tag zu dämmern beginnt.
Jetzt hört man die Wachen sich von der Höhe der Türme ihre
Signale geben, und der Ton ihrer Hörner wird von den entferntesten
Posten wiederholt, was einen glücklichen Effekt des Echo hervor-
bringt. Dieser kurze rhythmische Satz wird im Orchester durch
Homer und Fagotte ausgeführt, an welche sich bald nachher die
übrigen Blasinstrumente in einem lang gehaltenen Qrundtone des
D-Akkords anschließen, beinahe dreißig Takte, während welcher
das Crescendo immer lebendiger werdend dem Glänze des nahenden
Morgens entspricht.
Inzwischen öffnen sich die Tore der Stadt. Bürger und Krieger
kommen und begegnen sich in immer größer werdender Zahl auf
dem Hofplatz. Pagen und Diener gehen im Palaste aus und ein.
Die Bewegung. wird immer lebendiger.
Während alles in voller Regsamkeit ist, erscheint der Herold
des Königs. Mit dem in C stehenden Trompetensatz — dem Königs-
motiv — vereinigt sich pomphaft der Satz des Morgensignals, wel-
cher vordem nach demselben Intervalle moduliert wurde. Der
Herold im bizarren mittelalterlichen Kostüme seines Amtes ver-
kündet dem Volke die Verbannung des Grafen von Telramund, die
Vermählung Elsas, sowie „daß der Ritter, den Elsa eheliche, sich
nicht Herzog, aber Beschützer von Brabant nennen wolle und er
sich an die Spitze der brabantischen Edlen stellen werde, um sie zum
königlichen Heere, zum Kampfe gegen die Ungarn zu führen".
Der Chor antwortet mit lautem Rufe, der aus einem Bruchstück der
kriegerischen, Lohengrin zugeeigneten Melodie gebildet ist:
„Hoch der ersehnte Mann!
Heil ihm, den Gott gesandt I
Treu sind wir Untertan
dem Schützer von Brabant."
112 Lohengrin.
Friedrich geht in diesem Augenblick über den Platz. Einige
seiner treugebliebenen Freunde entziehen ihn den Blicken des
Volkes und bringen ihn in das Münster. Bald darauf erscheinen
Pagen oind Knechte, um in der Menge Platz für den Brautzug zu
machen, der eben im Begriffe ist, nach der Kirche zu ziehen, wo Elsa
mit Lohengrin verbunden werden soll.
Das ganze Intermezzo — von dem Augenblicke an, wo Ortrud
in Elsas Palast getreten ist, bis zum Erscheinen des Brautzuges —
hat nur die Bestimmung, dem Zuhörer einen Ruhepunkt zu ge-
währen. Es verlangt eine außerordentlich schöne Inszenierung,
welche unser Theater in Weimar nicht ganz verwirklichen konnte.
Das Auge muß fortwährend beschäftigt sein, so daß dieses malerische
Schauspiel einen Gegensatz zu den Aufregungen bildet, in denen
der Tonschöpfer fortwährend unsere Spannung erhalten hatte. Auf
Bühnen, wo die Zahl der Statisten nicht hinreichend und ihr Kostüm
nicht mannigfaltig ist, wo die einzelnen Gruppen nicht bewegt genug
sind, um die Illusion der Wirklichkeit hervorbringen zu können,
kann — wie sich nicht verhehlen läßt — diese Morgenszene leicht
ermüdend wirken, namentlich da das Publikum, dessen Aufmerk-
samkeit exciusiv durch die Musik in Anspruch genommen wurde,
schon abgespannt ist, noch ehe die Prinzessin mit ihrem edlen und
reichen Gefolge von hohen und mächtigen Damen mit ihren reich
besetzten Gewändern, ihren gestickten Wappenschildern auf den
Mänteln, mit den Baronen-, Grafen- und Herzogskronen, welche
ihre Schleier auf dem Haupte halten, sich in Bewegung setzt.
Elsa erscheint auf demselben Balkon, von dem sie in der Nacht
herabgestiegen war, und zieht über die Galerien des Palastes, bis
sie auf dem Platze ankommt. Hinter ihr wallt ein langer Zug nach
dem Takte einer sanften und ernsten Musik, die bewundernswert
der heiligen Zeremonie angepaßt ist, welche begangen werden soll.
Die Weihe, welche sie atmet, die schöne und fromme Rührung, die
sie erweckt, werden um so tiefer empfunden, als dieser milde und
ernst bewegte Charakter durch den Gegensatz der kurz vorher-
gehenden lebhaften und klaren Rhythmen nur noch mehr hervor-
gehoben wird. Die Prinzessin, noch schöner im Schmuck der Krone
und ihres silberdurchwebten Mantels, schreitet bewegt einher.
Lohengriti. 113
Das Orchester enthüllt uns alles, was in diesem Augenblick an
frommen und zärtlichen Erregungen der Jungfrau Herz durchwogt.
Die heilige und zugleich leidenschaftlich bewegte Jungfrau hält
den Blick gesenkt; aber aus den Akkorden errät man die Gedanken,
die ihre Seele beschäftigen. Ihr majestätisches Crescendo, fort^
während in der Doppelfärbung einer mystischen Inbrunst gehalten,
läßt uns fühlen, wie strahlend und keusch die Blicke sind, die ihre
Augenlider verschleiern. In der Tat: man kann gegenüber den
schönen Wirkungen, welche durch die Verteilung der Gefühle an
Musik und Wort — Orchester und Gesang — hervorgebracht sind,
Indem die Instrumente uns enthüllen, was auszusprechen dem ge-
sungenen Wort versagt bleibt, und umgekehrt das Wort — der
Gesang — wieder da eintritt, wo die Instrumente allein nicht aus-
reichend sind, die seltenen Hilfsmittel nicht genug bewundern, die
dem J\iusiker-Dichter zu Gebote stehen.
Unter den in Elsas Gefolge sich befindenden Edelfrauen ist die
allein außerhalb des Zuges schreitende Ortrud am stattlichsten
geschmückt. Ihre Züge aber zeigen den mit Gewalt unterdrückten
wilden Aufruhr ihres Innern. In dem Moment, als die Braut sich
den Stufen der Kirche nähert, stürzt Ortrud sich ihr entgegen und
zwingt sie zurückzutreten, indem sie ihr mit beleidigendem Lachen
entgegenruft:
Ortrud.
,,Zurück, Elsa! nicht länger will ich dulden,
daß ich gleich einer Magd dir folgen soll!
Den Vortritt sollst du überall mir schulden,
vor mir dich beugen sollst du demutvolll"
Die Edelknaben und Männer.
„Was will das Weib?"
Elsa,
(heftig erschrocken)
„Um Gott! was muß ich sch*n?
welch jäher Wechsel ist mit dir gescheh'n?"
Ortrud.
„Weit eine Stund' idi meines Werts vergessen,
glaubst du, ich müßte dir nur kriechend nah'n?
Mein Leid zu rächen will ich mieh vermessen;
was mir gebilfirt, das will ich nun empfidi'fl."
Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 8
114 Lohengrin.
Elsa.
„Weh! ließ ich durch dein Heucheln mich verleiten,
die diese Nacht sich jammernd zu mir stahl?
Wie willst du nun in Hochmut vor mir schreiten,
du, eines Qottgerichteten Gemahl?"
O r t r u d.
„Wenn falsch' Gericht mir den Gemahl verbannte,
war doch sein Nam' im Lande hochgeehrt;
als aller Tugend Preis man ihn nur nannte,
gekannt, gefürchtet war sein tapfres Schwert.
Der deine, sag', wer sollte hier ihn kennen,
vermagst du selbst den Namen nicht zu nennen?
n
Männer und Frauen,
(in großer Bewegung)
„Was sagt sie? Ha! was tut sie kund? —
Sie lästert! wehret ihrem Mund!'*
O r t r u d.
„Kannst du ihn nennen? kannst du uns es sagen,
ob sein Geschlecht, sein Adel wohl bewährt?
woher die Fluten ihn zu dir getragen,
wann und wohin er wieder von dir fährt?
Ha, nein! wohl brächte ihm es schlimme Not:
der kluge Held die Frage drob verbot!"
Männer und Frauen.
„Ha, spricht sie wahr? welch schwere Klagen! —
Sie schmähet ihn! darf sie es wagen?"
Elsa,
(von großer Betroffenheit sich ermannend)
„Du Lästererin! ruchlose Frau!
Hör*, ob ich Antwort mir getrau'! —
So rein und edel ist sein Wesen,
so tugendreich der hehre Mann,
daß nie des Unheils soll genesen,
wer seiner Sendung zweifeln kann!
Hat nicht durch Gott im Kampf geschlagen
mein teurer Held den Gatten dein?
Nun sollt nach Recht ihr alle sagen:
wer kann da nur der Reine sein?"
Lohengrin. 115
Männer und Frauen.
,,Nur er! nur er! dein Held alleinl"
O r t r u d.
,,Hal diese Reine deines Helden —
wie wäre sie so bald getrübt,
müßt' er des Zaubers Wesen melden,
durch den hier solche Macht er übt!
Wagst du ihn nicht darum zu fragen,
so glauben alle wir mit Recht,
du müssest selbst in Sorge zagen,
um seine Reine steh' es schlecht!"
Die Frauen.
(Elsa unterstützend)
„Helft ihr vor der Verruchten Haß!"
Männer,
(nach dem Hintergrund)
„Macht Platz! macht Platz! der König naht!"
In diesem Augenblick unterbrechen die Trompeten, welche das
Erscheinen des Königs verkünden, die Schmähungen Ortruds.
Dieser nähert sich mit Lohengrin, umgeben von Herren und Rittern,
um sich nach dem Münster zu begeben. Als er vor der hoch erröteten
und geängstigten Elsa ihre unversöhnliche Gegnerin gewahrt, tritt
Lohengrin rasch auf sie zu und fragt sie um die Ursache ihrer Ver-
wirrung. Sich hierauf gegen Ortrud wendend, um die verruchte
Heidin auf immer aus der Gegenwart seiner Braut zu bannen,
scheint er dieser zu zeigen, daß seine Sehergabe ihre boshaften An-
schläge durchschaut habe. Denn während er ihr mit dem Wort
entgegentritt:
„Du fürchterliches Weib! Steh' ab von ihr!
Hier wird dir nimmer Sieg!" — ,
ertönt gleichzeitig der Satz, welcher ihr gräßliches Duo mit Friedrich
begleitet hatte. Lohengrin faßt die Hand Elsas und schreitet mit
ihr zum Dom, in dem sie auf ewig vereint werden sollen.
Da werden plötzlich die Tore des Portals stürmisch aufgerissen.
Friedrich stürzt die Stufen herab und klagt seinen Sieger an, daß er
8*
116 Lohcngrin.
nur durch Zauberei gesiegt habe. Sich an das Volk wendend ruft
er ihm zu, Lohengrin den Eintritt in den Tempel xies Herrn zu ver-
weigern :
,,Gottes Gericht, es ward entehrt, betrogen,
Durch eines Zauberers List seid ihr belogen!"
Die vier Takte, welche den Kanon des Zweikampfes bildeten,
kehren mit diesen Worten wieder. Friedrich verlangt, daß sein
Gegner entdecke, „wer er sei, woher ihn der fremde Schwan ge-
bracht".
Lohengrin erwidert, „daß er, der Geächtete, kein Recht habe,
Antwort zu fordern, daß Elsa allein ihn zwingen könne, dieses Ge-
heimnis zu entdecken". Er wendet sich zu ihr und, sie ganz verwirrt
sehend, sucht er sie zu beruhigen; doch gleich einer ernsten Mahnung
ertönt das Qebotmotiv. Diesem Satze schließt sich das Ortrud-
motiv in einem Ensemble an, in dem die Bestürzung und Bangig-
keit, welche alle Personen ergriffen hat, schmerzlich pulsiert, aber
im wesentlichen von den standhaften Hoffnungen des unversöhn-
lichen, verbrecherischen und hochmütigen Paares beherrscht ist.
Beide scheinen Mann gegen Mann auf das äußerste kämpfen zu
wollen. Der letzte Satz gewinnt die Oberhand, als Friedrich sich
unbemerkt Elsa nähert und ihr in das Ohr flüstert:
„Vertraue mir! laß dir ein Mittel heißen,
das dir Gewißheit schafft."
Elsa,
(erschrocken, doch leise)
„Hinweg von mir!"
Friedrich.
„Laß mich das kleinste Glied ihm nur entreißen,
des Fingers Spitze, und ich schwöre dir:
was er dir hehlt, sollst frei du vor dir seh'n, —
dir treu soll nie er dir von hinnen geh'n.
Elsa.
„Ha, nimmerm^r!"
Friedrich.
„Ich bin dir nah* zur Nacht —
rufst du, ohn' Schaden ist es schnell vollbracht."
Lohengrin. 117
Das unheilvolle, giftschwangßre Motiv, aus einer langen, sech-
zehntaktig gebildeten Periode bestehend, hat hier den höchsten
Punkt dumpfer, in sich selbst erschauernder Heftigkeit erreicht und
verschwindet erst jetzt. Als Lohengrin den Grafen bei Elsa gewahrt,
stößt er ihn mit Heftigkeit fort, und diese fällt ihm zu Füßen, um
seine Verzeihung zu erflehen. Er hebt sie auf und fragt sie ernst:
„Läßt nicht des Zweifels Macht dich ruh'n?
Willst du die Frage an mich tun?"
Zu nahe ihrem Glücke, um dasselbe auf das Spiel setzen zu
können, erwidert Elsa:
„Mein Retter, der mir Heil gebracht!
Mein Held, in dem ich muß vergehen!
Hoch über alles Zweifels Macht
. . . soll meine Liebe stch'nl"
„Heil dirl" ruft Lohengrin freudebebend und wie von schwerem
Druck befreit. Sie schreiten zur Kirche, Friedrich und Ortrud
werden aus ihrem Wege entfernt; aber diese hebt noch mit einer
spöttisch drohenden Bewegung die Hand gegen Elsa, und man sieht
die Jungfrau, deren schwaches Herz die Tücke des Argwohns schon
durchdrungen hat, dem Umsinken nahe. Durch eine minutiös sorg-
fältig durchdachte und ebenso verständige Anwendung seines
Systems läßt Wagner die trotzige Haltung Ortruds im Orchester
mit dem mysteriösen Satze übereinstimmen, der jetzt wie eine
unheilvolle Drohung grollt, bis die Fanfaren des Brautmarsches ihn
allmählich übertönen.
Das den dritten Akt einleitende Instrumental-Stück
besteht aus mehr als hundert Takten in lebendigem Tempo. Es
atmet Feststimmung und edle Heiterkeit. EMe allgemeine Volks-
freude, die der feierlichen Trauung folgt, gibt sich darin kund.
Man glaubt die Signale der Turniere und die glänzende Waffen-
proben verkündenden Zinken zu vernehmen, die damals die Feste
und Hochzeiten so hoher und mächtiger Herren verherrlichten. .
Wir sehen dann das Brautgemach der Vermählten. Das Geleit
der Frauen und das der Männer, mit dem Könige an ihrer Spitze,
führen die Gatten durch entgegengesetzte Türen in dasselbe. Ihre
118 Lohengrin.
Gesänge durchziehen die Atmosphäre wie eine aus Weihrauch,
Narden und Myrrhen bestehende Wolke, von der sich ein Duo ab-
löst, das in Fluten von Melodien die reinste Wonnetrunkenheit der
Liebe, ihre unaussprechliche Zärtlichkeit, ihr heiligstes Erschauem
zart und duftig wie Äolsharfentöne ergießt. Die Hoheit, die Rein-
heit, die zarten Ergüsse, die sich in dieser Szene äußern, können
weder durch die Poesie noch durch den Gesang vollendeter und
idealer ausgedrückt werden.
Lohengrin.
— „zum erstenmal allein, seit wir uns sah'n,
nun sollen wir der Welt entronnen sein,
kein Lauscher darf des Herzens Grüßen nah'n. —
Elsa, mein Weibl Du süße reine Braut!
Ob glücldich du, das sei mir nun vertraut!'
I«
Elsa.
„Wie war' ich kalt, mich glücklich nur zu nennen,
besitz' ich aller Himmel Seligkeit,
führ ich zu dir so süß mein Herz entbrennen,
atme ich Wonnen, die nur Gott verleiht!'
1«
Lohengrin segnet das Geschick, das ihn zu ihrem Kämpen be-
stimmte, weil in ihr allein er sein Glück finden konnte. „ Ich sah dich
schon im Traum vor deiner Ankunft", erwidert sie in derselben
Melodie, die bereits im ersten Akte erklang, als sie den Traum, in
welchem er ihr erschien, erzählte, und fährt dann fort:
„Als ich nun wachend dich sah vor mir steh'n,
erkannt' ich, daß du kamst auf Gottes Rat.
Da wollte ich vor deinem Blick zerfließen,
gleich einem Bach umwinden deinen Schritt;
als eine Blume, duftend auf der Wiesen,
wollt' ich entzückt mich beugen deinem Tritt.
Ist dies nur Liebe? — Wie soll ich es nennen,
dies Wort, so unaussprechlich wonnevoll,
wie, ach! dein Name, den ich nie darf kennen,
bei dem ich nie mein Höchstes nennen soll!"
In dieser Anspielung bohrt schon die weibliche Neugierde an
dem die junge Vermählte beunruhigenden Geheimnis und verleitet
das naive Kind zu einer ungewöhnlichen Gewandtheit. Sie fährt fort :
Lohengrin. 119
,,Wie süß mein Name deinem Mund entgleitet I
Gönnst du des deinen holden Klang mir nicht?
Nur, wenn zur Liebesstille wir geleitet,
sollst du gestatten, daß mein Mund ihn spricht.
((
Lohengrin.
„Mein süßes Weib!"
Elsa.
„ — einsam, wenn niemand wacht;
nie sei der Welt es zu Gehör gebracht!"
Lohengrin.
(sie umfassend und an das Fenster tretend)
„Atmest du nicht mit mir die süßen Düfte?
wie so hold berauschen sie den Sinnl
Geheimnisvoll sie nahen durch die Lüfte —
fraglos geb' ihrem Zauber ich mich hin.
So ist der Zauber, der mich dir verbunden,
als ich zuerst, o Süße, dich ersah;
nicht brauchte deine Art ich zu erkunden:
dich sah mein Aug' — mein Herz begriff dich da.
Wie mir die Düfte hold den Sinn berücken,
nah'n sie mir gleich aus rätselvoller Nacht:
so mußte deine Reine mich entzücken,
traf ich dich auch in schwerer Schuld Verdacht."
Dieses wunderbare Zwiegespräch der edlen Liebenden hat
Wagner in so viel Schönheit getaucht, daß er selbst dieses sein Meister-
werk kaum jemals wird übertreffen können. Schon dadurch allein
hat er ein unbestreitbares Recht auf bleibenden Ruhm und auf den
Platz, welchen die Zukunft ihm unter den großen Tonschöpfern
vorbehält, begründet.
Elsa ruft mit der Hingebung, welcher der Heroismus des Wei-
bes ist:
„Ach! könnt* ich deiner wert erscheinen!
Müßt* ich nicht bloß vor dir vergehen!
Könnt' ein Verdienst mich dir vereinen,
dürft' ich in Pein für dich mich seh'n!
Wie du mich trafst vor schwerer Klage,
o! wüßte ich auch dich in Not,
daß mutvoll ich ein Mühen trage,
kennt' ich ein Sorgen, das dir droht!"
120 Lahengrin.
Man sieht sie so nach und nach dem Punkte sich nähern, den
ihre begierige Angst erstrebt. Lohengrin versucht ihre innere Auf-
regung mit nachsichtiger Zärtlichkeit zu beschwichtigen, aber mit
jedem Worte nähert sie sich mehr und mehr dem Abgrunde
Elsa.
,,0, mach' mich stolz durch dein Vertrauen,
daß ich in Unwert nicht vergeh' I
Laß dein Geheimnis mich erschauen,
daß, wer du bist, ich offen seh'!"
Ernst entgegnet ihr Lohengrin:
„Höchstes Vertrau'n hast du mir schon zu danken,
da deinem Schwur ich Glauben gern gewährt:
wirst nimmer du vor dem Gebote wanken,
hoch über alle Frau'n dünkst du mich wertl"
Nach diesen ernsten Worten sucht der strenge Gatte sie mit den
süßesten Liebkosungen des hingehendsten Geliebten zu beschwich-
tigen :
„An meine Brust, du Süße, Reine!
Sei meines Herzens Glühen nah,
daß mich dein Auge sanft bescheine,
in dem ich all mein Glück ersah!
0, gönne mir, daß mit Entzücken
ich deinen Atem sauge ein!
laß fest, ach! fest an mich dich drücken,
daß ich in dir mög' glücklich sein!
Dein Lieben muß mir hoch entgelten
für das, was ich um dich verließ;
kein Los in Gottes weiten Welten
wohl edler, als das meine hieß'/'
Diese Worte sind von dem Gebotmotiv Lohengrins begleitet.
Dieser fährt fort:
Drum wolle stets den Zweifel meiden,
dein Lieben sei mein stolz Gewähr;
denn nicht komm' ich aus Nacht und Leiden,
aus Glanz und Wonne komm' ich her."
Elsa stößt einen Schrei des Entsetzens aus. Das düstere Motiv
Ortruds, welches andeutend schon bei den Worten des Ritters:
Lohengrin. 121
„E>rum wolle stets den Zweifel meiden" auftauchte, kehrt noch
heftiger als im zweiten Akte, als Friedrich und Ortrud ihre Rache
beratschlagten, wieder. Denn das Fürchten der Liebe birgt größere
Qualen, größere Angst und mehr Schmerzen in sich als alle Raserei
des Neides. Der Argwohn, den Ortrud gesät, keimt und gärt.
Verzweiflung faßt das schwache Weib. Trostlos spricht sie:
,,Du kamst zu mir aus Wonnen
und sehnest dich zurück l
Wie soll ich Ärmste glauben,
dir g'nüge meine Treu'?
Ein Tag wird dich mir rauben
durch deiner Liebe Reu'!"
Vergebens sucht ihr Geliebter sie zu überzeugen, daß nur nagen-
der Zweifel die fAacXit ihrer Liebe, die ihn an sie fesselt, erschüttern
könne; fiebrische Glut verzehrt sie, Wahnsinn bemächtigt sich
ihrer. Lohengrin will ihn bezwingen, doch gelingt es ihm nicht.
Sie wähnt ein Geräusch zu vernehmen .... sie glaubt den Schwan
zu sehen, der gekommen, um ihn ihren Armen zu entführen und,
wie von Sinnen, bricht sie in düsterer Verblendung ihren Schwur.
„Elsa, was willst du wagen?"
ruft ihr der Ritter zu, während das Motiv seines Gebotes in Flam-
menzügen auftaucht. Aber sie vernimmt nicht mehr die Worte
ihres Heißgeliebten, sie trotzt ihm und ruft ihm zu:
„Den Namen sag* mir an!"
t*
Woher die Fahrt!"
„Wie deine Art!*'
In diesem Augenblick schleicht sich Friedrich durch eine ver-
steckte Türe mit gezogeneiti Schwerte, begleitet von vier Rittern in
das Gemach. Elsa, wie plötzlich erwachend, reißt sich mit Entsetzen
los von dem Verräter, der auf ihre weibliche Ungeduld, auf ihre
liebevollen Besorgnisse und unüberwindliche Neugierde gebaut
hatte, und reicht ihrem Gemahl, welcher die Meuchelmörder nicht
eintreten sah, hastig das an das Ruhebett gelehnte Schwert, sich
vor ihn hinwerfend, um ihn zu schützen.
122 Lohengrin.
Nach kurzem Kampfe streckt Lohengrin seinen Gegner tot zu
seinen Füßen nieder. Es folgt ein langes Stillschweigen; dann zieht
sich das verhängnisvolle, die menschliche Bosheit andeutende Motiv
wie ein ersterbendes Stöhnen durch das Orchester, und sowie Lohen-
grin den Genossen des Verrats zuruft: „Tragt den Erschlagenen vor
des Königs Gericht!", wird der Satz des Zweikampfs wiederholt.
Hierauf läßt er das Gefolge der ohnmächtig zusammengebrochenen
Elsa eintreten und befiehlt ihm, auch sie vor den König zu geleiten,
damit sie erfahre, wer ihr Gatte sei. Die Melodie seines Gebotes
beschließt geheimnisvoll diese Szene.
Ohne daß wir glauben möchten, daß sich der Autor, als er diese
mit einem ganz besonderen, sich immer mehr steigernden und er-
greifenden Interesse behandelte Episode seines Dramas schuf, durch
die Analogie seines Vorwurfs mit den Sagen, die unter so ver-
schiedenartigen Mythen die Neugier des Weibes als Ursache un-
zähligen Unglücks bezeichnen, habe bestimmen lassen, ruft er sie
doch unwillkürlich in unser Gedächtnis zurück.
Wie viele Fiktionen haben nicht bald wie eine unbestimmte
Erinnerung, bald wie eine weise Mahnung die mehr oder minder
umständliche, aber stets anziehende Erzählung der verhängnis-
vollen von der angeborenen Schwäche der Frauen herbeigeführten
Katastrophen gesammelt und aufbewahrt? Unter wie vielen Formen
hat nicht die Epopöe und die Geschichte dieselben bedauernswerten
Folgen der unbändigen und unseligen Ungeduld der Frauen uns
geschildert? Und doch — sooft eine solche Tragödie, wenn uns
auch noch so unbekannt, dargestellt wird, erregt sie von neuem
unsere ganze Teilnahme. Ihre Bedeutung und ihre Wahrheit haben
nichts von ihrem Einflüsse auf jedes Herz eingebüßt. Wer leiht der
Dalila nicht Züge, die ihm vielleicht teuer waren? Wer hat nicht
in der neugierigen Pandora oder in der unvorsichtigen Kriemhilde
verwandte und noch vorhandene Typen von Frauen erkannt, die
das dem Geheimnis schuldige Schweigen nicht zu bewahren ver-
stehen? Wie lachend oder auch wie düster die Phantasie der Völker
sein mag, welche ihnen im Süden mehr Anmut, im Norden mehr
Größe verleiht, so bedarf es nur der Verkettung fast immer ähnlicher
Lohengrin. 123
von der frevelnden Schönheit hervorgerufener Situationen, um in
uns stets dieselbe Spannung und Sympathie zu erwecken.
Der Autor, der mit jugendfrischem Hauche noch einmal die
alte Sage belebte, folgte sicher nur dem Fluge seines poetischen
Gefühls und kümmerte sich wenig darum, ob seine Auffassung sich
seinen Vorgängern nähere oder sich von ihnen unterscheide; ebenso-
wenig dachte er daran, diesen oder jenen Gedanken vorherrschen zu
lassen, diesen oder jenen Schluß aus ihnen zu ziehen. Wagner ist
wirklich zu sehr Dichter, um in seinen Dramen die Philosophie
in Handlung umsetzen zu wollen. Er ist Dichter, das heißt: er
gehorcht der Inspiration. Diese aber bewegt den Geist des Aus-
erwählten, wie der Hauch Apollos sich der Pythia bemächtigte, um
durch ihren Mund das Orakel des Tempels zu verkünden. Die-
jenigen, welche niemals von dieser Begeisterung erfaßt wurden —
eine slawische Sprache bezeichnet sogar Dichter und Seher mit
demselben Wort — mögen witzig Tendenz- und beweisfüh-
rende Gedichte schaffen; doch würden sie besser tun, sich an die
trockene Polemik zu halten.
Der Dichter, der nur schreibt, wenn der Gott ihn begeistert, wird
nie seinen flammenden Dreifuß zum Lehrstuhl umgestalten.
Überzeugen ist nicht seine Sendung.
Vor allem will er uns tief rühren. Er will seinen Hörern das
glühende Gefühl einimpfen, das ihn verzehrt. Er will sie die Tränen
weinen lassen, die er weint. Er will sie hinreißen durch das Ent-
zücken, das ihn ergreift.
Wenn daher einer seiner Zuhörer, mächtig erfaßt durch des
Dichters Visionen, es versucht, über die Folgereihe der Eindrücke
nachzudenken, die er von dem bald geheimnisvollen, bald mehr-
deutigen Orakel empfangen, durch welches die Kunst das Erhabene
in ihren Meisterwerken offenbart — wenn er zu enträtseln sucht,
worin sie sich gleichen, worin sie den schon vorhandenen poetischen
Schöpfungen sich nähern, worin sie sich von denselben unterscheiden,
so muß er stets darauf bedacht sein, nicht das Ergebnis seiner For-
schungen der Absicht des Dichters zuzuschreiben. Wahre Dichter
haben nur die eine Absicht, einen Funken des heiligen Feuers zu
rauben, um die Gebilde ihrer Phantasie damit zu beleben l
134 Lohengrin.
Elsa fesselt uns vielleicht mehr als alle anderen schönen Neu-
gierigen durch dti^ naive Reinheit, durch die glühende Hingebung
und Demut ihrer Liebe. Sie ist, dem Himmel sei's gedankt l keine
Klüglerin, keine Unabhängigkeitskämpferin, welche die
Rechte des Weibes fordert und alles erkennen, alles beurteilen
wollend notwendigerweise dem schönen Vorrechte des offenbarenden
Hellsehens, des instinktiven Ahnens entsagt — einem Vorrechte,
das nur dann dem Herzen bewilligt wird, wenn es, anstatt von dem
Verstand aufgeklärt zu werden, diesen erleuchtet. Elsa sucht durchaus
nicht in schönen Hexametern die Interessen ihrer Würde geltend zu
machen. Sie liebt mit einer anbetungswürdigen Einfachheit, und nur
die Furcht, ihren Gatten zu verlieren, treibt sie zur fieberhaften
Aufregung, zum Ungehorsam, zum Meineid. Vor diesem Momente
ihrer Verwirrung fühlte und verkündete sie die Identität der Liebe
und des Glaubens. Jedes ihrer Worte atmete diese liebende Selbst-
verleugnung, welche die Seele in ein absolutes Vertrauen und ein
freiwilliges Gehorchen versenkt, in dessen Schoß der Zweifel keinen
Raum findet.
Die, welche lieben, — haben sie nicht auch ihre C artesische
Formel, auf welche das ganze System ihres Gefühlslebens sich
gründet? Das »cogito, ergo sum « — läßt es sich nicht übersetzen
in: „Ich empfinde, also weiß ich*'? Die ebenso analytische
als divinatorische Intelligenz der Griechen, welche die wertvollen
Allegorien ihrer Mythologie so sorgfältig in bunte Zierraten ein-
balsamierte, verkannte keineswegs die Allgewalt der Liebe, die sich
von der Intelligenz lossagt und deren enge Grenzen schwungvoll
überfliegt. Was uns selbst betrifft, so erblicken wir einen höheren
Sinn in der vom Altertum um Amors Augen gelegten Binde, als die
alltägliche Interpretation sie gibt. Die Liebe beruft sich wahrlich
nicht auf sehende Augen, um die Schönheit und das Nahen des
Gellebten zu erkennen.
Elsa hatte sich durch diesen Glauben, der sich die Gewißheit des
Herzens nennen läßt, zu ihrem mit übermenschlichen Eigenschaften
begabten Geliebten erhoben, und wenn er ihr bis zuletzt seine Liebe
bewahrt, so geschieht es, weil sie, sobald der Versucher erscheint,
um ihre Neugierde zu befriedigen, vollste Reue empfindet. Ange-
Lohengrin. 125
sichts des Verräters erkennt sie den Irrtum, der sie zur Verbündeten
des Hasses und der Bosheit machen wotlte. Sie weist nun die be-
gehrte Antwort zurück — sie will unwissend bleiben. . . Sie
fühlt die Größe ihrer glaubenden Unwissenheit, und zur natürlichen
Klarheit ihres Wesens, zum Lichte und zur Kraft ihrer demütigen
Unschuld zurückkehrend, stößt sie mit ungestümer Hast denjenig^
von sich, welcher sie das Oute und das Böse erkennen lassen wollte.
Den Peripetien dieser pathetischen Szene folgt man mit um so
größerer Spannung und Ergriffenheit, als das von Lohengrin ver-
borgene Geheimnis so groß, so schön, so voll Liebe ist. Die Seele
identifiziert sich gleichsam mit den mannigfachen Schmerzen dieses
Kampfes, und in ihm ehi verwandtes Bild zu erkennen wähnend,
flüstert sie den Namen: Psyche!
Wenn der Glaube nicht die schönste Mitgift, der glänzendste
Schmuck, das letzte Ziel aller Liebe ist: woher käme dann unsere
Sympathie für dieses Weib, welches sich mit Entzücken einem Un*
bekannten hingibt? Wenn man dem Gefühle das Recht abstreitet,
„ahnend zu bestätigen, was die Vernunft nicht beweisen kann":
würde es von ihr nicht eine Art Kleinmut statt Glaube gewesen sein,
was sie zu ihm hinführte? Weshalb sind wir so gerührt, wenn wir
Elsa mit engelhafter Reinheit von Mitleid für Ortrud, „die nicht
glauben kann'*, ergriffen sehen? Wodurch würde sich unsere Genug*
tuung erklären, wenn wir sie die Einflüsterungen Friedrichs ab-
weisen sehen und Lohengrin antworten hSren: „Hoch über alles
Zweifels Macht soll meine Liebe stehen."? Warum endlich finden
wir sie erhaben, wenn sie, plötzlich ihrem Mißtrauen und Zweifel
entsagend, darauf verzichtet, das Geheimnis, um dessen Enthüllung
sie soeben noch gefleht, zu erfahren, wenn sie Lohengrin im Gegen-
teil schützen, verteidigen will und denjenigen mit dem Schwerte
zu bewaffnen eilt, den sie von k^ner wahren Gefahr bedroht glaubte?
Wäre in der Liebe der verlangte und demjenigen, der mehr weiß
und mehr vermag, so gern bewilligte Glaube nicht ein Gesetz, son-
dern eine tyrannische Forderung: müßte dann nicht Elsa, um kon-
sequent, heroisch, bewunderungswert und bewundert zu sein, darauf
bestehen zu wissen, den zu kennen, zu beurteilen, der sie
demütigte und erniedrigte, indem er auf ihre vertrauende Liebe
126 Lohengrin.
hoffte? — Die von der Poesie geleitete Fiktion hat demnach hier
noch einmal als höchste Potenz der Leidenschaft, als ihre Blüte und
gleichzeitig die in ihrem Kelch verschlossene Frucht dargestellt:
den Glauben in der Liebel
Indem Lohengrin das Brautgemach verläßt, fällt der Vorhang;
die Szene verändert sich und zeigt dieselbe Ansicht, wie im ersten
Akt. Die Barone, Grafen und Herzöge versammeln sich zu Roß,
jeder das mit seinem Wappen und seinem Wahlspruch geschmückte
Banner tragend, das er an seinem Platze aufpflanzt, und um das
sich seine Mannen scharen. Eine rauschende, kriegerische Musik
wird auf der Bühne durch acht in vier verschiedenen Tonarten
stehende Trompeten — D, Es, E und F — ausgeführt, von denen
jede einzeln in ihrem Tone auf einer das wüde Getümmel der Pferde
nachahmenden Baßfigur eintritt. Letztere wird von allen Streich-
instrumenten unisono ausgeführt. Sie fährt ohne Unterbrechung
in Triolen mehr als hundert Takte fort, bis die vier Trompeten des
Königs einfallen, welche, sooft er erscheint, stets dieselbe Fanfare
— das schon erwähnte Königsmotiv — blasen. Dieses Mal werden
sie von den Trompeten der Scharen der Edlen, von einer nach der
anderen, begrüßt, die sich dann mit ihnen vereinigen, immer lär-
mender erklingen, bis zuletzt alle gleichzeitig ertönen. Ihre raschen,
sich zusammendrängenden Rhythmen bringen eine Art Jauchzen
und Hurra hervor, an das sich ein verlängerter Trompetenwirbel
anschließt. Das betäubende Schmettern und Wirbeln endet, sowie
der König sich auf seinem unter einer alten Eiche aufgeschlagenen
Throne niederläßt. Bald darauf bringt man auf einer Bahre die
Leiche Friedrichs.
Elsa naht, gesenkten Hauptes, niedergebeugt, verwirrt, und das
Volk, erstaunt, bringt, während sie vorüberschreitet, ihr lobprei-
send Huldigungen dar. Die Melodie des von Lohengrin an Elsa
erlassenen Gebotes ertönt jetzt zum letzten Male: denn das Geheim-
nis, das sie kennzeichnet, wird bald vor aller Augen enthüllt. Die
Rufe bewundernden Beifalls, welche sich mit diesem musikalischen
Satze verbinden, erinnern daran, wie sehr Elsas Größe auf ihrem
Vertrauen, auf ihrem demütigen Gehorsam, ihrem treuen Schweigen
beruhte! Der Chor singt:
Lohengrin. 127
„Sehtf Elsa naht, die tugendreiche!
Wie ist ihr Antlitz trüb' und bleicher*
und zum letzten Male vernimmt man auch die Melodie, welche
während des zweiten Aktes so häufig wiedergekehrt war: die Melodie,
welche die Verwünschungen Ortruds zu knirschender Wut steigerte.
Das Werk der Sünde ist vollbracht — das Glück Elsas ist vernichtet!
Die Trompeten decken diese düstere Färbung, das Lohengrin-
motiv in dem Augenblicke intonierend, in welchem er erscheint und
dem Könige, der mit seinem Gefolge glaubt, er komme, um sich
dem Heere gegen die Feinde des Reiches anzuschließen, verkündet,
daß er nicht in dieser Absicht, sondern als Ankläger erscheine.
Lohengrin.
„Mein Herr und König, laß dir melden:
Die ich berief, die kühnen Helden,
zum Streit sie führen darf ich nicht!"
Alle Männer,
(in größter Betroffenheit)
„Hilf Gott! welch hartes Wort er spricht!"
Lohengrin.
Als Streitgenoß bin ich nicht hergekommen,
als Kläger sei ich Jetzt von euch vernommen! —
Zum ersten klage laut ich vor euch allen
und frag' um Spruch nach Recht und Fug:
Da dieser Mann mich nächtens überfallen,
sagt, ob ich ihn mit Recht erschlug?"
Er hat Friedrichs Leiche aufgedeckt: alle wenden sich mit Abscheu davon ab.
Der König und alle Männer.
(die Hand nach der Leiche ausstreckend)
„Wie deine Hand ihn schlug auf Erden,
soll dort ihm Gottes Strafe werden!"
Lohengrin.
„Zum and'ren aber sollt ihr Klage hören;
denn aller Welt nun klag* ich laut:
daß zum Verrat an mir sich ließ betören
die Frau, die Gott mir angetraut."
Alle Männer.
„Elsa! wie mochte das geschehen!
Wie konntest so du dich vergehen?"
128 Lohengrin.
Lohengrin.
„Ihr hörtet alle, wie sie mir versprochen,
daß nie sie woll' erfragen, wer ich bin.
Nun hat sie ihren teuren Schwur gebrochen,
treulosem Rat gab sie ihr Herz dahin!
Zu lohnen ihres Herzens wildem Fragen
sei nun die Antwort länger nicht gespart;
des Feindes Drängen dürft' Ich sie versagen:
nun muß ich künden, wie mein Nam' und Art. —
Jetzt merket wohl, ob ich den Tag muß scheuen:
vor aller Welt, vor König und vor Reich
enthülle mein Geheimnis ich in Treuen.
So hört, ob ich an Adel euch nicht gleich!"
Während das Orchester das Motiv der ersten Introduktion in
seiner ganzen Pracht wiedergibt, erzählt Lohengrin weltvergessen,
verzückt, in einer verklärten Weise, die berauscht, wie der nächt-
liche Duft eines in voller Blüte prangenden Orangenhaines:
„In fernem Land, unnahbar euren Schritten,
liegt eine Burg, die Monsalvat genannt;
ein lichter Tempel stehet dort inmitten,
so kostbar, wie auf Erden nichts bekannt:
drin ein Gefäß von wundertät'gem Segen
wird dort als höchstes Heiligtum bewacht.
Es ward, daß sein der Menschen reinste pflegen,
herab von einer Engelschar gebracht.
Alljährlich naht vom Himmel eine Taube,
um neu zu stärken seine Wunderkraft:
es heißt der Gral, und selig reinster Glaube
erteilt durch ihn sich seiner Ritterschaft.
Wer nun dem Gral zu dienen ist erkoren,
den rüstet er mit überird'scher Macht;
an dem ist jedes Bösen Trug verloren:
wenn ihn er sieht, weicht dem des Todes Nacht.
Selbst wer von ihm in ferne Land' entsendet,
zum Streiter für der Tugend Recht ernannt,
dem wird nicht seine heiFge Kraft entwendet,
bleibt als sein Ritter dort er unerkannt.
So hehrer Art doch ist des Grales Segen,
enthüllt — muß er des Laien Auge flieh'n;
des Ritters drum sollt Zweifel ihr nicht hegen:
erkennt ihr ihn, dann muß er von euch ziehen. —
Lohengrjn. 129
Nun hört, wie ich verbot'ner Frage lohne.
Vom Gral ward ich zu euch daher gesandt:
Mein Vater Parzival trägt seine Krone,
sein Ritter ich — bin Lohengrin genannt."
Das volle Unisono des ganzen Orchesters läßt hier seine Melodie
mit einer so leuchtenden Kraft ertönen, daß wir uns die Fanfaren
der himmlischen Heerscharen, unter denen der heilige Georg und der
Erzengel Michael als Führer kämpfen, nicht herrlicher vorstellen
können. Er fährt fort:
„Nun höret noch, wie ich zu euch gekommen! —
Ein klagend Tönen trug die Luft daher,
daraus im Tempel wir sogleich vernommen,
daß fem wo eine Magd in Drangsal war'.
Als wir den Qral zu fragen nun beschickten,
wohin ein Streiter zu entsenden sei,
da auf der Flut wir einen Schwan erblickten;
zu uns zog einen Nachen er herbei.
Mein Vater, der erkannt des Schwanes Wesen,
nahm ihn in Dienste nach des Orales Spruch: —
denn wer ein Jahr nur seinem Dienst erlesen,
dem weicht von dann ab Jedes Zaubers Fluch,
Zunächst nun sollt' er mich dahin geleiten,
woher zu uns der Klage Rufen kam;
denn durch den Qral war ich erwählt zum Streiten,
darum ich mutig von ihm Abschied nahm.
Durch Flüsse und durch wilde Meereswogen
hat mich der treue Schwan dem Ziel genaht,
bis er zu euch ans Ufer mich gezogen,
wo ihr in Oott mich alle landen saht."
Diese lange Erzählung beschließt die Oper „Lohengrin", ebenso
wie die Erzählung Tannhäusers das Werk, das seinen Namen trägt,
beendigt. Aber diese ist düster wie die Verzweiflung, nagend wie
die Reue, marternd wie die Folter des Gewissens. Alle Qualen
unseres eigenen Herzens finden in ihr einen Ton: getäuschte Hoff-
nungen, unaussprechliches Elend, grausame Ironie, vergällte Lust!
In der Erzählung Lohengrins dagegen bricht in dem Maße, wie er
iii der Erzählung fortfährt, die Morgenröte eines hellprangenden Tages
an. Eine feierliche Ruhe ergreift die Seele, als verbreite sich strah-
lend immer lebendiger und alles umfassend eine überirdische, mysti-
sche Helle. Jeder Ton klingt wie ein Seufzer der Seligkeit, der
Li szt, Gesammelte Schriften. IL V.A. 9
130 Lohengrin.
jenem Ort entsteigt, wo weder das Böse noch der Schmerz, weder
Tod noch Verderbnis Zutritt haben — dem Ort, wo die Heiligkeit
berufen ist, die ganze Fülle der unnennbaren himmlischen Wonnen
zu genießen, wo die Seele der Erwählten schwelgt in der übermensch-
lichen Verzückung, die der Anblick Gottes gewährt.
Tannhäusers letzte Erzählung wird von Takt zu Takt düsterer,
zerrissener, beklommener. Der Fluchbeladene ruft durch gottes-
lästerliche Verwünschungen die dunkle Höhle herbei, aus der ver-
führerische Töne zu ihm dringen und ihn zu ewiger Verdammnis
locken. In Lohengrins letzter Erzählung dagegen tritt seine Gestalt
immer leuchtender hervor, gleich Umrissen eines verklärten Körpers
auf goldenem Grunde. Tapfer und stark, heilig und rein, alles Mensch-
liche durch seinen mächtigen Geist überragend, enthüllt er unserer
entzückten Betrachtung das Wesen eines engelgleichen Helden,
eines göttlichen Boten, eines Unsterblichen, der, vor jeder Wunde
und Schwäche gefeit, dennoch dem höchsten Leide preisgegeben ist
— der grenzenlosen Trauer um zerstörtes Liebesglück. Dieses Leid,
diese Trauer äußern sich ergreifend, wenn Lohengrin Elsa zum
letztenmal an sein von ihr verkanntes Herz drückt und spricht:
„O Elsal nur ein Jahr an deiner Seite
hätt' ich als Zeuge deines Glücks ersehnt!
Dann kehrte, selig in des Grals Geleite,
dein Bruder wieder, den du tot gewähnt. —
Kommt er dann heim, wenn ich ihm fern im Leben,
dies Hörn, dies Schwert, den Ring sollst du ihm geben!
Dies Hom soll in Gefahr ihm Hilfe schenken,
in wildem Kampf dies Schwert ihm Sieg verleiht:
Doch bei dem Ringe soll er mein gedenken,
der einstens dich aus Schmach und Not befreit!"
In dieser entsagenden, aber unüberwindlichen Grames vollen
Klage bricht der höchste Schmerz einer männlich duldenden Seele
hervor. Wagner scheint das selbst empfunden zu haben; denn er
wiederholt diese Klage zweimal — eine seltene Ausnahme fn seinem
Systeme musikalischer Deklamation.
Das Volk, stumm, voll Bestürzung, sieht plötzlich den Schwan
sich nahen, denselben Nachen mit sich führend. Das Motiv der
Introduktion, das wieder ungekürzt erklingt, wird zum zweiten Male
Lohengrin. 131
durch das Lohengrin individualisierende Motiv unterbrochen, jetzt
aber in eine weiche Tonart transponiert, in Betrübnis gehüllt,
Trauer ausdrückend.
Elsa stürzt zu den Füßen ihres Gatten, der ihr mit der ganzen
Betrübnis der Liebe vorwirft, ihr beiderseitiges Glück zerstört und
sein Herz geopfert zu haben. Der König, die Edlen, das Volk wollen
ihn zurückhalten, allein er entgegnet:
>,Schon sendet nach dem Säumigen der Gral."
Als Elsa den Schwan erblickt, stößt sie einen Schrei der höchsten
Angst aus. Lohengrin schreitet dem Ufer zu und sagt trauernd dem
geheimnisvollen Schwan, daß er gehofft, ihn erst in Jahresfrist und
in anderer Gestalt wiederzusehen. Es moduliert währenddessen die
Melodie der ersten Introduktion mit einer Begleitung der Violinen
im Tremolo, das wie das Säuseln des stillbewegten Hauches der Luft
erklingt. Noch einmal wendet er sich zu Elsa, um zum letztenmal,
bevor er von ihr scheidet, sie, seine süße Frau, zu umarmen.
Als er sie verläßt, sinkt Elsa ohnmächtig nieder. Unerwartet
erscheint plötzlich Ortrud neben ihr. Wie halb erstickt vor teuflischer
Lust, zeigt sie ihr den Schwan und, um sie ganz der Verzweiflung
preiszugeben, bereitet sie sich selbst den unfehlbaren Untergang,
indem sie kreischend ruft:
Ortrud.
„Fahr' heim! fahr' heim, du stolzer Heide,
daß Jubelnd ich der Törin melde,
wer dich gezogen in dem Kahnl
Das Kettlein hab' ich wohl erkannt,
mit dem das Kind ich schuf zum Schwan:
das war der Erbe von BrabantI"
Alle.
„Hai"
Ortrud.
(zu Elsa)
„Dank, daß den Ritter du vertrieben!
Nun gibt der Schwan ihm Heimgeleit:
der Held, war' länger er geblieben,
den Bruder hätt' er auch befreit."
9*
132 . Lohengrin.
Alle.
,, Abscheulich Weib! ha, welch Verbrechen
hast du in frechem Hohn bekannt!"
O r t r u d.
,, Erfahrt, wie sich die Götter rächen,
von deren Huld Ihr euch gewandt!'
I«
Bei diesem Schrei des wildesten Jubels läßt sich Lohengrin, der
schon am Ufer des Stromes steht, zu einem stillen Gebete auf die
Knie nieder, zugleich nimmt das Orchester das hoheitsvoll und
feierlich klingende Motiv des heiligen Grals wieder auf. Der Schwan
verschwindet in den Gewässern, und eine Taube schwebt hernieder
und ergreift die Kette des Nachens. Aus den Fluten erhebt sich
Gottfried von Brabant. Alle begrüßen den jungen Prinzen.
Die Melodie Lohengrins fällt wieder ein und entfaltet sich majestä-
tisch, bis er die Barke bestiegen, die dann, gezogen von der Taube,
sich langsam entfernt.
Elsa entwindet sich den Armen ihres Bruders Gottfried und will
ihrem Gatten nacheilen, doch sieht sie ihn schon auf den Fluten
dahinziehen. Die frühere Melodie tritt nun in weicher Moll-Tonart
ein. Man glaubt zu hören, wie der Geliebte aus der Ferne ihren
Abschiedsruf erwidert. Da stößt sie einen Schrei aus, sinkt hin
und stirbt.
IIL
Mit dieser Darlegung glauben wir keineswegs das so große und
so ergreifende Interesse dieses Dramas erschöpfend wiedergegeben,
verständlich gemacht zu haben, wie Wagner seine Umrisse ent-
schieden und doch zart zu zeichnen, sein Kolorit reich und doch
weich zu geben verstand 1 welch tiefgehende Kenntnis der Dichter
und Musiker gegenüber den künstlerischen Mitteln hier bekundet
hat! Der Charakter der Personen ist bei dem einen wie bei dem
anderen über alles bewunderungswürdig durchgeführt. Wagner
hat es verstanden, mit einer Feinheit des Gefühles, die man nicht
müde wird, in allen seinen Intentionen zu verfolgen, das göttliche,
den Sieg seines Ritters kennzeichnende Element mit dem Charakter
Lohengrin. 133
der Tapferkeit, mit dem persönlichen Heldenmute zu verschmelzen,
der ihn uns menschlich näher bringt, während er anderenfalls so
leicht zu einem kalten Sendboten hätte werden können.
Lohengrin tritt uns vom ersten Moment an bestimmt, ernst,
gebieterisch und doch mild wie ein Heiliger der Legende entgegen.
Der Geliebten gegenüber ist er duldsam. Seine Liebe umfängt sie
mit dem blendenden Glanz, der von den Seligen ausstrahlt. Diese
Seligkeit schien ein undankbares, schales Thema zu sein: so wenig
war es bis jetzt gelungen, ihm ein wahres Interesse abzugewinnen.
Hier aber hat das einförmig Unendliche zu einem der ergreifendsten
Kunstwerke begeistert. Denn es wird sich schwerlich leugnen lassen,
daß der dichterisch schönste Teil der Partitur gerade in diesem
Thema liegt, welches vom Orchester zunächst in einer exquisiten
Instrumentation entwickelt wird und wiederkehrt, sooft das wunder-
hafte Einwirken des heiligen Grals die Handlung umschwebt und in
uns die Ahnung jenes Parac^ses hervorruft, wo himmlische Liebe,
nie endende Seligkeit und der Segen Gottes unbegrenzt herrschen.
Elsa, eine glühende und schwache Seeie, träumt, betet, liebt
und findet erhabene Laute, in denen sie ihr Lieben, Beten, Träu-
men hervorstammelt. Ihr Gesang ist wie der sich im Takte bewe-
gende Hauch magnetischen Atems. Er verliert sich im Unendlichen,
ähnlich wie am weiten Horizont blaue Wellen mit einem blauen
Himmel zusammenfließen. Ihre Begegnung mit Ortrud, die auf deren
tobende Anrufungen ihrer Götter folgt, mit diesem Dämon von
Frau, die wir so oft „ein fürchterliches Weib" nennen hören, darf
als eine musikalische Übertragung des Bildes von der heiligen Mac-
garetha gelten : die Heilige mit den kristallreinen, feuchten Augen
voll sanfter Güte, umgeben von häßlichen Reptilien, welche
zischend die Füße der ihrem tödlichen Stachel geweihten Märtyrer-
Jungfrau umringein.
Ortrud ist eine von den ruchlosen Alltagstypen unserer Bühnen
so verschiedene Schöpfung, daß sie bestimmt scheint, eines Tages
neben einer Lady Macbeth, einer Margaretha von Anjou ihren Platz
zu erhalten, wie Elsa neben Miltons Eva oder deV antiken Psyche.
Friedrichs Rolle ist, obwohl es so scheinen mag, keineswegs
eine untergeordnete. Bestrickt durch die Weissagungen, vertrauend
134 Lohengrin.
auf die geheime Wissenschaft seiner Frau, ist er im Unglück voll
Gewissensbisse; denn er hatte sich nicht entwürdigen wollen. Er
beklagt seine verlorene Ehre; er glaubt an den Gott, den Ortrud
schmäht. Und nur dadurch, daß sie ihm vorspiegelt, die Kraft seines
Gegners sei keine von Oben, bringt sie ihn so weit, daß er die ihm
widerfahrene Ungerechtigkeit rächen will, das Ziel seiner hochfahren-
den Wünsche wieder zu erreichen strebt, und in ohnmächtigem Zorn
der Verzweiflung anheimfällt.
Sollten dramatische Musiker vielleicht geneigt sein, dem Libretto
des „Tannhäuser'' oder dem des „Fliegenden Holländer" als gleich
poetisch in ihrer Anlage und in der Schönheit ihrer Verse, dabei
aber von einem mit ihrer Kunst leichter in Einklang zu setzenden
Wesen den Vorzug vor dem des „Lohengrin'' zu geben, so werden
die dramatischen Dichter dagegen das letztere Gedicht über alle
stellen müssen, die Wagner bis jetzt geschaffen hat. Sein litera-
risches Verdienst genügt, um den Verfasser unter die mit wahrhaft
tragischem Sinn begabten Schriftsteller zu setzen. Neben tief er-
greifenden Versen, packenden Ausrufungen, neben einem Dialoge,
in welchem die geheimen Triebfedern der Personen sich äußerst
geschickt in den Wendungen der Gedanken verraten, ist die Ver-
sifikation an und für sich nicht allein klangvoll und schön, der Stil
edel und den Charakteren angemessen, sondern das Drama entlehnt
noch außerdem eigentümliche Reflexe des Mittelalters durch die
Reproduktion altdeutscher Sprachwendungen und den Gebrauch
vieler Worte, die, ohne vollständig vergessen zu sein, doch den
Stempel des Altertümlichen tragen.
Ebenso ist der Takt und der gute Geschmack besonders zu er-
wähnen, mit welchem diese Nachahmung sich nur auf leicht faß-
bare Wendungen beschränkt, die selbst für solche, welche in die
Geheimnisse des gelehrten Archaismus nicht eingeweiht sind, ver-
ständlich bleiben. Er ist nie so weit getrieben, daß das Verständnis
des Gedichtes erschwert würde. Doch begnügt sich Wagner nicht
damit, dem Ohre die alten Assonanzen zurückzurufen. Auch in der
Art die Buchstaben zu ordnen setzt er diese Imitation fort, und wie
die alten Poeten, Wolfram von Eschenbach und andere, fängt
er nicht jeden Vers mit großem Anfangsbuchstaben an. Es sind das
Lohengrin. 135
unbedeutende Einzelheiten; aber sie fallen auf, sowie man das
Textbuch des „Lohengrin" in die Hand nimmt.
Die Obereinstimmung aller dieser Eindrücke führt uns so leben-
dig in die Zeit und ihre von Wagner neu belebten Glaubensan-
sichten zurück, daß wir nicht überrascht sein würden, wenn der mit
lebendiger und warmer Phantasie begabte Teil des Publikums das
Opernhaus fast überzeugt von der Existenz des heiligen Grals, seines
Tempels, seiner Ritter und seiner unendlichen Seligkeit verlassen
würde.
Die Musik dieser Oper hat als Hauptcharakter eine solche Ein-
heit der Konzeption und des Stils, daß es in derselben keine me-
lodische Phrase und noch viel weniger ein Ensemblestück oder
irgend eine Passage gibt, die getrennt vom Ganzen in ihrer Eigen-
tümlichkeit und in ihrem wahren Sinne verstanden werden kann.
Alles verbindet, alles verkettet, alles steigert sich. Alles ist mit dem
Sujet auf das engste verwachsen und kann nicht von demselben
losgelöst werden. Es würde sogar schwer sein, selbst bedeutende
Bruchstücke dieser Tondichtung, in welcher keine Mosaik, nichts
eingeschaltet, nichts Überflüssiges enthalten ist, gerecht zu be-
urteilen; denn alles verkettet sich in derselben und greift ineinander
wie die Maschen eines Netzes. Alles ist hier genau erwogen und
folgerichtig bestimmt, jeder Harmonienfoige geht der mit ihr korre-
spondierende Gedanke voraus oder folgt ihr — eine durch ihre syste-
matische Strenge wesentlich deutsche Prämeditation, die uns von
diesem großen Werke sagen läßt, daß es zu den durchdachtesten
aller Inspirationen gehört.
Übrigens ist es nicht schwer, sich Rechenschaft darüber zu geben,
warum jede aus dem Werke herausgenommene Episode an Reiz
verlieren muß, wenn man sich das Prinzip in das Gedächtnis zurück-
ruft, nach welchem Wagner durch Musik Rollen und Ideen per-
sonifiziert. Die Anwendung der fünf Hauptmotive — das heilige
Gralmotiv der Instrumentaleinleitung der Oper; das Gottes-
urteilmotiv, das man bei Verkündigung des ersteren vernimmt;
das Lohengrin motiv, sein Erscheinen begleitend; das Verbot-
motiv, das mit der Erklärung an Elsa eintritt; endlich dasOrtrud-
motiv, welches mit ihren unheilvollen Drohungen ertönt — , sowie
136 Lohengrin.
die häufigen, aber stets begründeten Wiederholungen der Neben-
motive erlaubt natürlich nur dann dem dramatischen Gedanken
vollständig zu folgen und das Interesse, welches dieser so neue, so
bestimmte und in allen Beziehungen so klare Aufbau hervorruft,
ganz zu empfinden, wenn man dahin gelangt ist, in alle Feinheiten
dieses schönen Denkmals sowie in alle in der allgemeinen Anlage
seines Planes verborgenen Intentionen eindringen zu können.
Es gibt Menschen, die mit Hilfe einer einzigen Idee, einer ein-
zigen Erfindung, einer einzigen anscheinend nur kleinen Entdeckung
ungeheure Veränderungen in der Sphäre, in welcher diese Ent-
deckungen liegen, hervorrufen^ Wieder andere erweitern das Wissen
ihrer Vorgänger und vergrößern das Gebiet, auf dem ihr Gedanke
arbeitet, durch eine bis dahin nicht angewandte Koordination, von
bereits vorhandenen Dingen, ohne ihnen gerade ein neues Faktum
oder ein noch unbekanntes Element zugefügt zu haben.
Wagner ist ein Neuerer, wie diese letzteren. Sein System
knüpft durch die Bedeutung, welche er der dramatischen Dekla-
mation beilegt, an die Tradition Glucks, sowie durch die lyrische
Deklamation und die sorgsame Ausarbeitung der Instrumentation
an diejenige Webers.
Wagner würde sicher die Dedikationsschrift der „Alceste" ge*
schrieben haben, hätte es Gluck nicht schon getan. Die großen
hier niedergelegten dramatischen Ideen belegen das. Diese Dedi-
kation lautet in ihren Hauptsätzen:
„Als ich den Entschluß faßte, die Oper Alceste in Musik zu
setzen, nahm ich mir vor, alle Mißbräuche, welche die übel ange?
brachte Eitelkeit der Sänger und die zu nachgiebige Gefälligkeit
der Komponisten in die italienische Oper eingeführt, und womit
sie aus dem prachtvollsten und schönsten der Schauspiele das lang-
weiligste und lächerlichste gemacht hatten, zu vermeiden.
„Ich versuchte es, die Musik auf ihren wahren Beruf zurückzu-
führen, nämlich : die Poesie zu unterstützen, um den Ausdruck der
Gefühle, das Interesse der Situationen zu kräftigen, ohne die Hand-
lung zu unterbrechen und sie durch überflüssige Verzierungen kälter
zu machen. Ich glaubte, die Musik müsse der Poesie geben, was
einer richtigen und vernünftig komponierten Zeichnung die Lebendig-
Lohengrin. 1:37
keit des Kolorits, die glückliche Übereinstimmung der Lichter
und Schatten verleiht, welche hur dazu dienen^ die Figuren zu be^
leben, ohne ihre Umrisse zu verändern.. Ich habe mich daher wohl
gehütet, einen Schauspieler im Flusse seines Dialogs zu unterbrechen,
um ihn ein langweiliges Ritornell anhören oder ihn in der Mitte
seiner Rede auf einem günstigen Vokale ruhen zu lassen, sei es,
um in einer langen Passage die Geläufigkeit seiner schönen Stimme
zu entwickeln, sei es, um zu warten, daß das Orchester ihm die
Zeit gebe, Atem zu holen, um eine Kadenz zu machen.
„Auch habe ich nicht geglaubt, rasch über den: zweiten. Teil
einer Arie hingehen zu müssen, wenn dieser zweite Teil der wichtigste
war, um regelmäßig viermal die Worte der Arie zu wiederholen,
noch die Arie endigen zu dürfen, wenn der Sinn nicht beendigt
ist, um. dem Sänger die Möglichkeit zu geben^ zu zeigen, daß er
nach seinem Gutdünken irgend eine Passage in mehreren Weisen
variieren kann.
„Endlich habe ich alle die Mißbräuche verbannen wollen, gegen
welche sich schon seit so langer Zeit der gesunde Verstand und der
gute Geschmack aussprachen.
„Ich habe mir vorgestellt, daß die Ouvertüre diie Zuhörer über
den Charakter der Handlung, die sich vor ihren Augen entwickeln
soll, belehren und ihnen das Sujet derselben angeben müßte; daß
die Instrumente nur in Anwendung gebracht werden müßten im
Verhältnisse des Grades des Interesses und der Leidenschaft, und
daß besonders zu vermeiden wäre, im Dialog einen zu schroffen
Übergang zwischen der Arie und dem Rezitativ vorwalten zu lassen,
um nicht die Perioden ganz unverständig zu verstümmeln und
störend die Bewegung und das Feuer der -Szene zu unterbrechen..
„Ich habe weiter geglaubt, daß der größte Teil meiner Arbeit
sich darauf beschränken müßte, eine schöne Einfachheit zu suchen,
und, ich habe es wohl vermieden, mit Schwierigkeiten auf Kosten
der Klarheit Parade zu machen; ich habe keinerlei Wert auf die
Entdeckung irgend einer Neuerung gelegt, wenn; sie nicht natür-
lich, durch die Situation gegeben und mit dem Ausdrucke verbunden
war; endlich gibt es keine Regel, welche ich nicht ohne Wider^
streben zugunsten der Wirkung opfern zu müssen geglaubt habe.*'
138 Lohengrin.
Wagner hat die hier ausgesprochenen Ideen zu den seinen
gemacht, aber in der Praxis der Theorien übertrifft er Gluck,
wie er Weber übertrifft. Mit seltenem Glücke und mit kühnstem
Verstände bemächtigte er sich aller Errungenschaften, welche die
Musik seit dem Tode dieser großen Männer gemacht hat, benutzte
er alle Hilfsmittel, welche die so sehr verbesserten und neuen
Instrumente, sowie ihre schöne durch Meyerbeer und besonders
durch Berlioz erreichte Anwendung nur immer möglich machen,
und versuchte alle seinem Zwecke dienenden, dem Fortschritt
der neueren Zeit zu verdankenden Mittel zu einem großartigeren
Systeme als dem Glucks, durch ein absoluteres Prinzip als das
Webers, um den dichterischen Gedanken in Vordergrund zu
stellen und ihm sowohl Gesang wie Orchester unterzuordnen.
Solange man Wagners Partituren nicht gesehen und ge-
hört, solange man ihre gelehrte Faktur und ihre szenische Wirkung
nicht studiert hat, ist es nicht so ganz leicht, sich eine richtige Vor-
stellung von dem Resultate zu machen, das er durch das voll-
ständige Aufgehen von Wort und Ton ineinander erlangt hat. Er
ist gleichzeitig ein ebenso außergewöhnlicher Symphonist wie großer
Dramatiker. Durch diese Konzentrierung so seltener und ver-
schiedenartiger Eigenschaften schuf er ein Ensemble, das gefallen
oder mißfallen kann, das aber, wie niemand leugnen wird, sowohl
in seiner kolossalen Konzeption, wie im kleinsten seiner Details
ein ebenso logisqhes wie vollkommenes Ensemble bildet. Wenn
Frau von StaSI die Musik eine »architecture de sons« — eine
Architektur von Tönen — nennt, mag es uns gestattet sein, die Struk-
tur der herrlichen Bauten Wagners mit einem architektonischoi
System zu vergleichen — einem System, an welchem weder seine
Anhänger noch seine Widersacher das mindeste ändern können, ohne
daß dasselbe den ganzen Charakter seines Stiles verlieren würde.
Nachdem wir es versucht haben, dem Leser den schöpferischen
Urgedanken des dramatischen Systems Wagners zum Verständnis
zu bringen — ein Gedanke, der die von Gluck manifestierten
Wünsche und Bestrebungen, eine wahrhafte Verschmelzung der
Wirkungen der Poesie und der Musik zu erreichen, bis zum Spiel
der Darsteller erweiterte, von denen er eine tiefe Kenntnis ihrer
Lohengrin. 139
Kunst verlangt, so daß die Feinheiten der instrumentalen Be-
gleitung mit ihren stummen Gesten übereinstimmen und schon
ihre Gegenwart in gewissen Szenen als ein symphonisches
Motiv erscheint: — wird es uns weniger leicht sein, ihm einen
Einblick in die Art und Weise der Instrumentation dieses Kom-
ponisten zu eröffnen; doch können wir hier nur einige bezeichnende
Züge anführen, wie beispielsweise die sehr markierte Einteilung
des Orchesters in drei bestimmt unterschiedene Gruppen: die der
Streichinstrumente, der Blasinstrumente und der Blechinstrumente.
Statt diese Gruppen zu vereinigen oder nur nach dem konventionellen
und zufälligen Gebrauch zu teilen, teilt Wagner sie korpsweise, indem
er sorgfältig die Klangwirkungen mit dem Charakter der Situationen
und der Personen seines Dramas in Übereinstimmung bringt. Diese Ein-
teilung ist eine der hervorstechendsten, sofort auffälligen Neuerungen.
' Gegenüber der konsequenten Durchführung derselben wird es
kaum überraschen, was Wagner in einer vor einigen Jahren er-
schienenen Selbstbiographie erzählt, daß er nämlich die erste von
ihm in Leipzig zur Aufführung gebrachte Ouvertüre mit drei ver-
schiedenen Tinten geschrieben habe, um den Musikern, die seine Par-
titur gründlicher studieren wollten, das Verständnis zu erleichtem.
Die Streichinstrumente hatte er mit schwarzer, die Blasinstrumente
mit roter und die Blechinstrumente mit grüner Tinte geschrieben.
Die Verfolgung des Parallelismus des Klanges hat notwendig
Wagner dahin bringen müssen, seiner Orchestcation Instrumente
einzuverleiben, die im allgemeinen nur einzeln angewandt waren,
und mit denselben noch einige andere untrennbar zu verbinden.
Demzufolge gebraucht er gewöhnlich drei Flöten, drei Hoboen (zwei
Hoboen und ein Englisches Hörn), drei Klarinetten (zwei gewöhnliche
und eine Baßklarinette), drei Fagotte, drei Posaunen und eipe Tuba.
Dieses Drei-System hat unter anderen Vorzügen auch den,
daß der ganze Akkord mit denselben Klangfarben gegeben und ge-
halten werden kann, was auf seine Instrumentation helle und
nuancierte Streiflichter wirft, die er mit exquisiter Kunst verteilt und
in einer ebenso neuen als ausdrucksvollen Weise mit der Deklamation
in Einklang bringt, wodurch ihr Sinn auffallend zur Geltung kommt.
Wagner macht auch einen häufigen Gebrauch von der Teilung
140 Lohengrin.
der Geigen. Mit einem Worte: anstatt sicli des Orcliesters wie
einer fast homogenen Masse zu bemäclitigen, teilt er es in ver-
schiedene Ströme und Bäche, und zuweilen — wenn wir wagen
dürfen, es so auszudrücken — in Fäden auf Klöppel gewickelt, die
zahlreich und vielfarbig wie die der Spitzenklöpplerinnen sind. Wie
diese, wirft er sie zusammen und sondert sie wieder und bringt
endlich, wie diese durch ihr erstaunenswertes Verwickeln einen
Stoff, ein wunderbares Gebilde hervor, bei welchem der Grund eines
festen Gewebes durch die farbenreichsten klaren Verzierungen ge-
hoben wird — eine Arbeit, unschätzbar an Wert.
Bei einem dergestalt von der Poesie des Dramas durchdrungenen
Geiste, bei einer für alle Eindrücke, welche die geringsten Formen
der Kunst auf die Seele ausüben, so feinfühligen Organisation
mußte dieses seinem Genie ganz eigentümliche Streben, das Orchester
in drei Tonströme zu trennen, die, wie die vereinigten Gewäss^er
verschiedener Flüsse ihre verschiedenen Färbungen beibehalten,
indem sie wohl in dasselbe Strombett sich ergießen, aber ohne
ihre braunen, blauen oder grünlichen Wellen zu vermischen, ent*
weder irgend einem rein geistigen Gedanken entsprechen oder von
ihm auf einen solchen angewandt werden. Und so ist es auch.
Wagner hat schon in seinen ersten Opern, vorzüglich jedoch in
seinem „Lohengrin'', stets für jede seiner Hauptpersonen eine andere
Palette gemischt. Je aufmerksamer man diese letzte Partitur
durchforscht, um so mehr gewahrt man, weiche innige Verwandt-
schaft er zwischen seiner Dichtung und seinem Orchester hervor-
gebracht hat. Nicht allein, daß er, wie wir schon früher gesagt
haben, durch seine Melodien Gefühle und Leidenschaften zum
Ausdruck bringt, sondern er sucht sogar seine Gestalten durch ein
ihrem Charakter entsprechendes Kolorit zu beleben. Ebenso wie
er den Charakter der von ihm geschaffenen Personen durch ihnen
entsprechende Rhythmen und Melodien bildet, wählt er für sie die
ihnen entsprechenden Klangfarben.
So ist z. B. das in dem ersten Vorspiel leicht gezeichnete Motiv,
das den heiligen Gral andeutet, später in der Erzählung, in welcher
Lohengrin am Schlüsse sein erhabenes Geheimnis enthüllt, voll
ausgeführt, stets unveränderlich den Violinen anvertraut. Elsa
Lohengrin. 141
tritt fast ausschließlich von Blasinstrumenten begleitet auf, wo-
durch die glücklichsten Kontraste in Momenten lentstehen, in denen
die Blechinstrumente ihnen folgen. Besonders ergriffen fühlt man
sich, wenn in der ersten Szene der langen Erzählung des Königs —
seine Rolle ist beständig von Posaunen und Trompeten begleitet,
die das Orchester monarchisch beherrschen, — ein langes Schweigen
folgt, und ein sanftes und luftiges Säuseln sich wie eine von himm-
lischem Hauche bewegte Woge erhebt, um uns, noch ehe Elsa
erscheint, den vollen Olanz ihrer jungfräulichen Reinheit fühlbar
zu machen. Dieselbe Instrumentation tritt bei der Balkonszene
wie erquickender Tau ein, um die schaurigen Flammen des Duo
zwischen Friedrich und Ortrud zu löschen, sobald Elsa auf dem
Balkon erscheint. Sie dient auch wieder zum Brautmarsche des
zweiten Aktes und schildert die fromme Aufregung, die Wonne der
Unschuld so überwältigend, daß dieses Stück zu den vollendetsten
der Oper gehört, obwohl der dramatischen Wirkung entbehrend.
Die Schwierigkeiten, Wagners Opern zu inszenieren und be-
friedigend zur Aufführung zu bringen ->- Schwierigkeiten, die ihren
Grund zunächst in der so ernsten Natur ihrer Sujets, in ihrem so
erhabenen Stile, sowie in der großen vom Publikum geforderten
Aufmerksamkeit haben — , werden ihrer Popularität wohl leider
noch lange hindernd im Wege stehen. Ihre strenge Schönheit
wird den banalen Beifall, den man Werken von kurzer Lebensdauer
spendet, von ihnen fernhalten, doch werden sie auch schwerlich
jenen unmittelbaren Enthusiasmus erringen, welchen das Genie
eines Rossini, eines Meyerbeer hervorriefen, wenn sie in üppigen
Weisen oder mit feuriger Glut die Macht der Leidenschaften auf die
Bühne brachten. Sollen wir darum warten, bis der Staub der Zeit
in ansehnlicher Dicke sich auf Wagners Partituren gelagert hat?
bis erst Gelehrte, sie durchblätternd, in ihnen die Wunder genialer
Geheimnisse entdecken? oder bis Dichter in ihrer zurückblickenden Be-
wunderungfür die Vergangenheitsich für diese Helden, diehundertf ach
unsere gewöhnlichen kleinlichen Erfindungen überragen, begeistern?
Es wird sicherlich niemand behaupten können, daß die Mittel,
über welche das Theater in Weimar verfügt, für Dramen, die nach
einem so großartigen Maßstabe angelegt sind, ausreichend seien.
142 Lohengrin.
Weder die Größe der Bühne noch die Personenzahl des Orchesters,
der Chöre und der Statisten entsprechen ihren Anforderungen.
Nichtsdestoweniger machten die enthusiastischen Anstrengungen,
die mutige und geduldige Arbeit, der beharrliche Wille aller Künstler,
die zu leiten wir die Ehre hatten, während der Vorstellung der
Oper alles völlig vergessen, was noch hätte fehlen können. Die
tiefe Bewunderung, die aus einem anhaltenden Studium des Werkes
seitens der Darsteller und aller Mitwirkenden für dasselbe ent-
stehen mußte, hat alle mit so hinreißender Gewalt begeistert,
daß trotz aller Schwierigkeiten dieser Aufgabe wir zu hoffen wagen,
daß sie würdig gelöst wurde.
Die musikalische Bildung der meisten unserer hervorragenden
Sänger erleichterte ihnen ein Unternehmen, das für solche, die nicht
mit der Theorie ihrer Kunst vertraut sind, eine Unmöglichkeit
wäre. Ihr Können erlaubte ihnen, der ganzen Kraft und dem
tragischen Pathos, welche die Hauptrollen erfordern, zu entsprechen.
Fräulein RosaAgthe — die spätere Frau Milde — , welche sich
vollständig mit ihrer Rolle identifizierte, hat die seraphischen
Gesänge Elsas mit einer Reinheit poetischer und musikalischer
Intehtion und einer seltenen Richtigkeit der Intonation, mit dem
leicht verschleierten Silberton ihrer rührenden Stimme vorgetragen,
welche Vorzüge sie schon in der Rolle der Elisabeth im „Tann-
häuser'* so glänzend entwickelt hatte. Fräulein Fastlingers
Spiel und Gesang als Ortrud machte die Zuhörer erschauern. Bald
kalt verachtend, bald außer sich bis zum Rausche der Wildheit
wußte sie im ersten Akte die Aufmerksamkeit durch ihre Mimik
zu fesseln und im langen Duo des zweiten Aktes eine großartige
Wirkung zu erzielen. Die Herren Beck, Milde, Höfer haben
geleistet, was man von ihren Talenten mit Recht erwarten konnte.
War auch hie und da noch eine Unsicherheit in den Ensemble-
stücken bemerkbar, so haben dennoch unsere Künstler am Abend
des 28. August — der ersten Vorstellung des „Lohengrin" —
im vollsten Sinne des Wortes allen Anforderungen entsprochen,
welche bei der Aufführung einer der merkwürdigsten Schöpfungen
der zeitgenössischen Poesie und Musik gestellt wurden.
DER FLIEGENDE
HOLLÄNDER
VON
A RICHARD WAGNER A
1854
:>|c
:m:
G ^ ^ ^
L
Von den drei Werken Richard Wagners, die mit Entschieden-
heit das Gepräge einer neuen Wendung des musikalisch-dramatischen
Stils erkennen lassen, wurde der ,,Fliegenae Holländer'', obwohl
er der chronologischen Folge nach die Reihe der neueren Schöpfungen
Wagners eröffnet, in Weimar zuletzt aufgeführt. In Berlin
hatte man diese Oper schon vor zehn Jahren gegeben; später in
Kassel, wo sie Spohr infolge des besonderen Eindrucks, welchen
die Partitur auf ihn gemacht hatte, einstudierte. Damals jedoch
betrachtete man Wagner nur als einen Komponisten, der sich mit
bald mehr bald weniger Talent anderen anschließe. Der Reformator
hatte das Banner noch nicht aufgepflanzt, dessen Devise erst
„Tannhäuser'' und „Lohengrin" vollständig entfalten sollten.
Als der „Fliegende Holländer" in den. genannten Städten auf-
geführt wurde, geschah es, ohne daß den Neuerungen dieser Oper
eine besondere Einführung zuteil geworden wäre, ohne daß das
Publikum vorbereitet sie mit Spannung erwartet hätte. Sie machte
den Eindruck eines Werkes, dessen tiefe Trauer und düstere Ein-
fachheit sich nicht für die Bühne eigneten. Man begreift dieses
Urteil, wenn man bedenkt, daß Wagner hier nur erst instinktiv
die Form erfaßt hatte, welche zu schaffen seine Mission war, und
deren Poetik er später mit jener einen so charakteristischen Zug
seines Geistes bildenden Gewalt der Überzeugung formuliert hat.
Dagegen ward dem Werk vor zwei Jahren in Zürich unter des
Komponisten eigener, mit elektrisierender Wirkung Künstler und
Publikum zum Verständnis seiner Intentionen hinreißenden Leitung
ein glänzender Erfolg zuteil. Während aber Wagner durch seinen
„Tannhäuser" und seinen „Lohengrin" in der ungeteilten Meinung
Deutschlands einen Platz unter den Männern einnimmt, deren
geistige Arbeiten Aufmerksamkeit erzwungen haben, so haben,
Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 10
146 Der Fliegende Holländer.
trotzdem die Aufführung * dieser Oper gerade am wenigsten des
szenischen Aufwandes bedarf, doch nur einzelne Theater seinen
„Fliegenden Holländer" in ihr Repertoire aufgenommen. Als
erster Versuch eines Systems, das inzwischen in seiner ganzen Aus-
dehnung bekannt geworden ist, erweckt das Werk jetzt ein um so
größeres Interesse, als es der Beurteilung reichere Gesichtspunkte
als früher bietet, wo es vereinzelt dastand.
Seine poetische Doppelbegabung zog Wagner natumotwendig zur
lyrischen Deklamation und veranlaßte ihn, seine Bestrebungen auf
einen Punkt zu konzentrieren, dessen Schwierigkeiten schon Rous-
seau mit den Worten bezeichnete: „Ein großes und schönes Problem
liegt in der Frage: wie weit es die Sprache im Singen, wie weit
es die Musik im Reden bringen kann. Von einer richtigen Lösung
dieses Problems hängt die ganze Theorie der dramatischen Musik
ab." Nurbegnügtsich Wagner nicht, wie Rousseau, das Problem
aufzustellen: er schreitet zur Lösung desselben.
Schon früher 1 deuteten wir die von Wagner zur Erreichung
dieses Zweckes angewandten Mittel in Kürze an und wiederholen
hier nur, um unsere Bemerkungen über den „Fliegenden Holländer"
deutlicher zu machen, daß unter den Wagner eigentümlichen Ver-
fahrungsweisen eine der wichtigsten die ist: hervortretende
Personen oder Situationen des Dramas durch bestimmte
musikalische Motive zu charakterisieren, welche immer
wiederkehren, sobald die durch sie charakterisierte Person das
Interesse auf sich zieht, sobald die Situation sich wiederholt oder
erwähnt wird. Diese Verteilung der Hauptmotive zeigt sich be-
reits im „Fliegenden Holländer". Bedingt durch den Gang der
Handlung tritt ihre Wiederkehr in verschiedenen Tonarten, Klang-
farben und Rhythmen bald klagend, bald frohlockend auf, je nach-
dem freudiger oder banger Herzschlag in ihnen nachtönt.
Es ist nicht zu verkennen, daß zwischen dem „Fliegenden Hol-
länder" und den späteren Werken Wagners ein merklicher Ab-
stand fühlbar ist. Seine musikalische Konzeption ist hier bei
^ Aufsätze über „T a n n h ä u s e r" Seite 55, über „L o h e n g r i n"
Seite 94.
Der Fliegende Holländer. 147
weitem noch nicht so markig und fest, wie bei diesen. Man sieht:
er sucht den Idolen zu entrinnen, denen auch er geopfert hatte,
ohne sie noch im Kampf auf Tod und L^ben zu befehden. Nur
hie und da wagt er mit seinem glänzenden großen Stil hervor-
zutreten, und nur schüchtern entzieht er sich der Botmäßigkeit
traditioneller Formen, denen er noch Raum gönnt, und die er noch
nicht, wie er später getan, systematisch verwirft. Wären aber auch
„Tannhäuser" und „Lohengrin" nicht dem „Fliegenden Holländer''
gefolgt: die ausgeprägten Vorzüge des letzten Werkes würden hin-
reichen, Wagner eine hervorragende Stellung unter den geistig
Produzierenden unserer Zeit zu sichern.
Vor allem reißt die aus Wagners Inspiration hervorquellende
Tiefe des poetischen Gefühls, sowie die Gestaltung und Logik der
von ihm gezeichneten Charaktere zur Bewunderung hin. Obgleich
im „Fliegenden Holländer" der Faden der dramatischen Handlung
noch weniger fest geknüpft ist, sind die genannten Eigenschaften
dennoch in hohem Grade hier au finden. Und wenn uns Wagner
in dem „Vorwort an seine Freunde", das er seinen „Drei
Operndichtungen" vorausschickt, nicht selbst versichert hätte,
daß das Sujet dieser Oper nicht ursprünglich seine Erfindung sei,
so würden wir es aus dem balladenhaften Verlauf des Ganzen,
aus dem Mangel szenisch wirksamer Situationen, aus der fast über-
triebenen Mäßigkeit in Anwendung dramatischer Motive erkennen.
Während einer Meerfahrt las Wagner die Version, in welcher
Heine die Seemannslegende vom „Fliegenden Holländer" erzählt.
Das Zusammentreffen des Eindrucks dieser Lektüre mit einem
heftigen Sturm, den er zu bestehen hatte, erweckten in dem von
innerlichen Stürmen mannigfach Bewegten die Idee einer drama-
tischen Behandlung jenes Stoffes . Er führte sie aus, ohne irgend
eine wesentliche Veränderung an Heines ergreifender Erzählung
vorzunehmen.
Die Sage ist bekannt. Ein holländisches Fahrzeug, das vor
langer, langer Zeit das Kap der guten Hoffnung umsegelte, wurde
von einem lang andauernden Sturm verhindert, sein Ziel zu erreichen.
Als die Matrosen den Kapitän um Rückkehr beschworen, rief dieser
aus: „Und sollte ich in Ewigkeit auf dem Meere hausen, nimmer-
10*
148 Der Fliegende Holländer.
mehr tue ich es/' Zur Strafe für diese Blasphemie wurde er ver-
dammt, bis zum jüngsten Tag die Meere zu durchirren und allen
ihm auf seiner Fahrt begegnenden Schiffen Verderben zu bringen.
Doch der Engel der Barmherzigkeit verkündete ihm, daß ihm alle
sieben Jahre verstattet sein solle, die Küste zu betreten und sich zu
vermählen. Würde das erwählte Weib ihm untreu, so fiele auch sie
der Hölle zur Beute; fände er aber eine Gattin, die ihn liebe bis
indenTod,so tilge ihre Treue seine Schuld und erschließe ihm nach
leiblichem Tod die Pforten des ewigen Heils.
Nach Heines Erzählung ist es ein junges norwegisches Mädchen,
das durch eine volkstümliche Ballade von jenem Himmelsspruch
unterrichtet, von Jugend auf tiefes Mitgefühl für das Los des un-
seligen Kapitäns empfindet. Und als dieser eines Tages an Nor-
wegens Küsten landet, um dort ein Weib zu suchen, erkennt sie
ihn und schwört ihm Treue, fest entschlossen, ihren Eid zu halten.
Der Holländer aber, von Liebe und Dankbarkeit für solche Schönheit
und Hingebung ergriffen, fürchtet 4ie der Gefahr eines Meineides
auszusetzen und verläßt sie, der langersehnten Hoffnung auf endliche
Erlösung aus der Verdammnis entsagend. Das Mädchen aber, das
ihn auf seinem Fahrzeug fortsegeln sieht, stürzt sich in das Meer.
In diesem Moment ist das Sühnopfer erfüllt, und der „Fliegende
Holländer" versinkt in den Wogen.
Wagner lieferte später eine Art Gegenstück zu diesem Sujet,
indem er in ähnlichem Rahmen und in ähnlicher Perspektive, wie
der vorher mit nächtigem Dunkel erfüllten, Glanz und Licht aus-
breitet. Im „Lohengrin" wie im „Fliegenden Holländer" erscheint
von wunderbarem Fahrzeug getragen ein Unbekannter. Die Be-
stimmung und Unsterblichkeit beider muß in tiefes Geheimnis ge-
hüllt bleiben. Aber dort ist es ein Heros des Lichtes, hier ein zu
ewiger Qual Verdammter. Der eine naht auf goldschimmemder
Barke; ein weißer Schwan zieht sie, anmutig kreisend. Auf das
von staunendem Volk bedeckte Stromufer steigt er langsam herab
in silberner Rüstung, hellglänzend im Sonnenstrahl. Der andere
naht im Brausen des Sturmes; sein Schiff ist schwarz wie seine
Tracht — schwarz wie ein von Pulver und Blut befleckter Adler.
Er landet auf felsiger Küste, in schrecklich einsamer Nacht. Der
Der Fliegende Holländer. 149
eine entsagt unendlichem Glück, um unterdeo Menschen zu wohnen,
um ihnen Gerechtigkeit und Segen zu bringen. Der andere naht
sich ihnen in der dunklen Hoffnung, ihnen sein Heil zu verdanken
und durch Aufopferung entsühnt zu werden.
Diese beiden so verschiedenen Situationen hat Wagner poetisch
aufgefaßt und dargestellt. Das die Persönlichkeit charakterisierende,
die innere Bedeutung ihres Handelns und Auftretens verkündigende
Motiv ist dem Holländer wie dem Ritter des heiligen Gral bei-
gegeben, und beide werden durch dasselbe sogleich bei ihrem ersten
Erscheinen in bedeutungsvoller Weise gezeichnet. Der erste wird
nicht durch sinnlose Raserei, nicht durch Wutausbrüche eines
Besessenen, nicht durch höllische Verwünschungen charakterisiert.
Seine Erscheinung ist um so überwältigender, als sie Ruhe und
dumpfe Verzweiflung ausdrückt. Seine gemessene Rede, der mit
Bitterkeit getränkte Hauch seines klagenden Gesanges weckt unser
Mitleid und lehrt uns verstehen, wie ein Weib sich berufen fühlen
kann, ihr Leben zu opfern, um sein Heil zu erringen. Ebenso läßt
das hochherzige Walten, die hehre Art Lohengrins uns fühlen,
daß ejner Frau nur zu sterben übrig bleibt, wenn sie den licht-
strahlenden Helden verloren hat.
Wagner sagt selbst von sich, daß er höher als irgend ein Poet
oder Künstler die Frauen verherrlicht habe. Und allerdings ist
wohl kaum anderswo die Bedeutung der Mission des Weibes in
Selbstverleugnung und Hingebung tiefer erfaßt als in seinen
Dichtungen. Die Idee des durch eigene Opferung, errungenen
Heils für einen anderen ist schwerlich jemals inniger aufgefaßt
und geschildert worden als durch Elisabeth und Senta. Obwohl
die Poesie der Fiktionen bedarf, um in außerordentlichen Situationen
die ganze Gewalt frommen Heldengeistes, alle Erhabenheit der
Tugend und der Entsagung, allen grenzenlosen Schmerz, den Auf-
schwung der Liebe, den Mut des Glaubens, den Märtyrerwahn der
Hoffnung, die begeisterte Kühnheit der Hingabe zu schildern,
so könnten diese Fiktionen uns doch nicht interessieren, wäre ihr
Gefühlsinhalt nicht zugleich ein wahrhaftiger, so wahrhaftig, daß
man im Orchester beinahe den Schlag der Herzen zu vernehmen
glaubt. Wenn niemand an die Fabel vom Tannhäuser und der
150
Der Fliegende Holländer.
Venusgrotte, oder gar an die vom fliegenden Holländer und seinem
Kapitän glaubt: wer dagegen zweifelt an weiblichen Charakteren
wie Elisabeth, deren Liebe durch ihre keusche, todesmutige Treue
das einzige Band zwischen einem durch Leidenschaft verwüsteten
Dasein und einer Welt ist, welche nur jene Leidenschaften fürchtet,
deren freie Äußerungen von der Heuchelei verschmäht werden?
wer zweifelt an einer Senta, an einem weiblichen Wesen, welches,
um eine große Seele von schwerster Strafe zu erlösen, das eigene
Leben opfert? —
II.
Senta, wohl eines der herrlichsten Frauenbilder, die je von
der Kunst geschaffen oder von der Poesie geschildert wurden, ist
dennoch so wenig wie Gretchen, wie Medea oder Gulnar, wie
Ophelia oder Desdemona die Hauptfigur dieser Tragödie. Die
Dichter haben, indem sie die weiblichen Gestalten in dem von den
Helden auf sie geworfenen Schatten ließen und sie durch die Er-
habenheit des Gegenstandes ihrer Liebe veredelten, das richtige
Verhältnis beachtet.
Auch in Wagners Bild ist es der Holländer, der das ganze
Interesse auf sich lenkt. Das unheimliche, alles so trübe beleuch-
tende Licht ist der Widerstrahl seines Antlitzes. Seinetwegen ist
das ganze Kunstwerk geschaffen. Seine Figur tritt vor allen anderen
in den Vordergrund. Schon in der Ouvertüre hören wir gleichsam
eine Erzählung seiner qualvollen Leiden. Wie aus weiter Feme ver-
nehmen wir seine dumpfe Stimme, und sein trostlos ruhiger Blick
scheint in starrer Verzweiflung durch die Dämmerung zu zucken.
Das instrumentale Drama beginnt mit dem Motiv, welches
den auf dem Holländer lastenden Fluch bezeichnet:
Nr 1. Allegro con brio.
VioL
mareato.
Der Fliegende Holländer.
151
^
^ u u
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B^
P
b^¥?-
fcr£
3 tF
i?5=
Dieses einige Takte lange, mehr rhythmische als melodische
Motiv bewegt sich ausschließlich auf der Tonika und der Dominante,
ohne Terz, und macht so den Eindruck eines beim Zucken des
Blitzes wahrzunehmenden Schattens, dessen Umrisse und Be-
wegungen in unserer Erinnerung haften bleiben. Das Ohr nimmt
die Wiederkehr dieser Phrase jedesmal wie eine flüchtig hinge-
worfene Skizze des Geisterschiffs und seines finstem Kapitäns auf.
Sie kehrt, modifiziert durch verschiedene Klangfarben, im Verlauf
der ganzen Oper in ihren drängendsten Momenten wieder. Hier am
Anfang der Ouvertüre verleiht ihr ein Unisono von Fagott und
Hörnern den Charakter unstillbaren Grames.
Ein Tremolo der Geigen in den hohen Lagen — ebenfalls auf
der Tonika und der Dominante ohne Terz — malt die bewegte
Flut und entführt unsere Phantasie in das offene Meer. Dieses
Tremolo wird vom sechsten Takt an durch chromatisches Auf-
und Abwogen der Celli und Violen verstärkt. Es sind Wellen,
die aus dem Abgrunde tauchend die kämpf trotzigen Spitzen bis
162
Der Fliegende Holländer.
i^-^^
zur Schwelle des Himmels emporheben. Die langgezogenen Töne
der Blasinstrumente schwellen an zu wogenden Wassermassen,
die zu Riesen sich ausdehnen und langsam, bedeckt von schneeigem
Schaum, sich aufrichten, um ihre Gipfel wieder hinabzustürzen.
Nun rast der Sturm — die Windsbraut stöhnt — es heult der Orkan.
Von chromatischen Skalen begleitet erscheint das erste Motiv
wieder:
Nr. 2 a.
JS ^ol., Br. n. Celli.
1
^U 5 gfc g ##":.
f4.VpTrt^Tr :
ff tremolo
1
Nr. 2 b.
Tromp. Q. Fagott.
Yiol., Celli n. B&sse.
'j> t-fr itfi'*™
^S
Der Fliegende Holländen
153
Aber bald zerteilt es sich in einzelne Signale, in Notrufe, die mehr
und mehr in der Ferne verhallen. In einem Decrescendo schließt
dieses erste Bild, das gleichsam ein Expositionsakt des Instrumental-
dramas ist. Die Erinnerung an dasselbe drängt sich uns im zweiten
Akt wieder auf, wenn Senta das unselige Los des Kapitäns erzählt.
Der stürmischen Einleitung folgt eine innig>zarte melodische
Phrase. Wir hören den Engel der Barmherzigkeit, wie er mitleids-
voll in dem Verdammten die Hoffnung erweckt, die sich um seih
dunkles Schicksal wie ein Goldfaden um eisernes Räderwerk windet.
Von Sentas Lippen tönt später diese Melodie:
Nr. 3. Andante
Engl. Hörn.
(^
feg
r
^i
/a±c
1 —
m
in der Ballade des zweiten Aktes zu den Worten:
„Doch kann dem bleichen Manne Erlösung einstens noch werden.'*
Nun ertönen Klagelaute, sich den Hörnern entringend, gleich den
letzten Seufzern eines entfliehenden Grames. Die Posaunen spielen
einen abwärtsgehenden Passus:
154
Der Fliegende Hollander.
Nr. 4.
Eb^ Hon «. H6ni«r.
fTTT-
dim.
W,
^
welcher im ersten Akt bei der Stelle wiederkehrt, wo das Geister-
schiff die roten Segel einrefft, um an der Küste, an welcher es
seine gespenstische Fahrt beenden soll, zu landen.
Das erste Motiv tritt nun wieder vollständig auf:
Nr. 6.
. H6rner.
^-
ff | f f
Fagott
i
^
PP Ptnlran.
PP
^- ^'
'^\ fi. \f6. f6. \ffj. /^:b = ^-j s ^
•jp. *• 5
Der^Fliegendef Holländer.
155
Pos. and Tnba.
I
^
-&
e
Li •
i
vv
i
fft^« ^^ T^»
t
und zeigt uns den finsteren Helden selbst, der jetzt zum erstenmal
zu uns spricht. Unbeweglich an den Mastbaum gelehnt, mißt er
mit kaltem Auge die hinter seinem Schiffe zurückbleibende wogende
Fläche. Die scharf wehenden Ostwinde sind seine Vertrauten.
Ihnen klagt er, wie einst jener kühne Titane den ihn umringenden
Okeaniden, sein Los. An sein Schiff wie an einen schwimmenden
Kaukasus gefesselt, singt dieser neue Prometheus in klagendem
Monolog folgende Melodie vor sich hin:
Nr. 6.
FL, Hoboen n. Viol.
Celli n. B&88e.
Sie bildet das Hauptmoment der großen Arie in der dritten Szene
des ersten Aktes, deren tiefe Melancholie der Töne hinreißender
wirkt als die schwermütigste Dichtung. Die ersten Violinen, Flöten
und Hoboen begleiten folgende Verse:
„Wie oft in Meeres tiefsten Schlund
Stürzt' ich voll Sehnsucht mich hinab: —
Doch acht den Tod, ich fand ihn nicht!
Da, wo der Schiffe furchtbar Grab,
Trieb mein Schiff ich zum Klippengrund: —
Doch ach! — mein Grab, es schloß sich nicht T* —
156 Der Fliegende Holländer.
Diese Klänge voll unheilbarer Verzweiflung werden durch be-
ängstigende Unruhe unterbrochen. Es folgt ein wie durch wirklichen
und bildlichen Sturm hervorgebrachtes, ungeheuer anschwellendes
Crescendo, als wenn die Stürme der 3eele mit ihren furchtbaren
Verwüstungen siegessicher die Katastrophen der Natur zum Wett-
kampf entböten. Das schon im Anfang vernommene Toben der
zürnenden Wogen wird heftiger, wie unter der Last verdoppelter
Wut. Alle Zornausbrüche der Sturmesgewalten und der schmerz-
gebeugten Seele streiten gegen und miteinander in betäubendem
Getöse, in heiserem Lärm, in schrillenden Schauern und tollem Ge-
heul, in dissonierendem Kampfgeschrei.
Dumpfe Klänge, wirre Stimmen tönen aus gähnenden Meeres-
schlünden, als wenn der Erdball gleich dem Ton in der Feuersglut
sich spaltete und der Weltenbau aufprasselte wie frisches, von
Flammenzungen belecktes Holz. Der Donner rollt gleich einer
entsetzlichen Drohung dahin — einem Todesgedanken gleich zuckt
der Blitz und zieht seine Furchen durch die dunklen Wolken. Der
Wetterschlag trifft wie ein sich entladendes Pulvergewölbe, das die
Erzhallen des Himmels sprengen möchte.
Da schwillt und steigt — ein Leviathan — die Woge; da über-
stürzt sie eine andere, treibt sie wie ein Reiter sein Roß, und wie
beutelechzende, getäuschte Alligatoren balgen sich beide. Mit
dröhnendem Zähneklappern schließen sie die klaffenden Rachen,
um hinunterzutauchen in den giftigen Schaum, der über ihnen wie
über Leichen sich schließt, und aus dem sie wieder hervorschießen,
neu sich bildend und aufrichtend als grausige Vertilger.
Angesichts dieser Schrecknisse und Kämpfe, unter dem Knirschen
des Eisenwerks und dem Krachen wurmstichiger Balken bleibt der
Holländer unverändert und sieht mit trübem Lächeln auf die ent-
setzliche Verheerung des Sturmes — ein Abbild seiner inneren
Qualen : weiß er doch nur zu sicher, daß sein Schiff ewig ein Spiel-
ball dämonischer Gewalten zu sein bestimmt ist und die Legionen
von Gefahren, welche es täglich umringen, ihm keine Zerstörung
bringen werden. Er ruft mit Ren^: „So erhebt euch endlich,
ersehnte Stürme, die ihr mich hinübertragt In die Regionen eines
anderen Lebens!'' Wir sehen ihn auf seinem unverwüstlichen Deck
Der Fliegende Holländer.
157
langsam umherwandein. „Er fühlt nicht Regen noch Schneege^
stöber, nicht den Wind, der in seinem Haupthaar wühlt. Er sieht
den Mond die Wolken furchen, wie ein bleiches Schiff, das auf den
Wogen steuert, während das Leben in seiner Brust verdoppelt sich
regt und weltenschöpferische Kraft in ihm auflodert."
Beim Anhören dieser symphonischen Tonstöße der Bläser, dieses
Strudels von Tönen, den jedoch ein mysteriöser Rhythmus zu
kadenzieren und in einer Art undefinierbarer Harmonie zu erhalten
scheint, fühlt man, wie wohltuend für hoffnungslos Leidende das
Rasen der Elemente sein kann, ja mit welchem Verlangen es die
Armen suchen, denen die Ruhe nur Angst und Beklommenheit
bietet. Man versteht das Bedürfnis derer, die an ein unabänder-
liches Geschick gebunden, durch die Betrachtung des Ewigen
Wechsels von heißem Verlangen und verspotteten Hoffnungen sich
zu täuschen suchen; man versteht die schmerzliche Erleichterung,
welche ihnen die das Ächzen des Verzagens und den Aufschrei
sc;|igender Schmerzen übertönende gigantische, von den Stößen
nächtigen Sturmwindes angestimmte Begleitung gewährt.
Nach siebzig Takten eines grandiosen, phantastischen und in
kühnen Zügen gleichsam al fresco gemalten Fortissimo hört man
näher und näher kommend einen jener Rhythmen ertönen, mit
welchen Matrosen gewöhnlich ihre Manöver begleiten:
Nr. 7.
I
Comi.
^
Q
-s>^
-»■
^
Derselbe kehrt im ersten Akt wieder, wenn der Kauffahrer seine
Anker auswirft und einzieht. Diesem Rhythmus folgt in der
Ouvertüre ein scharf markierter, fröhlicher Gesang, den unsere
Phantasie der Mannschaft eines Schiffes zuschreibt, welches arglos
158
Der Fliegende Holländer.
in dem unheilbringenden Fahrwasser des Holländers ohne Ahnung
seiner verderblichen Nähe segelt:
Nr. 8.
Biber.
Es ist das Lied der Matrosen eines norwegischen Schiffes und
stellt hier in schlagendem Kontrast die Behaglichkeit des Lebens, die
Geringfügigkeit seiner Mühen und Sorgen gegenüber der trostlosen
Verzweiflung eines mit dem Siegel des Verderbens gezeichnete
Geschickes dar. Hie und da taucht ein Echo des Sentamot|ys
(Nr. 3) auf, als suche es ein Entrinnen vor diesem Chaos der 2^r-
störung, wo Abgründe sich öffnen und schließen, wo Meersäulen
in tollem Wirbel sich drehen, wo schlingernd und stampfend das
Schiff bald Steuerbord, bald Backbord gen Himmel kehrt, jetzt
auf der Leeseite einherschleift, jetzt auf die Windseite umschlägt,
jetzt wieder in flammende Wellen — flammend von den Strahlen
einer wie in ein blutiges Leichentuch sich hüllenden Sonne —
versinkt, um endlich wieder wie die Lavawogen eines Vulkans
emporzutreiben.
Dumpf tosend und gärend dauert der Flutenkampf fort, während
das Sentamotiv verloren, verstoßen umherirrt, aber ebenso aus-
dauernd und beharrlich wiederkehrt, einem Engel des Lichtcis
gleich, dessen Flug von feindlichen Winden und bösen Leidenschaften
gehemmt ist, dessen Fittiche sich wund an Schiffsmasten schlagen,
die mit beschleunigten Pendelschwingungen die Lüfte durch-
schneiden, um endlich erschöpft auf Felsenriffe, die der unverwund-
bare Kiel des Schiffes streift, niederzusinken. Aber stets aufs neue
erhebt sich der himmlische Bote wunderbar geheilt und gestärkt,
wenn auch schmerzensbleich und ruhelos. Aufs neue entfaltet er
Der Fliegende Holländer, 159
sein^ glänzenden Schwingen, denen bitteres Naß entrieselt —
bitter wie die Tränen, die er zum ewigen Lichte emporträgt.
Das Verdammungsmotiv kehrt in seiner ganzen Intensität
wieder (Partitur Seite 40). Immer noch ist das Schiff unbeschädigt.
Der alte Ozean sieht staunend, wie ein Machwerk von Menschen-
händen seinem scharfen Zahn, seinen zerfleischenden Klauen Wider-
stand leistet. Es fährt, fährt und fährt dahin auf den Wogen, die,
betroffen sich unterjocht zu sehen, mit schäumender Geduld es
tragen — sie, die ihr Recht der Entscheidung über Leben und Tod,
über Entrinnen und Untergang so unerbittlich üben. Fest und
sicher, ein niedergeschlagener Sieger, zieht das Geisterschiff seine
Bahn. Verstört blickt es auf unempfangene Wunden. Und
ist es nicht zum fühlenden Wesen geworden? versteht es nicht
wie eines Kriegers Roß den Ruf seines Gebieters? teilt es nicht
seinen tiefen Unmut, seine düstere Stimmung? ist es nicht von
seinem Wesen erfüllt, und trägt nicht seine Haltung dessen Gepräge?
Wie majestätisch und melancholisch gleitet es dahin — und jetzt
wieder gebeugt wie ein leidender Mensch! Schlaff, als wären sie
ein nachlässig umgeworfener Purpur, hängen die Segel vom großen
Mast hernieder; wieder andere erblickt man ungleich, wie lose be-
festigten Schmuck, eingerefft an den Raenstangen, welche am Blitz-
strahl verglüht, doch so unversehrt geblieben sind, als hätten sie
die Werfte erst verlassen.
Müde der Last seines Bugspriets trägt das Schiff sein gleich
einem Einhorn geziertes Haupt. Und wie ein Mensch, der mehr von
Bitternissen als vom Weine trunken ist, strauchelt es leise von
Zeit zu Zeit. Das schwarze Takelwerk ist wie ein Trauerflor über
das den ganzen Körper deckende dunkle Kleid geworfen, und als
wollte sie den Tod herbeiwinken, flattert — ein unseliges Zeichen
vernichtungsgierigen Lebens — die Trauerflagge, die bald wie
der gespaltene Pfeil einer Schlangenzunge ihre Spitzen entrollt,
bald wie ein im Hinterhalt auf Beute lauerndes Reptil am Mäste
sich niederduckt.
So durchschifft der Holländer die Wogen.
Eine heftige Explosion, wie von jähem, rasendem Wellenschlage,
mit einem Stoß, der es endlich erschüttert, treibt plötzlich das Schiff
160
Der Fliegende Holländer.
vorwärts und hält es auf verhängnisvoller Klippe fest. Schweigen
tritt ein. Ringsum herrscht Angst und Betäubung.
Da stürmen wie tausend beschwingte Pfeile die \nolinen in
Septimengängen hinauf! Die Melodie der Ballade leuchtet, flimmert,
tritt hervor und nähert sich — ein glänzendes Meteor. Der neue
Schlußrhythmus, von dem sie jetzt getragen erscheint:
Nr. 9« Vivace.
Flöten nnd Hoboeiu
I
i
Troinp.H
E
-»-
Pos. XL. Tob.
^ g;^-p^^
^^
i=*=t
^
ist derselbe, der in der Oper die Worte Sentas begleitet:
„ich sei's, die dich durch ihre Treu' erlöse,
Mög' Gottes Engel mich dir zeigen I
Durch mich sollst du das Heil erreichen I"
und der am Ende der Oper wieder aufgenommen wird, wenn uns
die Schlußapotheose den Holländer und seinen Rettungsengel der
Meeresflut entstiegen in der Glorie des Himmels zeigt.
Der Fliegende Holländer. 161
Das Tempo, in welchem dieser musikalische Gedanke zuerst auf-!
tritt, gibt ihm den Charakter elegischer Klage, unendlichen Mitleids
und Erbarmens. Der spätere heroische und glühende Rhythmus
aber verwandelt ihn in eine Art Siegesfanfare, in einen Hymnus
der Freude und des Frohlockens.
Man könnte eine gewisse Analogie In dem Schluß dieser Ouvertüre
mit der zum „Freischütz'* bemerken, in der ebenfalls das Motiv
aus Agathens großer Liebesarie mit beschleunigtem Rhythmus
wieder aufgenommen wird, als flammten Lichtstrahlen aus einer
Stemenkrone zum Preise der Liebe hervor.
Diese Ouvertüre wird infolge ihres Inhalts und ihrer Form
kaum eine so verhältnismäßig rasche Popularität wie die „Tann-
häuser''-Ouvertüre und die Einleitung zum „Lohengrin'V erlangen.
Sie wird nicht so leicht anerkannt, ihre Bedeutung nicht so schnell
erfaßt werden. Dieses düstere Gemälde mit seinen stark auf-
getragenen Farben, seinen dichten Finsternissen und unheimlichen
Blitzen, mit seinem peinigenden, gepreßten Gefühlsausdruck ist
darum kein minder bedeutendes Meisterwerk. Welch ein er-
schütterndes Schauspiel entrollt sich hier vor unseren Augen 1
Rings alles zerschellend und zersplitternd! Zuckungen der Natur
und des verzweifelnden Herzens! Stürmende Wogen — stürmende
Leidenschaften — dumpfgrollende Donner und grollende Blas-
phemien — empörte Flut und empörte Seele — Zischen des Orkans
und grimmes Zischen des Hohnes!
Wie das Schiff, das den Stürmen des Meeres ein Spielball ist,
dahinfliegt, so schwebt ein Unglücklicher inmitten der Schrecken
hoffnungsloser Schmerzen. Die fest gezimmerte Fregatte trotzt doch
der Wut der Elemente — auch die Energie männlichen Mutes ver-
mag sich zu stemmen gegen die Stöße des Schicksals.
Die Kritik der Zeitgenossen mißt eines Künstlers Talent zu oft
nach dem Maße der Sympathien, welche die durch seine Werke
dargelegten Anschauungen und Bilder unmittelbar in sich tragen.
Hängt doch auch größtenteils ihr Erfolg von denselben ab. Wird
dieses Wohlwollen einem Werke nicht bald nach seinem Erscheinen
zuteil, so finden sich selten hie und da Menschen von so viel Auf-
richtigkeit und Gerechtigkeitsgefühl, um schüchtern ein Wort
Li 8zt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 11
162 Der Fliegende Holländer.
zugunsten eines solchen zu wagen. Derartige Kompositionen bleiben,
weil sie wohl immer aus einer dem Publikum zurzeit nicht geläufigen
Oefühlsrichtung hervorgehen, einer Art Quarantäne unterworfen.
Ehe nicht irgend ein Nebenumstand — sei es die plötzliche Lieb-
haberei eines berühmten Sängers oder ein ungewöhnlicher szenischer
Effekt — das Publikum geduldiger und geneigter für sie stimmt,
tritt selten ein Verteidiger auf, um ihnen Geltung zu verschaffen.
Es wäre aber gerechter, wenn die kleine Zahl der wahrhaften, den
Wert eines Kunstwerkes zu beurteilen fähigen Kenner ihre Kräfte
vereinigen würde, um ein solches ohne Rücksicht auf eine mehr
oder minder günstige Aufnahme in das richtige Fahrwasser zu
bringen und jene Barken, die bereits mit günstigem Winde dahin-
segeln — auch wenn sie wertvolle Dinge an Bord haben sollten —
ihrem guten Glück überließen, um denen zu helfen^ welche durch
ein Zusammentreffen hindernder Umstände an ihrem Weiter-
kommen gehindert sind.
Für letztere — für die hindernden Umstände — ist der Künstler
nicht verantwortlich zu machen. Nur zu leicht und insbesondere,
wenn er der höheren Eingebung folgt, kommt er in die Lage, daß
die Wahl seiner Stoffe mit der herrschenden Geschmacksrichtung
nicht übereinstimmt und dadurch seine Werke nicht den Eindruck
hervorbringen, welchen augenblicklich die Zeitstimmung im Kunst-
werk sucht.
Die Stoffe drängen sich seinem Geiste auf als das unabwend-
bare natürliche Produkt seines Seins, seiner Leidenschaften, seiner
Freuden und Schmerzen.
Er bestimmt so wenig die originelle Tendenz seines Genies wie
das Medium, inmitten dessen er geboren wird.
Infolgedessen bestimmt er nicht frei über die aus dem zu-
fälligen Zusammentreffen beider in seinem Geist entstehenden
Formen. •
Die Werke der Poeten und Künstler müssen eine Konsequenz
der Totalität ihres Wesens, ihres Geistes sein.
Und wehe denen unter ihnen, die absichtsvoll einen vorge-
nommenen Zweck, ein vorbedachtes System verfolgen, die sich mehr
von der Berechnung leiten lassen als von ihrem Instinkt, der einzig
Der Fliegende Holländer. 163
und allein sie auf den richtigen Weg zur Darstellung von Szenen
und Affekten führen kann, die ihrem Naturell und Geiste am glück-
lichsten entsprechen!
Den dramatischen Werken gegenüber, bei welchen die Muse
den poetischen Künstler zu Gesängen begeistert hat, deren Ton den
ersten Hörern nicht schmeichelt, trotzdem aber den Meister erkennen
läßt, ist es jedoch vor allem Sache der Künstler, der Kollegen —
seien sie nun mehr oder minder glücklich begabt als er — , alles
Gewicht ihres Urteils zu ihren Gunsten in die Wagschale der öffent-
lichen Meinung zu legen, alle ihre Bemühungen zu vereinen, um
Ihnen die Anerkennung zu gewinnen, die man ihnen schuldet, um
sie an das volle Licht des Tages zu ziehen.
Wenn nicht gerade eine vorübergehende literarische Periode sich
vorzugsweise zur Darstellung von Charakteren und Schauspielen
von gesteigerter Gewalt hinneigt, wird die Schilderung solcher immer
— und zwar um so mächtiger, je größer die in ihnen wohnende
Tragweite ist — der Gefahr ausgesetzt sein, die Menge eher unheim-
lich zu berühren als sie zu ergreifen. Der Menge fehlt die Fähigkeit,
aus den Stürmen, welche die Natur oder die menschliche Seele
durchwehen, sofort das Schöne herauszufühlen. Ihr sind die ver-
ziehenden Gewitter mit fernem Grollen des Donners und leisem
Wetterleuchten behaglicher. Daß nur kein Blitzstrahl irgend eine
heilige Eiche zerschmettere oder eine überströmende Wasserflut
Tempel und friedliche Menschenwohnungen vom Boden wegspüle,
Saatfelder verheere und den Rasen grüner Wiesen samt liebe-
verbergendem Gebüsche und zierlichem, mit Reben bedecktem Ge-
länder mit fortschwemme!
Die Menge liebt nur ein Scheinbild der Gefahr, nur ein Schein-
bild der Leidenschaft — ihr genügt ein Scheinbild des Leides, —
auch mit einem Scheinbild der Freude ist sie zufrieden.
Er aber, Wagner, ist ini Gegenteil weder der Poet noch der
Maler von Scheinbildern. Ihm widerstreben die Halbheiten und
Mitteltinten, die halben Situationen und Charaktere, und in der
Anlage seines „Fliegenden Holländers" ist er schroffer und weiter-
gehend als in seinen anderen Produktionen. Er hat sich innerlich
mit diesem Menschen identifiziert, dem das Dasein eine Züchtigung
11*
164 Der Fliegende Holländer.
geworden, der, verurteilt zum Leben, den Tod herbeisehnt und ihn
wie ein geliebtes Wesen, ja wie einen Gott heraufbeschwört, dem der
Tod Wonne und Seligkeit sein würde. Sprosse auf Sprosse stieg er
die mystische Leiter hinab, die in die Tiefe des jähen Schlundes
führt, dem jene Wonne entsteigt, aus dem jene Seligkeit winkt. Er
hat seine endlose Leere durchmessen, sein tiefes Dunkel durchforscht,
seine eisigen Schauer gefühlt, seine unaussprechliche Trauer erfaßt.
Er hat ausgesprochen, was sein Geist dort erlebt, was sein Herz
vernommen, was seine Sinne empfunden« Und seine Akzente
wurden wehschreiend, seine Farben erdfahl, sein Mitleid grenzenlos;
brennend seine Tränen und gepreßt seine Rede« Nicht nur den
Schatten des holländischen Kapitäns beschwor er herauf« Auch seine
bis zur Fühllosigkeit gepeinigte, bis zur Gleichgültigkeit erschlaffte
Seele rief er zurück zum Leben — diese Seele, welcher die Tage
gleich Wellen eines vergifteten Stromes vorüberrauschen, die gleich
Lara schweigt, gequält wie Manfred, hochmütig wie ein Verbrecher,
still duldend gleich einem Opfer ist.
Seit Byron hat kein Poet ein so bleiches Phantom in so düsterer
Nacht heraufbeschworen, wie Wagner mit seinem Holländer,
keines, aus dessen verglühten Augensternen die Blicke so erlöschend
niedergleiten, um dessen todbleiche Lippen ein so schmerzliches
Lächeln zuckt, dessen kühne Stirne so schmerzensmüde sich neigt,
und das trotz dieser Leiden stets eine edle, stolze Haltung selbst
dann noch bewahrt, wenn der Leib unter der Geißel der Qualen
erliegen will, keines, das so sehr Großmut und Seelenstärke bei einem
Übermaß der Leiden bewährt. Nur wer diese düstere Gefühlshoheit,
die aus dem langen Monolog des Kapitäns im ersten Akt zu uns
spricht, in sich auf zunehmen vermag, wer dieses verzehrende und nur
durch neuaufglimmende Hoffnung gezähmte Ungestüm erkennt,
wird aus dem Anhören der Ouvertüre zum „Fliegenden Holländer"
sowie aus der Oper selbst die Poesie dieser Szenen verstehen, deren
Katastrophen fürchterlich sind, mögen sie auf dem Meere oder in
Herzen wüten, in denen alle Schauer der Angst und alle Schrecken
des Todes angehäuft sind, den der Mensch herbeifleht, um endlich
der Vernichtung anheimzufallen. Doch höhnisch flieht selbst der
Tod vor ihm.
Der Fliegende Holländer. 165
Betrachte man die symphonische Einleitung als eine Wiedergabe
des erhabenen Schauspieles, eines Sturmes auf offener See oder als
die dramatische Schilderung einer mit gewaltigen, unerhörten Leiden
kämpfenden Seele: in beiden Fällen wird man von einer Bewegung
ergriffen sein, von der alle Fibern des Herzens erbeben, wenn sie
dieses Erbebens fähig sind.
Es würde Wagner nicht befriedigen, gewisse Personen vor uns
hinzustellen, diese oder jene Situation auf die Bühne zu bringen,
die sich mit Ruhe und Kühle betrachten und beurteilen ließen.
Seiner leidenschaftlichen Natur würde ein solches Verfahren im
höchsten Grade antipathisch sein. Diese sucht den Impuls ihrer
Leidenschaften in Gefühlsregionen, die nur wenige dem Namen
nach kennen, in denen noch wenigere heimisch sind, und welche
darzustellen nur ganz vereinzelt Auserwählte die Gabe be-
sitzen.
Er ist nicht der Dichter der nur sinnliche Erinnerungen aus dem
Theater mit nach Hause nehmenden Menge, in welcher keine er-
schütternde Bewegung, kein tiefer Eindruck haften bleibt. Er ist
auch nicht der Dichter jenes Publikums, das sich am liebsten durch
schneidende Kontraste, durch unerwartete Vorfälle und plumpe
Kunstgriffe zu flüchtiger Rührung hinreißen läßt. Er verlangt von :
seinen Zuhörern vor allem einen tiefen. Blick in das leidende Herz
und die Fähigkeit, seine inneren Erregungen zu begreifen. Wer da
geht, um eine große Oper zu sehen, um von leichten Melodien
die Krumen, wie ein guter Spießbürger Bonbons von einem Gala-
diner, mit nach Hause zu nehmen, wer gern Tränen ohne Anlaß
vergießt, kann sich in Wagners Opern nur langweilen, wie er sich
übrigens auch beim Lesen Byrons oder Dantes langweilen würde
Glücklicherweise liest man diese Werke nicht öffentlich, und es ist
die Sache des Anstandes, ihre Kenntnis bei jedem vorauszusetzen.
Aber Wagner, den das Studieren und Analysieren seiner Werke
in stiller Kammer durchaus nicht zufriedenstellt, der verlangt,
daß die Massen an der von ihm geschilderten Gemütsbewegung
teilnehmen, verschmäht — bei alledem in geheimer Verwandtschaft
mit dem Heros der Romantik — die Darstellung untergeordneter
Leidenschaften und Gefühle.
166 Der Fliegende Holländer.
Alle Träger seiner dramatischen Werke sind nur Ausnahms-
menschen, Ausnahms- Individualitäten. Die von gewöhnlichen
Leidenschaften bewegten Gestalten, so meisterhaft sie auch ge-
zeichnet sein mögen, bilden um jene Hauptpersonen nur Figuren
zu den Gruppen.
Seine mit Vorliebe geschilderten Helden sind übermenschlich.
Um sie in ein entsprechendes Medium zu setzen, sieht er sich
gezwungen, nach Sagen und Legenden des religiösen und Volks-
glaubens zu greifen.
Der holländische Kapitän ist, wie Lohengrin, dem Tode unzu-
gänglich. Tannhäuser dringt in eine unterirdische Grotte, um in
den Armen einer Göttin zu ruhen, und Siegfried — der Götter-
sohn — schreitet durch ewige Flammen, um eine Walküre sein
eigen zu nennen.
Nicht um malende Effekte zu erzielen, strebt Wagner, seinen
Helden durch äußerliche Eigenschaften ein übernatürliches Wesen
einzuhauchen. Im Gegensatz zu den Bestrebungen so mancher
anderer, die Pygmäen ihrer Phantasie auf Stelzen zu heben,
kommen seine Schöpfungen schon kolossal zur Welt.
Die Sprache, die Unmittelbarkeit seiner Charaktere läßt uns sofort
erkennen, daß er sie mit einer so hoch über dem Mittelschlag von
Gefühlen stehenden Innerlichkeit beseelte, daß diese es ihm zur
Notwendigkeit machte, sie auch in das Reich der Wunder zu ver-
setzen. Doch sei hiermit keineswegs gesagt, daß seine Helden auf-
hören Menschen zu sein, daß sie nicht mehr menschlich fühlen
und denken. Im Gegenteil: ihre Seelenbewegungen sind allen
zugänglich und wenigen gänzlich unbekannt; nur gibt ihnen
Wagner das höchste Maß, das unser geistiges Auge zu erfassen
vermag, und stellt sie in eine Region, welche für wenige erreich-
bar ist.
Ist es aber nicht ebenso mit allen vollendeten Meister-
werken?
Um nur ein Beispiel der plastischen Kunst zu entnehmen: stellen
der Jupiter des Phidias und die Venus von Milo nicht mensch-
liche Gestalten dar? Wer aber möchte ihnen bestreiten, daß sie
Typen des Übermenschlichen sind? Und gehört nicht auch wieder
Der Fliegende Holländer. 167
die Poesie eines Phidias dazu, um diesen Jupiter, diesen Gott
der Götter, in seiner ganzen Größe zu begreifen?
Als er den Griechen einen Allmächtigen hinstellte, bekümmerte
es ihn wenig, ob nach ihren Mythen eine höhere Macht — das
Fatum — selbst über Zeus walte; er dachte nur daran, daß Neid,
Zwietracht und alles Böse nur im Unvermögen ihren Ursprung
haben — daß die höchste Güte nur in der höchsten Macht zu erfassen
sei — daß aus vollkommenster Macht die vollkommenste Güte ent-
springe und aus der höchsten Macht und vollkommensten Güte die
vortrefflichste Weisheit folgen müsse. Auf der Stirne des Gottes
läßt er die heitere Ruhe des Allwissens thronen: denn vor seinen
Augen ist alles nur Harmonie; kein Blatt aus dem großen Buche
der Natur bleibt ihm verborgen, und in dem gigantischen Konzert,
das in Zeit und Raum sich vor ihm entfaltet, erkennt er die Ent-
stehung und Lösung aller Dissonanzen. So vereinigte er mit der
Kraft der Umrisse, mit der Milde, die von dem lächelnden Munde
des Gottes taut, die Weisheit, die aus seinen lichtspendenden
Blicken hervorstrahlt, und man darf sagen, daß sein Meißel, wie in
göttlicher Vorahnung, ein offenbarender Interpret eines theologischen
Dogmas wurde. —
Und dann diese Venus von Milo! Muß man nicht ein Poet
sein, wie ihr unbekannter Schöpfer, um diese wunderbare Idealität,
diese Formel höchster Schönheit, diese Verkörperung des Geistigen,
diesen vollkommenen Akkord einer göttlichen Tonalität, von welcher
wir nur hier und da von ferne einige abgebrochene Intervalle ver-
nehmen, in sich aufnehmen zu können?
Obwohl ihre Gestalt das gewöhnliche Maß übersteigt, macht sie
doch nur den Eindruck vollkommen natürlicher Größe. Mit der
Ruhe der Unsterblichkeit pulsiert das Leben in ihren Adern; in
vollster Harmonie — weil unverwelklich — blüht die Gesundheit
in ihr. Ihre Bewegung, von Anmut geneigt, gleich einer Offenbarung
der Liebe. Friedliche Majestät herrscht in ihr, wie in einem ge-
heiligten Tabernakel. Wie die Saiten der Lyra der Meisterhand
harren, so scheinen ihre Lippen bereit, unter dem Hauch der Be-
geisterung zu erbeben. Um ihre Stirne schwebt die erfassende
Einsicht, ohne daß der schöpferische Gedanke sie mit seinen
168 Der Fliegende Holländer.
geheimnisvollen Linien gefurcht hätte oder der Wille sie beschattete,
wie die Stirne des Donnerers Zeus. Senkrecht, zwei beseligenden
Feuerströmen gleich, fallen ihre Blicke, welche des Sterblichen
Brust zermalmen müßten, würde er sich nicht verklärt in ihrem
feuchten Glänze wiederfinden. In leisem Beben ruht ihr aufgerolltes
Haar, jene Elektrizität verratend, welche das belebende Element
der Schönheit ist. Aus ihren Armfragmenten spricht die Kraft
zu fest umspannender Umarmung; man fühlt, daß sie das Geliebte
an ihrem Herzen festzuhalten vermag, an diesem Herzen, das eine
ganze hohe Welt birgt, einen Urquell lodernder Gluten, vollkommener
und unendlich mannigfaltiger Harmonien. • Wir erblicken in ihr
einen Urtypus, zu welchem ihre ganze Erscheinung nur die durch-
sichtige Hülle ist.
Erfüllen diese Meisterwerke unseren Geist nicht mit höheren
Vorstellungen, als sie die glänzendste Wirklichkeit unserer B^
wunderung je bieten kann? Sind sie nicht übermenschliche, über-
natürliche Schöpfungen? und wären trotzdem Elemente in ihnen,
welche nicht wesentlich menschlich sind oder außerhalb der Natut
liegen?
Jede Kunst hat das Recht, besondere Typen aufzustellen, weiche
diesen oder jenen Seelenzustand in einer idealen Abstraktion zur
Erscheinung bringen — sei es fleckenlose, unverwüstliche Tugend,
sei es der in seinem höchsten Ausdruck festgehaltene Schmerz.
Solche Verkörperungen sind wie konzentrische Prismen, welche die
ganze Lichtfülle gewisser Strahlen widerspiegeln, von denen wir
sonst nur, je nachdem sie auf verschiedene Individualitäten verteilt
sind, die Abstufungen der einzeln sich folgenden Tinten kennen
lernen würden.
Die Kunst aber belehnt nur unter der Bedingung die Phantasie
des Menschen mit ihrem schöpferischen Vermögen, daß er ihre
Geheimnisse ihr entreiße, ihre Mysterien enthülle.
Je höher der Begriff ist, welchen der Künstler zu einem idealen
Typus wählt, je höher die Empfindung über der oberflächlichen
Fassungskraft des Gewöhnlichen steht, so daß sie durch Erläute-
rungen dem Verständnis der Menge näher gerückt werden müssen:
um so notwendiger ist es, daß Begriff und Empfindung in einer
Der Fliegende Holländer. 169
Form von hervorragender Schönheit und relativer Vollkommenheit
auftreten.
Trotz der beständigen Umgestaltungen, wie der Wechsel der
Zeit und des Orts sie im menschlichen Geist hervorbringen, bleibt
das menschliche Herz doch immer dasselbe, und immer wird es sich
dem beredten Ausdruck von Seelenvorgängen, die seiner Natur
eigen sind, eindrucksfähig zuwenden. Es wird niemals unempfäng-
lich für poetische oder plastische Meisterwerke werden, mögen
sie ihren Ursprung auch einer noch so entfernten Vergangenheit,
einer noch so verschiedenen Zivilisation verdanken. Indische Poesie
und griechische Kunst machen noch heute verwandte Saiten in uns
erklingen; sie wecken Gefühle und Ideen, die niemals aussterben.
Immer aber wird die Schönheit der Form, des Stils, der herrliche
Körper, in welchen der Gedanke sich kleidet, es sein, was ihm Un-
sterblichkeit verleiht.
Nicht dem Wollen des Künstlers, sondern dem, was ihm aus-
zusprechen gelungen ist, trägt die Nachwelt Rechnung.
Nur wenn der Gedanke die Form gefunden hat, durch die er
ungeschwächt wie eine Flamme in fehlerfreiem Kristall leuchtet,
wird sein Werk die Grundbedingung langer Lebensfähigkeit in sich
schließen.
Da die Musik nicht wie die plastischen Künste ein Modell zum
Nachahmen hat, aber doch gleich der Architektur sich in sehr ver-
schiedene Stile verzweigt, gleich ihr allen Veränderungen der Schule,
der Manier, des Geschmacks unterworfen ist und ebenso innig wie
sie mit dem Charakter der Nationalitäten zusammenhängt, so
läuft sie noch öfter als die Architektur Gefahr, daß ihre Idiome
tote Sprachen werden, daß ihre geheiligten Hieroglyphen rätselhafte
Zeichen bleiben, daß ihre Herrlichkeiten in die einer neuen Morgen-
röte vorangehende Nacht versinken. Dennoch besitzt sie die Gabe,
einen so vollständigen Zusammenhang von Geist und Stoff zu
erschaffen, daß ihren vollendetsten Momenten — ungeachtet aller
Veränderungen des Stils — die Kraft eingeboren ist. Formen,
welche dem in sie ergossenen Gefühlsinhalt entsprechen, hervor-
zubringen. Welche Umgestaltungen auch unsere Kunst im Laufe
der Jahre oder Jahrhunderte erfahren wird, welche Modifikationen
170 Der Fliegende Holländer.
sich auch in der Art der Behandlung, Gruppierung, Vereinigung
der verschiedenen Elemente (melodischer Gedanken, harmonischen
Gewebes, rhythmischer Bewegung, unbekannter Klangfarben, neuer
Modulationen, unerwarteter Tonalitäten) geltend machen mögen,
so glauben wir, daß Wagners Werke das musikalische Drama
unserer Epoche und namentlich im großen deklamatorischen
Stil, wie er sich zur Zeit, wo der Musik die reichsten instrumentalen
und szenischen Hilfsmittel zu Gebote stehen, entwickeln konnte,
am bedeutendsten kennzeichnen werden.
Wagner hat nicht allein seinen Rahmen und die Kraft seines
.Kolorits bis- zur äußersten unseren Sinnen gesetzten Grenze aus-
gedehnt: er hat in seinen Dramen auch so zahlreiche Mittel der
Wirkung konzentriert, daß ihre Vereinigung die ganze Gehör-,
Gefühls- und Auffassungsfähigkeit der Zuhörer beansprucht. Wagner
hat sich der sämtlichen Instrumentaleffekte, Gruppierungen der
Stimmen und der ganzen Pracht der Dekorationen usw. seiner
Vorgänger bemächtigt und das so Gewonnene auf bedeutung^
volle Stoffe verwandt.
Jedes von den drei in der Reife seines Genius geschaffenen
Werken erreicht mit verschiedenen Mitteln und anderen poetischen
Hebeln dasselbe. Im „Tannhäuser" wird der Streit zwischen
Gutem und Bösem, zwischen Freiheit und Autorität, zwischen
Seele und Sinnen, den beiden Prinzipien, welche in der Natur und
im Menschen so tief wurzeln, daß ihr Nebeneinander, so sehr es auch
von Vernunftgründen als unmöglich dargestellt werden mag, ewig
fortbestehen wird und dem Geist immer wieder als das einzig Mög-
liche erscheint, in so ergreifender Weise geführt — er versetzt das
große Problem unseres Daseins, dessen Lösung von den Titanen
der menschlichen Intelligenz so beharrlich gesucht wird, in so
schmerzensreiche Regionen und greift mit so kühn energischer Hand
in die Saiten, deren bloße Berührung unserem verwundbaren Innem
schon Schmerzen verursacht, — daß in dem Maße, in welchem das
Drama seine feierlich leidenschaftlichen. Entwickelungen entrollt,
uns der Atem wie beim Ersteigen hoher Gipfel stockt und unsere
Kräfte der Erschöpfung nahen, wenn das Ende voll Trauer und
tiberirdischer Freude eintritt.
Der Fliegende Holländer. 171
Gegenüber dem „Lohengrin" möchte es beim ersten Blick
beinahe scheinen, als berge das Sujet desselben eine geringere
Wirkungsfähigkeit in sich. Er erzählt nicht, wie der „Tannhäuser",
jedem Zuhörer mit einer Art poetischer Apologie seine eigene
Geschichte, und man glaubt darum, gegenüber den sich hier ent-
wickelnden Begebenheiten und Leidenschaften ruhiger bleiben zu
können. Und doch ist dem nicht also. Der Autor hat hier alle
erdenklichen Hilfsmittel der Kunst so verschwenderisch angehäuft,
mit solcher Farbenpracht und wieder mit solch hehrer Keuschheit im
Kolorit, mit solch lebendiger Wahrheit gemalt, daß der gleichgül-
tigste Zuschauer sich selbst vergißt und nur noch in den Wesen lebt,
deren Geschick sich vor seinen Augen vollzieht. Trotzdem Wagner
liier kein Spiegelbild seiner eigenen Leiden, wie im „Tannhäuser",
geschaffen hat, muß der Hörer sich gefangen geben: er geht ganz
in den vor ihm sich bewegenden Gefühlen auf, er empfindet sie
lebendig mit und folgt ihrer Entwickelung so gespannt, daß er am
Schluß des erschütternden Dramas mit erschüttert ist.
Im „Fliegenden Holländer" endlich sehen wir uns in keinem
von den oben angeführten beiden Fällen; wir finden weder in den
handelnden Personen uns wieder, noch fühlen wir uns durch den
gebieterischen Zauber einer mit feingebildetem Geist verbundenen
Kunst gezwungen, unsere Freiheit aufzugeben. Hier ist aber der
Inhalt selbst so tief traurig, der Held ist von seinem ersten Auf-
treten an so maßlos unglücklich und bekundet das in so düster
klagendem Gesänge, daß wir beim Anhören dieser tragischen Elegie
als Zeugen so edel erduldeter Qualen uns der Tränen nicht er-
wehren können. Lassen uns auch die wenigen Lichtstriche in diesem
Sturmbild und seine wenigen heiteren Szenen auf Augenblicke zur
Ruhe kommen, so macht das Ganze doch den Eindruck so unheil-
barer Schwermut, daß man am Schlüsse glaubt, den Becher derselben
bis auf die Hefe geleert zu haben.
IIL
. Im ersten Akt, wenn nach dem Schlußakkord der Ouvertüre
sich der Vorhang hebt, dauert der Sturm im Orchester fort und
172
Der Fliegende Holländer.
wird auf der Szene sichtbar. Sie stellt eine norwegische Küste mit
steilen Felsenufern dar.
Es ist Nacht — das Meer heftig bewegt. Ein Kaufmannsschiff
wird längere Zeit auf den Wellen umhergeschleudert und vom
Strand zurückgeworfen. Endlich landet es und wirft Anker. Alles
ist in dichtes Dunkel gehüllt, und nur das Zucken der Blitze läßt
uns die Matrosen gewahren, die zu ihren Manövern einen jener
monotonen Rufe ertönen lassen, der diese Bewegungen rhythmisch
kadenziert:
Nr, 10.
Matrosen:
Tenor.
I
it
B$^^3^
t=^-
^
Ho- Jo - het
Hai -Ig - Jol
BaM.
V=^
^^M^-4^^
:SL
i^
Ho-jo - hei
Hai - lo - jol
Daland, der Kapitän* des Schiffes, steigt an das Ufer, um sich
zu orientieren, und findet, daß ihn der Sturm sieben Meilen vom
heimatlichen Hafen, in den er nach langer Abwesenheit einlaufen
wollte, entfernt hat. Inzwischen beginnt der Wind sich zu legefli
infolgedessen er seiner Mannschaft erlaubt, sich der Ruhe hinzu-
geben. Auch er sucht sie und vertraut währenddessen einem jungen
Piloten die Nachtwache an. Dieser, obwohl auch von Müdigkeit
erschöpft, versucht trotzdem, dem Schlafe tapfer zu widerstehen, und
um sich besser wach zu halten, stimmt er ein Lied zum Lobe des
Südwindes an, der das Schiff zur Heimat, zum Liebchen zurück-
führt. Der Gesang ist hie und da von leichten Schlafanfällen des
Sängers unterbrochen, und in dem Maße, in welchem der Wind
schwächer weht, werden auch die Töne des Orchesters milder und
lassen die tapfere Tenorstimme heller hervortreten. Doch nacf
kurzen Pausen peitscht eine brausende Woge aufs neue das Schifft
Der Fliegende Holländer. 173
und der von ihrem heftigen Stoße aus dem Schlummer aufgeschreckte
Pilot stimmt den Refrain seines Liedes von neuem an.
Für das Ohr des Musikers ist das durch die Streichinstrumente^
besonders von Violen und Celli dargestellte stets wechselnde, ruhelose
Wogen und Schäumen von außerordentlicher Wirkung. Es geht
durch die erste und zweite Szene bis zu der dritten und der Er-
scheinung des Kapitäns fort.
^ Diese drei ersten Szenen bilden so gewissermaßen die sichtbare
Darstellung der Ouvertüre. Das Ohr glaubt noch besser als das
Auge das riesige Anschwellen der Fluten zu sehen, die — nach
einem Ausdruck des Autors — sich in der szenischen Anordnung
„turmhoch erheben".
P-' Es gibt wenig Meisterwerke beschreibender Poesie, die dem
hier entwickelten landschaftlichen Talente an malerischer Wirkung
gleichkommen. Man möchte ihm gegenüber, wie vor Prellers
Seegemälden sagen: „Das ist naßT' Man spürt die salzige Brise
in der Luft, — man glaubt den scharfen Duft der Seegräser einzu-
atmen, den schweren Nebel, den leichten Reif der kalten Zonen
zu fühlen, der die Augenlider niederdrückt und die Hände frostig
macht, — man hört den gezackten Flug der weißen Möwen, die gleich
neckischen Kobolden umherwirbeln oder wie Schneeflocken, die der
launische Nordwind vor sich herjagt, in der Irre schweifen, — man
hört den kurzen, ängstlich fragenden Schrei, das unruhige Gekreische
der gefiederten Abenteurer, ihren hastig zuckenden Flügelschlag,
ihre Zeichen flüchtigen Schreckens im Schwanken zwischen Reiselust
und Furcht vor den Anzeichen des kaum beschwichtigten Sturmes —
wir fühlen die Seeluft, wir baden gleichsam in den dem Meere ent-
steigenden Dünsten, wir sind betäubt von dem steten Schaukeln
auf der Brust des alten Ozeans, der immer jung bleibt in Anmut
und in verführerischem Lächeln, in seinen verliebten und treulosen
Verlockungen, wie in der Energie seines wilden Zornes, seiner blinden
Rache.
Un'ter einem leise bebenden Rhythmus scheint es, als wäre der
flüssige Kristall in seinem ungeheuren Bassin durch das unruhige
Gebaren des unterseeischen Riesen bewegt, des furchtbaren Ada-
mastor, dem einst unter anderem Meridian die kühnen portugiesischen
174 Der Fliegende Holländer.
Entdecker begegneten, der alle Zonen seines Reiches besucht, um die
Grenzen zu hüten und mit heftigem Flossenschlag die Myrmidonen
in die Tiefe taucht oder die frechen Eindringlinge aus seiner Sahara
fortschreckt, deren einsame Weite ihm lieb ist.
Man kann sich dem Eindrucke dieser musikalischen Marine nicht
entziehen. An reichem pittoresken Detail steht sie auf gleicher
Stufe mit den besten Stücken der berühmtesten Seemaler. Nie ist
ein so meisterhaftes Gemälde für das Orchester geschaffen worden.
Ohne Bedenken läßt es sich hoch über alle analogen Versuche
stellen, die sich in anderen musikalisch-dramatischen Werken vor-
finden und zu einem Vergleich berechtigen.
Wir sprechen dieses aus, ohne dem Genius Mozarts zu nahe
treten oder die seinem enthusiastischen Biographen Oulibicheff
schuldige Rücksicht außer Augen setzen zu wollen, welcher von d&i
beiden Stürmen im „Idomeneo" folgendermaßen spricht: „Erhebt
sich nicht Mozart in den abwechselnden Chören der Schiffbrüchigen
und der am Ufer Stehenden wie ein Neptun über das Niveau
seiner Zeitgenossen, um den Melomanen das Schweigen der Be-
wunderung, seinen Rivalen das der Verzweiflung aufzuerlegen?" —
Und weiter: „Ein Wallen und Gären im Orchester verkündet das
Nahen des Ungeheuers ... die Achtelbewegung wird immer eifriger,
die Violinen schlagen Lärm in Akkorden, die wie Sturmglocken
ertönen, die Phalanx der Bläser tritt mit langem Wehgestöhne
hinzu ... ein Sturm, gegen den der im ersten Akte nur ein Stoßwind
war . . . Figuren steigen in denselben Intervallen zu gleicher Zeit
auf und nieder, und dies bringt, in Verbindung mit den Schwankungen
des 12/g.i^hythmus einer Art von Tretbalken, ein furchtbares Bild
der unter den Schlägen Neptuns erbebenden Erde hervor. Ein
Hagel von Triolen trifft die Flüchtigen, Finsternisse umgeben sie,
der Orkan treibt sie nach verschiedenen Richtungen vor sich hin,
der Blitz betäubt sie durch seinen Glanz — das ist unvergleichüch,
das ist erhaben r*
Dieser Analyse gehen folgende Worte voraus: „Mozart hat
keine seiner Opern mit solcher Fülle und solchem Luxus instru-
mentiert. Überall Reichtum, der an Verschwendung grenzt. Cr
Der Fliegende Holländer. 175
wollte alles zur Anwendung bringen, was nur in einem Orchester
Platz finden konnte."
Wir überlassen jedem musikalischen, redlich strebenden Künstler,
die beiden Partituren — wir möchten sagen können, die beiden Auf-
führungen — zu vergleichen, um einzugestehen, daß mit dem
materiellen Fortschritt in der Kunst das Genie heutzutage Wirkungen
zu erzielen vermag, von welchen die alten Meister nur ein Vorgefühl,
nur eine Ahnung haben konnten.
Die Musik kann durch die immer gesteigerte Reproduktion der
Eindrücke, welche große Naturschauspiele in uns hervorrufen, ihr
weites Gebiet noch immer erweitern, ungefähr wie einst die Malerei,
indem sie den Goldgrund verdrängte, welcher im Mittelalter die ein-
fachen Pompejanischen Grundfarben mit größerem Prunk ersetzte,
um lebendige landschaftliche Perspektive zu versuchen, die anfangs
nur als Umgebung menschlicher Gruppen diente und sich später zu
einem selbständigen Zweig der Kunst entwickelte.
Der junge Pilot hat sich tapfer gegen den Schlaf gewehrt —
endlich aber tiberwältigt ihn die Müdigkeit. Während einer Pause
des Sturmes schläft er ein — so fest, daß er das neue Erwachen des
Sturmes, die Regengüsse, die das Orchester über ihn schüttet, nicht
spürt. Aus den dichten Wolken bricht nun die klagende, fatalistische
Melodie hervor, welche den hadernden Elementen des Nahen eines
höheren Elementes verkündet, das ihrer Verwüstung lacht, ihrem
Ungemach trotzt.
Schwarz, mit roten Segeln, naht von ferne das Geisterschiff.
Rasch segelt es dahin. Ungehemmt von den verdoppelten Wind-
stößen, von heftig zuckenden Blitzen, vom Aufruhr der murrenden,
widerspenstigen Wellen, von dem Getöse des Donners landet es
Dalands Schiff gegenüber.
Auf dem Verdecke gewahrt man eine Gruppe schwarzgekleideter
Matrosen mit langen, weißen Barten und von hagerem, verstörtem
Aussehen. Auch sie werfen ihre Anker aus, aber mit feierlich
düsterem Schweigen.
Bleicher als alle bleibt der Kapitän lange unbeweglich an den Mast
gelehnt, ehe er sein schwimmendes Gefängnis verläßt. Langsam steigt
er an das Land, traurig die ihn umgebende Landschaft betrachtend.
176 Der Fliegende Holländer.
*
Aus dem Orchester taucht das Verdammungsmotiv (Noten*
beispiel Nr. 1) auf, welches ein gedämpftes Licht, wie das einer
Sonnenfinsternis, auf ihn wirft und ihn voti allen lebenden Wesen
zu isolieren scheint. Mit schmerzlicher Nachlässigkeit an einem
Felsen lehnend singt er mit hohlem Ton, aus dem die Leiden von
Jahrhunderten reden:
„Die Frist ist um, und abermals verstrichen
sind sieben Jahr'. — Voll Oberdruß wirft mich
das Meer ans Land. * "
Zwischen jedem einzelnen Ausruf taucht aus dem Orchester eine
schäumende Woge, als sollten sie immer eine neue siebenjährige
Verdammungsfrist bedeuten, welche in der Zukunft ersteht, um in
eine unbegrenzte Vergangenheit zu sinken.
Mit auflodernder Wut bäumt er sich dagegen auf und ruft
aus:
;,Ha, stolzer Ozean I
In kurzer Frist sollst du mich wieder tragen!"
Ein Schrei der Verzweiflung dringt aus den Worten:
;,Dein Trotz ist beugsam — doch ewig meine Qual!"
Bald jedoch gewinnt er die Fassung eines dumpfen Trotzes gegen
die Strenge seines Geschicks zurück und spricht mit gelassener
Festigkeit:
„Das Heil, das auf dem Land' ich suche, nimmer
werd* ich es finden! — "
Und als drohe er selbst, ja als fordere er das Schicksal zum Kampfe
auf, ruft er dann sardonisch aus:
— ;,Euch, des Weltmeers Fluten,
bleib' ich getreu, bis eure letzte Welle
sich bricht und euer letztes Naß versiegt!" —
Nach diesem Rezitativ voll Hochmut des Seelenleidens bricht
aus dem Orchester ein neuer Windstoß* Die Wellen richten sich
auf, wie Rosse sich bäumen, wenn sie das Herannahen eines über-
natürlichen Wesens wittern, und der Holländer ergießt seine stolze
Klage in dem melodischeren Arioso agitato, welches schon in der
Ouvertüre vorkam. Die Erinnerung an das Erlittene drängt sich
D«r f=^liegende Holländer. 17?
mit Macht in den Vordergrund und vermag nicht länger die herz-
zerreißenden Klagetöne zu ersticken:
„ — Wie oft in Meeres tiefsten Schlund
stürzt' ich voll Sehnsucht mich hinab: —
doch achl den Tod, ich fand ihn nicht!
Da, wo der Schiffe furchtbar Grab,
trieb mein Schiff ich zum Klippengrund: —
doch achl mein Grab, es schloß sich nicht I'' —
und mit aufstachelndem Tone, als entböte er, ein verwegener
Streiter, menschliche Heere zum Kampf, fügt er hinzu:
ft
Verhöhnend droht' ich dem Piraten,
im wilden Kampf hofft' ich den Tod:
•„„Hier" — rief ich — „zeige deine Taten!
Von Schätzen voll ist Schiff und Boot."" --
Doch achl des Meers barbar'scher Sohn
schlägt bang das Kreuz und flieht davon. —
Nirgends ein Grab! Niemals der Tod!
Dies der Verdammnis Schreckgebot.
«
Nachdem er in Erinnerung an die Schrecken seiner Strafe zu
immer aufwühlenderem Zorn und empörterem Unwillen sich erhoben,
sinkt er nach diesen Worten, der Last der Verfolgung erliegend,
todesmüde zusammen. Wie in gänzlicher Vernichtung verstummt
er einen Augenblick und richtet dann einen kUhnen, forschenden
Blick zum unversöhnlichen Himmel empor, der in diesem Augen-
blicke von einem dichten Schleier dunkler Wolken umhüllt ist. Der
«/g-Täkt wird hier zum ^/4-Takt. Das Orchester verharrt in einem
Tremolo der Kontrabässe und Celli, zu welchem die Violinen in
ihrer tiefsten Lage hinzutreten. Abwechselnd unterstützen es
Fagotte, Klarinetten und Paukenwirbel, welchen letzteren sich auf
einige Takte die Posaunen im tiefen Register zugesellen.
Diese düstere Klage gehört zu den herrlichsten Inspirationen
der Muse des Weltschmerzes in unserem von ihr beherrschten Jahr-
hundert.
Majestätisch in seinen Schmerz gehüllt, kalt und doch bewegt
fragt der Holländer wie ein Ankläger die richtenden Mächte, welche
ewig taub gegen seine Klagen, ewig blind gegen seine Leiden sind:
Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. ]2
178
Der Fliegende Holländer.
„Dich frage ich, gepries'ner Engel Gottes,
der meines Heils Bedingung mir gewann:
War ich Unsel'ger Spielwerlc deines Spottes,
als die Erlösung du mir zeigtest an?" —
Die noch einmal aufzuckende Hoffnung scheint endlich ganz zu er-
sterben. Wie blutwittemde Tiger springen die Wc^en empor, die,
glücklicher als er, an steiler Felswand sich brechen, während keine
Gefahr den fluchbeladenen Leib des Unglücklichen zu zerstören
vermag:
„Vergebene Hoffnung I Furchtbar eitler Wafanl
Um ewige Treu' auf Erden ist's getan." —
Doch in einem letzten Aufraffen männlicher Energie und stolzen
Mutes scheint er seiner gemarterten Seele äußere Fassung auf erlegen
zu wollen. Töricht hatte er dem himmlischen Urteil zu entgehen
und den Tod auf seinen Pfaden zu finden geglaubt, verzweifelnd
hatte er erfahren, daß er vergeblich nach dem engelgleichen Mitleid,
das ihm die Pforten des Heils zu öffnen vermöchte, vergeblich nacb
den menschlichen Tugenden Liebe und Treue gesucht habe. So
hofft er denn von dem Tage des allgemeinen Untergangs die Ge-
währung seiner Anwartschaft auf Vernichtung:
Nur eine Hoffnung soll mir bleiben,
nur eine unerschüttert steh'n:
So lang der Erde Keime treiben —
so muß sie doch zugrunde geh'n . . .
Tag des QerichtsI Jüngster Tag!
Wann brichst du an in meine Nacht?
Wann dröhnt er, der Vernichtungsschlag,
mit dem die Welt zusammenkracht?
Wenn alle Toten aufersteh'n,
dann werde ich in Nichts vergeh'n . . .
Ihr Welten, endet euren Lauf!
Ew'ge Vernichtung, nimm mich auf!"
Der Rhythmus dieses letzten Ausrufes:
Nr. !!•
Holländer:
^^], i \ r^^^ 7 bJ:
t
$
m
t
|:
Wenn al - le
To - tcn auf - er - steh'n
Der Fliegende Holländer.
179
ist von überwältigender Wirkung. In den acht Haupttakten des
Motivs, welche viermal wiederholt werden, schleppt er sich zuckend
und knirschend von einer doppelt punktierten halben Note auf alter-
nierende Achtel. Seinem Rufe:
Nr. 12.
Holländer:
p
- t , '^ I f
-Ä-
Ä^
k
m
t2
Ew' - ge Ver - nich
tung,
nimm.
mich aufl
antwortet aus dem Innern des Schiffes, wie aus einer schwimmenden
Höhle heraus mit dumpfem Grabestone, als käme er von einer
Gruppe Ewigverdammter, und mit einer Betonung, die voll heim-
lichen Vorwurfs die Rache für ihr eigenes Verderben auf sein Haupt
zu häufen scheint, die unsichtbare Mannschaft seines Schiffes, die
nach so viel vergeblichen Versuchen ebenso aller Hoffnung bar ist,
wie er selbst:
Nr. 13.
Chor:
Tenor.
I
J?
ffiß
^,J^ tf gi^iHji~"
pP^
-&-
-s^
Ew' - ge Ver - nich - tung, nimm uns aufl —
Bass.
i^a^^S
i U' p
ISL
X
^
T
W-
^ |g |t^^ lit^
E
VI
izr
Ew' - ge Ver - nich - tung, nimm uns aufl —
Zwischen den letzten Worten des Kapitäns und dem klagenden
Refrain seiner Matrosen ertönt aus dem Orchester gleich einem
Urteilsspruch aufs neue das Verdammungsmotiv, welches den Anruf
des ersteren mit vollem Klange:
12*
180
Der Fliegende Holländer.
Nn 14.
VioL
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Pieeolo, Poi. iL Biss«.
^ 5=5
3
■»»
i=:i^
5
und den Refrain der Matrosen wie ein fernes Echo wiederholt:
Nr. 15.
Hörn.
Der Monolog muß zu den bedeutendsten gezählt werden, welche
die musikalische Literatur besitzt.
Energie des Gedankens und Gefühls gehen hier beständig Hand
in Hand. Sie bewegen sich an den äußersten Grenzen, ohne in
Übertreibung auszuarten, ohne zu krankhafter Verzerrung entstellt
zu werden oder in zu langer Spannung zu erkalten. Die Skala
aller Phasen des Leidens ist hier durchlaufen: stoische Ruhe, Zorn
und Empörung, Ironie und Sarkasmus bis zur Sehnsucht nach
Vernichtung.
Die klagende Monotonie, mit welcher die ausdrucksvolle und
eindringliche Tonart von C-moll nach den gewagtesten Modulationen
beharrlich wiederkehrt, bezeichnet die immer wiederkehrenden,
immer erneuten gleichen Schmerzen. In den mannigfachen, den
Gesang des Unglücklichen unterbrechenden Pausen gibt das
Der Fliegende Holländer.
181
Orchester den Kommentar zu seinen Tönen, die zu kurz sind, um
so lange Leiden auszusprechen. Es greift da ein, wo die menschliche
Stimme nicht ausreichend ist, um die ganze Intensität unaussprech-
licher Seelenangst wiederzugeben. Diese im höchsten pathetischen
Stile gehaltene Szene ergreift den Hörer auf eine Weise, deren die
Poesie allein nicht fähig ist, weil sie fremde Leiden nicht so un-
mittelbar in die eigene Brust übertragen kann wie die Musik, indem
sie gewissermaßen ätzendes Gift in unsere Adern ergießt. Ein
neuer Virgil, kann der Musiker uns durch alle Höllenkreise führen,
welche ein menschliches Herz bergen kann.
Daland, den die ersten Sonnenstrahlen geweckt, gewahrt das
in der Nacht hinzugekommene Schiff. Er ruft es durch das Sprach-
rohr an — aber umsonst. Niemand antwortet. Ein trauriges Echo
sendet ihm nur den Ton seiner eigenen Stimme zurück. Endlich
bemerkt er den Holländer, welcher nachdenklich am Felsen lehnt.
Und indem er auf ihn zugeht, fragt er ihn, woher er komme.
Die auf diese Frage folgende Pause ist vom Orchester mit einer
spannenden Harmonie ausgefüllt:
Nr« 16« Lento*
|rt^^
Bratsche.
Pos.
CeUo. 5 ' ^ Opliid.
„Weit komm' ich her" — antwortet der Holländer mit tiefer
Schwermut:
„ — Verwehrt bei Sturm und Wetter
Ihr mir den Ankerplatz?'
>«
182
Der Fliegende Holländer.
D a 1 a n d.
„Vcrhüf es Oott!
Gastfreundschaft kennt der Seemann. — Wer bist du?
Hast Schaden du genommen?"
Eine tiefe Trauer erfaßt uns, wenn der Kapitän antwortet:
;^ein Schiff ist fest, es leidet keinen Schaden. —
Durch Sturm und bösen Wind verschlagen,
irr' auf den Wassern ich umher, —
wie lange? weiß ich kaum zu sagen:
schon zähl' ich nicht die Jahre mehr.
Unmöglich dünkt mich's, daß ich nenne
die Länder alle, die ich fand;
das einzige nur, nach dem ich brenne —
ich find' es nicht, mein Heimatland! — **
Von den Worten an: „Durch Sturm und bösen Wind verschlagen"
beginnt eine Art seltsamer Kantilene von vierzig Takten, von einer
eintönigen Figur der Violinen und Celli in Achtelbewegung be-
gleitet und durch lange Noten der Klarinetten, Homer, Fagotte,
Violen und Kontrabässe unterstützt:
Nr* 17. Moderato.
Holländer.
t
i
-9^
^
tt p-^
Durch
^3
Sturm
Viol. n. Celli.
und
bö - sen Wind ver-
El. Hörner, Fag., Viol.
1
•Äf^
i
*^' ^ ^ Sh
Bässe.
Der Fliegende Holländer.
183
(te
P
-G-
schla
gen,
^^P
nr
-^-
?g^
Diese Art psalmodierten Trauerliedes, in ihrer konventionellen Form,
macht nach dem früheren wilden Aufstürmen den Eindruck einer
Erstarrung des Schmerzes. Die vierzig Takte gleichen den Wellen
eines toten Meeres, die mit farblosem Widerscheine träge über-
einander rollen.
Der Holländer fährt fort:
,,Verg6nne mir auf kurze Frist dein Haus,
und deine Freundschaft soll dich nicht gereu'n:
mit Schätzen aller Gegenden und Zonen
ist reich mein Schiff beladen: — willst du handeln,
so sollst du sicher deines Vorteils sein."
Er befiehlt eine Kiste von seinem Schiffe herunterzubringen. Sie
wird vor Daland geöffnet. Geblendet vom Anblicke des Goldes, der
Perlen und Edelsteine betrachtet dieser die Schätze mit den Blicken
einer naiven Habgier. In seiner Ekstase fragt der biedere Norweger,
wer einen Preis für solche Kostbarkeiten bieten könne.
Der Holländer erwidert:
„Den Preis? Soeben hab' ich ihn genannt: —
dies ist das Obdach einer einz'gen Nacht!
Doch, was du siehst, ist nur der kleinste Teil
von dem, was meines Schiffes Raum verschließt.
Was frommt der Schatz? Ich habe weder Weib
noch Kind, und meine Heimat find' ich nie!
All meinen Reichtum biet' ich dir, wenn bei
den Deinen du mir neue Heimat gibst.'*
184 Der Fliegende Holländer.
,,Wie soll ich dich versteh'n?" sagt Daland.
„„Hast du eine Tochter?"" fragt jener zuiück.
,,Ffirwahr, ein treues Kind!"
„„Sie sei mein Weib.""
„Wie? mein Kind — dein Weib?" ruft Daiand aus, dessen Auge
mehr und mehr am Gold sich weidet und mehr und mehr in die Be-
trachtung der kostbaren, nachlässig zu seinen Ffißen ausgebreiteten
Kleinodien sich verliert.
Der Holländer singt:
„Mich fesselt nichts an die Erde!
Rastlos verfolgte das Schicksal mich,
die Qual nur war mir Gefährte.
Nie werd' ich die Heimat erreichen:
Zu was frommt mir der Güter Gewinn?
Läßt du zum Bunde dich erweichen,
O, so nimm meine Scliätze dahin!*'
Daland gibt der magnetischen Anziehungskraft des Goldes nach,
das den Händen greifbar vor ihm ausgebreitet liegt. Er schmählt
und hadert mit sich selbst, daß er sich auch nur einen Augenblick
besinnen könne, um am Ende gar ein Glück entrinnen zu lassen,
das er für einen Traum halten muß, und entgegnet:
„Fast furcht' ich, wenn unentschlossen ich bleib'«
müßt' er im Vorsatze wanken.
Wüßt' ich, ob ich wach' oder träume!
Kann ein Eidam willkommener sein?
Ein Tor, wenn das Glück ich versäume!
Voll Entzücken schlage ich ein.
Wagners hochstrebende Gefühlsrichtung ließ ihn hier die
Farben nicht bis zur Karrikatur steigern. Er mildert den Ton
in der Wiedergabe des käuflichen Vaters, dessen tausendmal ge-
höhnter und gegeißelter Egoismus seine Habsucht und Handels-
gewohnheiten niemals aufgibt. Daland hat mindestens einen An-
strich von Würde, die aus der gemütlichen Neigung für seine Tochter
entspringt:
„Wohl, Fremdliitg, hab' ich eine schöne Tochter,
mit treuer Kindeslieb' ergeben mir;
sie ist mein Stolz, das höchste meiner Güter,
mein Trost im Unglück, meine Freud' im Glück."
Der Fliegende Holländer. 185
Der Holländer erwidert mit einer unheimlichen Betonung, die
das Herz beklemmt:
;,Dem Vater stets bewahr' sie ihre Liebe;
ihm treu, wird sie auch treu dem Gatten sein."
Das in dieser Szene öfters gebrauchte Wort Treue, in anderen
Fällen so häufig angewandt und banal geworden, berührt hier wie
der Klang einer Sterbeglocke.
„Du gibst Juwelen, unschätzbare Perlen,
das höchste Kleinod doch, ein treues Weib — "
erwidert nun Daland mit halb freundschaftlichem, väterlich bedenk-
lichem Tone, halb mit dem des Kaufmanns, der seine Ware preist.
„Du gibst sie mir?'' fragt nochmals der seitsame Brautwerber.
«»ija, mich rührt dein Los"" — versetzt der Norweger, der,
wenn auch bäurisch unbeholfen, doch nicht um Motive verlegen ist,
mit denen er den eingegangenen Verkauf seines Kindes überfimißt.
Des Holländers Freigebigkeit, statt ihn zur Vorsicht zu
mahnen, ob sie nicht vielleicht eine Falle für Senta sein könnte,
erscheint ihm als ein Beweis seines edlen Herzens. Aber,
wie er die Wahrheit spricht, wenn er gesteht, daß er sich einen solchen
Eidam gewünscht habe, so glaubt er auch wahr zu sein, indem er
sich überredet, daß er sich keinen anderen gewählt haben würde,
auch wenn sein Gut nicht so reich wäre. Er kommt mit dem Hol-
länder überein, den ersten günstigen Wind zu benutzen, um in
Dalands Heimat zu landen.
Dieser Dialog ist fein geführt und bildet einen ziemlich natür-
lichen, wiewohl raschen Übergang zu der ominösen Verlobung.
Während der Kaufmann sich seines glücklichen Loses freut, den
Sturm preist, der ihn zu so guter Stunde von seinem Wege ab-
gelenkt, sich zu einem so beneidenswerten, allen seinen Wünschen
entsprechenden Eidam gratuliert, tritt der unselige Kapitän mit
einer an Widerwillen grenzenden Trauer eine neue Prüfung, einen
neuen Versuch an, zu welchem ihn die Hoffnung — diese mit allen
Obeln aus Pandorens Büchse entsprungene Törin — treibt:
„Ach! ohne Hoffnung, wie ich bin,
geb' ich der Hoffnung doch mich hini" — ,
ruft er aus.
186 Der Fliegende Holländer.
Es läßt sich nicht leugnen, daß die Verbindung der beiden
Personen, die durch das große, sehr ausgeführte Schluß-Duett zu
einer innigen wird, eine unangenehme moralische Dissonanz hervor-
bringt. Vielleicht war es der aus einem der düstersten Gedichte von
Byron — dem „Manfred" — empfangene Eindruck, der Wagner
bewogen hat, eine phantastische Individualität wie den Holländer
der simplen, rohen Natur eines Daland entgegenzustellen. Die Szene
zwischen Manfred und dem Alpenjäger ruht jedoch auf anderer
moralischer Grundlage und erquickt die Phantasie, anstatt ihr un-
willkommen zu sein ; denn der schlichte Mann, wenn auch noch so
weit entfernt, die Qual Manfreds und die Möglichkeit des Selbst-
mordes begreifen zu können, bildet keinen schroffen Gegensatz zu
dem vornehmen Edelmann, den er rettet: beide sind stolz und edel,
jeder nach seiner Art.
Bei dem englischen Dichter sehen wir die harmonische Gegen-
überstellung zweier Arten der Poesie, der instinktiven und reflek-
tierenden, bei dem deutschen den herben Kontrast der gemeinen
Prosa mit der schwermütigsten Poesie.
Hier bei Wagner sind die beiden Personen zu unähnlich; es ist
ein zu großer Abstand zwischen ihnen, als daß die Wirkung ihrer
verschmolzenen Stimmen nicht als eine forzierte (etwas opern-
mäßige) erscheinen sollte. Während der eine sich zum Tragischen
erhebt, sind dem anderen absichtlich musikalische Gemeinplätze in
den Mund gelegt, welche die Gewöhnlichkeit seines Charakters auf
das schärfste wiedergeben.
Das ganze Benehmen des Holländers zeigt stille, ruhige Würde.
Sein Ausdruck ist gleichmäßig, edel, aber ohne irgendwelchen
starken Akzent; er handelt und redet nach alter Gewohnheit — so
oft schon hat er ähnliche Begegnungen und Unterhandlungen erlebt
Alle Momente, auch die scheinbar absichtlichsten seiner Antworten
und Fragen, ergeben sich, wie unwillkürlich, und er handelt gleich-
sam unter dem Zwange seiner Lage, der er sich ermüdet, teilnahms-
los und mechanisch ergibt. Ebenso unwillkürlich erwacht aber
auch wieder seine Sehnsucht nach Erlösung. Die Frage: „Hast du
eine Tochter?" wirft er noch mit anscheinender Ruhe hin. Als aber
Daland enthusiastisch antwortet: „Fürwahr, ein treues Kind!'*,
Der Fliegende Holländer.
187
reißt es ihn plötzlich zu der alten, so oft als trügerisch erkannten
Hoffnung hin, und mit einer krampfhaften Hast ruft er aus: „Sie
sei mein Weibl" — So schildert und bringt Wagner die innersten
Erregungen in diesem Zusammentreffen zum Ausdruck.
In Daland dagegen finden wir keine Erhabenheit des Gefühls.
Er repräsentiert ganz und gar die Alltagsbiederkeit, die ohne Wurzel
und Bestand ist, wie ein Wassergewächs, das .vom ersten besten
Ereignis ohne Widerstreben fortgetrieben wird. Wagner hat dem
Daland nichtsdestoweniger alle möglichen Hintertüren offen ge-
halten, um dieser Rolle den Anstand zu wahren. In einer kleinen
über die szenische Einrichtung dieser Oper an die Theaterregisseure
gerichteten Schrift sagt er bezügüch derselben, daß diejenigen, welche
die Szene zwischen Daland und dem Holländer vielleicht unnatürlich
finden sollten, nur bedenken möchten, wie solche Händel unter
anderen Formen und mit weniger Verdeckungskünsten wohl tag-
täglich in allen Klassen der Gesellschaft abgeschlossen werden. —
Der Sturm ist gänzlich beschwichtigt. Der gewünschte Wind
erhebt sich, und die beiden Schiffe lichten die Anker. Dalands
Schiff soll den Weg zeigen und läuft zuerst aus.
Während die Matrosen die Anker lichten, stimmen sie wieder
die charakteristischen langgehaltenen Noten an, welche sie beim
Landen in der ersten Szene gesungen hatten: Hohoje, halloho,
hoUp, halloho! (Notenbeispiel Nr. 10), wonach sie im Chor das
ganze Lied des jungen Piloten zu Ehren des Südwinds wiederholen, der
die ungeheuren weißen Segel auf bläht wie Schwingen eines Schwanes.
In den Refrain mischen sich einige Andeutungen der Tanzrhyth-
men, die zur Feier der Rückkehr im dritten Akt vorkommen:
Nr. 18^ _ _ _ _
k
1
^
^^
-^-
^
Hai - lo ho ho ho ho!
u2-
^
t
Hai - lo ho ho ho ho!
188
Der Fliegende Holländer.
Die anderen Vene tdnen fort, während der Kauff ahrer ädi entfernt
Alle Manöver mit erstaunlicher Schnelligkeit und Ldditigkeit, aber
mit Todesschweigen ausführend folgt ihm das schwarze Schiff mit
roten Segehi.
IV.
Dem zweiten Akte geht ein Instrumental- Intermezzo voraus.
Wagner wendet auf ähnliche Stücke eine große Sorgfalt
Seine Zwischenakte sind voll genialer Züge, voll feiner poetischer
Intentionen. Meistens sind sie epische Fortsetzungen oder Er-
gänzungen der dramatischen Handlung, in welchen die kontrasticfea-
den oder verwandten Hauptmotive und Ideen der Oper gldchsam
die Ereignisse bis zum Beginn des nächsten Aufzugs vorauserzählen.
Sie sind ebenso meisterhaft stilisiert, als die von dem Lauf der
Begebenheiten oder dem momentanen Ausruhen der Stimmen be-
dingten Pausen in der Handlung, während welcher das Orchester
selbständig eingreift.
Derartige Zwischenräume wurden sonst mit nichtssagenden,
banalen Ritomellen ausgefüllt. Wagner aber behandelt sie mit
besonderer Aufmerksamkeit. Er läßt sie als integrierenden Teü
des Dramas eine wichtige Stellung in demselben einnehmen. Solche
Momente vervollständigen bei ihm die Physiognomie seiner Personen,
weiche sie gleichsam mit einer besonderen Atmosphäre ihrer ver-
geistigten Leidenschaften umgeben.
Dieses Mai nimmt das Orchester das Lied des Piloten:
Nr. 19. AUegro.
Blftser.
fr".r 'n j \ \ h^^
'>'^|^ ,f.t\ff^f \ ^^^
Der Fliegende Holländer.
189
jr" f t i r f I .1
^^^
Streichinstr.
£
r
t
und den Abschiedschor wieder auf:
Nr. 20.
Blftaer.
y^ K StreicWnstr. ^^ ^ fc-*-tai*-l
A 6 A 6 AAAA
' "i" '^ I ilu f llLj 1
Viol., PI., Hob., Kl., P»g. n. HSrner.
| ii"if!!if !
u
i'l' h f jl^'
Celli n. B&886.
Wir sehen den wackern Daland, umgeben von seinen Matrosen, dahin-
segeln, froh der Beute, der kostbaren Kiste, die der Holländer auf
sein Schiff hatte bringen lassen, und glücklich, seiner Tochter einen
Bräutigam zuzuführen. Wir folgen ihm, bis er den Hafen erreicht,
190 Der Fliegende Holländer,
worauf wir im raschen Übergänge zu Senta versetzt werden, das
Schnurren der Spinnräder und einige Refrainnoten des Gesanges
hören, den die jungen Spinnerinnen anstimmen.
Ein nach skandinavischem Gebrauch getäfeltes, mit Modellen
von Korvetten, Kuttern und Schonern, sowie mit kolorierten, See-
stücke darstellenden Kupferstichen geziertes Zimmer zeigt uns eine
Gruppe junger Spinnerinnen.
Sie singen ein reizendes Lied mit obligater Begleitung der
Spinnräder.
Senta nimmt nicht teil daran. Tief sinnend, von schwermütigen
Gedanken erfüllt, läßt sie die Hände ruhen.
Ihre Amme, Mary« unterbricht den Chor, aber die jungen
Mädchen singen ungestört weiter* Das Schnurren der Räder setzt
sich mit einem anhaltenden Triller der Violinen, zu dem die zweiten
Violinen mit allerliebsten rhythmischen Schelmereien auf den
schlechten Taktteilen hinzutreten, so lange fort, bis die Singenden
ungeduldig über Senta werden, die gedankenabwesend weder spinnt
noch singt und gar nicht auf die Gegenwart der Gefährtinnen
achtet, sondern mit unverwandtem Blicke nach einem jener illu-
minierten Bilder starrt, die ebenfalls fast in allen Seemanns-
wohnungen zu finden sind und irgend eine Ballade, eine Volkssage
verherrlichen. Das Sentas Aufmerksamkeit so gänzlich absor-
bierende Gemälde stellt den holländischen Kapitän dar, wie die
Tradition sein getreues Andenken und sein lebendiges Bild be-
wahrt hat.
Mary schilt sie aus. Wie sie nur immer mit diesem unglück-
seligen Bilde sich beschäftigen könne, zürnt sie. Die Mädchen
stimmen ein und spötteln über diese Liebhaberei Sentas und über
die Eifersucht, die man von ihrem Verlobten, dem Jäger Erik,
befürchten müsse. Hierdurch in ihrem Träumen gestört und un-
mutig gemacht, fordert Senta die Amme auf, ihnen die Ballade vom
holländischen Kapitän zu singen. Aber die Alte, von Sentas
Schwärmerei unheimlich berührt, weist dieses Ansinnen mit Ent-
setzen von sich und spricht feierlich:
„Den fliegenden Holländer laßt in Ruh*!" —
Der Fliegende Molländer.
191
Worte, zu welchen aus dem Orchester deutlich das Verdammungs-
motiv ertönt.
;,Wie oft doch hört* ich sie von dir!" — ,
erwidert Senta, und um den Freundinnen die Spöttereien zu ver-
gelten, deren Ziel ihr träumerischer Hang, ihre seltsame Sympathie
für den unseligen Kapitän ist, und um ihre Rührung und ihr Mitleid
für das Los des Unglücklichen, dessen sich niemand erbarmt, und
dessen Qualen ihr Herz so innig mitfühlt, zu erwecken, singt sie nun
selbst die Ballade, die Mädchen ermahnend: wohl auf die Worte
zu achten. Den Neugierigen scheint nichts gelegener zu kommen,
als in ihrem großen Arbeitseifer gestört zu werden. Sie rücken näher
zu Senta heran, um aufmerksam ein Lied zu hören, das alle kennen,
das aber Senta so schön singt.
Das Lied beginnt mit seinem Refrain, dem Verdammungs-
motiv, einer genauen Wiederholung der ersten Takte der Ouvertüre :
Nr. 21.
Senta:
^
33
farii
^:=ita=:l:
-^-
#-^-
Jo ho hoel Jo ho ho hoel Ho ho hoel Jo
hoel
Das Orchester unterstützt Sentas Gesang mit einer volltönenden,
düsteren Begleitung.
(Ballade.)
„Johohoe! Johohocl usw.
Traft ihr das Schiff im Meere an,
blutrot die Segel, schwarz der Mast?
Auf hohem Bord der bleiche Mann,
des Schiffes Herr, wacht ohne Hast.
Huil — Wie saust der Wind! — Johohoe!
Hui! — Wie pfeift's im Tau! — Johohoe!
Huf! — Wie ein Pfeil fliegt er hin,
ohne Ziel, ohne Rast, ohne RuhM
Doch kann dem bleichen Manne Erlösung einstens noch werden,
fand' er ein Weib, das bis in den Tod getreu ihm auf Erden! —
Ach! Wann wirst du, bleicher Seemann, sie finden?
192 Der Fliegende Holländer.
Betet zum Himmel, daß bald
ein Weib Treue ihm halt'I
Bei bösem Wind und Sturmes Wut
umsegeln wollt* er einst ein Kap; —
er schwur und flucht' mit tollem Mut:
„„In Ewigkeit laß' ich nicht ab!""
Hui! — und Satan hört's — Johohoel
Hui! — nahm ihn beim Wort — Johohoel
Hui! — und verdammt zieht er nun
durch das Meer ohne Rast und Ruh'!
Doch daß der arme Mann noch Erlösung fände auf Erden,
zeigt Gottes Engel an, wie sein Heil ihm einst kann werden.
Ach! könntest du, bleicher Seemann, es finden!
Betet zum Himmel, daß bald
ein Weib Treue ihm halt'l"
Die Mädchen sind ergriffen und singen die letzten Zeilen mit* Doch
Senta fährt mit wachsender Energie fort:
;,Vor Anker alle sieben Jahr'
ein Weib 7U frei'n geht er ans Land: —
er freite alle sieben Jahr',
noch nie ein treues Weib er fand. —
Hui! — „„die Segel auf!"" — Johohoel
Hui! — „„den Anker los!"" — Johohoel
Hui! — Falsche LiebM falsche Treu'l
Auf, in See, ohne Rast, ohne Ruh'l"
Von ihrer sich mehr und mehr steigernden Aufregung erschöpft,
sinkt Senta halb ohnmächtig im Lehnstuhl zusammen. Die Mädchen,
angesteckt von ihrer Bewegung, überkommt eine andächtige
Rührung. Sie falten betend die Hände und singen den Schluß der
Ballade pianissimo im Chor:
'„Acht wo weilt sie, die dir Gottes Engel einst könne zeigen?
Wo triffst du sie, die bis in den Tod dir bliebe treu eigen?"
Kaum aber daß sie geendet, als Senta, wie von dem Rufe einer
inneren Stimme aus Ihrer Betäubung geweckt, sich plötzlich auf-
richtet und mit dem aus der Peroration zur Ouvertüre uns be-
kannten, jetzt jedoch gesteigerten Rhythmus jener schon mehrmals
vernommenen Phrase: „Doch kann dem bleichen Manne Erlösung
einstens noch werden" (Notenbeispiel Nr. 3) in hohen, durchdringen-
den Tönen die Worte ausruft:
Der Fliegende Holländer. 193
„Ich sei's, die dich durch ihre Treu' erlöse!
Mög' Gottes Engel mich dir zeigen:
durch mich sollst du das Heil erreichen!" — ,
sich dann mit ausgebreiteten Armen nach dem Bilde wie nach einem
lebenden Wesen wendet und auf dasselbe zustürzt.
Vor diesem mit ungeahnter Gewalt ausbrechenden Gefühl
weichen alle entsetzt zurück; die Fiktion wird fast zur Wirklichkeit;
die Mädchen beben vor Schrecken.
In demselben Augenblick tritt Erik ein, der junge Jäger und
Verlobte Sentas, und verkündet die Ankunft des Vaters. Diese
Nachricht gibt den Gedanken eine andere Richtung und erfüllt alle
Herzen mit Freude. Wie ein auffliegender Wachtelschwarm drängen
sich die Mädchen, um der Mannschaft, unter der sich mancher Ge-
liebte, mancher Bruder befindet, entgegenzueilen. Mary aber hält
sie zurück und ermahnt sie, sich vor allen Dingen mit den Vor-
bereitungen des zu veranstaltenden Festmahls zu beschäftigen.
Die schmollende Ungeduld, mit welcher die Mädchen diese
Ermahnung hinnehmen, veranlaßt einen kleinen lebhaften Chor, der,
wenn auch nicht in so feinem Ton gehalten als das Spinnerlied,
doch infolge eines unwiderstehlichen Zuges von übersprudelnder
Lustigkeit überall des Beifalls gewiß sein darf.
Als die Mädchen endlich lärmend davoneilen, hält Erik Senta
zurück und stellt ihr dringlich die schmerzliche Ungeduld vor, mit
welcher er den glücklichen Augenblick ihrer Vereinigung herbeisehnt,
und verlangt von ihr, daß sie den Vater bitte, denselben festzusetzen
und zu beschleunigen. Seine Rede ist voll der unruhigen Zärtlich-
keit jener Herzen, welche sich mehr von Gegenliebe zu überzeugen
suchen als derselben gewiß sind, die irgend eine Lücke in den
Vorbedingungen ihrer Liebe finden und sich doch nicht gestehen
wollen, daß ihnen die Fähigkeit fehlt, sie auszufüllen.
Man erkennt sofort, daß Erik schon länger Sentas Liebe zu
gleichmäßig findet, um ihre Seele für ganz von derselben einge-
nommen zu halten. Er sieht, daß sie die Einsamkeit dem Zusammen-
sein mit ihm vorzieht, daß sie seine Liebe zu sehr wie ein Geschenk
hinnimmt, ohne an Erwiderung zu denken. Senta gibt ihm anfangs
L i s z t , Gesammelte Schriften. 1 1. V. A. 1 3
194 Der Fliegende Holländer.
ausweichende Antworten, wird aber dann über sein Drängen un«
willig und wirft ihm Argwohn vor.
Wenn erst geheimer Unmut sich in gereizten Anspielungen Luft
macht, geht er leicht in bittere Äußerungen über. Erik, wie alle
unbeholfenen Liebhaber, wird verstimmt, dann ungerecht, endlich
heftig. Er wirft ihr ihre Vorliebe für die Ballade vor, daß sie
dieselbe so oft singe, daß sie immer das Bild des fliegenden Hol-
länders betrachte und überhaupt Mitleiden für den verdammten
Kapitän empfinde. Er fühlt unklar — aber mit dem geschärften
Sinn der Leidenschaft, weiche die unbestimmte Gefahr wittert —
daß die Exaltation, wenn sie auch in diesem Augenblick nur eine
Fiktion zum Gegenstand habe, doch die Anzeichen verborgen
schlummernder Kräfte verrate und leicht eines Tages, wie eine
unterdrückte lebendige Quelle, sich plötzlich einen Weg bahnen und
in sprudelnden Kaskaden dem unterirdischen Kerker entspringen
könne, um in Regionen vorzudringen, die seinem eigenen schüch-
ternen Wesen unzugänglich sind. Statt teilnehmend sich der Be-
wegung ihrer erregten Phantasie anzuschließen, statt sich mit ihrer
Sehnsucht zu identifizieren und auf diese Weise Glück, Leben und
Trost im Herzen zu verbreiten, benimmt er sich linkisch und
linkischer, bis er zuletzt ernstlich ein Unrecht daraus macht» daß
sie eine Legende, eine Fabel so lebhaft auf sich einwirken läßt.
Senta fühlt sich dadurch unangenehm in den zartesten Saiten
ihres Herzens berührt und dabei in den innigsten angeborenen
Trieben ihrer Seele beunruhigt. Erik hat sie in ihren geheimen
Sympathien — dem verwundbarsten Punkte im Frauenherzen —
verletzt und sie in all ihrem wirklichen und aufrichtigen Wohlwollen
für ihn gekränkt. Diese Vorwürfe kann sie nicht länger sanftmütig
ertragen; ihre willfährige Stimmung nimmt die Färbung des Wider-
standes an, ihre Ungeduld wird zum Unwillen.
„Soll mich des Ärmsten Schreckenslos nicht rühren?" fragt
Senta in dumpfem Unmut.
;,Fühlst du den Schmerz, den tiefen Qram,
mit dem herab auf mich er sieht?
Ach, was die Ruh' ihm ewig nahm,
wie schneidend Weh durchs Herz mir zieht!"
Der Fliegende Holländer. 195
Und als wolle es brechen, bedeckt sie ihr zuckend schlagendes Herz
mit den zitternden Händen. Erik aber ruft aus:
,,Weh' mirl Es mahnt mich ein unserger Traum I
Gott schütze dich! Satan hat dich umgarnt!"
Ermattet von Aufregung läßt Senta sich auf den Lehnstuhl
nieder und schließt die AugenJ Sie leiht anfangs Eriks Worten
wenig Aufmerksamkeit. Nach und nach scheint sie in Schlummer
zu versinken, doch aber das Gesagte dabei deutlich zu vernehmen.
Ihre Gebärden begleiten während ihres hellsehenden Schlafs die
Erzählung, und bald greift ihr eigenes Wort dem seinen vor. Die
Vision gibt sich kund, und in dem norwegischen Mädchen machen
sich die magnetischen Kräfte, das sibyllinische Gesicht, das Sweden-
borgsche Geistersehen geltend. Das verwünschte Schiff und sein
Kapitän sind für sie keine Dichtung mehr. Sie hört und sieht sie;
sie weiß, wo sie sind; sie fühlt ihre Bewegungen, ihr Kommen; sie
sieht in ihrer Ekstase den Vater mit dem bleichen Manne, ganz
wie Erik es erzählt. Er hatte geträumt, daß beide ankamen, daß
sie ihnen entgegeneilte und vor dem Holländer niedersank, der sie
aufhob und leidenschaftlich umarmte.
„Und dann?" fragt sie mit glühenden Wangen und seligem
Lächeln um die Lippen, sich halb aufrichtend.
„„Und dann"", entgegnet Erik voll Entsetzen, „„sah ich aufs
Meer euch fliehen! . . .""
Bei diesen Worten richtet sich Senta gerade und hoch auf, ihre
Augen sind starr und weit geöffnet; die glühenden Wangen werden
fahl und bleich. Und die Hand ausstreckend ruft sie in tiefem,
prophetisch klingendem Tone:
„Er sucht mich auf! Ich muß ihn seh'n!
Mit ihm muß ich zugrunde geh'n!" —
Erik, voll Schrecken, als stünde er vor einem Wahnsinnsanfall,
ringt die Hände und stößt schluchzend die Worte hervor:
„Entsetzlich! Ha, mir wird es klar!
Sie ist dahin! Mein Traum sprach wahr!"
und stürzt von Grauen ergriffen zum Zimmer hinaus.
13*
196 Der Fliegende Holländer.
Die allein gebliebene Senta wendet sich voll Anmut zu dem
Porträt. Die Arme ausbreitend nähert sie sich ihm mit Blicken
einer unendlichen Liebe, und während das Orchester in leisen An-
sätzen das Verdammungsmotiv intoniert, singt sie mezza voce, die
Frage wie an sich selbst richtend, den Refrain ihrer Ballade:
„Ach! Wann wirst du, bleicher Seemann, sie finden . . /'
Während sie noch in Betrachtung des Konterfeis eines unbe-
kannten Geliebten, in seufzender Klage über sein Los dasteht,
öffnet sich die Tür und zeigt in ihrem Rahmen den Kapitän. Ganz
dem Bilde ähnlich, scheint er eines jener Porträts großer Meister,
die von hoher Wand herniederblickend in verwittertem Goldrahmen
stolz und schweigend die Jahrhunderte vorüberziehen sehen, ohne
daß diese ihr Antlitz mit einer Falte vermehren können. Es braucht
keines hohen Grades von Furcht, um bei dem plötzlichen Erscheinen
dieses lebendig gewordenen van Dyk, dieses unbeweglichen,
bleichen Gespenstes, einen Schauer zu empfinden. Als Senta beim
Geräusch der Türe sich umwendet und ihn erblickt, stößt sie einen
Schrei aus, von Entsetzen ihr entrissen, Entsetzen verbreitend.
Dann verharrt sie wie versteinert in ihrer Stellung und betrachtet
ihn erschrockenen, aber kühnen und festen Blickes, als wollte sie
ihren Mut sammeln, dieser Erscheinung zu folgen, wohin es auch
sei — ihr zu folgen bis in den Tod.
So steht sie gleich einer Bildsäule, stumm und ausdrucksvoll,
zitternd und gebannt. Ihre Stimme scheint plötzlich erstorben,
während wie aus einer Welt der Trauer und der Schmerzen stammend
das Verdammungsmotiv erklingt.
Nach einigen Momenten stummen Verharrens gleitet der Hol-
länder wie ein Schatten ohne Ausdruck und Bewegung nach dem
Vordergrund. Dabei verliert er Senta nicht aus den Augen, die
unbeweglich auf sie gerichtet sind. Daland folgt ihm, erstaunt über
das Erstaunen der Tochter, und fragt sie, warum sie ihm nicht ent-
gegeneile. Nun erst umarmt sie den Vater, doch ohne den Blick
von dem seltsamen Fremdling zu wenden, dessen Antlitz sie unruhig
und beständig beobachtet. Auf ihre Frage, wer er sei, antwortet
Daland, daß er, im Besitz unermeßlicher Reichtümer, verbannt
Der Fliegende Holländen 197
in der Fremde umherirre und bei ihnen eine neue Heimat zu finden
hoffe.
„Wird es dich verdrießen?" setzt er mit einem Anflug von
Stichelei hinzu. Senta, ihren Blick tief in das Auge des geheimnis-
vollen Gastes senkend, beugt leise und lieblich das Haupt. Daland
aber, mit schlecht verhehlter Befriedigung und so recht in voller
Entfaltung eines wohlbegrtindeten Selbstgefallens, wendet sich nun
zu dem reichen Gaste, um sich an der Bewunderung, welche er
Sentas Schönheit zu zollen scheint, und durch welche sich nach
seinem Ermessen der Handel vollständig ausgleicht, zu weiden.
;,Gesteht, sie zieret ihr Geschlecht !'l — ;
sagt er dem Brautwerber, der nun ernst und bejahend gleichfalls
das Haupt neigt. Da das vor ihm stehende Paar wenig Miene
macht, ihn zu unterstützen, hält sich Daland für verpflichtet, die
Kosten der Unterhaltung allein zu tragen, und bemüht sich, beide
durch vertrauliche Mitteilungen einander näher zu bringen. Er
kündet seiner Tochter an, daß er diesem hohen Verbannten schon
ihre Hand zugesagt habe. Ohne eine andere Erwiderung als die
einer melancholisch bejahenden Geste deutet Senta an, daß sie
fühle, ihr Vater selbst habe ihr Verderben, in das sie- aus freiem
Antrieb willige, herbeigeführt. Dieser zeigt ihr einige Schmuck-
kästchen, doch wendet sie nicht einmal den Kopf, um sie, wenn
auch flüchtig, anzusehen. Als beide Verlobte beharrlich schweigen,
fragt sich endlich Daland mit einfältiger Schlauheit, ob er nicht am
Ende hier überflüssig und es besser sei, die beiden ungestört einander
kennen lernen zu lassen — ein Einfall, den er ganz vortrefflich
findet. Doch wendet er sich, ehe er geht, noch zu seinem Gaste,
um ihm die folgenden Worte zuzuflüstern, von deren ernster Be-
deutung er keine Ahnung hat, obwohl sie scharf in die Handlung
eingreifen:
i,G!aubt mir: wie schön, so ist sie treu!"
Ihm sind dieselben nur ein neues Lockmittel für den reichen
Freier, falls der starre Empfang ihn zurückgeschreckt haben sollte.
Das lange Duett zwischen Senta und ihrem bleichen Geliebten
füllt die zweite Hälfte des Aufzugs aus und bildet den Kulminations-
punkt des Ganzen.
198 Der" Fiiegende'^Hoiländen
In dem Gefühls- und Wortaustausch der beiden außergewöhn-
lichen Wesen konzentriert sich das Interesse dieses idealen Dramas,
dieser In den höchsten und tiefsten Regionen der Seele gehaltenen
Tragödie. Ein Überströmen egoistischen Stolzes hatte den
einen zum Sturz gebracht: nur durch ein Überströmen aufopfern-
der Liebe des anderen kann jener wieder emporgerichtet werden.
Er hat sich zu sehr mit dem Schmerz, der ihm zum zweiten Selbst
geworden ist, identifiziert, als daß sein eigenes Leiden eine selbst-
kräftige Erlösungsfähigkeit hätte bewahren können. Senta weifi
nichts von der Folter solcher Schmerzen: sie ist sich nur deren er-
lösender Kraft bewußt. Beide aber sind gleich durchdrungen von
göttlichem Feuer, aus welchem die Flamme der Liebe unvergänglich
glühend emporschlägt.
Wir sind hier zum leidenschaftlichsten, erhabensten Momente
des ganzen Werkes gelangt. Der Holländer faßt leise an die Stirn,
als suche er seine Gedanken vor der Erscheinung dieses schönen,
reinen Weibes, das in eine Verbindung mit ihm in so seltsamer
Weise eingewilligt hat, zu sammeln, als wolle er sich überzeugen,
daß sie, deren durchdringender Blick bewußtes Handeln erkennen
läßt, kein totes Bild seiner Phantasie, keine Fata Morgana seiner
fieberhaften Hoffnungen sei, die gegen seinen Willen nach jeder
abgelaufenen Frist von neuem wieder aufleben. Bei der Bewegung
seiner Hand fällt von seinem Haupte der schwarze Federhut, dessen
Agraffe an den mysteriösen Karfunkel erinnert, mit welchem die
Sage den Höllenfürsten ziert, sooft er zur Erde kommend ritterliche
Gestalt annimmt.
Es ist dieses sein erstes Lebenszeichen. Bis Jetzt hatte er starr
und bewegungslos, wie ein aus dem Grabe Heraufbeschworener,
dagestanden. Jetzt erst scheint ein menschlicher Zug Ihn zur Be-
wegung zu bringen; nicht länger leuchten seine Augen wie brennende
Kohlen unter dem breiten Rande des Hutes hervor; um seine
bleichen Schläfe quillt reichlockiges braunes Haupthaar, nach der
liebkosenden Hand eines Weibes verlangend. Das Mienenspiel des
sich aufhellenden Gesichtes läßt die Furcht verschwinden und er-
weckt Interesse. Doch Senta bleibt wie in einem Zustande der
Starrsucht mit unbeweglichem Auge vor ihm stehen, und aus dem
Der Fliegende Holländer. 199
Orchester steigt das Verdammungsmotiv empor, wie der Geist eines
schon zu ewiger Pein Verurteilten, der, um ein neues Verdikt, eine
Umwandlung seiner Strafe zu erfahren, aus dem Grabe gerufen wird.
Zwei Fagotte stimmen den Rhythmus desselben an, drei Pauken-
schläge endigen ihn.
Noch immer entspinnt sich kein Zwiegespräch nach diesem
langen Schweigen. Leise reden beide zu sich selbst in dem Gefühl
ängstlicher Überraschung, das sie bei der plötzlichen, unerwarteten
und unglaublichen Verwirklichung einer geheimen Ahnung über-
kommt. So hören wir anfangs zwei gleichzeitige Monologe. Der
Holländer beginnt:
;,Wie aus der Ferne längst vergangener Zeiten
spricht dieses Mädchens Bild zu mir:
wie ich's geträumt seit langen Ewigkeiten,
vor meinen Augen seh' ich's hier. —
Die düst're Qlut, die hier ich fühle brennen,
sollt' ich Unseliger sie Liebe nennen?
Ach nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil.
Würd' es durch solchen Engel mir zuteilt"
Er bleibt, ergriffen von der Furcht, von seinem Geschick aufs neue
und um so schmerzlicher getäuscht zu werden, als sein Herz schon
von bewundernder Liebe erfüllt ist, mißtrauisch in sich gekehrt.
Senta dagegen, fortwährend in seinen Anblick versenkt, gedenkt der
vielen Tränen, die sie um seine Qualen geweint, der heißen Gebete,
mit denen sie zu Gott gefleht, zu seiner Rettung auserwählt zu sein.
So in ekstatischem Schwelgen haben Märtyrer innerlich die Akte
des Glaubens erneut, wenn die Stunde der Leiden, wenn der heiß-
ersehnte letzte Augenblick herannahte, in welchem sie in einem
höchsten Aufschwung alle Kraft, alle Begeisterung vereinigten.
Auffallend ist hier die im Orchester beobachtete Mäßigung im
Kolorit. Es scheint, als vermöchte oder wagte dasselbe es nicht, den
herrlichen Gestalten der beiden Liebenden auch nur einen aus-
führenden Strich hinzuzufügen. Nur die Homer lassen ein lebhaft
unruhiges Pulsieren vernehmei\, dem wir wie dem ungestümen Schlag
zweier Herzen lauschen. Die Phrasen sind breit und langatmig.
Es gibt wenig ähnliche Beispiele eines solchen langsam majestätischen
Hinströmens der Melodie. Wir möchten sagen, daß aus diesem
200 ' Der Fliegende Holländer.
Doppelmonolog g^enseitigen Schauens und Erkennens der beiden
Liebenden sich eine Atmosphäre löst, von welcher jedes Atom
magnetische Anziehungskraft in sich birgt und uns wie ein unwider-
stehlicher Luftstrom zu einer Höhe voll elektrischen Dufts und liebe-
atmenden Weihrauchs hinaufhebt, bis in stufenweiser Verklärung
unser ganzes Wesen mit allen seinen Sinnen von der leuchtenden
Klarheit harmonischer Lichtschwingungen getragen zu den in
das endlose Blau des Himmels tauchenden Gipfeln gelangt, auf
welchen diese beiden Seelen sich begegnen.
Nun endlich nähert sich der Holländer der jungen Norwegerin,
sie fragend, ob sie das Wort ihres Vaters erfüllen, ob sie ihm das
Heil gewinnen und seinen Leiden ein Ende bereiten wolle? Mit
dem Freimut eines großen Charakters verschmäht er jede Verstellung.
Er bedarf nicht der Versicherung ihres Mundes, daß sie die Wahr-
heit wisse. Ihr stummes Prüfen, ihr barmherziges Auge überzeugten
ihn längst, daß dieses Mal nicht ein naives Mädchen, sondern ein
höheres Wesen vor ihm stehe. Darum redet er sie sogleich in der
diesem angehörlgen Sprache an.
Mit jenem weiblichen Zartgefühl, dessen holdselige Anmut bei
edlen Frauen einen schroffen Gegensatz zu der prahlerischen Neugier
bornierter Weiber bildet, vermeidet Senta eine offene Aussprache
des Geheimnisses und läßt ihr Wissen desselben verschleiert:
;,Wer du auch sei'st, und welches das Verderben,
dem grausam dich dein Schicksal konnte weih'n, —
was auch das Los, das ich mir sollt' erwerben:
Gehorsam werd' ich stets dem Vater seinl"
Bei den letzten, einem unwiderruflichen Gelübde ähnlich aus-
gesprochenen Worten Sentas werden die Rhythmen des Homes
drängender, als verdoppelten sich Sentas Herzschläge in diesem
über Leben und Tod entscheidenden Augenblick. Wie in bergenden
Mantel hüllt sie die keusche Glut rasch erblühter Liebe in kind-
lichen Gehorsam. — Dieser Zug erinnert an die Antike, an Pene-
lopens Antwort auf des Vaters Frage, ob sie das elterliche Haus
verlassen und Ulysses als Gattin folgen wolle: sie schweigt und
verbirgt ihr Antlitz hinter dem Schleier.
Der Fliegende Holländer. 201
,,So unbedingt — wie? — könnte dich durchdringen
für meine Leiden tiefstes Mitgefühl?"
ruft mit wachsender Innigkeit der Holländer aus.
Sentas Erwiderung auf diese beängstigte Frage scheint, wenn
sie leise wie im Selbstgespräch vor sich hinsingt:
;,0, welche Leiden! Könnt' ich Trost dir bringen!" — >
weniger die Antwort einer Liebenden als das Erforschen des eigenen
Herzens, ein Prüfen der Kraft zu ihrer Mission,
Der Unselige hat es gehört, hat es verstanden. Er spricht
nicht von einer Liebe, wie sie andere für sie empfinden konnten:
niederkniend grüßt er sie als eine Botin des Himmels, und beide
singen zugleich:
„O, wenn Erlösung mir zu hoffen bliebe,
Allewiger, durch diese sei's!" —
;,0, wenn Erlösung Ihm zu hoffen bliebe,
Allewiger, durch mich nur sei's!" —
Höchste Formel eines Gefühls, dessen Erhabenheit durch eine
unendliche Kluft den Niederungen entrückt ist, in welchen die
Komödien und Possen der Liebe aufgeführt werden und auch nicht
die leiseste Ahnung von dem Dasein ihrer Tragödien, ihrer heroischen
Epopöen und ewigen Apotheose vorhanden ist! Höchste Formel
eines so absoluten und unbeschränkten Gefühls, daß es sich jedes
Element assimiliert, von Gegensätzen lebt und Leiden in Freuden,
Aufopferung in Wonne, Entsagung in Fülle des Besitzes, Er-
niedrigung in Triumph, Tod in Leben, Zeit in Unsterblichkeit,
Dunkel in Licht, Verdammnis in Seligkeit verwandelt!
Doch zu stolz, eine solche Gabe anzunehmen, ein solches Ge-
schenk zu empfangen, solches Opfer zu vollziehen, um solches Pfand
seine Seligkeit einzulösen, solche Unschuld zu gefährden, eine solche
Seele zu verderben, erhebt sjch der Holländer, und indem er jene
Gesangesklage aus der Ouvertüre anstimmt, die er dort den Morgen-
winden anvertraut und als sein Fuß den gastlichen Boden Skandi-
naviens betrat wiederholt hatte (Notenbeispiel Nr. 17), schildert
er ihr die ganzen Schrecken des grausamen Geschickes, dem sie im
Glanz der Jugend mit ihm verbunden anheimfallen würde, sucht er
sie zurückzuhalten von so schwerem Los und empfindet so den ersten
202
Der Fliegende Holländer.
Trost in dem süßen Bewußtsein, mit gleicher Großmut, gleicher
Bereitwilligkeit für ihr Glück seinem Heil zu entsagen. Mit
der triumphierenden Energie der Empfindung, mit der Festigkeit
des Glaubens und dem Enthusiasmus für einen freierwählten Beruf
antwortet Senta, und aus ihrer Erwiderung klingt alle Beseelung
eines Herzens, in welchem Tugend und Leidenschaft, Liebe zur
Pflicht und Pflicht der Liebe sich zu einem glühenden Aufschwung
vereinigen :
„Wohl kenn' ich Weibes heirge Pflichten:
sei drum getrost, unsePger Mann!
Laß über die das Schicksal richten,
die seinem Spruche trotzen kann!
In meines Herzens höchster Reine
kenn' ich der Treue Hochgebot —
Wem ich sie weih', schenk' ich die eine:
Die Treue bis zum Tod!"
Eine melodische Deklamation von zugleich kräftigem und zartem
Charakter — kräftig wie ein klarer, seiner Stärke sich bewußter
Wille, zart wie der Duft eines plötzlich ergossenen Balsams — er-
höht die poetische Schönheit dieser acht Verse. Die begleitenden
Blasinstrumente überlassen dem Wort den Ausdruck des Mutes,
den sie gleichsam mit einer Atmosphäre unendlicher Liebe umgeben,
als wollte die Jungfrau das* Leid ihres Heldenmutes, ihrer Auf-
opferung allein tragen. Nur zweimal drängen sich die ersten Violinen
in ihre Antwort und zwar mit einer der Melopo^ des Holländers
entnommenen Figur:
Nr. 22 a«
Bässe.
Nr. 22 b.
I. Viol.
Der Fliegende Holländer. 203
welche dadurch, daß sie auf demselben Akkord wie dort, nur durch
eine eurhythmische Bewegung nach Dur versetzt eintritt, wie ein
Lächeln des Glückes auf denselben Lippen schimmert, die erst so
schmerzlich gezuckt, wie ein Strahl der Freude in Augen, die unter
den Gestirnen aller Zonen längst verglüht.
Nun vereinigen sich in seligem Umfassen, welches das Dasein
zweier Seelen auf ewig verknüpft, die beiden Stimmen zu einem
Zwiegesang voll bebender Aufregung. Die Sonne der Liebe strahlt
aus ihrem Zenith in das dichte Dunkel der Verzweiflung, tötet die
nächtigen Drachen des Unheils, belebt die Oden der Hoffnungs-
losigkeit und löst allen Schein gegenseitiger Unsicherheit in sichere
Gewißheit auf. Unter ihrem hellen Strahl sprossen alle Hoffnungs-
blüten, eine neue Morgenröte steigt empor, und heilend und ver-
narbend quillt ein wunderbar phosphoreszierender Strom über alle
Wunden des Herzens.
„Hier habe Heimat er gefunden,
hier ruh* sein Schiff in sich'rem Port!" —,
ruft Senta aus. Diesem lebhaften Überströmen ihrer überwältigen-
den Hingebung folgt augenblicklich ein Gebet um den Beistand
des Himmels. Mit der Demut einer Magd des Herrn, welche höherem
Befehl als dem Impuls liebenden Verlangens gehorcht, bewahrt sie
die nur im Entsagen ihre Befriedigung findende fromme Bescheiden-
heit heiliger Entschlüsse. Aus den Worten:
'„Allmächtiger! was mich hoch erhebet,
laß es die Kraft der Treue sein!" —,
tönt eine ruhige, dem festen Willen, ihre Mission bis an das Ende
zu erfüllen, entspringende Klarheit, ein volles Bewußtsein von der
Heiligkeit dieser Mission und deren schwerer Lösung. Angesichts
dieser so eingeborenen Tugend, dieses freiwilligen Liebeszeugnisses
durchströmt den Holländer, neues Leben, neue Kraft zum Kampfe
gegen finstere Gewalten. Und mit aller Heftigkeit des höchsten
Dankgefühls, in einem Taumel der Liebe preßt er Senta an sein Herz.
Wie befreit von schwerem Alpdruck, und als atme er in höheren Luft-
schichten, hebt sich seine Brust leichter, in seine hohlen Wangen
kehrt das Blut zurück, der erstorbene Blick leuchtet aufs neue, und
durch die erstarrten Hände und fröstelnden Glieder strömt die Glut
204 Der Fliegende Holländer.
der Freude. Beide lieben. Die Strenge des Geschickes hat
keine Schrecken mehr für sie. Sie sind beglückt!
Es gibt hienieden Wonnen — übermenschliche Wonnen. Kein
Wort kann sie nennen. Von Engeln des Himmels beschirmend um-
schwebt, können nur diese ungeblendet von ihrem Glanz an ihrem
Anblick sich weiden. Dem irdischen Blick durch umhüllende
Wolken entzogen, vermag sie nur die Kunst durch ihre Geweihten
zu offenbaren.
Anfangs will es scheinen, als enthielte dieses sich auf vierhundert
Takte erstreckende Duett ermüdende Längen. Wer aber hört, um
zu verstehen und zu erfassen, nicht um nur zu hören, ohne be-
greifen zu wollen, wird hier kein Entwickelungsmoment überflüssig
finden und unmöglich gegenüber dieser Kundgebung von Gefühlen
kalt bleiben können, die anfangs zurückhaltend, dann scheu und
verzagt, endlich immer glühender und intensiver alles in ihren
magischen Kreis hineinziehen. Diese Szene führt uns so tief in
die schmerzensreiche Exaltation der Liebenden, in das übergroße
Glück der Geliebten, daß selbst die geringste Kürzung der Einheit
des Ganzen entschiedenen Eintrag tun müßte.
In diesem Duett erblicken wir das Seitenstück zu dem großen
Duett im dritten Akt des „Lohengrin". Beide Szenen mit ihrer
durch die Gefühlssituationen bedingten Verschiedenheit stehen bis
jetzt als Bühnenstücke einzig da, sowohl was die Darstellung der
Liebe und ihrer reinsten Begeisterung betrifft, als auch hinsichtlich
der formellen Gestaltung der Phrasen, die wie auf weit ausge-
breitetem Zaubermantel uns Sphäre um Sphäre in ferne Räume
tragen, und in deren feierlichen Rhythmen die feinste geläuterte
Essenz der Leidenschaft tropfenweis dem Herzen zu entrinnen
scheint.
Nur die Rollen sind in beiden Szenen getauscht. Hier wird
die vom Manne begangene Sünde des Stolzes durch das erlösende
Opfer des Weibes gesühnt. Sie vollbringt dieses Opfer ohne fremde
Einmischung aus eigener Kraft, aus eigenem energischen Willen.
Dort zerstört die Schwachheit des Weibes allen Zauber männlicher
Tugend. Hier wie dort liegt das Geschick des Mannes in Frauenhand.
Der Fliegende Holländer. 205
Von ihr hängt er ab, bei ihr steht es, ihn für immer zu beglücken
oder mit ewiger Trauer zu erfüllen.
Je mehr man in die Fiktionen Wagners eindringt, um so
mehr ist man versucht, sie einen dramatisierten Kultus jenes „Ewig-
Weiblichen" in allen seinen Formen zu nennen, mit welchem Goethe
wie mit einem Schlußsteine den gigantischen Bau seines „Faust" voll-
endet hat. Bei dem einen wie bei dem anderen, bei Wagner wie
bei Goethe, ist es das Weib, von der Natur als herrlichste Blüte
des Gefühls geschaffen, das den Mann, in welchem die Tat als
Frucht des Gedankens reift, reinigt und heiligt. Das Weib wird
so das dritte, das ausgleichende Glied in der Natur des Mannes,
das lösende Agens seiner vollkommenen Harmonie, die unentbehr-
liche Mittlerin seines Sieges, seiner Befreiung. Ihr Verlangen nach
Hingabe, nur stillbar durch das Verlangen des Mannes nach Besitz,
ihre sühnungsmächtige Gabe zu lieben ergänzen und füllen die
Lücken in der Liebesfähigkeit des Mannes aus. Das aus höchster
Liebe entspringende Opfer des weiblichen Herzens löst alle Disso-
nanzen im Dasein des Mannes; es übermittelt ihm das versöhnende
Element und macht ihn durch das zarte, geheime Band, mit welchem
das Gefühl den Gedanken und die Tat verknüpft, teilhaftig am
inneren Glück. Weigert sie aber das Opfer der Selbstentsagung,
unter welcher Form dieses ihr auch immer erscheinen möge, so
versagt sie dem Manne den volltönenden Akkord, in dessen Klange
allein er seines ganzen Wesens genießend sich bewußt wird; über-
läßt sie ihn den Konflikten, welche dem nie endenden Begehren
seines Geistes und seinem Tatverlangen entspringen, ohne die
Möglichkeit, diese durch die Erfüllung des tiefen Bedürfnisses seines
Herzens je zur Ruhe zu bringen, so überläßt sie ihn dem Unglück,
der Unseligkeit.
Welcher Poet könnte dieses hohe Mysterium mit tieferem
Instinkt erfassen, als Wagner es getan? Er verpflanzte die Ent-
faltung der Liebe in die duftigsten Regionen und dehnte ihre Per-
spektive aus von der Zeit in die Unendlichkeit. Wer hat beredter
als er das Entzücken, das Jubilieren, die frohlockende Seligkeit
zweier vereinter Herzen — wer mächtiger als er den tiefen, unheil-
baren Schmerz der Liebe zum Ausdruck gebracht? Wer hat das
206
Der Fliegende Holländer.
weibliche Element edler verherrlicht? wer zwingender unser Haupt
vor kaum erblühten, mit Waffen der Aufopferung und des Helden-
mutes gerüsteten Jungfrauen gebeugt? Wer sang voller als er die
Leidenschaft, deren Taumel er veredelnd verschönt, deren Ekstase
er zu den Vorhallen des Himmels hebt? Und wenn er das Weib als
den unentbehrlichen Weg des Mannes zu seinem Heil verherrlicht,
so läßt er diesen selbst darum nicht in träger Untätigkeit verharren,
da das Heil ja nur durch Liebe um Liebe zu erringen ist.
Wir bedauern, daß der zweite Akt des Dramas nicht mit der
Liebesszene schließt. Der Vorhang sollte mit den letzten Tönen des
Duetts fallen. Das Gefühl des Hörers ist während desselben zu
lange in seltene und erhabene Gefühlstonalitäten gebannt, als daß
ihn nicht mit dem Eintritt Dalands, Marys und der Freundinnen
Sentas ein gewisses banales C-dur-Gefühl unangenehm beschleichen
sollte. Daß Senta offen vor allen ihre Hand in die des Holländers
legt, kann dem Ganzen nach dem Vorhergegangenen keine Steigerung
mehr bringen. Wenn auch nur vorübergehend, hinterläßt dieser
Abschluß dennoch einen störenden Eindruck.
V.
Die Orchestereinleitung des dritten Aktes beginnt mit dem
Schlußsatz des Liebesduetts:
Nr. 23.
Fl, Kl., Viol., Cello.
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1
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Hörner, Tromp., Fag.
Der Fliegende Holländer.
207
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^5Ä^
-tff —hi
Dem Ausruf Sentas, welcher ihrem Gebet um die Hilfe des Höchsten
vorangegangen war:
„Was ist's, das mächtig in mir lebet?" — ,
und der Parallele des Holländers:
„Du Stern des Unheils sollst erblassen . . "
Nr. 24.
Fl., KL, Viol., CeUo.
P"^*- }m H
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E
^
3-
^
Hörner« Tromp., Fag.,
£
3äß:
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Pauken.
^
^»-^
^-^
^
B&sse.
folgt die seit der Ouvertüre oft wiederholte Stelle der Ballade:
„Ach! könntest du, bleicher Seemann, sie finden!"
(Notenbeispiel Nr. 9.) Ein sinnreicher Übergang führt zu dem
Motiv des bei der Abfahrt des Kauffahrers im ersten Akt gesungenen
Matrosenliedes. Wie eine schon in der Vorstellung sich nahende
Freude verkündeten seine heiter-kräftigen Rhythmen die Lustbar-
keiten, die nun bei dem dritten Aufzug des Vorhanges sich verwirk-
lichen sollen.
208 Der Fliegende Holländer.
Die Szene zeigt den Hafen. Neben Dalands Schiff liegt das
des Holländers geankert. Das erstere ist festlich geschmückt, mit
Wimpeln behangen. Girlanden leuchtender Blumen gleich schim-
mert die Menge der bunten, zwischen Masten und Räenstangen auf-
gehangenen Lampen, welche in zierlichen Gewinden das Takelwerk
zu durchflechten scheinen. Die Mannschaft zecht und tanzt am
Lande und tut sich gütlich nach Brauch des Seemanns, wenn er,
müde der Entbehrungen einer langen Fahrt, sich unbekümmert um
das Morgen der vollen Lust des Heute hingibt. Brachte er doch
dieses Mal reichen Gewinn aus der Ferne heim, ist doch sein Weib,
seine Braut schöner und heiterer als je! Da herrscht nur Lachen
und übermütige Lust, alles Gaudium, alle lärmende Fröhlichkeit,
alles bunte Durcheinander eines Volksfestes! Das von ihnen ange-
stimmte Lied ist aus der Ouvertüre bekannt (Notenbeispiel Nr. 8),
wo es den Kontrast zu der schaurigen Stille des Geisterschiffes
bildet.
Dieses letztere bleibt auch jetzt dunkel und schweigend, wie um-
hüllt von unsichtbaren Schleiern. Sein schwarzes Takelwerk,
seine roten Segel, düster auf dem Hintergrunde dunkler Wolken
hervortretend, die sich über ihm am Himmel aufgetürmt haben,
stechen eigentümlich gegen das geputzte und kokette Aussehen des
nachbarlichen Norwegers ab. Sein Anblick verbreitet Schrecken,
wie Orte, wo Geister hausen. Aber die lustigen Matrosen kümmern
sich wenig um dasselbe. Ihr Fest nimmt glücklich seinen Fortgang,
und immer fröhlichere Stimmung steigt aus den gefüllten Bechern
empor. Die Frauen kommen mit Körben bepackt, deren Inhalt
jedem Hunger, jedem Durst Erquickung und Labung verheißt
Die Matrosen wollen sich derselben mit allen möglichen herkömm-
lichen Neckereien, galanten Redensarten und verliebten An-
spielungen, die aus dem Jubel wie Schaum aufsprudeln, be-
mächtigen.
Die Mädchen aber sind bereits von Sentas Verlobung unter-
richtet, und im stillen der Gefährten des reichen Bräutigams ge-
denkend, halten sie hartnäckig mit Speise und Trank zurück. Da sie
unter den norwegischen Matrosen keinen der Fremdlinge finden,
steigen sie zur Brustwehr des Quais hinauf und rufen ihnen zu —
■hl
Der Fliegende Holländer.
209
allein das Deck ist leer, keine lebende Seele auf dem Schiff: wie
verlassen, ausgestorben liegt es da. Dalands Matrosen spötteln
darüber, daß sie die vortrefflichen Erzeugnisse ihrer Kochkunst
an so mürrische Kameraden, die sicherlich den Schlaf ihrer Gabe
und Gesellschaft vorzögen, verschwenden wollen.
Die Mädchen rufen nochmals. Man lauscht. Todesstille nach
wie vor. Diese ist durch einen von drei tiefen Hörnern pianissimo
gehauchten Moll-Akkord einer durchaus entfernten Tonart (die vor-
ausgegangene war C-dur) sehr charakteristisch bezeichnet:
Nr. 25. l
I
^ — --
*
H6rner.
ppp ""*— ^
Man ist erstaunt — bestürzt. Das soeben noch so jauchzend
lärmende Volk ist verstimmt, doch ohne es sich eingestehen zu
wollen, und verdoppelt seine Scherze.
„Wie, Seeleute? Liegt ihr so faul schon im Nest?
Ist heute für euch denn nicht auch ein Fest?*' — ,
rufen die Mädchen den schweigenden Gesellen zu. Doch ihr Lachen
ist ein erzwungenes, wie es der Furcht vorausgeht und sie begleitet.
Die Frauen fassen wieder Mut, und aufs neue, aber mit ironischem
Tone, welcher die Schläfer aus ihrer Apathie aufstacheln soll,
beginnen sie ihren Zuruf. Die Männer gesellen sich zu ihnen mit
spöttischen Reden und Glossen. Seit dem unheimlichen Moll-Akkord
ist jedoch der Rhythmus der Lustigkeit wie durch ein leises inneres
Beben gehemmt. Aus den Intonationen klingt eine innerliche Er-
regung. Müde des Rufens halten Männer und Frauen abermals
inne, um wieder zu lauschen. Nach gänzlichem Schweigen ertönt
abermals ein dem ersten analog lang gehaltener Moll- Akkord:
Liszt, Gesammelte Schriften. IL V.A. 14
210
Der Fliegende Holländer.
Nr. 26.
Fag. XL Hönier.
g^
Ihm war der verminderte Septimenakkord von F-moll vorausge-
gangen. Aufgeregt von heftiger Neugier, welche von der Furcht
halb gereizt, halb im Zaume gehalten wird, rufen Matrosen und
Mädchen das stumme Schiff nochmals an. Sie machen eine dritte
Pause, und es folgt ein dritter ähnlicher Akkord, der in geheimnis-
vollem Pianissimo gehalten eine noch erhöhtere Wirkung ausübt:
Nr. 27. l
^™
^F^
^ A
Fag. TL Hörner.
PPP ^
Vorher erklang der verminderte Septimenakkord von C-moll.
Entmutigt verlassen nun alle eilig den Quai, sich von dem
gespenstischen Schiffe mit einer fluchtähnlichen Schnelligkeit
entfernend. An den Trinktischen aber finden sie ihre ganze
Harmlosigkeit, Lebensfreude und ihren Mut wieder. Alle Körbe
werden geleert und selbst die Portionen vertilgt, welche der
faulen nachbarlichen Mannschaft zugedacht waren. Man gibt
sich nun um so eifriger der Lust des Mahles, des Tanzens und
Zechens hin.
Sobald das Bankett ausartet, entfernen sich die Frauen, die
Männer aber stimmen wieder ihren ersten Gesang an. Das Orchester
begleitet ihn jetzt in verschiedener Weise. Die Saiteninstrumente
mischen in den tiefen Lagen perlende Triller hinein — ein Ohren-
sausen der Trunkenheit;
Der Fliegende Holländer.
211
Nr. 28.
Fl., Ob., Kl., Fag.
^^
•Hörner. VioL
^
In dem Augenblick, wo das bacchische Jauchzen des Refrains:
;,Hussassahe! Johollohet Hussassahel"
mit einem chromatisch aufsteigenden Tremolo der Geigen den
höchsten Grad erreicht hat, schwebt auf dem Vorderdeck des
Holländers bald da, bald dorthin eine trübe, schwarzblaue Flamme,
als wäre aufqualmende Höllenglut durch eine Spalte entwischt.
Der chromatische Lauf des Orchesters stürzt sich plötzlich auf
den Zweiklang des Verdammungsmotivs, das hier in H-moll, wie
ein dem Zackenzepter Plutos entströmender Schwefeldunst, alle
Lebensfreuden zu ersticken droht. Die Mannschaft des Holländers
taucht plötzlich aus der Dunkelheit empor, und um den Mast ver-
sammelt erfüllt sie die Luft mit einem wilden, in schrillen Tönen
gehaltenen Gesang:
„Johohet Johohel Hoel Hoe! Hoel
Huih — ssa
Nach dem Land treibt der Sturm —
Huih — ssat
Segel eini Anker losl
In die Bucht laufet ein!
Schwarzer Hauptmann, geh' ans Land.
Sieben Jahre sind vorbei!
Frei' um blonden Mädchens Hand!
Blondes Mädchen sei ihm treu!
Lustig heut'!
Bräutigam!
Sturmwind heult Brautmusik — Ozean
tanzt dazu!
14*
212 Der Fliegende Holländer.
Hui — horch, er pfeift I —
— Kapitän, bist wieder da?
Hui! — Segel auf! —
Deine Braut, sag', wo sie blieb?
— Hui! — Auf in Seel —
Kapitänl Kapitänl Hast Icein GlOck In der Lieb'l
Hahahal
Sause, Sturmwind, heule zu!
Unsem Segeln läßt du RuhM
Satan hat sie uns gefeit,
reißen nicht in Ewiglceit."
Ein grauenhaft dämonisches Bacchanal ertönt aus diesem Chor!
Wie vom Gipfel zum Abgrund, von Woge zu Woge, von klippen-
reichem Golfe zur reißenden Charybdis wälzt sich mit heiserem
Schreien, gellendem Lachen, wildem Fluchen, satanischer Lust und
höhnischem Pfeifen dieser Hexensabbat durch die tollsten Modu^
lationen, hierbei begleitet von sechs Pikkolos, deren schneidende
Töne in den höchsten Lagen das Ohr wie ein Pfeilschauer treffen,
entsendet von Gnomenhänden, während die das Rasen des Sturmes
nachahmende Windschleuder dazwischen durch Tamtamschläge ver-
stärkt ist, als hätte sich eine Claqueur-Bande von Ungeheuern ein-
gefunden, die voll Lust an so grauenhaftem Spektakel jauchzend
in erzene Hände schlügen.
Dalands Mannschaft ist anfangs zu sehr von ihrem eigenen
Gesänge betäubt, um das Getöse zu vernehmen, welches nun in
ihrer Nähe sich erhebt. Doch bald gewahren sie die ihren lustigen
Refrain verhöhnende Erwiderung, die entsetzliche Antisttophe zu
ihren harmlosen Liedern. .Und bestürzt fragen sie sich, ob das
eine Täuschung berauschter Sinne oder Hexerei, eine Verschwörung
böser Geister sei? Durch Vergessen des schaurig-schrillen Echos
suchen sie sich von ihrer Beklommenheit zu befreien und wenden sich
aufs neue zum Sorgenbrecher und Gesang, sich anstrengend, den
Gesang jener zu übertönen. Sie steigern ihr Lied um einen Ton
und nochmals um einen Ton höher; jedesmal jedoch werden sie
durch das höllische:
„Huihssa, ^ Johohoe! Johohoe!"
des Holländers unterbrochen und überboten und zuletzt durch ein
Crescendo und Fortissimo von diabolischer Gewalt gänzlich zum
Der Fliegende Holländer.
213
Schweigen gebracht. Nach diesem seltsamen Wettstreite, bei
welchem Trunkenheit und Lästerungen die Kräfte spornen, fährt
der Geisterchor mit höhnendem Triumphe allein fort, bis der
schwellende Strom seines wilden Gesanges in einer höllischen Auf-
lache:
Nr. 29,
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i
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^^— fi
Ha
8^
ha
ha
ha
ha ha!
Ha ha ha ha ha hal
gipfelt und in dem Augenblick endet, als die verstummten Norweger
sich bekreuzen und, ohne nach den Larven hinzublicken, den Ort
des Schreckens fliehen.
Das Entsetzliche dieser rasenden Lache wird noch durch das un-
mittelbar ihr folgende starre Schweigen vermehrt. Alles ist still.
Nicht ein Hauch bewegt die Luft. Die schwarzen Gespenster sind
verschwunden. Düster, lautlos ist alles, wie Kirchhofsstille zu
nächtiger Stunde.
Gleich einer Paraphe zu dieser fluchberauschten Dithyrambe er-
klingt zum Baß der Pauken das von Hörnern ausgeführte Ver-
dammungsmotiv. Nachdem diese und die Fagotte an Sentas
Worte:
„Achl wann wirst du, bleicher Seemann, sie finden?" — ,
erinnerten, scheint es, als wolle das Stück im Unisono schließen.
Der unheimliche Moll-Akkord aber, der in der vorigen Szene drei-
mal zum Schrecken aller erklungen war, kehrt hier nochmals wieder
und hält während des nun folgenden Schweigens den Geist in
Spannung:
214
Der Fliegende Holländer.
u - '>\ m
Nr. 30. ,
H^rMT, Fag.
PftiikeiL
Nt-}}-#
Tftmtom.
^.
Unter den musikalischen Meisterwerken werden sich wenige
Stücke finden lassen, welche diesem Bilde an Kühnheit der Er-
findung, an Kraft des Kolorits und Gewalt der Kombination zu ver-
gleichen wären. Die Trinkszene ist eine echte Kirmes, nicht nach
Teniers mit einem durch kleineren Maßstab gemilderten Realismus,
aber eine nach Jordaens' Manier, in natürlicher Größe, reich
koloriert, mit vorherrschend roter und geröteter Farbe, wo aus
exuberanten Linien, aus fettem Fleische das Behagen an der Materie
gleißt und funkelt und die Freude an guter Mahlzeit, die plumpe
Lustigkeit bei Bier und Branntwein spricht. Wagner hat ein
gelungenes Bild eines Volksfestes mit charakteristischen Gruppen,
sprechend-ähnlichen und von Lust erheiterten Gesichtern gezeichnet.
Die Rhythmen sind hierbei auffallend hervortretend. Der Gesang
vom Geisterschiff dürfte sich nur mit einem dunkeln Sturm ver-
gleichen lassen, wie ihn Rembrandt skizziert und mit seinem
eigentümlichen mysteriösen Halbdunkel beleuchtet haben würde,
wenn er Seemaler gewesen wäre — oder mit einem jener sogenannten
Höllen -Breughel, wären sie al fresco gemalt. Der Musiker, der
jeder Linie, jeder Färbung dieser so künstlich gewundenen Formen
zu folgen befähigt ist, fühlt sein Haar emporsträuben, wenn er in
diesen Höllenschlund hinabsteigt und die mannigfachen Figura-
tionen des Orchesters anstaunt.
Die Ausführung dieses Doppelchores verlangt mehr als irgend
ein anderes Stück eine große Anzahl voller, sonorer Stimmen,
die mit Leichtigkeit die brüsk abgebrochenen Intonationen an-
zugreifen und mit dem phantastischen Ausdrucke wiederzugeben
verstehen, der sich ebenso schwer bezeichnen wie vorschreiben läßt,
Der Fliegende Holländer. 215
und den nur die intelligente Auffassung des Sängers zu finden und
hervorzubringen weiß. Sollte dieses Musikstück jemals von einem
jener immensen Chöre, wie sie sich ausnahmsweise zusammenfinden,
ausgeführt werden und dieser Chor eine feste, wohl organisierte und
disziplinierte Masse bilden, die nach gewissenhaftem Studium und
von dem charakteristischen Geiste des Stückes durchdrungen ihrer
Aufgabe sicher wäre, so würde es in einem gut resonierenden Lokale
zweifellos eine ganz außerordentliche, noch nie erzielte Wirkung er-
reichen.
In der Ouvertüre, in dem Monolog des Holländers, dem großen
Duett und den eben beschriebenen Szenen erscheint Wagner in
seiner höchsten Bedeutsamkeit. Sie tragen das Gepräge seines
Genius, den Stempel des Meisters. Manche wegen ähnlicher Bilder
berühmte Bühnenwerke erbleichen und werden dunkel neben ihnen.
Nun erscheint Senta. Sie ist bereits in das hübsche Kostüm
gekleidet, wie die norwegischen Bräute es zu tragen pflegen. Sie
flieht vor dem lästigen Erik, der sich die günstige Gelegenheit nicht
entschlüpfen läßt, sie mit den zartesten Vorwürfen zu überschütten.
Der hinzukommende Kapitän steht betroffen über diese Unter-
haltung still und lauscht. Vergebens, daß Senta sie zu beenden
sucht und zu Erik sagt, ihn unmöglich länger anhören zu können :
in einer anmutigen und melodisch eindringlichen Kavatine be-
schwört er alle Erinnerungen ihrer Liebe herauf, alle stummen,
von ihm als versprechend gedeuteten Zeichen ihres Wohlwollens
zählt er ihr vor, und indem er sie so zwingt, seine Leiden mit zu
leiden, quält er sie durch seine Qual, übt er das letzte Recht einer
schwindenden Liebe. Der lauschende Holländer erfährt, daß Senta
schon geliebt habe. Der Gedanke, daß sie dereinst vielleicht den
Verlust dieser sanften, friedlichen Liebe beweinen, ihre schnelle
Hingebung bereuen und endlich — wehel die geschworene Treue
vergessen, ihren Schwur brechen und so ewiger Verdammnis anheim-
fallen könne, ergreift ihn auf das heftigste. Die Liebe zu diesem
edlen Weibe bereits zu tief im Herzen tragend kann er sie nicht
dieser höchsten Gefahr aussetzen. Mit dem raschen Entschlüsse
eines starken Gemütes eilt er darum zu ihr hin, nimmt Abschied
und stürzt nach seinem Schiffe, seinen Matrosen entgegenrufend:
216 Der Fliegende Holländer.
„In See! In See! Fflr ewige Zdtenl
Um deine Treue ist's getan! —
Um deine Treue, um mein Heill —
Leb' wohl, Ich will dich nicht verderben!"
Die Matrosen erscheinen auf dem Verdecke und wiederholen:
„In See! In See!" — ,
welchem Ausruf der Kapitän hinzufügt:
„Sagt Lebewohl fOr Ewiglceit dem Land!"
Senta aber eilt ihm nach, umklammert seinen Arm und hält ihn
mit dem Vorwurf zurück, daß er an ihrer Treue zweifle. Er aber
antwortet, wie vernichtet:
„Ich zweifl' an dir! Ich zweifl' an Gott!
In See! In Seel Dahin ist alle Treue!"
Erik, der seine kalte Verlobte zur leidenschaftlichen, uner-
schrockenen Liebenden geworden sieht, verliert alle Besinnung.
Er vermag für diesen ungeahnten Widerspruch keine Erklärung zu
finden und kann nur an ein Eingreifen höllischer JMächte glauben.
Er stürzt fort, um Beistand zu holen, Senta mit Gewalt von Zauber
und bösem Höilentrug zu befreien.
In diesem entscheidenden Momente, wo der Holländer Senta
der höchsten Gefahr preisgegeben sieht und sein eigenes Heil durch
ein anderes Weib zu erlangen unmöglich mehr hoffen oder wünschen
kann und es für alle Ewigkeiten verloren glaubt, kann er nicht
stillschweigend über sich das geliebte Weib verlassen. Sie soU
nicht zwischen den Zeilen seines Herzens lesen; er verschmäht die
Alternative eines Verdachts des Betrugs oder eines Bedauerns ihrer-
seits und ruft mit einem Tone, dessen deklamatorische Gewalt eines
außergewöhnlichen Organes bedarf, um vollständig erfaßt und wieder-
gegeben werden zu können:
„Erfahre das Geschick, vor dem ich dich bewahre!
Verdammt bin ich zum gräßlichsten der Lose:
Zehnfacher Tod war' mir erwünschte Lust!
Vom Fluch allein ein Weib kann mich erlösen,
ein Weib, das Treu' bis in den Tod mir weiht • . .
Wohl hast du Treue mir gelobt, doch vor
dem Ewigen noch nicht: — dies rettet dich.
Der Fliegende Holländer.
217
Denn wiss', Unsel'ge, welches das Geschick,
das jene trifft, die mir die Treue brachen:
Ew'ge Verdammnis ist ihr LosI —
Zahllose Opfer fielen diesem Spruch
durch mich: — du aber sollst gerettet sein.
Leb* wohll — Fahr' hin, mein Heil, in .Ewiglceit!"
Voll Verzweiflung ringt Senta die Hände und ruft ihm zu: sie
kenne ihn, sie kenne die Pflicht, die zu erfüllen sie gelobt, sie wolle
ihn retten.
Mit Daland, Mary und der ganzen entsetzten Menge eilt jetzt
Erik herbei. „Nein!" ruft der Holländer, von diesem Kampfe
zwischen Liebe und Heil, zwischen Liebe und Entsagen zu wilder
Raserei getrieben:
„Du kennst mich nicht, du ahnst nicht, wer ich bin!
Befrag' die Meere aller Zonen, frag'
den Seemann, der den Ozean durchstrich: —
er kennt das Schiff, das Schrecken aller Frommen:
den Flieg e'nden Holländer nennt man michl"
Die musikalische Deklamation dieser letzten Worte nähert sich dem
Verdammungsmotiv, ohne es jedoch ganz zu erfassen:
Nr. 31.
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Yiol.
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f f I ^r
nennt man mich!
218
Der Fliegende Holländer.
Seine Mannschaft aber nimmt dasselbe unmittelbar wieder auf und
singt mit dumpfem Tone:
;,Johohoe! Johohoel"
Jetzt gelingt es dem Holländer, sich von Senta loszureißen.
Heftig legt er sie in die Arme ihres Vaters, springt an Bord und
läßt das Schiff mit unglaublicher Schnelligkeit abstoßen. Senta
ringt einen Augenblick mit den sie zurückhaltenden Händen,
befreit sich, und einen Felsenvorsprung erreichend ruft sie dem Ge-
liebten zu:
„Preis' deinen Engel und sein Gebot!
Hier sieh mich, treu dir bis zum Todt"
und stürzt sich hinab in die Fluten.
In diesem Augenblick versinkt das schon fern segelnde Geister-
schiff in den Wellen. Bald darauf sehen wir den offenen Himmel
in wunderbarer Helle. Wir erblicken Senta und den Erlösten von
Wolken getragen, mit Glorie umgeben, den Mittelpunkt eines Nord-
lichtes bildend. Währenddessen nimmt das Orchester das Balladen-
motiv in D-dur wieder auf, welches jetzt in versöhntem, über-
wundenem Schmerz sich zu einem hymnenartigen Rhythmus ver-
dichtet,, gleich der Peroration zur Ouvertüre:
Nr. 32.
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n lm' fJ^
Pauke.
Der Fliegende Holländer. 219
Trotz der großen Einfachheit des diesem Gedichte zugrunde
liegenden Planes erkennt man leicht, daß dessen Ausführung eine
das Interesse von Szene zu Szene steigernde ist, eine Ausführung,
welche in stufenweisem Crescendo die Entwickelung der Gefühle bis
zu dem hochtragischen Schlüsse hinauf führt. In Wirklichkeit be-
steht dieses Drama aus nur zwei Personen, und von diesen zwei
Personen beansprucht nur die eine, und zwar insofern, als ihr
Dazwischentreten einen beseligenden oder unheilvollen Einfluß auf
die andere ausübt, unsere gespannte Aufmerksamkeit.
In der Tat ist die Wirkung des ganzen Bildes auf die hohe,
bleiche Gestalt des Mannes konzentriert, der unter allen Menschen
vom Schicksale mit einem unauslöschlichen Male gezeichnet ist.
An der Größe der Strafe zeigt sich die Größe der Schuld, an der
Gnade der Hoffnung die Barmherzigkeit des Strafenden, an der
Bedingung des Heils die Seelenhoheit des Opfers. Abyssus abyssum
clamavit. Die Tiefen unendlicher Schmerzen lassen sich nur durch
Schätze unendlicher Liebe füllen, und die undurchdringliche
Finsternis des Abgrundes kann nur der strahlende Glanz der Liebe
erhellen, die der Irrende seit dem Werden aller Zeiten um Rettung
anruft.
Zu vier wiederholten Malen tritt der holländische Kapitän auf,
und jedesmal weckt er in tieferem Grade unsere Sympathie, jedes-
mal ist seine Erscheinung von größerer Wirkung. Das erste Mal
tritt gleichsam nur seine Silhouette, dann sein dunkel gefärbtes
Bild vor. uns hin; beim dritten Male hören wir ihn sprechen, und
am Ende sehen wir ihn handeln. Es dürfte selten die Möglichkeit
gegeben sein, einem Hauptcharakter eine solche szenische Ent-
faltung zu geben wie hier — um so glücklicher der Dichter, dem es
vergönnt war!
In der Ouvertüre gewahren wir ihn von ferne, ein Spielzeug
der Stürme, die er verachtet wie ein Spiel. Bei seinem ersten
wirklichen Auftreten erkennen wir die stolze, hohe Seele, die so groß
die Strafe des Hochmuts erträgt, die Trauer ewiger Einsamkeit
erduldet. Im zweiten Akte aber bewundem wir an ihm, daß sein
hartes Los nicht die Macht besaß, ihm die Kraft des Gefühls, die
ihn vor seinen Begleitern als eine edlere Natur kennzeichnet, zu
220 Der Fliegende Holländer,
rauben, — dafi er, der nur die bitteren Täuschungen der Liebe
erfahren, die Zartheit des Herzens nicht einbüßte, — daß er, dem
das Mitleid versagt blieb, des Mitleids nicht vergaß, die Hingebung
nicht verlernte, — daß das Begehren nach Erlösung nicht in ihm
erlosch, obwohl niemand ihn zu erlösen kam, — daß er, leidend wie
kein anderer, aus Liebe der Hoffnung auf Erlösung, der Annahme
des Opfers entsagte und das Tragen seiner Leiden um der Liebe
willen für alle Ewigkeit vorzog. Im letzten Augenblick, da kein
Tropfen im Becher der Bitternisse für ihn übrig scheint, geht er
einem Schmerz entgegen, wilder, als er ihn je getragen. Ein Weib
soll ihm Erlösung bringen — so hieß die Verheißung. Und nun steht
dieses Weib vor ihm, opferbereit, aber dieses Weib liebt er. Sie
kann er der Gefahr ewigen Duldens nicht aussetzen — so entsagt
er dem Glück ihres Besitzes, entsagt er aller Hoffnung auf Erlösung,
eine trostlose Ewigkeit als Ersatz für sie hinnehmend. — Der Wett-
streit edelster Aufopferung zweier Liebender gehört zu jenen Schau-
spielen, die auf edle Herzen so tief wirken, daß sie Werke, welche
diese Schönheit enthalten, anderen vorziehen, welche oft reicher
an augenfälligen Vorzügen sind und von der Kritik höher gehalten
werden als jene.
Schon die ganze Anlage des Textbuches verrät einen echten
Dichter, einen Poeten von Gottes Gnaden, eine Hand, von der
jede Zeile, jeder Federstrich weit über die bis jetzt gekannten Opem-
texte sich erhebt. Der erste Teil des dritten Aktes, wenn die nor-
wegischen Frauen und Matrosen, allmählich mehr und mehr von
Furcht ergriffen, das Geisterschiff anrufen, bringt durch seine ffir
den Gedanken kolorierte und für das Ohr rhythmisierte Versif ikation
ohngefähr einen Eindruck wie die Balladen Bürgers hervor, die
das Herz mit einem geheimen Beben erfüllen. Der Dialog be-
wegt sich in Distichen; jedes derselben fügt der von Furcht be-
völkerten Finsternis einen Schatten mehr hinzu. Die kurzen Gesänge
und Balladen reihen sich dem Besten an, was in dieser Gattung je
geschaffen wurde.
Während seines ersten Aufenthaltes in Paris hatte Wagner
der Großen Oper das Anerbieten gemacht, diesen Text zum Zwecke
einer Aufführung komponieren zu wollen. Sein Name hatte aber
Der Fliegende Holländer. 221
■MMMMkAM««
noch zu wenig Klang, als daß es Berücksichtigung gefunden hätte.
Trotzdem fand man das Libretto anziehend genug, um es gegen
fünfhundert Franken von ihm zu erstehen. Die musikalische Kompo-
sition desselben vertraute man aber nicht den i-länden seines Autors
an, sondern dem Chordirektor der Acad^mie royale, Herrn Dietsch.
Dergestalt erlebte das »Vaisseau fantdme« mehrere Aufführungen
auf dieser Bühne, doch ohne daß Wagners Name dabei genannt
worden wäre.
Wenn aber die Oper „Der Fliegende Holländer" — Text und
Musik von Wagner — die ganze Wirkung, welche durch ihren
großartigen Aufbau, durch ihren poetischen Gefühlsgehalt möglich
Ist, erreichen soll, so müßte ein günstiges Geschick es fügen, daß
zwei außerordentlich begabte Künstlernaturen, wie sie kaum
einzeln zu finden sind, zur Besetzung der beiden Hauptrollen sich
zusammenfänden. Es gibt wohl Werke, bei denen selbst die größten
Vorzüge auch eine nur mittelmäßige Wiedergabe zur Anschauung
bringen kann, ähnlich wie sich Gemälde, deren Wert wesentlich
in der Komposition liegt, auch nach Kupferstichen beurteilen lassen,
so weit auch der Genuß, den letztere gewähren, hinter dem zurück-
steht, den uns die Betrachtung des Meisterwerkes selbst gibt — von
anderen aber sollte man gar nicht reden, wenn man nicht die magische
Wirkung des Kolorits, das Sprechende des Pinsels gegenüber dem
Originale vordem empfunden hat.
Wem zum Beispiel wäre es wohl möglich, die „Joconde" eines
Leonardo da Vinci, die „IMadonna d'Alba" eines Raffael oder
den „Diogenes"' Ribeiras, die bei der vollkommensten Einfachheit
der Konzeption in der idealen Welt des Geistes erhabene Schöpfungen
und ideale Verklärungen der Materie durch die Kunst sind, zu
verstehen, ohne vordem das ganze Ausströmen der unmittelbaren
Gegenwart des Originals eingeatmet zu haben? Was kann für
den Kupferstich da bleiben, wo die Linien gewissermaßen in der
Farbe aufgehen und sich verlieren, wo der Kontur nur eine Offen-
barung der Seele ist? Läßt sich überhaupt eine Kenntnis dieser
Werke des Genius annehmen, solange nicht der eigene Blick die
Sonde in die Tiefe des Gedankens, in die Glut der Empfindung
gesenkt hat, welche in diesen undefinierbaren Farbenmodulationen,
222 Der Fliegende Holländer.
in diesen feinsten Rhythmen der Proportion, der Form und Ge-
staltung lebt? Wer nur den Teil des Wertces geschaut hat, der eine
Art Bodensatzes desselben bildet, und den die Analyse zersetzen,
Kenntnis und technisches Geschiclc nachahmen Icann — wer nicht
sozusagen dem Geiste dieser Werlce Aug' in Aug' geschaut, wer
nicht ihr Wesen erfaßt hat, das wahrhaftig vor unseren Blicken
lebt, indem diese Schöpfungen ein Fluidum ausströmen, das uns
wonnig durchdringt, der kann sich keine Meinung über sie bilden,
kein Urteil gewinnen; höchstens kann er durch das, was andere
gesagt haben, durch eine flüchtige Beschreibung ihrer linearen Um*
risse sich zu denselben hingezogen fühlen. Wie diese Gemälde,
so können auch gewisse musikalische Werke nur dann ihren inneren
Sinn enthüllen, im vollen Strahl ihrer Pracht glänzen und die ganze
JMajestät ihres Ausdruckes offenbaren, wenn die zu ihrer voll-
kommenen Wiedergabe erforderlichen Bedingungen vorhanden sind
und vereint zusammentreten, so dafi sie das Ganze, das dem Autor
im Schaffen vorschwebte, vollständig darzustellen vermögen. Was
in der Malerei der Anblick eines Originals, das gewährt in der
Musik die vollkommene Aufführung eines Meisterwerkes.
Schlagende Beispiele gibt uns für das Gesagte das Schicksal
ganzer Schulen, die, sobald unter den Ausführenden ihre Tradition
verloren gegangen ist, ebenfalls verschwinden. Um nur der großen
kirchlichen Werke zu gedenken: werden nicht die Kompositionen
eines Palestrina, eines Lassus und anderer ein Gegenstand der
Wissenschaft, der Archäologie, der überlegten und retrospektiven
Bewunderung? haben sie nicht aufgehört, auf dem lebendigen Ge-
biete der Kunst tätig zu sein, und werden sie nicht darum den Massen
unverständlich, weil den Ausführenden das Geheimnis ihrer Inter-
pretation abhanden gekommen ist, so daß diese Werke nicht mehr
in ihrer Integrität erscheinen und wir zurzeit kaum verstehen, was
auszusprechen sie einst bestimmt waren? In modernen Reproduk-
tionen erscheinen sie oft so unkenntlich, wie gewisse Bilder großer
Maler, die mit einem dichten Überzuge von Retouchen, von schwerem
Firnis oder durchräuchertem Fett bedeckt sind. Das Skelett einer
Partitur läßt sich wohl wiederherstellen, aber es fehlt die Seele,
das pulsierende Leben, das Verständnis der Bewegung. Gedenkt
Der Fliegende Holländen 223
man der beträchtlichen Anzahl von Werken — selbst solcher, die
dem modernen Stil der Gegenwart angehören — , deren volles Ver-
ständnis, deren poetischer Inhalt sich nur durch eine Aufführung
erreichen und wiedergeben läßt, welche auch die ungreifbaren,
wir möchten sagen ihre schwebenden Elemente zur Geltung
bringt, so kann man die der Virtuosität beigelegte Wichtigkeit un-
möglich als so usurpiert bezeichnen, wie man manchmal es zu tun
beliebt, nachdem man erfahren, daß, um auf diesem Pfad den Gipfel
der Kunst zu erreichen, eine von der Ausbildung des Mechanismus
unabhängige bedeutende geistige Bildung nicht weniger notwendig
ist, als der Mechanismus als solcher«
Von allen Werken Wagners dürfte wohl „Der Fliegende Hol-
länder'', wenn er verstanden werden und seine Wirkung keine ver-
fehlte sein soll, die dringendste Forderung an geistig begabte und
hervorragende Sänger, an vollendete Ausführung erheben. Wie
in Beethovens „Fidelio'', wie in der letzten Szene in Glucks
■„Orpheus** kann auch hier nur dann der entsprechende über-
wältigende Eindruck erreicht, die — sozusagen — ganze seelen-
ergreifende Elektrizität des Werkes zum Ausströmen gebracht
werden, wenn Sänger von seltenem Talente sich vollständig ihren
Rollen hingeben. Diese müssen durch das Spiel auf der Bühne
zum Leben erweckt werden, ja es ist die Aufgabe der Darsteller,
den Charakteren auf die kurze Dauer eingebildeter Wirklichkeit die
ganze Lebensfülle einzuhauchen, mit welcher der Autor sie zu un-
vergänglichen Typen gestaltet hat.
Wagner hat mehrmals ausgesprochen, „daß der Sänger seines
Lohengrin erst noch geboren werden müsse". Dieser Ausspruch
mag anfangs eitel klingen, ist es jedoch keineswegs. Wagner
fühlt — und mit Recht — , daß er in der dramatischen Musik an dem
Entwickeiungsmomente angelangt ist, den Gluck und Weber vor-
bereitet haben. Gleich dem ersteren im Besitze unendlich mannig-
faltiger Mittel, dabei als denkender und kombinatorischer Kopf
bedeutender als der letztere, Poet und Musiker zugleich, verfügt er
noch über die ganze Masse von Hilfsquellen, durch welche der
große deklamatorische Stil sich in seiner höchsten Vollendung
offenbaren kann. Dieser Stil muß aber mehr wie jeder andere
224 Der Fliegende Holländer.
t«M^^
durchdrungen, voligesogen sein von Poesie; keiner steht dem
Genius der Dichtung so nahe wie er, keiner ist so von ihren Ein-
flüssen beherrscht, erfordert so ihre Kenntnisse und Vorteile
wie er.
Der Dichter und Komponist Wagner ist der Sproß einer neuen
Verbindung der antiken Gäa mit dem alten Neptun. Er hat ihr
Doppelreich geerbt, herrscht auf dem Festlande und auf den Fluten
und dehnt souverän den einen Arm über den Kontinent und den
anderen über das weite Wogenreich aus. Aus der Machtvoll-
kommenheit seines Genius steckt er dem festen Erdkörper der Poesie
seine Grenzen, und dem Überfluten der stürmisch herandringenden
Tonwellen ruft er das Wort zu: „Bis hierher!" Mit souveräner
Hand schreibt er die Ordnung seines Reiches vor, despotisch zieht
sein schöpferisches Wollen den beherrschten Mächten ihre Marken.
Ef wehrt ihrem chaotischen Ineinanderströmen, er gibt den auf-
brausenden Schwankungen der Tonfluten den wundervollen Basalt
der Poesie zum Becken, damit ihr netzender Tau fruchtbringend
denselben durchdringe. So verbindet er Musik und Poesie, läßt sie
Eins werden und verbannt die Leere aus der von ihm geordneten
Welt, dem Drama. Er entfernt alle schwachen Teile, alle Lücken,
alles, was den Zusammenhang aufhebt und stört, alles, was bis jetzt
als unentbehrliche Übergänge in einer Oper betrachtet worden ist.
Er gestattet nie, daß aus Rücksicht auf musikalische Gewohnheiten
Handlung und Bewegung in Stocken geraten. Reicher an Detail
und umfassender im Bau, als irgend eines der in demselben Stile
geschriebenen und den seinen vorangegangenen Werke, erscheinen
seine Schöpfungen gerade in einer Zeitepoche, in welcher alles zu-
sammentrifft, um dem ausdrucksvollen, deklamatorischen Stil auf
der Bühne entschieden das Übergewicht zu geben.
Die ersten Meister dieser Schule sind im Laufe der Zeiten hin-
reichend ergründet, verstanden und gewürdigt worden. Unsere
Generation enthusiasmiert sich nicht mehr für Kompositionen, in
welchen andere Stile speziell und ausschließlich verherrlicht wurden.
Durch eine versuchte und gelungene Mischung, Vereinigung und
Ergänzung beider Prinzipien hat man instinktiv und unwillkürlich,
getrieben vom Strom der Zeit, eine Art Übergangsepoche gebildet,
Per Fliegende Holländer. ^
der Deklamation ein weiteres Feld eingeräumt und auf ihre Popu<-
larfsierung hingearbeitet. Und so ist es möglich geworden, mit
Hilfe der immensen, sinnreichen Hilfsmittel der großen Bühnen,
des außerordentlichen Fortschritts in der Instrumentation, der Aus-
dehnung und Mannigfaltigkeit, welche Harmonie und Rhythmus
erlangt haben, eine bedeutende Erhöhung und Vervielfältigung
ihrer Wirkung durch eine Fülle der verschiedensten Kombinationen
zu erreichen.
Die von Gluck geschaffene Schule, im Vertrauen auf diesen
starken Rückhalt und gekräftigt durch die Erfahrungen von siebzig
Jahren der Opposition, kann heute, trotzdem damals alle anderen
Stile mehr Chancen des Gelingens, mehr Lebensfähigkeit zu besitzen
schienen, ihren Rivalen, deren Reize zu sichtbar im Stadium des
Welkens sind, getrost den Kampf bieten und mag in neuem Streite,
in stetem, stufenweisem Erobern die Mittel finden, ihre gefähr*
lichste Klippe, die Monotonie, zu vermeiden. In unseren Augen
unterliegt ihr Sieg keinem Zweifel. Uns ist der Augenblick ihref
Anerkennung nur noch eine Zeitfrage. Es ist unmöglich, daß sie
nicht den ersten Rang auf der Bühne einnehme, und die Stile,
welche letztere bis jetzt beherrscht — die Stile der spezifisch- und
abstrakt-melodischen Musik — , nicht andere Felder suchen, finden
und urbar machen sollten, sei es in der Kirche, oder im Konzert,
oder in der Tanz- und Militärmusik, oder in der Lyrik. Die Tatsache,
daß moralisch wie physisch der tägliche Genuß reicher, feiner und
gewürzter Speisen notwendig den Geschmack für weniger ausgewählt
zubereitete unempfänglich machen muß, genügt, um ohne besondere
Wahrsagekunst voraussehen zu können, daß zu einem gewissen
Zeitpunkte, dessen Eintreffen aber sich nicht genau bestimmen
läßt, weil Zufall und äußere Umstände eine so wichtige Rolle in
derartigen Angelegenheiten spielen, unser Jahrhundert sich an diese
Richtung des Schönen gewöhnen, sich mit den geheimen Gesetzen,
der inneren Logik dieser Schule, die mehr als alle anderen das
Mittelmäßige abzuwerfen strebt, vertraut machen und ihren vollen
Wert erkennen wird.
Nun hat aber jede bedeutende Kompositionsperiode zu gleicher
Zeit eine ihren Bedürfnissen und Forderungen entsprechende Gesang*
Liszt, Gesammelte Schriften. U.V.A. 15
226 Der Fliegende Holländer.
schule hervorgerufen. Ohne bis zu Tatsachen zurückgehen zu
wollen, die sich in der Dämmerung femer Zeiten verlieren, ist es
hinreichend, auf die Veränderung hinzuweisen, welche die Methode
des Gesangs im Laufe der letzten drei Jahrhunderte erfahren hat,
um uns zu überzeugen, daß dieselbe immer durch die Komponisten
und ihre verschiedenen Richtungen bestimmt wurde, je nachdem der
Genius derselben verschiedene Modifikationen erlitt. Stradella
verfuhr nach anderen Prinzipien als Carissimi, Farinelli hielt
sich nicht mehr an die Regeln, weiche Durante am berühmten
Konservatorium zu Neapel gelehrt hatte, und die von Rossini ge-
bildeten großen Sänger entfernen sich gänzlich von der im acht-
zehnten Jahrhundert bewunderten Art des Singens. Der entschie-
denen Einführung des deklamatorischen Stils wird notwendig früher
oder später die Entwickelung einer neuen Schule folgen, und da wir
den Sieg jenes Stils in den Werken Wagners erblicken, so setzen
wir voraus, daß auch die Änderungen, welche in der artistischen
Bildung der Ausübenden notwendig folgen müssen, hauptsächUch
von Deutschland ausgehen und sich hier vollziehen werden.
Bis jetzt hat sich der Genius germanischer Muse in allen Zweigen
der Instrumentalmusik und der Benutzung der epischen und lyrischen
Vokalmusik unter dem schöpferischen Hauche von Meistern tita-
nischen Geschlechts mit einer solchen Gewalt des Strebens und der
Begeisterung entwickelt, daß — dank dieser Entwickelung —
Deutschland in diesem Augenblick alles ernste Interesse der Ton-
kunst, ja ihre ganze Zukunft in sich konzentriert. >yie früher Italien,
so ist jetzt Deutschland ihr lodernder Herd. Seit Bach hat eine
fast ununterbrochene Reihenfolge von Künstlerfürsten höchster
Majestät, ein geistiger Stamm großer Männer dieses Land musikalisch
zum ersten der Welt erhoben. Nur ein Zweig der Kunst steht
noch nicht in voller Blüte und wird nur mit großen Kosten vege-
tierend, einem exotischen Gewächs gleich, im Treibhause erhalten:
der dramatische Gesang.
Indem «Wagner seinem Vaterlande ein Drama schuf, das in
Übereinstimmung mit dem nationalen Genius desselben steht, l^e
er ihm zugleich die Pflicht auf, eine eigene, seiner dramatischen
Weise entsprechende Schule des Gesangs hervorzurufen.
Der Fliegende Holländer. 227
Die Oper war seit ihrem Erblühen nach Deutschland mehr
importiert, als hier einheimisch. War auch Hasse ein Deutscher,
so war. seine Musik trotzdem eine durchaus italienische. Überhaupt
sind seit jener Epoche die großen deutschen Opernkomponisten
ihrem eigenen Lande gewissermaßen fremd geblieben. Obwohl
Mozart in tragischen Momenten den deklamatorischen Akzent
merklich seinem Rechte näherte, so verlangen seine Opern darum
doch Sänger, die nach der italienischen Schule gebildet sind. Gluck
und Meyerbeer schrieben für das Pariser Publikum, und nicht
viel hatte gefehlt, so würde Wagner ein gleiches getan haben.
Es bleiben also unter den Komponisten ersten Ranges nur Beet-
hoven, der durch eine zwanzigjährige Nichtbeachtung seiner
einzigen Oper zurückgeschreckt war, eine zweite zu komponieren,
und Weber, der, hätte er länger gelebt, sehr wahrscheinlich nur für
England geschrieben haben würde, da seinem „Oberon'' im Aus-
lande ein besseres Schicksal zuteil ward, als seiner „Euryanthe'' in
der Heimat.
Von den vier echt und spezifisch deutschen Werken der beiden
letztgenannten Meister, welche Germanien als Früchte seines Bodens
beanspruchen kann, und die in dem Sinne wesentlich deutsch sind,
daß sie nirgends so verstanden und im Gefühl so begriffen werden
wie in Deutschland, hat nur der „Freischütz" einen raschen und all-
gemeinen Erfolg gehabt. Die drei anderen wurden lange Zeit für
geniale Mißgeburten gehalten. Die Theaterdirektoren überließen
es den wenigen sie bewundernden Musikern, sie enthusiastisch zu
loben, und kümmerten sich nicht um sie, als nicht in ihre Sphäre
gehörend. Sie fristeten das Leben ihres Repertoires mit fremden
Produkten, aus denen nach ebenso fremden Moden eine beliebige
m^lange zurecht geknetet wurde. Und trotz alledem — sei es durch
Zufall oder Instinkt — haben sich gerade in Deutschland die unter
dem unmittelbaren Einflüsse des deklamatorischen Stils ent-
standenen oder sich ihm nähernden Werke am längsten erhalten.
Deutschland ist es, wo dieser Stil sich erfolgreicher als in den übrigen
musikalischen Ländern geltend gemacht hat, wo er durch Mozart,
Gluck, Beethoven, Spontini, Weber und andere am tiefsten
erfaßt worden ist.
15*
228 Der Fliegende Holländer.
Wagner ist das Resultat dieses wohl langsamen, aber steten
Fortschreitens, eines Fortschreitens, dessen Werke, ja selbst dessen
Theorien nur von einem Deutschen und für Deutsche entwickelt und
geschrieben werden konnten. Die Opposition, die dieser Meister
bis jetzt erfahren mußte, ist in vorübergehenden Ursachen, in künst-
lerischen, um nicht zu sagen : in künstlichen Gewohnheiten begründet.
Die Sympathien, welche er erweckt, sind wesentlich deutsch und
national, und darum werden sie Sieger auf dem Kampfplatze
bleiben; denn es wäre in den Annalen eines Volkes ein unerhörtes
Faktum, daß es nachhaltig einen Autor verleugnete, der seine Sagen
und Geschichte, seine Tradition und Gefühlsweise mit den seinem
Genius eigentümlichen Kunstformen lebendig in sich aufgenommen
und verherrlicht hat. Wagner ist der Begründer der deut-
schen Oper oder des musikalischen Dramas.
Diese neue Kunstgattung jedoch kann nur durch andere Inter-
preten als die gegenwärtig ausübenden Künstler ihren vollen Glanz
erreichen. Es muß sich in Deutschland eine Schule des Gesanges
bilden: denn gegenwärtig besitzt es kaum Sänger. Die vorhandenen
sind zufrieden, wenn »e die Vorzüge ihres Organs zur Geltung
bringen und im besten Falle ,,gut musikalisch'* sind, ohne daß sie
jemals sich einem anhaltenden, speziellen und gründlichen Studium
des Gesanges hingegeben hätten. Eine einzige Tatsache wird das
Gesagte hinlänglich bestätigen, nämlich der gänzliche Mangel an
Professoren und Konservatorien, die sich, wie in anderen Ländern,
einen glänzenden Ruf in diesem Kunstfach durch von ihnen gebildete
Sänger errungen hätten. Die hervorragenden Künstler rühmen sich
niemals, Schüler dieses oder jenes deutschen Meisters oder dieser
oder jener deutschen Schule zu sein; denn, um die Wahrheit zu ge-
stehen, verdanken sie alles sich selbst, falls sie nicht vielleicht im
Auslande sich ihre Bildung erworben haben. Auch sind sie nicht
durch Einheit des Stils untereinander verbunden: es dürfte schwer
sein, mehrere von ihnen unter eine Kategorie zu bringen. Sie haben
in den wesentlichen Punkten durchaus keine Übereinstimmung.
Jeder folgt seiner individuellen Neigung und bildet sich, je nachdem
ihm Lebensstellung und Sympathien erlauben, mehr oder weniger
Zeit und Fleiß darauf zu verwenden, auf gut Glück hin aus. Ein
Der Fliegende Holländer. 229
derartig schlecht vorgebildetes und frühzeitig abgenutztes Organ
wird dann ohne Regel, ohne Plan, ohne Ziel ausgebeutet und versagt
dem Sänger meistens vor der Zeit. Solange es noch frisch ist,
hat er es nicht in seiner Gewalt, und mit der selten erlangten Ge-
schmeidigkeit ist die jugendliche Fülle dahin. Besitzt es ausnahms-
weise, ungeachtet häufigen und voreiligen Mißbrauches, die Aus-
dauer, so ist das nur bei Ausnahmsorganisationen der Fall, die
aus Eisen oder Gold zu bestehen scheinen, und nach welchen man
infolgedessen keine allgemeingültige Norm aufstellen kann.
Im Gegensatz zu der deutschen Schule ist die italienische immer
methodisch vorgegangen. Der Methode verdankt sie ihre herrliche
Blüte und anhaltende Lebenskraft. Selbst heute noch, wo sie
entartet, bleich und kümmerlich dem Vaterlande den Rücken ge-
wandt hat, um auf gastlichem, aber kaltem Boden ihr Brot zu finden
— sie, ein Kind des Südens, der Sonne, des Lichtes und der Wärme,
das im nordischen Eise und mitternächtigen Nebel nicht zu leben
vermag! -^ noch heute kann sie sich rühmen, in der Fremde fern
von den Penaten einen eminenten Vertreter zu besitzen: Garcia
in London 1.
Es ist in der Tat auffallend und befremdend, daß in Deutschland,
diesem Lande der Theorien und Systeme, der durchdachtesten
künstlerischen Tendenzen, im Gegensatz zu diesem Charakter die
Kunst des Gesanges so ausschließlich der Willkür der Praxis, ja
des Empirismus überlassen bleibt! Der Grund? Wer kann be-
haupten, daß er nicht darin liegt, daß die Oper noch nicht natio-
nalisiert ist und demzufolge noch keine ihrem Charakter ent-
sprechende Gesangschule hervorgebracht hat?
Wie wir bemerkt haben, ist der „Freischütz" das einzige Werk
eines genialen Komponisten, das als wesentlich national sich schnell
auf allen Bühnen einbürgerte. Aber ein Werk ist noch kein
Repertoire, und die Sänger sind bis zur Stunde darauf angewiesen,
von einem Abend zum anderen von Rossini auf Spontini üt>er-
zugehen, von Meyerbeer auf Auber, von Donizetti auf Hal^vy,
von Gluck auf Bellini, von Spohr auf Flotow. Und gewiß,
^ Er ist 1906 verstorben.
230 Der Fliegende Holländer.
diese universelle Kultur, diese unbegrenzte Gastfreundschaft gegen
alle Formen der Kunst könnte nur ehrenvoll für Deutschland sein,
wenn die bestimmter definierten Gattungen in verschiedene Gruppen
verteilt wären, wenn man in der Wahl der fremden Nationen an-
gehörenden Werke nur irgend ein Kriterium einhielte, wenn die
mit einiger Rücksicht auf Kunstinteressen geleiteten Bühnen Unter-
schiede zwischen ihren Bestrebungen feststellten.
Statt dessen stellt die kleinste Bühne einen Mikrokosmos dar^
schreckt vor keiner Schwierigkeit zurück: „nichts zu groß, nichts zu
ferne", nichts, was ihre Kräfte überschritte. Das Ende vom Lied
ist, daß alle Bühnen — große und kleine — nur ein Potpourri
der heterogensten Ingredienzien zustande bringen, daß eine solche
OUa potrida den Geschmack des Publikums verdirbt und einen
nationalen Stil zu den Unmöglichkeiten verweist. Die Sänger
Italiens beschränken sich auf ein einziges abgeschlossenes Genre, die
Sänger Frankreichs unterscheiden zwischen großer Oper und
komischer Oper, die Sänger Deutschlands aber interpretieren jeder
die verschiedensten Meister, die entgegengesetztesten Schulen, die
entgegengesetztesten Rollen. In der Unmöglichkeit, sich nur einer
Gattung zu widmen, diese oder jene Rolle auszuschlagen, überlassen
sich letztere dem Zuge ihrer Routine und sind zuletzt dahin ge-
kommen, bezüglich ihrer Leistungen an nichts mehr zu zweifeln,
alles zu versuchen, alles zu probieren und — alles zu verpfuschen.
So lernen sie im Verlauf ihrer theatralischen Laufbahn, je nachdem
die Umstände es mit sich bringen, ein bischen schreien, ein bischen
spielen, — alles ein bischen; die einen machen das, die anderen jenes
etwas besser, ganz nach der zufälligen Art ihres Sterns. QuI trop
embrasse, mal ^treint. Auf wen könnte man besser als auf die
Sänger dieses Sprichwort anwenden?
Die Virtuosität der Kehle, ihre Ausbildung zu einem geschmei-
digen Instrumente, das alle Bewegungen der Seele wiedergibt,
läßt sich weniger als irgend eine andere durch unbedachte Praxis
und ein Vermischen aller Stile erlangen. Dieses empfindliche
Instrument erträgt nicht, wie das Holz der Tasten oder der Violine,
alle Irrtümer der Erziehung, alle Tollheiten der Laune. Wird es
nicht durch sorgsame Pflege und nach festen Prinzipien erzogen,
Der Fliegende Holländer. 2Sl
so wird es bald steif, vertrocknet und erlahmt. Kann es dann
doch noch Dienste leisten, so sind diese nur matt, abgenutzt, leblos —
nicht darum, weil die Aufgaben im einzelnen genommen zu groß,
nein, weil sie zu verschieden und entgegengesetzt in ihrer Art waren,
weil man sich an sie machte, ohne sich vorher durch Übungen, wie
sie den gegenwärtigen Bedürfnissen unserer Bühne entsprechen,
darauf vorbereitet zu haben, weil man den Grundsatz vollständig
vergessen hatte: daß man nur in dem Maße gut und lange singt, als
man gut und lange zu singen gelernt hat.
Da sich auf den deutschen Bühnen die Oper mehr und mehr
in den Vordergrund der szenischen Vorstellungen drängt, so sind
hier selbstverständlich auch Künstler zu finden, welche singen,
selbst ganz bedeutende Künstler, deren einige ein seltenes Talent
mit einem vortrefflichen Organe verbinden. Eigene Sänger aber
besitzt Deutschland nicht, weil es an einer eigentlich deutschen
Qesangschule fehlt. .»
Wagners Opern verlangen sehr schöne, sonore und weiche
Stimmen, edle Diktion, leidenschaftliche Akzente, zart angedeutete
und fein ausgeführte Intentionen und ein lebendiges Spiel — alles
Eigenschaften, die eine umfassende Bildung des Geistes und ein
von früher Jugend an begonnenes, gewissenhaftes Studium von
Werken einer Schule voraussetzen, welche hingebenden Ernst und
hingebende Liebe verlangt.
Wer diese Ansprüche übertrieben finden sollte, mag sich Einsicht
in die alten Lektionspläne verschaffen, wie man sie in den Konser-
vatorien von Rom, Venedig, Neapel anwandte. Alle Stunden der
Zöglinge waren geregelt, und man forderte fast so viele Eigen-
schaften von ihnen, wie Cicero von einem guten Redner. Neun
Stunden des Tages waren zur Einweihung in die große Kunst
vorgeschrieben, die kirchlichen Übungen und andere noch gar nicht
mitgerechnet. Den Schülern war es unter anderem anbefohlen,
ihre Übungen an einem Orte vorzunehmen, wo ein vorzüglich
deutliches Echo sich befand, damit sie durch diese genaue Nach-
ahmung ihres Sprechens und Singens ihre Fehler kennen lernen
sollten. Und nur nach sechs, acht, zehn Jahren eines solchen
Noviziats wagten es die Künstler, vor die Öffentlichkeit zu treten.
232 E)er Fliegende Holländer.
Lassen sich darum auch der hohe Grad ihrer VoUkommenheit,
ihre tadellose Vortrefflichkeit, die von ihnen erreichten unglaub-
lichen Effekte bewundem: erstaunen kann man nicht über sie;
denn sie sind die folgerichtige Frucht ihrer Erziehung.
Und die heutigen, unsere deutschen Sänger? Holt sich nicht die
Mehrzahl derselben ihre Erziehung auf den Brettern, zum großen
Entsetzen musikalischer Ohren und zum Verderb ihres eigenen
Talentes? Scheint es nicht, daß, je größer die Honorare, desto
geringer die Studien werden?
Angesichts dieses Status quo ist die Behauptung keine über-
triebene, daß erst, wenn einmal in Deutschland für den dekla-
matorischen Stil Schulen bestehen werden, wie sie in Italien und
in Frankreich für andere Werke und andere Ziele bestanden haben,
wenn eine Künstlergeneration herangebildet sein wird, ^e Wagners
Charaktere sie verlangen, — daß erst dann jene Mängel verschwinden
werden, welche der nationalen Ausführung nationaler Bühnen-
werke im Wege stehen, und man sich dann auch ihrer vollen er-
schütternden Tragweite nicht mehr wird verschließen können. Doch
schon in unseren Tagen besitzen wir in Frau Schröder - Devrient
durch das Feuer und die Energie ihres Spieles und Gesanges ein
Beispiel von dem Reichtum, von der hohen Schönheit des dekla-
matorischen Stils. Sie lehrt, wie man Charaktere eines Beethoven,
Weber, Wagner aufzufassen hat. Auch Tichatscheck hat sich
durch eine feurige Hingabe an solche Rollen und ein tiefes Ein-
dringen in dieselben, durch das lebensvolle Relief, welches er ihnen
zu geben wußte, ein glänzendes Verdienst erworben. Ebenso Herr
und Frau von Milde in Weimar, die vorzugsweise Schöpfungen
Wagners mit der rühmlichsten Liebe und Gewissenhaftigkeit
darstellen. Das edle Spiel und die pathetische Deklamation beider
können als Vorbild gelten.
Die Hauptrollen des „Fliegenden Holländers** erfordern dringen-
der als die irgend eines anderen Werkes Eigenschaften, wie die der
genannten Künstler, wenn anders sie nicht auf dem wogenden Grund
eines sehr nuanzierten, ja in manchen Momenten überwältigenden
Orchesters verschallen sollen. Die Künstler, die sich dieselben
zu ihrer Aufgabe wählen, bedürfen keines so ausgedehnten Stinun-
Der Fliegende Holländer. 233
umfangs, wie zur Wiedergabe von Partien wie Bertram oder Fides;
aber sie müssen eine Stimme von edlem Klang, mächtiger Fülle
und seltener Kraft und Biegsamkeit besitzen. Das Kolorit derselben
muß schimmernd, sammetweich, vibrierend sein, gleich den Saiten
der unter dem Hauche des Sturmes erzitternden Äolsharfe. Der
Monolog des Holländers, die Bailade Sentas und das große Duett
im zweiten Akt sind die bedeutendsten Momente dieses Dramas
und bieten viele und außerordentliche Schwierigkeiten. Doch hieße
es ihre Wirkung mit der des ganzen Werkes vernichten, würden sie
nicht mit einer Kraft dargestellt, die keinen Gedanken an Ermüdung
aufkommen läßt, die, ohne auch nur einen Anflug von Erschöpfung
zu zeigen, mächtig bleibt von Anfang bis zu Ende.
DAS RHEINGOLD
VON
)jL RICHARD WAGNER <»
1855
:^#c
G ^
Am 1. Januar 1855.
Worin anders läge wohl die Bedeutung, welche alle Gemüter
an die nur gedachten Grenzscheiden im Laufe der Zeiten, wie den
heutigen Tag, knüpfen, wenn nicht in dem von den Mächtigen wie
von den Schwachen, von den Guten wie von den Bösen, von den
Glücklichen wie von den Leidenden gleich dringend gefühlten
Bedürfnis, von der Zukunft zu hoffen, was die Vergangenheit ver-
sagte? Oder wäre eine einzige veränderte Kalenderziffer ausreichend,
um diesem Tage, der innerhalb des Kreislaufes unseres Planeten
nicht einmal seine Wiederkehr an einen und denselben Punkt be-
zeichnet, eine so besondere Wichtigkeit beizulegen? Das Ende
eines alten, der Anfang eines neuen Jahres sind an und für sich nicht
vorhandene Dinge.
Und doch kehrt dieser willkürliche Zeitabschnitt nie wieder, ohne
daß wir alle mit einer gewissen Aufregung einen prüfenden Blick
auf die verflossene, einen fragenden auf die herannahende Zeit ge-
richtet hätten. Den Grund hierfür werden wir kaum wo anders
suchen können als in dem Gefühl, das in uns allen lebt, uns allen
mehr oder minder zum Bewußtsein kommt und uns sagt, daß die
Zukunft Probleme in sich berge, die ungelöst geblieben, Ver-
heißungen, die nicht erfüllt worden sind, und deren Inhalt zu ent-
ziffern den durchlebten Epochen nicht gegeben war. Tritt auch das
junge Jahr mit einer scheinbaren Monotonie vor uns auf, wiederholt
es sich auch in gewissen geistigen und physischen Ereignissen, in
der Folge von Tagen, Festen und Jahreszeiten, von Arbeiten und
Bestrebungen, die mit dem vorigen eine unverkennbare Ähnlichkeit
haben, so sind es doch stets andere, nicht vorhergesehene und nicht
vorherzubestimmende Resultate, die in denselben Tagen keimen und
reifen und, wenn auch denselben, doch von neuen Entwickelungs-
phasen der Menschheit bedingten Bestrebungen folgen.
238 Das Rheingold.
Auch in der Kunst führt die periodische Wiederkehr ähnlicher
Aufgaben und Leistungen zu vollständig verschiedenen Wirkungen.
Denn im Vorwärtseilen der Zeit ändert sich die Anschauung, gleich-
sam die Perspektive der Dinge, ähnlich wie sich dem Auge der
Vorüberschiffenden die am Flußgestade gelegenen Häuser unter ver-
schiedenen Gesichtspunkten darstellen, je nachdem sich jene ihnen
nähern, ihnen gegenüber sich befinden oder auch von ihnen sich
entfernen. Die traditionellen Scheidungen, die der Mensch zur
Berechnung und Messung der gleichmäßig hinströmenden Zeit er-
findet, sind den Linien gleich, durch welche er die Teile unseres
Globus voneinander trennt und hierdurch unterscheidet. Und wie
diese Teile in dem in fremden Landen Reisenden eine Spannung auf
neue Landschaften und unbekannte Sitten erregen, so fühlen auch
wir uns erwartungsvoll gespannt auf das, was sich begeben wird,
wenn wir mit dem Jahresschluß in den Beginn einer neuen Zeit-
periode eintreten.
„Welche neue Perspektiven werden sich jetzt dem spähenden
Blick erschließen? welche Monumente uns neue Formen des Schönen
offenbaren?'* werden vor allem diejenigen fragen, die sich ins-
besondere für die Kunst interessieren. Sie möchten vor allem
wissen, mit welchen bis jetzt unbekannten Werken die anbrechende
Ära die Kunst bereichern wird? Ihnen könnte man heute zu-
rufen:
„Seht Ihr dort den schimmernden Punkt, dort, fem am Horizont?
Es ist der gigantische Umriß eines majestätisch großartigen Baues,
wie wir noch keinen im ganzen Lauf unseres Weges erblickt haben —
eines Baues, der Euch vielleicht befremdet, dessen Stil Euch mög-
licherweise zu erhaben, dessen Plan zu riesig, dessen Ornamentik
in ihrer Fülle zu reich erscheinen wird, — und doch werdet Ihr be-
kennen müssen, daß er in unserer Kunst das großartigste aller be-
stehenden Monumente ist."
Dieses Wort möchten wir auch jenen zurufen, welche gespannt
und neugierig etwas über den von Wagner unternommenen
kolossalen Kunstbau, von dem wir bis jetzt nur das hohe Gerüste
in der Ferne zu erblicken vermögen, zu erfahren wünschen. Jere
imaginären Grenzen, durch welche der Mensch das Zeitmeer teilt.
Das Rheingold 239
ein Datum wie das heutige, werden wir noch öfter zu überschreiten
und zu überleben haben, bis wir das unter den Händen seines
Genius emporwachsende Gebäude mit seinem vierfachen Portikus in
seiner ganzen Größe vor uns sich erheben sehen werden, das Werlc,
welches er den „Ring des Nibelungen" nennt^.
Eine der vier Säulenhallen steht heute bereits vollendet da:
„Das Rheingold" ist fertig und entfaltet unter dem klaren blauen
Himmel Deutschlands seine imposanten Linien.
„Und was enthält dieses Werk, von dem man sich so Außer-
ordentliches verspricht?" werden alle fragen, die es nur durch den
Schleier der dasselbe umgebenden Dämmerung gewahren.
Wir antworten ihnen: Fragt nach den Gemälden, nach den
Statuen und Gruppen jenes Domes, von dessen Portalen jedes
unseren Blicken ein aus Stein gemeißeltes Epos zeigt! Fragt
nach allen den Hieroglyphen, den verschiedenen Symbolen und
seltenen Festreigen, die jener ägyptische Obelisk bewahrt! — Im
„Rheingold" eröffnet, uns die Szene einen Blick auf die Tiefe des
Flusses. Auf seinem Grunde sehen wir zauberische Nixen, zaube-
rischer und verlockender in ihren sich entfaltenden Reizen als alle
die Undinen, welche Heine durch den flüssigen Kristall der grünen
Wogen versteckt hinter dem ungeweihten Blicken sie verbergenden
Schilfe belauschte. Eitel und boshaft, zänkisch und mutwillig ver-
scherzen di^se Törinnen einen Schatz, dessen sich der häßliche, ge-
hässige Geiz, der ehrsüchtige Egoismus bemächtigt, indem er der
Seele das Leben, dem Leben die Seele abschwört: die Liebe.
1 Bekanntlich ist dieses der Titel der Tetralogie, an deren Komposition
Wagner gegenwärtig arbeitet, und in welcher die hervortretendsten Mythen
der ,;Edda" dramatisiert sind. Die vier zusammenhängenden Dramen heißen:
,,R h e i n g 1 d", „D i e W a I k ü r e", „Der j u n g e S i e g f r i e d" und
„Siegfrieds To d". — Die letztgenannte Dichtung beendete Wagner
bereits im Jahre 1B49 und übergab das Ganze im Frühjahr 1853 — jedoch nur
für seine Freunde und Bekannten — dem Druck. Im Herbst 1853 begann er
die Komposition des „Rheingold" und beendete sie im Frühjahr 1854. „Die
Walküre" ist gegenwärtig bis zur Hälfte vorgeschritten. A. d. A.
JVlit ihrem letzten Teil, der „Götterdämmerung", wurde die Tetralogie 1874
zum Abschluß gebracht. .
240 Das Rheingold.
Ewiger Mythus! Ewige Genesis aller Übet! Unheilvoller
Anfang aller menschlichen Tragödien! —
Nach den neckischen, lieblichen Geistem des Stromes treten die
Titanen der nordischen Mythologie auf. Wir erblicken den trauernd
hehren Wotan, ein thronendes Opfer, gezwungen zu herrschen und
nur nach Liebe sich sehnend — wir sehen Fricka, das Weib, den
Inbegriff von Tugend für jene, welche die Drangsale des Hasses den
Irrtümern der Liebe vorziehen und lieber den Grausamkeiten des
Neides, den Zerstörungen der Zwietracht als dem verschwenderischen
Hang des Herzens sich hingeben, — und vor uns trittst Du, Freia!
Zauberin, berauschende Jugend, Bewußtsein des Lebens, Symbol
der Unsterblichkeit, vollkommenste Blüte des Daseins! Ohne Dich
ist Walhalla nicht würdig der Götter! — Zwischen all diesen Ge-
stalten, gleich dem auf Beute lauernden Feind, gleich der Flamme,
die züngelnd den Stoff streift, den sie verzehren will, kreist Loge.
„Und welche Empfindungen flößen uns die Handelnden ein?"
wird man fragen.
Niemand kann, trotzdem Gedicht und Partitur uns vorliegen,
diese Frage zurzeit richtig beantworten; denn noch niemand hat
den Bau in den Strahlen der hellen Mittagssonne gesehen, in welchen
die seine riesigen Konturen umwebende Filigranarbeit sichtbar
wird. Niemand kann es beschreiben, weil die anderen Teile des
Baues noch nicht bekannt sind und noch niemand zum Ober-
blick ihrer gegenseitigen Verhältnisse und Beziehungen gelangen
kann.
Eines aber steht heute schon fest: daß der Meister dieses Werkes
einen Plan entworfen, wie noch kein anderer vor ihm ihn je zu
denken gewagt hat, daß gleich Michel Angelo, welcher das
vollendetste Werk römischer Kunst in die Lüfte versetzte, indem
er die Kuppel des antiken Pantheon in enormer Höhe über der Erde
schweben ließ, Wagner die vorgefundene Oper so erhob, daß ihr
uns bis jetzt vollkommen erscheinendes Gebäude dem seinigen
nur als Giebeldach dienen kann. Wenn die antike und moderne
Tragödie mehrmals eine ähnliche Form in ähnlichen Dimensionen
— die Trilogie — anwandte, so geschah es nie in Werken, welche
zweien in ihrer Entfaltung gleich weit gediehenen und gleich hoch
Das Rheingold. 241
stehenden Künsten — der Poesie und Musik — ihren Glanz
verdanken. Denn obschon die letztere an den dramatischen Werken
der Griechen ihren Anteil gehabt hat, so konnte derselbe sicherlich
nicht die Oleichberechtigung beanspruchen, zu welcher ihn der
Musiker unserer Tage zu erheben imstande ist
Es wird nicht an Tadlern und Vergangenheitsanbetern, an
Kritikern und Krittlern fehlen, welche Feuer schreien und behaupten
werden, daß Wagner, indem er die an und für sich schon monu-
mentale Oper vervierfachte, sie entstellt, ihren Charakter durch alle
möglichen Änderungen, die er sie erleiden ließ, unkenntlich ge-
macht habe.
Wir verweisen diese alle an Michel Angelos Manen. Von
ihnen mögen sie Rechenschaft über das Wagnis verlangen, durch
welches das heidnische Kunstwerk in einen Altarhimmel für den
einigen Gott verwandelt worden ist. Ist — fragen wir — der Stil
des römischen Tempels und jener der christlichen Kirche derselbe
geblieben? Und welcher Römer, der plötzlich aus einem der herr-
lichen die Via Appia zierenden Gräber zum Leben wiedererstünde,
würde die seinem Blick so vertraute Kuppel auf den von Buonarotti
entworfenen Mauern wiedererkennen?
Auch die Oper, wie wir sie gewohnt sind, wird in Wagners
Plan umgestaltet erscheinen: wird sie dadurch an Schönheit und
Wirkung verlieren oder gewinnen? That is the question! — Wäre
in den Tagen Hadrians einem sybaritischen römischen Kunst-
kenner von Prophetenmunde die Beschreibung des Gebäudes ge-
macht worden^ das nach Jahrtausenden wie ein Riese neben dem
Zwerg sich ganz in der Nähe desselben Pantheon erheben sollte,
welches er als das Maximum aller Kunst betrachtet hatte: würde
er nicht die Achseln gezuckt haben? Und — könnten wir ihm das
verargen, da zum vollen Verständnis eines Kunstwerkes keine
Beschreibung genügt?
So werden auch wir im voraus kein Urteil über die Wirkung
aussprechen, die eines Tages dieses Wunder von Kühnheit, diese
mächtig angelegte architektonische Gruppe hervorbringen wird.
Wir hegen die innige Überzeugung, daß die Anstrengungen des
Genius, wenn er alle seine Kräfte zur Erstrebung eines Zieles
Liszt, Gesammelte Schriften. II. V.A. 16
242 Das Rheingold.
zusammenfaßt, niemals vergeblich sind, und daß, selbst wenn er das
gesuchte Geheimnis auf Umwegen verfolgt, es nie an Schätzen
fehlen wird, die er ihm entlockt.
Wäre die tausendfache Bereicherung an geistigen und materiellen
Interessen, welche sich für uns an Amerika knüpfen, wäre das be-
wältigende Umfassen des ganzen Erdenrundes uns zuteil geworden
ohne die Überzeugung des Columbus, daß sein Weg ihn an Indiens
Küsten führen müsse?
„Steure, mutiger Segler! Es mag der Witz dich verhöhnen, t
Und der Schiffer am Steuer senken die lässige Hand.
Immer, immer nach West! Dort muß die Küste sich zeigen:
Liegt sie doch deutlich und liegt schimmernd vor deinem Verstand.
Traue dem leitenden Gott, und folge dem schweigenden Weltmeer 1
War' sie noch nicht, sie stieg' jetzt aus den Fluten empor.
Mit dem Genius steht die Natur in ewigem Bunde:
Was der eine verspricht, leistet die andre gewiß."
(Schiller.)