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Full text of "Gesammelte Schriften;"

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Wilhelm  von  Humboldts 
Gesammelte   Schriften. 


Wilhelm  von  Humboldts 
Gesammelte  Schriften. 


Herausgegeben  von  der 
Preussischen  Akademie  der  Wissenschaften. 

Band  Xm. 

Erste  Abteilung: 
Werke  XIII. 


Berlin 
B.  Behr's  Verlag 

(Friedrich  Feddersen) 
1920. 


n^cir 


Wilhelm  von  Humboldts 

Werke. 


Herausgegeben  von 


Albert  Leitzmann. 


Dreizehnter  Band. 

Nachträge. 

Unter  Mitwirkung  von  Siegfried  Kahler 
und  Eduard  Spranger. 


^cS^^ 


fEm^rM^sirt 


Berlin 
B.  Behr's  Verlag 

(Friedrich  Feddersen'i 
1920. 


Inhalt 


Seite 

[.    Die  Vasken  oder  Bemerkungen  auf  einer  Reise  durch  Biscaya  und  das 

französische  Basquenland  im  Frühling  des  Jahrs  i8oi i 

2.    Zwei  amtliche  Berichte  aus  der  römischen  Zeit  (bearbeitet  von  Siegfried 

Kahler) , igj 

j.   Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  i8og  und  i8w  (bearbeitet  von  Eduard 

Spranger) 207 

A.  Generalverwaltungsberichte  der  Sektion  für  den  Kultus  und  öffent- 
lichen Unterricht 209 

B.  Über  die  Organisation  des  Medizinalwesens 25^ 

C.  Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan 259 

D.  Bericht  an  Altenstein  über  die  Finanzgrundsälze  der  Sektion    .    .    .  28J 

E.  Verschiedenes ......' 2go 

Nachwort  (von  Konrad  Burdach) 320 


Alle  Rechte  vorbehalten. 


I. 


Die  Vasken, 

oder 


Bemerkungen  auf  einer  Reise  durch  Biscaya  und  das  französische 
Basquenland  im  Frühling  des  Jahrs  1801. 


nebst 


Untersuchungen  über  die  Vaskische  Sprache  und  Nation,  und  einer 
kurzen  Darstellung   ihrer  Grammatik  und   ihres   Wörtervorraths. 


Handschrift  (ausser  dem  Titel-  und  dem  Widmungsblatt  251  halbbeschriebene 
Quartseiten)  im  Besitz  des  Freiherrn  von  der  Lancken-  Wakenitz  auf  Günthersdorf. 
Sie  ist  mit  dem  Tagebuch  der  baskischen  Reise  zusammengebimden. 

W.  V.  Humboldt,  Werke.    XHI.  I 


Herrn  Bockelmann 
in  Hamburg  gewidmet. 


An  des  Biscayischen  Golfs  einsam  umfluteten  Küsten 

Wallt'  ich,  Theurer,  mit  Dir  einst  in  den  Tagen  des  Mays. 

Möge  der  Sehnsucht  Flamme  jetzt  mild  dir  den  Busen  umspielen, 
Da  dies  erinnernde  Blatt  dankbar  dir  weihet  der  Freund ! 


Versteckt  zwischen  Gebirgen,  wohnt  zu  beiden  Seiten  der 
WestP^Tenaeen  ein  Völkerstamm,  der  eine  lange  Reihe  von 
Jahrhunderten  hindurch  seine  ursprüngliche  Sprache,  und  grossen- 
theils  seine  ehemalige  Verfassung  und  Sitten  erhalten  und  sich, 
nach  dem  glücklichen  Ausdruck  eines  neueren  Schriftstellers,')  eben- 
sowohl dem  Auge  des  Beobachters,  als  dem  Schwerdt  der  Erobrer 
entzogen  hat  —  der  Stamm  der  Vasken  *)  oder  Biscayer.    Wie  die 


*)  Man  geräth  in  Verlegenheit,  wenn  man  den  ganzen  Stamm  der  Biscayischen 
Nation  mit  Einem  Namen  benennen  will,  und  man  sucht  vergebens  nach  einem,  der 
einstimmig  von  Spaniern,  Franzosen  und  Deutschen  angenommen  wäre.  Die  Franzosen 
kennen  schlechterdings  keine  allgemeine  Benennung.  Sie  sagen :  Biscciyens,  wenn  sie 
von  den  Spanischen,  Basqiies,  wenn  sie  von  den  Französischen  Vasken  reden,  und 
nehmen  im  Nothfall  ihre  Zuflucht  zu  dem  alten  Namen :  Cantabres.  Die  Spanier 
schränken  den  Namen  Vizcaya  nur  auf  die  eigentliche  Herrschaft,  el  Sefiorio,  ein, 
und  sagen  übrigens  von  dem  Lande:  las  provincias  Bascongadas,  und  von  der 
Sprache  el  Bascuence.  Die  Bewohner  benennen  sie  nach  den  einzelnen  Provinzen : 
Vizcainos,  Guipuzcoanos,  Alaveses.  So  hat  dieser  unglückliche  Völkerstamm  selbst 
bis  auf  die  Einheit  seines  Namens  verloren.  Um  zugleich  kurz  und  deutlich  zu  seyn, 
und  alle  bei  diesen  verschiednen  Nationen  üblichen  Namen  zu  benutzen,  werde  ich 
mich  folgender  Benennungen  bedienen.  Wenn  von  dem  ganzen  durch  das  Basquenland, 
Biscaya  und  Navarra  verbreiteten  Stamm  die  Rede  ist :  Vasken ;  wenn  ich  von  dem 
Spanischen  Antheil  des  Landes  rede :  Biscaya ;  wenn  ich  von  den  der  Französischen 
Republik  unterworfenen  Vasken  spreche :  Basquen ;  wenn  ich  das  sogenannte  Sefiorio 
besonders  meyne :  Vizcaya.*)  —  Eigennamen  von  Personen  und  Oertern  werde  ich,  bei 
der  Verschiedenheit  der  Vaskischen  Dialecte,  immer  so  schreiben,  wie  es  der  Dialect 
des  Districts,  dem  sie  angehören,  mit  sich  bringt. 

^)  Ich  kann  den  Ursprung  dieses  Zitats  nicht  nachweisen. 

^)  Nach  „Vizcaya"  gestrichen:  „Diese  Benennungsart  wähle  ich  jedoch 
mehr  ihrer  Bequemlichkeit  als  ihrer  Richtigkeit  wegen.  Denn  sonst  Hessen  sich 
selbst  gegen  den  neuerlich,  und  soviel  ich  weiss,  zuerst  von  (gestrichen :  „Herrn") 
Schlözer  gebrauchten  Namen  Vasken  nicht  ungegründete  Einwürfe  machen. 
Doch  hievon  erst  nachher  bei  der  etymologischen  Untersuchung  des  Namens 
der  Nation." 


Q  Die  Vasken. 

Häupter  der  Berge,  deren  waldigte  Abhänge  sie  umwohnt,  sich 
aus  den  Revolutionen  des  Erdkörpers, ^)  so  hat  sich  diese  kleine 
Völkerschaar  aus  den  gewaltigen  Stürmen  ')  gerettet,  welche  seit 
dem  Sinken  der  Römischen  Herrschaft  das  südwestliche  Frank- 
reich und  Spanien  heimsuchten.  Selbst  in  neueren  Zeiten  in  zwei 
sehr  ungleiche  Theile  zerrissen  und  zwei  grossen  und  mächtigen 
Nationen  untergeordnet,  haben  die  Vasken  dennoch  keineswegs 
ihre  Selbstständigkeit  aufgegeben.  '^}  Sich  mit  keinem  ihrer  Nach- 
barn vermischend,  *)  sind  sie,  aller  Fortschritte  des  Luxus  und  der 
Verfeinerung  um  sie  her  ungeachtet,  in  einem  Zustand  ursprüng- 
licher Sitten-Einfalt  ^)  geblieben,  und  haben  immerfort  die  Eigen- 
thümlichkeit  ihres  Nationalcharakters,  und  vor  allem  den  alten  Geist 
der  Freiheit  und  Unabhängigkeit  bewahrt,  den  schon  die  Griechi- 
schen und  Römischen^)  Schriftsteller  an  ihnen  preisen. 

Auch  in  andern  Theilen  Europens  giebt  es  einzelne  Völker- 
haufen, die,  durch  den  Drang  geV^^altsamer  Revolutionen  in  ein- 
same Bergthäler  oder  an  dürre  und  unwirthbare  Seeküsten  zurück- 
getrieben, mit  einem  Trotz,  den  das  Unglück  ehrwürdig  macht, 
ihre  väterliche  ')  Sprache  und  Sitten  ^)  aus  dem  Strome  der  allge- 
meinen Verwüstung  gerettet  haben,  und  nun  theils  aus  Gewohn- 
heit, theils  aus  edlerem  Nationalstolz  jedes  Zusammenschmelzen  ^) 
mit  ihren  fremden  Nachbarn  hartnäckig  verweigern.^")  So  stehen, 
und  einige  unter  ihnen  vielleicht  nicht  mehr  auf  lange  Zeit,  die 
NiederBretagner  in  Frankreich,  in  England  ihre  Brüder,  die 
Bewohner  von  Wales,  in  Schottland  die  Hochländer,  in  Süd-  und 
NordDeutschland  die  einzeln  zerstreuten  Wendischen  Völker- 
schaften, in  Schweden  die  tapfern  Dalecarlier,  an  den  Busen  der 
Ostsee  die  Esten  und  Liven,  und  einige  andre  noch  unbedeuten- 
dere Stämme  in  Italien  und  auf  den  Italiänischen  Inseln,  gleichsam 


*)  Nach  „Erdkörpers"  gestrichen:  „erhalten  haben''. 

^)  „Stürmen"  verbessert  aus  „Völker stürmen". 

*)  Nach  „aufgegeben"  gestrichen:    „Sie  haben". 

*)  „vermischend"  verbessert  aus  „beträchtlich  vermischt". 

^)  „ursprünglicher  Sitten-Einfalt"  verbessert  aus  „der  Einfalt  oder  der 
Wildheit  der  Sitten  (denn  beide  Ausdrücke  passen  auf  verschiedene  Vaskische 
Cantons)". 

•*)  „Griechischen  und  Römischen"  verbessert  aus  „alten". 

')  „väterliche"  verbessert  aus  „alte". 

^}  Nach  „Sitten"  gestrichen:  „fest  umklammernd,  beide". 

^)  „jedes  Zusammenschmelzen"  verbessert  aus  ,Jeder  Vermischung". 

^°)  „verweigern"  verbessert  aus  „widerstehen". 


Einleitung.  n 

als  lebendige  Ruinen  von  ebensoviel  ehemals  mächtigen  und  weit- 
verbreiteten Nationen  da.  Allein  keinem  unter  allen  diesen 
Stämmen  ist  es  so  sehr,  als  den  Vasken,  gelungen  sich  noch  bis 
auf  den  heutigen  Tag  eine')  selbstständige  politische  Verfassung 
und  einen  ^)  blühenden  Wohlstand  zu  verschaffen,  keinem  so  als 
ihnen,  viele  der  w^ohlthätigsten  Früchte  Europaeischer^)  Auf- 
klärung ')  glückhch  mitten  in  ihre  Einöden  zu  verpflanzen,  ohne 
darum  doch  ihre  Eigenthümlichkeit  und  ihre  ursprüngliche  Ein- 
fachheit aufzugeben.  Diesen  Vorzug  verdanken  sie  offenbar  ihrer 
Lage  zwischen  den  P3Tenaeen  und  dem  Oceane,  die  sie  auf  der 
einen  Seite  vor  feindlichen  Einfällen  sichert  und  selbst  den  zu 
häufigen  Verkehr  mit  ihren  Nachbarn  einschränkt,  auf  der  andern 
aber  ihnen  den  Weg  zur  Gemeinschaft  mit  allen  Nationen  und 
zum  Handel  mit  allen  Welttheilen  eröfnet.  In  dieser  ihrer  geo- 
graphischen Lage  muss  man  auch  den  Schlüssel  ihrer  ganzen, 
und  besonders  ihrer  früheren  Geschichte  suchen. 

Das  Schicksal  der  Süd-  und  Nordküste  Spaniens  wurde  vor- 
zügHch  durch  die  Meere  bestimmt,  welche  beide  bespülen.  Jede 
schönere  Blüthe  früher  Cultur  sprosste  allein  an  den  Ufern  des 
glücklichen  Mittelmeers.  Früh  von  Phoeniciern,  Garthagern,  und 
Griechen  beschifft,  trug  dies  auch  schon  in  den  ältesten  Zeiten 
die  Fremdlinge  des  verfeinerten  Orients  dem  gesegneten  Baetika 
zu,  und  bald  wimmelte  das  heutige  Andalusien,  Valencia  und 
Gatalonien,  von  Gades  bis  Emporium  hinauf,  von  Pflanzstädten 
verschiedener  Völker.  Allein  hinter  Gades  erhoben  sich  ^)  die  ge- 
fürchteten Säulen  des  Herkules,  und  hier  begann  das  Reich  der 
Fabel  und  des  Wahns ;  die  Sonne,  glaubte  man,  tauchte  sich  da  mit 
Gezisch  in  den  Ocean,  auf  die  Helle  des  Tages  folgte  unmittelbar 
und  ohne  alle  Dämmerung  die  Finsterniss  der  Nacht,  und  so  ver- 
hinderte abergläubischer  Wahn,  verbunden  mit  Unkunde  der 
Schiffarth,  auch  nur  den  kurzen  Weg  durch  die  Meerenge  von 
Gibraltar  hindurch  bis  an  die  West-Küsten  Portugalls  und  Spaniens 
fortzusetzen.  Einzelne  Handlungsschiffe  gingen  zwar  unstreitig 
sogar  noch  viel  weiter  und  bis  nach  Britannien  hinauf,  aber  die 
Gewinnsucht  hüllte  diese  Schiffarth  gern  in  geheimnissvolles 
Dunkel,  um  allein  im  Besitz  des  Vortheils  zu  bleiben,  den  sie 
gewährte.    Auf  diese  Weise   sähe   Gallicien  zuerst   unter  Caesar, 


^)  Gestrichen:  „so". 

^)  Nach  „Europaeischer"  gestrichen:  „Cultur  und". 

*)  „erhoben  sich"  verbessert  aus  „waren". 


g  Die  Vasken. 

und  der  Vaskische  Meerbusen  erst  unter  August  eine  Römische 
Flotte.  Ja  die  letztere  umschiffte  nicht  einmal  die  ganze  Nord- 
küste Spaniens,  sondern  kam  nur  von  Aquitanien  aus  dahin.*) 
Bis  auf  diese  Zeit  lebten  also  die  Völker  dieser  Gegenden  fast 
ohne  alle  Gemeinschaft  mit  Fremden  und  behielten  daher  alle  bis 
zum  Ende  des  Cantabrischen  Krieges  (im  [734.]  Jahre  Roms),  einige 
sogar  noch  nachher,  die  immer  mit  dieser  Absonderung  ver- 
bundne  rauhe  und  unbändige  Wildheit.  Dazu  kam  noch  die  Be- 
schaffenheit des  Landes,  ^)  das  kalt,  bergigt  und  unfruchtbar,  auch 
die  Gefahren  der  Schiff"arth  und  die  Beschwerden  des  Landwegs 
abgerechnet,  niemand  reizen  konnte,  es  zu  besuchen.**)  Was 
also  Spanien  an  uralten  Bewohnern  besass,  man  mag  dieselben 
nun  für  ursprünglich  Iberische  Stämme,  oder  schon  in  den  frühesten 
Zeiten  mit  Kelten  und  andern  Fremdlingen  vermischt,  annehmen, 
kann  ^)  man  allein  in  dieser  Gegend,  an  der  Küste  des  einsamen 
und  unbesuchten  Oceanes  antreffen,  ^)  und  je  mehr  der  Süden 
des  Landes  von  Karthagern  und  Römern,  bald  verwüstet,  bald 
erobert  wurde,  desto  mehr  drängten  sich  die  des  Jochs  unwilligen 
Urbewohner  in  die  Nähe  des  Weltmeers  und  der  Pyrenaeen  zu- 
sammen. 

In  der  grossen  Völkerwanderung,  wo  Spanien  der  Tummel- 
platz vieler*)  streitenden  Nationen  wurde,  sahen  zwar  die  Pyre- 
naeen den  Durchzug  mehrerer  fremden  Völkerstämme.  Allein 
theils  wählten  dieselben  die  bekanntere  Südküste  durch  Roussillon 
und  Catalonien,  theils  konnten  nach  Beute  begierige  Barbaren, 
das  reiche  und  gesegnete  Spanien  im  Auge,  keine  Lust  haben, 
sich  beim  Eingang  mit  der  Besiegung  eines  armen  und  tapferen 
Volks  aufzuhalten,^)  und  so  blieben'')  die  Vasken  auch  damals 
abgesondert  und  unabhängig.  Selbst  die  Mauren  drangen  nie  tief 
in   das  Land   ein,   sondern   machten  nur  einzelne  Streifzüge  nach 


*)  Orosius.    /.  6.  c.  2i.  (?  Mann.  255.)'') 
**)  Strabo.   /.  3.  p.  200.   234.   (ed.  Almeloveenii) 
^)  Nach  „Landes"  gestrichen :  „selbst". 
^)  „kann"  verbessert  aus  „miiss". 
^)  ,.antreffen"  verbessert  aus  „aufsuchen". 
*)  „vieler"  verbessert  aus  „mehrerer". 

•*)  „sich    —    aufzuhalten"   verbessert    aus    „ein    armes    imd   tapjeres    Volk 
zu  unterjochen". 

®)  „blieben"  verbessert  aus  „erhielten  sich". 

')  Mannerts  geographisches  Werk  ist  Band  4,  66  Anm.  i  nachgewiesen. 


Einleitung.  q 

Alaba.  ^)  Dadurch  setzten  sich  die  Ueberbleibsel  des  Vaskonischen 
Stammes  nach  und  nach  in  den  natüriichen  Gränzen  fest,  die  sie 
noch  jetzt  einnehmen,  wo  sie  gegen  Norden  das  Meer,  gegen 
Osten  die  Kette  der  Pyrenaeen,  und  gegen  Westen  und  Süden 
das  Gebirge  einschliesst,  das  am  linken  Ufer  des  Ebro  Vizcaya, 
Alaba,  und  Xavarra  von  AltCastilien  scheidet.  Auf  der  Franzö- 
sischen Seite  der  Pyrenaeen  erstrecken  sie  sich  nur  sehr  wenig 
ins  Land  hinein,  und  haben  -)  bloss  die  zunächst  um  den  Fuss 
des  Gebirgs  liegenden  Ortschaften  inne. 

Jetzt  stehen^)  ihnen  zwar  nicht  leicht  mehr*)  gewaltsame 
Erschütterungen  bevor,  vielmehr  können  die  Vaskischen  Provinzen 
in  Spanien  und  Frankreich  einem  steigenden  Wachsthum  ihrer 
Bevölkerung  und  ihres  Wohlstandes  entgegensehn.  Aber  ihrer 
nationeilen  Eigenthümlichkeit  bereiten  desto  sichrer  die  langsamen^) 
Einflüsse  den  Untergang,  welche,  bei  der  wechselseitigen  Berührung 
fast  aller  Punkte  Europens  unter  einander,  jeden  geringeren  Haufen 
in  unsern  Tagen  seinen  ausschliessenden  Charakter  aufzugeben  ^) 
nöthigen.  Sie  verdrängen  nach  und  nach  ihre  Sprache  und  mit 
dieser  geht  nothwendig  zugleich  auch  jene ')  verloren.  Schon 
jetzt  muss  dieselbe,  von  allen  Seiten  verfolgt,  und  am  stiefmütter- 
lichsten gerade  von  dem  aufgeklärtesten  Theile  der  Nation  be- 
handelt, von  Jahrzehend  zu  Jahrzehend  tiefer  in  das  Gebirg  zu- 
rückweichen, und  es  ist  vorauszusehen,  dass  ihr  Verfall,  ^)  von 
nun  an,  einen  noch  mehr  beschleunigten  Gang  nehmen  wird.  Die 
schnelle  Abnahme,  welche  die  provenzalische  und  tolosanische 
Mundart  im  südlichen  Frankreich  seit  dem  Anfange  der  Revolu- 
tion erfahren  hat,  giebt  davon  ein  warnendes  und  lehrreiches  Bei- 
spiel. In  weniger  als  einem  Jahrhundert  also  wird  vielleicht  das 
Vaskische  aus  der  Reihe  der  lebendigen  Sprachen  verschwunden 
seyn,  und  sogar  in  neuern  Zeiten  gab  es  ähnliche  Erscheinungen.  ^) 

*)  „nach  Alaba"  verbessert  aus  „in  Alaba  hinein". 

^)  „haben  ....  inne"  verbessert  aus  „besitzen". 

^)  „stehen  ....  bevor"  verbessert  aus  „drohen". 

*)  „nicht  leicht  fnehr"  verbessert  aus  „keine". 

^)  Nach  „langsamen"  gestrichen:  „doch  um  desto  gewisser  wirkenden". 

")  „seinen  —  aufzugeben"  verbessert  aus  „sich  mit  Aufopferung  seiner 
ausschliessenden  Eigenthümlichkeit  an  die  grösseren  Ganz  .  .  .  ." 

'')  Jene"  verbessert  aus  „ihre  abgesonderte  Nationalitaet". 

*)  „ihr  Verfall"  verbessert  aus  „die  Ursachen,  die  dies  bewirken". 

^)  „und  —  Erscheinungen"  verbessert  aus  „und  diese  Erscheinung  wäre 
dann  schon  nicht  einmal  in  unsern  Zeiten  die  erste  in  ihrer  Art." 


jQ  Die   Vasken. 

Denn  auf  gleiche  Weise  starb  im  Anfange  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts die  AltPreussische  Sprache  mit  einigen  Greisen  in  einem 
Winkel  von  Samland*)  aus,  und  in  unsern  Tagen  sahen  wir  eine 
Mundart  des  Kymrischen  in  Cornwallis**)  untergehen. 

Es  scheint  einmal  in  dem  Gange  der  menschlichen  Cultur  ^) 
unwiderruflich  bestimmt,  dass  auf  einer  gewissen  Stufe  der  Bildung 
die  Unterschiede  hinwegfallen  müssen,  welche  kleine  Völkerhaufen 
von  einander  absondern,  und  dass  nur  grosse  Massen  in  gemein- 
schaftliche Wirksamkeit  treten  dürfen.  Ganze  Nationen  zu  be- 
deutenden intellectuellen  Fortschritten  zu  veranlassen,  und  vor- 
züglich sie  vor  jedem  möglichen  Rückfall  in  Barbarei  und  Un- 
wissenheit zu  sichern,  fodert  grosse  politische  Mittel;  die  Mannig- 
faltigkeit der  daraus  entstehenden  neuen  Verhältnisse  bringt  Mannig- 
faltigkeit und  Neuheit  in  den  Ansichten  und  Ideen  hervor;  und 
der  menschliche  Geist  wäre  ohne  das  erweckende  Schauspiel  einer 
heftigen  und  fast  allgemeinen  Reibung  der  menschlichen  Kräfte 
vielleicht  nie  zu  einigen  seiner  erhabensten  Entdeckungen  gelangt. 
Ob  indess  nicht  auch  dies  eine  Gränze  kennt,  ob  nicht  die  Bildung 
wiederum  einen  Punkt  erreicht,  auf  dem  es  eben  so  nothwendig 
ist,  Einbildungskraft  und  Gefühl  in  einen  engen  Kreis  einzuschliessen, 
als  den  Verstand  in  eine  weite  Sphäre  zu  führen,  um  dem  Charakter 
die  Wärme  und  Kraft  zu  erhalten,  ohne  die  nichts  in  ihm  Frucht 
tragen  kann?    ist  eine  andre   und  gewiss    nicht  unwichtige  Frage. 

Allein  ohne  auch  in  diese  Untersuchung  einzugehen,  erregt 
der  Untergang  eines  Völkerstamms,  sollte  er  gleich  als  ein  dem 
wohlthätigen  Geschick  der  ganzen  Menschheit  dargebrachtes  Opfer 
fallen,  immer  eine  wehmüthige  Empfindung  und  noch  mehr  der 
gänzliche  Untergang  einer  Sprache.  Den  Menschen  sind  wir  einmal 
gewohnt  uns  vergänglich  zu  denken;  also  wenn  auch  der  Laut  auf 
ewig  verstummt,  in  dem  er  sonst  sich  selbst  überlebt, ■^)  wenn  die 
Form  zerbrochen  wird,  in  die  ein  eigner  Menschenstamm  seine  ^) 


*)  Praetorii   Nachricht   von    der    Preussischen    Sprache    in    Actis   Bornss.     V.    2. 
p.  900.  (?  Schlözers  Nord.  Gesch.  p.  9.  34.)  *) 

**)  Steht,  wenn  ich  mich  nicht  irre,  in  den  Origines  Gauloises.    p.  114. 

^)  „Cultur"  verbessert  aus  „Schicksale". 

*)  „in  —  überlebt"   verbessert  aus  ,,der  sonst  Menschenalter  an  Menschen- 
alter knüpft". 

^)  „ein  eigner  Menschenstamm  seine"  verbessert  aus  „eine  eigne  Menschen- 
gattung ihre". 

*)  Vgl.  Band  6,  1^6  Anm.  i. 


Einleitung.  I  j 

Gedanken  und  Empfindungen  goss,^)  dann  scheint  sein  Untergang 
doppelt  wehmüthig,  weil  nun  alle  Verbindung  zwischen  ihm  und 
der  Folgezeit  hinweglällt.  Selbst  wenn  eine  Sprache,  noch  durch 
keine  Literatur  verfeinert,  nur  der  reine  Ausdruck  der  Denkart 
eines  rohen  Volkes  ist,  bleibt  ihr  Verlust  keinesweges  gleichgültig. 
Denn  auch  in  der  höchsten  Cultur  giebt  es  unläugbar  einen  Punkt, 
auf  dem  die  zartesten  -)  Regungen  der  verfeinerten  Empfindung 
von  selbst  in  die  einfachen  Ergiessungen  des  natürlichen  Gefühls 
zurückkehren,  und  auf  dem  in  einer  wahrhaft  cultivirten  Nation 
die  am  sorgfältigsten  ausgebildeten  Individuen  in  fortwährender 
und  gegenseitiger  Berührung  mit  dem  schlichten,  aber  gesunden 
Theile  des  Volks  stehn. 

Gerade  dadurch,  dass  die  Vaskische  Sprache  Volkssprache  ist, 
und  dass  man  in  den  Vasken  mehr  gesunde  Richtigkeit  des 
Unheils,  als  wissenschaftliche  Bildung,  mehr  natürlich  warmes  und 
lebendiges  Gefühl,  als  verfeinerte  Empfindsamkeit  suchen  muss, 
flösst  diese  Sprache  und  diese  Nation^)  ein  noch  lebendigeres*) 
Interesse  ein.  Sobald  eine  Sprache  literarische  und  wissenschaft- 
liche Bildung  bekommt,  wird  sie  den  Händen  des  Volks  entrissen, 
und  selten  gewinnt  sie  nachher  noch'^)  an  Energie  oder  Reichthum.**) 
Denn  immer  empfängt  sie  ein  sinnlicheres  '^)  und  mannigfaltigeres 
Gepräge  in  dem  Gebrauche  *)  des  Volks,  als  in  dem  der  Schrift- 
steller; sie  muss  erst  im  Munde  eines  kräftigen  und  weit  ver- 
breiteten Völkerstamms  (dessen  ursprünghches  Eigenthum  sie  ist) 
zum  Ausdruck  der  unmittelbarsten  Bedürfnisse,  der  natürlichsten 
Empfindungen,  der  kindlichsten  Phantasie,  ja  selbst  der  rohesten 
Leidenschalten  gedient  haben,  ehe  sie  unter  späteren  verfeinerten 

^)  Nach  „goss"  gestrichen:  „nun  bis  zur  Vertilgung  ihrer  letzten  Spur  ver- 
nichtet wird,  können  daher  wohl  nur  diejenigen  mit  Gleichgültigkeit  untergehen 
sehen,  die  auf  alles,  was  sie  roh  und  ungebildet  nennen,  mit  schnöder  Verachtung 
hinabschauen,  und  nicht  hohe  Menschlichkeit  genug  in  sich  tragen,  um  den 
zarten  Punkt  zu  erkennen,  yvo  .  .  .  ." 

^)  „zartesten"  verbessert  aus  „feinsten". 

^)  Nach  „Nation"  gestrichen :  „demjenigen,  der  den  Menschen  nicht  bloss  in 
Individuen,  sondern  auch  in  Massen  zu  beobachten  liebt". 

*)  „lebendigeres"  verbessert  aus  „höheres". 

^)  „nachher  noch"  verbessert  aus  „durch  die  Berichtigung  imd  Erweiterung, 
die  sie  nachher  erhält". 

^)  Nach  „Reichthum"  gestrichen :  „meistentheils  vielmehr  biisst  sie  dadurch  an 
beiden  zugleich  ein." 

')  „sitinlicheres"  verbessert  aus  „kräftigeres". 

*)  „Gebrauche"  verbessert  aus  „Munde". 


j2  Die  Vasken. 

Generationen  durch  Lebendigkeit,  Stärke  und  Tiefe  zum  höchsten 
geistigen  Gebrauch  fähig  werden  kann.  Der  Mensch  ist  einmal 
bestimmt,  sich  gesellschaftlich  auszubilden;  der  einzelne  muss 
sich  immer  an  eine  Masse  anschliessen,  und  alles  Menschliche 
berührt  sich  zugleich  in  der  Einfachheit  der  Natur  und  der 
höchsten  Blüthe  der  Ausbildung.  Ohne  einen  entschiednen,  festen 
und  kräftigen  Volkscharakter  erwartet  man  daher  vergebens  auch 
in  der  feinsten  Bildung  einer  Nation  Wahrheit,  Stärke  und  Haltung. 
Je  unermesslicher  aber  die  Kluft  zwischen  dem  Volk  und  den 
gebildeten  Ständen  der  Nation  wird,  desto  seltner  wird  auch  die 
Erscheinung  von  Volkscharakteren. ^)  Will  man  daher  dieselben 
noch  jetzt  in  reger  und  lebendiger  Thätigkeit  sehen,  so  muss  man, 
gerade  der  Cultur  ausweichend,  in  Gegenden  gehen,  wohin  sie  noch 
weniger  gedrungen  ist.  Bei  den  Vasken  aber  kommen  noch  ausser- 
dem mehrere  Umstände  zusammen,  die  Erscheinung  auffallender 
und  belehrender  zu  machen. 

Die  Vasken,  vorzüglich  die  Spanischen,  sind  nicht  bloss  arme 
Gebirgshirten  oder  gar  unterdrückte  Leibeigne.  Sie  sind  ein 
Ackerbau,  Schif  farth  und  Handlung  treibendes  Volk  und  ermangeln 
des  körperlichen  Wohlstandes  nicht,  ohne  den  alles  sittliche  Ge- 
deihen unmöglich  ist.  Sie  haben  eine  freie  Verfassung,  öffentliche 
Berathschlagungen  grossentheils  in  ihrer  Landessprache,  also  ein  ge- 
meinschaftliches Interesse,  das  jeden  angeht  und  für  das  jeder 
thätig  seyn  kann.  Von  einem,  manchem  Fremden  vielleicht  wunder- 
bar scheinenden  Enthusiasmus  für  ihr  Land  und  ihre  Nation  beseelt, 
bleiben  auch  die  Begüterten,  auch  die,  welche  Ehrentitel  in  Casti- 
lien  empfangen,  oder  angesehene  Aemter  bekleidet  haben,  gern 
ihrer  Heimath  getreu,  und  in  dieser  leben  sie  nothwendig  in  einer 


'■)  „sie  muss  —  Volkscharakteren"  verbessert  aus  „und  wenn  einige  neuere 
Sprachen  sich  vorzugsweise  vor  andern  durch  Lebendigkeit,  Stärke  und  Tiefe  des 
Ausdrucks  auszeichnen,  so  rührt  dies  vielleicht  nur  davon  her,  dass  sie  länger, 
als  jene,  bloss  Volkssprachen  waren,  oder  von  weiter  verbreiteten,  oder  kräftigeren 
Stämmen  gebildet  wurden.  Ueberhaupt  beachtet  man  wohl  nicht  genug  die 
Wichtigkeit  der  Ausbildung,  welche  das  Volk  durch  den  blossen  freien,  aber 
wohlgeregelten  Gebrauch  seiner  Kräjte,  ohne  wissenschajtliche  Cultur,  sich  selbst 
zu  geben  im  Stande  ist.  Gewiss  aber  ist  dieselbe  einer  Nation  nicht  bloss  für  ihren 
Wohlstand  und  ihre  Sittlichkeit  wichtig,  sondern  sie  wirkt  auch  auf  eine  sehr 
bedeutende  Weise  auf  ihre  Fortschritte  in  der  höchsten  und  feinsten  Entwicklung 
von  Ideen  und  Gefühlen  ein.  Freilich  aber  ist  eine  solche  Ausbildung  in  der 
heutigen  Lage  unsrer  Cultur,  welche  die  Klujt  zwischen  dem  Volk  und  den 
gebildeten  Ständen  immer  unermesslicher  macht,  auch  immer  seltener  anzutreffen.'' 


Einleitung. 


13 


sogar  sehr  grossen  Gemeinschaft  mit  der  Masse  des  Volks,  da  sie 
sich  ebensowenig  von  den  Sitten  als  der  Sprache  desselben  aus- 
schliessen  können.  So  geht  immer  ein  gewisser  Theil  neuerer 
Aufklärung  und  Bildung  in  die  Volkssprache  und  die  Volksbe- 
griffe über,  und  es  giebt  eine  minder  sichtbare  Absonderung  der 
Stände,  deren  \"erschiedenheit  in  den  Augen  des  ächten  Vizcayers 
sogar  gänzlich  hinwegfällt.  Auch  muss  es  jedem  Reisenden  schon 
an  der  Physiognomie  des  Landes  und  der  Menschen  sichtbar  seyn, 
dass  in  den  Vaskischen  Pro\dn2en  das  Volk  mehr  natürliche  Bil- 
dung, und  die  Vornehmen  mehr  Popularität  besitzen,  als  in  dem 
benachbarten  Spanien  und  Frankreich.  Hierin  kann  man  nur  die 
kleinen  Cantons  der  Schweitz  mit  ihnen  in  Vergleichung  stellen, 
denen  aber  ihre  politische  Unabhängigkeit  eine  andre  äussere  und 
ihre  geringere  Absonderung,  da  sie  keinen  besondern  Völkerstamm 
ausmachten,  auch  eine  andre  innere  Lage  gab. 

Den  Vasken  zeichnet  Sprache,  Verfassung,  Sitte,  Gesichtsbil- 
dung, alles  mit  einem  Wort,  was  ihn  umgiebt,  den  Anblick  seines 
Landes  selbst  nicht  ausgenommen,  als  einen  reinen  und  abgeschie- 
denen Völkerstamm  aus.  Seine  tief  in  ihn  verwebte  Eigenthümlich- 
keit  ist  durchaus  unabhängig  von  äussern  und  zufälligen  Ursachen; 
ja  weder  nah,  noch  fern,  kennt  er  einen  verbrüderten  Stamm, 
sondern  steht  in  seinem  kleinen  Bezirk,  zwischen  dem  Gebirge 
und  dem  Ocean,  allein  und  inselmässig  da.  Was  also  reiner 
Stammcharakter  heisst  und  wie  er  entsteht,  lässt  sich  nirgend 
besser  prüfen,  als  an  ihm.  In  dem  Fortgange  der  Bildung  müssen 
freilich  die  grellen  Contraste  der  Nationalcharaktere  abgeschlif- 
fen werden,  und  insofern  könnte  diese  Prüfung  nur  der  Gegen- 
stand einer  müssigen  Neugierde  scheinen.  Aber  einen  Theil  jener 
Charactere  sorgfältig  zu  erhalten  und  zu  nähren,  und  ihnen  auch 
in  der  feineren  Bildung,  ihn  mit  in  dieselbe  hinüberführend, 
Gültigkeit  zu  verschaffen,  gehört  gewiss  zu  den  nur  noch  wenig 
beachteten  Mitteln,  einer  Nation  Kraft  und  Charakter  zu  erhalten, 
über  deren  Mangel  man  so  oft  gerechte  Klage  führt.  Denn  jeder 
Versuch  der  Bildung  ist  übelverstanden,  der  nicht  den  Einfluss 
auch  der  blossen  Natur,  so  viel  es  geschehen  kann,  lebendig 
erhält. 

Die  Stammeigenthümlichkeit  der  Vasken  weist  auf  entfernte 
Jahrhunderte,  auf  die  Zeit  vor  der  Römischen  und  Karthagischen 
Herrschaft  und  die  ersten  Bevölkerer  Spaniens  zurück.  Sie  nimmt 
natürlich  mit  dem  häufigeren  Verkehr  zwischen  ihnen  und  ihren 


14 


Die  Vasken. 


Nachbarn  nach  und  nach  ab,  aber  wie  sie  sich  auch  in  der  Folge 
vermischen  und  anders  gestalten  mag,  so  wird  noch  lange  Zeit 
hindurch  immer  ein  gewisser  Theil  davon  übrigbleiben.  Es  ent- 
stehen daher  zwei  wichtige  Fragen,  eine  historische  und  eine  po- 
litische: woher  rührt  der  Stamm  und  die  Sprache  der  Vasken, 
und  mit  welchen  andern  Stämmen  und  Sprachen  smd  beide 
verwandt?  und  wie  soll  die  Spanische  Monarchie  (denn  für  die 
Französische  Republik  können  ihre  Vaskischen  Districte  nur  eine 
sehr  geringe  Wichtigkeit  haben)  die  Vaskische  Nation  behandeln, 
um  ihre  Kräfte  und  ihren  Fleiss  für  Spanien  so  erspriesslich,  als 
möglich,  zu  machen? 

Die  erste  Frage  ist  oft  aufgeworfen,  aber  wohl  noch  nirgends 
gründlich  beantwortet  worden.  Fast  alle  Auflösungen,  die  man 
bisher  davon  gegeben  hat,  sind  weniger  das  Resultat  einer  aus- 
führlichen und  gründlichen  Untersuchung,  als  willkührliche  Ent- 
scheidungen der  Systemsucht  und  des  Partheigeistes.  Auch  ist 
wohl  kein  Ausländer,  der  über  diese  Materie  geschrieben  hat  (denn 
die  inländischen  Schriftsteller  sind  aus  andern  Gründen  verdäch- 
tig), von   einer  hinlänglichen  Kenntniss   der  Sprache  ausgegangen. 

Die  zweite  Frage  hat  ein  höheres  praktisches  Interesse,  und  das 
um  so  mehr,  als  gerade  jetzt  der  Fall  häufiger  wird,  dass  ver- 
schiedene Völkerstämme  in  denselben  Staat  vereinigt  werden. 
Man  muss  aber  frei  gestehen,  dass  man  bisher  wohl  immer  mehr 
daran  gedacht  hat,  nur  die  Schwierigkeiten  hinwegzuräumen, 
welche  die  Verschiedenheit  entgegensetzt,  als  das  Gute  zu  benutzen, 
das  die  Eigenthümlichkeit  mit  sich  führt. 

Diese  und  ähnliche  Betrachtungen  machten  mir,  seitdem  ich 
den  Entschluss  fasste,  Spanien  zu  bereisen,  die  Vaskische  Nation 
und  Sprache  zu  einem  anziehenden  Gegenstande  der  Untersuchung. 
Ich  studirte  die  Vaskische  Grammatik,  suchte  Nachrichten  über 
das  Land,  aber  es  fehlte  mir  an  den  nöthigen  Hülfsmitteln,  vorzüglich 
an  dem  sehr  seltenen  Wörterbuch,  das  keine  der  verschiedenen 
öffentlichen  Bibliotheken  in  Paris,  wo  ich  mich  damals  aufhielt, 
besitzt.  Als  ich  zum  erstenmal  im  Herbst  1799.  nach  Spanien 
gieng,  hatte  ich  nicht  Zeit  die  Vaskischen  Provinzen  einzeln  zu 
bereisen ;  ^)  auch  war  ich  zu  fremd  in  Spanien  selbst,  als  dass  ich 
eine  solche  Reise  hinlänglich  hätte  benutzen  können.  Ich  fuhr 
nur,  wie    jeder  von  Bayonne    nach  Madrid   Reisende,  durch   den 


^)  „bereisen"  verbessert  aus  „durchstreifen." 


Einleitung.  I  c 

weniger  eigenthümlichen  Theil  des  Landes  hin.  Aber  die  schöne 
Abwechslung  freundlich  bewachsner  Hügel  und  lieblich  durch- 
wässerter Thäler,  die  üppige  Frische  des  Baumwuchses,  die  sorg- 
fältige Bebauung  des  Landes,  in  lauter  kleinen,  meist  mit  leben- 
digen Hecken  befriedigten  Gartenstücken,  die  Reinhchkeit  der 
Dörfer  und  Städte,  und  vor  allem  die  muntre  und  anziehende 
Physiognomie  der  Bewohner,  flössten  mir  schon  damals  grosse 
Lust  ein,  länger  in  dieser  Gegend  zu  verweilen.  Nach  meiner 
Rückkunft  nach  Paris  im  Sommer  1800.  nahm  ich  mein  unter- 
brochenes Studium  des  Vaskischen  wieder  vor,  ich  erhielt  die 
nöthigen  Hülfsmittel,  das  gedruckte  Wörterbuch,  und  ein  andres 
handschriftliches,  das  sich  in  der  Sammlung  der  Nationalbibliothek 
befindet,  ich  las,  was  die  Reisebeschreiber  von  dem  Ländchen 
und  der  Nation  sagen,  vorzüglich  des  Engländers  Bowles*)  zwar 
nicht  gerade  sehr  bedeutende,  aber  mit  der  Theilnahme  an 
seinem  Gegenstand,  die  auch  den  Leser  ergreift,  geschriebene 
Abhandlung,  und  ging  mit  mehreren  Landeseingebohrnen,  Fran- 
zosen und  Spaniern,  um,  durch  deren  Güte  ich  manche  sehr  schätz- 
bare Nachrichten  erhielt.  Durch  dies  alles  zusammengenommen 
stieg  meine  Begierde,  das  Land  selbst  genau  zu  durchreisen,  aufs 
höchste.  Denn  ich  sähe  wohl  ein,  dass  eine  bloss  gesprochene 
Sprache  nicht  anders  als  an  Ort  und  Stelle  erlernt  werden  könne. 

Gerade  um  diese  Zeit,  im  Anfange  des  Aprils  des  vorigen 
Jahrs,  reiste  mein  Freund,  Herr  B.  von  Paris  über  Bayonne  nach 
Cadiz.^)  Er  schlug  mir  vor,  ihn  bis  an  die  Gränze  von  Castilien 
zu  begleiten,  und  da  ich  gerade  hinlängliche  Vorkenntnisse  ge- 
sammelt hatte,  die  Reise  mit  Nutzen  anzustellen,  auch  meine  Be- 
k£inntschaften  in  Paris  mir  den  Weg  zu  den  interessantesten  Männern 
in  dem  Lande  selbst  öfneten,  so  fasste  ich  schnell  den  Entschluss, 
den  Vorschlag  anzunehmen.  Vier  und  zwanzig  Stunden  darauf 
reisten  wir  ab ;  ich  verlebte  zwei  glückliche  Monate  theils  im  Spani- 
schen, theils  im  Französischen  Vaskenlande ;  und  immer  werde  ich 
diesen  an  den  Ufern  des  ßisca^ischen  Busens  zugebrachten  Früh- 
ling für  einen  der  schönsten  meines  Lebens  ansehn. 

Mein  Hauptaugenmerk  bei  dieser  Reise  war  die  Sprache ;  ich 
wusste  nach  den  Erkundigungen,  die  ich  eingezogen  hatte,  vorher, 
dass   ich  einige  Personen  in  dem  Lande  antreffen  würde,   welche 

*)  Indroduccion  ä  la  hist.  natural  y  ä  la  Geografia  fisica  de  Espana  por  D. 
Guülertno  Bowles.    Madrid  1775.    ^1.  4.   S.  281. 
')  „Cadiz"  verbessert  aus  „Madrid". 


Wir  waren  in  neun  Tagen  von  Paris  bis  Bayonne  gereist. 
Wir  waren  an  den  fruchtbaren  Ufern  der  Loire  hin  geflogen, 
hatten  den  ehemals  berühmten,  nun  vergessenen  Mauern  von  Blois, 
Amboise,  Tours,  Poitiers  und  Angouleme  einen  flüchtigen  Blick 
geschenkt,  waren  drei  Tage  in  Bordeaux  geblieben,  und  hatten 
endlich  durch  die  wenig  bebauten  dürren  Landen  Bayonne  er- 
reicht. 

Wir  schickten  uns  jetzt  an,  nachdem  wir  Frankreich  fast 
seiner  ganzen  Breite  nach  im  Fluge  durchstrichen  hatten,  das 
kleine  Vaskenland  Schritt  vor  Schritt  zu  bereisen.  Wir  veriiessen 
doch  aber  Bayonne  nicht,  ohne  vorher  Biarits  zu  besuchen,  den 
gewöhnlichen  Badeplatz   der  Bayonner  und   eine   der  reizendsten 

Gegenden. 

Die  Häuser  des  Orts  liegen  auf  Felsen  zerstreut,  welche  un- 
mittelbar das  Meer  bespült.  Der  Stein,  aus  dem  der  Felsen  be- 
steht,^)  ist  sehr  locker,  und  das  Meer  hat  mannigfaltige  Holen 
darin  gebildet;  einzelne  mächtige  Stücke  haben  sich  von  ihm  los- 
getrennt und  ragen,  zum  Theil  in  beträchtlicher  Entfernung  vom 
Ufer,  aus  den  Fluten  hervor,  die  sich  mit  majestätischem  Brausen 
an  ihnen  brechen.  Was  man  von  einer  schönen  Meeresansicht 
erwarten  kann,  findet  sich  hier  vereint,  mahlerisöhe  Gestalten  eines 
felsigten  Ufers  in  der  Nähe  und  ein  unbeschränkter-)  Blick  auf 
die  ungeheure  Fläche.  Zur  Rechten  sahen  wir  die  Gegenden,  die 
wir  nun  bald  genauer  kennen  lernen  sollten,  St.  Jean  de  Luz, 
das  Spanische  Biscaya,  die  Gebirge  von  Fontarrabia  und  Lezo,  zur 
linken  die  flacheren  Französischen  Ufer  gegen  den  Ausfluss  des 
Adour  und  die  gefürchtete  Barre  —  eine  gefähriiche  Sandbank 
vor  demselben. 

1)  „aus  —  besteht"  verbessert  aus  „der  den  Felsen  bildet". 

2)  „unbeschränkter"  verbessert  aus  „freier". 


St.  Jean  de  Luz.  IQ 

Wir  verfolgten  auf  unserm  Rückweg  zur  Stadt  das  Ufer  auf 
dieser  Seite  noch  eine  Strecke  hin.  Ueberall  fanden  wir  dieselbe 
Beschaffenheit  des  Ufers,  niedrige  Felsen  von  demselben  lockern 
Gestein  das  sich  in  flach  über  einander  geschobenen  Lagen  ins 
Meer  hinein  erstreckt,  und  in  wunderbar  gewundenen  und  durch- 
löcherten Figuren,  und  der  dunkelgrauen  Farbe  verhärtetem 
Schlamme  gleicht. 

An  einer  Stelle  überraschte  uns  ein  sonderbarer  Anblick. 
Etwa  zweihundert  Schritt  vom  Ufer  stand  ein  einzelner  Fels  im 
Meer,  der  sich  unten  in  einem  weiten  Bogen  öfnete.  Die  Fluth 
war  eben  zurückgetreten,  und  es  wimmelte  um  den  Fels  von 
Menschen,  Männern,  Weibern,  und  halb  erwachsenen  Knaben, 
die  mit  Fischen  in  der  niedrigen  Fluth  beschäftigt  waren.  Die 
meisten  angelten,  einige  suchten  Muscheln,  ein  Paar  Männer 
schwammen  in  dem  tieferen  Wasser  jenseits,  und  stiegen  her- 
nach ^)  mit  vieler  Behendigkeit  auf  den  glattgespülten  Fels,  oben 
einige  Vogelnester  auszunehmen.  Die  aufgeschreckten  Mütter 
umflatterten  ängstlich  ihre  zerstörten  Nester,  und  der  Haufe  unten 
nahm  einen  lebhaften  Antheil  an  dem  Erfolge  der  Jagd.  -) 

Der  Zweck  unsres  Spatziergangs  war  eigentlich  eine  Grotte  zu 
sehen,  die  man  die  Grotte  der  Liebe  [la  grotte  d'ajnour)  nennt. 
Wir  wurden  aber  für  unsre  Anstrengung,  da  der  Tag  schon 
ziemlich  heiss  war,  sehr  schlecht  belohnt.  Denn  die  Grotte  hat, 
ausser  ihrem  Namen,  und  der  Fabel,  dass  dort  ein  Paar  Liebende 
Zuflucht  gegen  Verfolgung  gefunden  hätten,  schlechterdings  nichts 
merkw^ürdiges. 

St.  Jean  de  Luz. 

Dem  Wege  von  Bayonne  nach  St.  Jean  de  Luz  fehlt  es  an 
Bäumen  und  Schatten.  Sonst  würde  er  durch  den  Anblick  der 
Pyrenaeen  und  des  Meers,  und  die  reizend  auf  kleinen  Anhöhen 
zerstreuten,  immer  von  ihren  Gärten  und  Ackerbesitzungen  um- 
schlossenen Häuser  von  Bidart  und  Gatal  eben  so  anmuthig  ^)  als 
mahlerisch  seyn. 

Die  Einwohner  von  Bidart  treiben  einen  beständigen  kleinen 


')  'Nach  „hernach"  gestrichen:  „ganz  nackt,  wie  sie  waren". 
*)  Nach  „Jagd"  gestrichen:  „Ein  schöner  Stoff  für  einen  Landschaftsmahler 
zum  Vordergriinde  eines  Meerstücks  (verbessert  aus  „für  eine  Meeresaussicht"). '^ 
')  „anmuthig"  verbessert  aus  „bezaubernd". 


20  Die  Vasken. 

Handel  und  Waarentransport  zwischen  St.  Sebastian  und  Bayonne. 
Sie  bedienen  sich  dazu  sehr  kleiner,  aber  muntrer  und  starker 
Pferde.  Dies  ganze  Geschält  aber  ist  den  Weibern  und  Mädchen 
überlassen,  da  die  Männer  sich  mit  Schiffarth  und  Fischerei  be- 
schäftigen. Dem  Reisenden,  der  nur  eine  kleine  Excursion  in  die 
nächstgelegnen  Gegenden  Guipuzcoas  vornehmen  will,  bieten 
diese  Bidartinerinnen,  deren  man  täglich  viele  in  den  Strassen  von 
Bayonne  antrift,  die  leichteste  und  sicherste^)  Gelegenheit  dar. 
Sie  bringen  ihn  ohne  alle  Weitläuftigkeit  über  die  Spanische  Grenze, 
und  ihr  Cacaulet  ist  nicht  nur  eine  äusserst  bequeme,  sondern 
auch  sehr  gesellschaftliche  Art  zu  reisen,")  da  immer  zwei  Per- 
sonen auf  demselben  Pferde  reiten.  Zu  jeder  Seite  eines  gewöhn- 
lichen Saumsattels  wird  nemlich  ein  kleiner,  mit  Lehnen  und 
Fussschemeln  versehener  Strohstuhl,  und  zwar  nicht  quer,  sondern 
gerade  wie  beim  gewöhnlichen  Reiten,^)  angebracht.  Auf  diesen 
sitzt  man  fast  gleich  gemächlich,  als  in  seiner  Stube,  da  man  die 
Bewegung  des  Thiers,  die  man  nicht  unmittelbar  theilt,  nur  wenig 
fühlt,  und  kann  voller  Behaglichkeit  der  Gegend  und  des  Gesprächs 
gemessen;  ja  ich  sah  manchmal  die  Reisenden  noch  auf  dem 
Rücken  des  Pferdes  zwischen  den  Stühlen  Karten  spielen.  Das 
einzige  iJebel  dabei  ist  die  Unzertrennlichkeit,  in  der  die  beiden 
Reitenden  mit  einander  stehen.  Denn  natürlich  kann  keiner  von 
beiden  allein  absteigen,  ohne  den  andern  dadurch  herunterzu- 
kippen. 

In  Rücksicht  der  Arbeitsamkeit  scheinen  beide  Geschlechter 
in  Bisca3^a  und  besonders  im  Französischen  Basquenlande  die 
Rollen  vertauscht  zu  haben.  Nirgends  sah  ich  so  viele  und  müh- 
selige Arbeit  von  Weibern  verrichtet,  als  hier.  In  dem  spanischen 
Antheil  durchbrechen  sie  oft,  über  der  sauren  Laya^  einem  Acker- 
werkzeug, das  ich  in  der  Folge  beschreiben  werde,  gebückt,  den 
strengsten  und  härtesten  Boden;  in  Bilbao  tragen  sie,  beim  Aus- 
laden der  Schiffe,  die  schwersten  Lasten,  besonders  Eisenstangen, 
mit  denen  dort  häufig  Handel  getrieben  wird,  auf  dem  Kopf  vom 
Fluss  in  die  Gewölber;  selbst  in  Schmieden  sah  ich  sie  mit  dem 
Hammer   am  Ambos    beschäftigt.     Das   Merkwürdigste    aber  ist, 


')  „sicherste"  verbessert  aus  „beste". 

^)  „eine  —  reisen"  verbessert  aus  „die  bequemste  und  gesellschaftlichste  Art  zu 
reisen,  die  es  geben  kann". 

^)  „quer  —  Reiten"  verbessert  aus  „zur  Seite,  sondern  in  derselben  Rich- 
tung, in  der  das  Pferd  geht". 


St.  Jcuii  de  Luz.  21 

dass  sie  mit  dieser  ungewöhnlichen  Stärke  zugleicli  eine  gleich 
grosse  •)  Schnelligkeit  und  Behendigkeit  verbinden. 

Diese  bewunderte  ich  vorzüglich  an  den  sogenannten  Stir(/i- 
//ürt's  oder  Sardellentriigerinnen,  von  denen  mir  auf  dem  Wege 
nach  St.  Jean  de  Luz  viele '^j  begegneten.  Es  ist  ein  närrischer") 
Anblick,  wenn  man  von  lern  fünf  bis  sechs,  manchmal  aber  auch 
zehn  bis  zwanzig  meistentheils  lange  imd  magre  weibliche  Ge- 
stalten, grosse  runde  verdeckte  Fischkörbe  auf  dem  Kopf,  die  sie 
frei,  und  ohne  sie  zu  halten,  tragen,  nach  einander  in  einer  Reihe 
hinter  einer  Anhöhe  emporkommen,  und  fast  ohne  alle  Bewegung 
mit  dem  Leibe  steif  auf  sich  zu  traben  sieht.  Denn  jede  eilt  die 
erste  zu  seyn ,  ihre  Sardellen  in  Bayonne  auszurufen,  und  so 
laufen  sie  den  ganzen  Weg  in  einem  Trabe,  und  gehen  höchstens 
da  langsamer,  *)  wo  er  steiler  bergan  steigt.  In  der  Zeit,  wo  der 
Fang  sehr  stark  geht,  bringen  sie,  wie  man  mich  versicherte, 
wohl  auch  ihre  Waarc  zweimal  des  Tages  zu  Markt,  und  legen 
also,  trotz  des  schattenlosen  Weges,  und  der  brennenden  Sonnen- 
hitze, diesen  etwa  3  französische  Meilen  langen  Weg  viermal  in 
demselben    Tage  zurück. 

Ihre  Bekleidung  ist,  wie  man  denken  kann,  sehr  leicht,  die 
Füsse  ganz  nackt,  die  Arme  nur  mit  den  Hemdärmeln  bedeckt 
und  der  Kock  bis  auf  die  halben  Schenkel  aufgeschürzt,  so  dass 
das  Hemde  darunter  nur  bis  ans  Knie  oder  wenig  darüber  reicht. 
Die  Leichtigkeit  ihres  (langes,  die  schon  der  sichre  und  geschickte 
Tritt  verräth,  drückt  sich  auch  in  dem  Bau  ihres  Körpers  aus. 
Ivist  alle  haben  gutgeformte  sogar  zierliche'"')  Beine,  einen  feinen 
Knochenbau  und  rein  ausgearbeitete  Muskeln,  an  keiner  sieht 
man  ungeschickt  hervorstehende  Knöchel,  plumpe  oder  nieder- 
gedrückte Waden.  Dagegen  scheint  die  unselige  Arbeit ")  jede 
üppige  VüWe  des  Wuchses  weggeschnitten  zu  haben,  und  ob  man 
gleich  gewöhnlich  alle  Alter  beisammen  sieht,  so  lindet  man  selten 
eine  eigentlich  hübsche;  doch  sind  die  meisten  gross,  schlank  und 
von  richtigen  Verhältnissen.  Dem  Oberleibe  und  der  Haltung 
<ier  Arme   giebt   das   häutige   Tragen   auf  dem    Kopf")   natürlich 

')  „gleich  grosse"  verbessert  aus  „noch  bewiindcrnsiviirdigere". 

')  „viele"  verbessert  aus  „mehrere  Haufen". 

•)  ,,närrischer"  verbessert  aus  „wunderbarer'-. 

*)  „gehen  —  langsamer"  verbessert  aus  „ni/in  ItDcli.^tcns". 

")  „sogar  zierliche"  verbessert  aus  „rein  au.sgcarbcitcte". 

«)   Vgl.  Band  7.  5rp. 

')  „das  —  Kopf  verbessert  aus  „die  Stellung". 


20  Die  Vasken. 

Handel  und  Waarentransport  zwischen  St.  Sebastian  und  Bayonne. 
Sie  bedienen  sich  dazu  sehr  kleiner,  aber  muntrer  und  starker 
Pferde.  Dies  ganze  Geschäft  aber  ist  den  Weibern  und  Mädchen 
überlassen,  da  die  Männer  sich  mit  Schiffarth  und  Fischerei  be- 
schäftigen. Dem  Reisenden,  der  nur  eine  kleine  Excursion  in  die 
nächstgelegnen  Gegenden  Guipuzcoas  vornehmen  will,  bieten 
diese  Bidartinerinnen,  deren  man  täglich  viele  in  den  Strassen  von 
Bayonne  antrift,  die  leichteste  und  sicherste^)  Gelegenheit  dar. 
Sie  bringen  ihn  ohne  alle  Weitläuftigkeit  über  die  Spanische  Grenze, 
und  ihr  Cacaulet  ist  nicht  nur  eine  äusserst  bequeme,  sondern 
auch  sehr  gesellschaftliche  Art  zu  reisen,")  da  immer  zwei  Per- 
sonen auf  demselben  Pferde  reiten.  Zu  jeder  Seite  eines  gewöhn- 
lichen Saumsattels  wird  nemlich  ein  kleiner,  mit  Lehnen  und 
Fussschemeln  versehener  Strohstuhl,  und  zwar  nicht  quer,  sondern 
gerade  wie  beim  gewöhnlichen  Reiten,  ^)  angebracht.  Auf  diesen 
sitzt  man  fast  gleich  gemächlich,  als  in  seiner  Stube,  da  man  die 
Bewegung  des  Thiers,  die  man  nicht  unmittelbar  theilt,  nur  wenig 
fühlt,  und  kann  voller  Behaglichkeit  der  Gegend  und  des  Gesprächs 
gemessen;  ja  ich  sah  manchmal  die  Reisenden  hoch  auf  dem 
Rücken  des  Pferdes  zwischen  den  Stühlen  Karten  spielen.  Das 
einzige  Üebel  dabei  ist  die  Unzertrennlichkeit,  in  der  die  beiden 
Reitenden  mit  einander  stehen.  Denn  natürlich  kann  keiner  von 
beiden  allein  absteigen,  ohne  den  andern  dadurch  herunterzu- 
kippen. 

In  Rücksicht  der  Arbeitsamkeit  scheinen  beide  Geschlechter 
in  Biscaya  und  besonders  im  Französischen  Basquenlande  die 
Rollen  vertauscht  zu  haben.  Nirgends  sah  ich  so  viele  und  müh- 
selige Arbeit  von  Weibern  verrichtet,  als  hier.  In  dem  spanischen 
Antheil  durchbrechen  sie  oft,  über  der  sauren  Laya^  einem  Acker- 
werkzeug, das  ich  in  der  Folge  beschreiben  werde,  gebückt,  den 
strengsten  und  härtesten  Boden;  in  Bilbao  tragen  sie,  beim  Aus- 
laden der  Schiffe,  die  schwersten  Lasten,  besonders  Eisenstangen, 
mit  denen  dort  häufig  Handel  getrieben  wird,  auf  dem  Kopf  vom 
Fluss  in  die  Gewölber;  selbst  in  Schmieden  sah  ich  sie  mit  dem 
Hammer   am  Ambos    beschäftigt.     Das   Merkwürdigste   aber  ist. 


')  „sicherste"  verbessert  aus  „beste". 

*)  „eine  —  reisen"  verbessert  aus  „die  bequemste  und  gesellschaftlichste  Art  zu 
reisen,  die  es  geben  kann". 

')  „quer  —  Reiten"  verbessert  aus  „zur  Seite,  sondern  in  derselben  Rich- 
tung, in  der  das  Pferd  geht". 


St.  Jean  de  Luz.  21 

dass  sie  mit  dieser  ungewöhnlichen  Stärke  zugleich  eine  gleich 
grosse  ^)  Schnelligkeit  und  Behendigkeit  verbinden. 

Diese  bewunderte  ich  vorzüglich  an  den  sogenannten  Sardi- 
nieres  oder  Sardellenträgerinnen,  von  denen  mir  auf  dem  Wege 
nach  St.  Jean  de  Luz  viele  -)  begegneten.  Es  ist  ein  närrischer  ^) 
Anblick,  wenn  man  von  fern  fünf  bis  sechs,  manchmal  aber  auch 
zehn  bis  zwanzig  meistentheils  lange  und  magre  weibliche  Ge- 
stalten, grosse  runde  verdeckte  Fischkörbe  auf  dem  Kopf,  die  sie 
frei,  und  ohne  sie  zu  halten,  tragen,  nach  einander  in  einer  Reihe 
hinter  einer  Anhöhe  emporkommen,  und  fast  ohne  alle  Bewegung 
mit  dem  Leibe  steif  auf  sich  zu  traben  sieht.  Denn  jede  eilt  die 
erste  zu  seyn,  ihre  Sardellen  in  Bayonne  auszurufen,  und  so 
laufen  sie  den  ganzen  Weg  in  einem  Trabe,  und  gehen  höchstens 
da  langsamer,  *)  wo  er  steiler  bergan  steigt.  In  der  Zeit,  wo  der 
Fang  sehr  stark  geht,  bringen  sie,  wie  man  mich  versicherte, 
wohl  auch  ihre  W^aare  zweimal  des  Tages  zu  Markt,  und  legen 
also,  trotz  des  schattenlosen  Weges,  und  der  brennenden  Sonnen- 
hitze, diesen  etwa  3  französische  Meilen  langen  Weg  viermal  in 
demselben  Tage  zurück. 

Ihre  Bekleidung  ist,  wie  man  denken  kann,  sehr  leicht,  die 
Füsse  ganz  nackt,  die  Arme  nur  mit  den  Hemdärmeln  bedeckt 
und  der  Rock  bis  auf  die  halben  Schenkel  aufgeschürzt,  so  dass 
das  Hemde  darunter  nur  bis  ans  Knie  oder  wenig  darüber  reicht. 
Die  Leichtigkeit  ihres  Ganges,  die  schon  der  sichre  und  geschickte 
Tritt  verräth,  drückt  sich  auch  in  dem  Bau  ihres  Körpers  aus. 
Fast  alle  haben  gutgeformte  sogar  zierliche  ^)  Beine,  einen  feinen 
Knochenbau  und  rein  ausgearbeitete  Muskeln,  an  keiner  sieht 
man  ungeschickt  hervorstehende  Knöchel,  plumpe  oder  nieder- 
gedrückte Waden.  Dagegen  scheint  die  unselige  Arbeit^)  jede 
üppige  Fülle  des  Wuchses  weggeschnitten  zu  haben,  und  ob  man 
gleich  gewöhnlich  alle  Alter  beisammen  sieht,  so  findet  man  selten 
eine  eigentlich  hübsche ;  doch  sind  die  meisten  gross,  schlank  und 
von  richtigen  Verhältnissen.  Dem  Oberleibe  und  der  Haltung 
-der  Arme   giebt   das   häufige   Tragen   auf  dem   Kopf^)   natürlich 

„gleich  grosse"  verbessert  aus  „noch  bewundernswürdigere". 

„viele"  verbessert  aus  „mehrere  Haufen". 

,,närrischer"  verbessert  aus  „wunderbarer". 

„gehen  —  langsamer"  verbessert  aus  „ruhn  höchstens". 

„sogar  zierliche"  verbessert  aus  „rein  ausgearbeitete". 

Vgl.  Band  7,  ^g2. 

„das  —  Kopf"  verbessert  aus  „die  Stellung". 


22  Die  Vasken. 

eine  gezwungene  Steifigkeit,   und   die  Gesichtsmine   hat  den  Aus- 
druck einer  mühevollen  Anstrengung. 

Ich  bin  einen  Augenblick  länger  bei  dieser  Schilderung  ver- 
weilt, weil  sie  zugleich  die  Grundzüge  der  weiblichen  Basquischen 
Nationalphysiognomie  enthält.  Fast  durchgehends  hat  dieselbe 
mehr  Charakterausdruck,  als  Reiz,  feine  und  tief  ausgearbeitete 
Züge,  die  sich  bis  ins  hohe  Alter  hinein  erhalten,  und  in  der 
Schmalheit  der  Gesichter,  den  langen  gerade  heruntersteigenden 
Nasen,  den  schwarzen,  starken,  eng  zusammenstehenden  Augen- 
braunen einen  Ernst,  der  in  Strenge  übergeht,  aber  immer  durch- 
aus von  Castilianischer  Finsterkeit,  und  sorgenvoller  Schwermuth 
entfernt  ist. 

An  der  Seeküste,  besonders  in  Luz  kann  die  Lage,  in  der 
sich  dort  das  andre  Geschlecht  befindet,  leicht  einen  sichtbaren 
Einfluss  auf  die  Physiognomie  ausüben.  Fast  alle  Männer  sind 
in  diesen  Gegenden  Seeleute,  und  daher  ein  grosser  Theil  der- 
selben abwesend.  Von  St.  Jean  de  Luz  befanden  sich  namentlich 
zur  Zeit  meiner  Reise  viele  in  Englischer  Gefangenschaft.  In  der 
Abwesenheit  der  Männer  müssen  nun  die  Weiber  nicht  nur  allein 
ihr  Haus  erhalten,  sondern  auch  oft  noch  jenen  Geld  in  die 
Fremde  nachschicken.  Die  armen  Sardellenträgerinnen  haben  bei 
ihrem  mühseligen  Gewerbe  meistentheils  nur  einen  sehr  geringen 
Gewinn,  ja  manchmal,  wenn  die  Goncurrenz  der  Verkäuferinnen 
gross  ist,  noch  Verlust.  Dem  Weibe  des  Seemanns  kann  daher 
die  Unterhaltung  ihres  Hauswesens,  die  ihren  Kräften  allein  auf- 
gebürdet ist,  und  die  Sorge  über  ihren  in  steten  Gefahren 
schwebenden  Mann  leicht  eine  strengere  und  männlichere  Ge- 
sichtsbildung geben,  die  nach  und  nach  zur  Nationalphysiognomie 
eines  arbeitsamen  Küstenvolks  wird. 

Ueberhaupt  aber  ist  die  Arbeitsamkeit  des  weiblichen  Ge- 
schlechts einer  von  den  mehreren  Zügen,  durch  welche  sich  die 
schon  von  Strabo  bemerkte  Aehnlichkeit  der  Nordküste  ^)  Spaniens 
in  Sitten  und  Gewohnheiten  bewahrt,  und  durch  welche  dieselbe 
sich  vor  dem  Innern  und  vorzüglich  dem  Mittag  des  Landes  aus- 
zeichnet. In  dem  Gebirge  von  Pas,  beim  Thal  Carriedo,  im 
Norden  von  AltCastilien  tragen  die  Weiber  20  Spanische  Meilen 
in  die  Runde  auf  ihrem  Rücken  Butter  «und  Käse  herum,  und 
bringen   dafür  Waaren  zurück;   und  Campomanes   in   seiner   ge- 


')  „Nordküste"  verbessert  aus  „Nordbewohner". 


St.  Jean  de  Luz.  2^ 

haltvollen  Schrift  über  die  Volkserziehung  ^)  vergleicht  sie  mit  den 
Weibern  der  früheren  Menschenalter,  die  Juvenal*)  den  weich- 
lichen Damen  seiner  Zeit  entgegensetzt,  und  die  nach  ihm  selbst 
ihre  ungeschlachten  Männer  an  rauher  Stärke  übertrafen.  Uebrigens 
sind  diese  sogenannten  Pasiegas  gerade  durch  das  Gegentheil  dessen, 
was  man  an  den  Biscayerinnen  bemerkt,  nemlich  durch  plumpe 
ungeschickte  Dicke  und  Fülle  des  Wuchses  bekannt,  und  es  ist 
die  Frage  ob  der  Unterschied  des  Tragens  auf  dem  Rücken  und 
auf  dem  Kopf  nicht  schon  allein  diese  Verschiedenheit  hervor- 
bringt. Das  erstere  drückt  die  Gestalt  offenbar  unedler  nieder,  da 
das  letztere,  wenn  es  gelingen  soll,  schon  Leichtigkeit  und  Sicher- 
heit des  Ganges  und  eine  gewisse  Geschicklichkeit  in  der  Haltung 
voraussetzt.  In  Galicien  ist,  wie  mir  einsichtsvolle  Augenzeugen 
versicherten,  der  Unterschied  an  Geisteskräften  zwischen  beiden 
Geschlechtern  in  den  niedrigen  arbeitenden  Classen  beim  ersten 
Anblick  auffallend.  Die  Männer,  welche  durch  ganz  Spanien 
Last-  und  besonders  WasserträgerDienste  verrichten,  werden 
durch  diese  einförmige,  bloss  körperliche  Arbeit  durchaus  roh 
und  stumpf  und  die  aguadores  Gaüiegos  sind  nur  zu  häufig  das 
Ziel  des  Spanischen  Volksvvitzes,  da  den  indess  zu  Hause  allein 
wirthschaftenden  Weibern  die  mannigfaltigere  Sorge  für  ihr  Haus- 
wesen eine  sonst  ungewöhnliche  Einsicht  und  Gewandtheit  giebt. 
Diese  Geschäfts-Ivlugheit  (die,  im  Vorbeigehn  gesagt,  auch  in 
Frankreich  im  Ganzen  grösser  ist  als  in  Deutschland)  trift  man, 
und  zwar  in  höheren  Graden  auch  in  Biscaya  an.  In  Bilbao  ist 
es  nichts  Ungewöhnliches,  dass  Kaufmannsfrauen  nicht  nur  ihre 
Männer  bei  Führung  ihrer  Geschäfte,  auch  w^o  es  grossen  und  eigent- 
lichen Speculationshandel  betrift,  thätig  unterstützen,  sondern  auch 
demselben  allein  im  Grossen  und  im  Kleinen  mit  Glück  vorstehen. 

*)  silvestrem  montana  torum  curn  sterneret  iixor 
frondibiis  et  culnio  vicinanimque  ferarum 

pellibus  — 

sed  potanda  ferens  infantibus  ubera  magnis 

et  saepe  horridior  glandem  ructante  marito.    Sat.  6.^) 

wenn  das  Gebirgsweib  streuet  des  Walds  Ehbett  aus  Gezweigen, 

und  aus  schilfigem  Rohr  und  der  nahumschweifenden  Thiere 

Häuten  —  —  — 

aber  reichend  den  Kindern,  den  starken,  zu  trinken  die  Brüste 

und  oft  scheuslicher  noch  als  ihr  eichelnrülpsender  Gatte. 

^)  Seine  „Discursos  sobre  el  fomento  de    la   industria    populär  y    su   educacion" 
erschienen  Madrid  i-]']4—'j'j. 

*)  Juvenals  Satiren  6,  5. 


2A  Die  Vasken. 

Dagegen  führen  die  Weiber  in  Castilien,  in  dem  ganzen  Innern 
des  Königreichs,  und  in  den  mittäglichen  Provinzen,  wenn  man 
Catalonien  und  gewissermassen  Valencia  ausnimmt,  ein  fast  durch- 
aus müssiges  und  unthätiges  Leben.  Campomanes*)  hält  dies 
für  ein  Ueberbleibsel  der  bei  den  Mauren  üblichen  Einsperrung 
des  andern  Geschlechts,  welche  nothwendig  Trägheit  und  Schwäche 
zur  Folge  haben  musste.  Indess  ist  es  sonderbar,  dass  gerade  da, 
wo  die  Mauren  sich  am  längsten  aufhielten,  im  unteren  Andalusien, 
in  Granada  und  vorzüglich  in  Malaga  die  Frauen,  selbst  bei 
weniger  Bildung,  und  selbst  unter  dem  Volk,  eine  Lebhaftigkeit 
und  Gewandtheit  des  Geistes,  eine  Fülle  und  Feinheit  des  Witzes 
besitzen,  in  der  sie  die  Männer  weit  hinter  sich  zurücklassen, 
und  die,  verbunden  mit  ihrer  meistentheils  sehr  reizenden  Bildung, 
ihnen  eine  Liebenswürdigkeit  so  eigner  Art  giebt,  dass  der  Aus- 
länder sie  kaum  zu  ahnden  im  Stande  ist.^)  Müsste  man  hierin 
Spuren  Maurischer  Sitten  suchen,^  so  dürfte  man  in  der  That  ihren 
Einflüssen  so  abgeneigt  nicht  seyn.  Wenn  es  dagegen  einen 
Theil  Spaniens  giebt,  in  welchem  die  Weiber  im  Volk  weder 
die  Stärke,  welche  die  Arbeit  hervorbringt,  noch  den  Gesichts- 
ausdruck verrathen,  den  ein  heiter  beschäftigtes  Gemüth  giebt, 
so  sind  es  die  inneren  Provinzen,  namentlich  AltCastilien.  Es 
scheint  mir  daher  bei  weitem  wahrscheinlicher,  dass  die  vielfältigen 
unglücklichen  Einflüsse,  welche  Castilien  Jahrhunderte  hindurch 
verfolgten,  welche  den  Castilianer,  der  gewiss  an  innerm  Edel- 
muth  seinen  Nachbarn  aufs  wenigste  gleich  ist,  selbst  wider  seinen 
Willen  zu  Trägheit  und  Armuth  verdammten,  und  deren  Ent- 
wicklung ich  einer  andern  Gelegenheit  vorbehalte,  das  weibliche 
Geschlecht  doppelt  schwer  trafen  und  doppelt  tief  nieder- 
drückten. 

Hinter  Gatal  verliess  ich  die  Landstrasse  und  wählte  einen 
einsameren  Fusssteig  dicht  am  Meeresufer.  Es  war  ein  schöner 
Frühlingsmorgen,  und  die  sanft  gekräuselten  Wellen  funkelten  ^) 
in  unendlichem  Glanz.  An  dem  Abhänge  eines  der  Hügel,  an 
denen  ich  ritt,  war  ein  Quell,  zu  dem  die  Mädchen  des  be- 
nachbarten Orts,  grosse  irdene  Gefässe  ^)  auf  dem  Kopf,  Wasser 
zn  schöpfen  kamen.     Hinter  mir  sah  ich  Biarits   mit  seinen  weit 


*)  p.  86. 

^)  „sie  —  ist"  verbessert  aus  „keinen  Begriff"  davon  hat". 

2)  „funkelten"  verbessert  aus  „leuchteten". 

^)  Nach  „Gefässe"  gestrichen:  „beinah  von  der  Gestalt  unsrer  Thekannen". 


St.  Jean  de  Luz.  2C> 

ins  Meer  hinein  zerstreuten  einzelnen  Felsmassen,  vor  mir  St.  Jean 
de  Luz  und  im  Hintergrunde  die  Berge  von  Fuentarrabia. 

Die  Kette  der  Pyrenaeen  hat  ihren  höchsten  Gipfel  in  ihrer 
Mitte,  in  der  Gegend  von  Barreges  und  Gavarnie,  in  einer  Gruppe 
um  dtn  Moni  per  du  herum,  der,  1763.*)  toisen  hoch,  die  ganze  öst- 
liche und  westliche  Reihe  beherrscht.  Von  da  senkt  sie  sich  gegen 
beide  Meere  zu  hinab,  aber  in  ungleichen  Verhältnissen.  Die 
Westseite  steigt  allmählig  hernieder,  und  verliert  sich  an  dem 
Ufer  des  Oceans  in  unbedeutende  Hügel;  die  Ostseite  dagegen 
ist  steil  und  setzt  dem  Mittelmeer  schroffe  Vorgebirge  entgegen. 
Der  Weg  von  Perpignan  nach  Spanien  hat  daher  mit  Mühe  durch 
den  Fels  gehauen  werden  müssen,  da  der  von  Bayonne  nur 
zwischen  kleinen  Anhöhen  hinläuft. 

Ramond  beginnt  seine  an  ^)  grossen  und  glücklichen  Natur- 
ansichten reiche  Schrift  über  die  Pyrenaeen  mit  der  Bemerkung, 
dass  kein  andres  Gebirge  dem  Naturforscher  eine  solche  Regel- 
mässigkeit des  Baues  darbietet,  und  dies  bestätigt  sich  auch  durch 
das  gleichförmige  Absteigen  des  westlichen  Theils  ihrer  Kette. 
Vom  Vignemale  am  Ende  des  Thals  von  Cauteres,  der,  wenn 
man  an  den  wunderschönen  Wasserfällen  des  Gave  hin  den  Lac 
de  Gaiibe  besucht,  hinter  dem  tiefen  Blau  des  dunkeln  ^)  Sees  gleich 
einer  ungeheuren  Schneepyramide  dasteht,  bis  zu  den  letzten 
Anhöhen  an  der  Meeresküste  bildet  das  Gebirge  gleichförmige, 
fast  genau  immer  um  200  Toisen  niedrigere  Stufen,**)  so  dass  man 


*)  Observations  faites  dans  les  Pyrenees  fpar  Ramond).    p.  126.     [Der  neue 
Theil  nachzusehen.]  ^) 

**)  Ich  nehme  diese  Bemerkung  aus  den  niemoires  siir  la  derniere  guerre  entre 
la  France  et  l'Espagne.  Paris  et  Strasbourg.  1801.  Der  Verfasser  derselben  be- 
stimmt 9  Gipfel,  die  8  solche  Stufen  bilden. 

I.,  Vignemale  1728.  toisen  (Ramond.  p.   126.  1722.  toisen). 

2.,  la  Somme  de  Soule  1607.      — 

3.,  le  pic  de  midi  de 

Pau  ou  d'Ossau  1472.      — 

Ramond  führt  p.   127.   eine  andre  Messung  an,  nach  welcher  derselbe  1557.  toisen 
haben  würde,  die  er  aber  selbst  übertrieben  nennt. 

Bis  hieher   sind    die  Gebirge  den  grössten  Theil  des  Jahrs  hindurch  mit  Eis    be- 
deckt.    Von  hier  an  aber  wird  ihr  Anblick  milder.  —  Denn  der  Anfang  der  Eisregion 


^)  Nach  „an"  gestrichen:  „scharfsinnigen". 
'^)  „des  dunkeln"  verbessert  aus  „der  dunkeln  Fluth  des". 
')  Seinem  Paris  ij8g  erschienenen  Hauptwerk  Hess  Ramond  1801  ,,Voyages 
au  Mont  perdu  et  dans  la  partie  adjacente  des  hautes  Pyrenees"  folgen. 


25  l^i^  Vasken. 

um  Bayonne  herum  schon  keinen  der  höheren  Pyrenaeengipfel 
mehr  im  Gesicht  hat. 

Die  schönsten  Berge,  welche  man  von  dort  aus  überschaut,  ^) 
sind  die  Larruna*)  und  der  Kronenberg,  montagjie  couronnec.  Der 
erstere  erscheint  lang  hin  gedehnt,  gemach  ansteigend  auf  der 
einen  Seite,  schnell  abstürzend  auf  der  andern ;  dem  zweiten  haben 
seine  dreifachen  zinnenähnlichen  Erhebungen  auch  den  Namen 
des  Drei-Säulen-Berges  gegeben.  Es  wird  dem  Reisenden  schwer, 
diesen  Berg,  wenn  man  ihm  näher  kommt,  wiederzuerkennen. 
Soviel  ich  mich  habe  orientiren  können,  ist  er  derselbe,  der  in 
Biscaya  la  haya  de  Oyarzima  genannt  wird,  und  dann  bestimmte 
er  den  Ausgang  des  Feldzugs  von  1794.  Denn  die  Generale 
Moncey  und  Delaborde  vertrieben  von  dort  am  14.  Thermidor 
des  gedachten  Jahrs  die  Spanier  aus  ihrem  verschanzten  Lager, 
nachdem  die  Truppen  den  Berg  mit  unglaublicher  Mühe  und 
Kühnheit  erstiegen  hatten ;  nun  erst  konnte  Frey wille  ihre  von  vorn 
unbezwingliche  Stellung  auf  St.  Martial  umgehen  und  einnehmen ; 
und  solange  der  Feind  diese  behauptete,  war  es  unmöglich  über 
die  Bidasoa  in  Spanien  einzudringen.**) 

Die  eben  erwähnten  Berge, "-)  an  die  sich  gegen  das  Meer  zu 
die  Gebirge  von  Lezo  und  Fuentarrabia  anschliessen,  bilden  einen 

kann  bei  den  Pyrenaeen  nur  erst  bei  1200.  toisen  (also  100  toisen  höher  als  bei  den 
Alpen)  angesetzt  werden.     Ramond.    p.  302. 

4.,  le  pic  d'Anie,  bei  den  Französi- 
schen Basquen  Ahagua,  bei  den 
Spaniern  Cenia-Larra  genannt,     1280.  toisen  (Ramond.    p.   127.    1269.  toisea) 

5.,  Hory 1031.  toisen 

6.,  Orsansurietta 801.  toisen 

7.,  Haussa  über  dem  Thal  Bastan       667.  toisen 

8.,  Larruna  (nicht  la  Rhune)    .     .       462.  toisen 

9.,  Jaizquibel 278.  toisen 

*)  Es  ist  ein  gewöhnlicher  Fehler,  die  ersten  Silben  Baskischer  Namen  in  Spa- 
nien und  Frankreich  zum  Spanischen  und  Französischen  Artikel  zu  verdrehen.  So 
heisst  die  Larruna  (von  larrea,  Weide,  und  ona,  gut,  guter  Weideplatz)  in  Bayonne 
gewöhnlich  la  Rhune,  Elorrio,  Elanchove  auf  Spanischen  Karten  el  Orrio,  et  Anchove. 
Die  merkwürdigste  Verstümmelung  dieser  Art  ist  die  des  Namens  des  bekannten  du 
Halde,  der,  obgleich  in  Paris  gebühren,  seiner  Abstammung  nach  ein  Basque  war,  und 
eigentlich  Uhalde  (also  d'Uhalde)  hiess.  Uhalde  (der  zur  Seite  des  Wassers,  so  wie 
Larralde,  der  zur  Seite  der  Weide  wohnt)  ist  nemlich  ein  in  Biscaya  häufig  vorkom- 
mender Familienname. 

**)  Metn.  sur  la  guerre  cet.  p.  100 — 112. 

^)  „dort  aus  überschaut"  verbessert  aus  „Bayonne  aus  im  Auge  hat". 

^)  Nach  „Berge"  gestrichen:  „mit  den  kleineren,  die  sie  umgeben". 


St.  Jean  de   Luz.  27 

zusammenhängenden  Kreis,  ^)  der  nur  da  unterbrochen  ist,  wo 
bei  dem  Pass  von  Behobie  der  Weg  nach  Spanien  hineingeht. 
Von  diesem  anmuthigen  Gebirgskranze  steigt  nun  ein  Busen 
fruchtbaren  Landes  gegen  das  Meer  herab.  Die  Berge  verlieren 
sich  in  niedrigere  Hügel,  die  Hügel  in  Ebne,  und  am  Ende  der 
Ebne  dicht  am  Meer,  von  seinen  Wellen  bespült  und  gedrängt, 
liegt  St.  Jean  de  Luz.  Ein  reizendes  Amphitheater,  von  unge- 
heuren Massen,  dem  Gebirg  und  dem  Ocean,  umschlossen. 

Ein  kleiner  Fluss  theilt  St.  Jean  de  Luz  in  zwei  Theile,  Ci- 
boure  und  Luz.  Vermuthlich  in  Vergleichung  mit  der  Ba3'onner 
Nive  hat  man  dem  kleinen  ^)  namenlosen  Wasser  den  Namen 
Nivelle  gegeben.  Aber  das  mit  jeder  Fluth  einströmende  Meer 
macht  das  unbedeutende  Bächlein  zum  jNIeeresarm,  den  gemauerte 
Quais  aus  Quadersteinen  bis  an  die  Bucht  einschliessen.  Die 
Bai  ist  klein,  aber  mahlerisch;  fast  ein  regelmässiges  Rund,  links 
vom  Fort  Socoa,*)  rechts  vom  Fort  St.  Barbe  begränzt.  Bei 
Socoa  ist  der  Hafen  von  Ciboure,  der  Haupthafen  des  ganzen 
Orts,  auf  den  Anhöhen  von  Bordagaina,  **)  ^)  dicht  hinter  dem 
Städtchen,  steht  ein  Leuchtthurm  und  daneben  ist  ein  Altan  zum^ 
Versammlungsplatz  der  Seeleute.  Luz  hat  seinen  eignen  Hafen 
in  der  Stadt  selbst,  der  aber  von  gefährlicher  Einfahrt  ist. 

Am  besten  übersieht  man  die  Lage  von  St.  Jean  de  Luz  von 
Ste  Barbe  aus.  Auf  Vaubans  Vorschlag  wollte  Ludwig  14.  die 
ganze  Bai  durch  eine  vom  Meeresgrund  an  aufgeführte  Mauer 
schhessen  lassen,  um  den  Schiffen  innerhalb  einen  sichern  Zu- 
fluchtsort zu  verschaffen,  zu  dem  sie  durch  eine  in  der  Mitte 
gelassne  Oefnung  gelangen  sollten.  Die  Ausführung  dieses  bei- 
nahe riesenmässigen  Plans  wurde  aber,  wie  so  viele  andre,*) 
verschoben.  In  neueren  Zeiten  nahm  Dupre  de  St.  Maur,  der 
Intendant  der  Provinz  war,  diesen  schon  vergessnen  Plan  wieder 
auf,  und  von  ihm  rühren  die  beiden  Mauerstücke  her,  die  von 
Socoa  und  St.  Barbe  aus  einige  hundert  Schritte  ins  Meer  hinein- 
gehen,  und   mit    der  kühnen  Grösse   gebaut,   die   Jahrhunderten 


*)  Socoa,  bei    den  Spanischen  Biscayern  Zocoa,  der  Winkel,  die  Ecke. 
**)  Die  Meierei  auf   der  Höhe.      Borda,    Meierei,  gaina,    Guip.  gana,  die  Höhe, 
der  Gipfel. 

M  ,,zusammenhängenden  Kreis'^  verbessert  aus  „anmuthigen  Gebirgskranz". 
^)  „kleinen"  verbessert  aus  „unbedeutenden". 

*)  Nach  „Bordagaina"  gestrichen:  „schöner,  grünbewachsener  Hüg[el]". 
*)  Nach  „andre"  gestrichen :  „bis  auf  künftige  Zeiten". 


28  Die  Vasken. 

Trotz  bietet,  unerschüttert  dem  Andrängen  der  tosenden  Wellen 
widerstehn.  Allein  Dupre  konnte  das  Werk  nicht  beendigen  und 
nach  ihm  blieb  es  liegen. 

Steigt  man  bei  St.  Barbe  auf  dem  blättrigen  mürben  Fels  bis 
zu  dem  Anfang  jener  Mauer  herab,  und  wendet  sich  rechts  gegen 
Ba3'^onne  zu,  so  geniesst  man  einer  unermesslichen  Meeresansicht. 
Die  Ufer  weichen  hier  zurück,  eine  schroffe  Felskante  versperrt 
die  Aussicht  aufs  Land,  überall  ist  nur  Himmel  und  Meer.  Auch 
bei  nicht  stürmischer  See  rollen  die  Wogen  hier  mit  fürchter- 
licher Gewalt  gegen  das  Ufer,  ihr  weisser  Schaum  sprützt  über 
den  Steindamm  in  die  Höhe,  und  sie  schiessen  tief  in  die  Holen 
des  durchlöcherten  Felsen  hinein.  Man  hört  sie  unter  seinen 
Füssen  brüllen,  und  da  sie  die  Grundfesten  des  Felsens  selbst 
untergraben,  reissen  sich  oft  Stücke  von  demselben  los,  und  stürzen 
herab.  Auf  diese  Weise  entstanden  wohl  die  Felsmassen  im 
Meer  bei  Biarits. 

Links  übersieht  man  die  lieblich  umschlossene  Bai,  den^) 
fruchtbaren  Landbusen  des  Städtchens,  gegenüber  die  Ecke  von 
Socoa,  die  grünbewachsnen  Hügel  des  Leuchtthurms ,  und  da- 
hinter in  der  Ferne  die  blaue  weit  ins  Meer  vorragende  ^)  Ge- 
birgsreihe,  welche  in  eine  schmale  Landspitze,  la punta  del  Higuer^*) 
ausläuft,  die  von  hier  nur  noch  wie  ein  einzelner  Punkt  im  Meere 
schimmert. 

Der  Weg  von  Ste  Barbe  nach  der  Mündung  der  Nivelle  zeigt 
eine  Menge  von  Spuren  des  verwüstenden  Vordringens  des  Meers. 
Der  Ort  sieht  beim  Eingange  von  dieser  Seite  wirklich  wie  ein 
Fischerort  aus.  Einzelne  steinerne  Hütten  mit  platten  Dächern 
sind  ganz  unregelmässig  durch  einander  gebaut.  Das  Meer  war 
ehemals  viel  weiter  von  der  Stadt  entfernt ;  durch  Ueberlieferung 
alter  Personen  weiss  man,  dass  es  vor  kaum  2oo'  Jahren  noch 
Gärten  innerhalb  der  Bai  gab,  und  Leute  von  50  erinnern  sich 
auf  Stellen  am  Meere  in  ihrer  Kindheit  gespielt  zu  haben,  von 
denen  es  jetzt  nie  zurückweicht.  Ueberall  am  Ufer  sieht  man 
Ruinen  verlassner  Häuser,  von  andern,  noch  weiter  entfernten 
sind  die  Mauern  bis  auf  einige  Fuss  hoch  mit  Sand  bedeckt, 
den   das   näher  heranbrechende  Meer,   ehe  es  selbst   kommt,   ge- 


*)  la  pointe  du  figuier  bei  Fuentarrabia. 

')  Nach  „den"  gestrichen:  ,.schönen". 

*)  „vorragende^'  verbessert  aus  „sich  erstreckende"   aus  „hinein  vorlaufende". 


St.  Jean  de  Luz.  2Q 

wohnlich  voranzuschicken  pflegt.  Die  Einwohner  benutzen  die 
Ruinen  der  verlassnen  Häuser  zu  Gärten  und  ziehen  ihre  Wohnungen 
gegen  die  Berge  zurück.  Allein  dort  sind  Sümpfe  und  so  sind 
sie  auch  von  dieser  Seite  im  Gedränge. 

Nah  an  der  Flussmündung  stand  ehemals  ein  Ursulinerinnen- 
kloster.  Das  Meer  sandte  bei  grossen  Stürmen  den  Nonnen  oft- 
mals seinen  Schaum  ins  Dach  hinein.  Vor  etwa  15  Jahren  verlegte 
sie  ein  Bischof  in  ein  anderes  Kloster,  und  nun  geben  die  verfallnen 
Mauern,  in  deren  ehemals  heilig  verschlossnes  Innre  man  ^)  frei 
hineinblickt,  eine  mahlerische  Ruine.-) 

Der  steinerne  Quai  des  Flusses  gieng  sonst  weiter  in  die  Bai  hin- 
ein; jetzt  ist  er  sehr  beschädigt  und  verfallen.  Ich  erinnerte  mich 
lebhaft,  wie  ich  zwei  Jahre  vorher  an  einem  stürmischen  Herbst- 
tage an  demselben  Fleck  mit  den  Meinigen  stand.  Wir  mussten, 
um  durch  den  Fluss  zu  fahren  (da  eben  die  Brücke  zerbrochen 
war),  die  Ebbe  abwarten,  machten  einen  Spaziergang  an  den 
Hafen,  und  setzten  uns  auf  die  äusserste  Spitze  des  Quais.  Neben 
uns  angelten  ein  Paar  Fischer ;  die  Lumpen,  aus  denen  ihre  starken 
Glieder  nackt  hervorblickten,  bewiesen  die  Armseligkeit  ihres 
Fanges,  und  sie  riefen  uns  sehr  lebendig  die  Theokritische 
Schilderung  der  Dürftigkeit  des  Fischerlebens  zurück.  ^) 

Wir  sassen  damals  lang  dort,  und  ergetzten  uns  unglaublich 
an  dem  Schauspiel  des  sturmbewegten  Meers.  Die  W^ogen 
rollten  majestätisch  von  der  Höhe  auf  uns  zu;  aus  der  engen 
Mündung  prallten  ihnen  entgegen  andre  zurück,  und  so  in  diesem 
Widerstände  aufgehalten,  brach  sich  ihre  finsterthürmende  Spitze 
in  weissen  Schaum,  der  vom  Mittelpunkt  aus,  wie  ein  plötzlich 
entzündetes  Feuer,  zu  beiden  Seiten  in  unabsehlichen  Reihen  hin- 
lief; dann  sich  mit  verdoppelter  Gewalt  überwälzend,  stürzten  sie 
lautbrausend  zwischen  den  qiiais  in  den  Fluss.  Dieselbe  Flut  aber, 
die  hier  vor  uns,  eingeengt  im  Drange  des  Ein-  und  Zurückströmens, 
wild  auftobte,  ergoss  sich  hinter  uns  mit  pfeilschneller  Geschwindig- 
keit in  lieblichen  Schlangenlinien  über  das  glattgespülte  Ufer  und  — 
so  unglaublich  rasch  war  die  Bewegung  —  wann  die  zweite  Welle 
der  ersten  zurückkehrenden  begegnete,  sah  man,  wie  in  einem 
durchsichtigen  Kr}^stall,  zwei  zusammenhängende  Spiegelflächen 
über  einander  in  entgegengesetzten  Richtungen  hingleiten.     In  der 

^)  Nach  „man"  gestrichen:  ,Jetzt". 

*)  „eine  mahlerische  Ruine"  verbessert  aus  „einen  mahlerischen  Anblick". 

^)  Vgl.  Band  3,  IIS. 


30 


Die  Vasken. 


Ferne  vernahm  man  nur  ein  dumpfes  Toben,  ein  verwirrtes  Ge- 
wühl der  Wogen ;  an  den  hervorragenden  Klippen  spriitzte  Schaum 
aus  der  dunkeln  Flut  empor,  und  auf  der  äussersten  Höhe  des 
Meers  schwankten  von  Zeit  zu  Zeit  die  schimmernden  Segel 
eines  Schiffes  vorüber. 

Nie  ist  mir  die  todte  und  rohe  Masse  der  Schöpfung  so  über- 
gewaltig vorgekommen,  nie  der  Keim  des  Lebens  in  der  Natur 
dagegenjso  schwach  und  ohnmächtig,  als  hier  zwischen  denPyrenaeen 
und  dem  Ocean.  In  den  Gebirgen  jene  Ungeheuern,  von  keinem 
mildernden  Grün  umkleideten  Felsmassen,  das  Bild  einer  ewig 
unthätigen  Ruhe,  einer  Last,  die,  immer  auf  den  Mittelpunkt  ihrer 
Schwere  drückend,  nur  zusammenzustürzen  droht,  um  sich  noch 
fester  an  einander  ballend  jedes  freie  Lebensspiel  zu  ersticken.  Was 
dagegen  bei  dem  Anblick  des  Meers  die  Einbildungskraft  bis  zum 
Entsetzen  anspannt,  ist  die  fürchterliche,  sich  mit  unglaublicher 
Geschwindigkeit  nach  allen  Seiten  zugleich  fortpflanzende,  von 
dem  unbedeutendsten  Stoss  die  ungeheuerste  Tiefe  aufwühlende, 
den  ganzen  Erdkreis  erschütternde  ^)  Beweghchkeit.  Vor  diesen  all- 
gewaltigen Kräften  einer  doppelten  Zerstörung,  dort  durch  in  sich  zu- 
sammenstürzende Schwere,  ^)  hier  durch  ewig  mit  sich  fortreissendes 
Rollen,  beide  in  todten,  blinden  und  ungeschiedenen  ^)  Massen,  vor 
diesen  wüsten  Elementen  des  Chaos  scheint  jede  lebendige  *)  Kraft 
verschwinden  und  verstummen  zu  müssen.  Dennoch  erhält  sich, 
der  Pflanze  gleich,  die,  aus  den  Ritzen  des  Felsens  hervorkriechend,  ^) 
seine  schroffen  Ecken  umklammert,  mitten  unter  dieser  Ver- 
wüstung der  leblosen  Natur  die  lebendige  Organisation,  und  wie 
der  im  Stein  verborgne  Funke,  springt  der  Trieb  der  Bildung 
aus  ihr  selbst  hervor.  In  diesem  unauflösbaren  Räthsel,  in  dem 
Gefühl  der  verschwindenden  Ohnmacht  des  Menschen  gegen  die 
Macht  der  Elemente,  und  in  der  Bewunderung  ihrer  entsetzlichen 
Massen,  die  wild  und  ungebändigt,  wie  sie  sind,  doch  durch  dasselbe 
Gesetz,  durch  das  sie  Allem  Zerstörung  drohen,  einem  fremden 
Zuge  zu  folgen,  sich  in  unaufhaltsamem  Umschwünge  fortzuwälzen 
und  dadurch  in  Gleichgewicht  zu  halten  gezwungen  werden,  verliert 
sich  zugleich  Gedanke,  Phantasie  und  Empfindung,  so  oft  wir  dem 


^)  „erschütternde^'  verbessert  aus  „  bedrohende". 

^)  „Schwere"  verbessert  aus  „Ruhe". 

^)  Nach  „ungeschiedenen"  gestrichen:  „und  ungeheuren". 

*)  „lebendige'^  verbessert  aus  „geistige". 

^)  „hervorkriechend"  verbessert  aus  .,sich  ....  hervorwindend". 


St,  Jean  de  Luz.  o  j 

Meer  oder  einem  Gebirge  gegenüber  stehen.  Es  ist  der  geheimniss- 
volle Zug,  durch  den  die  grosse  Natur  uns  unauflöslich  an  sich 
fesselt,  und  uns  in  die  sanfte  Schwermuth  hinüberzieht,  ^)  von  der 
wir  uns  ebensowenig,  als  von  ihrem  Anblick  loszureissen  vermögen. 
Es  ist  der  Kampf  des  Leblosen  mit  dem  Lebendigen,  durch  die 
eigenthümlichen  Kräfte  beider,  wie  durch  ein  ewiges  Schicksal, 
dessen  innren  Zusammenhang  ein  undurchdringlicher  Schleier  -) 
verbirgt,  zu  Harmonie  und  Eintracht  verbunden. 

Am  Flusse  hinauf  nach  der  Stadt  zu,  geniesst  man  des  An- 
blicks des  Landes  und  der  Berge.  Auf  einer  kleinen  Halbinsel 
im  Fluss  gerade  zwischen  Ciboure  und  Luz  steht  ein  ehemaliges 
Recollectenkloster.  Beide  Oerter  hatten  in  älteren  Zeiten  beständige 
Händel  mit  einander.  Bei  Gelegenheit  feierlicher  Processionen 
kamen  diese  dann  gewöhnlich  zum  Ausbruch.  Man  schlug  sich  erst 
mit  den  Kreuzen,  dann  aber  folgten  auch  Steine  und  andere  Waffen. 
Endlich  kam  man  im  vorigen  Jahrhundert  überein,  zum  Zeichen 
der  wiederhergestellten  Eintracht,  die  nun  nichts  wieder  stören 
sollte,  auf  gemeinschaftliche  Kosten  dies  KJoster  zu  bauen.  Auch 
das  übrige  Basquenland  trug  dazu  bei,  und  man  verband  mit  dem 
Kloster  noch  eine  Erziehungsanstalt.  Um  das  Versöhnungskloster 
herum  stehen  einige  Pappeln.  Jenseits  ist  die  Aussicht  sehr  schön. 
Ein  Hügel  hinter  der  Stadt  am  Fusse  der  Larrune  ist  mit  einem 
reizenden  grünen  Gehölze  umkränzt,  und  aus  dem  Gebüsch  blickt 
ein  freundliches  Landhaus  hervor.  Ein  herrlicher  grüner  Vorgrund 
vor  den  hinteren  graueren  Bergen. 

Ciboure*)  wird,  wie  schon  im  Vorigen  gesagt  ist,  nur  durch 
eine  Brücke  von  Luz  getrennt.  Im  Anfange  der  Revolution  war 
es  den  Neuerungen  weniger  günstig,  als  Luz ;  allein  der  Spottname 
der  olfrapontains^  den  man  den  Cibourern  gab,  brachte  viele  zu 
andern  Gesinnungen. 

In  älteren  Zeiten  waren  beide  Oerter  bei  weitem  blühender, 
als  jetzt.  Ihre  Hauptnahrung  war  der  Wallfisch-  und  Stockfisch- 
fang. Ersterer  hat  schon  seit  langer  Zeit  gänzlich  aufgehört,  und 
letzterer  ist  ungleich  minder  bedeutend,  als  ehemals.  Im  Jahr  1730. 
sandten  sie  noch  30  Schiffe  zu  demselben,  jetzt  etwa  noch  6. 
1675.   foderte   (eine  Nachricht,   die   sich,   wie   man   mir  sagte,   in 

*)  Man  leitet  sogar  den  Namen  des  Orts  daher  ab.  Cubia,  Brücke,  blirua,  Kopf; 
Brückenkopf. 

')  „hinüberzieht"  verbessert  aus  „versenkt''  aus  „hinreisst". 
^)  Nach  „Schleier"  gestrichen:  „iinsern  Augen". 


32 


Die  Vasken. 


den  Archiven  von  Ciboure  findet)  die  Regierung  Seeleute  von 
Ciboure ;  der  Ort  antwortete  aber,  dass  er  deren  schon  3000  Mann 
zu  verschiedenen  Expeditionen  gegeben  habe,  und  nun  deren 
nicht  mehrere  auftreiben  könne.  Jetzt  rechnet  man  in  dem  ganzen 
Ort  nicht  mehr  als  1400.  so  wie  in  Luz  etwa  2000  Seelen. 

Als  der  letzte  beträchtliche  Grenzort  Frankreichs  gegen 
Spanien  ist  St.  Jean  de  Luz  bei  einigen  politischen  Ereignissen 
merkwürdig  geworden.  Man  zeigt  noch  das  Haus,  in  welchem 
Carl  5.  wohnte,  als  er  hier  durch  nach  Spanien  ging,  und  eben  so 
dasjenige,  welches  Ludwig  14.  zur  Wohnung  diente,  als  er  i6[6o] 
seiner  Spanischen  Braut  hier  entgegen  kam.  Es  liegt  am 
Markte  und  hat  4  kleine  Thüren  an  den  Ecken,  das  Haus  der 
Infantin  war  schräg  gegenüber  und  zwischen  beiden  war  ein 
hölzerner  bedeckter  Gang^)  über  den  Markt  weg  gebaut,  um 
unmittelbar^)  von  dem  einen  zu  dem  andern  zu  gelangen. 

Anda3^e  und  Fuenterrabia. 

Wir  verliessen  St.  Jean  de  Luz ,  als  der  Tag  kaum  ^)  zu 
dämmern  anfing.  Der  Mond  schien  noch  falb  vom  Himmel  herunter, 
und  warf  eine  göttlich  magische  Beleuchtung  auf  die  vielen  in 
mahlerischen  Gruppen  vertheilten  kleinen  und  grösseren  Gehölze 
und  die  mit  Epheu  überdeckten  Mauern  der  zerstreut  liegenden 
ländlichen  Wohnungen.  Der  Hebliche  Reichthum  dieser  unendlich 
mannigfaltigen  Gegend,  wo  der  sich  schlängelnde  Weg  mit  jeder 
Krümmung  eine  neue  Scene  zeigt,  bald  Gruppen  üppig  gewachsener 
Bäume  sich  in  einander  verschränken,  bald  aus  dem  dichten  Grün 
die  Gemäuer  eines  alten  Schlosses  mit  seinen  Thürmchen  her- 
vorsteigen, bald  ein  freundlich  von  Hecken  umschlossnes  Acker- 
stück, eine  fruchtbare  Ebne,  oder  eine  reich  durchwässerte  Wiese 
einen  grünen  Teppich  ausbreitet,  vervielfältigte  sich  auf  eine 
entzückende  Weise  in  dem  zweifelhaften  Schimmer  der  nächtlichen 
Beleuchtung,  und  die  dunkeln  ^)  Gebirgsmassen  im  Westen  ^)  vor 
uns  warfen  einen  finstern  Schatten  auf  das  bezaubernde  Gemähide. 


^)  „ein  —  Gang^'  verbessert  aus  „eine  Brücke^'. 

2)  „unmittelbar'^   verbessert  aus  „eine    unmittelbare   Gemeinschaft   zwischen 
beiden'^ 

^)  „kaum''  verbessert  aus  „eben". 

*)  „dunkeln"  verbessert  aus  „finstern". 

^)  „im  Westen"  verbessert  aus  „in  der  Ferne". 


Andaye  und  Fuenterrabia.  95 

Als  wir  Urogne  verlassen  hatten,  brach  der  Tag  an.  Wir 
wandten  unsre  Pferde  um,  und  sahen  den  herrlichsten  Sonnen- 
aufgang vor  uns.  Dichte  Nebelwolken  bedeckten  den  Osten.  Die 
ersten  Stralen  brachen  lichte  Plätze  durch  und  vergoldeten  den 
dunkeln  Saum.  Zuerst  traf  der  Glanz  ^)  die  entferntesten  Gewölke; 
sie  rissen  sich  von  der  finstern  Masse  los,  und  schwammen  wie^) 
goldne  Flecken  in  der  reinen  Lutt.  Dann  trat  er  näher  und 
näher  zum  Horizonte  herunter,  und  nur  noch  dicht  über  dem 
Aufgang  ^)  ruhte  ein  schwarzes  Gewölk.  Vom  flammendsten 
Purpur  bis  zum  zartesten  Rosenroth;  schwammen  alle  Nuancen 
des  Feuergelben  in  einander  über,  und  als  hätte  das  aufspringende 
Licht  mit  dem  Glänze  zugleich  Bewegung  ausgegossen,  fluthete 
die  erst  schwer  ruhende  Wolkenmasse  nun  in  wogendem  Schimmer 
hin  und  wieder.  Aber  bald  war  der  ungleiche  Kampf  geendet, 
der  prächtige  Farbenreichthum  verlor  sich  in  Einen  blendenden^) 
Lichtglanz,  und  die  Sonne  °)  trat  hinter  dem  schattigen  Gewölk 
hervor. 

Ich  kann  mich  nicht  enthalten  bei  der  Erinnerung  an  diesen 
göttlichen  Morgen  eine  Stelle  des  Apollonius  Rhodius  herzusetzen, 
in  der  dies  freudige  Aufspringen,  mit  dem  Berg  und  Wald  bei 
jedem  heitern  Sonnenaufgang  dem  hervortretenden  Licht  entgegen- 
zuzittern  scheinen,  auf  eine  wahrhaft  grosse  Weise  geschildert 
ist.  Die  Argonauten  landen  nach  einer  mühseligen  nächtlichen 
Fahrt  in  der  Morgendämmerung  an  einer  wüsten  Insel.  Der  Tag 
bricht  an,  und  die  Sonne  erscheint. 

Ihnen  erschien  dort,  auf  vom  fernen  Libyen  steigend  ®) 

Zu  dem  unendlichen  Volk  der  Ilyperboreischen  Männer, 

Letos  Sohn.     Herab  von  den  Wangen  des  Schreitenden  wallten 

Dicht  wie  Trauben  ergossen  die  goldgeringelten '')  Locken. 

In  der  Linken  bewegt'  er  den  silbernen  Bogen ;  den  Rücken 

Deckt'  ihm  über  die  Schultern  der  Köcher;  doch  unter  den  Füssen 

Sprang  aufzitternd  die  Insel,  es  schlug  das  Meer  aufs  Gestade. 


^)  „traj  der  Glanz"  verbessert  aus  „wurden  ....  bestrahlt". 

^)  Nach  „wie"  gestrichen:  „rein&'. 

*)  „dem  Aufgang^'  verbessert  aus  „der  Sonnenscheibe". 

*)  Nach  „blendenden^'  gestrichen:  „milden". 

^)  Nach  „Sonne"  gestrichen:  „selbst'. 

*)  „steigend"  verbessert  aus  „gehend". 

')  „den  —  goldgeringelten"  verbessert  aus  ,Jeglicher  Wange  geringelt 
Wallten  dem  Schreitenden  mächtig  die  goldentraubigen" ;  am  Rande  steht  noch 
„Aehnlich  den"  und  „Traubenähnlich". 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     Xm.  3 


oA  Die  Vasken, 

Und  es  ergriff  sie  Entsetzen,  unendliches ;  keiner  auch  wagte 
Grad  entgegenzuschaun  ins  herrliche  Auge  des  Gottes, 
Sondern  sie  standen,  den  Blick  zum  Boden  gesenket,  doch  er  ging. 
Fern  durch  die  Luft  hinwandelnd,  entgegen  des  Oceans  Wogen.*) 

Urogne**)  ist  der  letzte  Französische  Ort  auf  der  grossen 
Strasse  nach  Madrid.  Man  findet  nachher  nur  noch  das  Zollhaus 
im  Pass  von  Behobie,  ***)  wo  man  über  die  Bidasoa  übersetzt. 

Wir  verliessen  aber  die  Landstrasse  nicht  weit  hinter  dem 
Flecken  und  nahmen  unsern  Weg^)  rechts  über  die  dem  Meer 
näher  liegenden  Anhöhen.  Ein  Basque,  der  auf  seinem  kleinen 
Pferde  nach  Andaye  ritt,  gesellte  sich  zu  uns.  Er  hatte  den  letzten 
Krieg  gegen  Spanien  mitgemacht  und  erklärte  ^)  uns  die  ver- 
schiedenen Stellungen  beider  Armeen.  Auch  schon  bis  dahin 
hatte  uns  der  Weg  mehr  als  eine  Spur  der  Verwüstung  in  halb 
eingeschossenen  Mauern  und  verlassenen  Häusern  gezeigt;  hier 
sähe  man  noch  die  damaligen  yerschanzungen,  aber  Wälle  und 
Gräben  waren  mit  Gras,  Blumen  und  Gebüsch  überwachsen,  und 
dienten  w^ieder,  wie  vormals,  zum  friedlichen  Weideplatz. 

Die  Gegend  zwischen  dem  Pass  von  Behobie,  Anda3^e  und 
Ciboure  war  im  Feldzug  von  1793.  ehe  man  die  Spanier  in  ihrem 
eignen  Lande  angriff,^)  der  hauptsächlichste  Schauplatz  des  Krieges, 
da  die  Franzosen  alle  Anhöhen  in  diesem  Strich,  vorzüglich  den 
Berg  Ludwigs  14.  an  der  Bidasoa  besetzt  hielten. 

Am  23.  April  griffen  die  Spanier  mit  einem  Regen  von  Bom- 
ben, Kugeln  und  Haubitzen  die  Verschanzung  dieses  Bergs  und 
Andaye  an.  Die  erschrocknen  Einwohner  flohen  mit  Weibern 
und  Kindern   davon,   und  obgleich   die   Spanier  wieder  über   die 


*)  Argon.  II.  674. 
**)  Es  hat  seinen  Namen  von  seiner  Lage  auf  einer  kleinen  Anhöhe  an  einem 
Bach.  Ura,  Wasser,  oina,  ona,  Erhöhung  und  daher  der  Fuss.  Eigentlich  bedeutet 
es  den  Theil,  wo  der  Fuss  in  die  Höhe  steigt,  den  Spann,  und  so  liegt  in  der  Vas- 
kischen  Benennung  dieses  Theils  dasselbe  Bild,  was  das  deutsche  Wort  Rist  (verwandt 
mit  Riese)*)  ausdrückt.  Dieselbe  Silbe  findet  sich  in  mehreren  andern  Namen  z.  B. 
Onate,  Oüa  u.  s.  f. 

***)  Nicht,  wie  in  mehreren  Reisebeschreibungen  steht,  Beobid.  Es  heisst  die 
Grube,  die  Vertiefung  dort  unten.  Wirklich  liegt  das  Zollhaus  in  einer  Tiefe  zu  der 
man  von  beiden  Seiten  hinabsteigt. 

*)  „nahmen  unsern  Weg"  verbessert  aus  „ritten". 

2)  „erklärte"    verbessert  aus  „zeigte". 

*)  „7nan  —  angriff""  verbessert   aus  „der  Krieg   in  Spanien   selbst  geführt 
wurde*'  aus  „die  Franzosen  in  Spanien  eingedrungen  waren". 

*)  Nach  „Riese"  gestrichen:  „und  Spann  {wenigstens  nach  Adelung  h.  v.)". 


Andaye  und  Fuenterrabi'a.  oc 

ßidasoa  zurückgingen,  so  nöthigten  sie  doch  durch  diese  Expedi- 
tion den  Feind,  seine  vorige  Stellung  zu  verlassen  und  sich  bis 
zu  der  Croix  des  botiqtLcts  zurückzuziehen. 

Der  Hauptschlag  aber  musste  ihm  in  seinem  Lager  bei  Sare 
beigebracht  werden,  und  die  Spanier  richteten  daher  auf  dieses 
ihr  ganzes  Augenmerk.  Sie  überlielen  die  Franzosen  hier  am  Morgen 
des  1.  Mais.  Diese  erschraken  aus  den  Gebirgsschlünden  auf  sich 
schiessen  zu  sehn,  ohne  dass  sie  noch  einen  Feind  erblickten, 
gegen  den  sie  sich  vertheidigen  konnten,  entflohen  aus  allen 
Kräften,  und  die  aus  dem  Hinterhalt  hervorbrechenden  Spanier 
gingen  auf  das  Lager  los.^j  Der  tapfre  Latour-d'Auvergne,  der 
sich  zugleich  als  Ivrieger  und  als  Schriftsteller  Ansprüche  auf  die 
Dankbarkeit  der-)  ßasquen  erworben  hat,  versuchte  ihnen  den 
letzten  schwachen  Widerstand  entgegenzusetzen.  Er  stellte  sich 
mit  hundert  Mann  auf  die  Anhöhe  der  Heiligen  Barbara,  und 
indess  rund  um  ihn  her  die  Verwirrung  und  der  Schrecken  der 
Flucht  und  Verfolgung  herrschten,  erwartete  er  dort  ruhig  den 
Angriff  eines  500  Mann  starken  Trupps  Spanischer  Reuterei.  Er 
Hess  sie  auf  20  Schritt  auf  sich  zu  kommen,  empfieng  sie  dann 
mit  einem  fürchterlichen  Musketenfeuer  und  sprengte  sie  glück- 
Hch  auseinander.  Allein  sein  Haufe  war  zu  klein, ^j  er  musste 
kurz  darauf  gleichfalls  weichen,  und  erreichte  nur  mit  wenigen 
Grenadieren  das  Lager  bei  Sare.  Hier  fand  er  nichts  als  Unord- 
nung und  Verwirrung  und  so  zog  sich  die  ganze  Armee  nach 
Ustariz  zurück. 

Nachdem  die  Stellung  *)  bei  Sare  aufgegeben  war,  konnte  sich 
Andaye  nicht  mehr  halten.  General  Servan  befahl  daher  am  2.  Mai 
es  zu  verlassen.  Der  Feind  machte  hiebei  nicht  die  mindeste 
Bewegung,  aber  der  panische  Schrecken,  der  die  Franzosen  be- 
fallen hatte,  war  so  gross,  dass  dieser  Rückzug  einer  völligen 
Flucht  ähnlich  sah.  Nur  die  Lagergeräthschaften  wurden  gerettet; 
eine  Menge  Mund  und  Kriegsprovisionen  und  mehrere  Stücke 
groben  Geschützes  blieben  in  dem  Fort  zurück.  Alles  dies  fiel 
den  Spaniern  in  die  Hände;  sie  brachten  es  auf  die  andre  Seite 
der  Bidasoa  herüber,  zerstörten   die  Festungswerke   von  Andaye, 


^)  }}g^^g^^  —  ^05"  verbessert  aus  „verfolgten  sie^'. 

^)  „Ansprüche  —  der"  verbessert  aus  „bedeutende  Verdienste  um  die". 

*)  „klein"  verbessert  aus  „schwach". 

*)  „die  Stellung"  verbesseret  aus  „das  Lager". 

3* 


36 


Die  Vasken. 


und  legten  an  den  Ufern  des  Meers  und  auf  dem  Berg  Ludwigs  14. 
mehrere  kleine  Läger  an. 

Wenn  die  Phantasie  ein  Bild  der  Oede,  Menschenleere  und 
Verwüstung  entwirft,  so  hat  sie  ein  treues  Gemähide  des  jetzigen 
Zustandes  von  Andaye.  Der  Flecken  liegt  ^)  auf  einer  ziemlich 
weiten  Fläche  zerstreut,  und  scheint  ehemals  ein  reinliches  und 
freundliches  Ansehn  gehabt  zu  haben.  Jetzt  sind  alle  Häuser,  bis 
auf  einige  wenige,  zerstört;  die  leeren  Mauern  stehen  halb  ein- 
gefallen da;  den  Fussboden,  den  sonst  Menschen  bewohnten,  be- 
decken wildes  Gesträuch  und  Dornen,  an  den  inneren  Wänden 
rankt  Epheu  empor;  durch  die  halbzertrümmerten  Fenster  sieht 
man  mitten  durch  die  Wohnung  hindurch  auf  das  wüste  Meer. 
Auf  den  Strassen  findet  man  noch  hie  und  da  Bomben  liegen; 
kaum  aber  begegnet  man  nur  von  Zeit  zu  Zeit  einem  Menschen. 
Der  grösste  Theil  der  Einwohner  ist  in  den  Gefahren  und  in  dem 
Elend  der  Flucht  umgekommen,  oder  hat  sich  anders  wohin  zer- 
streut; jetzt  mag  der  ganze  Ort  kaum  noch  von  50  Familien  be- 
wohnt seyn,^)  und  was  das  rührendste  ist,  so  haben  sich  neue 
Ankömmlinge,  unvermögend  das  Alte  wiederherzustellen,  in  den 
weiteren  Mauern  der  alten  Häuser  kleine  elende  Hütten,  nur  an- 
gelehnt an  den  ehemaligen  W^ohlstand,  angebaut.^) 

Wir  eilten  diesen  jammervollen  Anblick  zu  verlassen  und  be- 
stiegen die  Ruinen  des  Forts,  das  unterhalb  der  Stadt  auf  einer 
schönbewachsenen  Anhöhe  dicht  an  der  Meeresbucht  liegt,  und 
dem  Flecken  sein  unglückliches  Schicksal  zugezogen  hatte.  Wir 
kletterten  über  die  Steine  und  das  verfallene  Gemäuer  hinweg, 
und  genossen  nun  einer  schönen  Aussicht  auf  Fuenterrabia  vor 
uns,  die  Ufer  der  Bidasoa  ins  Land  hinein  zur  Linken,  und  hinter 
uns  auf  einen  von  den  grösseren  Gebirgen  mahlerisch  um- 
schlossenen Acker-  und  Wiesengrund, 

Fuenterrabia  und  Andaye  liegen  einander  gerade  gegenüber, 
an  der  Bucht,  welche  die  in  die  Flussmündung  heraufsteigende 
Meeresfluth  vor  dem  Ausfluss  der  Bidasoa  macht.  Die  Bucht 
ist  lang,   schmal,   und   in   verschiedenen  Windungen  gekrümmt.*) 


^)  Nach  „liegt"  gestrichen :  „mit  seinen  Häusern". 

^)  „jetzt  —  seyn"  verbessert  aus  „kauyn  50  Familien  vielleicht  sind  nachher 
wieder  dahin  zurückgekeh7-t'\ 

*)  Nach  „angebaut"  gestrichen :  „und  nähren  auf  diese  Weise  ein  fortwäh- 
rendes Andenken  an  ihr  trauriges  Geschick.'^ 

*)  „gekrümmt"  verbessert  aus  „gebogen". 


Andaye  und  Fuenterrabi'a.  nn 

Zwei  beinah  sichelförmig  gestaltete  Sandbänke  verengen  sie  noch 
mehr,  und  lassen  nur  eine  ^)  bogenförmige  Strasse  zur  Ausfahrt 
ins  Meer  die  überhaupt  bloss  Fischernachen  dienen  kann.  Andaye 
liegt,  wie  schon  gesagt,  mit  seinen  Häusern  dorfartig  zerstreut. 
Fuenterrabia,  das  sich  mit  seiner  hohen  Kirche  und  ihrem  Thurm 
von  dem  runden  Vorhügel  herab,  auf  dem  es  steht,  im  Meer 
spiegelte,  hat,  eng  zusammengebaut,  ein  mehr  städtisches,  aber 
auch  finstres  und  trauriges  Ansehn.  Die  Hügel  hinter  Andaj'^e 
sind  reich  mit  hohem  Gras  und  Gehölze  bewachsen,  eine  freund- 
liche Flur,  hinter  welcher  die  Pyrenaeen,  besonders  die  Spitze 
der  Larruna  hervorblicken.  Die  Berge  hinter  Fuenterrabia  gegen 
das  Meer  sind  höher;  eine  zusammenhängende  Kette,  die  Fort- 
setzung des  Jaizquibels,  erstreckt  sich  bis  an  die  Spitze  del  Higuer, 
aber  es  sind  oede  Heiden,  baumlos  und  kahl.  Von  Fuenterrabia 
her  klangen  die  Glocken,  die  zur  Messe  läuteten ;  in  Andaye  ging 
die  Trommel  zur  freilich  etwas  späten  (am  30.  April)  Ausrufung 
des  Luneviller  Friedens,  an  deren  Wahrheit  die  armen  Einwohner 
—  so  ungläubig  hat  sie  das  Unglück  gemacht  —  nur  erst  auf 
unsre  Versicherung  nicht  mehr  zweifelten.^)  So  verschieden  kün- 
digte sich  uns  Frankreich  und  Spanien  an. 

Die  Einwohner  von  Fuenterrabia  und  Andaye  leben  natüriich 
in  täglicher  Gemeinschaft  mit  einander.  Zu  demselben  Völker- 
stamm, gehörend,  dieselbe  Sprache,  und  auf  der  Grenze  sogar  nur 
mit  kleinen  Verschiedenheiten  des  Dialectes,  redend,  müssen  sie 
noch  näher,  als  sonst  Gränzbewohner  verschiedener  Reiche  mit 
einander  verbunden  seyn.  Es  gehört  mit  zu  den  weniger  be- 
achteten Grausamkeiten  unsrer  in  das  Interesse  der  \^ölker,  die 
sie  führen,  wenig  verflochtenen  Kriege,  diese  Gemeinschaften 
plötzlich  abzuschneiden,  und  zwischen  ruhige  Bewohner  be- 
freundeter Orte  eine  Scheidewand  des  Hasses  und  der  Feind- 
schaft zu  setzen,  die  ihrem  Interesse  und  ihren  Neigungen  gleich 
fremd  ist. 

In  den  weiter  entfernten  Gebirgsthälern  hat  es  dem  unge- 
bildeten einfachen  Natursinn  der  \"asken  Mühe  gekostet,  zu  be- 
greifen, dass  ein  Krieg  zwischen  Staaten,  denen  sie  nur  zufällig 
angehören,  sie  aus  ihren  gewöhnlichen  Verhältnissen  herausheben 
und   ihren   Empfindungen   gebieten   soll.     Gleich   beim  Ausbruch 


*)  iVflcÄ  „eine''  gestrichen:  „schmale  und''. 

*)  „nicht  mehr  zweifelten"  verbessert  aus  „glaubten' 


38 


Die  Vasken. 


des  ersten  Feldzugs  im  Jahr  1793.  zeigte  sich  ein  merkwürdiges 
Beispiel  davon  in  OberNavarra. 

Die  Thäler  von  Mauleon  und  Baretons  zahlten  jährlich  einen 
Tribut  von  drei  jungen  Kühen  an  die  Spanischen  Thäler  von 
Roncal  und  Salazar.  Als  wäre  kein  Krieg  zwischen  beiden  Län- 
dern ausgebrochen,  oder  als  könnte  eine  Streitigkeit  des  Königs 
von  Spanien  mit  der  Französischen  Republik  die  Freundschaft 
zwischen  ihnen  und  ihren  Nachbarn  nicht  stören,  begaben  sich 
die  Bewohner  der  Spanischen  Thäler  zur  gewöhnlichen  Zeit  an 
den  gewöhnlichen  Ort,  um  ihren  Tribut  zu  empfangen.  Da  aber 
niemand  erschien,  gingen  sie  über  die  Gränze,  wählten  aus  der 
ersten  Heerde,  die  sie  fanden,  drei  junge  Kühe  aus,  und  kehrten 
ruhig,  und  ohne  zu  ahnden,  etwas  gethan  zu  haben,  das  Ver- 
geltung heischte,  in  ihre  Wohnungen  zurück.  Die  Franzosen 
hingegen  nahmen  die  Sache  nicht  so  harmlos  auf.  Sie  fielen  in 
die  Spanischen  Thäler  ein,  triebeji  eine  grosse  Anzahl  von  Heerden 
fort  und  zündeten  selbst  einige  Häuser  an.  Jetzt,  da  man  den 
friedlichen  Navarrer  gezwungen  hatte,  seine  Nachbarn  feindlich 
zu  behandeln,  erwachte  auch  in  ihm  das  Gefühl  des  erlittenen 
Unrechts.^)  Die  Bewohner  jener  Thäler  brachen  wiederum  in 
Frankreich  ein,  und  steckten  das  Dorf  St.  Engrace  in  Brand.*) 
Wie  mannigfaltiges  Unglück  hätte  vermieden  werden  können, 
wenn  man  Thäler,  welche  die  Natur  selbst  durch  ungeheure  Ge- 
birge von  der  übrigen  Welt  absonderte,  in  der  glücklichen  Un- 
wissenheit der  Verbrechen  und  Thorheiten  gelassen  hätte,  die  man 
jenseits  beging  1 

Fuenterrabia  hat  seinen  Namen  der  versandeten  Flussmündung 
zu  verdanken,  an  der  es  liegt.  In  Urkunden  des  13.  Jahrhunderts 
wird  es  On-  oder  Undarribia  genannt,  und  bei  den  heutigen  Bis- 
cayern  heisst  es  Ondarrabia,  beides  von  Ondarr-zdaya,  .SRndÜuss**} 


*)  Diese  Anecdote  ist  so  sonderbar,  dass  sie  vielleicht  bei  einigen  eines  Gewährs- 
mannes bedarf.  Sie  steht  in  den  schon  oben  angeführten  mem.  siir  la  deniiere  guerre.p.  14. 
**)  Oihenart  in  seiner  Notitia  utriusque  Vasconiae  p.  168.  erklärt  Ondarr- 
ibaya,  letzter  Fluss,  weil  die  Bidasoa  der  letzte  Fluss  von  Spanien  her  ist.  Ondoa 
aber  (ver^vandt  mit  fiindus)  heisst  eigentlich  der  Grund,  das  Tiefste  einer  Sache  und 
nur  insofern  das  Ende,  das  Letzte ;  von  ondoa  ist  ondarra,  das  was  sich  auf  dem 
Grunde  setzt,  der  Schlamm,  und  in  weiterer  Bedeutung  der  Sand.  Vergleicht  man  diese 
Bedeutung  des  Worts  mit  der  Lage  des  Orts  und  dem  Namen  des  ähnlich  gelegnen 
Ondarroa,  so  fällt  die  wahre  Ableitung^)  in  die  Augen. 

^)  „erwachte  —  Unrechts"  verbessert  aus  „unterliess  er  nicht,  sich  zu  rächen". 

2)  Nach  „Ableitung"  gestrichen:  „klar". 


Pasages.    (Le  Passage.)  99 

Denselben  Namensursprung  hat  Ondarroa,  ein  andrer  kleiner 
Küstenflecken  in  Vizcaya.  Aus  Ondarrabia  ist  nachher  durch 
Verdrehung  der  Spanische  und  Französische  Name*)    entstanden. 

Wenn  man  sich  über  die  Meeresbucht  nach  Fuenterrabia 
übersetzen  lässt,  geht  ein  Weg  landeinwärts  den  Fluss  hinauf.  Wir 
verfolgten  diesen,  ohne  die  Stadt  selbst  zu  besuchen.  Er  läuft  an 
einer  Reihe  steiler,  aber  dicht  mit  Gebüsch  bewachsener  lOippen 
hin,  an  denen  kleine  Felstreppen  zu  oben  angelegten  Garten-. 
stücken  hinaufführen.  Links  ist  eine  Allee  von  Ellern  und  Eschen 
und  durch  sie  hindurch  sieht  man  die  in  lauter  schmalen,  durch 
Wassergräben  geschiedenen  Gartenbeten  sorgfältig  bebauten  Ufer 
des  Flusses.  Es  macht  einen  sonderbaren  Contrast,  aus  diesem 
dichten  mannigfaltigen  Grün  zurück  auf  die  finstre  Stadt  zu  blicken, 
deren  Festungswerke  gerade  auf  dieser  Seite  zerstört  sind.  Sie 
liegen  noch  eben  so  in  Schutt  und  Graus  da,  wie  die  Mine  sie 
gesprengt  hat,  und  hinter  ihnen  erhebt  sich  die  hohe  unversehrt 
gebliebene  Kirche  mit  ihrem  Thurm. 

Fuenterrabia  fiel  ^)  nemlich  im  August  1794.  den  Franzosen  in 
die  Hände.  Die  Stadt  hatte  durch  ein  sechstägiges  Beschiessen 
sehr  gelitten,  und  da  die  Besatzung  nur  aus  600.  Mann  bestand, 
welche  den  Depot  verschiedener  Regimenter  ausmachten,  so  ver- 
diente ihr  Befehlshaber  D.  Mcente  de  los  Reyes,  ein  bejahrter 
Officier,  Entschuldigung,  sich  auf  die  erste  Auffoderung  zu  er- 
geben. Die  Festungswerke  wurden  erst  nachher  gesprengt,  nur 
ein  kleiner  Theil  blieb  stehen,  und  auch  unter  diesem  war  die  Mine 
schon  angelegt.     Das  Fort  del  Higiier  ergab  sich  zu  gleicher  Zeit.**) 

Bei  dem  Capucinerkloster  macht  der  Berg  eine  Ecke  und  wir 
wandten  uns  nun  rechts  gegen  St.  Sebastian  zu. 

Pasages.     (Le  Passage.) 

Einige  wenige  zum  Fahren  eingerichtete  Chausseen  abge- 
rechnet, kann  man  in  den  Innern  Theilen  Biscayas  nur  zu  Pferde 


*)  Risco  in  der  Fortsetzung  der  Espana  sagrada.  T.  32.  p.  153.  hält  den  Vas- 
kischen  Namen  für  neuer  als  den  Spanischen,  allein  ohne  hinlänglichen  Grund.  Schrift- 
steller, die  Lateinisch  schreiben,  haben  den  wahren  Namen  noch  eleganter  in  fons 
rapidus  oder  rabidiis  verdreht. 

**)  Mem.  sur  la  derniere  guerre  cet.  p.  114.  Die  genaueste  und  ausführlichste 
Zeichnung  der  Gegend  zwischen  St.  Jean  de  Luz  bis  Fuenterrabz'a  findet  man  auf  der, 
dieser  Schrift  beigefügten  Karte  der  französischen  und  Spanischen  Grenze. 

*)  „fiel"  verbessen  aus  „ergab  sich". 


40 


Die  Vasken. 


fortkommen,  und  selbst  für  das  Reiten  sind  manche  Wege  noch 
gefährlich  oder  unbequem.  Gewöhnlich  findet  man  schmale 
schlecht  gepflasterte  Strassen,  die  indess  wenigstens  ein  ziemlich 
häufiges  Verkehr  der  Oerter  unter  einander  beweisen. 

Ein  solcher  führte  uns,  meistentheils  im  Schatten  kleiner  Eichen- 
gehölze, an  dem  Fusse  des  Jaizquibels  hin;^)  zu  unsrer  Linken 
sahen  wir  die  schön  angebaute  Ebne,  die  aber  überall  von  Hügeln 
und  lieblichen  Gründen  durchschnitten  ist.  Wir  wurden  es  müde, 
immer  nur  den  öden  Jaizquibel*)  im  Gesichte  zu  haben,  und 
durch  ihn  der  freien  Aussicht  auf  das  Meer  beraubt  zu  werden, 
wir  verliessen  unsre  Pferde,  und  trotz  der  Hitze  des  Mittags,  be- 
stiegen wir  den  Gipfel  des  Bergs. 

Bis  auf  ein  Drittheil  ungefähr  ist  er  noch  mit  Gehölz  be- 
wachsen; hernach  kommt  wüste  und  steinigte  Heide.  Das  Auf- 
steigen ist  wegen  der  Steile  auch  für  Fussgänger  beschwerlich; 
dennoch  fährt  man  hier  sogar  mit  Ochsenwagen  hinauf,  und  man 
sieht  so  wenigstens  den  Grund  ihrer  Kleinheit  '^)  ein. 

Oben  überraschte  uns  die  ungeheure  Meeresaussicht.  Die  un- 
ermessliche  Flut  lag,  ohne  allen  unterbrechenden  Gegenstand,  vor 
uns;  um  die  heisse  Mittagsstunde  still  und  wellenlos  gelagert, 
schien  ihr  äusserster  Saum,  wie  Duftwolken  am^  Horizonte  empor- 
zusteigen; die  wüste  Einsamkeit  des  Berges  entsprach  dem  An- 
blick des  Meers  und  Land,  Himmel  und  Wasser  vollendeten 
zugleich  das  Bild  einer  furchtbaren,  Schwermuth  erregenden  Oede. 
Welchen  Eindruck  musste  dieser  Anblick  auf  den  Römer  machen, 
als  sich  zuerst  seine  Flotten  von  dem  oft  besuchten  Mittelmeer 
in  diesen  einsamen  Busen  wagten,  zu  einer  Zeit,  wo  vermuthlich 
noch  undurchdringliche  Waldungen  diese  unwirthbare  Küste  be- 
deckten, wo  noch  keine  wohlthätige  ^)  Cultur  die  Rauhigkeit  des 
Climas  gebrochen  hatte,  wo  ihm  keine  Spur  menschlichen  Fleisses 
entgegenlächelte,  und  die  Wildheit  der  Bewohner  und  der  bar- 
barische Klang  ihrer  Töne,   die  sein  verweichlichtes  Ohr  sich  so- 


*)  Der  Jaizquibel  hat  seinen  Namen  von  seiner  Lage.  Quibela  oder  guibela 
heisst  das  Hintertheil  von  etwas,  guibelean,  hinter.  Die  erste  Silbe  soll  von  Itsasoa, 
Meer,  herkommen,  also  hinter  dem  Meer,  Meeresrücken, 

')  „an  —  hin"  verbessert  aus  „zu  unsrer  Rechten  stieg  der  Jaizquibel  auf 
in  die  Höhe". 

^)  „den  —  Kleinheit"  verbessert  aus  „warum  es  nothwendig  ist,  dieselben  so 
klein  zu  bauen". 

*)  „wohlthätige''  verbessert  aus  „milde". 


Pasages.    (Le  Passage.)  ai 

gar  in  einigen  wenigen  Eigennamen  aufzubewahren  scheute,*)  die 
Furchtbarkeit  der  Gegend  noch  vermehrten. 

Wir  gingen  eine  lange  Strecke  oben  auf  dem  Gipfel  hin.  Die 
Heide  des  Bergs  senkt  sich  in  mehreren  Hügeln  zum  Meeres- 
ufer hinab,  oben  weidete  einzelnes  Vieh.  Vor  uns  zeigten  sich 
neue  Gebirge,  unter  denen  wir  besonders  zwei  in  gleicher  Ge- 
stalt und  Höhe  schwesterlich  aufsteigende  Spitzen  bemerkten. 
Wir  traten  nun  in  eine  neue  Berggegend  ein,^)  und  die  bekann- 
ten Gipfel,  die  wir  bis  Jetzt  jeden  Alorgen  begrüsst  hatten,  fingen 
an,  in  der  Ferne  zu  verschwinden. 

Die  Ebne,  die  man  vom  Jaizquibel  aus  übersieht,  ist  das 
Thal  von  Oyarzuna.  In  den  Urkunden  des  Mittelalters  geschieht 
dieses  Thals  häufige  Erwähnung;  es  erstreckte  sich  damals  von 
St.  Sebastian  bis  an  die  Bidasoa,  und  begriff,  ausser  dem  Flecken 
Oyarzun  selbst,  noch  Fuenterrabia,  Renteria,  und  Irun  unter 
sich;  Pasages  hiess  sogar  nur  der  Hafen  von  Oyarzuna.  Die 
Spanischen  Schriftsteller  rühmen  den  Muth  und  die  Leibesstärke 
seiner  Bewohner,  und  die  Könige  von  Spanien  ertheilten  demselben 
mehrere-)  Privilegien.  Seit  dem  13.  Jahrhunderte  aber  erhielten 
einige  dazu  gehörende  Orte  besondre  Freiheiten  und  eigne  Ge- 
richtsbarkeit, und  seitdem  ist  der  Name  Oyarzun  auf  die  nächste 
Gegend  um  den  Ort,  der  ihn  trägt,  beschränkt  worden. 

Als  Plinius  in  seiner  geographischen  Beschreibung  Europas 
von  Gallien  zu  Spanien  übergeht,  nennt  er  zuerst  von  den  Pyre- 
naeen  aus  am  Ocean :  das  Vasconische  Waldgebirge  Olarso.**) 
Derselbe  Ort,  nur  mit  verschiedenen  Veränderungen  des  Namens, 
larso,  Oeaso,  Eason,  findet  sich  auch  bei  den  übrigen  Erdbeschrei- 
bern  der  Alten.  Man  erkennt  hierin  leicht  den  heutigen  Namen 
des  Orts,  in  den  Urkunden  des  Mittelalters  Oyarzo,  wieder,  und 
man  sieht  zugleich  hierin  einen  Beweis  des  Alters  der  Vaskischen 
Sprache.  Denn  Oyarzuna  ist  ein  rein  Vaskisches  Wort  und  deutet 
eine  steinigte  Anhöhe***)  an.     Wirklich  ist  der  heutige  Flecken  aui 

*)  Die  alten  Schriftsteller  klagen  namentlich  über  die  entsetzliche  Härte ')  der 
Namen  der  Nordküste  Spaniens. 

**)  IV.  34.   Vasconum  saltus,  Olarso. 

***)  Oyana  heisst,  vorzüglich  im  Labortanischen  Dialect,  Wald,  Gebüsch,  und  daher 
erklärt   Oihenart  Oyarzun  durch  locum  siluestre}7i.     Allein  nach  Herrn  Astarloas  scharf- 

^)  „traten  —  ein"  verbessert  ans  „saheti  jetzt  eine  neue  Berggegend  vor 
uns,  in  die  wir  kommen  sollten". 

*)  „mehrere"  verbessert  aus  „daher  besondre". 

*)  „Härte"  verbessert  aus  „Schwierigkeit  der  Aussprache". 


42 


Die  Vasken. 


einer  solchen  gebaut,  und  das  ganze  Thal  von  dergleichen  Hügeln 
unterbrochen.  Das  Vorgebirge  Oeaso  ist  vermuthlich  der  Jaizqui- 
bel  oder  dessen  äusserste  Spitze,  la  funta  del  Higuer,  und  der 
Flecken  gleiches  Namens  lag  wahrscheinlich  mehr  landeinwärts  '^) 
oberhalb  Pasages ;  *)  denn  auch  da  noch  konnte  er  leicht  von  dem 
Busen  des  Meeres  bespült  werden,  da  das  Meer  ehemals  an  dieser 
Seite  tiefer  ins  Land  ging,  und  man  noch  jetzt  weiss,  dass  bei 
Renteria  sonst  Schiffswerfte  waren,  wo  sich  jetzt  Gärten  befinden. 
Von  den  Wäldern,  deren  Plinius  gedenkt,  würde  man  jetzt  nicht 
gleich  viele  mehr  antreffen.  Doch  hat  es  noch  Zeiten  gegeben, 
wo  der  Flecken  Renteria  allein  29  aus  seinen  eignen  Waldungen 
erbaute  Kauffartheischiffe  besass. 

Beim  Heruntersteigen  vom  Jaizquibel  fanden  wir  den  Weg 
felsigter,  auch  benahmen  uns  viele  meistentheils  mit  Gehölz  be- 
kränzte vortretende  Hügel  die  freie  Aussicht  auf  die  Ebne  und 
Hessen  uns  nur  in  die  kraterä)inlichen  Kessel  blicken,  die  sie 
bilden.  Der  Charakter  der  Gegend  ist  hier  an  der  Küste  fast 
überall  derselbe.  Kleinere  und  grössere  Bäche  ergiessen  sich,  von 
den  entfernteren  Bergen  herkommend,  ins  Meer.  Die  Fluth  steigt 
in  ihnen  hinauf  und  lässt  ihren  Schlamm  zurück.  Daher  immer 
enge  Thäler  zwischen  den  Bergen,  tiefe  Flussbetten  und  häufige 
Sandrisse.  Von  der  Höhe  hatten  wir  noch  einmal  die  Aussicht 
auf  eine  schöne  Bucht.  Zwei  vortretende  Klippen  bildeten  eine 
enge  Mündung,  auf  der  ruhigen  grünbeschatteten  Fläche  der  lieb- 
lich mit  Gebüsch  überhangenen  Bucht  schwamm  ein  Fischernachen 
und  durch  die  Enge  der  Felsenöfnung  sah  man  auf  die  hohe  See. 

Der  Jaizquibel  ist  278  französische  Klaftern  hoch,**)  wir 
waren    schon    beträchtlich   hinuntergestiegen    und    sahen    in    der 


sinniger  Bemerkung  drückt  die  Silbe  O,  Oi,  und  davon  Oyana,  oihana,  vorzüglich  in 
Namen,  eine  Anhöhe,  einen  Berg  aus.  So  bei  Marquina  S.  Christoval  de  Oiz  (der 
Heilige  Christoph  von  der  Höhe),  Oion,  Oyarzun  von  Oyana,  Höhe,  und  ar'ria,  Stein, 
und  Oihenarts  Name  selbst  (von  o  und  artea,  zwischen),  einer  der  zwischen  zwei  An- 
höhen wohnt.  Die  Bedeutung  des  Waldes  ist  erst  abgeleitet,  die  Verwechslung  beider 
Begriffe  aber  in  Gebirgsgegenden  natürlich,  und  auch  in  andern  Sprachen  gewöhnlich,  wie 
das  Spanische  monte  beweist. 

*)  So  giebt  Risco  in  der  Espana  sagi'ada  Vol.  XXXII.  p.  186.  sq.  ihre  Lage  an,  er 
bestimmt  sie  (wohl  aber  zu  genau)  durch  eine  Höhe,  die  jetzt  Basanoaga  (vielleicht  von 
Basoa,  anoa  und  aga,  Walddickichtort)  heisst. 
**)  Mein,  sur  la  derniere  giierre  cet.  p.  12. 

^)  „mehr  landeinwärts"  verbessert    aus  „tiefer  ins  Land  hinein  und  in  der 
Nähe  des  heutigen  Oyarzuna". 


Pasages.    (Le  Passage.)  42 

Tiefe  ein  schönes  Eichengehölz  unter  uns.  Gleich  einem  durch  die 
Natur  selbst  geformten  Altar,  lag  ein  grosses  Felsstück  vor  einer 
alten  mächtigen  Eiche,  wie  man  sie  selten  in  südhchen  Ländern 
antrift,  in  einiger  Entfernung  davon  ein  Kreis  andrer  kleinerer. 
Wir  lagerten  uns  hier  auf  einige  Augenblicke;  als  wir  aber  im 
Schatten  von  der  Ermüdung  des  Steigens  sanft  ausruhten,  ahn- 
deten wir  nicht,  dass  wir  nur  um  wenige  Schritte  von  dem  lieb- 
lichsten Flecke  geschieden  waren,  den  vielleicht  an  der  ganzen 
Französischen  und  Spanischen  Küste  das  Meer  bespült.  Wie  gross 
war  daher  unsre  Ueberraschung,  als  wir,  da  wir  wieder  aufge- 
standen waren,  und  an  den  Abhang  des  Berges  kamen,  erst  die 
Gipfel  von  Schiffsmasten,  dann  eine  neue  Bucht,  die  mahlerischsten 
Felsgruppen  und  zwischen  ihnen  und  dem  Meer  weissschimmernde 
Häuser  erblickten.  Wir  stürzten  mit  Ungeduld  die  kleinen  Fels- 
stufen, an  deren  Rande  wir  standen,  hinunter,  und  befanden  uns 
auf  einmal^)  auf  den  Strassen  von  Pasages. 

Wir  entliessen  hier  unsern  Begleiter,  einen  Bauerknaben,  den 
wir  von  dem  Felde  zum  Wegweiser  über  den  Berg  mitgenommen 
hatten.  Er  wusste  kein  Wort  Spanisch.  Wir  suchten  zwar  alles 
unser  Vaskisch  zusammen,  aber  nur  wenigemale  gelang  es  uns, 
ihm  eine  verständliche  Antwort  zu  entlocken.  Meistentheils  mussten 
wir  uns  an  seinem  traurigen  Ezfaquit  (ich  verstehe  es  nicht)  be- 
gnügen. 

Die  Schönheit  und  Sicherheit  des  Hafens  von  Pasages  ist  aus 
andern  Beschreibungen  längst  bekannt.  Nur  die  Mündung  desselben 
ist  ausserordentlich  enge,  und  daher  das  Ein  und  Auslaufen  nicht 
ohne  Gefahr.  Das  Meer  bildet  zwischen  hohen  und  schroffen  Felsen 
eine  -)  lange  und  schmale  Strasse  ins  Land  hinein ;  von  dem  dies- 
seitigen Ufer  angesehen,  treten  in  derselben  drei  Felsen,  der  mittlere 
mehr,  als  die  andern,  vor,  und  bilden  wieder  in  ihr  zwei  kleinere 
Buchten.  An  dem  aeussern  Eingange  ist  das  Fort  Ste.  Isabelle,  am 
Innern  das  Fort  St.  Sebastien  gebaut.  Am  Ende  dieser  Felsstrasse 
erweitert  sich  der  enge,  von  beiden  Seiten  von  furchtbaren  Fels- 
wänden bedrohte  Meeresarm  in  ruhige,  freundliche  Buchten.^) 
Das  eigentliche  Hafenbecken  ist  in  dem  Flecken  selbst,  von  da 
wendet   sich   die  Fluth   links  und  dehnt  sich   gegen  St.  Sebastian 


*)  Nach  „einmal''  gestrichen:  „mitten". 

*)  Nach  „eine"  gestrichen:  „ziemlich". 

')  „freundliche  Buchten"  verbessert  aus  „Buchten  und  freundliche  Seen". 


44 


Die  Vasken. 


ZU  in  einen  See  aus,  den  Weinberge  und  Gärten  umschliessen. 
Ein  andrer  Theil  des  Wassers  reicht  bis  an  Lezo,  und  kleinere 
Arme  noch  jetzt,  denn  ehemals  kamen  selbst  grössere  Schiffe  so- 
weit, bis  an  Renteria. 

Dies  mildernde  Uebergehen  furchtbarer  Felsmassen  in  niedrige, 
schön  bebaute  Hügel,  und  die  tiefe  Ruhe  des  Hafens  dicht  hinter 
den  wütenden  Wellen  des  Oceans  geben  diesem  Ort  einen  einzigen 
und  unnachahmlichen  Zauber.  Abgeschieden  von  der  übrigen 
Welt  fühlt  man  sich  wie  festgewurzelt  in  diesem  köstlichen  Ufer- 
thal, eilt  bald  von  der  dunkeln  Tiefe  des  Hafens  zu  dem  glänzenden 
Spiegel  des  weiten  Sees,  bald  von  diesem  zu  jenem  zurück,  kann 
sich  nicht  sättigen  an  dem  Genuss  dieser  freundlichen  Einsamkeit 
in  der  alle  furchtbare  Massen  nur  als  Schutzwehren  gegen  das 
Meer  gekehrt  scheinen,  damit  nichts  die  himmlische  Ruhe  dahinter 
unterbreche.  W^elchen  der  umherliegenden  Gipfel  man  besuche,^) 
die  Höhe  über  der  Bucht,  oder  den  prächtigen  Eichenwald  am 
Abhänge ,  oder  die  Kapelle  der  Heiligen  Anna  dicht  bei  dem- 
selben, überall  sieht  man  die  Felsen  von  üppigem  Gesträuch  und 
mannigfaltigem  Grün  überhangen,  die  Hügel  sorgsam  angebaut 
und  bepflanzt.  Die  kahle  Scheitel  des  Jaizquibels  tritt  zu  sehr 
zurück,  um  den  herrlichen  Anblick  zu  stören,  und  kein  lieblicherer 
Wechsel  kann  auf  die  Wüste  dieses  Bergrückens  folgen. 

Wer  mit  ^)  Naturgenüssen  geizt,  wird  Pasages  nie  auf  einem 
andern  Wege  besuchen,  als  auf  diesem,  den  der  Zufall  uns  finden 
Hess.  Für  diejenigen,  die  von  Bayonne  nach  Madrid  fahren  und 
ihren  Wagen  nicht  auf  lange  verlassen  wollen,  ist  es  am  leichtesten 
von  Oyarzun  aus  dahin  zu  kommen.  Denn  an  Oyarzun  liegt 
Renteria  so  nah,  dass  es  ehemals  nur  eine  Vorstadt  davon  war,*) 
und  bis  an  Renteria  geht  der  Meeresarm  von  Pasages.  Sie  dürfen 
daher  nur  alsdann  ihren  Wagen  in  Oyarzun  lassen  und  haben 
einen  sehr  kurzen  Weg  zu  reiten  oder  zu  gehen. 

Die  Häuser  von  Pasages  sind  zum  Theil  an  dem  einen  Ufer 
des  gegen  St.  Sebastian  zu  liegenden  Sees,  zum  Theil  um  den 
Hafen  herum  gebaut.  Hinter  diesen  steigen  unmittelbar  schroffe 
Felswände  empor,  und  man  ging  aus  dem  Wirthshause,  in  das  wir 

*)  Renteria  heisst  ein  Pacht-Gut,  und  ist  ein  allgemeiner  Name  mehrerer  kleiner, 
dicht  neben  grösseren  liegender  Orte.  So  giebt  es  unter  andern  eine  Renten'a  de 
Ondarroa  und  de  Guernica. 

^)  „besuche"  verbessert  aus  „besteige". 

^)  „mit"  verbessert  aus  „nach". 


Pasages.     {Le  Passage.J  45 

einkehrten,  ebenen^)  Fusses  von  dem  Boden  auf  eine  Terrasse 2) 
des  Bergs.  Von  vorn  werden  sie  oft  von  der  Flut  überschwemmt. 
In  diesem  Gedränge  sind  die  Einwohner  nicht  selten  ihre  Wohnungen 
zw  wechseln  genöthigt,  was  bei  der  Kleinheit  der  Häuser  ohne 
viele  Weitläuftigkeit  geschieht.  Wir  sahen  an  mehreren  Orten 
verlassene  Trümmer  stehen. 

Wenige  Tage  vor  unsrer  Ankunft,  war  eine  Französische 
aus  Isle  de  France  kommende  Fregatte,  VEgiptienne^  in  Pasages 
eingelaufen.  Das  Wirthshaus  war  mit  Passagieren  derselben  an- 
gefüllt, die  sich  mit  erstaunlicher  Neugier  nach  allem  erkundigten, 
was  sich  in  Frankreich  seit  mehreren  Monaten,  in  denen  sie  ohne 
Nachricht  geblieben  waren,  zugetragen  hatte. 

In  dem  Augenblick,  da  diese  Fregatte  in  den  Hafen  einlief, 
erschoss  sich  in  demselben  ein  französischer  Capercapitaine  in 
seinem  Schiff.  Er  hatte  8  Schiffe  erbeutet  und  alle,  bis  auf  zwei 
sehr  unbedeutende,  wieder  verloren.  Es  war  erst  sein  zweites 
Auslaufen  und  er  lag  nun  müssig  und  voller  Verzweiflung  in 
Pasages.  Als  er  die  Egiptienne  in  den  Hafen  hereinkommen 
sah,  fragte  er,  was  es  für  ein  Schiff  sey?  Man  sagte  es  ihm,  und 
setzte  hinzu,  dass  sie  eine  ungewöhnlich  schnelle  und  schöne  Fahrt 
gemacht  habe.  AJi!  qiCüs  sont  heureux  ceux-la!  rief  er  aus,  ging 
vom  Verdeck  in  seine  Stube  und  erschoss  sich. 

Zu  gleicher  Zeit  hatte  sich  eine  andre  unglückliche  Begebenheit 
zugetragen.  Die  Spanische  Regierung  hatte  ein  augenblickliches 
Verbot  auf  das  Auslaufen  der  Schiffe  gelegt.  Ein  nach  der 
Guadeloupe  bestimmtes  Französisches,  das  schon  lange  im  Hafen 
lag,  hatte  die  Kühnheit,  um  diesem  Verbot  zu  entgehen,  in  einer 
sehr  stürmischen  Nacht,  den  Hafen  verlassen  zu  wollen.  Es 
strandete,  eilf  Menschen  kamen  um,  der  Capitaine  aber  und  seine 
drei  Brüder  (alle  Officiere  des  Schiffs)  retteten  sich.  Unter  den 
Umgekommenen  war  eine  Frau  mit  ihrem  Kinde,  die  ihrem 
Mann  nach  Guadeloupe,  wo  er  sich  aufhielt,  nachgehen  wollte. 
Die  Unglückliche  schien  ein  Vorgefühl  ihres  Schicksals  zu  haben. 
Solange  sie  in  Pasages  gewesen  war,  hatte  sie  nicht  aufgehört 
allen  ihren  Bekannten  davon  zu  reden.  Je  iiiembarque,  sagte  sie 
oft,  viais  je  sais  qiie  je  vais  me  perdre. 

Spät  am  Abend  Hessen  wir  uns  über  den  See  nach  St.  Sebastian 
übersetzen.     Es  sind  immer  Mädchen,  welche  hier  die  Stelle  der 

')  „ebenen"  verbessert  aus  „gerades". 

*)  „eine  Terrasse"  verbessert  aus  „die  Spitze". 


Aß  Die  Vasken. 

Ruderer  vertreten;  sie  umringen  den  Fremden,  so  wie  er  sich 
nur  dem  Wasser  nähert,  und  eifern  in  unverständUchem  Vaskisch 
mit  einander  um  die  Ehre  ihn  überzufahren.  An  dem  jenseitigen 
Ufer  fanden  wir  unsre  Pferde,  und  ritten  nach  St.  Sebastian.^) 
Am  See  empfiengen  uns  eine  Menge  Kinder,  meistentheils  Mädchen, 
mit  Tambourins  und  begleiteten  uns,  spielend  und  tanzend,  mit 
entsetzlichem  Geschrei  in  die  Stadt  hinein.  Diese  Art  zu  betteln 
ist  jedoch  hier  nur  den  Maimonat  hindurch  üblich. 

St.   Sebastian. 

Das  Ländchen  Guipuzcoa,  in  welchem  St.  Sebastian  der  vor- 
züglichste Handelsplatz  ist,  erstreckt  sich  von  der  Bidasoa  bis  an 
den  kleinen  Fluss,  der  sich  bei  Ondarroa  ins  Meer  ergiesst.  Gegen 
Mittag  gränzt  es  an  Navarra  und  Alava.  Es  ist,  wie  alle  Biscayische 
Provinzen,  sehr  gebirgigt,  aber  dennoch,  vorzüglich  in  einigen 
Gegenden,  ungemein  fruchtbar,  upd  unter  allen  am  meisten  bevölkert. 
Die  Volkszählung  von  1787.  giebt  die  Zahl  der  Einwohner  auf 
120  716  an.  In  Rücksicht  der  Sprache  hat  diese  Provinz  ihren 
eigenen  Dialect,  der  für  das  Ohr  des  Fremden  angenehmer,  als 
der  eigentlich  Vizcayische,  obgleich  nicht  so  lieblich  als  der 
Französische  (Labortanische)  ist.  Ueber  den  Ursprung  des 
Namens  Guipuzcoa*)  hat  man  vielerlei  wunderbare  Vermuthungen 
gemacht;  obgleich  die  Töne  otlenbar  Vaskisch  sind,  dürfte  es 
schwer  seyn,  auf  etwas  nur  irgend  Wahrscheinliches  zu  kommen ; 
in  älteren  Urkunden  wird  das  Land  gewöhnlich  Ipuscua,**) 
Ypuscua  genannt,  und  in  einer  vom  Jahr  980.  heisst  S.  Sebastian 
bloss  S.  Sebastian  de  Puzico.***) 

Jedermann  kennt  die  bedeutenden  Freiheiten,  welche  die 
Biscayischen  Provinzen  geniessen.  Da  sie  nicht  durch  Eroberung, 
noch   Erbschaft,   sondern   durch   freiwillige  Uebergabe   der  Krone 

*)  Oihenarts  Ableitung  von  den  Biturigibus  Ubiscis  oder  Viuiscis  ist  gleich 
unstatthaft,  als  die  andern.  Not,  Vascon.  p.  163.  Die  Vhiisci  waren  überdies 
fremde  Völker  in  Aquitanien  und  stammten  von  Nordgallien  her.     Strabo.  IV.  p.   131.  (?) 

**)  Oihenart  /.  c.  behauptet,  dass  es  eben  diesen  Namen  bei  den  Eingebohrnen 
führe ;  allein  in  gedruckten  Vaskischen  Büchern ,  unter  andern  schon  in  Ascular's 
Gueroco  giiero  ^)  finde  ich  immer  Guipuzcoa. 

***)  Marca  Hist.  de  Beame.  l.  I.  c.  4.  (?)  [Larram.  Dicc.  I.  LXXI.]  Wären  die 
Wohnsitze  der  Paesiker  (Paesici.  Plin.  ed.  Bip.  IV.  34.  Cellarii  not.  orb.  ant.  I.  86. 
§.  56.  Mannert.  I,  345.)  nicht  zu  weit  westlich,  noch  hinter  den  Cantabrern  gewesen, 
so  könnte  man  bei  der  Ableitung  des  Namens  an  sie  denken. 

^)  „nach  St.  Sebastian"  verbessert  ans  „in  die  Stadt  hinein". 

^)   Vgl.  Band  ß,  26g. 


St.  Sebastian. 


47 


einverleibt  wurden,  so  hieng  es  von  ihnen  ab,  die  Bedingungen 
dabei  festzusetzen.^)  Bekanntlich  geschah  diese  Einverleibung  im 
Jahr  1200.  unter  Alphons  8.  Alava  und  Guipuzcoa  waren  bis 
dahin,  nur  mit  kleinen  Unterbrechungen,  der  Krone  Navarra 
unterworfen  gewesen.  Als  aber  Alphons  8.  (in  Castilien  eigent- 
lich 3.)  im  Kriege  mit  Sancho  von  Navarra  Vitoria  belagerte, 
riefen  ihn  die  mit  Sancho  unzufriednen  Guipuzcoaner  zu  sich, 
fielen  von  Navarra  ab,  und  unterwarfen  sich  ihm.  Es  scheint, 
als  hätte  sich  Guipuzcoa  gleich  damals  ganz  und  unwiderruflich 
an  Castilien  ergeben,  da  man  von  demselben  nicht,  wie  von  Alava, 
eine  zweite  Unterwerfung  angemerkt  findet.  Doch  sind  die  näheren 
Bedingungen  dieser  Uebergabe  nicht  bekannt.  Ueberhaupt  ist  es 
zu  bedauern,  dass  die  Geschichte  Biscayas  noch  bis  jetzt  so  wenig 
Aufklärungen  erhalten  hat.  Die  sparsamen  -)  Bruchstücke ,  die 
man  davon  antrift,  muss  man  mühsam  aus  den  allgemeinen  Ge- 
schichtschreibern Spaniens  und  Navarra's  zusammensuchen;  die 
einzigen,'^)  welche,  soviel  ich  weiss,  bloss  Biscava  zu  ihrem  Zweck 
gemacht,  dies  aber  ganz  umfasst  haben,  sind  Oihenart*)  und 
Henao.  *)  Des  letzteren  Cantabrische  Alterthümer  aber  bleiben 
in  vieler  Rücksicht  unbefriedigend,^)  und  der  erstere  führt  nur 
die  Geschichte  des  Französischen  Basquenlandes  und  Navarras 
weiter  aus.  Ungemein  wäre  es  daher  zu  wünschen,  dass  ein 
vaterländischer  Schriftsteller  diese  wichtige  Lücke  ausfüllte.  Diesem 
würde  es  alsdann  nicht  an  hinlänglichen  Materialien  fehlen.  In 
wenig  Landern  giebt  es  in  öffenthchen  und  Privat  Archiven  so 
reichhaltige  Quellen  für  die  vaterländische  Geschichte,  als  in  Spa- 
nien; in  wenigen  ist  die  Lust  nach  Untersuchungen  dieser  Art, 
und  selbst  eine  gewisse  Geschicklichkeit,  Urkunden  zu  lesen  und 
abzuschreiben,  so  allgemein  verbreitet,  und  gewiss  fände,  wer 
diese  Geschichte  zu  bearbeiten  unternähme,  auch  manche  hand- 
schriftliche vor  Zeiten  zu  gleichem  Behuf  gemachte  Arbeit,  die  er 
benutzen   könnte.     Ich  selbst   erinnre   mich,    ohne   weitere   Xach- 

*)  Notitia  utriusque  Vasconiae  tum  Ibericae,  tum  Aquitanicae  cet.  authore 
Arnaldo  Oihenarto  Mauleosolensi.     (Mauleon  in  der  Provinz  Soule.)  Parisiis.  1638.  4. 

^)  l>lach  ,,festziisetze)i"  gestrichen :  „und  die  Könige  von  Spanien  haben  diese  Vor- 
rechte mit  ebensoviel  Gewissenhaftigkeit  heilig  gehalten,  als  die  Eingebohrnen  selbst." 

^)  „sparsamen''  verbessert  aus  „wenigen". 

')  Nach  „einzigen"  gestrichen:    „Schriftsteller". 

*)  Hier  steht  ein  Fragezeichen  als  Anmerkung.  Henaos  „Averiguaciones 
de  las  antiguedades  de  Cantabria"  erschienen  Salamanca  i68g—gi. 

"*)  „unbefriedigend"  verbessert  ans  „unvollständig" . 


^8  Die  Vasken. 

forschung,  bei  einem  Gelehrten  in  Vitoria  eine  ungedruckte  ^)  Ge- 
schichte Guipuzcoas  und  in  dem  Hause  der  Mazarredo's  in  Bilbao 
eine  der  Familie  ^)  der  Salazare,  eines  der  ältesten  und  berühm- 
testen Spanischen  Geschlechter,  das  durch  eine  Erbtochter  in  das 
Mazarredosche  überging  und  seinen  Stammsitz  in  Vizcaya  hatte, 
gesehen  zu  haben. 

Am  dunkelsten  ist  die  Geschichte  Guipuzcoa's.  Man  weiss 
nicht  einmal,  ob  es  eigne  Grafen,  wie  Vizcaya,  hatte  oder  nicht. 
Man  findet  bloss  einzelne  Beispiele  dass  in  Urkunden  der  Titel : 
Herr  von  Ipuscua  vorkommt,  und  überhaupt  ist  es  wahrscheinlich, 
dass  sich  diese  Provinz,  wie  die  übrigen,  sey  es  nun  regelmässig 
oder  von  Zeit  zu  Zeit,  eigne  Beschützer  gewählt  habe.  Erst  unter 
Heinrich  4.  erhielt  sie  das  Vorrecht,  nur  unmittelbar  dem  Könige 
unterwürfig  zu  seyn,  und  auch  von  ihm  unter  keiner  Bedingung 
verkauft  oder  einem  andern  überlassen  zu  werden.*) 

Die  Darstellung  der  kleinlithen  Befehdungen  und  Innern  Un- 
ruhen, von  denen  ganz  Biscaya,  ehe  Spanien  zur  Innern  poh- 
tischen  Consistenz  gelangte,  ununterbrochen  der  Schauplatz  war, 
könnte  man  dem  künftigen  Geschichtschreiber  desselben  ohne  Mühe 
erlassen.  Aber  höchst  interessant  müsste  es  seyn,  die  Umstände 
entwickelt  zu  sehen,  unter  deren  Begünstigung  es  diesem  kleinen 
Bergvolke  gelang,  sich  in  Zeiten,  wo  ueberall  ^)  Unterdrückung 
und  Gewaltthätigkeit  herrschte,  eine  Verfassung  zu  geben,  die, 
gleich  weit  von  Despotismus  und  Anarchie  entfernt,  durchaus 
einen  edlen  Freiheitsgeist  athmet,  und  deren  wohlthätige  Folgen 
auf  die  Sitten   und   den  Charakter   noch   jetzt  unverkennbar  sind. 

Die  Vorrechte,  welche  Biscaya  auszeichnen,*)  sind  im  Ganzen 
allen  drei  Provinzen  gemein.  Aber  die  Verfassung  der  einzelnen 
weicht  beträchtlich  von  einander  ab.  Die  von  Guipuzcoa  ist 
weniger  verwickelt,  als  die  Vizcayische,  und  beide  sind  reiner 
demokratisch,  als  die  von  Alava. 

Alle  entscheidende  Macht  bei  der  Verwaltung  der  Angelegen- 
heiten der  Provinz  geht  in  Guipuzcoa  von  der  Versammlung  der 
Gemeinen  aus.  Sie  ist  es,  welche  den  General-Deputirten  sowohl, 
als  die  Deputirten  der  Districte  wählt,   und   diese   sind   nicht  nur 

*)  Oihenart.  p.   170. 

^)  „ungedruckte"  verbessert  aus  „handschriftliche^^. 

^)  „der  Familie"'  verbessert  aus  „des  Hauses". 

*)  „ueberall'  verbessert  aus  „nichts  als." 

*)  „welche  Biscaya  auszeichnen"  verbessert  aus  „deren  Biscaya  geniesst". 


St.  Sebastian.  xq 

an  ihre  Beschlüsse  gebunden,  sondern  müssen  auch,  wenn  die 
Wichtigkeit  des  Falls  es  erfodert,  sie  aufs  neue  ^)  berufen,  und 
ihre  Entscheidung  abwarten. 

Die  Gemeinen  kommen  zwar  nicht 2)  selbst,  sondern  nur 
durch  Deputirte  zusammen;  allein  diese  werden  immer ^)  von 
neuem  gewählt,  und  die  Grundsätze,  nach  welchen  sie  stimmen, 
beruhen  durchaus  auf  der  Voraussetzung,  als  erschiene  jeder  selbst, 
und  gäbe  seine  Stimme  in  Person  ab.  Jedem  Ort  nemlich  sind 
nach  Massgabe  der  Anzahl  seiner  Familienhäupter  {vecinos\  bei 
der  ersten  Einrichtung  dieser  Verfassung,  eine  gewisse  Menge 
von  Stimmen  eingeräumt  worden,  und  das  Gewicht,  das  er  der 
Entscheidung  hinzufügt,  hängt  nun  von  dieser  Anzahl  der  Stimmen, 
nicht  der  Deputirten  ab,  die  er  sendet.  Denn  diese  ist  willkühr- 
lich,  auch  pflegt  jeder  Ort  gewöhnlich  nur  einen  oder  zwei  zu 
ernennen.  Diese  Art  zu  stimmen  hat  natürlich  den  Nachtheil,  dass 
die  grösseren  Ortschaften  allein  die  Entscheidung  in  ihren  Händen 
haben.  Sind  die  8  oder  lo  Deputirten  dieser  für  eine  Sache  ge- 
wonnen, so  schlägt  das  Gewicht  ihrer  Stimmen  die  übrigen  70, 
wenn  sie  auch  alle  einmüthig**)  einer  andern  Me3'nung  wären,  da- 
nieder.  Denn  die  Zahl  aller  Deputirten  pflegt  sich  auf  80  zu  belaufen. 

Diese  Generalversammlung^)  geht  in  18  Orten  Guipuzcoas 
um.  Sie  ist  bestimmt  den  General-  und  die  Districtsdeputirten  zu 
wählen,  über  allgemeine  LandesAngelegenheiten  zu  entscheiden, 
und  die  Punkte  festzusetzen,  über  die  in  der  nächstfolgenden  Ver- 
sammlung ^)  berathschlagt  werden  soll.  Die  Zusammenkunft  ge- 
schieht in  einem  verschlossenen  Zimmer,  nicht  öffentlich,  und  der 
Vortrag  immer  in  Spanischer  Sprache.  Nur  erklärt  man,  wenn 
die  Sache  wichtig  ist,  denen,  welche  kein  Spanisch  wissen,  das 
Gesagte  auf  Vaskisch.  Die  Deputirten  sind  im  buchstäblichen 
Verstände  Stellvertreter  ihrer  Machtgeber.  Die  Gemeinen  schrei- 
ben ihnen,  sobald  die  Sache  ein  hinlängliches  Interesse  für  sie 
hat,  bestimmt  vor,  welche  Meynung  sie  äussern "')  sollen,  und  die 


^)  „aufs  neue''  verbessert  aus  „zusammen". 
*)  Nach  „nicht"  gestrichen:  „alle". 
*)  „immer"  verbessert  aus  „alle  Jahr". 
*)  „einmüthig"  verbessert  aus  „einstimmig". 

^)  Nach   „Generalversammlung"  gestrichen:    „wird  alle  zwei  Jahre  im  Ju- 
lius gehalten  und". 

®)  „in  —   Versammlung"  verbessert  aus  „im  nächstfolgenden  Jahre". 
■')  „äussern"  verbessert  aus  „begünstigen". 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     Xm.  4 


TQ  Die  Vasken. 

Stimmen  eines  Orts  werden  so  sehr  als  Eine  Collectivstimme  an- 
gesehen, dass,  wenn  zwei  Deputirte  einer  Gemeine  ^)  eine  ver- 
schiedene Meynung  äussern,  das  Stimmrecht  derselben  für  diesen 
Fall  gänzlich  aufgehoben  bleibt. 

An  ein  Repraesentativsystem  ist  also  hier  nicht  zu  denken ;  es 
ist  eine  reine,  und  vollkommene  Demokratie.  Niemand  lässt 
seinen  Willen  durch  einen  Fähigeren  vertreten,  jeder  entscheidet 
jede  Sache  selbst ,  und  der  Deputirte  ist  nur  das  Organ  der' 
Stimmenmehrheit  in  jeder  Gemeine. 

Der  Fall,  dass  die  Deputirten  desselben  Orts  in  ihren  Mey- 
nungen  nicht  übereinstimmen,  kommt  nur  selten  vor,  da  sie  nie 
versäumen,  bei  ihrer  Ernennung  ihre  Committenten  um  ihren 
Willen  in  dieser  oder  jener  Angelegenheit  zu  befragen.  Er  kann 
sich  daher  nur  dann  zutragen,  wann  die  Sache  dem  Ort,  der  sie 
abschickt,  wenig  wichtig  ist,  und  die  Berathschlagung  sie  unvor- 
bereitet antrift.  Ihre  Ernennung  geschieht  in  den  ^)  besondern 
Versammlungen  jeder  Gemeine.  In  diesen  hat  der  Alcalde  den 
Vortrag  und  gewöhnlich  wird  er  selbst  gewählt.^) 

Weder  in  diesen,  noch  in  der  General- Versammlung  gilt  irgend 
ein  Rangunterschied.  Jeder  Guipuzcoaner  ist  durch  seine  Geburt 
selbst  adlich;  jeder,  ohne  Unterschied  des  Vermögens  und  Ge- 
werbes, kann  zum  GeneralDeputirten  ernannt  werden;  nur 
müssen  alle,  welche  Stimmrecht  haben  sollen,  Grundeigenthümer 
seyn.  Von  dieser  Seite  ist  an  einigen  Orten  die  politische  Ver- 
fassung mit  der  Cultur  des  Landes  in  eine  wohlthätige  Verbindung 
gebracht.  Ein  merkwürdiges  Beispiel  hievon  sah  ich  auf  einem 
Spatziergange  bei  St.  Sebastian.*)  Neben  dem  Dorf  Artigarraga*) 
liegt  ein  hoher  ^)  Berg ,  von  einer  darauf  befindlichen  Capelle 
Santiago  genannt,  der  bis  auf  die  äusserste  Spitze  ungemein  gut 
bebaut  ist.*^)  Ich  wunderte  mich  über  diesen  ausserordentlichen 
Fleiss,  erfuhr  aber  nachher,  dass,  einem  alten  Herkommen  zufolge, 
niemand  im  Orte  die  Rechte  eines  stimmgebenden  Bürgers  ge- 
messen ')  könne,  ohne  Eigenthümer  eines  Ackerstücks  auf  diesem 

*)  Lindenplatz. 

')  „einer  Gemeine"  verbessert  aus  „eines  Orts". 

2)  Nach  „den"  gestrichen:    „jährlichen". 

^)  „gewählt"  verbessert  aus  „ernannt". 

*)  Nach  „Sebastian"  gestrichen:    „nach  Ernain  zu". 

^)  „liegt  ein  hoher"  verbessert  aus  „sah  ich  einen  hohen". 

•)  „ist"  verbessert  aus  „war". 

')  „die  —  gemessen"  verbessert  aus  „stimmgebender  Bürger  seyn". 


St.  Sebastian. 


51 


Berge  zu  seyn,  wieviel  er  auch  immer  in  der  Ebne  besitzen  möge. 
So  ist  durch  diese  auf  den  ersten  Anblick  wunderbar  scheinende 
Einrichtung  eine  ehemals  wüste  Heide  in  fruchtbares  Acker-  und 
Gartenland  verwandelt  worden. 

Der  GeneralDeputirte  steht  an  der  Spitze  der  Verwaltung 
aller  Landesangelegenheiten  und  behält  seine  Würde  zwei*)  Jahre 
hindurch.  Er  hat  einen  Adiunctus  zur  Seite,  und  berathet  sich, 
wenn  er  es  für  nöthig  hält,  mit  den  DistrictsDeputirten,  oder 
beruft  auch  eine  ausserordentliche  allgemeine  Versammlung.^)  Der 
Districtsdeputirten  [Dipidados  de  partido)  sind  8  an  der  Zahl,^) 
und  der  GeneralDeputirte  hält  mit  ihnen  jährlich  zwei  regel- 
mässige Zusammenkünfte,  die  eine  ^)  im  Julius,  die  andre  im  No- 
vember, um  ihnen  Rechenschaft  von  seiner  Verwaltung  abzulegen. 
Er  ist  *)  nichts  mehr  als  ihr  ^"orsitzer  und  kann,  wie  man  sieht, 
keine  Sache,  die  nur  von  einiger  Erheblichkeit  ist,  allein  nach 
seiner  Willkühr  entscheiden. 

Der  Sitz  des  GeneralDeputirten ,  so  wie  des  Königlichen 
Corregidors,  welcher  die  höchste  Justizinstanz  im  Lande  aus- 
macht, ging  ehemals  zwischen  den  vier  Städten  Tolosa,  St.  Se- 
bastian ,  Azcoytia  und  Azpeytia  um ,  und  der  GeneralDeputirte 
musste  immer  selbst  aus  einem  dieser  vier  Orte  genommen  wer- 
den. Man  vv'ünschte  seit  längerer  Zeit,  hierin  eine  Aenderung  zu 
treffen.  Aber  das  vorhin  bemerkte  Uebergewicht  der  grösseren 
vier  Ortschaften,  deren  Interesse  hier  gerade  im  Spiel  war,  ver- 
eitelte die  deshalb  gemachten  Versuche.  Endlich  setzte  man  es  auf 
die  Weise  durch,  dass  die  Sache  der  Entscheidung  einer  Com- 
mission  überlassen  wurde.  Jetzt  haben  der  GeneralDeputirte 
und  der  Corregidor  ihren  beständigen  Sitz  in  Tolosa,  das  sich 
durch  seine  Grösse,  und  seine  Lage,  an  der  Strasse  von  Madrid 
und  fast  mitten  im  Lande,  am  besten  dazu  schickt,  und  die  Wahl 
des  ersteren  ist  auf  keinen  einzelnen  Ort  mehr  eingeschränkt. 

Ein  sonderbares  Herkommen  ist   es  noch,   dass  sich  zur  Zeit 

*)  Josef  de    Beovide    schreibt  15.    Mai,   1784.    an    Hervas:    la  provincia   celebra 

todos  los  anos   sus  juntas en  cada  Junta  de  estas  se  nombra  iiTi  Dipu- 

tado  general.  —     Damals  wäre  er  alle  Jahre  gewählt. 

^)  Nach  „Versammlung"  gestrichen:  „aller  Deputirten". 

^)  Nach  „Zahl"  gestrichen :  „ihr  Attit  dauert  gleichfalls  nur  zwei  (aus 
„ein")  Jahr". 

*)  Nach  „eine"  gestrichen :  „14  Tage  vor  der  allgemeinen  Versammlung, 
am  2." 

*)  Nach  „ist"  gestrichen:    „alsdann". 

4* 


["2  Die  Vasken. 

der  Generalversammlung  kein  Advocat  noch  andrer  Rechts- 
gelehrter in  dem  Ort,  in  dem  sie  zusammenkommt,  und  in  einem 
gewissen  Bezirk  herum  aufhalten  darf.  Der  Ort  selbst  ernennt 
bloss  einige  Rechtsverständige,  deren  Rath  die  Versammlung 
nöthigenfalls  einholen  lassen  könnte.  So  sorgfältig,  scheint  es, 
suchte  man  den  einfachen,  aber  gesunden  Sinn  des  Landvolks, 
aus  dem  sehr  häufig  die  Deputirten  gewählt  zu  werden  pflegen, 
allein  wirken  zu  lassen  und  von  den  Einflüssen  einer  verfänglichen 
Rechtsgelehrsamkeit  frei  zu  erhalten.*) 

Der  König  kann  bekanntermassen  den  Biscayern  keine  Ab- 
gaben auferlegen ;  er  schreibt  nur,  wenn  es  die  Umstände  erfodern, 
freiwillige  Geschenke  aus.  Diese  werden  alsdann  in  Guipuzcoa 
nach  dem  Verhältniss  der  Stimmenzahl,  welcher  jeder  Ort  geniesst, 
vertheilt,  und  um  sie  aufzubringen,  legt  die  Gemeine  eine  kleine 
Auflage  auf  den  Verkauf  des  Fleisches,  Weins  u.  s.  f.^)  Durch 
ganz  Spanien  ist  diese  Art,  die  zu  den  Gemeineausgaben  nöthigen 
Summen  zu  erheben,^)  die  gewöhnliche.  Man  nennt  dergleichen 
Auflagen  Arbitrios,  so  wie  die  Einkünfte  aus  den  Gemeinegütern 
Proptos.  Beide,  die  Propios  und  Arbitrios  stehen  unmittelbar  unter 
der  Aufsicht  des  Hohen  Raths  von  Castilien.  Die  Gemeingüter 
sind  auch  in  Biscaya,  wie  in  dem  übrigen  Spanien,  der  Landes- 
cultur  nachtheilig.  Vorzüglich  leiden  die  Waldungen  darunter. 
Es  wird  bei  dringenden  Bedürfnissen  viel  Holz  verkauft,  man 
pflanzt  wenig  oder  nichts  wieder  nach,  und  der  Mangel  an  Auf- 
sicht begünstigt  noch  ueberdies  den  Diebstahl  aller  Art.  Schon 
Jovellanos  in  seiner  treflichen  nur  im  Auslande  nicht  genug  be- 
kannten Schrift  über  die  Verbesserung  der  Spanischen  Ackerbau- 
Gesetze,**)  welche  ein  so  helles  Licht  über  den  ganzen  Zustand 
des   Ackerbaues   in   Spanien  verbreitet,^)   klagt   über    diesen  Mis- 


*)  Auch  in  den  Versammlungen  der  Hermandaden  von  Alava  darf  [nach]  der  Ver- 
ordnung Heinrichs  4.  vom  Jahr  1463.  kein  Advocat,  ausser  in  einigen  wenigen  be- 
sondern Fällen,  zugegen  seyn.     Landazuri  hist.  de  Alava.  I,  264. 

**)  Informe  de  la  Sociedad  Economica  de  esta  corte  al  —  —  Consejo  de 
Castilla  en  el  Expediente  de  Ley  Agraria,  extendido  por  D.  Caspar  Melchor  de 
Jovellanos.  Madrid.   1795.  4.  §.  55.  p.  17. 

')  T^ach  „f."  gestrichen:  „Doch  befindet  man  sich  manchmal  deshalb  in 
nicht  kleiner  Verlegenheit,  da  vorzüglich  baares  Geld  aufzubringen  dem  Biscay- 
ischen  Landmann  schwer  fällt  (aus  „da  der  Landmann  sich  baares  Geld  zu  geben 
sträubt")." 

')  „zu  erheben"  verbessert  aus  „zusammenzubringen'^ 

^)  „verbreitet"  verbessert  aus  „wirft". 


St.  Sebastian. 


53 


brauch.^)  Der  nunmehr  verstorbene  Director  des  Erziehungs- 
instituts in  Bergara  D. Iturriaga  hatte   einen  Plan  für  Gui- 

puzcoa  ausgearbeitet,  wie  die  Gemeinen  durch  eine  beschränkte 
Art  der  Veräusserung  dieser  Güter  zugleich  ihren  zerrütteten  Ver- 
mögensumständen aufhelfen,  und  der  Landescultur  einen  beträcht- 
lichen Theil  ihr  jetzt  fast  ganz  entzogner  Grundstücke  wieder  geben 
könnten.  Er  fand  aber  zu  viele  Schwierigkeiten,  um  damit  durch- 
zudringen.^) 

Es  schien  mir  nothwendig,  diese  allgemeinen  Nachrichten 
über  das  Ländchen  vorauszuschicken,  in  dem  unsre  Wanderung 
uns  noch  einige  Augenblicke  verweilen  wird.  Ich  kehre  jetzt  zu 
dieser  zurück. 

Wir  besuchten  am  Morgen  nach  unsrer  Ankunft  sogleich  das 
Castell  um  von  der  Höhe  herab  die  Aussicht  aufs  Meer  zu  ge- 
niessen,  nach  der  man  sich  immer  wieder  von  neuem  sehnt.  Der 
Weg  hinauf  zieht  sich  an  den  Seiten  des  Berges  herum,  und  hat 
mehrere  Standpunkte,  von  denen  man  die  Gegend  sehr  gut  über- 
sieht. Das  Castell  wird  nach  seinem  französischen  Erbauer  La  Mota 
genannt. 

Das  Meer  bildet  zu  beiden  Seiten  des  Bergs,  auf  dem  das 
Fort  liegt,  kleine  Busen,  die  zwischen  sich  nur  eine  schmale  Land- 
zunge lassen.  An  dieser,  unmittelbar  am  Fusse  des  Castellberges 
ist  die  Stadt  gebaut.  Die  beiden  Busen  zur  Seite  sind  durch 
kahle  und  oede  Berge  begrenzt.  Auf  dem  an  der  Westseite  des 
Orts,  Mendiotza  (Spanisch  Monte  frio,  kalter  Berg),  steht  der 
Leuchtthurm  des  Hafens,  der  an  der  Ostseite  wird  Ullas  genannt. 
Vor  der  westlichen  Bucht  liegt  die  Insel  Sta  Clara  vor,-^)  ein  kleines 
felsigtes  Eiland,  an  dessen  mit  Gebüsch  überwachsenen  Ufern  die 
Wellen  emporschäumen  —  der  mahlerischste  Anblick'*)  in  dieser 
sonst  kahlen  und  traurigen  Landschaft.  \"on  dieser  Seite  ist  auch 
der  Hafen,  ein  kleines  bei  zurücktretendem  Meer  zum  Theil  trocken 
bleibendes  Becken. 

Als  wir  dort  waren,  stand  kein  einziges  Schiff  darin.  Nur 
ein  Paar  waren  auf  den  Docken.  Der  Handel  von  St.  Sebastian 
war  in  dieser  Zeit  noch  unbedeutender  als  der  anderer  Spanischer 


*)  „Misbrauch"  verbessert  aus  „Unfug". 

^)  „durchzudringen"  verbessert  aus  „durchdringen  zu  können". 

*)  Nach  „vor"  gestrichen :  „und  theilt  zwei  Einfahrten  derselben  ab". 

*)  „Anblick"  verbessert  aus  „Gegenstand". 


54 


Die  Vasken. 


Seestädte.  ^)  In  den  ersten  Zeiten  des  Französischen  Krieges 
machte  St.  Sebastian  dadurch  gute  Geschäfte,  dass  es  zum 
Zwischenort  zwischen  Ameril^a  und  Frankreich  diente,  solange 
die  vereinigten  Staaten  nicht  mit  der  Republik  in  Idarem  und 
gutem  Vernehmen  standen.  Manchmal  fanden  auch  die  Fran- 
zösischen Kaper  mehr  Vortheil  dabei,  ihre  Prisen  hier,  als  in  Fran- 
zösischen Häfen  aufzubringen.  Die  Anzahl  der  Einwohner  in  der 
Stadt  wird  auf  8000.  und  mit  dem  dazu  gehörenden  Bezirk  auf 
14000.  angegeben.^) 

Die  Aussicht  auf  die  hohe  See  ist  hier  minder  schön  als  in 
St.  Jean  de  Luz  oder  noch  weiter  hin  an  der  Küste.  Die  nächsten 
Berge  treten  zu  sehr  hervor,  doch  sieht  man  noch  die  äusserste 
Landspitze  von  Guetaria. 

Merkwürdig,  aber  nur  sonderbar,  nicht  reizend,  ist  die  Aus- 
sicht auf  die  Stadt  an  der  Landseite.  Sie  macht  ein  regelmässiges 
von  allen  Seiten  befestigtes  Viereck  aus.  Die  Strassen  sind  eng, 
aber  die  Häuser  hoch,  und  zum  Theil  mit  Pracht  gebaut;  die 
Menge  der  Balcone,  die  regelmässige  Figur  des  Marktplatzes,  das 
mit  Vergoldungen  reich  verzierte  Rathhaus  {casa  de  ayuntamiento), 
alles  in  acht  Spanischem  Geschmack.  Von  der  Höhe  nun  sieht 
man  überall  m  die  Strassen  hinein,  nirgends  fällt  die  Kleinheit 
des  Orts  so  deutlich  ins  Auge;  und  die  Höhe  und  Bauart  der 
Häuser  und  die  Lage  der  Gassen  ^)  giebt  ein  finstres,  trauriges 
Ansehn.  Zu  beiden  Seiten  der  Stadt  stehen  zwei  Klöster,  an  der 
Westseite  eins  von  Carmeliternonnen,  an  der  Ostseite  ein  andres 
von  Dominicanern.  Melancholischer  ist  mir  nie  etwas  vorge- 
kommen, als  der  Blick  von  oben  in  diesen  Klosterhof,  den  ein 
grauer  gothischer  Kreuzgang  umschliesst,  und  eine  einzige  grosse 
Cypresse  in  der  Mitte  noch  mehr  verfinstert.  Die  nächste  Gegend 
um  die  Stadt  entspricht  diesem  Bilde.  Das  Meer  hat  seine  Ufer 
überall  versandet.  Doch  schon  in  einer  kleinen  Entfernung  sieht 
man  wieder  grünes  Gebüsch  und  Ackerfeld,  und  den  Hintergrund 
schliesst  ein  Kranz  hoher  Navarrischer  und  Biscayischer  Gebirge. 

Der  vollen  und  geraden  Aussicht  aufs  Meer  durch  den  Berg, 
auf  dem  das  Castell  liegt,  beraubt,  und  zunächst  von  kahlen  An- 
höhen  und   Sandstrecken   umgeben,   hat   die   Stadt   St.  Sebastian, 

')  „Seestädte"  verbessert  aus  „Häfen". 

^)  Dieser  Satz  hiess  ursprünglich:  „Die  Bevölkerung  der  Stadt  ist  für  ihre 
Kleinheit  ziemlich  ansehnlich." 

*)  „Gassen"  ve)-bessert  aus  „Strassen".. 


St.  Sebastian. 


55 


wie  man  sieht,  sich  keiner  schönen  Lage  zu  erfreuen.  Dabei  ist 
das  Clima  rauh,  und  die  Regen  pflegen  sich  volle  zwei  Drittheile 
des  Jahrs  so  häufig  und  anhaltend  einzustellen,  dass  ihr  der  Spa- 
nische Volkswitz  deshalb  einen  nichts  weniger  als  ehrenvollen 
Beinamen*)  gegeben  hat.  Man  sollte  daher  denken,  dass  das 
Vaskische  Sprichwort:  „dem  Gottesfürchtigen  ist  St.  Sebastian  und 
Biriatu  (ein  Dorf  in  der  Nähe)  ein  gleich  lieblicher  Aufenthalt"**) 
leicht  eine  allgemeinere  Anwendung,  auch  auf  weniger  Fromme, 
finden  dürfte. 

Wie  angenehm  aber  wird  man  überrascht,  wenn  man  sich 
nur  etwas  weniges  weiter  in  der  Gegend  umsieht.  Welchen  der 
zahlreichen  Spatziergänge  um  die  Stadt  man  wählen  mag,  findet 
man  die  lieblichste  Abwechslung  waldigter  Hügel  und  fruchtbarer 
Thäler,  und  nicht  leicht  dürfte  ein  andrer  Ort  Biscayas  so  sehr 
im  Mittelpunkt  reizender  Naturscenen  liegen.  Man  muss  dies 
schöne  Küstenland  selbst  gesehen  haben,  um  sich  einen  Begriff 
von  der  ihm  ganz  eigenthümlichen  Lieblichkeit  uijd  Frische  der 
Vegetation  zu  machen. 

Wenn  man  die  Wildheit  und  die  furchtbare  Grösse  einer 
Gebirgsgegend  bis  zur  anmuthig  überraschenden  Abwechslung 
von  Bergen  und  Thälern,  die  Strenge  eines  nördlichen  Climas  bis 
zu  erquickender  Kühle  und  stärkender  Frische  mildert :  wenn  man 
der  trägeren  Vegetation  des  Nordens  einen  schnelleren  und  kräf- 
tigeren Wuchs  leiht,  den  kalten,  manchmal  finstren  Ernst  seiner 
Bewohner  mit  einem  Theil  der  Lebhaftigkeit  und  der  Heiterkeit 
des  Südländers  versetzt,  so  hat  man  ein  treues  Bild  von  Biscaya, 
und  vorzüglich  von  den  bevölkensten  und  fruchtbarsten  Theilen 
Guipuzcoas.  Man  fühlt,  dass  man  sich  im  Norden  befindet,  die 
Luft  im  Frühjahr  und  Herbst  ist  nicht  eigentlich  milde  zu  nennen, 
die  Produkte  unsres  Vaterlandes  und  des  nördlichen  Frankreichs 
finden  sich  auch  hier,  die  zarteren  des  Südens,  Orangen,  Palmen, 
Mandeln,  selbst  Olivenbäume  fehlen.  Aber  dieser  Norden  ist  der 
Norden  Spaniens ,  und  die  Vegetation  findet  in  der  reichlichen 
Bewässerung  des  Landes  einen  mehr  als  hinlänglichen  Ersatz  für 
die  anhaltend  rauhere  Witterung. 

Thäler  und   Berge   sind  hier  liebHcher  an   einander  gereiht, 


*)  Sie  wird  spottweise  el  orinal  del  cielo  genannt. 
**)  Guizon   (Menschen)   Jaincotiarrari  (gottesfürchtigen   dem)   Biriatu   eta  (und) 
Donostia  (Der  Vaskische  Name  von  St.  Sebastian.     Done    heisst    ein  Heiliger)  bardin 
(gleicher)  laquetguia  (Lustort,  zusammengezogen  von  laquet-teguia). 


56 


Die  Vasken. 


und  in  einander  verschränkt,  als  leicht  in  irgend  einem  andren 
Lande.  Mit  jedem  Augenblick  verändert  sich  die  Scene;  fast 
überall  ist  die  Aussicht  geschlossen,  das  Auge  übersieht  nur  kleine, 
aber  immer  mahlerisch  begränzte  Parthieen.')  Schnell  rieselnde 
Ströme  stürzen  sich  von  den  Anhöhen  herab,  durchschneiden  in 
ruhigen  aber  vielfachen  Windungen  die  Anger,  oder  treiben,  in 
engen  Betten  gev^altsam  hinrauschend,  Mühlen  und  Hüttenwerke. 
Selten  sieht  man  kahle  Berggipfel,^)  die  Anhöhen  sind  bis  zur 
Spitze  hinauf  mit  Grün  bedeckt,  und  nackte  Felsecken  drängen 
sich  nur  aus  dichtverwachsnem  Gesträuch  hervor.  Die  Aecker 
sind  mit  lebendigen^)  Hecken  umzäunt,  an  sie  schliessen  sich 
Wiesen  und  Waldstücke,  meist  aus  den  beiden,  durch  ganz 
Spanien  häufigen  Eichenarten  (robles  und  encinas)  bestehend. 

Man  findet  hier  nicht  mehr  die  Ueppigkeit  der  Vegetation 
der  Ufer  der  Garonne,  es  sind  nicht  mehr  schwer  behangene 
Reben,  die  sich,  lange  Strecken  fort,  um  hohe  schlanke  Ulmen 
schlingen;  es  ist  ebensowenig  das  fette,  Kühe  verdeckende  Gras 
unsrer  Marschländer;  aber  der  stämmige  Wuchs  der  Bäume,  das 
dichte,  krause,  dem  Blick  undurchdringbare  Laub,  das  gleich 
kräftige  *)  Aufschiessen  des  Grases  und  der  Saat  besitzen  eine 
männliche,^)  dem  Charakter  einer  Gebirgsgegend  angemessnere 
Schönheit. 

Den  ehrwürdigen  Wuchs  unsrer  Jahrhunderten  ^)  Trotz  bieten- 
den Eichen  trift ')  man  zwar  auch  in  Biscaya  selten  an.^)  Er  bleibt 
ein  eigenthümlicher,  von  uns  nur  aus  Gewohnheit  nicht  hinläng- 
lich geschätzter  Reiz  unsrer  nordischen  Landschaft.^)  Wie  reich 
und  üppig  auch  die  Vegetation  des  Südens  seyn  mag,  wie  leicht 
und  zart  die  Bildung  jener  uns  beim  ersten  Anblick  so  bezaubern- 
der Gewächse,  wie  prachtvoll  das  glänzende  Gemisch  ihrer  Farben, 
immer  bleibt  es  unläugbar,   dass  der  Norden  seinen  ßergwäldern 


^)  "Nach  „Parthieen"  gestrichen:  „Kleine,  aber".  > 

2)  „kahle  Berggipfel"  verbessert  aus  „nackte  Felsen". 

')  „lebendigen"  verbessert  aus  „grün[en]". 

*)  „kräftige"  verbessert  aus  „reichliche". 

^)  Nach  „männliche"  gestrichen:  „Schönheit,  die  sich  noch  besser  für  .  .  .  . 
schick[t]." 

^)  „Jahrhunderten"  verbessert  aus  „der  Zeit". 

')  „trift"  verbessert  aus  „ßndet". 

*)  Nach  „an"  gestrichen:  „Die  Bäume  werden  fast  iieberall,  von  Zeit  zu 
Zeit,  geköpft." 

®)  „Landschaft"  verbessert  aus  „Landschaften". 


St.  Sebastian. 


57 


einen  Charakter  der  Grösse  und  Würde  aufdrückt,  der  die  Ein- 
bildungskraft tiefer  und  ernster  erschüttert.  Ich  wenigstens  habe 
sie,  das  gestehe  ich  gern,  während  meines  ganzen  Aufenthalts  in 
Frankreich  und  Spanien,  oft  mit  Sehnsucht  vermisst  und  mit  un- 
beschreiblicher Freude  die  ersten  ^j  begrüsst,  die  ich  auf  Deutschem 
Boden  wiederfand. 

In  Guipuzcoa  und  Biscaya  ueberhaupt  werden  die  Bäume 
meistentheils  geköpft,  theils  weil  man  das  Holz  zu  Kohlen  für  die 
Eisenhämmer  verbraucht,  theils  bisher  aus  einem  politischen 
Grunde.  Die  Königliche  Marine  hatte  nemlich  bisher  das  Recht, 
in  den,  ihren  verschiednen  Departements  angewiesenen  Districten 
das  zum  Schiffbau  tüchtige  Holz  -)  anzuschlagen.  Von  diesem 
Augenblicke  an  gehörte  es  dann  nicht  mehr  dem  Eigenthümer, 
der  nur  eine  gesetzlich  bestimmte  Entschädigung  erhielt,  sondern 
dem  König.  Der  Eigenthümer  hatte  daher  von  dem  Wachsthum 
seines  Holzes,  statt  Vortheils,  nur  Einschränkung  seines  freien 
Eigenthums  zu  erwarten.  Diese  den  Forsten  und  dadurch  der 
Königlichen  Marine  selbst  nachtheilige  Einrichtung  ist  ^)  neuerlich 
aufgehoben  worden.  Das  Anschlagen  der  Bäume  hört  auf;  der 
Eigenthümer  geniesst  wieder  das  Recht  des  freien  Verkaufs  seines 
Holzes,  ohne  Unterschied  der  Grösse,  und  der  König  hat  sich 
nur  das  Vorkaufsrecht  vorbehalten. 

Biscaya  verdient  vielleicht  unter  allen  Spanischen  Provinzen 
die  sorgfältigst  angebaute  genannt  zu  werden.  Guipuzcoa  ist  zwar 
zum  Ackerbau  bequemer  als  das  mehr  rauhe  und  bergigte  Vizcaya; 
aber  der  Boden  ist  dennoch*)  nicht  sehr  fruchtbar,  und  nur  die 
Gegend  von  Azpeytia,  Azcoytia,  Ofiate  und  Mondragon,  in  der 
man  nicht  ungewöhnlich  das  3oste  und  3(5ste  Korn  erntet,  macht 
hiervon  eine  Ausnahme.  Ohne  den  Fleiss  und  die  unglaubliche 
Arbeitsamkeit  des  Landvolks  könnte  daher  dies  kleine  Ländchen 
unmöglich  eine  so  grosse  Menge  von  Einwohnern  ernähren.^)  Ich 
hatte  sehr  gewünscht,  mir  sowohl  über  die  Grösse,  als  Bevölkerung 
jeder  der  drei  Biscayischen  Provinzen  sichre  Angaben  zu  ver- 
schaffen. Allein  in  keinem  Lande  ist  es,  nach  dem  eignen  Ge- 
ständniss   der  Spanier,   so   schwer,   zuverlässige   statistische  Nach- 

')  Nach  „ersten"  gestrichen:  „wieder''. 

^)  „tüchtige  Holz"  verbessert  aus  „nöthige  Bauholz". 

^)  Nach  „ist"  gestrichen:  „aber  ganz". 

*)  Nach  „dennoch"  gestrichen:  „an  sich  auch". 

^)  „ernähren"  verbessert  aus  „Nahrung  geben". 


rg  Die  Vasken. 

richten*)  zu  erhalten,  als  in  Spanien,  und  das  nicht  aus  Zurück- 
haltung, sondern  weil  die  Aufmerksamkeit  nur  noch  sehr  wenig 
auf  diesen  Punkt  gerichtet  ist.  In  Absicht  der  Bevölkerung  muss 
man  noch  immer  auf  die  Zählung  von  1787.  zurückgehen,  die 
gewiss  auch  keineswegs  von  mancherlei  Unrichtigkeiten  frei  ist. 
Der  gewöhnlichen  Angabe  zufolge  fasst  ganz  Biscaya  250  Quadrat- 
meilen*) in  sich.  Davon  aber  ist  das  bei  weitem  grosseste  Drit- 
theil, die  Provinz  Alava,  schlecht  bevölkert,  und  Guipuzcoa 
hat  gerade  bei  dem  kleinsten  Flächeninhalt  die  grosseste  Volks- 
zahl. Wenn  man  das  gegenseitige  Verhältniss  der  Grösse  aller 
drei  Provinzen  auch  nur  ungefähr  überschlägt,  so  behauptet  man 
gewiss  nicht  zu  viel,  wenn  man  in  Guipuzcoa  auf  jede  Quadrat- 
meile 2000  Menschen  rechnet,**)  so  dass  die  Bevölkerung  noch 
die  der  Schweiz  übertrift.  Dabei  aber  muss  man  nicht  vergessen, 
dass  Guipuzcoa  nirgends  auch  nur  eine  Quadratmeile  ganz  flachen, 
nicht  von  Bergen  durchschnittenen  Boden  hat.-) 

Alle  grösseren  Güterbesitzer  verpachten  ihre  Ländereien. 
Sie  ziehen  auf  diese  Weise  nur.  einen  wenig  bedeutenden  F>trag 
aus  denselben,  und  bekommen  meistentheils  kaum  die  Hälfte  des 
wahren^)  Gewinnes,  aber  sie  verschaffen-)  dem  Lande  dadurch 
eine  Menge  wohlhabender  und  zufriedner  Pächterfamilien.  Auch 
nähern  sich  diese  Pachtungen  einem  wirklichen  Eigenthums- 
besitze.  Sie  gehen  gev^^öhnlich  von  Vater  zu  Sohn,  und  blei- 
ben 150  auch  200  Jahre  in  derselben  Familie.  Denn  obgleich 
der  Gutsherr  nach  Gefallen  den  Pächter  ändern  kann,  so  würde 
er  es  sich  für  eine  Schande  achten,  es  ohne  die  wichtigsten  Gründe 
zu  thun.  ***)     Der  Pächter  bestreitet  alle  Arbeit  und  Unkosten,  ge- 

*)  Neuere  Staatskunde  von  Spanien.  I,    loi.'') 
**)  Dabei  ist  Guipuzcoa  zu  60  Q  Meilen  gerechnet. 

***)  Dasselbe  findet  auch  in  mehreren  Theilen  Englands  Statt.     Man'  vergleiche  hier- 
über Herrn   D.  Thaers  Einleitung  zur  Kenntniss  der  Englischen  Landwirthschaft.     I,   22. 

1)  „Nachrichten"  verbessert  aus  „Angaben". 

2)  Hier  ist  folgender  Absatz  gestrichen:  „Einzelne  Gegenden  Guipuzcoas 
machen  jedoch  in  Rücksicht  der  Fruchtbarkeit  eine  ehrenvolle  Ausnahme.  Um 
Azpeytia,  Azcoytia,  Onate  und  Mondragon  wird  oft  das  30  und  36  Korn  geerntet, 
und  der  Fleiss  des  Landmanns  findet  sich  hier  auch  durch  die  Ergiebigkeit  des 
Bodens  belohnt." 

*)  „wahren"'  verbessert  aus  „reinen". 

*)  „verschaffen"  verbessert  aus  „erhalten". 

^)  Nach  „loi."  gestrichen :  „Die  Grössenangaben  bei  den  Reisebeschreibern, 
selbst  bei  dem  sonst  so  genauen  und  zuverlässigen  Bourgoing,  sind  zu  imbestimmt> 
als  dass  sich  darauf  fussen  Hesse."    Bourgoings  M^erk  erschien  Paris  i'jSg. 


St.  Sebastian.  59 

Wohnlich  aber  verrichtet  er  die  ganze  sehr  mühsame  Bestellung 
nur  mit  Hülfe  seiner  Familie  und  seiner  Leute.  Tagelöhner 
werden  selten  genommen,  in  der  Ernte  oder  wann  sonst  die  Arbeit 
drängt,  helfen  sich  die  verschiedenen  Hauswirthe  unter  einander, 
und  geben  sich  gegenseitig  das  Essen.  Hat  der  Pächter  keine 
Söhne,  aber  eine  Tochter,  so  zeigt  er  dem  Herrn  an,  mit  wem 
er  sie  zu  verheirathen  gedenkt.  Dieser  erkundigt  sich  ^)  nach  den 
Umständen  und  der  Aufführung  des  jungen  Menschen  und  willigt 
er  in  die  Heirath,  so  ist  es  zugleich  eine  stillschweigende  Er- 
klärung,   dass    er    das    Gut    auch    dem    künftigen   Schwiegersohn 

lassen  will. 

Für  die  Cultur  des  Landes  dürfte  zwar  diese  Einrichtung  wohl 
schwerlich  die  beste  seyn.*)  Die  Pächter  bestellen  den  Acker  nach  ihren 
einmal  hergebrachten  Gewohnheiten,  sie  sind  schwer  zu  Neuerungen 
zu  bewegen,  und  es  kostet  noch  jetzt  Mühe,  sie  dahin  zu  bringen, 
Kartoffeln  zu  bauen,  und  Butter  zu  machen,  und  da  die  Be- 
dingungen ihrer  Pacht  so  wenig  lästig  sind,  so  nöthigt  sie  nichts, 
auf  grosse  Verbesserungen  zu  denken.  Auf  der  andern  Seite 
führen  die  reicheren  Gutsbesitzer  oft,  wenn  sie  nicht  im  Dienste 
der  Krone  stehen,  ein  zu  müssiges  Leben,  und  es  gehn,  ausser  ihrem 
Fleiss,  noch  die  beträchtlichsten  Capitalien  für  die  grössere  Aufnahme 
des  Ackerbaus  verloren.  Indess  muss  man  auch  auf  der  andern 
Seite  bedenken,  dass  ein  kleines  Gebirgsland  nicht  mit  grossen 
Staaten,  wie  z.  B.  Frankreich  und  England  sind,  verglichen  werden 
darf.  Die  Besitzungen  sind  von  zu  geringem  Umfange  und  liegen 
zu  sehr  zerstreut ;  ein  grosses  System  der  Landwirthschaft  Hesse  sich 
kaum  einmal  daselbst  einführen.  Auch  kommt  in  einem  Lande, 
dessen  Macht,  Ansehn,  ja  -)  dessen  selbstständige  Existenz  nur  sehr 
mittelbar  von  den  Erzeugnissen  des  Bodens  und  dem  Gewinn 
durch  Handel  und  Gewerbe,  sondern  geradezu  nur  von  dem 
Charakter,  dem  Fleiss  und  dem  Nationaleifer  seiner  Bewohner 
abhängt,  wie  es  in  Biscaya  so  offenbar  der  Fall  ist,  alles  darauf 
an,  da'ss,  wo  möglich,  jeder  Einzelne  sich  in  einem  Zustande  unab- 


*)  Man  sehe  hierüber  die  oben  erwähnte  Thaersche  Schrift  a.  a.  O.  Der  einsichts- 
volle Verfasser  aber  bemerkt  auch  sehr  richtig,  dass  eben  diese  Einrichtung  den  Vor- 
nehmen und  Reichen  einen  grossen  Einfluss  auf  das  Landvolk  verschafft,  und  dieser 
Einfluss  wird  in  Biscaya  nie  anders  als  auf  eine  wohlthätige  Weise  zur  Verbreitung 
aufgeklärter  Grundsätze  und  nützlicher  Kenntnisse  angewandt. 

1)  Nach  „sich"  gestrichen:  „dann". 

2)  Nach  ,Ja"  gestrichen:  „selbst". 


(5o  Die  Vasken. 

hängiger  Wohlhabenheit  befinde.  In  diesen  Fällen,  wo,  wie  hier, 
die  Resultate  des  Gewinns  für  den  Nationalreichthum  immer  nur 
unbedeutend  seyn  könnten,  der  Charakter  des  Volks  aber  eine 
schon  jetzt  der  höchsten  Achtung  würdige  Selbstständigkeit  zeigt, 
ist  es  nothwendig  die  Grundsätze  der  höheren  Staatswirthschaft  den 
auf  diesen  letzteren  berechneten  Maximen  wenigstens  so  lange 
unterzuordnen,  bis  man  beide  ohne  Nachtheil  vereinigen  kann. 
Denn  nur  wenn  jene  Resultate  gross  genug  sind  einen  so  lebendigen 
Umschwung  aller  menschlichen  Kräfte  hervorzubringen,  dass  da- 
durch auf  einmal  alle  Zwecke  des  Strebens  erweitert  und  alle 
Mittel  vervielfacht  werden,  führen  sie  eine  Nation  auch  auf  ihrer 
intellectuellen  und  moralischen  Bahn  weiter  fort.  In  Biscaya  hin- 
gegen übt  gerade  die  jetzige^)  Verfassung  einen  eben  so  glücklichen 
Eintluss  auf  die  Bildung  und  die  Sitten  aus,  als  sie  ein  ehrenvolles 
Zeugniss  für  den  Charakter  des^  Volks,  die  massigen  und  billigen 
Gesinnungen  der  reicheren  und  die  Treue  und  Arbeitsamkeit 
der  geringeren  Classe  ablegt.  Bei  der  Gemeinschaft  in  der  beide 
dort  beständig  mit  einander  leben,  können  immer  Verbesserungen, 
wenn  gleich  langsam  und  nach  und  nach,  eingeführt  werden,  und 
in  der  That  ist  dies  wirklich  der  Fall. 

Ich  hielt  mich  nicht  lange  genug  in  St.  Sebastian  auf,  um 
auch  nur  alle  vorzüglicheren  Spatziergänge  der  Stadt  zu  besuchen. 
Allein  auf  einem  an  einem  schönen  Frühlingsabend,  an  den  Ufern 
der  Urmea  *)  hin,  des  kleinen  Flusses,  der  sich  an  der  Ostseite  des 
Castells  ins  Meer  ergiesst,  gegen  Ernani  zu  fand  ich  den  ganzen 
lieblichen  Charakter  Biscayischer  Gegenden,  dessen  ich  mich  noch 
so  lebhaft  von  meiner  ersten  Reise  nach  Spanien  her  erinnerte,  in 
der  reizendsten  Abwechslung    mahlerischer   Naturmassen    wieder. 

Zarauz  und  Guetaria. 

Die  Berge  von  Igueldo  über  die  der  Weg  hinter  dem  Leucht- 
thurm  von  Monte  frio  hin  von  St.  Sebastian  nach  Orio  führt,  gleichen 
dem  wüsten  Rücken  des  Jaizquibels.  Nur  an  wenigen  Stellen 
trafen  wir  auf  der  Höhe  Ackerland  und  Gebüsch  an,  meistentheils 
bloss  Heide,  auf  der  einige  Heerden  weideten.  Allein  landeinwärts 
überschauten  wir  waldigte  Hügel  und  sorgfältig  angebaute  Thäler. 
und   dieses   Gemisch   von  wildem   Ansehn,   und   fleissiger   Cultur 

*)  kleines  Wasser,  eau  mince,  von    Ura,  Wasser,  und  mea.  fein,  dünn. 
^)  Jetzige"  verbessert  aus  „eben  beschriebtie''. 


Zarauz  und  Guetaria.  Qj 

gehört  nicht  zu  den  kleinsten  Reizen  Biscayas. ')  Von  der  Höhe 
auf  der  wir  waren,  konnten  wir  deutlich  den  Charakter  dieser 
Gegend  erkennen.  Zwischen  den  höchsten  Bergen,  die  den  Horizont 
umschliessen  und  grösstentheils  zu  Navarra  gehören,  und  den  minder 
hohen,  die,  wie  ein  Wall,  den  Rücken  des  Meeres  bilden,  gehen 
lauter  queer  laufende  höhere  oder  niedrigere  Bergreihen  hin,  und 
lassen  tiefe  Thäler  zwischen  sich,  gleich  mächtigen  von  der  Zeit 
eingegrabenen  Furchen,  aber  nun  unter  den  Händen  der  Cultur  mit 
Ackerland,  Wiesen  und  reizenden  Gebüschen  geschmückt.  Solche 
Thäler  bildend  strömen  -j  längs  der  Küste  von  Guipuzcoa  fünf 
vorzüglichere  Flüsse,  ^)  aus  den  wasserscheidenden  GränzGebirgen 
Guipuzcoas,  Alavas  und  Navarras  ^)  herkommend,  dem  Meere  zu, 
und  theilen  das  Land  in  eben  so  viel  natürliche  Abschnitte.  An 
ihren  Mündungen  liegen  kleine  Häfen.  ^)  Wir  hatten  jetzt  den 
Fluss  von  Pasages  und  die  Urmea  hinter  uns  gelassen.  Wir 
gingen  nunmehr  über  den  Orio,  und  hatten  noch  die  Urola  und 
Deba  vor  uns. 

Auf  dem  einsamen  Berggipfel  fanden  wir  nichts  als  eine  Kirche 
mit  vielen  rund  herum  aufgerichteten  Kreuzen.  Auch  begeg- 
neten wir  nur  einem  einzigen  Franciscanermönch,  einem  bejahrten 
Manne  mit  stark  gezeichneten,  bedeutenden  Gesichtszügen,  denen 
man  es  ansah,  dass  die  Hand  der  Zeit  und  der  Erfahrung  sie  zu 
diesen  sprechenden  Formen  ausgearbeitet  hatte. 

Auf  den  fruchtbaren  Ufern  des  Orio  ruhte  unser  von  der 
wüsten  Bergheide  ermüdeter  Blick  angenehm  aus.  Wir  bewun- 
derten von  neuem  ^)  den  Fleiss  der  Biscayer  im  Anbau  ihres 
Landes.  Mit  der  Sorgfalt,  mit  der  man  bei  uns  Blumen  pflanzt, 
bestellt  man  hier  das  Feld  zu  Weizen  und  Mais. 

Orio  ist  ein  schlechtgebauter,  unbedeutender  Flecken  von 
etwa  loo  Familien.  Allein  auch  in  den  kleinsten  dieser  Biscay- 
ischen  Orte  findet  man  immer  eine  gewisse  Reinlichkeit  und  Zier- 
lichkeit, und  in  jedem  wenigstens  einige  grössere  zum  Theil  pracht- 

^)  „Biscayas"  verbessert  aus  „der  Biscayischen  Gegenden". 

2)  „bildend  strömen"  verbessert  aus  „durchbrechend  ergiessen  sich". 

^)  „Flüsse"  verbessert  aus  „Ströme". 

*)  „Gränzgebirgen  —  Navarras"  verbessei't  aus  „Gebirgen,  welche  die  Gränze 
zwischen    Guipuzcoa  einerseits,     imd    Alava  und    Navarra    andrerseits    bilden". 

^)  „ihren  —  Häfen"  verbessert  aus  „der  Mündung  eines  jeden  liegt  ein 
kleiner  Hafen". 

®)  „Wir  —  neuem"  verbessert  aus  „Man  wird  nicht  müde  .  ...  zu  be- 
wundern." 


ß2  Die  Vasken. 

voll  angelegte  ^)  Gebäude.  Immer  zeichnet  sich  die  Kirche^ 
das  Rathhaus  und  was  in  Biscaya  nie  fehlt,  der  Ballplatz  aus, 
der  gewöhnlich  mit  einer  Mauer  umgeben,  und  mit  steinernen 
Sitzen  versehen  ist.  Die  Kosten  zu  diesen  Gebäuden  werden, 
wenn  nicht  begüterte  Privatleute  zur  Verschönerung  ihres  Orts 
grosse  Summen  dazu  hergeben,  aus  den  Einkünften  der  Gemein- 
güter {Propios)  bestritten. 

Ueber  den  Thüren  vieler  Häuser  in  Orio  bemerkten  wir 
Wappen,  meistentheils  in  grossen  von  Adlern,  Löwen,  wilden 
Männern  gehaltenen  Schilden  in  Stein  gehauen,  und  erkannten 
daran  die*)  casas  solariegas  (Stammhäuser)  der  Familien,  die  sie 
bewohnten.  Solche  Stammsitze  findet  man  auch  häufig  auf  dem 
Lande  in  den  Dörfern.  Der  Stolz  eines  hidalgo  -)  de  Aldea  (Land- 
junkers) wird  oft  in  den^)  komischen  und  satyrischen  Schriften 
der  Spanier  verspottet.  Man  schildert  ihn  „wie  er  auf  dem  trau- 
rigen Marktplatz  seines  armseligen  Orts  gravitätisch  herumgeht, 
eingehüllt  in  seinen  schlechten  Mantel,  das  Wappen  über  der  Thür 
eines  halb  eingefallenen  Hauses  betrachtet,  und  Gott  und  der  Vor- 
sehung pathetisch  dafür  dankt,  dass  er  ihn  als  Don  N.  N.**)  von 
N.  N.  gebohren  werden  Hess.*)    Nie  würde  er,"  heisst  es  in  einer 

*)  Solar  oder  casa  solariega  von  dem  lateinischen  soliun.  Diese  Stammsitze 
sind  sehr  wichtig,  weil  sie,  selbst  wenn  kein  Haus  mehr  darauf  stände,  zum  Beweise 
des  ältesten   Adels  dienen. 

**)  Die  Spanier  haben  für  das,  was  wir  durch  N.  N.  ausdrücken  (S.  Adelungs 
Wörterbuch.  III.  355.),  einen  eignen  Namen:  Fulano,  hier  z.  B.  Don  Fulano  de  Tal.^) 
Nach  D.  Thomas  Antonio  Sanchez  [Coleccion  de  Poesias  Castellanas  anteriores  al 
siglo  I^.  II,  513.)  kommt  dies  Wort  von  den  Arabern  her,  die  dafür  Falan  sagen, 
und  dies  aus  dem  Hebraeischen  Pheloni  genommen  haben  sollen.  Die  Spanier  setzen 
aber,  wenn  sie  von  zwei  Namenlosen  reden  wollen,  noch  zutano  hinzu,  und  dies  er- 
klärt Sanchez  nicht.  Zut  heisst  auf  Vaskisch  aufrecht  [debout]  und  daher  vielleicht 
Zutano,  irgend  ein  Aufrechtstehender,  ein  Jemand.  Wäre  Fulano  vielleicht  nicht  Ara- 
bischen Ursprungs,  so  liesse  es  sich  von  fidlare,  fouler  (im  heutigen  Spanisch  hollar) 

^)  „prachtvoll  angelegte"  verbessert  aus  „prächtige". 

^)  „eines  hidalgo"   verbessert  aus  „der  hidalgos  ....  die  sie  bewohnen". 

*)  „oft  in  den"  verbessert  aus  „fast  in  allen". 

*)  „dass  —  Hess"  verbessert  aus  „ihn  zu  ...  .  gemacht  zu  haben". 

^)  Nach  „Tal"  gestrichen:  „Ich  erinnere  mich  nicht,  etwas  über,  die  Ab- 
stammung dieses  Worts  gelesen  zu  haben.  Sollte  es  aber  nicht  desselben  Ursprungs 
mit  dem  Französischen  Foule  seyn,  und  mit  dem  alten  Eigennamen  Foulque  (s. 
Menage  h.  v.  )  zusammenhängen,  den  man  für  gleichbedeutend  mit  Publius  hält? 
Will  man  von  zwei  solchen  Namenlosen  reden,  so  sagt  man  fulano  y  zutano,  und 
die  Abstammung  des  letzteren  Worts  möchte  noch  schwieriger  seyn." 


Zarauz  und    Guetaria. 


63 


solchen  Schilderung  weiter ,  „den  Hut  vor  dem  Fremden  ab- 
nehmen, der  eben  ins  Wirthshaus  hineinfährt,  und  wäre  es  auch 
der  Gouverneur  der  Provinz  oder  der  Präsident  ihres  ersten  Ge- 
richtshofs. Alles  wozu  er  sich  vielleicht  herablässt,  ist  zu  fragen, 
ob  der  Fremde  aus  einem  Stammsitz  ist  den  das  Castilianische 
Recht  anerkennt?  welchen  Wappenschild  er  trägt?  und  ob  er  be- 
kannte Verwandte  in  der  Nachbarschaft  hat?  Denn",  doch  diese 
Lächerlichkeit  wird  vorzüglich  dem  Stadtadel  Schuld  gegeben, 
„von  wie  erlauchtem  Geschlecht  auch  der  Fremde  seyn  möchte, 
so  bleibt  es  immer  ein  unverzeihlicher  Makel  an  ihm,  dass  er  nicht 
in  dem  Orte  gebohren  ist,  durch  den  er  zufällig  durchreist,  da  es 
Adel,  wie  dort,  nirgends  mehr  im  Königreich  giebt."*)  Die  Ori- 
ginale zu  dieser  Schilderung,  wenn  es  ihrer  noch,  wie  ich  nicht 
glaube,  in  irgend  einem  versteckten  Winkel  Spaniens  geben  sollte, 
sind  mir  nirgend  aufgestossen ,  obgleich  ich  es  mir  bei  meiner 
Reise  zum  Zweck  gemacht  hatte,  gerade  diejenigen  Classen  der 
Nation  aufzusuchen,  die  am  wenigsten  durch  Umgang  mit  Aus- 
ländern^) ihre  Sitten  verändert  haben.  Nie^)  aber  wird  man  eine 
stolze  Verachtung  der  Fremden  in  dem  gastfreien  Biscaya  antreffen. 
Mit  herzlicher  und  dankbarer  Freude  werde  ich  mich  immer  er- 
innern, wie  freundschaftlich  ich  bisweilen,^)  ohne  alle  Empfehlungen, 
in  diesen  Landsitzen  aufgenommen  wurde,  wo  ich  manchmal 
mehrere  Tage  mit  der  Familie  verlebte,  und  mit  welcher  zuvor- 
kommenden Güte  sie  mich  mit  allen  Merkwürdigkeiten  des  Landes 
bekannt  machten.  Die  Bauart  dieser  Landhäuser  ist  gewöhnlich  sehr 
einfach,  aber  in  einer  gewissen  soliden  Pracht.  Sie  sind  meist  vier- 
eckt, ganz  von  Quadersteinen  aufgeführt,  und  mit  vier  Thürmchen 
auf  den  Ecken  versehen.  Inwendig  vermisst  man  freilich  *)  das,  was 
man  in  Frankreich  und  bei  uns  schönes  Ameublement  nennt.  Auch 
in  reichen  wird  man  oft  bloss  Strohstühle  und   die  weisse  Wand, 


ableiten,  irgend  ein  Auftretender,  und  so  drückten  beide  Worte  analoge  Begriffe  aus, 
welche  die  Volkssprache,  wie  oft,")  in  einen  Reim  verbunden  hätte.  Im  Romanischen 
fular,  walken. 

*)  Cartas  Marntecas  del  Coronet  D.  Joseph  Cadahalso.  (Maroccanische 
Briefe  von  Obrist  cet.)   1796.  S.  99. 

')  „Ausländern"  verbessert  aus  „Fremden". 

^)  „Nie"  verbessert  aus  „Am  wenigsten". 

^)  „bisweilen"  verbessert  aus  „oft". 

*)  „vermisst  man  freilich"  verbessert  aus  „darf  man  meistentheils  .  .  .  nicht 
suchen". 

^)  „oft"  verbessert  aus  „gewöhnlich". 


Qa  Die  Vasken. 

nur  mit  einem  hohen  Tapetenlambri,  antreffen,  aber  sehr  grosse 
Reinlichkeit,  feine  Esteras*)  (Fussteppiche)  i)  und  sehr  oft  schöne 
Gemähide  von  Spanischen  2)  und  ausländischen  Meistern.  Ebenso 
vergebens^)  würde  man  Luxus  in  der  Tracht  der  Bewohner 
suchen.  In  allen  Provinzen  Spaniens,  vorzüglich  aber  in  Biscaya, 
herrscht  sehr  viel  stiller  und  einfacher  Bürgersinn,  und  selbst  in 
vornehmen  Häusern  wird  man  die  Frau  des  Hauses  mehr  an  der 
Schaar  der  sich  um  sie  versammelnden  Kinder,  als  an  ihrem  An- 
zug, erkennen. 

Zarauz  ist  ein  kleiner,  nur  etwa  von  1500.  Seelen  bewohnter 
Ort,  der  aber  eine  grosse  Pfarrkirche  und  ein  neues,  mit  einem 
hohen  Säulenportal  versehenes  Stadthaus  hat.  Er  lehnt  sich  hinten 
an  den  Berg  Sta  Barbara,  dessen  hohe  und  schroffe,  aber  oben 
mit  Gebüsch  überwachsene  Felswand  die  Aussicht  vom  Wege 
von  Orio  her  romantisch  begränzt. 

Als  wir  die  Höhe  dieses  Berges  erstiegen  hatten,  der  in  einer 
sehr  kleinen  Entfernung  Zarauz  von  Guetaria  trennt,  übersahen 
wir  den  grossesten  Theil  des  Biscayischen  Meerbusens;  die  blaue 
Flut  schimmerte  durch  das  grüne  Laub  der  Weingärten,  welche 
die  Abhänge  und  Vorhügel  des  Berges  bedecken,  und  zu  unsern 
Füssen  lagen  die  mahlerischen  Felsen  Guetarias. 

Guetaria  ist  unter  allen  Orten,  die  ich  in  diesem  Theil 
Spaniens  antraf,*)  das  lebendigste  Beispiel  des  Biscayischen  Patrio- 
tismus.^) Der  Ort  war  ursprünglich,  wie  noch  jetzt  die  alten, 
schlechtgebauten  Häuser  zeigen,^)  ein  unansehnlicher  Fischerhafen. 
Jetzt  zählt  er  mehrere  grosse,  ganz  aus  Steinen  aufgeführte  Häu- 
ser, und  ist  mit  steinernen  Quais,  prächtig  angelegten  Brunnen, 
und   einer   Bildsäule   eines   Seehelden   aus    seiner  Mitte    verziert. 


*)  Der  Name  dieser  von  Stroh,  oder  gewöhnlicher  von  Spartum  geflochtenen 
Fussmatten  ist  auch  Vaskischen  Ursprungs.  Estatu  heisst  zusammenziehn,  einengen, 
davon  kommt  das  adverbium  estera,  gedrängt,  und  natürlich  sind  diese  Matten  sehr 
fest  ineinander  geflochten.  Man  hat  sie  von  doppelter  Art,  glatte  in  der  ganzen  Stube 
zum  Gehen,  zottige  [Felpado' s)  einzeln  zur  Wärme  unter  die  Füsse  zu  legen. 

*)  „Fiissteppiche"  verbessert  aus  „Strohmatten''. 

^)  „Spanischen"  verbessert  aus  „vaterlän[dischen]". 

')  „vergebens"  verbessert  aus  „wenig". 

*)  „diesem  —  antraf  verbessert  aus  „Biscaya  sah". 

^)  „des  Biscayischen  Patriotismus"  verbessert  aus  „der  Liebe  der  Biscayer  zu 
ihren  Geburtsörtern". 

^)  „die  ....  zeigen"  verbessert  aus  „man  .  ...  an  den  ....  Häusern  sieht". 


Zarauz  und  Guetaria. 


Ö5 


Alles  dies  ist  das  Werk  einiger  in  Amerika  ^)  reich  gewordener 
I'rivatpersonen  die  man  hier  Indimios  zu.  nennen  pflegt. 

Guipuzcoa  ist  nemlich  zu  bevölkert,  als  dass  nicht  jährlich 
ein  ansehnlicher  Theil  seiner  Bewohner  sein  Unterkommen  aus- 
wärts suchen  müsste.  Da  die  Biscayer  ueberhaupt  zur  Arbeitsamkeit 
und  Ordnung  gewöhnt  sind,  und  auch  grösstentheils  eine  sehr  gute 
Hand  schreiben,*)  so  werden  sie  durch  ganz  Spanien  in  Kauf- 
mannshäusern gesucht,  und  auch  in  die  Königlichen  Bureaux  gern 
aufgenommen.  Keine  andre  Provinz  zählt  wohl  verhältnissmässig 
so  viele  Personen  aus  ihrer  Mitte  in  niedrigeren  und  höheren 
Staatsbedienungen.  Ein  andrer  Theil  geht  nach  America,  und 
viele  endlich  arbeiten  in  dem  übrigen  Spanien  als  Handwerker 
oder  Fabrikanten. 

Merkwürdig  ist  es  nun,  welche  warme  und  feste  Anhänglichkeit 
alle  diese  Personen  aus  so  verschiedenen  Classen  und  mit  so  ver- 
schiedenen Beschäftigungen  zu  ihrem  Vaterlande  -)  behalten.  Wo 
sie  demselben  in  ihrem  Wirkungskreise  nützlich  seyn  können, 
da  ergreifen  sie  nicht  nur  die  Gelegenheit  dazu  mit  Begierde, 
sondern  halten  auch  das,  was  sie  in  dieser  Absicht  durchsetzen,^) 
für  das  Grosseste  und  Ehrenvollste.  Nichts  schmeichelt  ihrem  Stolze 
so  sehr,  als  die  Erinnerung  an  ihre  Biscayische  Abstammung,  und 


*)  Dieser  gewiss  nicht  unwichtige  Vorzug  ist  ganz  Spanien,  mehr,  als  einem  an- 
dern Lande,  in  Spanien  aber  Biscaya  vorzüglich  eigen.  Es  wird  in  den  Schulen  auf 
das  Schönschreiben  eine  besondre  Aufmerksamkeit  gewandt;  man  hat  ausführliche 
gedruckte  Theorien  darüber;  und  durch  alle  Provinzen  bemerkte  ich  eine  grosse  Gleich- 
förmigkeit der  Hand.  Den  Grund  zu  der  verbesserten  Schönschreibekunst  legte  ein 
gewisser  Palomares,  nach  dessen  Vorschriften  sich  fast  alle  Schreibmeister  nach  ihm 
gebildet  haben.  Nur  giebt  die,  soviel  ich  bemerkte,  fast  durchgängige  Methode,  die 
Kinder  in  einem  ordentlichen  Netz  von  Bleistiftlinien  schreiben  zu  lassen,  durch  das 
der  Buchstabe  nach  allen  Seiten  bestimmt  wird,  der  Hand  zu  viel  Steifigkeit.  Allein 
in  neueren  Vorschriften,  als  die  von  Palomares,  hat  die  Schrift  eine  mehr  abgerundete 
Gestalt  erhalten.  —  Die  Kunst,  Urkunden  sauber  und  täuschend  ähnlich  abzuschreiben, 
oder  vielmehr  mit  mönchartiger  Genauigkeit  abzumahlen,  hat  wohl  niemand  je  so  weit 
gebracht ,  als  der  eben  genaimte  Palomares.  Denn  ausser  ganzen  FolioBänden  von 
Urkunden,  die  er,  unter  Aufsicht  des  P.  Marcos  Andres  Burris,  abschrieb,  als  dieser  auf 
Befehl  des  Königs  aus  dem  Archiv  von  Toledo  die  zur  Spanischen  Kirchcngeschichte 
dienlichen  Documente  auszog,  und  die  in  der  Königlichen  Bibliothek  von  Madrid  auf- 
bewahrt werden,  sähe  ich  noch  in  mehreren  Privatßibliotheken  *)  von  seiner  Hand  ab- 
geschriebene ungedruckte  Manuscripte. 

^)  „Amerika"  verbessert  aus  „Indien". 

2)  „zu  ihrem  Vaterlande"  verbessert  aus  „an  ihre  Heimath". 

')  Nach  „durchsetzen"  gestrichen :    „können". 

*)  Nach  „Bibliotheken"  gestrichen:  „ganze  Bände". 

W.  V.  Humboldt.  Werke.     XIU.  5 


ßß  Die  Vasken. 

noch  neuerlich  sah  man  einen  Minister,  dessen  aufgeklärter 
Vaterlandsliebe  Biscaya  noch  mehr  Vortheile  gedankt  haben  würde, 
wenn  er  seinen  Posten  hätte  länger  behaupten  können,  an  der 
Spitze  aller  Geschäfte,  in  der  höchsten  Gunst  des  Königs,  und 
mit  den  ersten  Ehrenstellen  bekleidet,  einen  hartnäckigen  Rechts- 
streit um  ein  halbes  Haus  in  der  Provinz  Alava  führen,  nur 
um  beweisen  zu  können,  dass  er  angesessener  Bürger  derselben 
sey  und  aus  ihr  abstamme.  Wo  sie  im  Auslande  zusammentreffen, 
halten  sie,  auch  ohne  weitere  Bekanntschaft,  so  fest  und  unver- 
brüchlich an  einander,  dass  es  oft  die  Eifersucht  der  übrigen 
Spanier  erregt,  und  man  die  Vaskischen  Provinzen  und  Navarra 
auch  wohl  scherzweise  die  Vereinigten  Provinzen  Spaniens  zu 
nennen*)  pflegt. 

Nur  selten  erstirbt  in  ihnen  die  Sehnsucht,  in  ihre  Heimath 
zurückzukehren.  Wenn  sie  auch  20  und  30  Jahre  in  Amerika 
zugebracht  haben,  kommen  sie'doch  gewöhnlich  in  ihren  Geburts- 
ort zurück,  und  wenden  dann  immer  einen  Theil  ihres  erworbenen 
Vermögens  zur  Verschönerung  desselben  an.  Durch  ganz  Biscaya 
findet  man  Spuren  dieses  patriotischen  Verschönerungseifers, 
besonders  viele  aber  soll  der  Flecken  Elorrio  aufweisen,  durch 
den  mich  mein  Weg  gerade  nicht  führte.  Die  Liebe  zu  den 
Nationalgewohnheiten  und  Vergnügungen  ist  so  stark,  dass  von 
den  vielen  Zimmerleuten  z.  B.  welche  in  der  Fremde  arbeiten, 
nur  wenige  versäumen,  auch  aus  einer  Entfernung  von  20  und 
25  Meilen  am  Weihnachtsabend  in  ihren  Geburtsort  zurückzu- 
kommen, nur  um  mit  ihrer  Frau,  ihren  Kindern  und  Freunden 
zu  Abend  zu  essen,  und  einen  Theil  der  Nacht  den  Ort  mit 
Musik  zu  durchziehn. 

Der  Indiano,  dessen  Herr  Fischer  in  seiner  Reise  gedenkt,^) 
D.  Francisco  Echabe ,  lebte ,  als  wir  Guetaria  besuchten ,  nicht 
mehr.  Jetzt  hatte  sich  ein  andrer,  D.  Manuel  Agote,  das  Verdienst 
erworben  das  Andenken  des  berühmten  Elcano  durch  eine  Bild- 
säule zu  verewigen. 

Juan  Sebastian  Elcano  begleitete  Magellan  auf  seiner  Weltum- 
seglung  und  schiffte  im  September  1519.  mit  ihm,  als  Steuermann 
des  4ten  Schiffes  Concepcion,  von  Sevilla  ab.  Die  Spanier  und 
Ausländer  pflegen  ihn  gewöhnlich  Cano  oder  el  Cano  zu  nennen. 
Allein   auf  der  Inschrift  der  Bildsäule   heisst  er  Elcano,  nur  dies, 

*)  las  Provincias  unidas  de  Espana.  Carlas  Marruecas.  p.  70. 

')  Vgl.  seine  Reise  von  Amsterdam  über  Madrid  nach  Cadiz  und  Genua  ^  S.  76'. 


Zarauz  und  Guetaria.  ß-j 

nicht  Cano,  ist  ein  eigentlich  Vaskischer  Name,  und  häufig  wird,  wie 
ich  schon  oben  bemerkt  habe,  die  Anfangssilbe  Vaskischer  Namen  zum 
Spanischen  und  Französischen  Artikel  verdreht.  Als  nach  Magellans 
Ermordung  auf  der  Insel  Sebu  im  April,  1 52 1 .  einer  seiner  Nachfolger 
gleichfalls  umkam,  ein  andrer  aber  mit  einem  Schiff  den  Rückweg 
über  Panama  wählte,  erhielt  Elcano  das  Commando,  und  kehrte  mit 
dem  einzigen  noch  übrigen  Schiffe  Vitoria,  jedoch  nur  mit  18  der  zu- 
gleich abgesegelten^)  Seeleute,  den  einzigen,  die  von  237*)  übrig- 
geblieben waren,  am  6.**)  September  1522.  nach  Sevilla  zurück.  Er 
war  also  der  erste,  welcher  die  Erde  wirklich  umschifft  hatte,  und 
Carl  5.  gab  ihm  zum  Wappen  eine  Erdkugel  mit  der  bekannten 
Inschrift:  du  hast  mich  zuerst  umfahren  (Primus  nie  cü-ciimdedisti). 
Die  Vitoria  wurde  zu  Sevilla,  als  ein  heiliges  Ueberbleibsel  dieser 
Fahrt  aufgehoben,  bis  sie  vor  Alter  in  Trümmern  fiel.  Elcano 
unternahm  eine  zweite  Reise  in  die  Südsee  auf  einer  kleinen  Flotte 
von  7  Schiffen,  die  ein  Maltheser-Ritter,  Jofre  de  Loaysa  anführte. 
Als  dieser  auf  dem  Wege  starb,  bekam  er  abermals  das  Com- 
mando, behielt  es  aber  nur  vier  Tage  lang  und  starb  selbst  am 
4.  August  1526.  Das  Haus  in  dem  er  gebohren  seyn  soll,  wird 
noch  in  Guetaria  gezeigt.  Es  ist  gelb  angestrichen  und  liegt  dicht 
am  Thor  beim  Hereinkommen  von  Zarauz.***) 

Ebendaselbst  steht  auf  einem  viereckten  Platz  seine  Bildsäule. 
Sie  ist  aus  Sandstein,  zwar  in  Madrid  gemacht,  aber  von  sehr 
mittelmässiger  i\rbeit,  soll  22000  reales  de  vellon  (gegen  1500  Thaler 
unsres  Geldes)  gekostet  haben,  und  hat  auf  drei  Seiten  des  Fuss- 
gestells  eine  lateinische,  spanische,  und  Vaskische  Inschrift. 

*)  Anton  Pigaletta'sBeschr.  d.  v.  Magellan  unternommenen  ersten  Reise  um  die  Welt. 
Aus  dem  Französischen  übers,  v.  Jacobs  u.  Kries.  Gotha  bei  Perthes.   l8oi.  S.  XLVIII. 
**)  So  Pigafetta.     S.  236.     Nach  andern  am  7.  oder  8. 

***)  Ungemein  sonderbar  ist  es,  dass  Pigafetta  mit  keinem  Worte  Elcanos  gedenkt, 
ja  nicht  ein  einzigesmal  nur  seinen  Namen  nennt,  da  er  doch  der  übrigen  Schiffsbefehls- 
haber, ja  an  mehr  als  einer  Stelle  der  Steuerleute  namentlich  erwähnt.  Der  Grund 
davon  kann  fast  nur  in  einer  Privatfeindschaft  liegen,  die  zwischen  beiden  obgewaltet 
haben  muss.  Denn  als  Carvajo,  der  zweite  Oberbefehlshaber  nach  Magellans  Tode, 
mit  dem  Schiff  Trinidad  auf  Tadore  zurückbleibt,  sagt  Pigafetta  gar  nicht,  wer  die 
allein  zurücksegelnde  Victoria  commandirte,  sondern  fährt  in  seiner  Erzählung  immer 
in  der  2.  pers.  plur.  wir  schifften,  thaten,  unterhandelten  u.  s.  f.  fort,  so  dass  er  offen- 
bar absichtlich  Elcanos  Namen  verschweigt.  —  Bei  Gelegenheit  der  Durchfahrt  durch 
die  Magellanische  Strasse  nennt  er  als  Steuermann  der  Conception  den  Juan  Serano. 
/.  c.  S.  50.  Vielleicht  hatte  Elcano  damals  einen  andern  Posten  auf  diesem  oder  einem 
andern  Schiffe  erhalten. 

^)  „ah gesegelten''  verbessert  aus  „ausgeschifften". 

5* 


gg  Die  Vasken. 

Wo  der  Nationalgeist  eine  Folge  des  Volksgefühls  ist,  da 
beschränkt  er  sich  zunächst  nur  auf  den  Kreis,  welcher  den 
Menschen  unmittelbar  umgiebt;  ja  er  zeichnet  sich  alsdann  immer 
zugleich  durch  ein  Umfassen  des  Verwandten  und  ein  Entfernen 
von  dem^)  Fremden  aus;  wie  in  jeder  Naturkraft,  kommt  neben 
der  Liebe  auch  Abneigung  in  ihm  hervor  ;2)  und  jeder  anziehende 
Pol  kennt  seinen  abstossenden.  Nur  der  Vernunft  ist  es  gegeben, 
in  dem  Höchsten  auf  einmal  alles  darunter  Begriffene  zu  um- 
schliessen;  nur  dem  idealischen  Gefühl,'^)  aus  bloss  gleichartigen 
Elementen  doch  belebende  und  befruchtende  Wärme  zu  erzeugen. 
Die  gewöhnliche  Empfindung  bedarf  der  Reibung  durch  ver- 
schiedenartige Stoffe,  und  selbst  der  Hass  des  Hassenswürdigsten 
unter  allem,  des  Moralisch  Bösen,  ist,  als  Hass,  stärker  in  der 
gemeinen,  als  in  einer  erhabenen  Natur. 

Diese  Bemerkung  hatte  icl;i  oft  in  Biscaya  zu  machen  Gelegen- 
heit. So  wie  ich  das  Innere  des  Landes  durchreiste,'')  und  mit 
den  Sitten  desselben  vertrauter  ward,  kam  mir  das  ganze  Ländchen 
in  eine  Menge  von  kleinen  Kreisen  zerschnitten  vor,  deren  ab- 
sondernde Grenzen  sich  manchmal  grell  zeichneten,  aber  immer 
wieder  in  grösseren  Kreisen  verschwanden,^)  und  ich  fand  in  der 
gegenseitigen  Ein-**)  und  Rückwirkung  dieser  verschiedenen  Massen, 
zum  Theil  auch  in  politischer,  vorzüglich  aber  in  sittlicher  Hinsicht, 
ein  so  natürliches,  so  durch  sein  eignes  Schwanken  ins  Gleich- 
gewicht gekommenes  Verhältniss,  dass  ich  erst  da  lebendig  erkannte,'^) 
wie  ohne  eine  solche,  immer  rege  Wechselwirkung  kein  wahrer 
Volkscharakter  möglich  ist,  ohne  einen  solchen  Volkscharakter 
aber  ein  von  der  Natur  so  wenig,  und  nur  durch  seine  Lage  am 
Meer,  begünstigtes  Land,  allein  durch  die  Kräfte  seiner  Bewohner, 
nie  zu  diesem  Grade  der  Blüthe,  des  durchgängigen  Wohlstandes 
und  der  Aufklärung  hätte  gelangen  können. 

Es  ist  nichtzu  läugnen,  dass  die  Liebe  und  Anhänglichkeit  der  Bis- 
cayer  an  ihr  Geburtsland  und  ihren  Geburtsort  etwas  Ausschliessendes 


')  „Entfernen  von  dem"  verbessert  aus  „Abstossen  des". 
2)  „kommt  —  hervor"  verbessert  aus  „ist  Liebe  und  auch  immer  zugleich 
Abneigung  in  ihm  verbunden". 

2)  „nur  —  Gefühl"  verbessert  aus  „und". 

*■)  „durchreiste"  verbessert  aus  „in  ....  kam". 

^)  „verschwanden"  verbessert  aus  „sich  ....  verloren^^. 

*)  „gegenseitigen  Ein-"  verbessert  aus  ,.Hin-". 

'')  „erkannte"  verbessert  aus  „einsah". 


Zarauz  und  Guetaria.  ßn 

hat.  Zwischen  allen  benachbarten  Orten  herrscht  eine  gewisse  Eifer- 
sucht, sogar  im  Auslande  giebt  man  den  Biscayern  —  ich  weiss 
nicht,  ob  mit  Wahrheit?  —  Schuld,  ihre  Liebe  zu  ihren  Lands- 
leuten doch,  der  allgemeinen  Vereinigung  ungeachtet,  nach  den  Ent- 
fernungen ihrer  gegenseitigen  Geburtsörter  zu  nuanciren,  und  bis  in 
die  öffentlichen  Vergnügungenhinein  erstrecken  sich kleineNeckereien 
benachbarter  Ortschaften.  Man  kann  aber^)  mit  Wahrheit  sagen, 
dass  sie  auch  da  ihr  Ende  erreichen.  ^)  Nie  habe  ich  ein  Beispiel 
anführen  hören,  ^)  wo  diese  kleine,  unbedeutende  Eifersucht  nicht 
augenblicklich  vor  dem  allgemeinen  Interesse  geschwiegen  hätte; 
dagegen  habe  ich  mehr  als  einmal  bemerkt,  wie  sie  zu  einem 
nützlichen  und  anspornenden  Wetteifer  führt. 

Das  Ballspiel  bietet  die  häufigste  Gelegenheit  dar,  dieselbe  in 
Bewegung  zu  setzen.*)  Es  ist  die  Hauptlustbarkeit  der  Biscayer. 
Nicht  bloss  jeder  Ort  hat,  wie  schon  oben  bemerkt  worden,  seinen 
eignen,  mehr  oder  minder  kostbar  angelegten  Ballplatz,  sondern 
jeder  nimmt  auch  an  dem  Spiele  Theil;  wie  überhaupt  in 
Biscaya,  so  aber  besonders  beim  Ballspiel,  gilt  kein  Unterschied 
des  Standes,  und  des  Sonntags  ist  ein  grosser  Theil  des  Orts 
beiderlei  Geschlechts,  den  Alcalden  und  Geistlichen  nicht  aus- 
genommen, dabei  gegenwärtig,  sieht  den  Spielern  zu  und  begleitet 
sie  mit  sichtbarem  ^)  Interesse  mit  seinem  Beifall  oder  seinem  Tadel. 
Ganze  Ortschaften  fodern  ^)  einander  zu  feierlichen  Parthien 
heraus. ')  Unter  den  Biscayischen  Provinzen  sollen  die  Guipuzcoaner 
die  besten  Spieler  seyn.  Manchmal  mischt  sich  auch  noch  ein 
höheres  Nationalinteresse  ein.  So  haben  wenigstens  ehemals  die 
Navarrer  (die  gleichfals  Vaskisch  reden)  die  Franzosen  und  diese 
jene  herausgefodert,  und  dann  ist  die  Theilnahme  in  der  ganzen 
Gegend  allgemein.  Doch  räumen  mehrentheils  die  Spanier  selbst 
den  Franzosen  den  Vorzug^)  ein.  Bei  solchen  Ausforderungen 
schweigt   alsdann   die  vaterländische  Muse   nicht.     Dichter  treten 

')  Nach  „aber'^  gestrichen:  „auch". 

^)  „auch  —  erreichen"  verbessert  aus  „sich  auch  nicht  über  sie  hinaus  er- 
strecken". 

*)  „habe  —  hören"  verbessert  aus  „ist  mir  ein  Beispiel  vorgekommen". 

*)  „dieselbe  —  setzen"  verbessert  aus  „die  Eifersucht  eines  Orts  gegen  den 
andern  zu  wecken". 

■*)  „sichtbarem^''  verbessert  aus  „lebhaßem", 

•)  Nach  „fodern"  gestrichen:  „nun". 

')  „heraus"  verbessert  aus  „auf". 

*)  „Vorzug"  verbessert  aus  „Preis". 


70 


Die  Vasken. 


in  der  Nationalsprache  auf,  verspotten  den  besiegten  Gegner,  oder 
beschuldigen  ihn  schon  im  Voraus  der  Verwegenheit,  sich  an  so 
geübte  Streiter  zu  wagen.  Ein  solches  Lied,  auf  das  ich  einmal 
zufällig  stiess,  bei  Gelegenheit  einer  Ausforderung  zwischen  Mar- 
quina  und  Motrico,  beginnt  z.  B.  mit  folgender  Strophe : 

Ausgefordert  habet  Ihr, 

Und  zu  was  ?    o,  der  Vermessenheit  1 

Zu  des  Ballspiels  edlem  Streit 

Ganz  Marquina  hierl 

Dieser  Ausfordrungen  Trutz, 

Ha!  Motriker,  zeug'  es  mir! 

Ob  ihn  nicht  mit  Siegesflug 

Stets  Marquina  niederschlug? 

Eine  andre  Veranlassung  zur  wetteifernden  Eifersucht,  manch- 
mal auch  zu  wirklichen  Streitigkeiten  geben  die  ländischen  Feste,  wenn 
ein  Dorf  das  andre,  oder  eine  Stadt  ihre  um  sie  herum  liegenden 
Landbewohner  bei  einigen  Schläuchen  Wein  zum  Tanze  einladet.^) 
Es  geschieht  bei  solchen  Gelegenheiten  wohl,  dass  der  eine  oder 
andre  seine  Ehre  durch  die  Verletzung  irgend  einer  eingeführten 
Höflichkeitssitte  beleidigt  glaubt,  und  dann  machen  alle  jungen 
Leute  des  Orts  die  Beleidigung  zu  der  ihrigen.  ^)  Man  fodert 
sich  ^)  heraus,  es  erfolgen  Schlägereien  und  selten  vergeht  ein 
Jahr,  ^)  ohne  dass  nicht  einer  auf  diese  Weise  ^)  getödtet  oder 
schwer  verwundet  wird.  Die  wahre  Nationalwaffe  des  Biscayers 
ist  sein  langer  und  dicker  Gebirgsstock,  ohne  den  er  selten  oder 
nie  geht.  Wenn  sich  die  beleidigten  Theile  begegnen,  fodern  sie 
einander  mit  dem  Losungsworte")  Aiip/  das  auf  eine  ausdrucks- 
volle Weise   ein  plötzliches  Erheben,    ein  Zusammennehmen  der 

*)  Daher  das  Zeitwort  Aupatatii.  Beide  Ausdrücke  scheinen  vorzüglich  dem 
Vizcayischen  Dialecte  eigen.  Die  ganze  Sitte  überhaupt  kann  natürlich  nur  dem  am 
meisten  gebirgigten  Theil  der  Nation  angehören. 

^)  Dieser  Satz  hiess  ursprünglich :  „Ein  andrer  Anlass  zur  feierlichen  Ver- 
einigung mehrerer  Ortschaften  ist  der  Tanz.  Ein  Dorf  giebt  dem  andern,  oder 
eine  Stadt  den  um  sie  herum  liegenden  Landbewohnern  einen  oder  zwei  Schläuche 
Weins,  und  dabei  werden  die  Nationaltänze,  von  denen  ich  bald  einige  Worte 
sagen  werde,  getanzt." 

^)  „machen  —  ihrigen"  verbessert  aus  „pßegt  wohl  der  grösste  Theil  der 
jungen  Mannschaft  des  ....  ihrigen  zu  machen." 

^)  Nach  „sich"  gestrichen:  „alsdann". 

*)  „vergeht  ein  Jahr"  verbessert  aus  „vergehen  ein  Paar  Jahre". 

^)  „nicht  —  Weise"  verbessert  aus  „in  einer  Gegend  einer  bei  solchen 
Gelegenheiten". 


Zarauz  und  Guetaria. 


71 


Kräfte  bezeichnet,  heraus.  Stutzen  sie  vor  einander  und  zögern 
sich  anzugreifen,  so  heisst  es:  Biderdia!  (Mitten  in  den  Wegl) 
Alsdann  beginnt  das  Gefecht.  Der  Knittel  wird  mit  beiden  Händen 
geführt,  und  diese  Art  zu  fechten  Icennt  so  gut  ihre  Regeln,  als 
die  unsrige.  Der  geschickte  Kämpfer  weiss  schnell  den  Hieb  des 
Gegners  abzuhalten,  und  gleich  darauf  den  seinigen  beizubringen. 
Die  Paraden  geschehen  je  nachdem  der  Hieb  geführt  wird,  entweder 
horizontal  vor  dem  Gesicht,  oder  zu  beiden  Seiten  nach  unten  zu. 
Gelingt  es  nicht  mit  dem  Hauen,  so  dient  das  Ende  des  Stocks 
auch  zum  Stich.  Wird  einer  beider  Theile  zu  Boden  gestreckt,  so 
stellen  sich  seine  Partheigänger  vor  ihn,  bedecken  ihn  mit  ihren 
Stöcken,  wie  Homers  Helden  ihre  gefallenen  Krieger  mit  ihren 
Lanzen  und  Schilden,  und  suchen  ihn,  kämpfend  und  weichend,  dem 
Gefecht  zu  entziehn.  In  einem  reizbaren  und  muthigen  Bergvolk 
Jedem  Ausbruch  der  Leidenschaften  zuvorkommen  zu  wollen,  wäre 
unmöglich,  und  das  von  Zeit  zu  Zeit  daraus  entstehende  Unglück 
ist  immer  ein  geringerer  Nachtheil,  als  wenn  eine  ängstliche  Polizei 
den  frohen  und  überschäumenden  Muth  des  Volks  zu  ersticken 
versuchte,  ^j  Wenigstens  ist  der  lange  Gebirgsstock  eine  ofne 
und  redliche  Art  der  Waffen,  und  zeugt  immer  für  den  Muth  und 
die  Geradheit  eines  Volks.  -) 

Wunderbar  ist  es,  dass  diese  LocalEifersucht ,  wie  man  sie 
nennen  könnte,  auch  auf  die  Sprache  einen  sehr  grossen  Einfiuss 
ausübt.  Dass  der  Vaske  in  dem  Grade  stärker  an  seiner  Sprache 
hängt,  in  dem  sie  ungerechter  verfolgt  wird,  dass  er  sich  freut,  wenn 
der  Fremde  an  ihr  Theilnahme  zeigt,  und  sich  Mühe  giebt,  selbst 
einige  Worte  zu  radbrechen,  dass  er  ihm  alle  Eigenheiten  und  Sonder- 
barkeiten derselben  zu  erklären  und  besonders  das  Geheimniss  der 
in  den  meisten  Vaskischen  Wörtern  liegenden  Bedeutungen  etymo- 
logisch aufzuschliessen  sucht,  ist  sehr  natürlich.  Aber  auffallender 
ist  der  wetteifernde  Streit,  wo  das  Vaskische  am  besten  und  reinsten  ^) 
gesprochen  werde?  Marquina  in  Guipuzcoa  und  Durango  in 
Vizcaya   behaupten  darin   unstreitig  den  Vorzug.*)     Beide  mitten 


*)  Wie  der  Verfasser  der  neueren  Staatskunde  von  Spanien  I,   102.  darauf  kommt 
in  diesem  Betracht  Bilbao  und  Ordufia  zu  nennen,    weiss  ich  nicht.     Von  Bilbao   ist  es 


^)  „zu  ersticken  versuchte"  verbessert  aus  „ersticken  wollte". 
^)  Nach  „Volks"  gestrichen:  „wenn  es  sich  solcher  freier  und  nicht  heimlicher 
Dolche  und  Waffen  bedient." 

^)  „reinsten"  verbessert  aus  „richtig [sten]". 


72 


Die  Vasken. 


im  Lande,  nah  an  einander  gelegen,  nur  durch  das  Gebirge  Oiz  von 
einander  geschieden,  beide  ansehnlich  bevölkert,  wohlhabend  mehr 
durch  Ackerbau  und  Kunstfleiss,  als  durch  Handel,  und  daher  von 
Fremden  sparsamer  besucht,  beide  endlich  von  Gebirgseinwohnern 
umgeben,  die  in  ihren  zerstreut  gelegenen,  abgeschiedenen  Woh- 
nungen das  älteste,  dem  Städter  manchmal  kaum  noch  verständliche  *) 
Vaskisch  rein  und  unverändert  aufbehalten  haben,  sind  von  der  Ver- 
mischung ihrer  Mundart  mit  Castilianischen  Wörtern  und  Redensarten 
am  meisten  verschont  geblieben.  Beide  geniessen  überdiess  jetzt  des 
Vorzugs,  Marquina  in  D.  Juan  de  Moguel,  Durango  in  D.  Pablo 
de  Astarloa,  zwei  so  gelehrte  und  gründliche  ^)  Sprachforscher  zu 
besitzen,  dass,  wenn  auch  der  letztere  den  Bau  und  die  Natur 
seiner  Sprache  tiefer  erforscht  hat,  doch  selbst  der  Kenner  ungern 
über  sie  ein  entscheidendes  Urtheil  fällen  wird.  Der  streitige 
Punkt  aber  ist  nun  zu  wissen,  ,  welcher  von  beiden  Orten  dem 
andern  den  Rang  abläuft?  und  hierüber  hörte  ich  oft  mit  Hart- 
näckigkeit und  Wärme  streiten. 

Noch  sonderbarer  und  die  Erlernung  der  Sprache  sehr  er- 
schwerend ist  folgende  Erscheinung.  Die  Vaskische  Sprache  hat, 
wie  jede  ursprüngliche,  reiche  und  ehemals  in  einer  ungleich 
grösseren  Ausdehnung  gesprochene,  eine  Menge  gleichbedeutender 
Wörter.  Zaldia  und  Zamaria  heissen  Pferd,  erhia  und  atza  Finger, 
goragoa  und  arbasoa  der  Urältervater  u.  s.  f.  Von  diesen  Wörtern 
hat  die  Mundart  der  verschiedenen  Gegenden^)  das  eine  aufge- 
nommen,  das   andre  ist  unbekannt,  oder  doch  nicht  üblich.     Die 


allgemein  bekannt,')  dass  man  daselbst  vorzüglich  schlecht  Vaskisch  spricht,  und  in 
einem  Grenzorte,  wie  ürdufia,  darf  man  schwerlich  einen  reinen  Dialect  suchen.  — 
Es  ist  vermuthlich  mit  dieser  Behauptung,  wie  mit  der,  dass  „die  Bispayischc  Sprache 
von  dem  Basquischen  im  französischen  Navarra"  nun  vollends  ganz  verschieden  sey. 
I,    302. 

*)  Von  der  Wahrheit  dieser  Behauptung  zeugt  folgende  Anekdote.  Ein  junger 
Gebirgshirt  beichtete  bei  einem  Stadtgeistlichen  ein  Verbrechen  begangen  zu  haben, 
das  er  Biganderia  nannte.  Der  verlegene  Pfarrer,  der  das  Wort  nicht  verstand,  und 
durch  Fragen  nichts  herausbringen  konnte,  ertheilte  dem  Menschen  die  Absolution. 
Nachher  fand  er,  durch  Nachsuchen,  dass  der  Ausdruck  aus  den  drei  Wörtern:  bigaya, 
junge  Kuh,  atldrea,  Frau,  und  eria,  Krankheit,  Laster,  zusammengesetzt  ist,  und  also 
eine  unglückliche  Verirrung  anzeigt,  die  bei  einsamen  Hirten  vielleicht  weniger  streng 
beurtheilt  werden  darf,  aber  in  Biscaya  doch  fast  beispiellos  selten  ist. 

^)  „gründliche"  verbessert  aus  „tiefe". 

^)  Nach  „Gegenden"  gestrichen:  „bald". 

'}  „allgemein  bekannt"  verbessert  aus  „ausgemacht". 


Zarauz  und  Guelaria. 


73 


Rivalität  der  kleinen  Ortschaften  macht  nun,  wie  mich  einsichts- 
volle Beobachter  versicherten,  dass  man  sich  an  einem  Ort  nicht 
gern  der  Ausdrücke  bedienen  will,  welche  dem  benachbarten 
eigenthümlich  sind,  obgleich  Eigennamen  zeigen,  dass  dieselben 
ehemals  von  allgemeinerem  Gebrauche  waren.  In  Durango  sagt 
man  2.  B.  um  den  Begriff  des  Einsammelns  auszudrücken  batu, 
in  Guipuzcoa  hilda.  Doch  sind  die  Namen  mehrerer  dortiger 
LandHäuser  aus  dem  ersteren  Wort  zusammengesetzt.  Nicht 
selten  findet  man  daher  solche  einzelne  Localausdrücke^)  eher 
in  entfernten,  als  in  nahgelegenen  Orten  wieder.  Der  allgemeinen 
Verständlichkeit  der  Sprache  kann  dies  keinen  Eintrag  thun,  da 
es  immer  nur  eine  kleine  Anzahl  von  Ausdrücken  betrift.  Aber 
es  erschwert  das  Aufsuchen  des  vollständigen  Sprachvorrathes 
und  bezeichnet  den  allgemeinen  Hang  jedes  Volkscharakters,  sich 
immer  erst  in  kleineren  Massen  von  einander  abzuscheiden,  ehe 
man  sich  zu  grösseren  verbindet. 

Von  derselben  regen  Eifersucht,  welche  sogleich  erwacht,  als 
ein  Ort  sich  eines  Vorzugs  vor  seinen  Nachbarn  anzumassen  ver- 
sucht, führte  uns  der  Zufall  ein  nicht  uninteressantes  Beispiel  auf 
unserm  Wege  von  Zumaya  nach  Deba  zu.  Wir  begegneten  zwei 
Frauenspersonen,  einer  älteren  und  einer  jüngeren,  ihrer  Nichte, 
die  nach  dem  benachbarten  Dorfe  giengen.  Die  Tante  hatte  ge- 
lobt die  Jungfrau  in  Itziar  zu  besuchen,  und  die  Nichte,  ein 
rasches,  junges  und  sehr  hübsches  Mädchen,  begleitete  sie.  Auf 
unsre  Bitte,  uns  einige  Zortzicos  —  so  nennt  man,  von  zorzi^ 
acht,  die  achtzeiligen  Vaskischen  Nationallieder  —  vorzusingen 
und  zu  erklären,  that  sie  es.  Ich  schrieb  einen,  so  gut  ich  ihr 
folgen  konnte,  nach, 2)  und  ob  sie  gleich  anfangs  sich  zu  singen 
weigerte,  drang  sie  mir,  als  mich  die  vielen  Strophen  ermüdeten, 
doch  noch  die  letzte,  als  vorzüglich  hübsch,  auf.  Die  Poesie  des 
Liedes  bedeutete,  wie  man  leicht  denken  kann,  nicht  viel,  aber 
der  Inhalt  belustigte  uns  sehr.  Zarauz  und  Guetaria,  erzählte  sie 
uns,  stritten  um  die  Ehre,  Elcano's  Geburtsort  zu  seyn.  In  Za- 
rauz gebe  es  noch  Personen  dieses  Namens,  in  Guetaria  nicht. 
Auf  diesen  schwachen  Beweisgrund  hin  hätte  nun  ein  gemeiner 
Seemann  in  Zarauz,  der,  wie  sie  sagte,  weder  schreiben  konnte, 
noch  Castilianisch  wusste,   dies  Lied   gemacht,  indem  er  zugleich 


')  „Localausdrücke"  verbessert  aus  „Provincialismen". 
*)  „nach"  verbessert  aus  „auf. 


74 


Die  Vasken. 


die  Ehre  seines  Geburtsortes  rettete  ^)  und  den  armen  Indtafto 
in  Guetaria  nicht  wenig  mitnahm,  und  als  bald  darauf  einige  Zu- 
mayer  (Zumaya  liegt  dicht  bei  Guetaria)  nach  Guetaria  zu  Schiffe 
fuhren,  sangen  sie  das  Lied.  Man  wollte  es  ihnen  untersagen, 
und  bedrohte  sie  mit  Strafen,  aber  unsre  entschlossne  Heldin, 
die  dabei  war,  fertigte  die  Drohungen  ganz  kurz  mit  der  Antwort 
ab :    un  cantar  es  para  cantar  (ein  Gesang  ist  zum  Singen  gemacht). 

Elcano's  Bildsäule  ist  nicht  das  einzige  Denkmal  des  Seeruhms 
der  Biscayer,  das  uns  Guetaria  darbot.  In  mehreren  Gärten  sahen 
wir  die  Weinreben  durch  grosse  Wallfischknochen  unterstützt. 
Es  vergeht  nemlich  nicht  leicht  ein  Jahr,  in  dem  sich  nicht  einige 
Wallfische  in  den  Busen  von  Biscaya  verirren ;  und  ^)  nur  wenige 
Wochen  vor  unsrer  Ankunft  hatte  man  einen  bei  Zarauz  ge- 
fangen.    Sie  pflegen  auf  36  Ellen  lang  und  8  hoch  zu  seyn. 

Es  scheint  ausgemacht,  dass  Europa  diesen  ganzen  Fang 
ueberhaupt  dem  Muth  und  der  Geschicklichkeit  der  Vasken  dankt, 
und  vorzüglich  schreibt  man  denselben  zuerst  Bayonnischen  Schiftern 
zu.  Sie  bemerkten,  dass  die  Wallfische,  welche  sie  jährlich  an 
ihrer  Küste  fiengen,  regelmässig  zu  bestimmten  Zeiten  erschienen, 
und  wieder  verschwanden,  versuchten,  ihnen  nachzufahren,  als 
sie  die  südlicheren  Gewässer  verliessen,  und  wurden  so  allmählig 
bis  nach  Grönland  und  Island  hingelockt.  Sie  rüsteten  ehemals 
kleine  Flotten  von  50  bis  60  Fischerschiffen  dahin  aus,*)  und 
hatten  sich  so  sehr  die  Zuneigung  ^)  der  Isländer  zu  verschaffen 
gewusst,  dass  diese  sie  vorzugsweise  begünstigten.  Sie  trieben 
ihren  Fang  nach  und  nach,  so  wie  er  in  einer  weniger  ergiebig 
zu  werden   anfing,   in   mehreren  Gegenden,  zuerst   um  Grönland 


*)  Man  vergleiche  über  diese  ganze  Materie  den  Artikel  Peche  de  Baieine  in 
der  grossen  Encyclopädie,  und  die  von  Beruard  de  Reste  aus  dem  Holländischen  ins 
Französische  übersetzte  histoire  des  peches ,  des  decouvertes  et  des  etablissetnens 
des  Hollandais  dans  les  iners  du  Nord.  T.  I.  p.  XXII.  und  ferner  p.  2.  4.  13.  17. 
132.  sq.  —  Diese,  als  die  neueste  unter  den  mir  über  diese  Materie  bekannten  Schriften 
giebt  die  Anzahl  der  Schiffe  so,  wie  ich  sie  bestimmt  habe,  an.  In  der  Encyclopedie 
ist  nur  von  30,  jedes  zu  250  Tonnen  und  50  Mann  die  Rede,  und  ebensoviel  nimmt 
Sprengel  (Geschichte  der  Europaeer  in  Nordamerika.  Th.  I.  S.  35.)  für  die  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts  an. 

^)  „die  —  rettete"  verbessert  aus  „Zarauz  die  Ehre,  diesen  Helden  erzeugt 
zu  haben,  zueignete". 

^)  Nach  „und"  gestrichen:  „dort  gefangen  werden". 

^)  „Zuneigung"  verbessert  aus  „Gunst". 


Zarauz  und  Guetaria. 


75 


und  Island  herum,  hernach  gegen  Finnland  zu,  und  endlich  in 
der  Strasse  Davis. 

Allein  nicht  lange  konnten  sie  sich  in  dem  Alleinbesitz  des- 
selben erhalten;  sie  wurden  sogar  von  den  Holländern  eine  Zeit- 
lang gänzlich  aus  den  Nordischen  Gewässern  verdrängt.  Die 
Holländer  stellten  ihre  erste  Unternehmung  dahin  im  Jahr  1612. 
an,  doch  konnten  sie  so  wenig  der  Basquen  dabei  entrathen,  dass 
sie  vielmehr  immer  mehrere  derselben  in  ihre  Dienste  zu  nehmen 
suchten.  Sie  machten  einen  beträchtlichen  Theil  ihrer  Schiffs- 
mannschaft aus,  und  wurden  vorzüglich  als  Harpounierer  ge- 
braucht. Während  des  Fanges  hatten  sie  eine  uneingeschränkte 
Macht  über  die  Schiffe,  und  selbst  der  Capitaine  musste  ihnen 
gehorchen.  Erst  als  sich  andre  Nationen  bei  dieser  Fischerei  zu 
den  Holländern  gesellten,^)  fanden  sich  auch  die  Basquen  wieder 
bei  derselben  ein.  Die  um  Spitzbergen  herum  liegenden  Meer- 
busen wurden  nun  förmlich  vertheilt,  die  Engländer  nahmen  die 
südlichsten  weg,  auf  sie  folgten  die  Holländer,  und  die  nördlichsten, 
bei  dem^)  rothen  Busen,  fielen  den  Basquen  und  Spaniern  zu, 
da  wo  noch  jetzt  das  Biscayische  Vorgebirge  bekannt  ist.  In 
neueren  Zeiten  haben  die  Vasken  den  Wallfischfang  für  den  Stock- 
fischfang aufgegeben,  allein  immer  bleibt  ihnen  der  Ruhm  Europa 
mit  einer  der  nützlichsten,  aber  auch  gefahrvollsten  Fischereien 
bekannt  gemacht,  und  ihren  Namen  an  eine  der  nördlichsten 
Spitzen  des  Erdbodens  ■')  verpflanzt  zu  haben. 

Auch  die  meisten  einzelnen  Verrichtungen  bei  dem  Fang  und 
der  Benutzung  der  Wallfische  sind  Vaskische  Erfindungen.  Eine 
der  wichtigsten,  die  Bereitung  des  Thrans  auf  den  Schiffen  selbst 
und  in  offener  See,  bei  dem  er  weit  besser  geräth,  als  wenn 
man,  wie  vorher  die  Holländer  thaten,  das  Fett  erst  in  Tonnen 
schlägt  und  liegen  lässt,  bis  man  ans  Land  kommt,  gehört  einem 
Bürger  von  Ciboure  Franz  Soupite  zu.  Er  gab  zu  diesem  Behuf 
einen  Ofen  an,  der  auf  dem  zweiten  Verdeck  von  Ziegelsteinen 
gebaut  wird,  und  auf  den  man  den  Kessel  setzt.  Daneben  hält 
man  zu  Verhütung  der  Feuersgefahr  mit  Wasser  angefüllte  Fässer 
in  Bereitschaft. 

Zweifelhafter,   als   die   erste  Entdeckung   des  Wallfischfanges, 

^)  „sich  —  gesellten"  verbessen  aus  „die  Holländer  genöthigt  waren,  diesen 
Zweig  ihrer  Fischerei  mit  andern  Nationen  zu  theilen". 
^)  „bei  dem"  verbessert  aus  „um  den". 
*)  „des  Erdbodens"  verbessert  aus  „Europens". 


76 


Die  Vasken. 


ist  es,  ob  die  Verfolgung  dieser  Bewohner  des  Eispols  die  Basquen, 
noch  vor  Columbus  Seefahrt,  nach  Neufundland  und  Canada  ^) 
führte.  Die  Landeseingebohrnen  behaupten  es,  ja  sie  bringen 
diese  Entdeckung  mit  der  von  Columbus  in  noch  näheren  Zu- 
sammenhang. Basquen,  sagen  sie,  hatten  sich,  wohl  schon  loo  Jahre 
vor  ihm  in  Neufundland  niedergelassen;  ihre  Nachkommen  aber 
waren  genöthigt  worden,  weil  sie  das  Clima  nicht  länger  vertragen 
konnten,  wieder  zurückzukehren.  Krank  am  Scorbut  und  ausser 
Stande  weiter  zu  segeln,  landeten  sie  an  einer  der  Canarischen 
Inseln  gerade  zu  der  Zeit,  als  Columbus  auf  seiner  Entdeckungs- 
reise ebendaselbst  ankam.  Sie  gaben  ihm  Nachricht  von  ihrer 
Fahrt  und  dem  Lande,  das  sie  bewohnt  hatten,  und  veranlassten 
dadurch  die  wahre  Entdeckung  Americas.  Aber  da  sie,  noch  ehe 
sie  ihr  Vaterland  erreichten,  am  Scorbut  hinstarben,  so  blieb  ihm 
allein  der  Ruhm,  und  das  Gefücht  ihrer  Fahrt  verdunkelte  sich. 
Es  dürfte  schwer  halten,  einen  kritisch  genauen  historischen  Be- 
weis hierüber  zu  führen;  allein  ein  Basquischer  Seemann  Derazu 
soll  einen  interessanten  handschriftlichen  Aufsatz  darüber  nach 
mündlichen  Ueberlieferungen  verfertigt  haben,  und  auf  diesen 
bezieht  sich  Garat,  wenn  er  einmal  gelegentlich  im  Französischen 
Mercur  den  Beweis  verspricht,  dass  Amerika  eigentlich  zuerst 
durch  Basquen  entdeckt  worden  sey.*) 


*)  Man  vergleiche  eine  Abhandlung  sifr  la  decouverte  de  l'Amerique  addressee 
au  docteur  Franklin  in  den  Memoires  de  la  societe  philosophique  d'Atnerique. 
(Ein  Auszug  davon  ist  im  Moniteur.  3.  Brum.  an  13.  25.  Oct.  1804.  nr.  33.)  Diese 
Abhandlung  gründet  sich  auf  eine  Stelle  in  Garcilasso  de  la  Vega  Peruanischer  Geschichte, 
in  der  es  heisst  dass  Columbus,  nachdem  er  von  der  Existenz  eines  andern  Welttheils 
durch  Alonzo  Sanchez  de  Huelva,  qui  faisant  route  pour  les  Canaries  avoit  ete 
pousse  aux  Antilles  par  un  coiip  de  vent,  unterrichtet  worden  sey,  avoit  surtout 
tire  grand  parti  des  injormations  d'un  celebre  Geographe  nomme  Martin  Behenira. 
Diesen  Namen  versteht  der  Verfasser  dieses  Aufsatzes  von  Martin  Behaim,  Les  sillabes 
ira,  setzt  er  hinzu,  doivent  etre  dues  ä  une  circonstance  particuliere ;  cette  circon- 
stance  je  la  trouve  dans  la  confiance  dont  il  a  ete  honore  par  Jean  2.  roi  de 
Portugal.  (Wie  hängen  die  Silben  ira  und  dies  Vertrauen  zusammen?  Behenira  kann 
sehr  füglich  ein  Vaskischer  Name  seyn.)  Indess  scheint  die  Angabe,  Columbus  habe 
auf  den  Canarischen  Inseln  Nachrichten  eingezogen,  sich  auf  eine  Stelle  in  Riccioli's 
geographie  reformee,  livre  III.  p.  90.  zu  beziehen.  Christophe  Colomb,  heisst  es 
da,  pensa  ä  entreprendre  une  navigation  aux  Indes  Occidentales  sur  une  indication 
qu'il  reg'it  ä  Madere  oü  il  s'occupoit  ä  faire  des  cartes  de  geographie.  Cette 
indication  lui  fut  donnee  par  Martin  Bohem,  ou  selon  les  Espagnols  par  Alphonse 


^)  „Canada"  verbessert  aus  „den  nördlichsten  Gegenden  von  Amerika". 


Zarauz  und  Guetaria. 


77 


Die  Lage  von  Guetaria  ist  hinlänglich  aus  Herrn  Fischers 
Reise  durch  Spanien  bekannt.^)  Wir  wohnten  in  demselben 
Hause  des  Wundarztes,  in  dem  er  sich  einige  Tage  lang  aufhielt, 
und  fanden  die  von  ihm  sehr  umständlich  beschriebne  kleine 
Büchersammlung  noch  in  demselben  Zustand.  In  der  Kirche, 
die  einen  hohen  abentheuerlich  verzierten  Thurm  hat,  ist  das 
Schnitzwerk  im  Chore  berühmt.  In  dieser  Art  von  Arbeiten 
herrscht  in  den  grösseren  und  älteren  katholischen  Kirchen  ein 
gewisser  Muthwille  der  Künstlerlaune,  und  wenn  man  überall  in 
dem  ganzen  Gebäude  nur  ernsthafte  und  religiöse  ^)  Vorstellungen 
erblickt,  so  treibt  innerhalb  der  Gitter  des  Chors  auf  den  bunten 
Verzierungen  der  Chorsessel  die  Einbildungskraft  ihr  freies  Spiel, 
ohne  sich  an  die  Bestimmung  und  Heiligkeit  des  Ortes  zu  kehren. 
In  Burgos  lehnt  sich  der  Erzbischof  auf  seinem  Chorstuhl  an  eine 
Europa  an,  welche  Jupiter  als  Stier  entführt,  und  in  Auch  erinnre 
ich  mich  einen  Pfaffen  gesehen  zu  haben,  den  zwei  Affen  in  ihrer 
Mitte  zwischen  sich  fest  binden.  Auch  hier  waren  die  mannig- 
faltigsten Arabesken-  und  Capricciofiguren,  Reuter  auf  vielfach  in 
einander  verschlungenen  Ungeheuern,  Centauren,  Löwenjagden 
u.  s.  f.  Doch  kommt  die  Feinheit  der  Arbeit  bei  weitem  nicht 
der  in  der  Cathedrale  von  Auch  gleich.  Reicher,  freier  und  zier- 
licher^) von  Erfindung,  und  feiner  und  bestimmter  in  der  Aus- 
führung aber,  als  das  Schnitzwerk  im  Chor  dieser  letzteren  Kirche, 
lässt  sich  auch  schlechterdings  nichts  denken.  Glücklicherweise 
hat  dies  merkwürdige  Gebäude  durch  die  Zerstörungen  der 
Revolution,  die  sich  überhaupt  im  südwestlichen  Theile  Frank- 
reichs schonender  als  in  den  nördlichen  Provinzen  gegen  den 
Gottesdienst  gezeigt  hat,  nichts  gelitten,  und  es  ist  nur  zu  bedauern, 
dass  es  seltner  von  Künstlern  besucht  wird.  Ausser  den  Raphael- 
schen  Logen  weiss  ich  in  der  Arabeskengattung  nichts  hiermit 
an  Geschmack  und  Grazie  zu  vergleichen,  als  die  Verzierungen 
einer  Handschrift  des  Quinctilian  in  dem  vom  Herzog  Ferdinand 


Sanchez  de  Huelva  pilote  qui  avoit  rencontre  par  hasard  l'isle  qui  depuis  a  ete 
appelee  la  Doiyiinique.  Auch  Mariana  (/.  XXVI.  c.  3.)  erzählt :  qu'un  certain  batimetit 
allant  en  Afrique  avoit  ete  jetie  par  un  coup  de  vetit  sur  de  certaines  terres 
inconnues  et  que  les  matelots,  apres  leur  retour  ä  Madere,  avoient  communique 
ä  Christophe  Colomb  les  circonstances  de  leur  navigation. 

1)   Vgl.  dort  S.  13.  74. 

'')  „religiöse"  verbessert  aus  „heilifge]". 

*)  „iierlic    r"  verbessert  aus  „zarter". 


78 


Die  Vasken. 


von  Calabrien*)  gestifteten  Kloster  S.  Miguel  de  los  Reyes  bei 
Valencia.  Unter  224  sehr  schön  geschriebenen  und  reich  ver- 
zierten lateinischen  Handschriften  der  Bibliothek  dieses  Klosters 
zeichnet  sich  diese  vor  allen  andern  aus,  und  wenn  diese  Hand- 
schriften, wegen  ihres  geringen  Alters,^)  auch  in  philologischer 
Rücksicht  nicht  gerade  erheblich  sind,  so  verdienen  sie  in  künst- 
lerischer Aufmerksamkeit,  vorzüglich  da  diese  Verzierungen  über 
Rafaels  Zeitalter  hinauszugehen  scheinen. 

Die  Aussicht  von  der  durch  einen  schmalen  Damm  mit  dem 
Lande  verbundenen  Insel  S.  Anton  ist  die  weiteste  und  freieste, 
die  man  an  dieser  Küste  findet.  Bisher  war  sie  immer  der  letzte 
Punkt  gewesen,  den  unser  Auge  an  der  Küste  erreicht  hatte. 
Jetzt  sahen  wir  von  ihr  aus  das  Vorgebirge  Machichaco,  und  über- 
blickten so  auf  einmal  den  ganzen  Biscayischen  Meerbusen  von 
Bermeo  bis  S.  Sebastian.  Denn,  das  Vorgebirge  Machichaco,  die 
Insel  S.  Anton  und  das  Vorgebirge  dcl  Higuer  sind  die  drei  am 
meisten  ins  Meer  vorgehenden  Punkte  dieser  Küste,  zwischen  welchen 
das  Land  zwei  flache  Einbiegungen  macht.  Die  Insel  besteht  übrigens 
aus  zwei  durch  ein  Thal  geschiedenen  Höhen,  von  denen  die 
hinterste  und  höchste  ein  blosser  Haufe  auf  einander  gethürmter 
KHppen  ist,  zu  dem  man  durch  einen  schmalen  an  ungeheuren 
Abgründen  hinlaufenden  Fusssteig  gelangt.  Auf  dem  vordersten 
Gipfel  ist  bloss  ein  Wachthurm,  auf  dem  hintersten  eine  Ein- 
siedelei. Solche  Einsiedeleien  giebt  es  viele  in  Spanien,  doch 
werden  sie  nicht  immer  von  Einsiedlern,  sondern  oft  von  Ackers- 
leuten bewohnt.  Die  Insel  ist  theils  Weideplatz,  theils  Ackerland. 
An  den  schroffen  Abhängen  klimmen  Kühe  herum,  und  zu  den 
Ackerstücken  trugen  Männer  und  Weiber  Körbe  voll  Mist  auf  dem 
Kopf  den  unendlich  beschwerlichen,  zum  Theil  niit  Stufen  im 
Felsen  gehauenen  Weg  hinauf. 


*)  Dieser  Herzog  von  Calabrien  war  ursprünglich  ein  Aragonischer  Prinz  und 
ein  Sohn  Friedrichs  von  Aragonien,  Königs  von  Neapel.  Er  war  1488.  in  Apulien 
gebohren.  Als  sein  Vater  durch  Ferdinand  den  Katholischen  und  Ludwig  12.  sein 
Königreich  verloren  hatte,  vertheidigte  er  sich  eine  Zeitlang  in  Tarent,  musste  sich 
aber  dem  sogenannten  Gran  Capitan,  Gonzalo  Fernandez  von  Cordova  ergeben  und 
wurde  in  Spanien  in  Xativa,  jetzt  S.  Phelipe,  10.  Jahre  lang  gefangen  gehalten.  Endlich 
schenkte  ihm  Carl  5.  die  Freiheit  wieder,  verheirathete  ihn  mit  D.  Ursula  Germana, 
Wittwe  Ferdinand  des  Katholischen,  und  machte  ihn  zum  Vicekönig  von  Valencia. 
Hier  residirte  er  mit  allem  Glanz  der  Königlichen  Würde,  und  das  Kloster  erhielt 
daher  seinen  Namen. 

^)  „ihres  geringen  Alters"  verbessert  aus  „ihrer  Neuheit". 


Zumaya,  Deba,  Motrico,  Ondarroa  und  Marquina.  ^q 

Zumaya,  Deba,  Motrico,  Ondarroa  und  Marquina. 

^)  Diese  Tagereise  —  denn  da  wir  früh  von  Guetaria  aus- 
geritten waren,  so  erreichten  wir  Marquina  noch  an  demselben 
Abend  —  gewährte  uns  eine  ungemein  reizende  Abwechslung 
verschiedener  Gegenden.  Erst  die  freundliche  Lage  des  Hafens 
von  Zumaya.  Die  Urola  strömt  aus  einem  lieblich  bewachsenen 
Thale,  mit  dem  sich  an  ihren  Ufern  ein  andres  vereinigt,  hervor 
und  ergiesst  sich  zwischen  Felsen  ins  Meer;  der  Blick,  der  ihren 
Lauf  landeinwärts  verfolgt,  wird  durch  eine  hohe  Gebirgsmauer 
begränzt ;  und  hinter  dem  kleinen  am  Abhänge  liegenden  Flecken 
erheben  sich  steile  aber  angebaute  Berge.  Dann  der  einsame 
Gebirgsweg  nach  Deba  bei  Itziar  vorbei.  Von  zwei  Bergreihen 
eingeschlossen,  und  von  wunderbar  gestalteten  Klippen  umgeben, 
glaubt  man  sich  mitten  in  die  Alpen  oder  Pyrenaeen  versetzt, 
aber  die  öde  Wildheit  der  Gegend  mildert  der  Anblick  der  an- 
muthigen  Aecker  und  Gärten,  mit  welchen  der  Fleiss  der  Bewohner 
auch  die  steilsten  Gipfel  umkränzt  hat.  Darauf  die  unbegränzte 
Aussicht  aufs  -)  Meer  zwischen  Motrico  und  Ondarroa.  Eine 
schmale,  aber  gut  angelegte  Chaussee  verbindet  diese  beiden  kleinen 
Häfen,  immer  am  Abhänge  der  Berge  über  dem  Meer  hinlaufend. 
Ondarroa  erhält  durch  seine,  in  einem  hohen  Bogen  über  den 
Fluss  gehende  Brücke  und  seine  alterthümliche  ^)  Kirche  ein 
romantisches  Ansehn.  Alle  Kirchen  dieser  kleinen  Seestädte  sind 
in  länglichten  Vierecken,  ohne  eigentliche  Thürme,  aber  mit 
mehreren  thurmartigen  Ausbauen  auf  den  Seiten,  und  mit  unge- 
heuer dicken  Mauern,  Strebepfeilern  und  Gewölben,  gleich  Festungs- 
werken, aufgeführt.  Diese  aber  zeichnet  sich  durch  ihre  Grösse, 
ihr  Alter  und  den  Gothischen  Schmuck  aus,  mit  dem  sie  sehr 
reich  verziert  ist.  Endlich  von  der  Küste  abwärts  das  wunder- 
schöne Thal  des  Dorfs  Berriatua,  das  an  den  Ufern  eines  kleinen 
Baches  hin  bis  Marquina  führt.  Mitten  unter  dem  mannigfaltigen 
Grün  von  Aeckern,  Wiesen  und  Gärten,  von  freundlich  bebauten 
Hügeln  und  finstrem  Gebirgsw^ald  umschlossen   hat  Berriatua  ein 

1)  Vor  „Diese"  ist  folgender  Absatz  gestrichen :  „Alle  diese  Orte,  Marquina 
allein  ausgenommen,  das  mitten  im  Lande  liegt,  sind  kleine  Seehäfen,  in  sehr 
geringer  Entfernung  von  einander.  Der  Weg  läuft  zwar  meistentheils  am  Meere 
hin,  allein  .  .  .  ." 

*)  „aufs"  verbessert  aus  „auf  die  unendliche". 

')  „alterthümliche"  verbessert  aus  „altväterliche". 


§0  Die  Vasken. 

wild-ländliches  Ansehn.  Das  Thal  ist  wahres  Gebirgsthal;  aus 
dem  Gebüsch  drängen  sich  nackte  Felsecken  vor,  zur  Seite  rauscht 
in  der  Tiefe  der  kleine  aber  reissende  Waldstrom,  und  durch  das 
Grün  der  Bäume  blicken  die  schwarzen  Schlackenhaufen  der 
Eisenhämmer  durch,  die  er  treibt.  Von  Zeit  zu  Zeit  stiessen  wir 
auf  Stammhäuser  grosser  Familien,  deren  einfache  Bauart  aber 
weder  unsern  neueren,  noch  älteren  Schlössern^)  gleicht,  und 
die  nur  an  ihrer  Grösse  und  dem  über  der  Thür  eingehauenen 
Wappen  kenntlich  sind. 

Von  Ondarroa  an  befanden  wir  uns  im  eigentlichen  Vizcaya. 

In  Marquina,  einem  bloss  Ackerbau  treibenden  Flecken,  sahen 
wir  uns  auf  einmal  mitten  in  das  Land  und  in  acht  Vizcayische 
Sitten  versetzt.  Ein  Zufall  veranlasste  uns  ein  Paar  Tage  dort 
zu  bleiben,  und  ich  durchstrich  oft  die  Felder  und  suchte  mich 
mit  den  Ackerleuten  zu  verständigen.  Auch  gelang  es  mir  so 
ziemlich,  weniger  durch  meine  Kenntniss  der  Sprache,  als  durch 
ihre  unermüdliche  Geduld,  mit  der  sie  mir,  mit  dem  sichtbarsten 
Ausdruck  der  Freude,  dass  ich  mich  um  ihre  Sprache  und  Sitten 
bekümmerte,  immer  zugleich  durch  Zeigen  und  Nennen  der 
Gegenstände,  von  denen  ich  sprach,  zu  Hülfe  kamen. 

Die  grosse  Schwierigkeit,  welche  der  Ackerbau  in  Biscaya  zu 
tiberwinden  hat,  ist  die  Härte  und  Strenge  des  Bodens.  Sie  durch- 
pflügen ihn  daher  nicht  nur  mehreremale  nach  einander,  sondern 
bedienen  sich  auch  dazu  einiger  ganz  eigener  Werkzeuge.  Das 
eigenthümlichste  unter  denselben  ist  die  laya.  Sie  besteht  aus 
einer  langen  und  spitzigen  zweizackigen  Gabel  mit  einem  kurzen 
Stiel,  der  aber  nicht  in  der  Mitte,  sondern  an  dem  einen  Ende 
befestigt  ist.^)  Jeder  Arbeiter  hat  zwei  solche  Gabeln  in  der  Hand, 
sticht  sie  ^)  horizontal  in  die  Erde  ein,  drückt  sie,  mit  einem,  oder 
auch  wohl  mit  beiden  Füssen  zugleich  darauf  tretend,  noch  tiefer 
ein,  und  reisst  dann,  den  Stiel  nach  sich  zu  niederdrückend,  ein 
ganzes  grosses  Rasenstück  auf  einmal  los  und  wendet  es  herum. 
Diese  schon  durch  das  stete  Bücken  äusserst  beschwerliche  Arbeit 
wird  immer,  wie  bei  uns  das  Graben,  zugleich  von  mehreren  ver- 
richtet,   und    daher  kommt   das  in   die  Spanische  Sprache   über- 


*)  "Nach  „Schlössern"  gestrichen:    „Es  sind  grosse  viereckte  Gebäude  von 
sehr  einfacher  Bauart,  allenfalls  nur  mit  einer  kleinen  T[hür]." 
^)  „befestigt  ist"  verbessert  aus  „sitzt". 
*)  Nach  „sie"  gestrichen:    „mit  aller". 


Zumaya,  Deba,  Motrico,  Ondarroa  und  Marquina.  8l 

gegangene  Sprichwort:^)   son  de  una  misma  laya*)   sie  sind  eines 
Gelichters. 

Unser  einzahniger  Pflug**)  wird  in  dieser  Gegend  selten  oder 
gar  nicht  gebraucht,  allenfalls  nur  eine  einzelne  Furche  zu  ziehen, 
die  Arbeiter  mit  der  laya  zu  leiten.  Dagegen  sind  mehrere  Arten 
vielzahniger***)  Pflüge  üblich,  von  denen  einige  unsern  Eggen 
gleichen.  Die  nabasaia  f)  hat  vier  lange  nach  vorn  zu  hakenförmig 
gekrümmte  Eisen,  die  an  einem  Queerholz  befestigt  sind,  auf  dem 
unmittelbar,  und  ohne  Räder,  die  Deichsel  aufliegt,  und  welche 
die  Erde  sehr  tief  aufwühlen,  zumal  wenn  der  Pflügende  sich 
nicht  begnügt,  hinten  an  den  beiden  dazu  bestimmten  gekrümmten 
Hölzern  mit  den  Händen  aufzudrücken,  sondern  noch  Steine  an- 
hängt. Die  Btirdmarca-\-\)  ist  auf  gleiche  Weise  gebaut,  hat  aber^) 
hinter  dem  vierzahnigen  Queerholz  noch  ein  kleineres  mit  zwei 
Zähnen  in  den  Zwischenräumen  der  vorderen,  und  die  Zähne 
gehen  gerade  hinunter.  Unsrer  Ege  am  nächsten  kommt  die  vier- 
eckte area,-\^j)  die  gewöhnlich  vier  mit  einander  verbundene  Balken, 

*)   Vivian  en  la  misma casa  dos  o  tres  damas  de  la  misma  laya  cet.  Aventuras 
de    Gil   Blas   de  Santiüana.     I,  321.     Die   in    den    gewöhnlichen  Spanischen    Wörter- 
büchern angegebene  Bedeutung  dieses  Worts :  Art,   Beschaffenheit,  ist  daher  bloss 
metaphorisch  und  abgeleitet. 
**)  Goldea. 

***)  So  heisst  der  Pflug  nach  Larramendi  (ich  habe  dies  Wort  gerade  nie  gehört) 
bostortza,  Fünfzahn. 

f)  Vom  Glätten  des  urbargemachten  Bodens,  vielleicht  auch  vom  Einschneiden. 
Nauada  oder  Naiia,  das  auch  ins  Spanische  übergegangen  ist,  bedeutet  eine  Ebne, 
Fläche.  Daher  hat  z.  B.  die  berühmte  Schlacht  in  den  Ebnen  von  Tolosa,  wo  im 
Anfange  des  13.  Saeculum  die  Mauren  in  Andalusien  geschlagen  wurden,  la  batalla  de 
las  naiias,  ihren  Namen,  und  ebenso  Nauarra,  als  die  Ebne  am  Fuss  der  Pyrenaeen. 
Von  der  Idee  des  Glatten  geht  die  der  Schärfe  aus.  Denn  nauala  heisst  ein  Messer, 
und  damit  hängt  vielleicht  das  Spanische  navaja,  und  vielleicht  sogar  novacula  zu- 
sammen. 

ff)  Von  Burdina,  Eisen,  und  area,    Pflug    oder  Egge,  da    beide  Instrumente   ein- 
ander hier  sehr  nahe   kommen. 

fff)  Die  Idee  des  Ackerns  wird  bekanntermassen  in  einer  grossen  Menge  von 
Sprachen  durch  Wörter  bezeichnet,  die  von  der  Silbe  ar  abgeleitet  sind.  Man  ver- 
gleiche nur  z.  B.  Adelung  v.  Aeren.  Zu  den  von  ihm  angeführten  Beispielen  könnte 
man  aber  noch  viele  hinzufügen  z.  B.  das  Vaskische  areatu,  das  BasBretonsche  ara 
(Pelletier  v.  arer),  das  Kymrische  am  (Owen  h.  v.),  das  Gailische  aradh  (Mac  Far- 
lan  h.  V.),  das  Irländische  araim.  Die  dabei  zum  Grunde  liegende  Vorstellung  scheint 
mir   die    des  geraden  und  langen  (furchenartigen)  an  einander  Reihens  zu  seyn.     Denn 


^)  „Sprichwort"  verbessert  aus  „  Volkssprich[\vortf'. 

^)  Nach  „aber"  gestrichen:   „perpendicular  hinuntergehende  Eisen". 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     Xm.  6 


§2  Die  Vasken. 

jeden  zu  sechs  starken  eisernen  Nägeln  hat.  Nur  sind  die  Balken 
schief  gelegt,  so  dass  sie  vorn  enger  zusammenstehen,  als  hinten, 
oben  ist  ein  Spriegel  angebracht,  bei  dem  der  Ackernde,  w^ie  er 
es  nöthig  findet,  bald  aufdrücken,  bald  heben  kann,  und  weil  diese 
Ege  zugleich  zum  Zermalmen  dient,  so  wird  sie  oft  noch  mit 
Steinen  beschwert. 

Die  Erdschollen,  die  noch  nach  diesen  Arbeiten  nicht  ganz 
zerlockert  zurückbleiben,  werden  mit  einer  Art  Schlägel,  mazuha*) 
noch  zulezt  einzeln  zermalmt. 

Da  die  Besitzungen  nur  klein  sind,  so  beschäftigt  ihre  Be- 
stellung, trotz  der  vielfachen  Arbeit,  den  Landmann  doch  nur  eine 
Zeit  des  Jahres  hindurch.  In  der  übrigen  treiben  viele  ein  Hand- 
werk, und  mehrere  zerstreuen  sich,  als  Zimmerleute  in  der  um- 
liegenden Gegend.  Obgleich  die  Biscayischen  Landleute  nicht 
reich  genannt  werden  können,^  so  leben  sie  doch  meistentheils 
sehr  gut.  Wie  sie  mir  selbst  in  Marquina  sagten,  essen  sie  alle 
Mittage  Fleisch,  trinken  Abends  immer  Wein  und  auch  ihr  Früh- 
stück ist  reichlich.  Ich  wohnte  einmal  einem  solchen  Familien- 
frühstück bei.  Der  Herr,  seine  beiden  Söhne,  der  Knecht  und 
ein  Tagelöhner  sassen  auf  ihrem  Acker  um  eine  Schüssel  mit 
geschnittnem  und  in  Fett  gebratnem  Brote  herum;  dazu  hatten 
sie  Eierkuchen,  und  gutes  Weizenbrot,  da  das  Maisbrot  eine 
schlechtere  und  armseligere  Kost  ist.     Die  Frau  stand  hinter  ihnen 


ausserdem,  dass  der  Laut  der  Silbe  die  Einbildungskraft  hierauf  führt,  so  liegt  in  den 
meisten  metaphorischen  Ableitungen  dieser  Wortfamilie  in  mehr  als  Einer  Sprache 
noch  der  Begriff  der  Ordnung,  des  Zusammenpassens,  und  im  Vaskischen  besonders 
deutet  fast  dasselbe  Wort,  aria,  auch  einen  Faden,  also  eine  feine  und  schmale  Länge, 
und  aräua,  die  Regel,  d.  i.  die  gerade  Richtschnur  an.  Auch  ist  nicht  zu  übersehen, 
dass  das  Griechische  sl^/eip,  an  einander  reihen,  das  Lateinische  serere,  und  das  Vas- 
kische  ercindu,  säen,  damit  verwandt  sind,  und  auch  das  in  Reihen  an  einander  Legen 
bedeuten.  Die  Vorstellung  der  Furche  kann  hernach  auf  die  der  Arbeit,  der  Stärke, 
des  Einschneidens,  Aufiockerns,  wodurch  das  Wort  auf  die  Erde,  das  Auflockerbare, 
übertragen  wird,  der  Fruchtbarkeit  übergehn.  Wenn  man  die  Folge  dieser  Abstam- 
mung bedenkt,  so  erstaunt  man  darüber,  welch  ein  kräftiger  und  edler  Begriff  in  dem 
Griechischen  äQSTrj  zusammengedrängt  ist,  das,  unmittelbar  verwandt  mit  äoovQa,  das 
Gemüth  mit  einem  lockern  Boden  vergleicht,  den  die  Bearbeitung  zu  allerlei  Erzeugung 
fruchtbar  macht.')  Auch  in  unsrer  Redensart  von  guter  Art  seyn,  liegt  weit  mehr 
als  wir  jetzt  fühlen,  da  wir  nun  unter  Art  nur  eine  logische  Species,  und  nicht  ein  Natur- 
geschlecht denken. 

*)  oder  mazua.     Das  b  gehört  nur  dem  Vizcayischen  Dialect  an. 

')  „das  —  macht"  verbessert  aus  „die  bildsame  Kraft  des  Gemüths  frucht- 
bar gemacht  durch  die  starke  Bearbeitung  des  Willens". 


Zumaya,  Deba,  Motrico,  Ondarroa  und  Marquina.  go 

und  sah  nur  zu,  weil  sie  schon  zu  Hause  gegessen  hatte.  Nach 
dem  Essen  spannte  der  Tagelöhner  seine  Ochsen  an  den  Vier- 
hakenpflug, und  die  Frau  säete  Mais  dahinter  ein.  Die  Tagelöhner 
halten  sich  nemlich  hier  zuweilen  selbst  ihre  Ochsen,  da  sie  auch 
eignen  Acker  haben.  Mit  diesen  arbeitend,  bekamen  sie  hier 
ausser  dem  Frühstück,  und  Brot  und  Wein  zu  Abend  lo  reale 
den  Tag,  15  Groschen  in  Golde,  ohne  Ochsen  die  Hälfte.  Eine 
Frau  bekam  die  ganze  Kost  und  i  real,  i  Groschen  6  Pfennig  in 
Golde,  so  dass  der  Taglohn  im  Verhältniss  zum  Lande  sehr  theuer 
ist.  Sehr  sorgfältig  erkundigten  sich  diese  Landleute  nach  der 
Nähe  des  Friedens ;  er  hat  das  unmittelbare  Interesse  für  sie,  dass 
sie  dann  die  Fische,  deren  sie  zu  ihren  Fasten  bedürfen,  in 
grösserer  Menge  und  wohlfeiler  erhahen  können. 

Tief  im  Lande,  wie  hier  und  in  einem  Flecken,  der  ganz  von 
Ackerbau  lebend,  sich  nur  durch  seine  Grösse  und  seinen  Wohl- 
stand von  den  gewöhnlichen  Dörfern  unterscheidet,  sieht  der 
Fremde,  und  in  Vergleichung  mit  andern  Ländern  in  der  That 
nicht  ohne  Verwunderung  mit  welcher  vollkommenen  Gleichheit, 
vorzüglich  in  diesem  Theile  Biscayas,  der  Vornehme  und  Geringe, 
Arme  und  Reiche  mit  einander  umgehen  Mehr  als  einmal  be- 
gegnete es  uns,  dass  man  uns  in  einer  Gruppe  von  Leuten,  die 
alle  gleich  und  ganz  gewöhnlich  gekleidet  waren,  einen  von  einer 
sehr  bekannten  Familie,  oder  der  einen  Titel  in  Castilien  hatte, 
zeigte.  Wie  nützlich  aber  der  Aufenthalt  der  Reicheren,  die  auf 
den  ersten  Anblick  nur  ein  bloss  müssiges  und  geschäftsloses 
Leben  zw  führen  scheinen,  unter  ihren  Mitbürgern  ist,  zeigt  die 
auch  unter  dem  Volk  verbreitete  Aufklärung. 

So  z.  B.  ist,  besonders  um  Marquina,  die  Einimpfung  der 
Blattern  so  gewöhnlich ,  dass  auch  einzelne  Hausbewohner  im 
Gebirge  sie  selbst  an  ihren  Kindern  verrichten.  Die  Verbreitung 
derselben  ^)  verdankt  man  vorzüglich  dem  rastlosen  Eifer  des 
Vaters  des  damaligen  GeneralDeputirten  von  Vizcaya  D.  Josef 
Maria  Murga's,  einem'  aufgeklärten  und  edeln  Manne,  der  schon 
dadurch  und  durch  die  Bildung,  die  er  seinem  durch  \'ielfache 
Kenntnisse  und  geschickte  Geschäftsführung  ausgezeichneten  Sohne, 
grösstentheils  allein  unter  seiner  eignen  Aufsicht  gegeben  hat,  hin- 
länglich beweist,  wie  wohlthätig  ein  scheinbar  kleiner,  still  aus- 
gefüllter Wirkungskreis   einem  Lande   und   einer  Nation   werden 


*)  „derselben"  verbessert  aus  „dieser  wohlthätigen  Erfindung'^. 

6* 


84 


Die  Vasken. 


kann.  Neuerlich  hat  man  auch  die  Schutzblattern  zu  versuchen 
angefangen.  Herr  D.  Lope  de  Mazarredo  in  Bilbao,  Neffe  des 
bekannten  Admirals,  hat  eine  der  besten  in  Paris  darüber  er- 
schienenen Schriften  übersetzt  und  seine  Tochter  zuerst  einimpfen*) 
lassen.  Ihm  sind  andre  in  Bilbao  und  andern  Orten  z.  B.  in  Azpeitia 
gefolgt. 

Zwar  ginge  man  zu  weit,  wenn  man  behaupten  wollte,  dass 
aller  Adelstolz  aus  Vizcaya  verbannt  sey.  Man  muss  vielmehr 
gestehn,  dass  unter  einem  gewissen  Theil  der  Nation  noch  ein 
ziemlich  sichtbarer  und  sogar  vielfacher  herrscht.  Jeder  Vizca3^er 
ist  durch  seine  Geburt  adlich,  und  muss  auch  in  andern  Provinzen 
des  Königreichs  dafür  erkannt  werden.  Er  hat  darüber  keinen 
andern  Beweis  zu  führen,  als  dass  sein  Vater  und  Grossvater 
wirklich,  seine  übrigen  Vorfahren  aber  dem  Gerücht  nach  aus 
Vizcaya  herstammten.**)  Reichthum  und  Armuth,  ja  selbst  die 
Lebensart  und  Handthierung  machen  hierin  keinen  Unterschied. 
Nur  einige  Handwerke,  z.  B.  das  der  Schlächter,  das  auch  meisten- 
theils  durch  Ausländer  ausgeübt  wird,^)  sind  davon  ausgenommen. 
Auf  den  Volksversammlungen  in  Vizcaya  gilt  kein  andrer  als 
dieser  Adel,  wer  einen  Grafen,  Marques  oder  selbst  Herzogstitel 
in  Castilien  oder  andern  Provinzen  besitzt,  legt  ihn  alsdann  ab, 
und  nimmt  seinen  Vaskischen  Namen  an.  Daher  haben  viele 
Familien  doppelte  Namen,  und  da  einer  derselben  dem  Titel,  der 
andre  der  Familie  angehört,  der  Titel  aber,  streng  genommen, 
nur  Einem,  dem  Erstgebohrenen  zukommen  kann,  so  führt  manch- 
mal der  Sohn  einen  andern,  als  sein  Vater.  So  z.  B.  heisst  der 
Sohn  des  Marques  de  Narros,  einer  sehr  bekannten  Familie,  so 
lange  sein  Vater  lebt,  nur  Eguia.  Alle  ächte  Vizcayer  sind  also 
vollkommen  gleich,  alle  sind  von  Adel  und  es  giebt  unter  ihnen 
keinen  niedrigeren,  oder  höheren.  Der  erste  Punkt  des  Stolzes 
ist  das  allgemeine  Vorrecht  der  Provinz.  Da  sich  die  alten  Landes- 
eingebohrnen  bei  dem  Einfall  der  Mauren  in  diese  Gebirge  zurück- 
zogen, so  halten  sie  ihren  Adel  für  vorzüglicher,  als  den  des 
übrigen  Königreichs.  Hierüber  müssen  sie  oft  die  Spöttereien 
comischer  Schriftsteller  leiden,   und   wer   erinnert  sich  nicht  des 


*)  Man    sagt,    wie    es    scheint,    in    Spanien    allgemeiner    invacunar   als    vacunar. 
Auch  ist  jenes  der  Sprache  angemessener. 
**)  Fueros  de  Vizcaya.  ley  i6.  p.  24. 

1)  „Handwerke  —   wird"   verbessert   aus  „Handwerker,   z.   B.   Schlächter, 
die  ....  Ausländer  sind''. 


Zumaya,  Deba,  Motrico,  Ondarroa  und  Marquina.  gc 

Escudero  Vtzcayno  im  Don  Quixote  und  des  D.  Rodrigo  de  Mondragon 
im  Gil  Blas  ?  Im  Lande  selbst  hält  sich  der  Landmann  vornehmer, 
als  den  Städter,  und  ausserdem  entstehen  nun  noch  einzelne 
Nuancen  durch  die  Gunstbezeugungen  der  Könige,  die  einigen 
Titel,  andern  das  Recht  dieses  oder  jenes  Wappen  zu  tragen  u.  s.  w. 
verliehen  haben.  Daher  sieht  man  über  den  Thüren  die  Wappen, 
oder  auch  nur  einen  leeren  viereckten  Wappenschild  eingehauen, 
ja  manchmal  die  gemahlten  Wappen  in  den  Stuben  aufgehängt. 
Selten  indess  wird  einer  unverständig  genug  seyn,  sich  darum 
über  seine  Mitbürger  emporheben  zu  wollen,  und  niemals  wenig- 
stens entspricht  diesen  Anmaassungen  ^)  der  einen  die  Unter- 
würfigkeit der  andern.  Selbst  in  den  gewöhnlichen  Höflichkeits- 
bezeugungen ist  der  Vaske  freier  und  ungezwungner,  als  seine 
Nachbarn.  Nur  in  den  Spanischen,  nicht  in  den  Französischen 
Provinzen,  und  auch  dort  nur  in  neueren  Zeiten  ist  die  unnatür- 
liche Anrede  in  der  3ten  Person,  berori  für  das  Spanische  usted^ 
Ew.  Gnaden,  üblich.  Der  gewöhnliche  ^)  Gruss  des  Vasken,  auch 
gegen  Vornehmere,  vorzüglich  auf  dem  Lande  und  im  Gebirge 
ist:  Agur  adisguidea!  (Guten  Tag,  Freund)  mit  einem  treuherzigen 
Händeschütteln  verbunden.  Dieses  Wort  Agur!  ist  in  die  ver- 
trauliche Sprache  der  Spanier  übergegangen;  man  muss  aber  ge- 
stehen, dass,  vorzüglich  mit  einem  etwas  brummenden  Tone  aus- 
gesprochen, es  kein  sonderlich  freundlicher,  noch  feiner  Gruss 
ist.  Ursprünglich  scheint  es  mir  von  der  Handlung  des  Ver- 
neigens  herzukommen;  a  ist  nur  ein  Vorschlagslaut,  und  die 
Stammsilbe  gur  entspricht  im  Vaskischen  dem  Lateinischen  curuus, 
krumm.*)  Trotz  dieses  gleichen  und  vertraulichen  Umganges 
aber,  ist  das  Ansehn  eines  in  seinem  Orte  geachteten  Mannes  und 
sein  Einfluss  auf  das  Volk  sehr  gross.  Sein  Ausspruch  allein  ist 
oft  hinreichend,  Streitigkeiten  '^)  oder  Schlägereien,  die  z.  B.  des 
Sonntags  auf  dem  Marktplatz  entstehen,  zu  hemmen;  man  hat 
gesehen,  dass  er,  auch  ohne  gesetzliches  Recht  zu  befehlen  zu 
haben,   den  Ruhestörern  ins  Gefängniss  zu  gehen   gebot,   und  sie 


*)  Agurtu,  grüssen ;  aguretasuna,  das  Alter ;  aguretu,  alt  werden ;  giir-pilla, 
glir-cila,  das  Rad;  in-guriuin,  rund  herum;  gurtu ,  verehren.  Nach  der  Ver- 
gleichung  dieser  Worte  scheint  gur  zuerst  Krümme  und  Rundung  anzuzeigen,  und  dann 
bildlich  auf  Verehrung  und  das  gebückt  gehende  Alter  übertragen  zu  seyn. 

')  „Anmaassungen"  verbessert  aus  „Foderungen". 

*)  „gewöhnliche"  verbessert  aus  „dem  Lande  eigenthümliche". 

*)  „Streitigkeiten"  verbessen  aus  „Zänkereien". 


85  Die  Vasken. 

ihm  gehorchten;  und  bei  Volksunruhen/)  wie  z.  B.  1720.  als  die 
Regierung  Douanen  in  Biscaya  anlegen  wollte,  an  der  Küste  ent- 
standen, hat  dieser  Einfluss  sehr  wohlthätig  gewirkt.  Mehr  also 
als  irgendwo  anders  kann  man  hier  sagen,  dass  ein  solcher  Mann : 

lenket  mit  Worten  den  Sinn  und  der  Tobenden  Herzen  besänftigt.^) 

Es  scheint  wunderbar,  dass  ein  Recht,  das  man  gewohnt  ist 
als  ein  Vorrecht  vor  andern  anzusehn,  allen  Bewohnern  einer 
Provinz  ohne  Unterschied  zukommen  soll.^)  Innerhalb  der  Grenzen 
derselben  kann  es  natürlicherweise  ganz  und  gar  keine  Privilegien, 
sondern  nur  die  Herstellung  der  natürlichen  Gleichheit  bewirken, 
und  so  ist  es  auch  vollkommen  in  Biscaya;  es  wird  nur  da  Vor- 
recht, wo  die  Provinz  mit  andern  Provinzen  in  Verhältniss  kommt. 
In  dieser  Rücksicht  aber  kann  das  Privilegium  Vizcayas  wiederum 
keine  drückenden  Folgen  für  die  Nation  ausüben,  da  die  Bis- 
cayischen  Provinzen  ohnehin  ihr  eignes  Contributions-  und  Re- 
crutirungssystem  haben.  Die  Verfassung  des  Adels  ist  in  Spanien 
durchaus  von  der  in  andern  Ländern  verschieden,  und  daher 
macht  sich  der  Fremde  gewöhnlich  unrichtige  Begriffe  davon. 
Da  man  weiss,  dass  der  Adel  sehr  zahlreich  ist,  so  denkt  man 
sich  die  übrige  Nation  schmachtend  unter  diesem  Druck,  und  aus 
dem  gleichen  Grunde  hält  man  wieder  die  Adelsprobe  so  leicht, 
dass  es  eine  gewöhnliche  Sage  ist,  dass  jeder  in  Spanien  adlich 
ist,  der  nur  nicht  von  Mauren  oder  Juden  abstammt.  Beides  ist 
grundfalsch. 

In  keinem  Lande  sind  die  gesetzlichen  Vorrechte  des  Adels 
so  gering,  als  in  Spanien.  Befreiung  von  einer  gewissen,  nicht 
beträchtlichen  Abgabe,  die  unter  dem  Namen  der  pecJios  begriffen 
ist,  von  Einquartirung  (ausser  in  dem  Fall,  wo  die  Königliche 
Familie  einen  Ort  besucht,  in  dem  selbst  die  Geistlichen  nicht 
ausgenommen  sind)  und  von  dem  gezwungenen  Soldatendienst 
sind  die  eigentlich  vortheilhaften  Vorzüge,  welche  die  hidalgos, 
Edelleute,  von  dem  estado  gejieral  oder  comim  {tiers-etät,  Bürger- 
stand) und  den  hombres  llanos  (gleichsam  ebne,  schlichte  Menschen) 
unterscheiden.  Von  Aemtern  giebt  es  zwar  einige  wenig  be- 
deutende in  den  Magistraten,  die  nur  mit  Adlichen  besetzt  werden 
können,  aber  die  einträglichsten  und  höchsten  Staatsämter  hängen 


^)  Nach  „Volksunnthen"  gestrichen:   „vorzüglich". 

^)  Vergils  Aeneis  i,  i^j. 

^)  „zukommen  soll"  verbessert  aus  „ertheilt  sey". 


Zumaya,  Deba,  Motrico,  Ondarroa  und  Marquina.  ^n 

allein  von  der  Gunst  des  Königs  ab,  und  eine  Menge  von  Bei- 
spielen haben  bis  in  die  neuesten  Zeiten  hin  gezeigt,  dass  dabei 
auf  Geburt  wenig,  oder  gar  keine  Rücksicht  genommen  wird. 
Selbst  die  Steuerfreiheit  kann  nicht  ausschliessendes  Vorrecht  des 
Adels  genannt  werden,  denn  es  giebt  ganze  Gemeinen,  welche  sie 
besitzen  und  in  denen  der  Unterschied  des  Adels  und  Bürger- 
standes nur  durch  jene  Municipalämter  begründet  wird.  Alle 
übrigen  Privilegien  sind  blosse  Ehrenvorrechte  z.  B.  dass  der 
Edelmann,  wenn  er  zum  Zeugen  aufgefodert  wird,  nur  in  seinem 
Hause  vernommen  werden  kann,  dass  er  wegen  Schulden  nicht 
verhaftet  werden  darf,  wovon  es  jedoch  viele  einzelne  Ausnahmen 
giebt,  dass  er  von  der  Folter  frei  ist,  dass  er  nur  in  ein  besondres 
Gefängniss  gebracht  werden  kann,  nicht  mit  dem  Strange  vom 
Leben  zum  Tode  gebracht  werden  darf  u.  s.  f. 

Diese  Vorrechte  besitzt  jeder,  welcher  nur  überhaupt  adlich 
ist,  und  in  diesem  Verstände  kann  mit  der  strengsten  Wahrheit 
behauptet  werden,  dass  alle  Vizcayer,  ohne  Unterschied  der  Fa- 
milien oder  des  Reichthums,  Edelleute  sind.  Alle  Bürgerlichen 
werden  in  den  Orten,  die  sie  bewohnen,  auf  eine  Liste  der  steuer- 
baren Einwohner  {empadronados)  geschrieben,  und  dies,  auf  dieser 
Liste  eingeschrieben  zu  seyn,  oder  nicht,  giebt  den  bestimmtesten 
Charakter  des  Adels  und  Nichtadels  ab.  Um  sich  von  der  Ein- 
schreibung in  diese  Liste  zu  befreien,  muss  man  einen  Titel  auf- 
weisen, und  daher  entstehen  zwischen  denen,  die  sich  von  den 
Steuern  befreien  wollen,  und  den  Gemeinen,  deren  Last  dadurch 
vergrössert  wird,  oder  auch  dem  Fiscal,  die  Adelsprocesse,^)  deren 
Ausgang,  wenn  er  demjenigen,  welcher  seine  Immunität  behauptet, 
günstig  ist,  ihn  mit  einer  sogenannten  Executoria*)  versieht,  die 
daher  die  Stelle   unsrer  Adelsbriefe  vertritt,  aber  nicht  ein  Docu- 

*)  Von  dieser  ist  kei  den  komischen  Dichtern  häufig  die  Rede.     So  in  dem  lau- 
nigten    Gespräch    zwischen   dem  Junker    D.  Mendo    der    mit  magern  Pferden  und  aus- 
gehungerten Windhunden    in    ein    Dorf  kommt,    wo    eben  Soldaten  einquartirt  werden, 
und  seinem  Reitknecht  Nuno  in  Calderons  Alcalde  de  Zalamea. 
Nuüo.  Und  wundert  Euch^)  nur  nicht  darüber. 

Wisst  Ihr,*)  warum  sie  nie  Soldaten 
in  Edelleutenhäuser  einquartiren  ? 
Wisst  Ihr  es,  Herr,   warum? 
Mendo.        Nun  und  warum? 


')  Nach  „Adelsprocesse"  gestrichen:    „die  gewöhnlich  vor  den  Kanzlei[en]". 
*)  „wundert  Euch"  verbessert  aus  „wundre  Dich''. 
')  „Wisst  Ihr''  verbessert  aus  „Weisst  Du". 


88  Die  Vasken. 

ment  ist,  das  den  Adel  ertheilt,  sondern  eins,  das  den  anders- 
woher empfangenen  und  bewiesenen  nur  bescheinigt.  Hieraus 
nun  entsteht  eine  doppelte  Art  des  Adels,  deren  Unterschied  aber 
nicht  die  mindesten  gesetzlichen  Folgen  hat,  nemlich  der  Adel 
von  bekannten  Stammhäusern,  und  der  Adel  durch  richterlichen 
Ausspruch,  hijosdalgo  de  solar  conocido  und  hijosdalgo  de  executoria. 
Der  richterliche  Ausspruch  selbst,  die  Executoria,  kann  sich  auf 
einen  doppelten  Beweis  gründen,  indem  derjenige,  welcher  sie 
nachsucht,  entweder  zeigt,  dass  er  in  gerader  männlicher  Linie 
von  einem  bekannten  Hause  abstammt,  oder  indem  er  nur  die 
SteuerFreiheit  seiner  Vorfahren  seit  undenklicher  Zeit  her  dar- 
thut.  Nur  die  erste  Art  des  Beweises  giebt  ihm  ein  ewiges  und 
unverjährbares  Recht,  da  er  bei  der  letzteren  hingegen  sein  Vor- 
recht wieder  verlieren  kann,  wenn  er  oder  seine  Nachkommen 
aus  Nachlässigkeit  zulassen,  dass -sie  wieder  der  Liste  der  steuer- 
baren Bürger  einverleibt  werden.  Endlich  wird  durch  die  Exe- 
cutoria auch  manchmal  nicht  das  Eigenthum  der  Adelsvorrechte 
ertheilt,  sondern  der  Nachsuchende  nur  in  dem  Besitzstand  der- 
selben geschützt,  wenn  er  nemlich  die  Steuerfreiheit  seines  Ge- 
schlechts nicht  seit  undenklichen  Zeiten,  sondern  nur  20  Jahre 
hindurch,  nachweist.  Manchmal  wird  auch  der  Beweis  nur  durch 
den  dargethanen  Besitz  adlicher  Magistratsstellen  geführt;  alsdann 
aber  erstreckt  sich  auch  das  erstrittene  Recht  nur  auf  die  Freiheit, 
solche  ferner  zu  bekleiden.  Ueber  den  Begriff  eines  altadlichen 
Stammhauses  sind  die  Spanischen  Rechtsgelehrten  sehr  uneinig. 
Einige  wollen  als  solche  bloss  diejenigen  gelten  lassen,  die  sich  in 
den  Gebirgen  Leons,  Burgos,  Vizcaya,  Asturien,  Galicien,  Navarra 
und  Catalonien  befinden.  Allein  diese  Einschränkung  ist  unrichtig, 
und  es  gilt  vielmehr  jedes  Haus  oder  selbst  jeder  Plaz  eines 
Hauses  für  altadlich,  von  dem  es  in  der  Provinz,   in  der  es  liegt, 


Nuiio.  Damit  sie  nicht  vor  Hunger  sterben. 

Mendo.')     Sanft  möge  meines  Vaters  Seele, 

des  wackern  Herrn,   Gott  liab'  ihn  selig,  ruhn  1 
der  eine  grosse  ^)  Executoria 
im  Tod  mir  hinterliess, 
mit  Blau  und  Golde  bunt  bemahlt, 
zum  ewgen  Vorrecht  meines  Stamms.') 
')  Nach  „Mendo"  gestrichen:    „Wohl". 
*)  Nach  „grosse"  gestrichen:    „feste". 

^)  Eine  prosaische  Übersetzung  der  ganzen  Szene  sandte  Humboldt  an  Goethe 
als  Beilage  seines  Briefes  vom  i8. — 26.  August  i'jgg. 


Zumaya,  Deba,  Motrico,  Ondarroa  und  Marquina.  8q 

notorisch  ist,  dass  es  einem  altadlichen  Geschlechte  zugehört  hat. 
Dieser  Beweis  läuft  daher  ganz  und  gar  auf  den  der  Notorietät  des 
Geschlechts  und  der  geraden  männlichen  Abstammung  von  dem- 
selben hinaus.  Gewöhnlich  nun  tragen  die  Familien  den  Namen 
dieser  Stammhäuser  wie  z.  B.  die  Mendozas,  Velascos,  Guzmane, 
Sotomayores  u.  s.  f.  Da  nach  der  Vertreibung  der  Mauren  diese 
grossen  Geschlechter  neue  Stammsitze  durch  ganz  Spanien  er- 
hielten, so  theilte  sich  iedes  wieder  in  verschiedene,  nach  diesen 
benannte  Zweige.  Einige  Familien  tragen  nun  zwar  andre,  nicht 
von  Stammhäusern  herkommende,  sondern  ihnen  bei  besondern 
Gelegenheiten  gegebene  Namen,  wie  die  Girone,  Gerdas,  Coellos 
u.  s.  f.,  sie  besassen  aber  ehemals  gleichfalls  ihre  Stammsitze, 
deren  Namen  nur  über  diesen  Gelegenheitsnamen  vergessen  wor- 
den sind,  so  dass  die  Regel,  dass  jeder  notorisch  alte  Adel  auch 
von  einem  Stammsitz  herrührt  und  daher  den  Namen  führt,  da- 
durch keine  Ausnahme  leidet.  Diese  Gelegenheitsnamen  werden 
im  Gegensatz  der  Stammnamen  {nombres  de  appellido)  nombres  de 
Alcana  genannt,  und  unterscheiden  sich  oft,  obgleich  nicht  immer, 
dadurch  von  jenen,  dass  man  zu  ihnen  nicht,  wie  zu  den  andern 
die  Praeposition  de  hinzuzufügen  pflegt.  So  sagt  man  Hernando 
Gortes,  aber  Hurtado  de  Mendoza.  Sie  rühren  gewöhnlich  von 
einzelnen  Vorfällen  her,  wie  z.  B.  der  der  Figueroas  von  der 
Sage,  dass  zwei  Brüder  dieses  Geschlechts  einem  König  von  Cör- 
dova  bei  einem  Feigenbaum  {higuera^  altspanisch ^^z^^;-«?)  12  christ- 
liche Jungfrauen  abnahmen,  die  er  zum  Tribut  erhalten  hatte. 
Der  einmal  erhaltene  Adel,  der  sich  auch  bisweilen  auf  einen 
eigentlichen  vom  König  ertheilten  Adelsbrief*)  gründet,  erbt  sich 
ohne  Unterbrechung  auf  die  Nachkommenschaft  fort,  und  selbst 
die  Ausübung  bürgerlicher  Handthierungen  thut  seinen  Vorrechten 
keinen  Eintrag.**) 

*)  hidalgos  de  priiiilegio. 
**j  Der  sonst  so  genaue  und  trefliche  Bourgoing,  tableau  de  V Espagne  moderne, 
I,  167.  behauptet  das  Gegentheil.  Allein  man  sehe  Bernabe  Moreno  de  Vargos  dis- 
ciirsos  de  la  nobleza  de  Espana.  Madrid.  1795.  4.  p.  105.  wo  deutlich  gezeigt  wird 
dass  alle  deshalb  vorhandne  Gesetze  nicht  auf  den  Adel  überhaupt,  sondern  nur  auf 
die  Ritterinstitute  gehen.  In  demselben  Artikel  Bourgoings  giebt  es  mehrere  Unrichtig- 
keiten. Er  stellt  immer  den  Asturischen  Adel  dem  Biscayischen  zur  Seite,  der  ganz 
andrer  Art  ist,  da  Asturien  kein  solches  allgemeines  Priuilegium,  als  Vizcaya  kennt, 
er  verwechselt  die  gesetzlichen  und  gesellschaftlichen  Vorrechte  des  Adels  und  be- 
hauptet dass  Philipp  2.  die  Biscayer  geadelt  habe,  da  die  Biscayer  nie  zugeben  würden, 
dass  sie  ihr  Priuilegium  der  Gunstbezeugung  eines  Königes  verdankten,  und  ihr  Juero, 


QQ  Die  Vasken. 

Diess  ist  die  gesetzliche  Verfassung  des  Adels  in  Spanien.*) 
Nach  dieser  giebt  es  also  in  der  That  Provinzen,  die  durchaus 
adlich  sind.  Sie  kennt  keinen  andern  Unterschied  unter  dem 
Adel  als  die  3  auch  nur  durch  Rangvorrechte  unterschiedenen 
Classen  der  Granden,  Tihdos  und  der  blossen  hidalguia,  und  fordert 
nie  eine  eigentliche  Ahnenprobe,  als  nur  bei  den  eigentlichen 
Ritterorden.  Bei  diesen  aber  ist  sie  zum  Theil  so  streng,  dass 
eigne  Abgeordnete  des  Ordens  auf  Kosten  dessen,  der  die  Auf- 
nahme nachsucht,  an  seinen  Geburtsort  gesandt  werden,  um  an 
Ort  und  Stelle  die  Güte  seiner  Probe  zu  untersuchen. 

Ganz  anders  muss  es  natürlich  im  gesellschaftlichen  Leben 
seyn.  Hier  treten  von  selbst  alle  die  Abstufungen  ein,  welche  das 
höhere  oder  geringere  Alter  des  Geschlechts,  der  mehr  oder  min- 
der bekannte  Name,  die  besessenen  Ehrenstellen,  und  die  Grösse 
der  Besitzungen  machen,  und  in  diesem  Verstände  ganze  Provinzen 
adlich  nennen  zu  wollen,  würde  allerdings  lächerlich  seyn.  Auf 
keine  Weise  aber  muss  man  sich  diese  Unterschiede  so  gross 
vorstellen,  als  sie  in  Frankreich  waren  und  in  Deutschland  noch 
jetzt  zum  Theil  sind.  Die  Gesellschaft  ist  durchaus  gemischter, 
da  weder  die  Regierung  bei  Besetzung  der  Stellen  ')  auf  diesen 
Classenunterschied  sieht,  noch  sonst  der  Adel  bedeutende  Vorzüge 
geniesst.  Die  Geistlichkeit,  in  der  selbst  ein  Erzbischof  oft  aus 
ganz  niedrigem  Stande  ist,  trägt  von  ihrer  Seite  -)  zu  dieser  Gleich- 
heit bei,  und  sehr  viel  thut  es  schon,  dass  nicht,  wie  wenigstens 
im  nördlichen  Deutschland  durchaus  der  Fall  ist,  ein  bestimmter 
Namenszusatz  die  Gesellschaft  in  zwei  ganz  verschiedene  Classen 
zerschneidet,  sondern  die  verschiedenen  Nuancen  mehr  in  einander 
übergehen,  und  weniger  bestimmt  erkannt  werden  können. 

Eine  sonderbare  Gewohnheit  ist  es,  dass  in  Spanien  eine 
Wittwe,  die  einen  erlauchten  Titel  hat,  denselben  ihrem  zweiten 
Manne  mittheilt.     So  erhält  z.  B.  ein  Lieutenant,  der  eine  Generals- 


jn  dem  ihr  Adelsvorrecht  anerkannt  ist,  schon  von  Carl  5.  1526.  bestätigt  v/orden  ist. 
Philipp  2.  that  daher  nicht  mehr,  als  dasselbe,  wie  alle  folgende  Könige,  zu  bestätigen. 

*)  Ein  Paar  jetzt  fast  nur  als  Antiquitäten  zu  betrachtende  Classen  des  Adels, 
wie  die  Caballeros  pardos  in  Leon,  die  nur  gewisser  Freiheiten  geniessen,  ohne  eigent- 
lich zum  Adel  zu  gehören,  und  die  Caballeros  qiiantiosos  an  der  Gränze  von  Anda- 
lusien, die,  weil  sie  ein  gewisses  Quantum  von  Ländereien  besassen,  Waffen  und  Pferde 
zu  halten  verbunden  waren,  um  gegen  die  Mauren  bereit  zu  seyn,  habe  ich  mit  Fleiss 
übergangen. 

^)  Nach  „Stellen"  gestrichen:  „noch  der  Hof\ 

^)  „von  ihrer  Seite"  verbessert  aus  „gleichfalls". 


Vitoria. 


91 


wittwe  heirathet,  den  Titel  Excellenz.  ^)  Heirathet  hingegen  eine 
bloss  Adliche  einen  Bürgerlichen,  so  verliert  sie  ihren  Adel,  er- 
hält ihn  aber  mit  dem  Tode  des  Mannes  wieder.  In  alten  Zeiten 
jedoch  musste  sie  sich,  um  dieses  Vorrechts  zu  geniessen,  einer 
lächerlichen  und  unanständigen  Cerimonie  unterziehen.  Sie  musste 
einen  Saumsattel  auf  ihre  Schultern  nehmen,  zum  Grabe  ihres 
verstorbenen  Alannes  gehen,  drei  Schläge  mit  dem  Sattel  auf 
dasselbe  thun,  und  ihn  dann  mit  den  Worten:  „Niedriger,  nimm 
deine  Niedrigkeit  von  mir  wieder;  ich  ziehe  mich  mit  meinem 
Adel  von  dir  zurück"*)  darauf  liegen  lassen. 

Ehe  ich  Marquina  verlasse  muss  ich  noch  eines  sonderbaren 
Naturspiels  erwähnen.  An  einem  Ort,  den  man  Arrechinaga 
nennt,  liegen  drei  sehr  grosse  Felsstücke  —  das  Ganze  mag  wohl 
40 — 50  Fuss  hoch  seyn  —  zwei  auf  ihre  schmale  Seite  aufgestützt, 
und  oben  ungeheuer  breit,  in  einiger  Entfernung  von  einander, 
und  ein  drittes  sehr  grosses  und  schweres  oben  auf  ihnen  ruhend, 
so  dass  sie  mit  jedem  Augenblick  den  Umsturz  zu  drohen,  und 
sich  nur  durch  ihr  Gleichgewicht  zu  halten  scheinen.  Ehemals 
konnte  man  unter  dem  obersten  weggehn;  weil  man  aber  die 
Sache  für  ein  Wunder  ausgab,  so  hat  man  einen  Altar  in  die 
Mitte  und  eine  Capelle,  de  S.  Miguel,  darüber  gebaut.  Ja  man 
hat  die  Kühnheit  gehabt,  weil  vor  dem  Altar  nur  zwei  Diaconen 
stehn  konnten,  aus  dem  einen  Felsen  ein  grosses  Stück  heraus- 
zusprengen, um  Platz  für  einen  dritten  zu  schaffen.  Auch  das 
Volk  schlägt  noch  beständig  Stücke  ab,  denen  es  eine  wunder- 
thätige  und  heilende  &aft  beilegt. 

Vitoria. 

Der  Weg  von  Marquina  bis  Vitoria,  der  von  Elgoybar  über 
Plasencia,  wo  es  ^)  Gewehrfabriken  giebt,  bis  Mondragon  an  der 
Deba  hinläuft,  bietet  bei  weitem  weniger  schöne  Gegenden,  als 
die  Küste,  und  nichts  merkwürdiges,  als  die  Erziehungsanstalt  von 
Bergara  dar. 

Es  ist  bekannt,  dass  sie  ehemals  an  Proust  (der  hernach  nach 
Segovia  versetzt  wurde,  und  jetzt  eine  Lehrstelle  in  Madrid  be- 
kleidet),  Chabanon  und   andern   berühmte  Lehrer  besass;    durch 

*)  Die  oben  angeführten  Discursos  cet.  p.  27.    die    nebst  Salazar    de  Mendoza's 
Origen  de  las  dignidades  seglares  die  ausführlichsten  Werke  über  diese  Materie  sind. 
^)  Neben  diesen  beiden  Sätzen  steht  am  Rande:  „falsch". 
^)  Nach  „es"  gestrichen:  „mehrere". 


92 


Die  Vasken. 


den  letzten  Krieg  mit  Frankreich  war  sie  gänzlich  aufgelöst  worden, 
und  man  arbeitete   erst  jetzt  wieder   an   ihrer  Wiederherstellung. 

Der  Stifter  derselben  war  der  Grat  von  Penaflorida,  der  Ur- 
heber der  patriotischen  Gesellschaften.  Bei  Gelegenheit  eines  Festes, 
das  dem  Schutzheiligen  von  Bergara  zu  Ehren  gefeiert  wurde,  ver- 
sammelten sich  die  bedeutendsten  Männer  der  Gegend  an  diesem  Ort ; 
aber  der  Patriotismus  dieses  Mannes  machte  eine  leere  und  unbedeu- 
tende Feierlichkeit  zu  einer  der  wichtigsten  Wohlthaten  für  Spanien. 
Denn  er  gab  damals  den  ersten  Gedanken  zu  jenen  hernach  so 
nützlich  gewordnen  Gesellschaften  und  fügte  bald  nachher  den  Plan 
einer  Erziehungsanstalt  hinzu.  Sein  thätiger  Eifer  erstreckte  sich 
auch  auf  seine  vaterländische  Sprache.  Er  beschützte  sie  auf  alle  Weise, 
machte  den  Entwurf  zu  einem  neuen  Wörterbuch,  und  dichtete 
selber  in  ihr.  So  verfertigte  er  z.  B.  zum  Behuf  jener  Feierlichkeit 
eine  Vaskische  Oper  und  übersetzte  den  Maredial  ferranf^) 
aus  dem  Französischen.  Seine  Familie  ist  acht  Vaskisch,  ihr 
Stammhaus,  Munibe,  befindet  sich  in  Marquina.  Wir  bewohnten 
es,  während  unsres  Aufenthalts  daselbst,  auf  die  gütige  Erlaubniss 
seines  Sohns,  des  jetzigen  Besitzers,  der  sich  in  S.  Sebastian  aufhält. 

Die  Provinz  Alava,  in  die  wir  hinter  Salenas  traten,  war  die- 
jenige, welche  ich  am  wenigsten  zum  Gegenstand  meiner  Unter- 
suchungen machte.  Als  Gränzprovinz  gegen  Castilien  zu,  und  auch 
vielleicht  weil  sie,  nur  in  einigen  Theilen  gebirgig,  meistentheils 
ganz  aus  Ebne^)  besteht,  hat  sie  am  wenigsten  Vaskische  Eigen- 
thümlichkeit  erhalten.  In  vielen  ihrer  Districte,  namentlich  in 
Vitoria,  spricht  man  nicht  einmal  mehr  Vaskisch.  Ich  kann  daher 
hier  nur  allgemeine  Nachrichten  über  die  Beschaffenheit  und  Ver- 
fassung der  ganzen  Provinz  geben,  von  einzelnen  Orten  aber  nur 
einzelne  Worte  über  Vitoria  hinzufügen. 

Die  Provinz  Alava  hat  von  Mitternacht  gegen  Mittag  etwa  i6, 
von  Morgen  gegen  Abend  14  Spanische  leguas  an  Ausdehnung. 
Innerhalb  derselben  liegt  aber  die  zu  Castilien  gehörende,  3  leguas 
breite  und  4  lange  Grafschaft  Trevino  und  ein  Paar  andere  kleine 
Stücke  in  derselben  Gegend. 

Obgleich  die  Provinz  grossentheils  eben  ist,  so  durchstreichen 
dieselbe  doch  3  Gebirgsketten  von  Morgen  gegen  Abend,  nördlich 
das  Gebirge  de  S.  Adrian  in   dem   der  Fels  Gorbea   die  höchste 

')  Philidors  Oper   „Le  marechal  ferrant"  war  Paris  i']6i  erschienen. 
^)  „Ebne"  verbessert  ans  „Ebnen". 


Vitoria. 


93 


Spitze  des  Landes  ist;  ohngefähr  in  der  Mitte  des  Ländchens,  an 
der  Nordgränze  von  Trevino  eine  zweite;  und  endlich  nah  an 
der  Rioja  die  dritte,  das  Gebirge  von  Tolono. 

Die  Flüsse,  welche  Alava  bewässern,  ergiessen  sich,  einige 
wenige  nach  dem  Meer  zugehende  auf  der  Gränze  mit  Vizcaya 
ausgenommen,  in  den  Ebro.  Der  Zadorra,  den  man  auf  dem  Wege 
von  Vitoria  nach  Madrid  lange  zur  Seite  behält,  ist  der  grosseste 
unter  denselben. 

Alava  ist  nur  theilweise  fruchtbar  zu  nennen.  Man  baut  darin 
vorzüglich  Weizen,  Rocken,  Gerste,  Haber,  Mais,  sehr  viele  Garten- 
gewächse und  vorzüglich  eine  grosse  Menge  grosser  Bohnen.  Die 
Provinz  versorgt  zum  Theil  das  benachbarte  Guipuzcoa  mit  Ge- 
treide und  im  Jahr  1789.  z.  B.  verhielten  sich  nach  den  Zehnt- 
registern ihre  Ernten  folgendergestalt: 

Weizen  —  —  \(^o^i\(^  fanegas  von  Castilien. 


Gerste 

-  150^3^^ 

Haber 

-    76,908 

Mais 

-    34,927 

Rocken 

-     21,733 

Die  Castilianische  Fanega  wird  zu  90  Pfunden  gerechnet,  und 
wenn  man,  wie  bei  Gelegenheit  der  neuen  Französischen  Maasse 
geschehen  ist,  zur  Einheit  der  Inhaltsmaasse  den  zehnten  Theil  des 
Cubikmeters  annimmt,  so  gehen  in  einem  Decimalbruch  ausge- 
druckt 55,501  solcher  Einheiten  auf  di\^  fanega. 

Die  Weinernte  betrug  829363  Cantaras  (Kannen)  von  Casti- 
lien deren  jede  aus  16,133  jener  Einheiten  {litren)  besteht.^) 

Auch  Oel  wird  in  der  Provinz  gebaut,  aber  nur  wenig,  und 
bloss  in  dem  ihr  von  der  Rioja  zustehenden  Antheil  fla  Rioja  Alavesa). 

Der  Ertrag  der  Ernten  in  Alava  könnte  ungleich  beträchtlicher 
seyn,  wenn  nicht  dem  Anbau  des  Landes  Mangel  an  Händen  und 
daher  auch  an  Düngungsmitteln  im  Wege  stände,  und  wenn  es 
möglich  wäre,  den  Acker  so  sorgfältig,  als  dort,  zu  bestellen,  und 
wie  dort  künstliche  Düngungsmittel,  Kalk,  Farrenkraut  u.  s.  w.  zu 
gebrauchen.  Bei  der  im  Verhältniss  des  Flächeninhalts  sehr  geringen 
Bevölkerung  aber  müssen  sehr  viele  Gemeinen  ein  Drittheil  ihrer 
Ländereien  unbestellt  liegen  lassen. 

Die  Volkszählung,  welche  der  Graf  von  Floridabianca  1786. 
anstellen  liess,   giebt   der   ganzen  Provinz   nur  70710  Einwohner, 

•')  „deren  —  besteht"  verbessert  aus  „auf  deren  ....  gehen". 


94 


Die  Vasken. 


von  denen  35072  Männer,  35638  Weiber  waren.  Unter  diesen 
waren  39685  unverheirathet,  26854  verheirathet,  41 71  verwittwet.  In 
den  Jahren  1793.  1794-  suchte  Herr  D.  Lorenzo  Prestamero,  ein 
verdienstvoller  Gelehrter  in  Vitoria,  der  ausserordentlich  genaue 
Nachrichten  über  seine  Provinz  gesammelt  und  für  die  von  der 
Academie  der  Geschichte  in  Madrid  entworfene  Beschreibung  aller 
Spanischen  Provinzen  den  Artikel  Alava  ausgearbeitet  hat,  sich 
genauere  Angaben  über  die  Volkszahl  von  Alava  zu  verschaffen» 
Das  Resultat  seiner  Bemühungen  war,  dass  er  in  den  6  Districten, 
in  welche ,  unter  den  Namen  der  Qiiadrülas^  *)  Alava  vertheilt  ist, 
und  die  wiederum  zusammen  aus  52  Hermandades  bestehen,  440  Ort- 
schaften, und  15396  Familienväter  {vecmos)  fand.  Die  Zahl  der  Geist- 
lichen beliefsich auf  140 1. worunter 425 Ordensgeistliche,  239 Mönche 
und  186  Nonnen  waren.  Rechnet  man  hier  auf  jede  Familie  5  Men- 
schen, so  kommt  die  Zahl  von  76980  Seelen  heraus.  Vergleicht  man 
aber  ein  anderes  Mittel,  dessen  man  sich  in  Spanien  ^)  zur  Bestim- 
mung der  Volkszahl  zu  bedienen  pflegt,  so  scheint  auch  diese  Be- 
rechnung noch  zu  gering.  Jeder  ^)  der  nur  über  7  Jahre  alt  ist,  löst 
nemlich  jährlich  eine  sogenannte  Bula  de  Cruzada,  von  welcher  die 
Erlaubniss  Milchspeisen  in  der  Fastenzeit  zu  essen  abhängt.**)  Solcher 
Bullen  wurden  nun  in  dem  gedachten  Jahr  67553  ^^^  Alava  gelöst^ 
und  wenn  man  dazu  die  Kinder  unter  7  Jahren  nach  den  gewöhnlich 
angenommenen  Verhältnissen  rechnet,  würde  sich  die  Volkszahl  reich- 
lich auf  80000  Menschen  belaufen.  Hält  man  den  jetzigen  Zustand 
der  Bevölkerung  gegen  den  voriger  Zeiten,  ^)  so  hat  dieselbe  seit  dem 


*)  Die  genauere  Angabe 

ist  folgende: 

Die  Quadrille  von 

Hermandades. 

Ortschaften. 

Vecinos. 

I.  Vitoria  hat 

17- 

76. 

'3114. 

2.  Salvatierra 

6. 

71- 

2061. 

3.  Ayala 

5- 

60. 

2705. 

4.  Laguardia 

7- 

57. 

3790. 

5.  Mendozd 

'12. 

84. 

1942. 

6.  Zuya 

5- 

92. 

1784. 

52 


440.  15396. 


**)  Den  Zweck  und  die  Geschichte  dieser  Bulle  findet  man  ausführlich  in  Bour» 
going.     II,   19 — 21. 

')  „Spanien"  verbessert  aus  „Katholischen  Ländern  wohl". 

^)  Nach  „Jeder"  gestrichen:  „Mensch". 

*)  „Hält  —  Zeiten"  verbessert  aus  „  Vergleicht  ....  mit  dem  voriger  Jahr- 
hunderte". 


Vitoria. 


95 


Anfange  des  lö^en  Jahrhunderts  nicht  beträchtUch  ^)  zugenommen. 
1527.  nemlich  zählte  man  14052  vecinos^  wobei  aber  das  Thal  von 
Orozco  mitgezählt  war.  1583.  waren  13469;  1627.  14000  vecinos. 
In  den  fünf  darauf  folgenden  Jahren  aber  wüteten  so  fürchterliche 
Seuchen,  dass  man  bei  einer  abermals  1632.  angestellten  Zählung 
nicht  mehr  als  8500  vecinos  fand.  1683.  war  indess  diese  Zahl 
wieder  bis  zu  10945.  gestiegen.*) 

Wenn  eine  menschenleere  Provinz  unmittelbar  an  eine  über- 
mässig bevölkerte  anstösst,  so  scheint  es  leicht,  dem  Bedürfniss 
der  einen  durch  die  andre  abzuhelfen.  Guipuzcoa  hat,  wie  schon 
oben  bemerkt  worden  ist,  eine  so  beträchtliche  Volksmenge,  dass 
jährlich  Auswanderungen  nach  dem  übrigen  Spanien  und  nach 
America  geschehen.  Es  könnte  vielleicht  40000  seiner  Bewohner 
entbehren,  ohne  dass  die  Lücke  darum  sehr  sichtbar  se3^n  würde. 
Alava  würde  für  seinen  Ackerbau  schon  beträchtlich  gewinnen, 
wenn  es  nur  in  einigen  Jahren  einen  Zuwachs  von  10—12000 
neuen  Anbauern  erhielte,  und  reichte  Guipuzcoa  nicht  zu,  dieselben 
zu  verschaffen,  so  hat  auch  Vizcaya  mehr  Bewohner,^)  als  es 
durch  seine  eignen  Kräfte  ernähren  kann.  Der  Vortheil  würde 
sogar  auf  beide  Provinzen  zurückfallen,  da  sie  alsdann  mehr 
Getreide  aus  Alava  bekommen  könnten,  und  sich  nicht  deshalb 
an  entferntere  Gegenden  zu  wenden  brauchten.  Ueberhaupt  aber 
wird  ^)  bei  der  Nähe  beider  Ländchen,  der  Gleichheit  der  Sprache, 
Vorrechte  und  Sitten  keine  Verpflanzung  so  leicht  mehr  durch 
die  Natur  der  Umstände  begünstigt.  Desto  befremdender  ist  es, 
dass  nun  gerade  hier  die  politische  Verfassung  Schwierigkeiten 
entgegensetzt,  welche  alle  Bemühungen  patriotisch  gesinnter  Staats- 
männer bisher  nicht  zu  heben  im  Stand  gewesen  sind.*)  Wer 
aus  den  nördlichen  Biscayischen  Provinzen  nach  Alava  überziehen 
wollte,  würde  es  natürlich  nur  unter  der  Bedingung  thun,  dass  er 
in  seinem  neuen  Wohnort  dieselben  Vorrechte  beibehielte,  welcher 
er  in  seinem  Geburtslande  genoss.  Dazu  aber  müsste  er  seinen 
Adel  beweisen,  weil  sonst  (da  es  in  Alava,  neben  dem  Adel,  auch 

*)  D.  Joaquin  Josef  de  Landazuri  y  Romarate  Mist,  civil  de  Alava.  Vitoria. 
1798.     4.  I,   115.   116. 

^)  „nicht  beträchtlich"  verbessert  aus  „nur  wenig". 

^)  „hat  —  Bewohner"  verbessert  aus  „befindet  sich  Vizcaya  gleichfalls  in  dem 
Fall,  mehr  Bewohner  zu  haben". 

^)  Nach  „wird"  gestrichen:  „wohl  auch  ausserdem". 

*■)  „welche  —  sind"  verbessert  aus  „die  der  Fremde  auf  den  ersten  Anblick 
nicht  einmal  zu  ahnden  im  Stande  ist." 


96 


Die  Vasken. 


einen,  den  Rechten  nach,  davon  abgesonderten  Bürgerstand  giebt) 
dieser  sich  der  Ansiedlung  des  neuen  AnkömmUngs  widersetzen, 
oder  ihn  zur  Leistung  bürgerlicher  Pflichten  verbinden  v^ürde. 
Ein  solcher  Beweis  wäre  nun  bei  der  Nähe  der  Oerter,  und  der 
Kenntniss,  die  man  im  Lande  selbst  natürlich  von  allen  Familien 
hat,  überaus  leicht  zu  führen.  Allein  unseligerweise  verlangt  die 
Spanische  Verfassung,  dass  alle  Adelsprocesse  vor  einer  der  beiden 
grossen  Kanzleien*)  ausgemacht  werden,  und  so  muss  jede  Sache 
dieser  Art  nach  Valladolid  gehen,  wo  sie  Jahrelang  dauert,  und 
grosse  Kosten  verursacht.  Auch  unter  den  neueren  aufgeklärten 
Regierungen  ist  es  noch  nicht  gelungen,  dies  Hinderniss  aus  dem 
Wege  zu  räumen,  ob  man  gleich  ganz  kürzlich,  unter  Urquijos 
Ministerium,  einen  Schritt  vorwärts  gethan  hat.  Bis  dahin  musste 
nemlich  derselbe  Adelsbeweis  auch  dann  in  Valladolid  geführt  werden, 
wann  ein  Bewohner  von  Alavä  selbst  nur  aus  einer  Hermandad 
in  die  andre  ziehen  wollte.  Dies  aber  war  ein  blosser  Misbrauch ; 
es  war  in  den  alten  Vorrechten  der  Provinz  gegründet,  in  diesem 
Fall  die  Adelsprobe  vor  einer  Commission  von  Eingebohrnen  zu 
machen,  und  dies  Recht  ist  der  Provinz  zurückgegeben  worden. 
So  unglaublich  es  scheint,  dass  übel  verstandene  Politik  oder 
Anhänglichkeit  an  hergebrachte  Gewohnheiten  unübersteiglichere 
Scheidewände  zwischen  benachbarte  Provinzen  setze,  als  die  Natur 
selbst  durch  die  unwegsamsten^)  Gebirge  zu  thun  vermöchte; 
so  sind  dies  doch  bei  weitem  nicht  die  einzigen  Hindernisse,  welche 
der  besseren  Landescultur  in  Alava  entgegenstehn.  Ein  andres 
gleich  grosses  sind  die  Mayorate  oder  Substitutionen  (Mayorazgos 
o  vmculos).     In   keinem  Lande   leidet   der  Ackerbau  wohl   gleich- 


*)  Es  giebt  zwei  höchste  Gerichtshöfe  [audiencias  oder  chancilterias)  in  Spanien, 
eine  in  Valladolid  und  eine  in  Granada.  Navarra  und  Gallicien  haben  zwar  auch  ihre 
eignen  Audiencias,  ihre  Gerichtsbarkeit  erstreckt  sich  aber  nur  über  ihre  Provinz,  und 
von  der  Gallicischen  wird  in  einigen  Fällen  nach  Valladolid  appellirt.  Die  Stiftung 
der  Kanzlei  zu  Valladolid  wird  gewöhnlich  in  das  Jahr  1442.  in  die  Regierung  Johanns  2. 
gesetzt.  Da  man  aber  schon  1388.  diesen  Gerichtshof  in  Segovia  findet,  so  scheint 
er  in  jenem  Jahr  nur  nach  Valladolid  verlegt  worden  zu  seyn.  Unter  Ferdinand  dem 
Katholischen  wurde  er  nach  Salamanca,  darauf  nach  Medina  del  Campo  und  Burgos 
versetzt,  kam  aber  1601.  als  der  Hof  seine  Residenz  in  Madrid  aufschlug,  nach  Valla- 
dolid zurück.  Die  Kanzlei  zu  Granada  wurde  1494.  von  Ferdinand  dem  Katholischen 
in  Ciudad  Real  gestiftet,  nach  der  Eroberung  von  Granada  aber,  1505.  dorthin  verlegt. 
Em.  de  Franckenau  sacra  Themidis  Hispanae.  ed.  2.  novis  accessionibas  locu- 
pletata  a  Francisco   Cerdano  et  Rico.   Matriti.    1780.   8.   Sect.  XIII.  p.  336 — 350. 

')  „unwegsamsten''  verbessert  aus  „grossesten". 


Vitoria,  97 

viel  durch  diesen  Ueberrest  des  Feudalsystems,  als  in  Spanien. 
Denn  nicht  allein,  dass  Jeder,  ohne  Unterschied  des  Standes,  er 
sey  adlich  oder  bürgerlich,  Mayorate  gründen  kann,  so  steht  es 
ihm  auch  noch  frei,  irgend  einen  seiner  Söhne  ausser  dem  Pflicht- 
theil  mit  dem  Fünftheil  seines  Vermögens  zu  begünstigen,  und 
diesen  grösseren  Erbtheil  in  ein  Mayorat  (mayorazgo  por  via  de 
mejora)  zu  ven^-andeln.  Diese  gesetzliche  Freiheit  wird  von  der 
Nation,  die,  vermuthlich  aus  Anhänglichkeit  an  die  Fortdauer  der 
Geschlechter,  eine  unbegreifliche  Neigung  zu  diesen  Instituten 
hat,  auf  das  reichlichste  benutzt  und  so  nennt  Jovellanos  mit 
Recht  die  Mayorate  „einen  unabsehbaren  Abgrund,  in  welchen 
das  Grundeigenthum  von  Tage  zu  Tage  tiefer  hinabsinkt."*)  Die 
ältesten  Ma^^orate  steigen  nicht  über  das  14.  Jahrhundert  hinauf; 
und  ihr  eigentliches  Emporkommen  danken  sie  erst  dem  Reichstag 
zu  .Toro  im  Anfang  des  18^.  Von  dieser  Zeit  an  aber  entstand 
die  Sucht  der  Nation,  sie  unter  allen  Umständen,  bei  grossem 
oder  kleinem  Vermögen,  bei  beerbtem  oder  unbeerbtem  Hinsterben, 
im  Bürger-  oder  Adelstande  zn  errichten,  die  man  mit  Recht 
eine  wahre  Wuth  nennen  kann,  und  die  nun  auch  in  der  Gesetz- 
gebung weder  Zügel  noch  Gränze  mehr  fand.  Dieser  Reichstag 
war  überhaupt,  wie  alle  gestehen,  die  mehr  Politiker  als  Rechts- 
gelehrte sind,  der  Spanischen  Gesetzgebung  äusserst  verderblich. 
Er  wurde  1505.  in  Toro,  einer  Stadt  des  Königreichs  Leon  am 
Duero,  gehalten,  und  war  eigentlich  bestimmt,  nach  dem  Tode 
Isabellas,  ihre  Tochter  die  Königin  Johanna  zur  Königin  und 
Ferdinand  den  Katholischen  zum  Regenten  zu  erklären.  Diese 
Johanna,  die  unglückliche  Mutter  Carls  5.,  wurde  nachher  wahn- 
sinnig und  ich  sähe  noch  im  Ober-Theil  der  Alhambra  (des  ehe- 
maligen Maurenpallasts)  in  Granada  die  Zimmer  und  mit  Drath- 
gittern  verschlossnen  Gallerien,  in  denen  man  sie  in  ihren  letzten 
Lebensjahren  bewachte.  Man  benutzte  aber  diese  Versammlung 
der  Stände  ^)  zugleich,  um  eine  Sammlung  von  Gesetzen  zu  publi- 

*)  esta^)  sima  inondable,  donde  la  propriedad  territorial  va  cayendoy  sepul- 
tandose  de  dia  en  dia.  Seia  Informe  en  el  Expediente  de  ley  agraria,  p.  65.  nt. 
Ebendaselbst  findet  man  wohl  den  beredtesten  Angriff  auf  diese  verderbliche  Einrichtung, 
in  der  er  nur  noch  zu  sehr  dem  Adel  das  Wort  redet.  Die  gesetzlichen  Vorschriften  über 
die  Mayorate  sind  sehr  gut  und  kurz  in  den  Instituciones  del  derecho  civil  de  Castilla 
zusammengestellt,  welche  D.  Ignacio  Jordan  de  Asso  y  del  Rio  und  D.  Miguel  de 
Manuel  y  Rodriguez   1792.  in  Madrid  in  4.  herausgegeben  haben,    p.   135 — 148. 

^)  „diese  —  Stände"  verbessert  aus  „diesen  Reichstag". 

2)  „esta"  verbessert  aus  ,,uQa''. 

W.  V.  Humboldt,  Werke.    Xm.  7 


98 


Die  Vasken. 


ciren ,  welche  Ferdinand  und  Isabella  schon  früher  hatten  aus- 
arbeiten lassen,  und  die  unter  dem  Namen  der  Gesetze  von  Toro 
bekannt  sind.  Seit  dem  Emporkommen  des  Römischen  Rechts, 
hatten  die  Lehrer  desselben  die  Spanischen ')  Gerichtshöfe  mit 
einer  Menge,  der  Verfassung  und  den  Verhältnissen  des  Landes 
entgegenlaufender  Meinungen  überschwemmt.  Die  Gesetze  von 
Toro  sollten  der  daraus  entstehenden  Ungewissheit  abhelfen. 
Allein  statt  das  alte  vaterländische  Recht  zurückzuführen,  heiligten 
sie  vielmehr  jene  neu  eingedrungenen  Meynungen,  und  da  sie  in 
der  Rangordnung  der  Spanischen  Gesetze  nunmehr  den  ersten 
Platz  erhielten,*)  mussten  die  weisen,  durchaus  auf  einheimischem 
Boden  entstandenen  Gesetze  Alfons  des  Weisen**)  bis  auf  die 
letzte  Stelle  zurückweichen.  Durch  die  Gesetze  von  Toro  nun 
erhielten  auch  die  Mayorate  erst  ihre  eigentliche  Gestalt.  Sie 
schaden  dem  Ackerbau  von  mehr  als  einer  Seite.  Sie  verschliessen 
gänzlich  den  Weg  zu  der  Erbverpachtung,  als  der  Veräusserung 
eines  Theils  des  Eigenthums,  die  in  vielen  Provinzen  würde  mit 
Nutzen  eingeführt  werden  können;  sie  machen,  dass  selbst  das 
Recht  des  Zeitpächters  immer  mit  dem  Tode  des  jedesmaligen 
Mayoratsbesitzers  aufhört,  und  bringen  daher  eine  Ungewissheit 
in  die  Dauer  der  Pachtungen,  welche  auf  Verbesserungen  der 
Güter  zu  denken  verbietet;  ja  sie  schrecken  sogar  den  wahren 
Eigenthümer  selbst  davon  ab,  weil  es  weder  ihm,  noch  seinen 
Erben  erlaubt  ist,  für  dieselben,  wenn  das  Mayorat  in  andere 
Hände  kommt,  Ersatz  zu  fordern,  obgleich  die  Ausdehnung, 
die  man  dieser  Bestimmung  gegeben  hat,  mehr  ein  Werk  der 
Rechtsgelehrten  ist,  als  sie  durch  das  Gesetz  selbst  begründet 
wird.     Allein    den    grossesten    Schaden    bewirken    sie   durch    die 


*)  Sacra  Themidis  Hispaniae.  p.  46. 
**)  La  ley  de  las  siete  partidas  von  den  7  Abschnitten,  in  welche  dies  Gesetzbuch 
abgetheilt  ist.  Dies  merkwürdige  Werk  ist  wohl  das  vollständigste  und  methodischste 
Gesetzbuch,  dessen  sich  irgend  eine  neuere  Nation  in  so  frühen  Zeiten  in  ihrer  Mutter- 
sprache zu  rühmen  hat.  Es  enthält  zugleich  moralisch-philosophische  Stücke  z.  B.  eins 
über  die  Pflichten  der  Könige,  und  ist  in  einer  so  edeln,  fliessenden  und  reinen 
Schreibart  abgefasst,  dass  es  noch  jetzt  eine  Hauptquelle  bei  dem  Studium  der  älteren 
Spanischen  Sprache  bleibt.  Es  wurde  schon  unter  Ferdinand  dem  Heiligen  angefangen, 
aber  von  Alfons  lo.  1258.  beendigt,  und  erhielt  erst  unter  Alfons  II.  eigentliche 
Gesetzeskraft.  Es  enthält  allerdings  schon  viele  Spuren  des  Römischen  Rechts,  aber 
hauptsächlich  liegen  ihm  die  alten  Gesetze  des  Königreichs  und  die  Gewohnheitsrechte 
der  Nation  zum  Grunde. 

^)  „Spanischen"  verbessert  aus  „vaterländischen^'. 


Vitoria. 


99 


Schwierigkeiten,  welche  sie  den  Veräusserungen  von  Grundstücken 
entgegensetzen,  wodurch  sie  es  so  gut,  als  unmöglich  machen, 
den  Umfang  und  die  Grenzen  derselben,  nach  den  wechselnden 
Verhältnissen  der  Provinzen,  Zeiten  und  Besitzer,  zu  verändern. 
Die  unmittelbare  Folge  davon  ist  die,  dass  Spanien  unglaublich 
weniger  Grundeigenthümer  hat,  als  ein  andres  Land  von  gleichem 
Umfang  und  verhältnissmässiger  Bevölkerung;  dass  die  grossen 
Landbesitzer  meistentheils,  weil  sie  weder  ihre  ungeheuren  Herr- 
schaften gut  verwalten,  noch  sich  durch  stückweise  Veräusserung 
helfen  können,  mit  grossen  Schulden  belastet  sind;  die  grossen 
Geldbesitzer  dagegen  nur  noch  im  Handel  ein  Mittel  finden,  ihr 
Vermögen  geltend  zu  machen;  dass  das  Grundeigenthum  sich 
viel  zu  sehr  in  den  Händen  der  Grossen  und  Vornehmen  (um 
nicht  einmal  von  Kirchen,  Capiteln  und  Klöstern  zu  reden)  und 
viel  zu  wenig  in  denen  der  Mittelclasse  befindet,  die  weit  mehr 
Fähigkeit  und  Neigung  besitzen  würde,  es  zu  benutzen ;  und  dass 
folghch  dadurch  dem  Ackerbau  die  beträchtlichsten  Capitalien  und 
die  betriebsamsten  Köpfe,  der  Nation  aber  der  Wohlstand  und 
die  Genugthuung  entzogen  werden,  welche  aus  der  eigenen  Be- 
wirthschaftung  und  Verbesserung  ansehnlicher  aber  übersehbarer 
Landbesitzungen  entsteht.  In  keinem  andern  Lande  Hegt  soviel 
baares  Geld  müssig  und  ausser  dem  nothwendigen  Umlauf,  als 
in  Spanien.  Nicht  bloss  Bewohner  von  Landstädten,  vorzüglich 
Viehhändler,  halten  unverhältnissmässig  grosse  Summen  in  ihren 
Kisten  verschlossen,  sondern  es  Hessen  sich  ähnliche  Beispiele 
von  Männern  anführen,  welche  sich  der  Handlung  widmeten,  und 
zu  den  speculativsten  Köpfen  ihrer  Nation  in  dieser  Rücksicht 
gehörten.  In  neuern  Zeiten  hat  man  zwar  dem  unmässigen 
Stiften  von  Mayoraten  Einhalt  zu  thun  gesucht.  Im  Jahr  1789. 
hat  man  denen  durch  Begünstigung  eines  Sohns  (por  via  de  mejora) 
Gränzen  gesetzt.  Noch  neuerlicher  —  und  dies  ist  wohl  die 
einzige  heilsame  Wirkung,  welche  die  oft  erwähnte  Schrift  des 
Ex-Ministers  Jovellanos  hervorgebracht  hat  —  ist  die  Errichtung 
aller  Mayorate  mit  einer  Abgabe,  wenn  ich  mich  nicht  irre,  von 
15.  p.  c.  belastet  worden,  und  der  König  hat  angefangen,  den 
Granden  zu   erlauben,  einzelne   Stücke*)   der  schon  bestehenden 


*)  Solche  dem  Mayoratsrecbt  unterworfenen  Stücke  heissen  jincas  vinculadas. 
Finca,  ein  Grundstück  auf  das  sich  Zinsen  versichern  lassen,  kommt  von  fincar,  im 
jetzigen  Spanisch  hincar,   uud  hiess    ursprünglich  soviel    als   bleiben.     Daher   wohnen. 

7* 


jQO  Die  Vasken. 

zur  Tilgung  ihrer  Schulden  zu  verkaufen.  Allein  dies  sind  immer 
nur  partielle  Masregeln,  und  auch  die  Erhaltung  dieser  könig- 
lichen Erlaubniss,  wegen  der  man  sich  an  den  hohen  Rath  von 
Castilien  wenden  muss,  führt  grosse  Weitläuftigkeiten  mit  sich. 
In  Alava  ist  nun  zwar  nicht  der  Fall,  dass  die  Besitzungen,  wie 
in  Andalusien  und  andern  Provinzen  des  Reichs,  zu  gross  wären. 
Sie  sind  vielmehr  im  Gegentheil  zu  klein  und  zu  sehr  zerstreut. 
Auf  vielen  ist  es  nicht  möglich,  eigene  Vorwerke  anzulegen, 
oder  auch  nur  ein  eignes  Haus  darauf  zu  bauen,  und  sie  können 
alsdann  von  entfernten  Dörfern  aus  nur  unvollkommen  bestellt 
werden.  Es  wäre  daher  zur  Aufnahme  des  Ackerbaues  unum- 
gänglich nothwendig,  dass  man,  ohne  Recurs  an  den  Rath  von 
Castilien,  völlige  Freiheit  hätte,  diese  Ländereien  zu  vertauschen 
oder  zu  veräussern,  damit  alle  Besitzer  sich  gehörig  arrondiren 
und  ihre  Grundstücke  von  dem  Mittelpunkt  derselben  aus  be- 
wirthschaften  könnten. 

Kämen  die  Gesetze  der  Provinz  auf  diese  Weise  zu  Hülfe 
sich  von  ihren  Nachbarn  her  eine,  ihrem  Umfang  angemessene 
Bevölkerung  zu  verschaffen,  und  ihr  Grundeigenthum  bequemer 
und  gleichmässiger  zu  vertheilen,  so  bliebe  ihr  zu  ihrem  Wohl- 
stande nichts  weiter  zu  wünschen  übrig,  als  dass  der  König  von 
Spanien  überhaupt  Bisca3'^a  weniger  als  ein  seiner  Krone  fremdes 
Land  ansähe.  Denn  in  der  That  ist  es  auffallend,  dass  Biscayische 
Fabricate  so  gut  Abgaben  zahlen,  wann  sie  nach  Castilien,  als 
wann  sie  ins  Ausland  gehen,  und  dass  man  von  Castilien  nach 
Alava,  ebensowenig  als  von  Catalonien  nach  Frankreich,  ohne 
besondre  Erlaubniss,  welche  man  guia  zu  nennen  pflegt,  mehr  als 
2000  reales  de  vellon  (123.  Thaler  18.  Groschen,  den  Friedrichsd'or 
zu  5  Thaler  gerechnet)  einbringen  kann.  Wer  daher  in  Alava 
wohnt,  und  zugleich,  wie  so  häufig  der  Fall  ist,  Güter  in  Castilien 
besitzt,  muss  entweder  5.  p.  c.  seiner  Einkünfte,  wenn  er  sie  baar 
einbringt,  verlieren,  oder  sie  heimlich  ^)  ins  Land  schaffen,  oder 
sich  durch  Wechsel  helfen,  was  aber  hier  nicht  immer  gleich 
leicht  und  wohlfeil  ist. 


So  in  der  mittleren  Latinität:  finchare.  S.  Du  Fresne  h.  v.  und  in  dem  alten  Spanischen 

Heldengedicht  auf  den  Cid :  ßncanza,  Aufenthalt. Qiie  sopiesen   qiie  mio  Cid 

alli  avie  fincanza.  Sanchez  Coleccion  de  Poesias  Castellanas  anteriores  al  siglo 
XV.  T.  I.  p.  251.  V.  571.  Hiervon  endlich  Grundstück.  —  Vielleicht  kommt  das 
Wort  von  finire  her. 

M  „heimlich'^  verbessert  aus  „Contrebande". 


Vitoria,  10 1 

Es  fehlt  nicht  in  Alava  und  namentlich  in  Mtoria  an  ein- 
sichtsvollen und  patriotisch  gesinnten  Männern,  welche,  nachdem 
sie  an  der  Spitze  der  Geschäfte  gestanden  haben,  die  Bedürfnisse 
ihrer  Provinz  genau  genug  kennen,  um  mit  dem  thätigsten  Eifer 
an  Verbesserungen  in  den  gedachten  Punkten  zu  arbeiten,  und 
sie  würden  sich  noch  weniger  von  der  Betriebsamkeit  und  dem 
Fleiss  ihrer  Mitbürger  bei  Benutzung  dieser  \^ortheile,  wenn  sie 
einmal  erhalten  wären,  verlassen  sehen.  Es  kommt  daher  nur 
darauf  an,  dass  ein  einsichtsvoller  und  aufgeklärter  Minister  zu 
diesen  Entwürfen  die  Hand  biete,  und  sie  bei  Hofe  unterstütze. 
Für  das  wahre  Interesse  ^}  der  Krone  könnte  ihre  Ausführung 
nie  anders  als  wohlthätig  wirken.  Denn  der  wohlverstandne  Vor- 
theil  des  übrigen  Spaniens  ^)  kann  mit  dem  Vortheil  der  Bis- 
cayischen  Provinzen,  der  \^orrechte  und  Freiheiten  derselben  un- 
geachtet, niemals  im  Widerspruch  stehen. 

Das  Staatsrecht  von  Alava  gründet  sich  auf  die  Urkunde  der 
freiwilligen  Uebergabe  (la  voliintaria  entrega)  durch  welche  sich 
die  Provinz  1332.  dem  König  Alphons  11.  von  Castilien  auf  ewige 
Zeiten  unterwarf.  Bis  zu  dieser  Zeit  war  sie  frei,  und  wählte 
sich  ihre  Anführer  aus  eignem  unabhängigen  Souverainitätsrecht ; 
von  derselben  an  bis  auf  den  heutigen  Tag  beruht  ihr  ^"erhältniss 
zu  Castilien  auf  einem  bestimmten,  geschriebenen,  von  allen 
Königen  Spaniens  bestätigten  Vertrag. 

Der  Name  Alava  kommt  in  Schriftstellern  zuerst  im  8.  Jahr- 
hundert bei  dem  Bischof  von  Salamanca,  Sebastian*)  vor.  Um 
diese  Zeit,  gleich  nach  dem  Einfall  der  Mauren,  ging,  ohne  dass 
sich  die  Ursachen  davon  angeben  lassen,  eine  gänzliche  Ver- 
änderung in  den  Ländernamen  dieser  Ecke  Spaniens  vor.  Bis 
dahin  hatten  die  Cantabrer  (unter  denen  die  kleineren  Völker- 
schaften der  Antrigoner,  Carister  u.  s.  f.  begriffen  wurden)  und 
Varduler  die  Küste  bis  an  die  Gränzen  Aquitaniens  besessen.**) 
Nunmehr  erscheinen  auf  einmal  Vizcaya,  Alava,  und  Ipuzcua  fast 
durchaus   in   ihren   heutigen  Gränzen;  Vardulien   oder  Bardulien 

*)  Er  lebte  im  9.  Jahrhundert,  umfasste  aber  in  seiner  Chronik  die  Geschichte 
Alphonsus  I.  von  Leon  vom  Jahr  738.  bis  757.  Nach  Astarloa  [Apol.  229.)  bedeutet  er 
weite  Ebne. 

**)  So  Pomponius  Mela:  tractinn  Cantabri  et  Vardiüi  tenent,  und  Idacius,  da  er 
beim  Jahr  456.  von  den  Herulern  sagt:  qui  ad  sedes proprias  redeuntes  Cantabriaruvi 
et  Varduliarum  loca  maritima  crudelissime  depraedati  sunt. 

^)  „Für  —  Interesse"  verbessert  aus  „Dem  wahren   Vortheil". 

^)  „des  übrigen  Spaniens"  verbessert  aus  „Casti[liens]". 


J02  ^i^  Vasken. 

tritt  an  die  mittäglichen  Ufer  des  Ebro  nach  dem  heutigen  Alt- 
Castilien,  und  ein  wenig  an.  die  mitternächthchen,  über  den  Be- 
ronen,  zurück,  und  der  Name  Cantabriens  verschwindet  an  der 
Küste  und  erhält  sich  nur  noch  in  dem  kleinen  District  der  alten 
Beroner,  im  heutigen  Rioja,  von  wo  sich  die  Könige  von  Navarra 
Könige  von  Cantabrien  nannten ,  und  wo  sich  noch  bis  jetzt, 
Logrono  gegenüber,  an  der  andern  Seite  des  Flusses  das  Can- 
tabrische  Gebirge  [cerro  de  Cmitahria)  erhalten  hat.*) 

Obgleich  Alava  durch  seine  Ebnen  am  meisten  unter  allen 
Biscayischen  Provinzen  feindlichen  Einfällen  ausgesetzt  ist,  so  er- 
hielt es  sich  dennoch  frei  von  der  Maurischen  Herrschaft.  Sich 
damals  weiter,  als  jetzt,  gegen  Mittag  ausdehnend,  schützte  es 
seine  Grenzen  gegen  diesen  neuen  furchtbaren  Feind  durch  drei 
kleine  Castelle,  von  denen  man  noch  jetzt  auf  der  Strasse  nach 
Madrid  eines,  Pancorbo  (eigentlich  Poncorvo,  Pontecurbum, 
krumme  Brücke)  am  Ende  eines  langen  sehr  schmalen  Defiles 
sieht.  Jeder,  der  diesen  Weg  gemacht  hat,  erinnert  sich  gewiss 
der  schroffen,  kahlen,  abentheuerlich  gestalteten  Felsen,  deren  gro- 
teske Figuren  man  in  der  Ebne  dicht  hinter  Miranda  del  Ebro 
im  Auge  hat;  an  der  jetzt  so  unbedeutenden  Schutzwehr  dieses 
Castells  **)  scheiterte  die  Maurische  Macht  zweimal,  882.  und  883., 
das  erstemal  nach  einem  dreitägigen  Gefecht.***)  Nur  ein  einziger 
Streifzug  in  Alava  zwanzig  Jahre  früher,  861.  scheint  ihnen  besser 
gelungen  zu  seyn.f) 

*)  Vgl.  hierüber  des  P.  Manuel  Risco  Castilla  y  el  mas  famoso  Castellano. 
Madrid,  bei  Blas  Roman.  1792.  4.  p.  2 — 4.  —  Dies  Werk  enthält  eine  ausführliche 
Abhandlung  über  den  Namen,  die  Lage  und  Geschichte  Castiliens,  und  den  Abdruck 
einer  Chronik  des  bekannten  Cid,  welche  Risco  unter  den  Handschriften  des  Klosters 
S.  Isidro  in  Leon  fand,  und  welche  die  Geschichte  des  tapfern  Rodrigo  Diaz,  auf  eine, 
wie  es  scheint,  völlig  authentische  Weise,  und  frei  von  allen  abentheuerlichen  und  fabel- 
haften Erzählungen  giebt,  mit  welchen  die  älteren  Chroniken,  das  Heldengedicht  auf  den 
Cid  in  Sanchez  Coleccion  depoesias  anteriores  al  siglo  15.  und  der  Romancero  del  Cid 
frecopilado  por  Juan  de  Escobar.  Cadiz.  1702.)  das  Leben  des  Helden  so  reichlich 
ausgeschmückt  hatten.  Schon  in  dieser  Hinsicht  verdiente  dies  Werk  wenigstens  auszugs- 
weise ')  übersetzt  zu  werden. 

**)  Im    letzten  Kriege  mit  Frankreich  erbauten  die  Spanier  in  eben    diesen  Bergen 
ein  neues  Castell  gegen  die  Franzosen. 

***)  Landazuri.  II,  21.   Risco's  Fortsetzung  der  Espafia  sagrada.     XXXIll,  224. 
t)  D.   Juan  Francisco    de  Masdeu   hist.   critica  de  Espaüa  y  de  la  cidtitra  Es- 
panola.  XII,   147.  —  Ein  überaus  weitläuftiges  Werk,  in  dem  man  aber  noch  sehr  vieles, 
besonders  gesunde  Kritik  und  vorurtheilfreie  philosophische  Geschichtsansicht  vermisst. 
')  I^ach  „auszugsweise"  gestrichen:  „in  unsre  Sprache". 


Vitoria.  103 

Durchaus  falsch  ^)  ist  es  daher,  wenn  einige  den  Xamen  Alava 
aus  dem  Arabischen  herleiten  wollen.  P>  ist  vielmehr  rein  Vaskisch, 
und  Herr  Astarloa  leitet  ihn,  da  die  Einheimischen  der  Provinz 
ihn  Araba  aussprechen,  von  ara,  aria,  Fläche,  ab  so  dass  er  ein 
ausgedehntes  grosses  Thal  anzeigt.  Die  in  den  alten  Schriftstellern 
vorkommende  Stadt  Alaba  oder  Alba*)  führt  demnach  gleichfalls 
einen  rein  Vaskischen  Namen.^)  Es  ging  nemlich  ehemals  ein 
Theil  der  Römischen  Strasse  von  Astorga  (Asturica)  nach  Bor- 
deaux durch  diese  Provinz.  Daher  "lassen  sich  noch  jetzt  eine 
Menge  von  Inschriften  und  Meilensteinen^;)  auffinden,  und  die 
Kirche  von  S.  Roman  (einem  Dorfe  in  der  Hermandad  de  S.  Millan, 
nicht  weit  von  Salvatierra)  besteht,  um  nur  dies  eine  Beispiel  an- 
zuführen, grossentheils  aus  Inschriftssteinen,  von  denen  jedoch  die 
meisten  nicht  mehr  zu  entziffern  sind.  Wo  diese  Strasse  an  der 
Morgenseite  in  Alava  eintritt,  ist  sie  durch  eine  Inschrift  Kaiser 
Aulus**)  Constantius  Chlorus,  wo  sie  dieselbe  an  der  Abendseite 
wieder  verlässt,  durch  eine  andre  Constantins  bezeichnet,  und  auch 
in  der  Mitte  ihres  Laufs  lassen  sich  viele  Spuren  derselben  auf- 
finden. D.  Lorenzo  Prestamero  hat  dieselben  mit  dem  mühsamsten 
Fleisse  auf  mehreren  deshalb  angestellten  Reisen  so  vollständig 
als  möghch  aufgesucht,  und  danach  die  Richtung  der  ganzen 
Strasse  bestimmt.  Von  Briviesca  über  Pancor^'o  herkommend  tritt 
sie  bei  Puentelarra  in  die  Provinz  ein,  nähert  sich  bei  Arce  dem 
Fluss  Zadorra,  steigt  dann  fast  ganz  in  der  Richtung  des  heutigen 
Weges  von  Vitoria  nach  Miranda  gegen  die  erstere  Stadt  auf, 
schlägt  sich  aber,  ehe  sie  dieselbe  erreicht,  abendlich  gegen  Salva- 
tierra,  und  läuft  durch  das  Thal  Araquil  in  Navarra  auf  Pampe- 
lona  zu.  Alba,  das  eine  Station  {maiisio]  derselben  war,  muss, 
diesen  Untersuchungen  zufolge,  nahe  bei  Salvatierra  gelegen 
haben.***)*) 

*)  Plinius.   III,   4.   [Ei.   Hard.   I,    143,   8.)  Ptolem.  II,  6.  p.  46.  hin.  Anton.  (?) 
**)  Ueber  den  Vornamen  Aulus  s.  Gruter.  p.   119.  (:J 
***)  Mannert,    Geogr.    d.    Gr.    u.  Rom.    I,  354.  hält  es,  wie  es  jetzt  scheint,  fälsch- 


^)  „Durchaus  falsch"  verbessert  aus  „  Ueberaus  irrig''. 

^)  Diese  beiden  Sätze  Messen  ursprünglich:  „Weniger  unwahrscheinlich  ist 
die  Meyniing  derer,  welche  den  Ursprung  desselben  auf  die,  in  den  alten  Schriß- 
stellern  vorkommende  Stadt  Alaba  oder  Alba  zurückführen.^' 

*)  Nach  „Meilensteinen"  gestrichen :  „vorzüglich  /n  der". 

*)  Nach  „haben"  gestrichen:  „Immer  bleibt  es  nun  aber  zweifelhaß,  ob  der 
Name  Alba  Vaskischen  oder  Römischen  Ursprungs  war;  doch  ist  das  erstere 
wahrscheinlicher,  da  man  ihn  auch  Alaba  geschrieben   findet.    Dass  Alaba  ein 


104  ^'e  Vasken. 

In  der  Richtung  dieser  Strasse,  nahe  bei  Comunion  am  Ebro 
fand  man  auch  vor  wenigen  Jahren  beim  Nachgraben  auf  einem 
Ackerstück  Ueberreste  eines  Römischen  Hauses,  mit  mehreren 
zierlich  und  geschmackvoll  gearbeiteten  Fussböden  von  Mosaik. 
Auf  zwei  derselben  waren  Figuren,  auf  dem  einen  die  vier  Jahrs- 
zeiten in  der  Gestalt  weiblicher  Figuren  mit  ihren  Attributen,  auf 
dem  andern  Diana,  wie  sie,  ihren  Bogen  in  der  Linken,  mit  der 
Rechten  einen  Pfeil  aus  ihrem  Köcher  nimmt,  und  eine  Hindin 
ihr  folgt.  D.  Lorenzo  Prestamero  liess  beide  abzeichnen  und 
schickte  die  Zeichnungen  der  Academie  der  Geschichte  in 
Madrid. 

Alava  wurde  in  den  ältesten  Zeiten,  vor  seiner  Vereinigung 
mit  Castilien,  zwar  von  Grafen  beherrscht.  Der  erste,  dessen  die 
Geschichte  Erwähnung  thut,  ist  Eylon  um  das  Jahr  866.  der  sich 
gegen  Alphonsus  3.  von  Leon  auflehnte  und  von  diesem  besiegt 
und  gefangen  genommen  wurde.  Auch  war  es  von  947.  an  bis 
1200.  wo  sich  alle  Biscayischen  Provinzen  zu  Castilien  schlugen, 
nur  mit  wenigen  Unterbrechungen  mit  dem  Königreich  Navarra 
vereint.  Nichts  destoweniger  aber  erhielt  es  sich,  auch  während 
dieser  Zeit,  fortdauernd  in  einem  Zustand  unabhängiger  Freiheit, 


lieh  1)  für  Estella  in  Navarra.  —  Für  diejenigen,  welche  sich  für  die  alte  Geographie 
interessiren,  setze  ich  die  mansionen  der  alten  Strasse  nach  dem  Itinerarium,  und 
die  heutigen  Orte,  in  deren  Richtung  Herr  Prestamero  ihre  Spuren  fand,  zur  Verglei- 
chung  her.  Die  alten  Mansionen  waren:  Vindeleia  (in  der  Nähe  des  heutigen  Sta 
Maria  de  Rivarredonda),  Deobriga,  Veleia,  Suissatium,  TuUonium,  Alba,  Araceli,  Alan- 
tona,  Pompelo.  Die  heutigen  Orte  sind:  Puentelarra,  Comunion,  Bayas,  Arce,  Esta- 
villo,  Burgueta,  Puebla  de  Arganzou,  Yruiia,  Margarita,  Lermanda,  Zuazo,  Armentia, 
Arcaya,  Ariarza,  Argandofia,  Gazeta,  Alegria,  Gaceo,  Salvatierra,  S.  Roman,  Ylarduya 
und  Eginoa. 


acht  Vaskisches  Wort  ist,  kann  nicht  bestritten  werden;  nur  muss  man  sich  nicht 
auf  die  Erklärung  der  Bedeutung  einlassen,  sonst  verfällt  man,  wie  Larramendi"^) 
und  andre  in  Lächerlichkeiten,  man  mag  nun  an  das  eine  oder  andre  der  beiden 
hieher  gehörigen  Vaskischen  Wörter,  an  Alaba,  die  Tochter,  oder  Araua,  die  Regel, 
die  Uebereinstimmung,  denken.  Genug  dass  der  Name  des  Ländchens  einhei- 
misch ist,  schon  zu  den  Zeiten  der  Römer  einer  Stadt,  und  seit  dem  8.  Jahrhimdert, 
wo  auf  einmal  alt-einheiynische  Namen  neu  hervorkamen,  der  Provinz  angehörte." 

^)  „wie  —  fälschlich"  verbessert  aus  „offenbar  mit  weniger  Grund". 

^)  Hier  ist  folgende  Anmerkung  gestrichen:  „Diccion.  tril.  /.  p.  LXXIIL 
Dass  man,  wie  er  an  dieser  Stelle  behauptet,  im  Vaskischen  die  Provinz  Araua 
nenne,  muss  wenigstens  nicht  allgemein  seyn.  In  Axular's  gueroco  guero  p.  /y. 
finde  ich  Alaba— herrian,  im  Lande  von  Alaba,  und  so  hörte  ich  auch  selbst  immer  sagen." 


Vitoria.  IO5 

und  übte  die  Rechte  seiner  Souverainität  durch  eine  eigne  ^"olks- 
versammlung  aus.  Alljähriich  kamen  nemhch  der  Adel,  die  Ackers- 
leute {los  fijos-dalgo  y  labradores  de  Alava)  und  die  Geistlichen 
der  Provinz,  zu  denen  auch  der  Bischof  von  Calahorra  gerechnet 
wurde,  in  dem  Felde  von  Arriaga  (Steinplatz)  unfern  von  Mtoria 
zusammen,  und  diese  Versammlung  hatte,  wie  man  aus  mehreren 
Urkunden  sieht,  unter  dem  Namen  der  Brüderschaft  des  Feldes 
von  Arriaga  {la  cofradia  del  campo  de  Arriaga)  alle  Majestätsrechte 
in  ihren  Händen,  schloss  gültige  Verträge,  veräusserte  Flecken 
und  Ländereien,  und  übertrug  zuletzt,  indem  sie  sich  selbst  feier- 
lich auflöste,  1332.  die  Oberherrschaft  dem  Könige  von  Castilien. 
Die  Zeit,  in  welcher  diese  Brüderschaft  ihren  Anfang  nahm,  lässt 
sich  nicht  mit  Gewissheit  bestimmen;  einige  Schriftsteller  beziehen 
sich  zwar  auf  eine  Urkunde  vom  Jahr  looo.  deren  Unächtheit 
aber  erwiesen  ist.  Ueber  den  Ort  ihrer  Zusammenkunft  streitet 
man;  einige  geben  dafür  ein  Feld  bei  Arriaga  an,  das  man  el 
campo  de  la  Aqua  nennt,  weil  der  Versammlungsplatz  in  jener 
unächten  Urkunde  Ocoa  genannt  wird;  andre  ein  anderes,  nicht 
weit  davon.  Beide  sind  jetzt  kahl ;  ^)  vermuthlich  aber  waren  sie 
ehemals  mit  Bäumen  bewachsen.  Denn  es  scheint  die  Gewohn- 
heit der  ^'askischen  Völkerschaften  gewesen  zu  seyn ,  sich  in 
Eichengehölzen  und  unter  Bäumen  zu  versammeln.  Eine  noch 
ungedruckte  Vaskische  Urkunde,  von  der  ich  nachher  weitläuftiger 
reden  werde,  die  zwar  an  sich  schwerlich  acht  seyn  dürfte,  aber 
doch  in  Rücksicht  der  darin  vorkommenden  Gebräuche  ein  gül- 
tiges Zeugniss  ablegen  kann,  fängt  gleich  damit  an:  in  dem  Eichen- 
wald vor  der  Kirche*)  u.  s.  f.  und  in  der  Versammlung  des 
eigentlichen  Vizcayas  unter  dem  Baum  von  Guernica  hat  sich 
diese  Sitte  noch  bis  auf  den  heutigen  Tag  erhalten.  Merkwürdig 
ist  es,  dass  auch  die  Frauen  von  der  Brüderschaft  von  Arriaga 
nicht  ausgeschlossen  waren;  doch  gehörten  vermuthlich  nur  die- 
jenigen dazu,  welche  unverheirathet ,  oder  als  Wittwen  eigene 
Ländereien  besassen.  Dagegen  machten  die  Städte  keinen  Theil 
der  freien  A^erfassung  Alavas  aus.  Durch  Privilegien  der  Könige 
gegründet,  erhielten  sie  Gouverneurs  von  denselben,  und  so  blieben 


*)  En  la  robledad  que  estä  cet.  Vaskisch :  Andramendico  jauregin  aurecco 
arestian  Eleaiaun  aiirrian  cet.  Vor  dem  Andramendischen  Herrscherhause,  im  Eichen- 
wald vor  der  Kirche  cet. 

')  Nach  „kahl"  gestrichen:    „und  ohne  Bäume.    Immer  aber". 


jo5  Di^  Vasken, 

vor  und  nach  1200.  z.  B.  Vitoria  und  Trevino  immer  abgesondert.*) 
In  den  jährlichen  Versammlungen  ernannte  ^)  die  Cofradia  die  4 
Alcalden  welche  das  Jahr  hindurch  die  Richter  des  Landes  waren, 
und  von  denen  der  eine  den  Namen  eines  Oberrichters,  justicia 
mayor,  führte.  In  ausserordentlichen  wählten  sie  vorzüglich  ihre 
Grafen  oder  Kriegsoberhäupter,  und  verfuhren  dabei  mit  voll- 
kommener Freiheit.  Denn,  nach  dem  Ausdruck  der  Chronik 
Alphonsus  II.,**)  war  Alava  „immer  eine  abgesonderte  Herrschaft, 
und  diese  so,  wie  sie  der  Adel  und  die  einheimischen  Ackersleute 
des  Landes  Alava  sich  nehmen  wollten;  manchmal  aber  nahmen 
sie  einen  der  Söhne  der  Könige,  manchmal  den  Herrn  von  Viz- 
caya,  manchmal  den  von  Lara,  manchmal  den  de  los  Cameros  (?)." 
Bisweilen  führten  diese  Grafen  den  Titel  der  Merinos  mayores***) 
Konnte  die  Cofradia  eine  Angelegenheit  nicht  schnell  ganz  be- 
endigen, so  übertrug  sie  dieselbe  einem  Ausschuss  und  dieser 
unterhandelte  dann,  wie  es  in  mehreren  Urkunden  heisst,  {con 
consejo  y  otor^amiento)  auf  Rath  und  Uebertragung  der  Brüder- 
schaft. 


*)  Landazuri.   I,  2o8.  209. 

**)  Cronica  de  D.  Alfonso  el  Onceno.  2.  ed.  por  D.  Fi-anciso  Cerda  y  Rico. 
Parte  l.  Madrid,  bei  Sancha.  1787.  4.  Kap.  loo.  S.  177.  Sie  gehört  zu  der,  in  diesem 
Verlage  herausgekommenen,  mit  grossem  Aufwand  gedruckten  Sammlung  Spanischer 
Chroniken. 

***)  Merino  (gleichsam  Mayorino)  will,  nach  der  Erklärung,  welche  das  Ge- 
setz de  la  Partida  davon  [Part.  2.  tit.  9.  /.  23.?)  giebt,  soviel  sagen,  als  ein  Mann, 
welcher  das  Vorrecht  hat  [ha  mayoria)  in  einer  Stadt  oder  einem  Lande  Recht  zu 
sprechen.  Von  Merino  konxmt  Merindad  her,  ein  Name,  den  mehrere  Districte  in 
Spanien  führen,  wie  z.  B.  la  ?nerindad  de  Durango  u.  s.  w.  Die  Einsetzung  der 
Merinos  niayores  wird  Ferdinand  3.  dem  Heiligen  (regierte  von  1217^ — 1252.)  zu- 
geschrieben. —  Es  ist  bekannt,  dass  auch  die  Spanischen  Wanderschafe,  vi  er  in  0$  ge- 
nannt werden.  Vielleicht  ist  ihnen  dieser  Name  als  solchen,  die  gesetzlicher  Vorrechte 
geniessen,  oder  unter  einem  Alcalde  mayore  stehen,  gegeben  worden.  Wenigstens 
ist  dies  wahrscheinlicher  als  die  Meynung '^)  des  P.  Sarmiento,  der  merino  aus  marino 
entstanden  glaubt,  und  dabei  an  die  Transporte  von  Schafen  denkt,  welche  man  •'')  in 
alten  Zeiten  aus  England  nach  Spanien  kommen  Hess.  Dass  man  aber  übrigens  wirk- 
lich ehemals  die  Spanische  Race  durch  Englische  Schafe  zu  verbessern  suchte,  ist  ge- 
wiss. Denn  der  Baccalaureus  Fernan  Gomez  de  Cibdareal  erzählt  ausdrücklich  in 
seinem  Briefe  an  Fernand  Alvarez,  Herrn  von  Valdecorneja,  vom  Jahr  1437.  dass  Al- 
phonsus II.  (der  eigentliche  Stifter  der  Königlichen  Heerde,  Cabana  Real)  einen 
Richter    der   Mesta    eingesetzt   habe,    als    man    zum    erstenmal  Schafe   in  Frachtschiffen 


^)  „ernannte"  verbessert  aus  „wählte". 
^)  ,,MeyTiung"  verbessert  aus  „Ableitung". 
*)  Nach  „man"  gestrichen:    „schon". 


Vitoria. 


107 


Bekanntermassen  eroberte  König  Alphonsus  8.  Vitoria  1200. 
von  König  Sancho  von  Navarra,  und  um  eben  diese  Zeit  ver- 
einigte sich  auch  die  Provinz  Alava,  zugleich  mit  Guipuzcoa  und 
Vizcaya,  mit  Castilien.  Es  scheint  daher  wunderbar,  warum  132 
Jahre  nachher  eine  zweite  Uebergabe  erfolgte  ?  Auch  haben  einige 
Schriftsteller  behauptet,  Alava  sey  schon  vom  Jahr  1200.^)  an  als 
eine  unterwürfige,  und  zwar  eroberte  Provinz  von  Castilien  be- 
handelt worden.  Das  Gegentheil  ist  aber  aus  der  Geschichte 
durchaus  klar.  Die  Uebergabe  des  Jahrs  1332.  war  vollkommen 
frei  und  ungezwungen.  Dies  bekennt  Alphonsus  11.  selbst  in 
seiner,  der  Brüderschaft  von  Arriaga  ertheilten,-)  in  dem  Landes- 
archiv noch  in  der  Urschrift  vorhandenen  Urkunde.  „Die  Edel- 
leute,  Geistlichen  und  übrigen,  wer  sie  auch  seyn  mögen,  Yer- 
brüderten  von  Alava,  heisst  es  darin,  haben  uns  das  Land  Alava 
übergeben  [otorgaron)^  dass  wir  die  Herrschaft  darin  haben  sollen, 
und  es  königlich  sey,  und  haben  es  der  Krone  unsrer  Königreiche 
für  uns  und  unsre  Nachkommen  in  Castilien  und  in  Leon  ein- 
verleibt" ;  ^)  eine  Sprache  die  man  unmöglich  von  einer,  schon 
mehr  als  100  Jahre  früher  durch  Eroberung  zugefallenen  Provinz 
verstehen  kann.*)  Dasjenige  Recht,  was  die  Könige  von  Castilien 
also  schon  vorher  und  seit  der  Eroberung  Mtorias  über  Alava 
ausübten,  war  ihnen  freiwillig  von  der  Provinz  eingeräumt  worden, 
und  der  Unterschied  dieser  Einräumung  und  der  letzten  Ueber- 
gabe war  der,  dass  jene  nur  immer  auf  eine  Zeitlang,  diese  für 
immer,  jene  nur  auftragsweise,  diese  mit  völliger  Begebung  des 
eigenen  Rechts  geschah.  Denn  vor  1332.  bestand  die  Cofradie 
noch  immer  neben  den  Königen,  und  wie  geschieden  ihre  Macht 
war,  zeigen  die  unter  ihnen  geschlossenen  Verträge.  Der  König 
besass,  wie  schon  oben  gesagt  ist,  die  Städte  Vitoria,  Trevirio  und 
seit  1256.  auch  das  von  Alphonsus  10.  dem  Weisen  gegründete 
Salvatierra  mit  völliger  Obergewalt  und  Hess  sie  durch  seine  Be- 
fehlshaber regieren.     Rund   herum  war  das  Gebiet   der   Provinz. 

von  England  nach  Spanien  gebracht.  Der  Versuch  scheint  also  in  dieser  Zeit  öfter 
wiederholt  worden  zu  seyn.  Cetiton  epistolario  del  Bachiller  Fernan  Gomez  de  Cib- 
dareal  y  generaciones  y  semblanzas  del  noble  caballero  Fernan  Perez  de  Guzman. 
Madrid.   1790.  bei  Ibarra.  8.  ep.  73.  p.  174. 

')  „schon  — 1200''  verbessert  aus  „von  dieser  Zeit". 

*)  „ertheilten"  verbessert  aus  „ausgejertigten". 

*)  Nach  „einverleibt"  gestrichen:  „er  lässt  sich  übrigens  bestimmte  Bedin- 
gungen bei  der  Ueberlieferung  gefallen". 

*)  „voti  —  kann"  verbessert  aus  „gegen  eine  ....  führt''. 


Io8  Die  Vasken. 

Um  das  Gebiet  der  Städte  zu  vergrössern,  suchten  die  Könige 
Besitzungen  in  der  Nähe  durch  Tausch  oder  Kauf  zu  erhalten. 
Die  Brüderschaft  der  Provinz  sah  dies  ungern  und  setzte  sich 
dagegen.  Endlich  aber  trat  sie  dem  König  eine  Anzahl  von  Dorf- 
schaften vermittelst  einer  am  i8.  August  1258.  ausgefertigten  Ur- 
kunde feierlich  ab,  in  welcher  es  ausdrücklich  heisst:  Wir  Ver- 
brüderte geben  Euch,  unserm  Herrn  und  Könige  u.  s.  f.  und  auch 
nachher,  jedoch  immer  vor  1332.  kommen  ein  Paar  ähnlicher 
Urkunden  vor.  Hieraus  zeigt  sich  nun  ganz  deutlich,  dass  die 
wahre  Oberherrschaft  und  das  OberEigenthum  des  Landes  auch 
nach  1200.  immer  bei  der  Brüderschaft  der  Provinz  blieb,  und 
die  Könige  nur  eine  auftragsweise  erhaltene  und  beschränkte 
Herrschaft  ausübten.  Mit  dem  Jahre  1332.  hörte  nun  aber  dies 
doppelte  Verhältniss  gänzlich  auf;  die  Cofradie  ging  auseinander, 
die  Provinz  wurde  auf  immer  der  Krone  von  Castilien  einverleibt, 
und  der  König  wurde  der  einzige  Herr  derselben,  nur  unter  den 
von  ihm  selbst  genehmigten  Bedingungen.*) 

Alphonsus  II.  befand  sich  gerade  in  Burgos,  als  er  die  Ein- 
ladung der  Brüderschaft  von  Arriaga  erhielt,  die  Herrschaft  des 
Landes  anzunehmen.  Er  begab  sich  deshalb  nach  Vitoria  und 
von  da  in  die  Versammlung  auf  dem  Felde  bei  Arriaga,  und  hier 
wurde  die  Uebereinkunft  zwischen  beiden  Theilen  feierlich  ge- 
schlossen. Die  vorzüglichsten  Rechte,  welche  die  Provinz  sich 
durch  diesen  Vertrag  sicherte,  betreffen  die  persönliche  Freiheit. 
Der  König  soll  das  Land,  weder  im  Ganzen,  noch  einen  Theil 
desselben,  niemals,   an  wen  es  auch  sey,  veräussern  können,  son- 

*)  Die  oben  angeführte  neue  Ausgabe  der  Chronik  Alphonsus  1 1.  enthält  an  der  oben- 
angeführten Stelle  den  Ausdruck :  seit  Alava  erobert  und  den  Navarrern  abgenommen 
war.  Acaesciö  que  antiguamiente  desque  fiie  conquista  la  tierra  de 'Alava  et  tornada 
ä  los  Navarros,  siempre  ovo  senorio  apartado.  Allein  in  den  früheren  Ausgaben 
von  1551.  in  Valladolid  und  1595.  in  Toledo  heisst  es  desqiie  fiie  conquista  la  tierra 
de  los  Navarros,  la  tierra  de  Alava  era  cet.  so  dass  Navarra,  nicht  Alava  als  er- 
obert angegeben  wird.  Wäre  der  Text  in  der  neuen  Ausgabe  auch  richtig,  so  muss 
man  wohl  die  Eroberung  nicht  streng  verstehn,  da  sich  der  Verfasser  der  Chronik 
sonst  in  dem,  was  er  gerade  an  der  nemlichen  Stelle  von  der  Freiheit  Alavas  behauptet, 
selbst  widersprechen  würde.  Allein  auch  die  Aechtheit  der  Lesart  ist  grossem  Zweifel  unter- 
worfen. Die  neue  Ausgabe  ist  nach  einer  Handschrift  des  Escurials  abgedruckt,  welcher 
der  Herausgeber  bloss  darum  den  Vorzug  gab,  weil  sie  sehr  schön  auf  Pergament  ge- 
schrieben ist,  und  er  sie  deswegen  für  dasjenige  Exemplar  hielt,  was  der  Sohn  Alphonsus  II. 
König  Heinrich  2.  den  Worten  der  Chronik  nach  ')  „in  seinen  sehr  geehrten,  sehr 
königlichen,  sehr  reichen,  sehr  herrlichen  und  sehr  edlen  Schatz"  bringen  Hess. 

^)  „den  —  nach"  verbessert  aus  „wie  es  in  dem  Eingange  der  Chronik  heisst". 


Vitoria. 


109 


dem  es  soll  auf  ewig  der  Krone  Castilien  einverleibt  bleiben.  Er 
soll  den  Einwohnern  keinerlei  Abgaben  oder  Steuern  auferlegen,^) 
sondern  dieselben  bleiben  davon  frei,  wie  sie  bis  dahin  gewesen 
waren,  und  ihm  werden  nur  gewisse  Rechte  von  denjenigen  An- 
bauern [colonos]  vorbehalten,  die  nicht  freie  -)  Eigenthümer  sind, 
sondern  Kirchen  oder  Edelleuten  gehören  und  die  man  Collazos 
nennt.  Er  darf  nur  Eingebohrne  des  Landes  zu  Alcalden  oder 
zu  Oberrichtern  {Merino)  ernennen,  und  der  Oberrichter  darf  keinen 
Alaver  hinrichten,  oder  verhaften  lassen,  ohne  vorhergegangne 
Anklage  und  darauf  erfolgtes  Urtheil  eines  Alcalden.  Ausser  diesen 
Hauptpunkten  enthält  die  Uebergabeacte  noch  mehrere  andre,  die 
aber  vorzüglich  nur  das  A'erhältniss  jener  Collazos  zu  den  Edel- 
leuten und  zum  König,  das  Hütungsrecht,  das  Verbot,  neue  Eisen- 
hämmer anzulegen,  wodurch  die  Waldungen  verwüstet  werden 
könnten,  und  besondre  Freiheiten  einiger  einzelnen  Oerter  der 
Provinz  betreffen.*)  Diese  Rechte  und  Freiheiten  der  Provinz 
beschworen  und  bestätigten  hernach  alle  nachfolgende  Könige 
Spaniens,  und  als  die  Königin  Isabella  1483.  nach  Vitoria  kam, 
Hessen  die  Magistratspersonen  der  Provinz  und  der  Stadt,  die  ihr 
vor  dem  Thore  von  Arriaga  entgegengingen,  die  Thore  solange  ver- 
schliessen,  bis  sie  diese  Bestätigung  vollbracht  und  mit  einem  Eide 
bekräftigt  hatte.  Erst  dann  hielt  sie  ihren  Einzug  durch  das  wieder 
geöfnete  Thor. 

Gleich  nach  der  ^"ereinigung  Alavas  mit  Castilien,  ist  in  der 
Geschichte  der  Verfassung  der  Provinz  eine  Lücke,  die  erst  mit 
der  Einrichtung  der  Hermandaden  aufhört.  Man  weiss  nur,  dass 
die  Rechtspflege  in  den  Händen  des  oberen  und  der  ihm  unter- 
geordneten Merinos  und  der  Alcalden  war;  aber  welche  Art  der 
Verwaltung  sie  unter  sich  eingeführt  hatten,  und  welche  allgemeine 
Versammlungen  an  die  Stelle  derer  von  Arriaga  traten?  darüber 
giebt  die  Geschichte  keine  Auskunft.  König  Johann  2.  (regierte 
von  1407 — 1454.)  richtete  zuerst  die  Hermandaden  in  Alava  ein, 
oder  gab  ihnen  wenigstens,  da  einzelne  schon  vorher  im  Lande 
vorhanden  waren,  eine  allgemeine  und  regelmässige  Verfassung. 
Diese  Brüderschaften,  wie  man  sie  von  Wort  zu  Wort**)  über- 


*)  Den  ganzen  Inhalt  der  Urkunde  vergleiche  man  in  Landazuri.  II,   Ii6. 
'<*)  von  hermano  (germanus)  Bruder. 
^)  I^ach  „auferlegen"  gestrichen:  „können". 
^)  „freie"  verbessert  aus  „unabhängige". 


HO 


Die  Vasken. 


setzen  muss,  danken^)  ihren  Ursprung  dem  König  Ferdinand  3. 
dem  Heiligen,  sie  waren  eigentlich  bestimmt,  die  öffentliche  Landes- 
polizei zu  erhalten,  und  die  grosse  Menge  der  Unordnungen, 
welche,  vorzüglich  im  1 5.  Jahrhundert,  bei  Gelegenheit  einer  Menge 
von  ßefehdungen  einzelner  Partheien  in  Biscaya  vorfielen,  gaben 
die  unmittelbare  Veranlassung  zu  ihrer  Einführung  in  Alava.  Ihre 
Gesetze  enthalten  eine  Menge  von  Bestimmungen,  wie  sie  Verbrecher 
verfolgen,  sich  gegenseitig  zur  Hülfe  aufrufen,  und  im  Fall  einer 
Vernachlässigung  ihrer  Pflicht  den  Beeinträchtigten  zur  Schadens- 
ersetzung verpflichtet  seyn  sollen,  und  ihre  Gerichtsbarkeit  ist  auf 
eine  gewisse  Anzahl  von  Verbrechen,  zur  Bestimmung  der  gegen- 
seitigen Rechte  ihrer  und  der  gewöhnlichen  Ortsalcalden  beschränkt. 
Diese  Verbrechen  sind  vorzüglich  solche,  welche  einen  Charakter 
der  Störung  der  öffentlichen  Ruhe  an  sich  tragen,  wie  Mord,  Strassen- 
raub,  Brand,  gewaltthätiger  Einbruch,  Verwüstung  von  Saatfeldern 
u.  s.  f.  *)  Die  Verordnungen,  welche  Johann  -i.  für  die  Herman- 
dad  von  Alava  erliess,  wurden  nachher  noch  zweimal  verändert, 
und  die  noch  jetzt  im  Lande  geltenden  rühren  von  Heinrich  4. 
vom  Jahr  1463.  her.  In  der  Einrichtung  der  Hermandaden  nun 
liegt  der  Keim  der  jetzigen  Verfassung  Alavas.  Die  ganze  Provinz 
ist  in  52  derselben  abgetheilt;  diese  beschicken  die  allgemeine 
Landesversammlung,  und  diese  besitzt  den  ganzen  Umfang  obrig- 
keitlicher Gewalt.  Diese  Versammlungen  nahmen  zugleich  mit 
den  Hermandaden  ihren  Anfang;  in  Heinrichs  4.  Verordnung 
werden  zwei  derselben  jährlich  festgesetzt,  und  seit  1512.  sind  ihre 
Beschlüsse  {Acuerdos)  in  ununterbrochner  Folge  vorhanden.  Die 
eine  wird  jetzt  vom  4 — 8  Mai,  die  andre  vom  18 — 25.  November 
gehalten,  die  letztere  in  Vitoria,  die  erstre  in  demjenigen  Ort, 
den  man  jedesmal  vorher  in  der  Novemberzusammenkunft  be- 
stimmt hat.  Nicht  alle  Hermandaden  aber  schicken  ihre  Depu- 
tirten  dazu.  Die  1 7,  welche  die  Quadrifle  von  Vitoria  ausmachen, 
unterlassen  es  schon  seit  geraumer  Zeit  und  die  Stadt,  die  gleich- 
sam ihre  Stefle  vertritt,  hat  dennoch  darum  nicht  mehr  als  eine 
Stimme.**)  Da  diese  Zusammenkünfte  nur  wenige  Tage  dauern, 
so  muss  die  obrigkeitliche  Gewalt  in  den  Zwischenzeiten  durch 
einzelne  Magistratspersohen   ausgeübt  werden.    Dazu  nun  waren 


*)  Landazuri.  I,  239 — 267. 
**)  Ebendas.  I,  291 — 300. 
^)  liach  „danken"  gestrichen:  „eigentlich''. 


Vitoria.  I  1 1 

von  Errichtung  der   Hermandaden    an   bis   gegen   das   Ende   des 
15  Jahrhunderts  zwei  Commissarien  bestimmt  gewesen,  von  denen 
der  eine  aus  \'itoria  oder   einer  der  übrigen  Städte   {la  ciudad  y 
las  villas\  der  andre  aus  der  übrigen  Provinz  {las  Herras  esparsas 
de  la  hermandad)  gewählt  ward.*)  ^ )   Ohngefähr  aber  vom  Jahre  1476. 
an  ging  die  Gewalt,  die  in  ihren  Händen  ruhte,  auf  die  noch  letzt 
bestehende  Würde  des  GeneralDeputirten  über,  obgleich  jene  sich, 
nur  mit  eingeschränkterem  Ansehen,  neben  ihm  forterhalten  haben. 
Der  letztere  war  ursprünglich   nur   der  vollziehende  Richter  der 
vor   die  Hermandad   gehörigen   Rechtsfälle    {iiiez    executor    de    los 
casos  de  Hermandad)^   seine   Würde    war    anfangs    lebenslänglich, 
allein  seit  1533.  ist  sie  ^j  auf  3  Jahre  beschränkt.    Ervereinigt  die 
ganze   vollziehende  Regierungsgewalt  in  sich,   hat  den  Vorsitz  in 
den  Versammlungen  der  Provinz  und  schlägt  denselben  die  Gegen- 
stände zur  Berathschlagung  vor ;  doch  kann  er  nicht  hindern,  dass 
andre  Mitglieder  dies  gleichfalls  thun,  und  hat  selbst  keine  Stimme. 
Ueberhaupt   vertritt   er   nur  die   Provinz   in   den   Zwischenzeiten 
ihrer  Versammlungen,   und  während   derselben   hört   daher  seine 
Gewalt  in   allen  politischen  und  oekonomischen  Angelegenheiten 
des  Landes   gänzlich   auf.     Wann   der  GeneralDeputirte  es  nöthig 
hält,  ruft  er  eine  besondre  A'ersammlung,  gleichsam  einen  engeren 
Ausschuss,  der  aus  zwei  Commissarien  und  vier  zu  diesem  Behuf 
in  der  jedesmaligen  Landesversammlung  im  November  im  Voraus 
gewählten  Deputirten   besteht,  zusammen;   und  wenn   diese    die 
Angelegenheit,  wovon  die  Rede  ist,  sich  nicht  allein  zu  entscheiden 
getrauen ,   so   berufen   sie  wieder   eine   allgemeine  Versammlung. 
Diese   unmittelbar  zu   veranstalten,   ist   dem   Deputirten   nur    bei 
Kriegsangelegenheiten    erlaubt.      In    allen    ausserordentlichen    Zu- 
sammenkünften dieser  Art  dürfen  keine   anderen  Punkte  zur  Be- 
rathschlagung vorgelegt  werden,  als  die  in  dem  Berufungsschreiben 
erwähnt  sind.**)    Der  General-Deputirte  wird  durch  sechs  besonders 
dazu  beauftragte  Personen  gewählt,  von  denen  drei  aus  der  Pro- 
vinz in  der  Novemberv^ersammlung  gewählt  werden;   die   andern 
drei  aber  der   GeneralProcurator   und   die  beiden  Regidoren  von 
Vitoria  sind.    Es  darf  ferner  dazu  nie  ein  andrer  als  ein  Einwohner 


*)  Landazuri.  I,  295. 
**)  Ebendas,  I,  268—278. 
')  „ward^-  verbessert  aus  „werden  musste". 
*)  Nach  „sie"  gestrichen  „nur". 


j  j2  Di^  Vasken. 

von  Vitoria  genommen  werden.^)  Dies  gedoppelte  Vorrecht  der 
Stadt  schreibt  sich  aus  einem,  zwischen  ihr  und  der  Provinz  1 534. 
geschlossenen  Vertrag  her,  welcher  langen,  hierüber  zwischen 
beiden  geführten  Streitigkeiten  ein  Ende  machte.  Die  Stadt 
gründet  ihr  Vorrecht  vorzüglich  darauf,  dass,  da  1498.  die  Würde 
eines  vollziehenden  Richters  der  Hermandad  abgeschafft  wurde, 
sie  sich  bei  dem  Könige  das  Recht  auswirkte,  einen  General- 
Deputirten  aus  ihrem  Mittel  zu  haben,  und  denselben  deshalb 
gleichsam  als  ihr  zugehörend  ansieht.  Von  der  Provinz  aber  wird 
dies  Vorrecht  bestritten.  Mehrere  Hermandaden  erklärten  sich 
gleich  gegen  den  gedachten  Vergleich,  und  noch  jetzt  wird  immer 
förmlich  dagegen  protestirt.*) 

Der  Adel  übertrift  den  Bürgerstand  in  Alava  bei  weitem  an 
Anzahl.  Einige  Hermandaden  sind  durchaus  adlich.  Seine  Vor- 
rechte sind  wenig  bedeutend,  lir  zahlt  gleichfalls  Abgaben,^)  von 
denen  selbst  die  Geistlichen  nicht  ausgenommen  sind.  Bisweilen 
ist  ein  Adlicher  sogar  Pächter  eines  Bürgerlichen.  Auch  stehen 
diese  letzteren  den  ersteren  in  politischer  Hinsicht  ^)  nicht  nach. 
Sie  wählen  ebensogut  die  Deputirten  zu  den  Generalversamm- 
lungen mit,  und  können  selbst  zu  denselben  gewählt  werden. 
Nur  wechselt  in  einigen  Hermandaden  die  Wahl  zwischen  dem 
einen  und  dem  andern  Stande  ab,  und  in  andern  muss  von  zwei 
Deputirten  der  eine  bürgerlich,  der  andre  adlich  seyn. 

*)In  alten  Zeiten  wurde  die  Herrschaft  über  Alava  für  sehr 
einträglich  gehalten.  „Wem  die  Alaver,"  sagt  der  Verfasser  der 
Chronik^)  Alphonsus  11.,  „die  Herrschaft  ihres  Landes  übertragen, 
dem  geben  sie  sehr  reichliche  Abgaben;**)  ausser  den  gesetzlichen 
Steuern,  noch  den  semoyo  und  Märzochsen."  Semoyo  wird  nem- 
lich  eine  gewisse  Quantität  Weizen  genannt,  welche  die  im  Lande 
befindlichen  Grundherren  von  ihren  Vasallen  für  jedes  Joch  Ochsen 
bekommen.  Nach  jetztigen  Verhältnissen  aber*^)  zieht  der  König 
nicht  sehr ")   beträchtliche  Einkünfte   aus  der  Provinz.     Die  soge- 

*)  Landazuri.   I,  283—287.  II,    137 — 177. 
**)  Kap.  100.  dabanle  servicio  muy  granado. 
')  Dieser  Satz  hiess  urspi-ünglich: „Er  muss  Jerner  allemal  selbst  ....  seyn,'^ 
^)  „gleichfalls  Abgaben''  verbessert  aus  „so  gut  Abgaben,  als  der  Bürgerstand". 
^)  Nach  „Hinsicht"  gestrichen :  „ganz  und  gar". 
*)   Vor  „In"  gestrichen:  „Schon". 

^)  „der  Verjasser  der  Chronik"  verbessert  aus  „  schon  der  Chronikenschreiber". 
*)  „Nach  —  aber"  verbessert  aus  „Auch  jetzt". 
')  „nicht  sehr"  verbessert  aus  „Jioch". 


^  Vitoria.  I  ^«» 

nannten  freiwilligen  Geschenke  machen  nur  ein  verhaltnissmässig 
geringes  Quantum^)  aus.  In  einer  Durchschnittssumme  von  48  Jahren 
betrugen  sie  43750  reales  de  vellon  (2734  Thaler  Friedrichsd'or)  *) 
auf  das  Jahr.  Alle  Summen,  welche  die  Provinz  als  Rechte  der  ^) 
Krone  zahlt,  werden  sich  in  folgender  Zusammenstellung  am  besten 
übersehen  lassen. 

I.,  Freiwillige  Geschenke  in  einer  Durch- 
schnittssumme            43w  50  feal.  de  vell. 

2.,  Alcavala.    (Bourgoing.  II,   16.)  116,738 

Sie  ist  meistentheils  durch  ganz  Alava 
auf  eine  bestimmte  Summe  gesetzt.  In 
Vitoria  wird  sie  bloss  vom  ^^erkauf  un- 
beweglicher Güter  bezahlt,  und  zwar 
giebt  der  Einheimische  5,  der  Ausländer 
^  p.  c. 
3.,  Herrschaftsrechte  ^)      und     Dienstgeld 

{Derechos  de  Sehorio  y  Servicios)  20,124 

4.,  Ein  grosser  Theil  der  beiden  zuletzt 
genannten  Abgaben  ist  an  Ortschaften 
oder  Hermandaden  veräussert.  Der  Be- 
trag dieser  veräusserten  Steuern  beläuft 
sich  auf  741,495.  real.  11  mfs.  Rechnet 
man  dies  Capital  zu  5  /.  c.  so  giebt  es 

ein  Einkommen  von 37^074 

5.,  Ein  andrer  Theil  der  Alcavalen  ist  vom 
König  an  Grosse  des  Reichs  verkauft 
oder  abgetreten.  Für  diese  zahlt  die 
Provinz 25,987 

*)  Die  einzelnen  Summen  in  den  verschiedenen  Jahren  waren : 

1744.     240000.  r.  d.  V. 

l'Jit'].     240000.  

1761.     660000.  die    vorzüglich    zur  Wiederherstellung    des   Regiments 

von  Cantabrien  dienten,  das  in  sehr  schlechtem  Zu- 
stande aus  America  kam. 

1765.     480000. wegen  der  Verheirathung  des  damaligen  Prinzen  von 

Asturien. 
1780.     480  oco. 


2,1  OD 000  realdevell. 


*j  „ein  —  Quantum"  verbessert  aus  „den  geringsten   Theil". 

^)  „Rechte  der"  verbessert  aus  „Abgaben  an  die". 

')  „Herrschafisrechte"  verbessert  aus  „Herrenrechte". 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     Xm. 


j  j^  Die  Vasken. 

6.,  Für  auf  gleiche  Weise  veräusserte  De- 

rechos    de   Sehorio    MViA.Sermcios     I9?9i2    reales. 

7.,  Kammerstrafen,     können    im    Durch- 
schnitt   angeschlagen    werden    zu    4,000    

8.,  Abgaben   von   der   Geistlichkeit,    und 
zwar: 

a.,  Suhsiduo 22,415  r. 

Diese  Abgabe  gestand 
Pius  5.  Philipp  2.  zum 
Behuf  des  Kriegs  gegen 
die  Ungläubigen  zu. 
b.,-  Escusado,  oder  das  Recht, 
den  besten  Zehnten  der 
Pfarrei  für  sich  herauszu- 
nehmen. (Bourgoing.  II, 
22.)  für  400  Häuser  in 
Alava.  Rechnet  man  jedes 
zu  50  pesos  (den  peso  zu 
15.   r.)  so   beträgt   diese 

Abgabe 300,000  r. 

322,415    

9.,  Ausserordentliche  Ausgaben,  als  z.  B. 
Kosten  bei  Regierungsveränderungen, 
Königlichen  Leichenbegängnissen,  Ge- 
burten Königlicher  Prinzen,  ferner  beim 
Durchmarsch  von  Truppen,  Beloh- 
nungen derer,  die  Schleichhändler  ge- 
fangen einbringen  u.  s.  f.  Alle  diese 
verschiedenen  Unkosten  können,  mehr 
oder  weniger,  im  Jahr  gerechnet  wer- 
den  auf 25,000    . 


Summe 615000  real. 

(38437  V2  Thaler  Friedrichs  d'or.) 

Ausser  diesen  direkten  Abgaben  zieht  der  König  nun  noch 
andre  indirekte  aus  dem  Lande,  die  man  aber  kaum  einmal  mit 
dem  Namen  der  Abgaben  belegen  kann,  da  es  von  der  Provinz 
selbst  abhängt,  ob  sie  die  Artikel,  deren  Consumtion  mit  diesen 
Rechten  belastet  ist,  aus  Castilien  oder  anderswoher  nehmen  will. 

Die  Bullen  allein,  deren  Ertrag  gleichfalls  in  den  Königlichen 


Vitoria. 


115 


Schatz  kommt,*)  ^)  müssen  hiervon  ausgenommen  werden,  und  ge- 
hören, obgleich  in  Rücksicht  der  Menge  von  dem  Lande  abhängig, 
zu  denjenigen  x\usgaben,  welche  nothwendig  der  Krone  zufliessen 
müssen. 

Im  Jahr  1787.  wurden  aus  der  Provinz  Alava  84400  Bullen 
zu  Dispensationen  aller  Art  gelöst,  und  diese  brachten  zu  ver- 
schiedenen Preisen  dem  königlichen  Schatz  ein  Einkommen  von 
209,676.  reales.  (13104%  Thaler  Friedrichsd'or.)  Merk- 
würdig ist  es,  dass  unter  dieser  Anzahl  157 11.  waren,  mit  welchen 
die  Frömmigkeit  der  Alaver  Verstorbene,  noch  nach  ihrem  Tode 
versorgte. 

Die    hauptsächlichsten   Consumtionsartikel ,    für  welche   Geld 
aus  Alava  nach  Castilien  geht,  sind  folgende: 
I.,  Salz.    Die  Biscayischen  Provinzen  kön- 
nen ihr  Salz,  woher  sie  wollen,  nehmen. 
Alava  aber  hat,  mit  Ausschluss  einiger 
wenigen  Hermandaden,  mit  dem  König 
einen  Vertrag  gemacht,   seinen  Bedarf 
aus    den   Salzwerken    von   Anana    zu 
kaufen,   und   vermöge   dieses  Vertrags 
ist   der  Preis   von    1 1 .   reales   für   die 
fanega  (S.  S.  93.)  festgesetzt.   Die  Pro- 
vinz verbraucht  ohngefähr  ^000/anegas, 

welches    demnach    beträgt    88,000  reales. 

Weil   aber  Anana  weiter   entfernt  ist. 


so   kaufen   die  Alaver  auch   noch   aus 
Salinillas   um   den  höheren  Preis  von 

17.  reales  etwa  jährlich  für  

Die  Salzwerke  von  Anana  und  Salinil- 
las bringen  jährlich  etwa  '^1^00  fanegas 
Salz,  welche  dem  König,  die  Bereitungs- 
und Verwaltungskosten  abgerechnet, 
1,061,734.  reales  eintragen. 
Chocolade.  Nach  einer  genauen  Be- 
rechnung verbraucht  Alava  jährlich  die 
ungeheure,  nur  aus  dem  allgemein  ver- 
breiteten und  häufigen  Gebrauch  dieses 


1,360 


*)  Bourgoing.  II,   19 — 21. 

*)  „kommV  verbessert  aus  „ßiesst". 


8* 


llß  Die  Vasken. 

Getränks  begreifliche  Summe  von  200000 
Pfund  Cacao.  Nun  bekommt  der  König 
von  jedem  Pfund  i  real,  weniger  einen 
J^/ßZ'^fl'?,  folglich  beträgt  diese  Abgabe     194,117.  reales. 

3.,  Zucker.  Der  Bedarf,  der  aus  den  Staa- 
ten des  Königs  genommen  v^ird,  beträgt 
1 00000  Pfund  ungefähr,  davon  machen 
16.  reales  für  jeden  Centner,  w^elche  die 
Krone  empfängt 16,000.  , 

4.,  Oel.  Die  Provinz  verbraucht  aus  An- 
dalusien und  Castilien  25000.  Cantaras 
(S.  S.  93.),  jede  zu  35  reales  beträgt 
875000  reales,  wovon  der  König,  nach 
dem  letzten  Tarif,  4  p.  c.  empfängt, 
welches,  mit  einer  andern  kleinen  Ab- 
gabe für  das  Einmessen  {de  fiel  medidor) 
von  4  mvs  auf  die  Cantara,vci3S^'i 37,941.  

5.,  Weine,  Seife  u.  s.  f.  lassen  sich  nach 
der  gleichen  Berechnung  ungefähr  an- 
schlagen zu 35?ooo-  

6.,  Die  Summe,  welche  die  Königlichen 
Posten  durch  die  Provinz  Alava  ge- 
winnen,   kann  gerechnet   werden    auf   162,000.  


534,418.  reales. 
(3340 1 .  Thaler  Friedrichsd'or.) 

Nach   diesen,   im  Lande   selbst  gesammelten   Angaben   empfängt 
die  Krone  in  allem,  unbedeutende  Artikel  nicht  mitgerechnet: 

I.,  an  directen  Abgaben .  615,000.'  reales. 

2.,  an  Abgaben  für  gelöste  Bullen  209,676.  

3.,  an  indjrecten  Abgaben 534,418. 

zusammen . I53595O94.  reales. 

(84,943.  Thaler  Friedrichsd'or.) 

Vitoria,  die  Hauptstadt  der  Provinz  Alava,  trägt  durchaus  das 
Ansehn  einer  durch  Handel  und  Industriefleiss  blühenden  Pro- 
vinzstadt an  sich.  Ueberall  erblickt  man  Leben  und  Wohlstand, 
und  bemerkt  viele  grosse  neu  aufgeführte  Gebäude,  unter  welchen 
sich  der  erst  1791.  fertig  gewordene  Marktplatz  auszeichnet.  Er 
ist  viereckt,  ganz  aus  Stein  aufgeführt,  und  besteht  aus  34  Häusern, 


Vitoria. 


117 


unter  welchen  das  Rathhaus  der  Stadt  {la  casa  consistorial)  das 
grosseste  ist.  Der  Baumeister  hat  sich  übrigens  in  nichts  von 
der  gewöhnlichen  Bauart  der  Spanischen  Marktplätze  entfernt. 
Auch  hier  läuft  unten  ein  ofner  Bogengang  herum,  und  jedes 
Fenster  hat  seinen  eisernen  Balcon,  eine  Einrichtung  die  insofern 
bequem  ist,  als  in  den  Städten,  welche  kein  eignes  Amphitheater 
für  die  Stiergefechte  haben,  diese  auf  dem  Markte  gehalten  werden. 
An  den  äussern  Seiten  umgeben  denselben  vier  breite  Strassen, 
so  dass  jedes  Haus  dadurch  einen  zweiten,  nicht  durch  das  Markt- 
getümmel gehinderten  Eingang  erhält. 

Ihr  Emporkommen  verdankt  die  Stadt  dem  Könige  Sancho 
dem  Weisen  von  Navarra.  Als  dieser,  nach  vielen  Gränzstreitig- 
keiten  mit  dem  Könige  von  Castilien  Alphonsus  dem  Edlen,  dem 
8.,^)  sich  endlich  mit  demselben  dahin  vereinigte,  dass  der  Fluss 
Zadorra  die  östliche  Gränze  seiner  Besitzungen  wurde,  umgab  er, 
um  dieser  Gränze  mehr  Festigkeit  zu  verschaffen,  den  unbedeuten- 
den Ort  Gasteiz  mit  Mauern,  vergrösserte  ihn  durch  neu  dahin- 
geführte  Einwohner,  befestigte  ihn,  nach  damaliger  Sitte,  mit 
Thürmen,  und  legte  ihm  den  Namen  Victoria  bei.  Dies  geschah 
im  Jahr  1181.  Seitdem  gerieth  Armentia,  das  bis  dahin  der  Sitz 
der  Bischöfe  gewesen  war,  jetzt  aber  nur  noch  aus  wenigen 
Häusern  besteht,  in  Verfall,  und  Vitoria  erhob  sich,  durch  die, 
ihm  von  Sancho  und  den  nachfolgenden  Königen  verliehenen 
Vorrechte,  zur  Hauptstadt  der  Provinz  Alava.  Noch  jetzt  sieht 
man  an  der  Mitternachtsseite  der  Collegiatkirche  einen  Thurm 
und  ein  beträchtliches  Mauerstück  des  Castells,  das  Sancho  hier 
anlegte. 

Den  Behauptungen  der  Biscayer  zufolge,  ist  der  Name  der 
Stadt  Vaskischen  Ursprungs ;  sie  leiten  ihn  von  dem  Wort  bitorea, 
vonrefHch,  hervorstechend,  ab.  Allein  in  der  Zeit,  in  der  Sancho 
die  Stadt  gründete,  ist  es  wahrscheinlicher,  dass  er  derselben  einen 
lateinischen  gab;  vermuthlich  suchte  er  sogar  dieselbe  durch  die 
Verwandlung  ihres  unbedeutenden  Namens  in  der  Landessprache 
in   einen   gelehrteren-^)   lateinischen   noch  mehr  zu  adeln.*)     Viel- 


*)  In  Sanchos  Gründungsurkunde  bei  Moret  in  dessen  investigaciones  historicas 
de  las  antigüedades  de  Navarra,  p.  669.  heisst  die  Stadt  ausdrücklich  Victoria.  Vobis 
Omnibus  populatoribus  meis  de  noua  Victoria  —  —  und  weiterhin :  in  praefata 
villa,   cid  nomen  nouum  imposui,  scilicet  Victoria,  qiiae  antea  vocabatur  Gasteiz. 

^)  „&"  verbessert  aus  „j.  {nach  andern  dem  8.)". 

^)  „gelehrteren"  verbessert  aus  „vornehmeren''. 


j  jg  Die  Vasken. 

leicht  glaubte  man  auch,  dass  an  derselben  Stelle  ehemals  eine 
ältere  gleichnamige  Stadt  gestanden  habe.*) 

Der  Reisende  wird  die  Zeit,  welche  er  sich  ohnehin  wegen 
der  Durchsuchung  seines  Gepäcks  in  Vitoria  aufhalten  muss,  gern 
dazu  anwenden,  einige  Gemälde  in  Kirchen  und  Privatsammlungen, 
deren  es  hier  mehrere  giebt,  zu  besehen.  Unter  denselben  zog 
meine  Aufmerksamkeit  am  meisten  eine  Titianische  Magdalena 
im  Hause  des  Marques  de  Alameda  auf  sich.  Die  Figur  ist  in 
Lebensgrösse,  stehend  und  ganz  bekleidet.  Ihr  Kopf  ist  gegen 
die  rechte  Seite  gewandt,  und  die  Haare  fallen  ihr  über  die  Schulter 
auf  den  Busen  herab.  Die  Schönheit  dieses  Gemäldes  besteht 
vorzüglich  in  der  hohen  Würde,  welche  der  Mahler  der  Gestalt 
und  der  Physiognomie,  mitten  in  dem  Ausdruck  der  Reue,  zu  er- 
halten gewusst  hat.  Frei  von  der  kleinlichen  Absicht,  dem  ver- 
führerischen Bilde  weiblicher  Schönheit  durch  das  Bekenntniss  der 
Schuld  nur  einen  noch  höheren  Reiz  zu  leihen  —  wodurch  man 
eine  der  edelsten  Darstellungen  der  neueren  Kunst  so  oft  zu 
einer  der  gemeinsten  herabgewürdigt  sieht  —  hat  Titian  vielmehr 
seinen  Gegenstand  durchaus  erhaben  behandelt.  Die  Magdalena, 
die  er  uns  darstellt,  entkleidet  sich  nicht  eines  Schmucks,  der  an 
ihren  Vergehungen  keinen  Theil  hat ;  sie  hebt  nicht,  mit  schwachen 
und  furchtsamen  Thränen,  flehende  Augen  zum  Himmel  empor; 
ihre  Hand  fasst  an  ihr  Herz,  ihr  Blick  ist  in  sich  gekehrt,  zwar 
scheu  und  gespannt,  aber  trocken  und  starr  auf  Einen  Fleck  gerichtet. 
Sie  bebt  nicht  vor  einem  fremden  strafenden  Richter,  sie  erkennt 
mit  Entsetzen  den  unerbittlichen,  misbilligenden  in  sich  selbst. 
Sie  giebt  die  Würde  der  Menschheit  nicht  in  reuiger  Zerknirschung 
auf,  sie  fühlt  vielmehr  ihr  Zurückkehren,  und  ist  dadurch  betroffen, 
aber  gestärkt. 

Reich  an  guten  Stücken  aus  mehreren  Schulen  ist  die  Ge- 
mäldesammlung des  Marques  de  Montehermoso,  eines  der  kennt- 
nissvollsten und  patriotisch  gesinntesten  Männer,  die  ich  unter  den 
Grossen  in  Spanien  antraf. 

Durango. 

Ich  sehnte  mich,  Vitoria,  das  ich  schon  von  meiner  ersten  Reise 
her  genauer  kannte,  zu  verlassen,  und  mich  wieder  in  die  einsamen 

*)  Oihenart  p.  22.  setzt  hieher  das  vom  Gothischen  König  Leovigild  (regierte  von 
[568 — 586])  gebaute  Victoriacum,  das    Sancho  nur  wiederhergestellt  habe. 


Durango.  I  ig 

Thäler  Vizcayas    zu   versenken.    Wir   setzten    nach    einem   zwei- 
tägigen Aufentiialt   unsre  Reise   gegen  Durango  zu  weiter  fort. 

Bis  Ochandiano,  dem  Gränzorte  Vizcayas,  ist  die  Gegend 
flach  und  unbedeutend.  Von  dort  an  aber  fängt  sie  an  waldreicher 
und  gebirgigter  zu  werden,  und  bei  S.  Antonio  de  Urquiola  (einem 
Meierhof  bei  dem  eine  Ermita  ist)  erscheint  ^)  sie  in  höchstem 
Grade  romantisch.  Eine  finstere  Felswand  zieht  sich  von  Morgen 
gegen  Abend  queer  vor  den  Weg  hin.  Aber  in  drei  prächtige 
Massen  (Ambota,  Uncilla,  und  Sta  Lucia)  geschieden,  stürzen  sich 
zwischen  ihnen  enge  -)  Thäler  nach  der  Meeresseite  zu  hinab. 
Durch  die  lange  nackte  Felswand  zur  Rechten,  die  durch  unzählige 
Furchen  in  wilde  Zacken  zerrissen  ist,  jagten  weisse^)  Nebelstreifen; 
in  der  Mitte  erhob  sich,  klar  und  frei,  eine  einzeln  stehende 
Pyramide  an  deren  Fuss  sich  zwei  fruchtbare  Ebenen  lieblich 
hinabschlängelten,  und  auf  dem  rund  gewölbten  Haupte  des  Felsens 
zur  Linken  ruhte  noch  ein  dickes  Gewölk.  Wie  mannigfaltig  aber 
gestalteten  sich  erst  die  Ansichten  beim  Heruntersteigen,  wo  der 
Weg,  anmuthig  mit  Bäumen  bepflanzt,  zwischen  den  Felsen  hinab- 
führt.*) Von  allen  Seiten  sieht  man  üppige  Vegetation  mit  nakten 
und  schroffen  Klippen  in  lieblichem  Contrast.  Bald  hängt  ein 
finstrer  Wald  von  der  steilen  Höhe  herab ;  bald  ist  in  eine  flachere  Fels- 
ecke ein  Gärtchen  angebaut,  dem  der  Fels  selbst  zur  stützenden  Mauer 
dient,  und  zur  Linken  blicken  über  dem  Gebüsch  die  Reste  einer 
alten  Burg  herüber.  Am  Fusse  dieser  Berge  liegt  Manaria,  das  lieb- 
lichste Dörfchen,  das  ich  in  Vizcaya  sah.  Um  die  Kirche,  als  den 
Mittelpunkt  und  den  Zweck  ihrer  Vereinigung,  herum  dichter  zu 
sammen  stehend,  verlieren  sich,  weiter  abwärts  weitläuftiger  zer- 
streut, die  Häuser,  von  Kastanien-  und  Wallnussbäumen  umschattet, 
unter  grossen,^)  von  Epheu  umrankten  Eichen;  und  ein  grüner 
Anger  führt  zur  Seite  zu  dem  Port  dieses  Gebirges  und  ladet  die  Ein- 
bildungskraft zu  neuen  Aussichten  in  ein  andres  gleich  roman- 
tisches Thal  ein.  Durch  die  herumliegenden  Berge,  wie  durch  eine 
schützende  Mauer,  gegen  Kälte  und  Wind  gesichert,  gedeihen  hier 
Feigen-   und  Maulbeerbäume,    die   einige   tausend  Schritte  davon, 


^)  „erscheint"  verbessen  aus   „wird". 
*)  „enge"  verbessert  aus  „fruchtbare". 
*)  „weisse"  verbessert  aus  „finstere". 
*)  „hinabführt"  verbessert  aus  „hinabsteigt' 
*)  „grossen'^  verbessert  aus  „schattigeti". 


I20 


Die  Vasken. 


auf  der  Höhe,  in  Ochandiano,  *)  das  seinem  rauheren  Clima  seinen 
Namen  dankt,  und  im  ganzen  übrigen  Alava  nicht  mehr  fortkommen. 

Der  Weg  von  Mafiaria  nach  Durango  hat  nicht  mehr  so  über- 
raschende, aber  viele  gleich  anmuthige  und  liebliche  Stellen.  Allein 
so  mannigfaltig  eine  Gebirgsgegend  in  der  Natur  ist,  so  einförmig 
wird  ihre  immer  wiederkehrende  Schilderung,  und  vielleicht  hat 
mich  der  Reiz,  mir  Bilder  zurückzurufen,  die  sich  meiner  Phan- 
tasie ^)  fest  und  lebhaft  eingeprägt  hatten,  schon  zu  weit  geführt. 
Eine  Reise  durch  ein  kleines ,  abgeschieden  lebendes  Ackervolk 
kann  in  der  Beschreibung  kein  grosses  Interesse  gewähren,  und 
schon  zu  lange  habe  ich  den  Leser  in  diesen  einsamen  Thälern, 
bei  Gegenständen  ^)  verweilt,  die,  ohne  Reichthum  und  Abwechs- 
lung,^) nur  durch  die  reine  Individualität  ihrer  Züge  anzuziehen 
vermögen.  Ich  eile  jetzt,  ihn  mit  beschleunigten  Schritten  durch 
den  übrigen  Theil  meiner  Wanderung  zu  führen ;  es  ist  mir  genug 
das  Bild  dieses  kleinen  aber  merkwürdigen  Volkes  nur  mit  festen  Um- 
rissen ihm  in  die  Seele  zu  heften;  ausmahlen  kann  es  nur  der, 
welcher,  diese  Blätter  in  der  Hand,  das  Land  selbst  durchreist.*) 
Nur  um  jenen  Zweck  zu  erreichen,  sey  es  mir  erlaubt,  noch  an 
einigen  Punkten  stehen  zu  bleiben,  wo  sich  gerade  ganz  vorzüg- 
lich charakteristische  Züge  darbieten. 

Ein  solcher  Punkt  sind  die  zerstreuten  Wohnungen  der  Land- 
leute in  dem  Thal  von  Durango,  wo  die  Alt-Biscayische  Sitten- 
einfachheit sich  noch  reiner  erhalten  hat.^)  Wie  ich  in  der  Folge  ^) 
deutlicher  werde  zeigen  können,  besteht  der  Kern  der  Vaskischen 
Nation  eigentlich  in  den  Ackersleuten,  die  zerstreut  und  einzeln, 
oft  tief  im  Gebirge,  wohnen.  Die  Städte  sind  ein  fremder  und 
späterer  Zusatz;  auch  wer  sie  bewohnt,  geniesst  seiner  liebsten 
Vorrechte  nur  dadurch,  dass  sein  Haus  zu  diesem  öder  jenem 
Dorfe  gehört.  Den  Ausdruck  des  Stolzes,  den  diese  Ueberzeugung 
einflösst,  und  des  trotzigen  Muths,  den  eine  rauhe  und  arbeitvolle 
Lebensart  hervorbringt,    im   Gesicht   kommen    die   Landleute   an 


*)  von  Otza  (Vizcayisch  Ocha),  Kälte,  und  andia,  gross. 
')  „Phantasie"  verbessert  aus  „Einbildungskraft". 
'■*)  „Gegenständen"  verbessert  aus  „Bildern".  ' 

*)  Nach  „Abwechslung"  gestrichen:    „der  Gegenstände". 
*)  „durchreist"  verbessert  aus  „durchwan[dertj". 

^)  „sich  —  hat"  verbessert  aus  „noch  weniger  durch  fremden  Zusatz  ver- 
unstaltet ist". 

®)  Nach  „Folge"  gestrichen:    „noch". 


Durango.  121 

Sonn-  und  Festtagen  zur  Stadt,  und  wenn  man  sie  dann,  mit 
über  einander  geschlagenen  Armen,  auf  ihren  langen  Stab  gelehnt 
vor  der  Kirche  stehen  sieht,  erkennt  man  auf  den  ersten  Blick, 
dass  sie  die  wahren  Herren  und  Häupter  ^)  des  Landes  sind.  Mehr 
als  irgendwo,  hat  man  sich  in  Vizcaya  noch  bis  auf  den  heutigen 
Tag  gegen  das  Uebergewicht  der  Städte  zu  bewahren  gewusst; 
aber  was  noch  bei  weitem  merkwürdiger  ist,  ausser  ihren  Mauern 
befindet  sich  das  Recht  der  eigentlichen  Obergewalt  nicht  in  den 
Händen  einer  einzelnen  abgesonderten  Classe,  sondern  ruht  auf 
der  Nation  selbst  und  grösstentheils  auf  dem  ackerbauenden  Theile 
derselben.  Keine  Art  der  Feudalverfassung  hat  sich  in  diesen 
glücklichen  Winkel  Europas  eingeschlichen.  Mit  diesen  Begriffen 
muss  man  in  die  Caserios  eintreten,  wenn  man  ihre  ganze 
schöne  Eigenthümlichkeit,  das  Leben  und  den  Charakter  ihrer 
Bewohner  vollkommen  begreifen  will. 

Denn,  wie  vermuthlich  in  den  frühesten  Zeiten  seiner  Be- 
völkerung, ist  Biscaya  in  seinem  Innern  noch  jetzt  einzeln  und 
zerstreut  bewohnt,  die  verschiedenen  Ackerhöfe  {Caserios)  liegen 
einsam  oft  in  beträchtlichen  Entfernungen  von  einander,  ihre  Be- 
wohner bilden  nur  dadurch  eine  Gemeine,  dass  sie  zu  derselben 
Kirche  gehören,  und  nur  um  diese  herum  sieht  man  eine  Anzahl 
von  Häusern  dorfartig  zusammengebaut.  Auch  werden  die  Bis- 
cayischen  Dörfer  nur  Ante-iglesias ,  Plätze  vor  den  Kirchen  ge- 
nannt, ein  im  übrigen  Spanien  nicht  üblicher  Name.  In  diesen 
abgesonderten  Wohnungen  nährt  der  Vaske  den  Geist  der  Frei- 
heit und  Unabhängigkeit,  der  ihn  auszeichnet,  in  ihnen  von  nichts 
Fremdartigem  umgeben,  hängt  er  mit  leidenschaftlicher  Liebe  an 
den  Eigenthümlichkeiten  seiner  Lebensart,  seiner  Nation  und 
seiner  Sprache;  das  kleine  Feld,  dem  er  mit  Mühe  die  Nahrung 
seiner  Familie  abgewinnt,  bildet  die  Stärke,  das  Gebirg,  das  er 
bewohnt,  die  Behendigkeit  seiner  Glieder  aus,  und  so  gewinnt 
sein  Wuchs  und  seine  Physionomie  das  Gepräge  der  Kraft  und 
des  Muths  an  dem  man  ihn  auf  den  ersten  Anblick  erkennt. 
Nirgends  fiel  mir  das  so  sehr  als  in  Durango  auf,  da  ich,  am 
Morgen  nach  meiner  Ankunft,  den  Markt  besuchte,  und  dort  die 
hereingekommenen  Landleute  versammelt  antraf. 

Schon  ihre  Tracht  ist  ganz  eigenthümlich,  und  contrastiert 
sehr  vortheilhaft  mit  der  mehr  Castilianischen  der  Städter.^)    Schon 

1)  „wahren   —  Häupter"  verbessert  aus   „Gebieter  und  wahren  Berather". 
*)  „der  mehr  —  Städter"  verbessert  aus  „dem  schmutzigen  Mantel  und  Haar- 


J22  ^^^  Vasken. 

Campomanes  *)  erklärt  sich,  und  mit  Recht,  sehr  kräftig  gegen 
die  beiden  am  meisten  charakteristischen  Stücke  der  Spanischen 
Kleidung,  den  Mantel  und  das  Haarnetz.  Der  erstere  hindert  bei 
der  Arbeit,  und  befördert  die  Trägheit;  auch  ist  es  bemerkens- 
werth,  dass  die  Bewohner  der  fleissigeren  Provinzen,  der  rüstige 
Catalonier  und  der  fast  maurisch  gekleidete  Valenzianer  ihn  weit 
weniger  brauchen.  Das  Haarnetz  {la  Cofia)  bringt  Unreinlichkeit 
und  Ausschläge  hervor,  aus  welchen  oft  Augenkrankheiten  ent- 
stehen. Der  ächte  Vizcayer  hat  seine  ganz  eigene  Kleidung.  Statt 
der  Schuhe  trägt  er  Stierlederne  Sohlen,  die  nur  einen  kleinen 
umgebogenen  Rand  haben  und  ^)  mit  Bindfaden  zugebunden  sind, 
die  aharcas  deren  schon  in  den  ältesten  Zeiten^)  Erwähnung 
geschieht.**)  Sie  sind  zum  Klettern  im  Gebirge  bequemer,  als 
Schuhe,  und  Sancho,  König  von  Navarra,  bediente  sich  ihrer  im 
10.  Jahrhundert  für  sich  und  sein  Heer  um  bei  tiefem  Schnee 
über  die  Pyrenaeen  zu  gehen,  wodurch  er  den  Beinamen  Abarca 
erhielt.***)  Strümpfe  sind  unter  dem  Vizcayischen  Landvolk  nur 
erst  seit  kurzem  und  meistentheils  bei  den  Weibern  üblich.  Die 
Männer  wickeln  wollene,  gewöhnlich  mit  schmalen  schwarzen 
Streifen  versehene  Tücher  um  die  Beine,  die  mit  den  Bindfaden 
der  Abarca  festgebunden  werden.  Die  Farbe  der  Hosen  ist 
meistentheils  schwarz,  und  die  Weste  roth.  Um  die  Weste  wird 
eine  Binde  (Spanisch  faxa)^)  getragen.  Die  Stelle  des  Mantels 
oder  Rocks  vertritt  die  Longarina,  eine  weite  ^)  Jacke  mit  langen 
Schössen  und  Aermeln.  Wer  sie  noch  nach  altem  Brauch  trägt, 
hat  die  Aermel  nur  an  der  Jacke  mit  Bändern  oder  Knöpfen  be- 
festigt, um  sie,   wenn   es  nöthig  ist,   losmachen   und  hoch  hinten 


*)  Seinem  allgemeinen  Systeme,  die  Mauren  zu  Urhebern  fast  aller  üblen  Gewohn- 
heiten in  Spanien  zu  machen,  getreu,  leitet  er  auch  von  ihnen  den  beständigen  Ge- 
brauch des  Mantels  her.  Er  gesteht  aber  selbst,  dass  die  Spanier  denselben  noch  viel 
unbequemer  und  den  körperlichen  Bewegungen  hinderlicher  gemacht  haben.  Discur- 
sos  sobre  la  educacion  populär  de  los  artesanos.  p.  122. 
**)  Vgl.  Du  Gange  Glossar,  v.  abarca. 

***)  Die    Abarcas   des    Südlichen  Spaniens    sind    die  Alpargates   in    Valencia   und 
Catalonien,  aus  Stricken  von  Spartum  zusammengesetzte  Sohlen. 
f )  von  fascia. 

netz  Castiliens,  wie  sie  bei  den   meisten  Städtern  auch   in   Vizcaya  üblich  sind. 
Der  ächte  Vizcayer  kennt  den  Mantel  .  .  .  ." 

^)  Nach  „und"  gestrichen:    „oben  über  den  Fuss". 

^)  „in  —  Zeiten"  verbessert  aus  „bei  Schrift[stellern]  in  dem  10.  Jahrhundert". 

*)  „weite"  verbessert  aus  „lange". 


Durango.  I23 

überwerfen  zu  können,  und  so  freier  bei  der  Arbeit  zu  seyn. 
Die  Longarina  ist  gewöhnlich  dunkelbraun  oder  schwarz.  Den 
Kopf  deckt  eine  schwarze,  spitzige,  helmartige  Mütze,  vorn  mit 
einem  dreieckigen  Aufschlag  von  schwarzem  Sammet.  In  der 
Hand  halten  sie  einen  langen  Stock,  manchmal  auch  unter  der 
Jacke  einen  kurzen,  besonders  nach  unten  zu  dicken  Knittel, 
Cachiporra  genannt  —  eine  Art  Dolch  für  sie,  da,  wie  ich  weiter 
oben  sagte,  jener  lange  Stock  bei  ihnen  die  Stelle  des  Degens 
vertritt.  In  diesem  Anzug  sieht  man  sie  nach  der  Kirche  auf  den 
Märkten  der  Städte,  wo  wahre  kleine  Volksversammlungen  sind, 
da  die  Gebirgsbewohner,  um.  in  der  Woche  keine  Zeit  zu  ver- 
lieren, ihren  kleinen  Einkauf  am  Sonntag  besorgen,  von  allen 
Altern  stehen,  bald  einzeln  und  ruhig  mit  unter  die  Schultern 
gesetztem  Stock  und  übergeschlagenen  Beinen,  bald  in  Haufen  in 
lebhaftem  Gespräch,  meistentheils  in  mahlerischen  Stellungen  und 
Gebehrden,  da  die  natürlichen  Bewegungen  eines  A'^olks  von  freiem 
Sinn  und  ausgearbeitetem  Körper  immer  schon  durch  sich  selbst 
der  Kunst  günstig^)  sind. 

Der  Anblick  dieser  kräftigen  und  frohgesinnten  Menschen 
lud  mich  ein,  sie  in  ihren  Wohnungen  aufzusuchen,  und  fast 
jeden  Nachmittag  machte  ich  einen  Spaziergang  nach  einem  der 
nah  gelegenen  Ackerhöfe.  Durango  liegt  in  einer  fruchtbaren 
Ebne,  und  nach  welcher  Seite  man  sich  hinwenden  mag,  öfnen 
sich  lieblich  geschlängelte  Fusssteige  durch  frische  dichtverwachsne 
Eichengehölze,  von  denen  viele  mit  lebendigen  Hecken  umzäunt 
sind.  Reichlich  durchrieselt  von  kleinen  Bächen  bieten  sie  das 
schönste  Gras  und  den  würzigsten  Blumengeruch  dar;  überall 
drängt  sich  die  Vegetation  in  froher  Ueppigkeit,  und  Brücken, 
Baumstämme  und  Zäune  sind  von  dem  dichtesten  Epheu  über- 
rankt. Man  glaubt  sich  in  den  kleinen  Gehölzen  zu  verlieren;  so 
dick  scheinen  sie  beim  ersten  Anblick.  Auf  einmal  sieht  man 
Licht ;  man  tritt  heraus  und  ein  lachendes  Saatfeld  liegt  da,  wieder 
rings  von  kleinen  Waldungen  umschlossen,  durch  die  man  wieder 
ländliche  Wohnungen  durchschimmern  sieht.  Erreicht  man  dann 
einen  solchen  freieren  Platz  gerade  beim  Sinken  des  Tages,  so 
geniesst  man  des  herrlichsten  Schauspiels;  auf  den  Gipfeln  der 
hohen  südwärts  gelegenen  Gebirge  ruhen  dichte  Wolkenmassen, 
gegen  Norden  schneidet  sich  die  mildere  Gebirgsreihe  in  freund- 


^)  „günstig"  verbessert  aus  „vortheilhaft". 


12,A  ^^^  Vasken. 

lieber  Klarheit  vom  heitern  Himmel,  und  aus  den  niederen  Oef- 
nungen  in  Nordwesten  gegen  das  Meer  zu  flutet  purpurschimmern- 
des Abendroth  her. 

Ich  besuchte  eines  Nachmittags  einen  Meierhof  auf  den  Bergen, 
die  nach  Manaria  zu  liegen.  Die  Häuser  sind,  mit  wenigen  Ver- 
schiedenheiten, alle  auf  dieselbe  Weise  gebaut,  gewöhnlich  von 
zwei  Stockwerken,  halb  aus  Holz,  halb  aus  Steinen,  mit  flach 
ablaufenden  Dächern,  ohne  Schornsteine.  Beim  Eintritt  ist  eine 
freie  Vorlaube,^)  in  der  Mitte  auf  eine  hölzerne  oder  steinerne 
Säule  gestützt,  und  zu  beiden  Seiten  stehen  zwei  stämmige  Wein- 
stöcke, die  ihre  dichtbelaubten  Ranken  in  der  Mitte  des  Hauses 
"brüderlich  in  einander  verschlingen.  Manchmal  ist  auch  einer 
mächtig  genug,  allein  das  ganze  Haus  zu  umschatten.  In  der 
Vorlaube  '^)  lagen  die  Wagen  und  Ackergeräthschaften,  und  unter 
einer  bejahrten  Eiche  waren  Blätter  zu  künftigem  Dünger  auf- 
gehäuft. Als  Versammlungsort  der  Famflie,  in  den  wenigen,  von 
FeldArbeit  freien  Stunden,  dient  die  Küche.  Die  kleinen  Kammern 
daran  werden  nur  zum  Schlafen,  und  zu  einigen  häuslichen  Ge- 
schäften, z.  B.  zum  Leinweben  gebraucht.  Oben  sind  Böden,  und 
unmittelbar  an  der  Küche  der  Stall. 

Das  Haus  wurde  von  einer  Wlttwe  mit  ihren  Kindern  be- 
wohnt. Der  schon  erwachsene  Sohn  kam  mit  dem  Gespann  von 
der  Arbeit  zurück.  Lange  hörten  wir  das  knarrende  Pfeifen  des  ^) 
Wagens,  ehe  die  Ochsen  sich  mühsam  auf  dem  geschlängelten 
Pfade  den  Berg  hinaufwanden.  Wie  er  ankam  versammelten  sich 
seine  jüngeren  Brüder  um  ihn,  und  halfen  ihm  ausspannen,  die 
oben  rund  mit  einem  Korbe  umgebene  Karre  in  die  Vorlaube*) 
schieben,  und  die  Ochsen  in  den  Stall  lassen.  Kaum  waren  sie 
darin,  so  streckten  sie  treuherzig  ihre  Köpfe  in  die  ■  Küche  und 
forderten  den  Lohn  des  sauern  Tagwerks.  Denn  der  treue  Ge- 
fährte der  Arbeit  ist  hier  nicht  vom  traulichen  Familienkreise 
ausgeschlossen.  Die  Krippe  ist  in  der  Küche  an  der  Wand, 
welche  sie  vom  Stall  absondert,  angebracht,  und  in  der  Wand 
sind  zwei  Oefnungen  durch  welche  die  Thiere  den  Hals  stecken. 
So  wird  Unreinlichkeit  vermieden  und  der  Landmann  hat  doch 
immer   die   beiden   wichtigsten    Stücke    seiner  Wirthschaft   unter 

^)  „eine  freie  Vorlaube"  verbessert  aus  „ein  freier  Vorßiir". 
")  „In  der   Vorlaube"  verbessert  aus  „Im  Vorßur". 
^)  Nach  „des''  gestrichen:    „kleinen". 
*)  „die  Vorlaube"  verbessert  aus  „den   Vorflur". 


Durango.  12^ 

unmittelbarer  Aufsicht.  Auch  kann  er  niemand  verhehlen,  wie  er 
sie  hält,  der  Nachbar  und  der  Fremde,  die  ihn  besuchen,  haben 
sie  beständig  vor  Augen  und  bekommen  dadurch  einen  untrüg- 
lichen Begriff  seiner  Wirthschaftlichkeit  oder  Nachlässigkeit.  Daher 
wird,  so  oft  von  der  Arbeitsamkeit,  der  Rechtlichkeit,  oder  der 
Wohlhabenheit  eines  Landmanns  die  Rede  ist,  nie  seiner  Rinder 
und  ihrer  Stärke  und  Schönheit  vergessen.^) 

Pferde  sieht  man  selten  in  Biscaya  da  Gebirgsgegenden  ihrem 
Gebrauch  nicht  bequem  sind.  Auch  scheint  das  Pferd  mehr  für 
die  beiden  Endpunkte  der  menschlichen  Gesellschaft,  das  Nomaden- 
und  das  hoch  civilisirte  Leben,  als  für  den  Uebergang  aus  dem 
einen  in  das  andre,  den  Ackerbau  geschaffen.  Diesem  eignet  sich 
besser  die  ausdauernde  Stärke,  der  schwerw^andelnde,  aber  kräftige 
Gang,  und  der  arbeitselige,  geduldige  Sinn  des  Stieres.  Immer 
unverdrossen  ganze  Tage  hindurch  dasselbe  Ackerstück  umgehend, 
um  mit  saurer  Arbeit  Furche  an  Furche  mühsam  in  den  festen 
Boden  zu  schneiden,  und  am  Abend  zufrieden  mit  massiger  und 
geringer  Nahrung  schickt  er  sich  besser  zu  den  gewiss  aber  lang- 
sam heranreifenden  Hofnungen  des  Landmanns,  in  ein  Leben, 
dessen  Kreis  mit  jedem  Herbste  geschlossen  ist,  um  mit  jedem 
Frühling  neu  zu  beginnen. 

Beim  Herabsteigen  vom  Berg  begegneten  uns  die  Töchter 
des  Hauses,  mit  schweren  Säcken  auf  dem  Kopf,  in  denen  sie 
Mehl  aus  der  Mühle  trugen.  Es  war  schon  spät;  der  Abendstern 
funkelte  hell,  und  von  den  entgegengesetzten  Bergen  schienen^) 
Feuer  von  Gesträuch  herüber,  das  man  verbrannte,  um  den  Boden 
zur  künftigen  Bearbeitung  aufzulockern. 

In  einem  andern  dieser  Meierhöfe  war  schon  mehr  Wohl- 
stand anzutreffen.  In  der  Küche  lag  ein  grosses  Ciderfass,  die 
Kammern  waren  reinlicher,  die  Betten  künstlich  geschnitzt,  und 
unter  jedem  eine  feine  Strohdecke  zur  Bequemlichkeit  des  Ein 
und  Aussteigens.    Ein  gesprächiger  Alter  zeigte  uns  alles  Einzelne 

^)  Diese  beiden  Sätze  Messen  ursprünglich:  „Diese  Sitte  hat  aber  auch 
noch  einen  andern,  gleich  flicht  unbedeutenden  Nutzen.  Da  der  Arbeitsstier  so 
unzertrennlich  von  der  Familie  ist,  so  giebt  der  erste  Eintritt  ins  Haus  einen 
deutlichen  Begriff"  von  der  Wirthschaft  seiner  Bewohner.  Wer  des  Stieres  nicht 
pß^gt,  den  er  in  Jedem  Augenblick  vor  Augen  hat,  dessen  Feld  ist  gewiss  nach- 
lässig bestellt,  dessen  innres  Hauswesen  unordentlich,  und  es  ist  daher  ein  eigner 
Stolz  des  Vizcayischen  Landmanns  dem  Nachbar  und  dem  Fremden,  der  ihn 
besucht,  sein  Gespann  in  seiner  ganzen  Stärke  und  Schönheit  zu  zeigen." 

*)  „schienen"  verbessert  aus  „leuchteten". 


J26  Die  Vasken, 

darin,  vorzüglich  hielt  er  sich  mit  Wohlgefallen  bei  den  Kleidungs- 
stücken auf,  welche  der  fleissige  Hauswirth  fast  alle  selbst  macht. 
Vor  allem  wurden  hier  die  Abarcas,  als  das  eigenthümlichste  Stück 
nicht  vergessen.  Es  lag  in  der  Ecke  ein  eben  halb  dazu  zuberei- 
tetes Rindsleder.  Die  Haut  wird  bloss  aufgespannt,  getrocknet, 
mit  etwas  Salz  und  Asche  eingerieben,  und  dann  in  länglichte 
Streifen  geschnitten.  Auf  diese  zeichnet  man  nach  einer  hölzernen 
Form  die  einzelnen  Abarcas  ab,  und  sobald  diese  ausgeschnitten 
sind,  ist  die  Arbeit  auch  so  gut  als  fertig.  Denn  nun  werden 
nur  auf  den  Seiten  die  Haare  ein  wenig  abgekratzt  (die  eigentlich 
rauhe  Seite  bleibt,  als  Sohle,  dem  Boden  zugekehrt)  und  Löcher 
eingeschlagen,  durch  die  man  die  Bindfäden  zieht,  womit  man  die 
Abarca  beim  Anziehen  um  die  wollenen  statt  der  Strümpfe  dienen- 
den Tücher  ^)  befestigt. 

Bei  den  grösseren  Höfen  findet  man  noch  zwei  andre  Gebäude, 
das  Korn-  und  das  Viehhaus. 

Das  erstere,  Garaija*)  hat,  nach  der  eigentlichen  Landessitte 
gebaut,  eine  wunderbare  Gestalt.  Auf  vier  grossen  Steinen  stehen 
vier  steinerne  abgestumpfte  Pyramiden.  Auf  jeder  liegt  ein  runder 
behauener  Stein,  wie  ein  Mühlstein,  und  auf  diesen  ruht  ein  vier- 
ecktes  hölzernes  Häuschen,  unsern  freistehenden  Taubenschlägen 
ähnlich.  Um  dasselbe  herum  ist  eine  Art  Gang  in  welchem 
Bienenkörbe  stehn.  Vorn  geht  eine  steinerne  Treppe  daran 
hinauf,  der  aber  oben  eine  Stufe  fehlt,  so  dass  man  da  einen 
doppelt  grossen  Schritt  machen  muss.  Seitdem  aber  die  Mäuse 
und  Ratten,  auf  welche  diese  ganze  Bauart  berechnet  ist,  nicht 
mehr  die  gefährlichsten  Feinde  der  Kornböden  sind,  ist  diese 
Gattung  derselben  sehr  abgekommen,  und  wir  hatten  auf  einem 
langen  Spaziergange  Mühe,  nur  einen  einzigen  anzutrieffen. 

Das  Viehhaus,  Abelechea^*)  ist  ein  offener  Schuppen  unter  dem 
sich  das  Vieh  versammelt  und  gefütten  wird. 

Es  gewährt  ein  eignes,  belohnendes  Vergnügen  die  Details 
dieser  kleinen  Wirthschaft  zu  durchgehen.  Die  Unabhängigkeit, 
der  Wohlstand  und  die  Frohmüthigkeit  der  Bewohner  dieser 
Stätten  zeigt,  dass  nicht  Noth  oder  Unterdrückung  sie  zu  dieser 
Lebensweise  zwingt,  sondern  eigne  Wahl  und  Gewohnheit  dazu 
einladet.    Die  Phantasie  gefällt  sich  in  dieser  Beschränkung,   weil 

*)  Von  Garaitli,  steigen,  Hochort. 
**)  von  Aberea,  Vieh,  und  echea,  Haus. 
^)  „Tücher''  verbessert  aus  „Decken'^ 


Durango.  I27 

sie  in  dieselbe,  in  einer  Art  willkührlicher  Täuschung,  alle  Fe- 
derungen, alles  Streben  hinüberträgt,  dem  sich  der  Geist  in  seinen 
freiesten  und  kühnsten  Aufschwüngen  überlässt,  und  dadurch  den 
Schranken  selbst  eine  Bedeutung  giebt,  die  für  den,  welcher  na- 
türlich in  ihnen  lebt,  nicht  vorhanden  ist.  Es  ist  eine  reine  und 
edle  Form  mehr,  an  der  sich  der  Mensch  versucht,  und  man 
würde  sich  irren,  wenn  man  den  Reiz,  den  die  Beobachtung  ein- 
facher Lebensweisen,  selbst  roher  und  uncultivirter  Völker  mit 
sich  führt,  nur  dem  Ueberdruss  an  übermässiger  Civilisation,  und 
also  einer  bloss  sentimentalen,  durch  Contrast  starken  Empfindung 
zuschreiben  wollte.  Wo  der  Mensch,  ausgebildet  oder  roh,  rein 
an  Sitten,  oder  wie  er  von  den  ersten  Momenten  seiner  Existenz 
an  ist,  mehr  oder  weniger  verdorben,  nur  in  seiner  Geistigkeit 
und  der  sittlichen  Freiheit  vom  augenblicklichen  Eindruck,  wo  er 
so,  als  Naturwesen  erscheint,  da  gewährt  er  den  erhabensten  und 
den  beruhigendsten  Anblick.  Wenn  man  ein  wildes  Volk  sich 
eine  Sprache  bilden  sieht,  die  den  ganzen  Umfang  menschlicher 
Gefühle  ausdrückt,  und  das  Gepräge  planmässiger  Ordnung^)  an 
sich  trägt,  ohne  irgend  eine  der  Stufen  zu  entdecken,  auf  welchen 
es  dazu  gekommen  ist,  oder  vielmehr  indem  man  deutlich  fühlt, 
dass  keine  solche  Stufe  da  war,  dass  das  Wunderwerk  aus  dem 
Nichts  und  auf  Einmal  entstand;  wenn  man  die  Elemente  der 
höchsten  und  feinsten  Empfindungen  da  antrift,  wo  der  Charakter 
sich,  ohne  alle  Bearbeitung,  seinen  ursprünglichen  Regungen  über- 
lässt; dann  erst  gewinnt  man  Vertrauen  zu  der  Menschheit  und 
der  Natur,  und  glaubt  die  Grundkräfte  beider  in  irgend  einer 
noch  unbekannten  Tiefe  verwandt.  In  der  letzten  geistigen  Ver- 
feinerung zu  der  nur  in  Zeiten  hoher  Cultur  der  Einzelne  ge- 
langt, scheint  der  Mensch  ein  einsamer  Fremdling  in  der  Natur 
der  sich  mit  überkühnem  Streben  von  ihren  gewöhnlichen  Bahnen 
entfernt.-) 

Noch  wichtiger  und  interessanter  aber  erscheinen  diese  zer- 
streuten ländlichen  Wohnungen,  wenn  man  ihren  Einfluss  auf 
das  Land  und  den  Volkscharakter  bedenkt.  Es  ist  unläugbar, 
dass  Biscaya  Vorzüge  vor  den  übrigen  Spanischen  Provinzen  hat, 
dass  die  Biscayer  allen  andern  Spaniern  in  Betriebsamkeit,  Fleiss 
und  Geschicklichkeit   auf   das  mindeste  gleich  sind,  und  dass  an 

^)  „Ordnung"  verbessert  aus  „Regelmässigkeh". 

^)  Nach  „entfernt"  gestrichen :  „und  fürchtet  und  fühlt  nur  zu  oft  ihre  ahn- 
dende Rache". 


128 


Die  Vasken. 


Volksaufklärung,  an  wahrem  Patriotismus  und  achtem  National- 
stolz keine  Provinz  sich  den  Biscayischen  gleich  stellen  darf.  In 
wie  manchen  anderen  Umständen  dies  auch  zugleich  mit  liegt, 
so  trägt  doch  die  jetzt  beschriebene  Vertheilung  des  Landes,  und 
die  Lebensart  des  ackerbauenden  Theils  der  Nation  gewiss  das 
Meiste  dazu  bei.  Der  Mensch  muss  nicht  bloss  ein  Eigenthum 
haben;  er  muss  es  auch  abgesondert  und,  wo  möghch,  einsam 
und  der  Natur  nahe,  bewohnen,  wenn  sich  ein  gewisses  Gefühl 
von  Selbstständigkeit  und  Kraft  in  ihm  entwickeln  soll.  Dass  das 
Landvolk,  wie  es  in  so  vielen  Provinzen  Spaniens  der  Fall  ist, 
nicht  in  Dörfern,  sondern  in  Städten  und  Flecken  zusammenwohnt, 
ist  gewiss  auch  für  den  Charakter  nachtheilig.  Nur  wo  der  Be- 
sitzer seine  Besitzung  immer  vor  Augen  hat,  wird  er  ganz  eins 
mit  ihr;  auch  ist  in  Städten  imrner  mehr  Unreinlichkeit,  Dürftig- 
keit und  Müssiggang,  und  diese  beiden  letzteren  vorzüglich  sind 
weniger  beschämend,  da  sich  der  einzelne  unter  der  Menge  ver- 
Hert.  Wer  Frankreich,  Spanien  und  Italien  durchreist  hat,  wird 
mit  Verwunderung  bemerkt  haben,  dass,  in  den  meisten  Gegenden 
dieser  Länder,  das  Landvolk  gar  nicht  eine  so  durch  Wohnung, 
Kleidung  und  Sitten  abgeschiedene  Classe  als  in  Deutschland  aus- 
macht, und  wer  den  Ursachen  und  den  Folgen  dieser  Erscheinung 
nachdenkt,  der  wird  finden,  dass  der  Nachtheil  davon  nicht  bloss 
unmittelbar  in  dem  Volkscharakter,  sondern  selbst  in  der  ge- 
bildetsten Gesellschaft  der  Nation,  in  der  Sprache  und  der  Litteratur 
fühlbar  ist. 

Da  ich  gerade  einen  Sonntag  in  Durango  war,  versäumte  ich 
nicht  den  Tanzplatz  zu  besuchen,  auf  dem  man  sich  in  kleineren, 
mitten  im  Lande  liegenden  Orten  zahlreicher  und  mit  mehr  An- 
theil  versammelt,  als  in  grösseren  Städten,  in  denen  die  Liebe  zu 
den  vaterländischen  Sitten  schon  erkaltet  ist.  Der  Tanz  trägt  in 
Biscaya  noch  ganz  den  Charakter  einer  Volkslustbarkeit  an  sich. 
Man  tanzt  öffentlich  auf  dem  Markt,  ohne  Unterschied  des  Standes, 
an  allen  Sonn-  und  Festtagen,  auf  Kosten  der  ganzen  Gemeine 
und  unter  öffentlicher  Aufsicht,  und  verschiedene  Orte  unter- 
scheiden sich  ebensowohl  durch  verschiedene  Tänze  die  nur 
diesem  oder  jenem  ausschliessend  angehören,  als  durch  Ver- 
fassung und  Dialect.  Gleich  nach  dem  NachmittagsGottesdienst 
ging  der  Tamborilero  auf  dem  Markte  spielend  herum.  Er  hat 
eine  kleine  länglichte  Trommel  an  einem  Bande  vorn  über  den 
Schultern  hängen,    und  im  Munde   eine   kleine   Flöte  mit  nicht 


Durango.  12g 

mehr  als  drei  Oefnungen.  Die  Trommel  hat  keine  Schellen  und 
ist  also  durchaus  verschieden  vom  sogenannten  Tambour  des  Bas- 
ques,  das  überhaupt  mit  Unrecht  seinen  Namen  führt,  da  es  auf 
keinerlei  Weise  mit  der  Nationalmusik  und  dem  Nationaltanz  der 
Vasken  zusammenhängt.  Der  Tamborilero  spielt  nun  Flöte  und 
Trommel  zugleich.  Die  Flöte,  die  gerade  aus  dem  Munde 
herunter  hängt,  regiert  ^)  er  mit  der  linken  Hand ;  mit  der  Rechten 
schlägt  er  die  Trommel  mit  Einem  Schlegel.  Er  w^rd  von  der 
Gemeine  unterhalten  und  besoldet,  da  der  sonntägliche  Tanz, 
ebensowohl  als  irgend  etwas  andres,  ein  Stück  der  NationalVer- 
fassung  ausmacht.  Lange  aber  blieb  das  Tamboril  einsam  auf 
dem  Platz  und  diente  nur  den  Kindern  zur  Belustigung.  Die 
Erwachsnen  waren  noch  beim  Ballspielen  versammelt.  Denn 
diess  Spiel  hat  für  die  Biscayer  einen  alles  überwiegenden  Reiz, 
und  lange  mussten  die  auf  dem  Tanzplatz  schon  ungeduldig  ver- 
sammelten Mädchen  warten,  ehe  die  Tänzer  erschienen.  Der 
Tanz,  der  gewöhnlich  des  Sonntags  getanzt  wird,  heisst  carrica- 
dantza.*)  Nachdem  ein  alter  Alguazil,  mit  schmutzigem  Mantel 
und  einem  grossen  Stock,  den  Platz  von  Kindern  und  andern 
Zuschauern  gereinigt  hatte,  fassten  sich  12  bis  15  junge  Leute  bei 
der  Hand,  und  zogen  in  einer  Art  Marsch,  den  Tamborilero  an 
ihrer  Spitze,  ein  Paarmal  um  den  Platz  herum.  Nur  der  Vor- 
tänzer machte  eigentliche  Pas,  die  aber^)  nichts  Eigenthümliches 
hatten,  die  übrigen  folgten  ihm  bloss  gehend.  Nach  einigen  Um- 
gängen trat  ein  Tänzer  aus  der  Reihe,  holte  ein  Mädchen  und 
gab  sie  dem  Vortänzer.  Dieser  empfing  sie  mit  einigen  Compli- 
menten  und  nun  begann  ein  neuer  Umgang.  •'^)  Das  Mädchen 
darf  die  Aufforderung,  und  wäre  sie  die  vornehmste,  auch  dem 
geringsten  nicht  abschlagen;  je  mehr  aber,  auch  in  Biscaya,  die 
Stände  sich  gesellschaftlich  absondern  und  die  alten  Sitten  ein- 
schlafen, desto  mehr  bleibt  jetzt  dieser  Tanz  nur  den  niederen 
\^olksclassen  überlassen.  Bei  dem  Empfange  der  ersten  Tänzerin 
findet   manchmal   ein   eigner  Tanz   zwischen   ihr  und   dem   Vor- 

*)  Tanz  auf  ofner  Strasse.  Das  Wort  dantza  muss  man  nicht  zu  voreilig  für 
bloss  aus  dem  Französischen  aufgenommen  halten.  In  sehr  vielen  Sprachen  wird 
dieser  Begriff  durch  diesen  Laut  bezeichnet,  der  vermuthlich  eine  Onomatopoeie  von  dem 
Auftreten  der  Füsse  (dan,  dan)  ist.  Auch  im  Galischen  ist  damhsair,  ein  Tänzer, 
im  BasBretonschen :  dansa,  im  Irländischen  yun  donnsy,  tanzen. 

^)  „regiert"  verbessert  aus  „spielt". 

^)  ISach  „aber"  gestrichen:  „soviel  ich  wenigstens  sah^'. 

*)  In  diesen  drei  Sätzen  sind  alle  Präterita  aus  Präsentien  verbessert. 

\V.  V.  Humboldt,  Werke.     Xm.  9 


130 


Die  Vasken. 


tänzer  Statt,  der  Chipiritaina*)  genannt  wird,  und  in  Touren  be- 
steht, die  beide  allein  mit  einander  machen.  Nach  einigen  neuen 
Umgängen  wurde  eine  zweite  Tänzerin  geholt,  welche  dem  letzten 
in  der  Reihe  zu  Theil  wird.  Sobald  diese  zwei  Ehrenplätze,  um 
die  oft  blutige  Händel  zwischen  ganzen  Ortschaften  entstehen, 
vergeben  sind,  so  hört  alles  Feierliche  des  Tanzes  auf,  und  aus- 
gelassene Lustigkeit  tritt  an  die  Stelle.  Jeder  läuft  aus  allen 
Kräften  und  holt  sich  nach  Gefallen  ein  Mädchen;  es  bildet  sich 
nun  wieder  eben  solche  Reihe,  als  vorher,  aber  nun  ist  alles  in 
Bewegung,  alles  springt,  schwingt  und  zerrt  sich  hin  und  her, 
und  Tänzer  und  Tänzerinnen  suchen  sich  auf  die  unsanfteste 
Weise  dos  a  dos  gegeneinander  zu  stossen.  Diese  sogenannten 
Culadas  —  ein  ganz  eigenthümliches  Stück  dieses  Basquischen 
Tanzes  —  spielen  dann  eine  Hauptrolle,  und  es  ist  gut,  dass  die 
Tänzerinnen  gewöhnlich  nicht  sehr  zarter  Natur  sind,  sonst 
müssten  sie,  von  ihren  beiden  Nebentänzern  ohne  Schonung  bald 
gezerrt,  bald  angerannt,  nicht  wenig  leiden.^)  Während  dieses 
Theils  des  Tanzes  werden  Zorfzico's  gespielt,  deren  Tact  sich 
eigen  zu  demselben  schickt. 

Ihm  folgen  Fandangos.  Die  Reihe  trennt  sich,  jeder  Tänzer 
stellt  sich  allein  seiner  Tänzerin  gegenüber,  und  beginnt  den  Fan- 
dango.  Bis  hieher  war  der  Tanz  ächte  Volkslust,  ein  ausgelassenes 
Laufen,  Springen,  Zerren  und  Stossen,  nur  durch  den  Takt  der 
Musik  in  einiger  Regelmässigkeit  erhalten,  aber  es  war  nirgends 
etwas  die  Sitten  Beleidigendes.  Der  Fandango  hat  hier,  wie 
überall  mehr  oder  weniger  seinen  eigenthümlichen  ^)  Charakter. 
Doch  muss  man  wissen,  dass  er  es  seyn  soll,  um  ihn  hier  wieder- 
zuerkennen. 

Man  streitet,  ob  der  Fandango,  so  wie  ihn  einige  wirklich 
aus  der  Mancha  herleiten,  ein  ursprünglich  Spanischer,  oder  ein 
Amerikanischer  Tanz  sey,  und  vermuthlich  sind  beide  Behaup- 
tungen zugleich  wahr.  An  sich  (denn  man  muss  den  wahren 
Fandango  nicht  mit  demjenigen  verwechseln,  den  man  auf  dem 
Madrider  und  andern  Theatern  sieht,  und  ihn  noch  weniger  nach 


*)  Tipia,  Chipia,  chiquia,  heisst  klein.  Inwiefern  aber  dieser  Tanz  von  diesem 
Wort  seinen  Namen  erbalten  hat,  kann  ich  nicht  bestimmen,  da  ich  nie  Gelegenheit 
hatte,  den  Tanz  selbst  zu  sehen. 

')  „sonst  —  leiden"  verbessert  aus  „da  sie  auf  keine  Weise  schonend  be- 
handelt werden". 

^)  „eigenthümlichen"  verbessert  aus  „schlüpfrigen". 


Durango.  jo| 

den  immer  übertriebenen  Schilderungen  der  Reisebeschreiber  ^) 
beurtheilen)  ist  er  ein  einfacher,  dem  natürlichen  Ausbruche  der 
Lustigkeit  so  durchaus  -)  angemessener  Tanz,  dass  es  lächerlich 
seyn  würde,  seinen  Ursprung  von  jenseits  des  Oceans  herzuholen. 
Die  besondren  Modificationen  aber,  die  er  nachher,  und  besonders 
im  südlichen  Spanien  annimmt,  sind  wohl  unläugbar  aus  Amerika 
herübergekommen.  Wenigstens  versichern  alle,  die  dort  waren, 
dass  man  auf  den  Inseln  und  in  den  SpanischAmerikanischen 
Besitzungen  dieselben  Tänze,  nur  vollständiger,  mannigfaltiger 
und  bei  weitem  wollüstiger  und  schlüpfriger  wiederfindet.  Die 
ganz  eigne  und  charakteristische  Beweglichkeit  bei  der  Regung 
der  Hüften  wird,  wie  mir  Augenzeugen  versicherten,  in  den  Inseln 
schon  bei  ganz  kleinen  Mädchen,  mit  einem  vor  sie  gestellten 
Spiegel  geübt,  und  der  ganze  Charakter  der  Wollust,  der  in  diesen 
Tänzen  herrscht,  zeigt  seinen  Ursprung.  Denn  er  hat  nicht  Nor- 
dische Rohheit,")  sondern  das  sichtbare  Gepräge  des  Einflusses 
eines  Climas,  das,  indem  es  die  Stärke  der  Leidenschaft  entflammt, 
die  Kräfte*)  entnervt,  der  ganze  Körper  scheint  sich  in  lauter 
Gelenke  aufzulösen,  aber  ist  Eine,  und  von  Einem  Gefühl,  dem  die 
ganze  Seele  zu  erliegen  scheint,  beseelte  Regung.  Sein  Wesen 
selbst  besteht  in  schlüpfriger  Wollust,  die  Hauptsache  bei  ihm 
sind  nicht  sowohl  die  Verschlingungen  der  Touren  und  die  Pas, 
als  die  Stellungen  und  Wendungen  des  Körpers.  Das  gewaltsame 
Bewegen  der  Arme,  besonders  in  den  Schultern,  das  Aufstampfen 
der  Füsse,  das  ewige  Regen  des  Rückens  und  der  Hüften,  andrer 
Bewegungen  nicht  zu  gedenken,  an  die  sich  jeder  Augenzeuge 
erinnern  wird,  alles  drückt  die  Gegenwart  der  heftigsten  Begierde 
aus,  und  dies  macht,  dass  dieser  Tanz,  unpartheiisch  beurtheilt,  weder 
edel  noch  graziös,  sondern  in  seiner  anständigeren  Behandlung  ein- 
förmig, in  seiner  Aechtheit  nur  der  Sonderbarkeit  wegen  interessant 
ist.  Indess  reisst  sein  Feuer  immer  auch  den  Zuschauer  mit  hin,  und 
bei  den  Spaniern  bringt,  wie  ich  oft  mit  Verwunderung  gesehen  habe, 
der  erste  Schlag  der  Castanuelen  eine  wahre  Begeisterung  hervor; 
Männer   und  Frauen,  jung  und   alt,   alles   begleitet   den  Takt  mit 


^)  „Schilderungen  der  Reisebeschreiber'''  verbessert  aus  „Beschreibungen  der 
Reisenden". 

^)  „durchaus"  verbessert  aus  ,.natiirlich". 

^}  „nicht  Nordische  Rohheit"  verbessert  aus  „weder  Nordische  Rohheit,  noch 
Maurisches  Feuer". 

*)  ,,die  Kräfte"  verbessert  aus  „den  Körper". 

9* 


132 


Die  Vasken. 


Minen  und  Bewegungen.  Meister  in  dieser  Gattung  des  Tanzes 
sind  die  Zigeuner  {Guanos)  in  Andalusien  und  dem  Königreich 
Granada,  einige,  die  ich  dort  sah,  waren  wirkliche  Ideale  bloss 
dem  sinnlichen  Genuss  unterliegender  Naturen.^)  Auch  treiben 
immer  mehrere  unter  ihnen,  wie  die  Phäaken  an  Alkinoos  Hofe, 
nichts  als  Tanz  und  Belustigung.  Aller  Arbeit  und  Mühe  feind, 
scheint  sich  ihr  Körper,  ohne  alle  nahrhafte  Speise  (da  sie  meist 
nur  hitzige  Getränke  und  Kuchen  geniessen),  nur  durch  sein  eignes 
Feuer  zu  erhalten.  Dabei  sind  sie  weich,  gutmüthig  und  selbst 
zart;  Naturmenschen,  die  sich,  ohne  andre  Betrachtung,  dem  Ein- 
fluss  eines  entnervenden  Climas  überlassen. 

Ganz  und  gar  entblösst^)  von  diesem  Charakter  weichlicher 
Wollust,  ist  der  Fandango  in  Biscaya  der  rohe,  ich  möchte  sagen, 
ursprüngliche  Naturtanz,  wohl  auch  unanständig  und  obscön 
(obgleich  nicht  allgemein,  und  seinem  Wesen  nach,  sondern  nur 
bei  einem  oder  dem  andern  Tänzer)  aber  nie  schlüpfrig.  Auch 
kennt  man  in  Biscaya  seine  verschiednen  Abarten  nicht,  und  Vo- 
lero,  Zorongo,  Zapateado  u.  s.  w.  sind  hier  unbekannte  ^)  Namen, 
ja  er  selbst  ist  wahrscheinlich  ein  fremder  Zusatz,  so  wie  der 
Englische  Contretanz,  welcher  die  sonntägliche  Fröhlichkeit  be- 
schliesst.  Die  ächten  Nationaltänze  Biscayas  tragen  alle  einen 
höheren  und  edleren  Charakter,  den  der  Volkslustbarkeit  an  sich, 
und  zeichnen  sich  vielmehr  durch  Anstand  und  Würde  aus,  und 
noch  mehr  war  dies  in  vorigen  Zeiten  der  Fall,  wo  sich  der  vor- 
nehme Theil  der  Nation  noch  weniger,  als  jetzt,  von  dem  Volke 
und  den  vaterländischen  Sitten  absonderte,  wo  die  Obrigkeiten 
dem  Tanz  mehr  ihre  besondre  Aufmerksamkeit  widmeten,  oder 
die  Geistlichen  entweder  minder  dagegen  sprachen,  oder  ihr  Eifern 
weniger  geachtet^)  wurde.  Als  besonders  gravitätisch  führt  man 
einen  Tanz  an,  der  mit  einem  Rund  anfing,  in  dem  Tänzer  und 
Tänzerinnen  sich  an  Schnupftüchern  festhalten.  Damals  war  auch 
der  Tanz  künstlicher  und  die  Pas  waren  genau  nach  der  Melodie 
und  der  Versstructur  des  Zortzüo's  berechnet. 

Bei  der  ebenbeschriebenen  Carricadantza  ist  mehr  die  öffent- 
liche Autorität   unter   der   sie   getanzt  wird,   als   der  Tanz   selbst 


^)  Nach  „Naturen"  gestrichen:    „und  die   Wollust   war   dergestalt    in   ihre 
Natur  übergegangen,  dass  sie  dadurch.  .  .  ." 
^)  „entblösst"  verbessert  aus  „entfernt". 

^)  Nach  „unbekannte"  gestrichen :  „oder  nur  von  der  Fremde  hereingebrachte'^ 
*)  „geachtet'^  verbessert  aus  „gehört". 


Durango.  joq 

merkwürdig.  Allein  die  ausschliessend  Vaskischen  Nationaltänze, 
die  vermuthlich  eines  älteren  Ursprungs  sind,  gleichen  mehr  unsern 
Ballets,  sie  sind  Vorstellungen  von  Handlungen,  oder  gleichsam 
gesellschaftliche  Spiele.  Fast  jeder  Ort  hat  in  dieser  Art  einen 
ihm  eigenthümlichen,  der  aber  gewöhnlich,  wie  eine  Art  öffent- 
lichen Aufzugs  nur  beim  Frohnleichnamfest,  oder  am  Johannistag, 
oder  am  Namenstag  des  Schutzpatrons  des  Orts  getanzt  wird. 

So  ist  in  Ernani  die  Acheridmitza,  der  Fuchstanz  üblich.  Alle 
Tänzer  hocken  sich,  jeder  zwei  kurze  dicke  Knittel  in  der  Hand, 
in  einer  Reihe  hintereinander  nieder  und  der  Hintermann  hält 
immer  den  vor  ihm  sitzenden  beim  Fuss.  Einer  allein  steht  und 
hält  einen  Feuerbrand  im  Munde.  Mit  diesem  sucht  er  die  andern 
zu  küssen,  und  sie  müssen  ihn  sich  abwehren,  ohne  in  ihrer  be- 
schwerlichen Lage  das  Gleichgewicht  zu  verlieren.  Auf  dieses 
Spiel  folgt  hernach  eine  Belustigung  mit  einem  jungen  Stier.  Ein 
Theil  der  jungen  Leute  ^)  geht  in  den  Stall  und  reizt  ihn  hinaus- 
zugehn.  Der  andre  wehrt  ihm  den  Ausgang.  Ist  das  Thier 
endlich  durch  sie  hinweg  herausgesprungen,  wird  es  geneckt  und 
gejagt.  Dies  Vergnügen  am  Hetzen  der  Stiere  ist  durch  ganz 
Spanien  allgemein.^)  Ein  alter  Mann  auf  einem  Caserio  bei  Du- 
rango, der  mir  seinen  Ochsen  zeigte,  freute  sich  kindisch,  da  der 
Ochse  auf  seine  Hand  stiess  als  er  ihn  neckte,  darauf,  wie  wild 
der  bei  der  nächsten  novülada  (Stierhetze)  seyn  würde,  und  jedes- 
mal ehe  ein  Stier  geschlachtet  wird,  dient  er  erst  der  Stadt  zum 
Vergnügen.  Man  lässt  ihn  auf  einem  freien  Platz  an  einem  langen 
Strick  herumlaufen,  und  neckt  ihn  mit  Mänteln,  Mützen  und 
Schnupftüchern,  oder  zieht  ihn  bald  hier,  bald  dort  bei  dem  Strick, 
der  meistentheils  schlaff  auf  der  Erde  liegt.  Dazu  spielt  der  Tam- 
borilero,  der  beständige  Begleiter  jeder  Volkslustbarkeit,  und  wenn 
der  Stier  müde  zu  werden  anfängt,  reizt  man  ihn  mit  Hunden. 
Einige  Alcalden  untersagen  jedoch  das  Spiel,  denn  wirklich  sind, 
so  oft  es  vorgenommen  wird,  die  meisten  Werkstätte  leer,  und 
ich  selbst  sah  wohl  50  bis  100  Menschen  einem  solchen  Stier  nach- 
laufen. 

Ein  andrer  in  Azcoitia  üblicher  Tanz  {Toalladantzd)  besteht 
in  einem  Wettlauf.  Die  Laufenden  halten  aber  je  zwei  und  zwei 
ein   langes   Band   an   beiden   Händen    fest    und    laufen    so    neben 


')  yji<f^gen  Leute"  verbessert  aus  „Tänzer". 

^)  Nach  „allgemein"  gestrichen:  „Ehe  ein  Ochse  geschlachtet  wird,  hetzen 
ihn  die  Jungens  an  einem  Strick  mit  Hunden  um  oder  selbst  in  der  Stadt." 


j  oA  Die  Vasken. 

einander.  Das  Paar  das  von  hinten  dem  andern  zuvorlaufen  will, 
wirft  sein  Band  über  das  vordere  weg,  und  daraus  entstehen, 
wenn  sich  einer  oder  der  andre  in  dem  Bande  verwickelt,  viele 
komische  Scenen,  manchmal  aber  auch,  wenn  das  Band  sich  um 
einen  der  Laufenden  schlingt  und  er  fortgeschleift  wird,  Ver- 
letzungen und  Unglücksfälle.  Die  meisten  dieser  Tänze  haben 
ihre  eigne  nur  für  sie  bestimmte  Musik. 

Noch  gefährlicher,  aber  acht  vaterländisch  ist  der  Knütteltanz, 
Troklua.  Acht  junge  Bursche  machen,  jeder  einen  dicken  und 
langen  Strick  in  der  Hand,  allerlei  Tanztouren,  indem  sie  mit  den 
Knütteln  gegeneinander  schlagen.  Alle  Schläge  geschehen  nach 
dem  Tact,  und  mit  grosser  Praecision,  und  indem  der  eine  schlägt, 
parirt  der  andre,  indem  er  den  Stock,  bald  unten,  bald  oben,  mit 
beiden  Händen  horizontal  vorhält.  .  Da  die  Tanzenden  sehr  heftig 
zuschlagen,  so  brechen  manchmal  die  Knüttel  beim  Pariren  und 
dann  entstehen  wohl  Verwundungen,  sonst  nicht,  da  sie  eine 
grosse  Geschicklichkeit  im  Treffeh  und  Abwehren  besitzen. 

Friedlicher,  wie  das  Geschäft,  das  er  nachahmt,  ist  der  Hacken- 
tanz, jorraidantza.  Die  Tanzenden  haben  ^)  Hacken  in  der  Hand, 
und  thun  erst  als  ob  sie  den  Boden  nach  dem  Takt  umhackten, 
dann  heben  sie  die  Hacken  in  die  Höhe  und  machen  ^)  verschiedene 
Schwingungen  damit. 

Es  würde  unnütz  seyn,  noch  mehrere  dieser  Tänze,  deren 
Charakter  hinlänglich  aus  den  obengenannten  erhellt,  anzuführen. 
Ich  verweile  nur  noch  einen  Augenblick  bei  zweien,  die  mir  darum 
merkwürdig  scheinen,  weil  sie  vielleicht  uralte  Ueberreste  der 
ursprünglichen  Sitten  sind;  es  sind  dies  die  Espatadantza  und  die 
Dantzariadantza. 

Tmv  Espatadantza,  Degentanz,  gehören  30 — 40  junge  Leute. 
Alle  sind  im  Hemde,  mit  einem  Scapulier  um  den  Hals,  und 
halten  dergestalt  wechselseitig  Degen  in  den  beiden  Händen,  dass 
der  eine  die  Spitze,  der  andre  das  Gefäss  anfasst.  Der  Anführer 
vereinigt  in  seinen  beiden  Händen  die  Spitzen  von  vier  Degen; 
diejenigen  welche  von  diesen  die  Gefässe  halten,  fassen  zugleich 
wieder  andre  Spitzen  und  so  wird  die  Linie  nach  hinten  zu  immer 
breiter.^)  Auf  diese  Weise  ziehen  sie  in  verschiedenen  von  Musik 
begleiteten  Touren  und  Wendungen  durch  die  Strassen  des  Orts 


^)  Nach  „haben"  und  „machen"  gestrichen:  „alle" 
^)  „breiter"  verbessert  aus  „länger"'. 


Durango.  1^^ 

nach  der  Kirche.  Dort  angekommen,  treten  5  bis  6  der  geschick- 
testen, jeder  mit  zwei  Degen  vor  den  Hochaltar,  verrichten  jeder 
ihre  Kniebeugung,  und  machen  dann  solche  Bewegungen  und 
Verzerrungen  mit  dem  Körper  und  den  beiden  Degen,  dass  man 
glauben  sollte,  sie  verwundeten  und  durchstächen  sich  in  jedem 
Augenblick.  Dabei  sehen  sie  immer  von  Zeit  zu  Zeit  auf  den 
Altar  und  knieen  dabei  nieder. 

Mit  diesem  in  Guipuzcoa  üblichen  Tanze,  den  ich  aber  nicht 
selbst  zu  sehen  Gelegenheit  hatte,  möchte  ich  den  zweiten,  der 
jetzt  Durango  angehört,  in  Verbindung  setzen,  und  den  man  besser 
einen  Schildtanz  nennen  würde.  Er  wird  jetzt  nur  noch  von 
Kindern  getanzt  und  macht  eine  der  Feierlichkeiten  beim  Frohn- 
leichnamsfest  aus.  Acht  Knaben  stehen  in  4  Paaren  hinter  ein- 
ander, und  einer,  welcher  der  König  heisst,  mit  einer  Fahne  in 
der  Mitte.  Dieser  beginnt  den  Tanz,  macht  erst  Schwingungen 
mit  seiner  Fahne,  und  bedeckt  damit  die  Tänzer,  dann  tanzen 
diese  und  verändern  unter  einander  zu  verschiedenen  Malen  die 
Plätze.  Hierauf  wechseln  Einzelntänze  mit  allgemeinen  ab,  und 
zwar  werden  die  ersteren  erst  von  einem  allein,  dann  von  zweien, 
dann  von  dreien,  und  endlich  von  vieren  so  getanzt,  dass  der 
Tanz  jedesmal  die  ganze  Reihe  durchgeht  und  alle  einzeln  daran 
kommen.  Ist  dies  vollendet,  so  empfängt  jeder  eine  runde  me- 
tallne,  schildförmige  Scheibe  mit  einem  eisernen  Griff  daran;  die 
Knaben  theilen  sich  in  zwei  Haufen,  und  schlagen  unter  bestän- 
digem Verändern  ihrer  gegenwärtigen  Plätze  diese  Scheiben  in 
einem  regelmässigen  Takt,  bei  dem  immer  auf  einen  leisen  ein 
lauter  Schlag  folgt,  an  einander.  Wann  dies  eine  Zeitlang  ge- 
währt hat  ordnen  sich  alle  in  Einer  Reihe  hintereinander;  der 
vorderste  tanzt  allein,  und  geht,  indem  er  ein  Rad  nach  dem 
andern  schlägt,  den  hintersten  Platz  einzunehmen;  dasselbe  machen 
ihm  alle  1)  nach.  Nachdem  darauf  wieder  alle  zusammen  tanzen, 
folgt  die  Schlussscene.  Zwei  treten  heran,  und  heben  den  kleinsten 
von  allen  auf  ihren  ausgestreckten  ^j  und  dicht  zusammen  gehalt- 
nen  Händen  so  in  die  Höhe,  dass  er  der  Länge  nach  auf  ihren 
äussersten  Fingerspitzen  ruht.^)  Indem  er  nun  still  da  liegt,  und 
nur  mit  den  Füssen  nach  dem  Takt  zittert,  tanzen  die  andern  um 
ihn  herum. 


')  Nach  „alle"  gestrichen:  „nach  einander". 
^)  Nach  „ausgestreckten"  gestrichen:  „Armen". 
^)  „ruht"  verbessert  aus  „liegt''. 


136 


Die  Vasken. 


So  verunstaltet  der  Tanz  dieser  kleinen  Kureten  auch  jetzt 
ist,  so  blickt  daraus  doch  noch  die  Darstellung  einer  kriegerischen 
Scene  hervor,  es  sey  nun  dass  das  Ende  die  Bestattung  eines 
Gefallenen,  oder  das  Emporheben  des  Siegers  bedeuten  solle. 
Vielleicht  also  gehörte  er  damals  zu  dem  jetzt  noch  mehr  aus- 
gearteten Degentanz.  Wenigstens  ist  es  nicht  ungewöhnlich  Spiele 
und  Feierlichkeiten  des  Heidenthums  in  das  Christenthum  über- 
gehen zu  sehen,  und  wie  die  vaterländischen  Vornamen  in  Biscaya 
den  christlichen  Heiligen  gewichen  sind,  so  sind  auch  vielleicht 
diese  ehemals  kriegerischen  Tänze  nun  zu  kirchlichen  (]ärimonien 
geworden,  oder  wenigstens  mit  ihnen  in  Verbindung  getreten. 

Darauf,  dass  es  nicht  in  Biscaya  eigentlich  volksmässig  ist, 
dass  Dinge,  die  anderwärts  (wie  Tanz  und  Vergnügungen)  der 
Privatneigung  eines  jeden  überlassen  bleiben,  dort  gewissermassen 
Theile  der  Verfassung  werden,  unter  öffentlicher  Aufsicht  stehen, 
und  eine  feste  durch  das  Herkommen  überlieferte,  acht  vaterlän- 
dische, und  noch  dazu  nach  dem  Geburtsort  eines  jeden  ver- 
schiedene Form  haben,  beruhet  offenbar  grossentheils  das,  was 
man  am  Charakter  des  Biscayers,  vorzugsweise  vor  andern  Na- 
tionen, rühmt.  Es  befestigt  die  Bande,  die  ihn  an  sein  Land  und 
seine  Mitbürger  knüpfen,  und  im  wohlthätigen  Einfluss  auf  die 
Stärke  und  die  biedre  Rechtlichkeit  des  Charakters  kann  nichts 
die  Festigkeit  dieser  Bande  ersetzen.  Selbst  die  höchste  Cultur^) 
tritt  nur  unvollkommen  an  ihre  Stelle  und  kann  an  sich  auch  nie 
auf  alle  Glieder  einer  Nation  übergehen,  da  hingegen  Vaterlands- 
liebe und  Nationalehrgeiz  im  Bettler  und  in  den  Ersten  des  Volks 
nur  verschiedene  Gestalten  annehmen.  Zwar  ist  es  natürlich,  dass, 
mit  dem  zunehmenden  Verkehr  mit  dem  Auslande,  diese  Einrich- 
tungen immer  mehr  in  Vergessenheit  gerathen;  es  ist  indess  zu 
bedauren,  dass  die  Obrigkeit^)  selbst  nicht  mehr  über  ihrer  Er- 
haltung wacht.  Allein  immerfort  schläft  eine  öffentliche  Sitte  nach 
der  andern  ein. 

So  gab  es  ehemals  eine  jetzt  abgekommene  für  die  Unbe- 
scholtenheit ^)  der  Sitten  sehr  wohlthätige  Feierlichkeit  in  Durango 
am  Tage  der  Heiligen  Maria  de  Ulibarri  *)  und  der  Heiligen  Anna. 
Man  pflegt  an  diesen  Tagen  Geschenke   (meistentheils  ein  kleines 

*)  Neustadt,    Ulia  für   Uria,  Stadt,  und  barri  oder  berri,  neu. 

^)  „Lidtur"  verbessert  aus  „Aiisbild[iing]". 

*)  „ObrigkeiV  verbessert  aus  „Regierung" . 

*)  „Unbescholtenheit"  verbessert  aus  „ReinheiV. 


Durango. 


137 


Stück  Geld,  oft  nur  ein  Ochavo)  in  den  Kirchen  darzubringen. 
Männer  und  Frauen  thaten  dies  ohne  weitere  Caerimonie.  Allein 
die  unverheiratheten  Mädchen  versammelten  sich  in  ihrem  Sonn- 
tagsstaat strassenweis.  Jede  Strasse  wurde  von  der  ältesten  an- 
geführt, und  zog  den  Tamborilero  an  ihrer  Spitze  zur  Kirchthür. 
Dort  wurde  der  Zug  von  zwei  Geistlichen  teieriich  empfangen, 
und  unter  dem  Spiele  des  Tamborils  und  der  Pfeife  in  die  Kirche 
geführt,  auch  hernach  eben  so  wieder  hinaus  begleitet.  Da  es 
das  unterscheidende  Merkmal  der  VolksTracht  der  Mädchen  und 
der  verheiratheten  Frauen  ist,  dass  die  ersteren  in  blossem  Haar, 
die  letzteren  mit  Mützen  gehen,  so  erschienen  alle  Mädchen  bei 
diesem  Aufzug  in  blossem  Kopf,  und  gingen  auch  so  in  die 
Kirche,  was  sonst  durchaus  ungewöhnlich  ist,  so  dass  selbst  die 
Aldeana  (Bäuerin),  wenn  sie  über  Feld  zur  Stadt  nach  der  Kirche 
geht,  immer  ein  zusammengelegtes  weisses  Tuch  auf  dem  Kopf 
trägt  das  ihr  in  der  Kirche  zum  Schleier  dienen  soll,  und  dass 
durch  ganz  Spanien  eine  Fremde,  die  ohne  Schleier  in  eine  Kirche 
träte,  sogleich  herausgewiesen  wird.  Hatte  nun  ein  Mädchen  des 
Orts  das  Unglück  gehabt  Mutter  zu  werden,  und  dadurch  das 
Recht  in  blossen  Haaren  zu  gehn  verloren;  so  litten  die  übrigen 
sie  nicht  mehr  in  ihrem  Zuge,  und  weil  sie  streng  darüber 
wachten ,  und  niemand  sich ,  unter  welchem  Vorwand  es  seyn 
mochte,  von  der  Feierlichkeit  ausschliessen  durfte,  so  wurde  die- 
selbe dadurch  zu  einer  eigentlichen  Sittenmusterung.  Jetzt  wird 
auch  der  Unterschied  in  der  Tracht  häufig  vernachlässigt.  Ueber- 
haupt  aber  bleibt  es  merkwürdig,  dass  Ausschweifungen  unver- 
heiratheter  Personen,  wenn  sie  auch  nicht  häufig  sind,  doch  in 
Biscaya  wohl  öfter  als  in  Castilien  vorfallen,  eheliche  Untreue  aber 
im  Volk  fast  niemals  angetroffen  wird.  Auch  finden  gefallene 
Mädchen  ohne  Schwierigkeit,  ja  manchmal  leichter,  als  andre, 
einen  Mann. 

An  demselben  Tage  der  Heiligen  Anna,  und  an  dem  von 
Santiago  geschah  auch  ehemals  ein  regelmässiger  Umgang  der 
ganzen  Obrigkeit  durch  alle  Strassen,  bei  dem  sich  jeder  Bürger 
mit  seinem  Gewehr  in  der  Hausthür  zeigen  musste.  Auch  dies 
ist  sehr  in  ^>rgessenheit  gekommen.  Doch  sind  noch  jetzt  alle 
Biscayer  verbunden,  sich  bei  einem  feindlichen  Angriff  verbunden 
in  Masse  zu  stellen;  nur  hat  man  im  letzten  Kriege  gesehen,  wie 
wenig  eine  so  zusammengebrachte  Mannschaft  gebraucht  werden 
kann,   und   wenn   es   in   irgend   einem  Punkt   gut  wäre,   dass  die 


138 


Die  Vasken. 


Biscayer  gegen  die  Regierung  von  ihren  Freiheiten  und  Rechten 
etwas  nachliessen,  so  wäre  es  in  Einführung  einer  ordentlichen 
und  regelmässigen  Truppenwerbung. 

Der  Flecken  Durango,  der  jetzt  nur  etwa  fünftehalbhundert 
Familien  zählt,  war  ehemals  ein  durch  seine  Degenfabriken  wohl- 
habender und  angesehener  Ort.  Davon  zeugen  die  Unruhen, 
welche  mehreremale  in  vorigen  Zeiten  bei  der  Alcaldenwahl  vor- 
gingen, und  die  oft,  da  der  Partheigeist  den  höchsten  Grad  er- 
reichte, einen  blutigen  Ausgang  nahmen.  Um  dies  ferner  zu  ver- 
hüten, hat  man  die  Wahl  mit  einer  Menge  von  Umschweifen  und 
Gärimonien  umgeben,  und  lässt  sie  durch  so  viele  verschiedene 
Hände  gehen,  dass  die  Verfassung  der  kleinen  Republik  Durango 
zu  den  verwickeltesten  gehört,  die  ich  kenne.  Doch  bringt  die 
Alcaldenwürde  nichts  ein  und  dauert  nur  ein  Jahr.  Man  kann 
daher  hier,  wie  bei  Ariosts  Rittern  sagen: 

Nicht  Schätze  zu  besitzen  gilt  es  hier,  noch  Land. 
Sie  streiten  nur,  wer  Durindanen  soll  entsagen, 
wen  Bajard  durchs  Gewühl  der  Schlachten  tragen.^) 

Die  Versorgung  der  Stadt  mit  Brod,  Wein,  Fleisch,  Oel  u.  s.  f. 
ist  in  den  Händen  von  5  Regidoren,  und  das  Volk  hat  eine  be- 
sondre Sorge  getragen,  dass  sie  ihr  Amt  gehörig  verwalten.  Denn 
es  werden  nicht  nur  ihnen  wieder  zwei  Aufseher  gesetzt,  sondern 
auch  ein  dritter  der  wieder  diese  beiden  controlliren  muss.  Auch 
wählt  das  Volk  diese  drei  Magistratspersonen,  die  sein  nächstes 
Interesse  betreffen,  unmittelbarer,  und  nur  durch  die  Vermittlung 
von  25  von  ihm  selbst  ernannten  Wählern.  Die  Versorgung  ge- 
schieht übrigens,  wie  fast  durch  ganz  Spanien,  durch  Abastos,  d.  h. 
durch  Personen  die  es  übernehmen,  das  Erforderliche  in  gehöriger 
Güte  für  einen  festgesetzten  Preis  zu  liefern,  und  das  Recht  dazu 
in  einer  öffentlichen  Versteigerung  durch  das  niedrigste  Gebot 
erlangen.  Doch  kann  jeder  Bürger  auch  seinen  Bedarf,  wo  er 
will,  einkaufen,  und  selbst  der  Verkauf  des  Landwirths  ist  frei; 
nur  findet  der  letztere  freilich  nicht  leicht  andere  Käufer. 


*)  Am  Rande  steht  noch  folgende  gestrichene  Fassung  der  Verse. 
„Nicht  Schätze  gilt  der  Kampf;  nur  dass 
der  minder  Tapfre  Durindanen  soll  entsagen, 
den  Sieger  Bajards  stolzer  Rücken  tragen.^' 
—  Die  Stelle  findet  sich  im  Orlando  furioso  jj,  ']8,  6. 


Bilbao. 


Bilbao. 


139 


Der  Weg  von  Durango  dahin  besitzt  alle  Naturreize,  die 
diesem  Lande  eigenthümlich  sind ;  er  ist  abwechselnd  und  gebirgig, 
allein  weniger  rauh,  als  der  zwischen  Marquina  und  Beriatua  dem 
er  indess  auch  an  mahlerischer  Schönheit  weichen  muss.  Ohne 
bei  den  einzelnen  Stellen  zu  verweilen,  bemerke  ich  nur,  dass 
man,  um  die  Schönheit  der  Gegend  ganz  zu  geniessen,  bei  Zor- 
noza  von  der  gewöhnlichen  Strasse  abweichen,  und  bei  der  Eisen- 
hütte von  Astapa  vorbei  über  Lemona  gehen  muss.  Die  Schön- 
heit dieses  Weges,  auf  dem  man  fast  ununterbrochen  an  den  Ufern 
eines  klaren,  aber  von  reizenden  Gebüschen  dunkelbeschatteten 
Baches  hinreitet,  ist  eine  mehr  als  hinreichende  Entschädigung 
für  den  kleinen  Umweg,  den  man  macht.  Von  einem  Berge, 
nicht  weit  von  Bilbao,  schaut  man  in  ein  neues  Land.  Die  Stadt 
liegt  von  schönbekränzten  Bergen  und  Hügeln  eingeschlossen  da, 
und  ihre  weissen  freundlichen  Häuser  schimmern  durch  das  Grün 
der  Bäume.  Hinter  ihr  übersieht  man  fast  den  ganzen  Weg  bis 
zum  Meer,  und  der  schöne  Pico  de  Zarantes,  auf  dessen  regel- 
mässiger PyramidenGestalt  das  Auge  so  gern  ruht,  und  den  man 
hernach  immer  im  Gesichte  behält,  erscheint  hier  zuerst. 

Obgleich  Bilbao  bei  weitem  die  ansehnlichste  und  blühendste, 
in  vieler  Rücksicht  auch  die  reizendste  Stadt  Biscayas  ist,  so  werde 
ich  doch  nur  wenige  Worte  von  ihr  zu  sagen  haben.  Denn  theils 
haben  andre  Reisebeschreiber  schon  ausführlicher  von  ihr  geredet, 
theils  ist  sie  in  Absicht  meines  Endzwecks  gerade  die  unmerk- 
würdigste von  allen.  Denn  der  beständige  Verkehr  mit  Fremden 
hat  die  vaterländischen  Sitten  verdrängt,  die  man  nur  auf  dem 
Lande  und  im  Gebirge  aufsuchen  darf,  und  selbst  die  Sprache  ist 
in  hohem  Grade  unrein,  und  mit  Castilianischem  vermischt. 

Die  reizenden  Ufer  des  Ibaizabal,*)  die  mit  ihren  mahlerisch 
bewachsnen  Hügeln  dem  schönsten  und  mannigfaltigsten  Eng- 
lischen Garten  gleichen,  wird  man  lieber  selbst  besuchen  als  be- 
schrieben lesen,  und  wer  auch  nur  einige  Tage  hier  bleibt,  wird 
gern  die  Höhen  von  Altaniera  besuchen,  um  von  da  auf  einmal 
die  reizendste  Landschaft,  das  fernschimmernde  Meer,  und  den 
Zarantes  mit  den  andern  gleich  pyramidenförmigen  ihn  umgeben- 

*)  Ibaya,  Fluss,  zabala,  breit.  Er  führt  diesen  Namen  erst  nach  seiner  Ver- 
einigung mit  dem  Nervion. 


j^Q  Die  Vasken. 

den  Bergspitzen  zu  übersehen;  oder  sich  in  das  Thal  an  der 
gegenüber  liegenden  Seite  des  Flusses  versenken  und  seinem 
schnell  rollenden  Strom  bis  an  den  rauschenden  Sturz  über  das 
Wehr  der  neuen  Bäckerei  {Panaderia)  entgegengehn,  und  auf  dem 
Rückwege  nicht  das  schöne  Eichengehölz  vor  der  Kirche  des 
wunderthätigen  Marienbildes  in  Begona  vergessen.  Schon  vom 
Arenal,  dem  Spatzierplatz  der  Stadt  am  Fluss,  der  mit  schattigen 
Lindenalleen  bepflanzt  ist,  geniesst  man  einer  reizenden  ländlichen 
Aussicht  auf  die  gegenüber  liegenden  Ufer  des  Flusses. 

Wenn  man  auch  in  Bilbao  nicht  unmittelbar  Biscayische 
Sitten  gewahr  wird,  so  empfindet  man  doch  vielleicht  in  keiner 
Stadt  so  sehr  die  wohlthätigen  Folgen  des  Biscayischen  National- 
geistes. Denn  nur  in  äusserst  wenigen  Städten  Spaniens  wird 
man  so  viele,  nützliche  und  kostbare  auf  das  Gemeinwohl  be- 
rechnete Anstalten  antreffen,  und  in  wenigen  wird  der  Reisende 
so  viele  von  aufgeklärtem  patriotischem  Verbesserungsgeiste  be- 
seelte Männer  finden.  In  Absicht  der  Reinlichkeit  und  Schönheit 
des  Pflasters  lässt  sich  in  Spanien  nur  Cadiz  mit  Bilbao  ver- 
gleichen. Die  Veranstaltung,  die  Stadt  beständjg  mit  gutem 
Wasser  zu  versorgen,  verdient  eigen  bemerkt  zu  werden.  Ein 
grosser  Behälter  bei  S.  Juan  el  antiguo  dient  zugleich  alle  nicht 
zum  Trinken  bestimmte  Brunnen  in  der  Stadt,  deren  mehrere 
beständig  fliessen,  zu  versorgen,  alle  unterirrdische  Canäle  zu  rei- 
nigen, und  alle  Strassen  im  Sommer  zu  Dämpfung  des  Staubes 
zu  bewässern.  Das  Trinkwasser  wird  aus  einer  beträchtlichen 
Entfernung  von  den  Bergen  an  der  andern  Seite  des  Flusses  in 
eisernen  Röhren  in  die  Stadt  geleitet,  die  unweit  der  Panaderia 
durch  den  Fluss  selbst  durchgehen.  Von  öffentlichen  Anstalten 
verdienen  die  Casa  de  Misericordia  und  das  Hospital  Erwähnung. 
In  der  ersteren  wurden,  als  ich  dort  war,  etwa  90  Männer  und 
Weiber  unterhalten,  von  denen  die,  welche  noch  Kräfte  genug 
hatten,  zum  Vortheil  des  Hauses  arbeiteten.  Die  Männer  machen 
Leinwand  und  Band,  auch  eine  Art  Fayence ;  die  Weiber  spinnen. 
Junge  Bursche  werden  auch  durch  das  Haus  zu  allerlei  Hand- 
werkern, nach  eigner  Wahl,  in  die  Lehre  gegeben.  Da  das  Haus 
einen  Theil  seiner  Einkünfte  aus  einer  Abgabe  zieht,  welche  jedes 
einkommende  Schiff  bezahlen  muss,  so  hatte  es,  während  des 
Krieges,  sehr  gelitten.  Man  versuchte  gerade,  als  ich  da  war, 
Rumfordsche  Suppen  zur  Beköstigung  der  Armen  einzuführen. 
Das  Gebäude  ist  das  ehemalige  JesuiterCollegium.     Das    Hospital 


Bilbao.  lAl 

schien  sich  mir  durch  seine  Reinlichkeit  sehr  vortheilhaft  auszu- 
zeichnen. Andre  öffenüiche  Gebäude  sind  die  Fleischbank  (Car- 
7iiccria)\  das  Schlachthaus  {el  Matadcro)^  das  in  der  That  für  ein 
Muster  von  Gebäuden  dieser  Art  sowohl  zur  Erhaltung  der  Rein- 
lichkeit, als  zu  Abwendung  aller  möglichen  Gefahr,  angesehen 
werden  kann;  die  Kornhalle  im  ehemaligen  Theater;  das  Rathhaus 
und  das  sogenannte  Consulat;  das  neugebaute  Theater,  das  etwa 
900 — [000  Menschen  fasst,  und  das  vor  der  Stadt  gelegene  allge- 
meine Mehl-  und  Backhaus.  Denn  da  die  Stadt  mehreremale 
durch  Theurungen  beträchtlich  gelitten  hatte,  so  entschloss  sie  sich, 
auf  ihre  Kosten  Brod  backen  ^)  zu  lassen ,  ohne  doch  darum 
übrigens  die  -)  Freiheit  des  Korn-  und  Brodverkaufs  zu  be- 
schränken. Allein  das  Haus  ist  zu  kostbar  und  gross  angelegt. 
Denn  da  ausser  demselben  der  Handel  mit  Mehl  und  Brod  fort- 
geht, so  wurden  zur  Zeit  meines  Daseyns  nur  etwa  5000  Pfund 
täglich  gebacken. 

Von  der  Volksmenge  in  Bilbao  konnte  ich  keine  spätere  ge- 
naue Notiz  bekommen,  als  vom  Jahr  1797.  Nach  dieser,  die  ich 
aus  den  Stadtarchiven  entnahm,  betrug  dieselbe  10953  Menschen, 
welche  781  Häuser  bewohnten.  Unter  diesen  waren  4684  Männer, 
und  6269  Frauen;  nemlich  2365  unverheirathete  Männer  und  3352 
unverheirathete  Mädchen;  1923.  verheirathete  Männer  und  1940 
Frauen;  194  Wittwer  und  777  Wittwen.  Mönche  fanden  sich  39, 
Nonnen  61,  geistliche  Personen  (zu  denen  aber  viele  gerechnet 
werden,  die  nur  bei  den  Kirchen  angestellt  sind  und  heirathen 
können)  132.  Da  diese  Bevölkerung  im  \'erhältniss  mit  der  Menge 
der  Lebensmittel,  welche  die  umliegende  Gegend  hervorbringt, 
sehr  gross  ist;  so  darf  niemand,  weder  ein  Maulthiertreiber,  noch 
ein  Fuhrmann,  Waaren  zu  Lande  von  Bilbao  holen,  ohne  nicht 
dagegen  auch  wieder  zu  gleicher  Zeit  der  Stadt  Produkte  zu- 
zuführen. 

In  einer  dicht  bei  Bilbao  gelegenen  Ante-Iglesia  sah  ich  eine 
sogenannte  Romeria  oder  Dorffest,  wozu  ich  bisher  noch  keine 
Gelegenheit  gehabt  hatte.  Der  Tanzplatz  war  vor  dem  Gemeinde- 
hause, das  der  Kirche  gegenüber  stand.  An  einer  Ecke  desselben 
sass  auf  einem  roth  sammtenen,  mit  dem  in  Silber  gestickten 
Wappen   gezierten  Canape  der  Fiel  (Richter,   Schöppe)    des  Orts 


^)  Nach  „backen"  gestrichen:  „und  kaufen". 
*)  Nach  „die"  gestrichen:  „natürliche". 


jj^o  r^is  Vasken. 

mit  einem  langen  Stabe,  mit  dem  er  selbst  sich  etwa  vor- 
drängende Knaben  zurückwies.  Vor  ihm  waren  zwei  Piken  in 
die  Erde  gesteckt  und  aus  den  Fenstern  der  Kirche  hiengen  zwei 
roth  und  weisse  Fahnen  heraus.  Eine  unglaubliche  Menge  von 
Menschen  war  aus  Bilbao  herbeigeströmt  und  das  angenehmste 
Schauspiel  war,  diese  unter  den  schattigen  Bäumen,  in  den  mannig- 
faltigsten Gruppen,  theils  gelagert,  theils  herumgehend,  theils  tan- 
zend zu  erbhcken.  Erfrischungen,  Garküchen,  Spiele  allerlei  Art; 
nichts  fehlte,  selbst  ein  Guckkasten  mit  der  Geschichte  des  ver- 
lohrenen  Sohns  nicht.  Frauen  und  Männer  giengen  meistentheils 
gesondert,  die  Frauen  fast  alle  in  der  Basquiha  und  Mamille,  und 
die  aus  dem  Volk  mit  ihren  nichts  weniger,  als  reizenden,  un- 
geheuer dicken  schwarzen  Haarflechten,  die  ihnen  oft  bis  über 
die  Hüften  hinab  reichen.  Der  T^nz  war,  wie  gewöhnlich;  aber 
die  Fröhlichkeit  allgemein  und  ausgelassen.  Die  Dauer  dieser 
Lustbarkeiten  bestimmt  der  Fiel  nach  seinem  Gefallen,  meisten- 
theils lässt  er  sie  nicht  über   8,  8V2  Uhr  Abends   hinaus   währen. 

Die  Häuser  in  Bilbao  sind  nicht  so  gross  und  prachtvoll  ge- 
baut, als  in  andern  noch  ansehnlicheren  Handelsstädten  Spaniens ; 
doch  machen  einige,  deren  unteres  Stockwerk  ganz  von  Marmor 
ausgeführt  ist,  hiervon  eine  Ausnahme.  Wunderbar  sieht  der 
Marktplatz  {la  plaza)  aus.  Er  liegt  am  Fluss  und  gewinnt  vor- 
züglich durch  die  gothisch  gebaute  Kirche  und  das  mit  Vergol- 
dungen überladene  Rathhaus  ein  sonderbares  Ansehn.  Von  dem- 
selben aus  führen  zwei  Brücken  über  den  Fluss,  eine  steinerne 
an  der  Kirche,  und  eine  hölzerne  mit  einem  sehr  kühnen  Bogen, 
die  an  der  Stelle  einer  steinernen  welche  in  einer  Ueberschwem- 
mung  weggerissen  wurde,  gebaut  ^)  ist.  Sie  führt  zu  einem  mit 
Bäumen  umwachsnen  Kloster,  und  gleich  an  der  andern  Seite  des 
Flusses  erhebt  sich  ein  grosser,  lieblich  geformter  Berg. 

Wann  Stiergefechte  gehalten  werden,  geschieht  es  auf  diesem 
Platz,  und  dann  lagert  sich  ein  grosser  Theil  des  Volks  auf  jenen 
Berg,  wie  auf  ein  grosses  Amphitheater.  Gewöhnlich  hält  man 
indess  nur  sogenannte  novüladas,  bei  denen  der  Stier  nicht  um- 
kommt ;  die  wahren  Stiergefechte  sind  zu  theuer.  Bei  den  letzten 
die  man  1799.  gab,  kostete  die  Anschaffung  von  36  Stieren  (die 
in  3  Tagen  getödtet  wurden)  zu  5  Unzen  (115.  Thaler)  jeder 
57600   reale   (4168.    Thaler),    die   Errichtung    des    Amphitheaters 


„gebaut^'  verbessert  aus  „aufgeführt'' 


Bilbao. 


143 


30000  reale  (2170  Thaler)  und  der  Torero  (Stierkämpfer)  Romero, 
welcher  dazu  von  Madrid  verschrieben  wurde,  bekam  mit  seinen 
8  bis  9  Leuten  allein  90000  reale  (6512  Thaler).  So  kam  die 
ganze  Ausgabe  auf  ungefähr  13000  Thaler  zu  stehen.  Dieser 
Romero,  dessen  äusserst  charakteristisches  Bild  von  Goya  ich 
mich  in  Madrid  gesehn  zu  haben  erinnere,  soll  bloss  aus  seinen 
nach  und  nach  von  seinem  Erwerbe  gekauften  Grundstücken 
60 — 'joooo  Reale  (4.^00 — 5000  Thaler)  jährlicher  Einkünfte  besitzen; 
jetzt  da  Pepeillo  umgekommen  ist,  bleibt  er  unstreitig  allein  von 
berühmten  Stierfechtern  übrig. 

Der  Tod  Pepeillo's  wurde  gerade,  als  ich  dort  war,  in  Bilbao 
bekannt.  Er  starb  in  Madrid  auf  dem  Kampfplatz  in  seinem 
Beruf,  und  erhielt  auch  im  Tode  seinen  Ruhm.  Denn  indem  ihm 
der  Stier  sein  Hörn  so  durch  den  Leib  bohrte,  dass  es  bei  der 
Schulter  hinten  wieder  hervor  kam,  versetzte  auch  er  ihm  den 
tödtlichen  Streich,  und  beide  sanken  zugleich  nieder.  Das  Spiel 
ging,  wie  gewöhnlich  fort,  aber  der  Gefallene  wurde  mit  vieler 
Pracht  zur  Erde  bestattet.  Vor  ihm  war  auf  ähnliche  Weise  Can- 
dido  umgekommen,  der  berühmteste  aller  Toreros  und  der,  nach 
Pepeillos  eignem  Geständniss,  der  Kunst  des  Stierfechtens  zuerst 
Sicherheit  und  Schönheit  gab.  Er  glitt  auf  einer  Melonenschale 
aus,  die  ein  Zuschauer  auf  den  Platz  geworfen  hatte,  und  wurde 
vom  Stier  getödtet,  ohne  sich  an  ihm  rächen  zu  können. 

Pepeillo,  eigentlich  Joseph  Delgado"")  genannt,  ist  wohl  der 
einzige,  welcher  über  die  Tauromachie  oder  das  Stierfechten  ge- 
schrieben, und  diese  Kunst  in  ein  förmliches  System  gebracht 
hat.  Da  seine  kleine  in  Cadiz  erschienene  ^)  Schrift**)  vermuthlich 
in  Deutschland  kaum  nur  dem  Namen  nach  bekannt-}  ist,  und 
sie  doch  in  mehr  als  Einer  Rücksicht  merkwürdig  bleibt,  so  sey 
es  mir  erlaubt,  wenn  es  auch  gleich  hier  nicht  unmittelbar  der 
Ort  scheint,  einige  Augenblicke   dabei  zu  verweilen,   und   meinen 


*)  Pepe    ist    die    bekannte    Spanische    Abkürzung    von   Joseph ,    und    Illo   ist    ein 
Beiname. 

**)  La  Tauromaquia  0  arte  de  torear.  Obra  utilissima  para  los  toreros  de 
profesion,  para  los  aficionados,  y  toda  dase  de  sayetos  qiie  gustan  de  Toros. 
Sil  aiitor  Josef  Delgado  (alias)  Illo.  Con  licencia.  En  Cadiz.  Por  D.  Manuel 
Ximenes  Carreno.     Calle  aucha.  ano  de  i'jgö.  4.  58.  S. 

^)  „erschienene"  verbessert  aus  „gedruckte". 

*)  „in  —  bekannt  verbessert  aus  „nur  in  den  Händen  Weniger  im  Auslände'^ 


TAA  Die  Vasken. 

Lesern  einen  kurzen  Begriff  von  ihr  und   der  Kunst  von  der  sie 
handelt,  zu  geben. 

Nach  dem  Titelblatt  ist  er  selbst  vorgestellt,  wie  er  den  Degen 
in  der  Hand  hält,  und  der  eben  getödtete  Stier  zu  seinen  Füssen 
liegt,  mit  der  Unterschrift:  der  Sevillanische  Fechter  (el  diestro 
Sevülanö). 

In  der  Vorrede  des  Werkchens,  das  er  zugleich  für  die  Leute 
vom  Handwerk,  die  Dilettanten,  und  alle,  die  an  Stieren  Geschmack 
finden,  bestimmt,  verbreitet  er  sich  über  die  Nützlichkeit  und 
Nothwendigkeit  seines  Unternehmens.  „In  einem  Zeitalter,"  schreibt 
er,  „das  so  erleuchtet  ^)  ist,  dass  selbst  die  Castanuelen  ihren  Schrift- 
steller finden,  hat  niemand  über  die  Kunst  des  Stierfechtens  ge- 
schrieben, und  schon  dies  hat  mich  angefeuert,  dass  ich  der  erste 
bin,  der  seine  tauromathischen  Gedanken  {siis  pensaviienios y 
ideas  Tauromaticas)  ans  Licht  giebt.  Vielleicht  schwieg  man  aber  nur 
von  dieser  Kunst,  weil  sich  von  ihr  nur  aus  Erfahrung,  nicht  auf 
blosse  Speculation  hin  {por  la  especulatioii)  reden  lässt..  Ich,  fährt 
er  weiter  fort,  kann,  Gott  sey  es  gedankt!  die  Füsse  etwas  fester 
aufsetzen,  und  mich,  es  sey  nun  wie  es  sey,  für  einen  Meister 
ausgeben."  Er  nennt  sein  Werk  nützlich,  weil  die  Liebe  zum 
Stierfechten  allgemein  sey;  weil  sie  die  Spanische  Nation  vor  allen 
andern  auszeichne,  und  ihre  erlauchtesten  und  berühmtesten  Arme 
sich  darin  hervorgethan -)  hätten;  endlich  weil  der  Zusammenfluss 
einer  Menge  schöner  und  angenehmer  Gegenstände  und  der  An- 
blick der  Gefahr  und  der  Glücksfälle  die  Stiergefechte  für  alle  zu 
einem  reizenden  Schauspiel  machten. 

Jeden  dieser  drei  Punkte  führt  er  einzeln  aus.  Vornehme  und 
geringe  Frauen,  sagt  er,  sprechen  von  unsern  Gefechten,  und 
fehlen  nie  in  unsern  Plätzen,  Cirquen,  und  Amphitheatern.  Eine 
schlechte  Kuh,  die  man  am  Strick  durch  die  Stadt  führt,  macht, 
dass  jeder  seine  Beschäftigungen  verlässt,  und  ihr  nachläuft,  sie 
zu  sehn  oder  zu  necken.  Kurz  ^)  man  kann  behaupten,  dass  der 
Geschmack  an  *)  den  Stieren  dem  Menschen  angebohren  ist,  vor- 
züglich (wenigstens,  hätte  er  sagen  sollen)  in  Spanien. 

Darauf  geht  er  die  Geschichte  durch  und  versichert  die  Kunst 
des  Stierfechtens   blühe   so   lange   in  Spanien,   als   es  Stiere  darin 


^)  „erleuchtet"  verbessert  aus  „ausgebildet". 

^)  „hervorgethan"  verbessert  aus  „tapfer  bewiesen". 

*)  Nach  „Kurz"  gestrichen:  „so  beschliesst  er  diesen  Punkt". 

*)  „der  Geschjnack  an'^  verbessert  aus  „die  Liebe  zu". 


Bilbao. 


145 


gebe.  Unter  den  Helden,  die  sich  darin  hen^orgethan,  steht  bei 
ihm  der  Nationalheld  Spaniens  der  Cid  Campeador  an  der  Spitze 
und  auf  ihn  folgen  Carl  5.,  Philipp  4.,  Sebastian  von  Portugall, 
Pizarro,  der  Entdecker  Perus,  und  andre  mehr.  Noch  jetzt,  sagt 
er,  gehört  es  zu  den  edlen  Ritterübungen,  zu  Pferde  oder  zu  Fuss 
mit  Stieren  kämpfen  zu  können. 

Heutiges  Tages  dürfte  dies  wohl  nicht  mehr  ganz  wahr  seyn. 
Doch  erinnere  ich  mich  einen  nicht  alten  vornehmen  Mann  in 
Spanien  gekannt  zu  haben,  der  als  Student  bei  einem  Stiergefechte 
in  Salamanca  einen  Stier  erlegt  hatte.  Was  die  älteren  Zeiten 
betrift,  so  besinne  ich  mich  nicht,  weder  in  den  Romanzen  des 
Cid,  noch  in  den  Maurischen,  noch  in  den  Gedichten  des  Can- 
cionero  general^^)  in  dem  einige  gerade  alle  Stücke,  die  zu  einem 
vollkommenen  Ritter  gehören,  aus  einander  setzen,  der  Stier- 
gefechte erwähnt  gefunden  zu  haben.  Auch  konnten  sie,  solange 
die  Turniere  dauerten,  schwerlich  in  grossem  Ansehen  stehn. 

Auch  die  Einwürfe  gegen  die  Stiergefechte  übergeht  er  nicht, 
besonders  lächedich  findet  er  es,  sie  darum  verdammen  zu  wollen, 
weil  hie  und  da  ein  Fechter  dabei  das  Leben  verliere.  Mit  mehre- 
ren andern  körperlichen  Uebungen  sey  Gefahr  verbunden,  und 
grössere ;  höchstens  werde  jedesmal  ^)  am  Ende  eines  Jahres  ein 
Mensch  in  Stiergefechten  umgekommen  oder  verwundet  wor- 
den seyn, 

Zuletzt  geht  er  kurz  die  Geschichte  seiner  Kunst  durch.  Im 
Anfange  des  18.  Jahrhunderts  sey  das  Fechten  zu  Fuss  noch  sehr 
unvollkommen  bekannt  gewesen.  Joseph  Candido  habe  zuerst 
die  verschiedenen  Arten  des  Angriffs  und  das  Verhalten  dabei 
richtiger  bestimmt,  und  seine  Grundsätze  seyen  hernach  von 
Joachim  Rodriguez,  auch  Costillares  genannt,  Pedro  Romero, 
Johann  Conde  und  ihn  selbst  mehr  ausgebildet  und  erweitert 
worden.  Jetzt  habe  die  Kunst  ihren  höchsten  Gipfel  erreicht,  und 
es  fehle  nichts,  als  nur  ihre  Regeln  bekannt  zu  machen,  um  auch 
die  Zuschauer  in  Stand  zu  setzen,  besser  mit  denselben  bekannt, 
ein  richtigeres  Urtheil  über  das  Verdienst  der  Kämpfer  zu  fällen. 

In  der  kleinen  Theorie  selbst,  die  es  nicht  uninteressant  ist,  flüch- 
tig zu  durchlaufen,  handelt  der  Verfasser  ^)  besonders  den  Kampf  zu 
Fuss  und  zu  Pferde  ab.     In  dem  ersteren,  den  er   allein  ausübte, 

*)   Der  Ende  des  /j.  Jahrhunderts  zuerst  gedruckten   Volksliedersammlung. 
*)  Jedesmal"  verbessert  aus  „in  einer  Stadt". 
^)  „der  Verfasser"  verbessert  aus  „Pep[eillo]". 

\V.  V.  Humboldt,  Werke.    Xm.  lO 


146 


Die  Vasken. 


ist  er  ganz  zu  Hause,  zählt  die  einzelnen  Fälle  auf,*)  und  führt 
zuletzt  alle  '^)  methodisch  auf  einfache  Grundsätze  zurück.  Alles 
kommt  nemlich  nur  darauf  an,  dass  der  Stier  gerade,  und  ohne 
abzuweichen,  auf  den  Mantel  zulaufe,  den  ihm  der  Kämpfer  vor- 
hält, und  dass  er  vor  demselben,  in  der  Absicht  einen  Stoss  zu 
vollführen,  den  Kopf  bücke,  um  den  Todesstreich  im  Genick  zu 
empfangen.  Die  Gefahren  entstehen,  v^ann  der  Stier  entweder 
aus  Furcht  unsicher  hin  und  her  läuft,  oder  müde,  ehe  er  den 
Mantel  erreicht,  stehn  bleibt,  und  den  Kämpfer  ungewiss  macht, 
oder  den  Betrug  merkt,  und  sich  statt  auf  den  Mantel  zu  achten 
auf  den  Kämpfer  selbst  wirft,  oder  gar,  der  gefährlichste  Fall, 
indem  er  dies  thut,  den  Kopf  hebt,  und  den  Kämpfer  entwafnet, 
indem  er  ihm  das  Genick  entzieht.  Alle  diese  Fälle  werden  be- 
sonders durchgegangen.  Allein  obgleich  die  Lehre  mit  dem  pomp- 
haften Grundsatze  anfängt,  dass' jede  Art  des  Angriffs  ihre  festen, 
nie  irrenden  Regeln  habe,  so  gesteht  doch  Pepeillo  selbst,  dass 
die  Hauptsache  sey,  den  Stier  mit  kaltem  Blut  auf  sich  zukommen 
zu  sehen,  und  dass  selbst  gute  Kämpfer  manchmal  aus  Furcht 
fehlten,  und  so  kommen  doch  Fälle  vor,  wo,  gleichfalls  nach 
seinem  eignen  Geständniss,  nichts  übrig  bleibt,  als  dem  Stier  den 
Mantel  auf  die  Augen  zu  werfen,  und  sich  durch  die  Flucht  zu 
retten,  wie  man  kann.  Da  alles  darauf  ankommt,  dass  der  Stier 
gerade  auf  den  Mantel  zuläuft,  so  bittet  er  seine  Leser "')  inständig, 
während  der  Stiergefechte,  wenigstens  dann,  wann  der  Moment 
des  Todesstosses  komme,  Stillschweigen  und  eine  tiefe  Ruhe  zu 
beobachten,  um  die  Aufmerksamkeit  des  Stiers  nicht  abzulenken, 
und  so  sieht  man  bei  jeder  Zeile,  wie  unsicher  die  Kunst  und  wie 
gross  die  Gefahr  ist. 

Es  versteht  sich,  dass  ein  so  beliebtes,  so  lang,'  und  immer 
von  einer  eignen  Gattung  Menschen  geübtes  Handwerk  seine 
eigene,  dem  Uneingeweihten  unverständliche  Sprache  habe,  und 
Pepeillo  hat  seinem  Werk  ein  eignes  kleines  Wörterbuch  an- 
gehängt. Merkwürdig  ist  es  zu  sehen,  wieviele  Beiwörter  der 
Stier  nach  seinen  verschiedenen  CharakterEigenschaften  erhält. 
Er  ist  bald  arglos,  claro,  sencillo,  franco,  boyante,  wenn  er  gerade 
auf  den  vorgehaltenen  Betrug  zuläuft,  bald  klug,  de  sentido,  wenn 
er  sich  an  den  Kämpfer  hält,   und  ihn  verfolgt,   oder  wild,  revol-- 


*)  „zählt  ....  auf^  verbessert  ans  „sondert  ....  ab". 

^)  Nach  „alle"  gestrichen:  „vollkomtnen". 

')  „seine  Leser"  verbessert  aus  „die  Zus[chaiier]". 


Sommorostro.  lA"! 

toso,  wenn  er  den  Mantel  zwar  fasst,  aber  sich  mit  demselben 
umdreht,  die  belustigendste  und  häufigste  Art  von  allen,  oder 
furchtsam,  abanto,  temeroso,  oder  tückisch,  brabiicon,  wenn  er  an- 
fangs geduldig  herauskommt,  aber  nachher  angreift,  u.  s.  f. 

König  Carl  3.  erlaubte  die  Stiergefechte  nur  bloss  noch  in 
Madrid  und  Cadiz.  Wäre  man  bei  diesem  S3'steme  geblieben,  so 
würden  dieselben,  vorzüglich,  da  Romero  jetzt  der  einzige  noch 
berühmte  Kämpfer  ist,  nach  und  nach  von  selbst  aufgehört  haben. 
Allerdings  ist  es  nicht  zu  läugnen,  dass  der  Muth,  mit  welchem 
ein  einzelner  Mensch  sich  wehrlos  oder  bloss  mit  einem  Degen 
bewafnet  einem  wütenden  Stier  gegenüber  stellt,  die  mahlerischen 
Stellungen  zwei  der  edelsten  und  schönsten  Geschöpfe,  des  Stiers 
und  des  Pferdes,  und  die  auf  einem  grossen  x\.mphitheater  unter 
freiem  Himmel  dicht  gedrängte  Menschenmasse  immer  ein  anziehen- 
des Schauspiel  gewähren,  auch  sind  die  Stiergefechte  in  unsern  Zeiten 
das  einzige  noch  übrige,  an  welchem  eine  ganze  Volksmasse  gleichen 
i\ntheil  nimmt,  und  wo  sie  frei  und  unmittelbar  ihren  Tadel  und  ihren 
Beifall  ausdrückt.  Allein  dies  ist  auch  alles,  was  sich  zu  ihrem 
Vortheil  sagen  lässt,  ihre  schädlichen  Folgen  sind  in  die  Augen 
fallend,  und  es  lässt  sich  nicht  einmal  behaupten,  dass  sie  Muth 
und  Tapferkeit  in  der  Nation  unterhalten.^)  Gerade  in  seinen 
weichlichsten,  entnen^testen  Zeiten  hatte  Rom  die  blutigsten  und 
gefahrvollsten  Fechterspiele.  Ebensowenig  aber,  glaube  ich,  kann 
man  die  Nation  barbarisch  nennen ,  die  an  diesen  gefahrvollen 
Kämpfen  Vergnügen  findet.  Die  menschlichen  Empfindungen 
isoliren  sich  sehr  häufig  nur  auf  einzelne  Gegenstände,  und  wenn 
bei  den  Stiergefechten  das  ^)  Gefühl  der  Menschlichkeit  und  des 
Mitleids  dem  leidenschaftlichen  Feuer  weicht,  zu  welchem  der 
Kampf  hinreisst;  so  kann  man  darum  nicht  behaupten,  dass  das- 
selbe überhaupt,  und  auch  für  andre  Gegenstände  abgestumpft  se}^ 

Sommoro  stro. 

Ich  eilte,  nach  einem  kurzen  Aufenthalt  in  Bilbao,  wieder 
dem  Meere  zu,  um  noch  den  Ueberrest  der  Küste  von  Portugalete 
bis  Ondarroa  zu  besuchen,  und  so  meine  Wanderung  um  dies 
ganze  liebliche  Ländchen  herum  zu  vollenden. 

Auf  dem  Wege  von  Bilbao  nach  dem  Sommorostro  darf  der 

')  Nach  „unterhalten^'  gestrichen :  „da  Griechenland  und  man  darf  sich  nur". 
^)  Nach  „das"  gestrichen:  „sanße". 

10* 


148 


Die  Vasken. 


Desierto  nicht  vergessen  werden.  Diese  kleine  Halbinsel,  welche 
der  Ibaizabal  da  bildet,  wo  der  Galindo,  ein  kleiner  Gebirgsbach, 
sich  in  ihn  ergiesst,  ist  einer  der  reizendsten  Punkte  in  ganz  Spa- 
nien, da  man  von  demselben  auf  einmal  die  Gegend  von  Bilbao, 
das  Meer  mit  seinen  Pyramidenbergen,  und  den  Sommorostro 
übersieht.  Der  Weg  von  Bilbao  dahin  geht  an  der  rechten  Seite 
des  Flusses  durch  Olabiaga,  den  eigentlichen  Hafen  Bilbaos.  Zur 
rechten  hat  man  meistentheils  mahlerische  und  hohe  Felsen;  am 
entgegengesetzten  Ufer  eine  liebliche  reich  bebaute  und  bepflanzte 
Gegend.  Ein  alter  viereckter  Thurm  der  an  dieser  Seite  gerade 
da,  wo  bei  dem  Flecken  Luchana  ein  kleiner  Fluss  sich  mit  dem 
Ibaizabal  vereinigt,  steht,  erinnert  an  das  Feudalsystem  der  vorigen 
Jahrhunderte.  Denn  dieser  Thurm  hatte  ehemals  das  Recht  den 
Fluss  zu  sperren,  und  einen  Zoll  von  den  vorbeil<ommenden 
Schiffern  zu  nehmen.  Hinter  Luchana  liegen  in  einem  anmuthigen 
Thal  die  ländlichen  Wohnungen  von  Baracaldo  zerstreut,  und  von 
Gebüschen  umwachsen.  Der  Desierto  hängt  auf  dieser  Seite  mit 
dem  festen  Lande  zusammen,  und  von  Bilbao  kommend  muss 
man  sich  nach  demselben  hin  über  den  Fluss  setzen  lassen.  Gegen 
diese  Seite  ist  auch  die  schönste  Aussicht,  obgleich  man  unge- 
hindert die  ganze  Gegend  von  einem  Berge  überschaut,  der  gerade 
da  steht,  wo  beide  Flüsse  zusammenkommen,  und  auf  dem  das 
Kloster  gebaut  ist. 

Denn  auch  diesen  in  der  That  himmlischen  Platz  hat  sich, 
wie  so  viele  andre  im  südlichen  Europa,  die  fromme  Andacht 
geweiht,  und  i6  Carmelitermönche  führen  hier  ein  einsames  Leben. 
Ihr  ganzer  Bezirk  ist  von  einer  hohen  Mauer  umgeben,  da  kein 
weibliches  Geschöpf  ihn  betreten  darf  und  nur  in  einer  Kapelle 
vor  dem  Kloster  allgemeiner  Gottesdienst  gehalten  wird,  zu 
welchem  das  Volk  aus  der  benachbarten  Gegend  haufenweis  her- 
beiströmt. Wer  die  Ruhe  des  Gewissens  und  die  Heiterkeit  der 
Seele  im  Gewühle  der  Welt  verloren  hätte,  könnte  sie  hier  wieder- 
finden, in  dem  schattigen  Eichengehölz,  das  den  ganzen  Berg  um- 
giebt,  auf  der  fruchtbaren  vega  (Ebne)  welche  der  Fleiss  der 
Mönche  den  Meereswellen,  die  bis  hierher  in  den  Fluss  eindringen, 
abgewonnen,  und  nun  durch  Dämme  und  Mauern  so  befestigt 
hat,  dass,  wo  aussen  seine  Flut  andonnert,  inwendig  reich  mit 
Trauben  behangene  Weingelände  stehen.  Auf  eine  Zeitlang,  wie 
bisweilen  mit  jungen  Leuten  geschieht,  hieher  verbannt  zu  werden, 
muss  in  der  That  eine  sanfte  Strafe  seyn. 


Sommorostro. 


149 


In  dem  Gehölz  sind  vier  kleine  Einsiedeleien.  Doch  giebt  es 
keine  eigentlichen  Einsiedler  hier.  Nur  die  Mönche,  welche  die 
Fastenzeit  in  ungestörterer  Andacht  zuzubringen  Lust  haben, 
schliessen  sich  hier  auf  so  lange  ein,  und  verlassen  dann  die  Ein- 
siedelei nur,  um  sich  Holz  aus  dem  Walde  zu  holen.  Diese  Be- 
gierde, mitten  in  der  tiefsten  Einsamkeit  eine  noch  tiefere  zu 
suchen,  scheint  sonderbar  genug;  allein  nie  mag  die  Sehnsucht 
danach  grösser  seyn,  als  wo  man  verurtheilt  ist,  in  enger  und 
unaufhörlicher   Gemeinschaft   mit   denselben  Menschen   zu   leben. 

Um  das  Kloster  herum  stehen  Cypressen,  Aloen,  und  ein 
Paar  Dattelpalmen,  liebliche  Fremdlinge,  die  ich  mit  grosser 
Freude  nach  langer  Zeit  wiedersah.  Denn  eigentlich  kennt  das 
nördliche  Spanien  diese  Gewächse  nicht,  und  selbst  Orangen 
kommen  nur  an  einigen  wenigen  Orten,  wo  eine  besondre  Lage 
sie  begünstigt,  fort.  Orangen  und  Citronenwälder,  Aloenhecken, 
Palmen  und  stämmige  Cactusbäume  fangen  erst  gegen  Cordova 
zu  an,  jenseits  der  Sierra  Morena,  wo  kein  Schnee  mehr  zu  sehen 
ist.  Darum  erzählt  ein  Maurisches  Mährchen,  dass  König  Ben 
Aceit  von  Sevilla  seiner  Frau,  die  eine  Castilische  Prinzessin  war, 
das  Gebirge  mit  Mandelbäumen  bepflanzen  Hess,  um  ihr,  die  sich 
nach  dem  Schnee  ihrer  rauheren,  aber  geliebteren  Heimath  sehnte, 
durch  die  weisse  Blüthendecke  eine  angenehme  Täuschung  zu 
gewähren.*)  Sonderbar  ist  es  dass  gerade  an  der  nördlichsten 
Küste  Spaniens  bei  Santona,  zwischen  Bilbao  und  Sant  Ander, 
im  Schutz  eines  kleinen  Hügels  eine  Menge  Citronen-  und  Orangen- 
bäume gedeihen,  deren  Früchte  man  in  Bilbao  verkauft.  Dass 
indess  Vizcaya  sonst  kein  rauhes  Land  zu  nennen  ist,  beweist 
sein  Chacoli,  ein,  wenn  er  sorgfältig  bereitet  ist,  treflicher  Wein, 
der  gewissermassen  zwischen  dem  Champagner  und  Mosler  Wein 
in  der  Mitte  steht. 

Beim  Hinaufreiten  auf  den  Sommorostro  stieg  ich  bei  einer 
kleinen  Mühle  ab,  deren  es  im  ganzen  Lande  viele  giebt.  Um 
sich  einen  Begriif  von  allen  Gattungen  menschlicher  Existenz  zu 
machen,  musste  man  diese  Hütte  besuchen.  Auf  freiem  Felde 
war  hier  in  vier  engen  Mauern,  unter  einem  überall  durchlöcher- 
ten Dache,  statt  der  Thür  eine  weite  Oefnung,  zugleich  die  Schlaf- 

*)  El  Conde  Lucanor,  compuesto  por  el  ecelentissimo  principe  D.  Juan  Manuel 
hijo  del  Infante  D.  Manuel  y  nieto  del  Sancto  Rey  D.  Fernando  (um  das  Jahr 
l33°-)i  ^'"^  wahres  Exempelbuch ,  aber  voll  naiver  und  zarter  Erzählungen,  und  ge- 
diegener Lebensweisheit. 


jj-Q  Die  Vasken. 

und  Wohnstube  einer  ganzen  Familie,  der  Stall  der  Ziegen  und 
Maulthiere  und  ein  doppelter  Mühlengang.  Gleich  beim  Herein- 
treten stiess  man  auf  die  Feuerstätte,  ihr  gegenüber  stand  der 
Backtrog  und  ein  Schrank  mit  einigem  alten  Geräth.  Daneben 
war  der  Stall,  weiter  links  ging ')  einer  der  beiden  Mühlsteine, 
neben  ihm  führten  einige  Stufen  zu  dem  ganz  freistehenden  Ehe- 
bett und  der  Schlafstelle  der  Kinder  hinauf,  neben  dieser  der 
andere  Mühlstein,  und  über  dem  Stall  eine  Art  Gerüst  auf  Stangen, 
das  zum  Boden  diente.  Und  in  dieser  Wohnung  bringen  Menschen 
ihr  Leben  zu,  werden  gebohren  und  sterben  darin! 

Wenn  man  hört,  dass  der  Sommorostro  für  den  Berg  ge- 
halten wird,  der  sich,  nach  Plinius*)  Schilderung,  an  der  Küste 
Cantabriens,  da  wo  sie  der  Ocean  anspült,  in  jäher  Steile  erhebt, 
und  durchaus  aus  Eisen  besteht,  so  erwartet  man  einen  Pic,  wie 
der  Zarantes  oder  der  ihm  gegenüberliegende  Pico  de  Munatones 
ist,  zu  sehen.  Allein  der  Sommorostro  ist  nicht  einmal  ein  ein- 
zelner Berg,  sondern  eine  Reihe  von  Bergen,  unter  denen  sich 
kein  einziger  Gipfel  eigentlich  heraushebt.  Zwischen  ihnen  ist 
ein  Thal,  das  eigentlich  den  Namen  führt,  und  am  Ende  desselben 
ein  Dorf,  S.  Juan  de  Sommorostro.  Bloss  darin  also  trift  er  mit 
der  Beschreibung  des  Römischen  Naturforschers  überein,  dass  er 
so  eisenhaltig  ist,  dass  der  Eisenstein  an  mehr  als  einer  Stelle 
unmittelbar  unter  der  Dammerde  liegt.  Die  richtigere  Meynung 
geht  daher  dahin,  dass  Plinius  nicht  diesen  Berg,  sondern  einen 
an  derselben  Küste,  aber  weiterhin  bei  S.  Ander,  die  Cabarga, 
gemeynt  habe,**)  auf  den  seine  Beschreibung  besser  passen  soll, 
den  ich  aber  nicht  selbst  sah.  Der  Zarantes  und  Munatones  ent- 
halten keinen  Eisenstein. 

So  gelegen  und  weder  als  Ackerland  bebaut,  noch  mit  Ge- 
büsch bewachsen,  ist  der  Sommorostro  nicht  zu  den  reizenden 
Gegenden  zu  rechnen.  Seine  finstren  und  öden  Höhen,  auf  denen 
das  Auge  nur  die  röthlich  schimmernden  Fusssteige  der  Bergleute 
und  Maulthiertreiber  unterscheidet,  dienen,  schon  vom  Desierto 
aus  gesehen,  nur  zum  Gegenbilde  gegen  die  schön  angebaute  und 
liebliche  Ebne  von  Barracaldo  und  Luchana. 


*)  L.  34,  c.  43.  Metallorurn  omnium  vena  ferri  largissima  est.  Cantabriae 
maritimae  parte,  quam  Oceanus  alluit,  mons  praerupte  altus,  incredibile  dictu,  totus 
ex  ea  materia  est.    Vgl.  noch  L.  4.  c.  34. 

**)  Florez  Espana  sagrada.   7.  24.  Discurso  preliminare.  p.  17. 
V  »g^^g"  verbessert  aus  „klapperte". 


Sommorostro .  1 1 1 

Dennoch  sind  auch  auf  den  kahlen  Höhen  des  Sommorostro 
gute  Weideplätze,  aber  überall  sind  Spuren  in  verschiedenen  Zeiten 
angelegter  Gruben  und  der  ganze  Berg  ist  umwühlt.  Die  meisten 
Gruben  befinden  sich  auf  einer  Ebene,  die  man  Triana  nennt; 
einzelne  Theile  haben  wieder  einzelne  Namen,  so  heissen  die 
Königlichen  Gruben  Minas  de  Janizuela.  Mitten  in  diesen  hat 
der  Aufseher  derselben,  Herr  Pensei  aus  dem  Baireuthischen,  seine 
einsame  Wohnung  in  einem  kleinen  Kessel  von  Felsen  auf  der 
Höhe  selbst.  Doch  wird  er  für  die  Einsamkeit  durch  eine  reizende 
Aussicht  aus  dem  oberen  Stock  auf  die  Ebne,  einen  Theil  des 
Meers  und  einige  groteske  Felsgruppen  in  der  Nähe  entschädigt. 
Diese  Königlichen  Gruben  existiren  erst  seit  dem  Jahr  1792.  und 
sind  bestimmt,  das  nöthige  Eisen  für  die  Stückgiesserei  bei  St.  Ander 
zu  liefern.  Da  dieselbe  auf  einige  Jahre  versorgt  war,  so  wurde, 
als  ich  dort  war,  gar  nicht  gebaut. 

Den  übrigen  Bergbau  ist  es,  seiner  Sonderbarkeit  wegen,  der 
Mühe  werth,  hier  zu  besehen.  Dem  Vizcayischen  Recht  nach, 
kann  jeder  eingebohrene  Vizcayer  graben,  nur  muss  er  10  Fuss 
weit  von  der  Grube  des  andern  entfernt  bleiben.  Gräbt  einer 
unter  dem  andern,  und  kommt  dem  oberen  vor,  so  muss  der 
obere  weichen.  Lässt  einer  seine  Grube  ein  Jahr  lang  unbenutzt, 
so  macht  er  sie  dadurch  zur  herrenlosen  Sache. 

So  angemessen  diese  Gesetze  den  Grundsätzen  der  einfachen 
Verfassung  dieses  Ländchens  sind,  in  der  alles  nur  auf  persönliche 
Freiheit  berechnet  scheint,  so  schädlich  sind  sie  dem  Bergbau. 
Auch  kann  man  mit  Sicherheit  behaupten,  dass  nirgends  eine 
reichere  Grube  schlechter  gebaut  wird.  Da  keiner  gewiss  ist,  ob 
nicht  mit  jedem  Augenblick  ein  andrer  ihm  in  den  Weg  kommt 
und  seine  Mühe  vereitelt,  so  wagt  keiner,  beträchtliche  Kosten 
aufzuwenden.  Auch  läuft  dieser  ganze  Bergbau  nur  darauf  hinaus, 
mit  so  wenigen  Kosten  als  möglich  soviel  Eisenstein  zu  gevv^innen, 
dass  der  Arbeiter  daraus  einen  massigen  Taglohn  zieht. 

Weniger  kunstmässig,  als  hier,  kann  der  Bergbau  nirgend  be- 

ti:--ben   werden.     Ackersleute,   die   schlechterdings    keinen   Begriff 

von  besitzen,  und  nie  etwas  ausser  ihrem  Berge  gesehen  haben, 

:e   so   wenig   zünftige   Bergleute   zu   nennen   sind,   dass   sie  sich 

licht  einmal   durch   eine   eigene  Kleidung   unterscheiden,  wühlen 

die  Erde   aufs   Gerathewohl   um,   machen   ein   Loch,   hauen   den 

Eisenstein,  den  sie  unter  ihren  Händen  finden,  mit  der  Picke  aus, 

und  wenn  sie  eine  Zeitlang  gearbeitet  haben,  und  die  Grube  eine 


152 


Die  Vasken. 


ihnen  unbequeme  Tiefe  bekommt,  oder  die  Wasser  zu  mächtig 
werden,  so  verlassen  sie  den  Ort,  und  machen  ein  neues  Loch, 
gleich  ungeschickt,  als  das  vorige.  An  die  Anlegung  ordentlicher 
Schachte  mit  Fahrten,  oder  nur  an  sorgfältig  abgebaute  Stollen 
ist  nicht  zu  denken ;  und  die  einzige  Maschine,  welche  in  Uebung 
gesetzt  wird,  ist  eine  elende  Pumpe.  Zum  Herausbringen  des 
Eisensteins  bedient  man  sich,  so  unglaublich  es  scheint,  der  Ochsen, 
die  mit  einer  Schleife,  auf  der  ein  Korb  steht  {rasti'o\  in  die 
Grube,  zum  Bewundern  ihrer  Geduld,  Kraft  und  Geschicklichkeit, 
oft  sehr  steil  ein  und  ausfahren.  Wo  es  zu  steil  reichen  sich 
mehrere  Menschen  in  Handkörben  den  Eisenstein  zu.  Der  heraus- 
gebrachte Eisenstein  wird  auf  einen  ebnen  Platz  {rastrerd)  vor  der 
Grube  geworfen,  und  da  sondern  Männer  oder  auch  Frauen  mit 
einer  Harke  die.  groben  von  den  feinen  Stücken  ab.  Die  groben 
werden  auf  Karren  oder  Maulthieren  an  die  kleinen  Bäche  ge- 
bracht, wo  man  sie  in  Schiffe  ladet  und  zu  Wasser  verführt;  die 
kleinen  versendet  man  zu  Lande  mit  Maulthieren. 

Es  würde  leicht  seyn  durch  einen  unterhalb  angelegten  Stollen 
dem  Wasser  im  Berg  einen  natürlichen  Abzug  zu  verschaffen, 
um  dann  von  oben  ungestört  in  die  Tiefe  gehen  zu  können. 
Allein  da  die  Arbeiter  hier  jede  Unternehmung  scheuen,  die  nicht 
unmittelbar  Gewinn  mit  sich  bringt,  so  fangen  sie  immer  von 
oben  zu  bauen  an,  und  gehen  schräg  in  die  Erde  hinein.  Da  sie 
eben  so  wenig  Sorgfalt  tragen,  die  gemachten  Gänge  durch  Stützen 
zu  sichern,  so  stürzt  das  Erdreich  oft  ein,  und  es  kommen  viele 
Arbeiter  um.  Herr  Pensei  selbst  hat  Gelegenheit  gehabt,  mehrere- 
male  solche  Unglückliche  zu  retten,  und  noch  vor  kurzem  war  es 
ihm  gelungen  zehen  auf  einmal  zu  befreien. 

Den  wahren  Vortheil  bei  diesem  Zweige  der  Vizcayischen 
Industrie  trägt,  wie  so  oft  bei  allen  Fabricationen,  der  Kaufmann 
davon,  der  Mittelsmann  zwischen  dem  Bergbauer  und  der  Eisen- 
hütte. Selten  bekommt  der  erstere  mehr  als  45  Piaster  für  eine 
Kahnladung  {Barcadd)  von  225  Centnern,  den  Centner  zu  100  Pfund 
gerechnet.  Nun  aber  kostet  der  Transport  etwa  30,  das  Heraus- 
fördern einer  solchen  Quantität  aus  der  Grube  12 — 15  Piaster  und 
so  bleibt  für  den  Bergmann  meistentheils  nur  ein  sauer  verdienter 
Taglohn  übrig.  Oft  sind  die  Arbeiter,  deren  sich  mehrere  zu- 
sammen thun,  selbst  die  Inhaber  der  Gruben.  Wird  auf  Tagelohn 
gearbeitet,  so  erhält  der  Mann  5  realen.  (8  Groschen  8  Pfennig 
Preussisch  Courant). 


Sommorostro. 


153 


Nach  einem  ziemlich  genauen  Ueberschlage  kann  man  rechnen, 
dass  jährlich  ungefähr  900000  Centner*)  (zu  100  Pfund)  Eisenstein 
eingeschifft  werden;  da  der  feinere  zu  Lande  versendete  nicht  so 
leicht  zu  überschlagen  ist.  Diese  Quantitaet  wird  etwa  von  230 
Arbeitern  gefördert,  und  eine  nicht  viel  geringere  Anzahl  ist  bei 
dem  Transporte  geschäftig,  wozu  man  aber  auch  Kinder  braucht, 
da  ich  Mädchen  von  7 — 10  Jahren  ganz  allein^)  Maulthiere  aus 
dem  Berg  an  die  Schiffe  führen  sah.  Der  Bergbau  wird  aber 
nur  6  Monate  hindurch ,  vom  Mai  bis  October  betrieben,  und 
rechnet  man  die  in  diese  Zeit  fallenden  Sonn-  und  Festtage  ab, 
so  bleiben  ungefähr  140  [Tage]  zur  Arbeit  übrig.  Für  jeden 
Centner  (nemlich  nach  dortiger  Rechnung,  also  von  150  f/)  Eisen- 
stein, der  aus  der  Provinz  hinausgeht  (es  sey  denn  dass  es  für 
Königliche  Rechnung  sey),  wird  der  Regierung  derselben  eine  Ab- 
gabe {recarg-o)  xon  2^  mar avecizs  (1^/4  Groschen)  gezahlt.  Während 
des  Krieges  mangelte  es  an  Absatz  nach  Guipuzcoa  und  den 
Bergen  von  Sant  Ander  und  die  Preise  waren  geringer,  weil  die 
Schiffarth  von  allen  Seiten  gehemmt  war. 

Es  giebt  übrigens  hier  eine  doppelte  Art  des  Eisensteins, 
weissen  der  etwa  80  p.  c,  und  schwarzen,  der  nur  40  p.  c.  Aus- 
beute giebt.  Man  weigert  sich  aber  in  Biscaya  den  ersteren  zu 
verarbeiten,  weil  man  ihn  für  minder  gut  hält. 

Der  herausgeförderte  Eisenstein  wird  hier  mit  einem  acht 
lateinischen  Ausdruck**)  gewöhnlich  vena  genannt. 

Auf  dem  Sommorostro  ist  der  alte  Stammsitz  {Solar)  des  in  der 
Spanischen  Geschichte  berühmten  Geschlechts  der  Salazare,  die 
stärkste  und  festeste  Burg,  oder,  wie  man  im  Mittelalter,  wo 
Biscaya  in  verschiedene  Partheien  zerrissen  war,  sagte,  casa  de 
bando,  von  der  es  jetzt  noch  in  dem  Lande  Ueberreste  giebt. 
Jetzt  gehört  sie  der  Familie  der  Mazarredo,  in  welche,  wie  ich 
schon  oben  zu  bemerken  Gelegenheit  hatte, ^)  die  letzte  Erbtochter 
der  Salazare  heirathete.  Hier  lebte  im  15.  Jahrhunderte  Lope 
Garcia  de  Salazar,  der  nicht  weniger  als  125  Kinder,  120  natür- 
liche  und   5   eheliche  zeugte.     Seine   Geschichte,   die   aber  nicht 


*)  Liesse    ein    ungefährer  Ueberschlag    eine  genaue   Rechnung  zu,    so   müsste  man 
zu  dieser  Summe  noch,  um  unser  Berlinisches  Gewicht  zu  haben,  4^'ie  p-  C.  zurechnen, 
da  das  Pfund  in  Bilbao  um  so  viel  schwerer  als  das  Berlinische  ist. 
**)  Plin.  /.  33.  c.  40.    Romam  perfertur  vena  signata. 

')  Nach  „allein"  gestrichen:   „einige'^. 

2)   Vgl.  oben  S.  48. 


»64 


Die  Vasken. 


gedruckt  ist,  schrieb  sein  Sohn,  der  aber  das  Unglück  hatte  in 
Streitigkeiten  mit  seinem  jüngeren  Sohn  zu  gerathen  und  darin 
erst  die  Freiheit  und  dann  das  Leben  einzubüssen.  Denn  da  er 
ein  Majorat  zum  Vortheil  seines  Erstgebohrnen  gemacht  hatte,  so 
wollte  der  jüngere  dies  an  sich  reissen,  bemächtigte  sich  des  Vaters 
und  sperrte  ihn  in  einen  Thurm  des  Schlosses  ein,  in  dem  er  aus 
Kummer  und  Verdruss  starb. 

Portugalete,  Plencia,  Bermeo  und  Mundaca. 

Ich  durchreiste  diesen  Theil  der  Küste,  der  mir,  da  ich  ein- 
mal mit  den  Sitten  des  Landes  bekannt  war,  weniger  interessante 
Gegenstände  darbot,  schneller,  und  werde  daher  auch  meine  Leser 
nur  kurz  darin  zu  verweilen  brauchen. 

Der  Ibaizabal  ergiesst  sich 'bei  Santursa,  jenseits  Portugalete 
ins  Meer,  das  dort  eine  grosse,  mahlerische  Bucht  bildet.  Bei 
Santursa  ist  die  den  Schiffen  oft  gefährliche  Barre,  und  gegenüber 
ein  Dorf  Algorta.  Die  Bai  wird  auf  der  Seite  von  Santursa  durch 
die  Berge  Cerrantes  und  Munatones  begränzt,  gegenüber  besteht 
die  Küste  aus  einer  Reihe  weisser  und  schroffer  Kalkfelsen,  die 
sich  in  die  Spitze  von  Galia  {la  punta  dt  Galid)  endigen. 

Der  Fluss  hat  auf  beiden  Seiten  gut  unterhaltene  steinerne 
Quais. 

Portugalete  ist  ein  kleiner,^)  ziemlich  schlecht  gebauter  Ort. 
Er  nährt  sich  grösstentheils  durch  das  Ein-  und  Ausbringen  der 
ankommenden  und  abgehenden  Schiffe.  Derjenige  Lothsmann, 
welcher  einem  Schiffe,  das  sich  in  Gefahr  befindet,  zuerst  zu  Hülfe 
kommt,  erhält  eine  doppelte  Praemie.  Daher  eilen  sie  oft  zu  sehr 
über  die  Barre,  und  verunglücken  häufig  dort. 

Als  ich  mich  bei  Portugalete  über  den  Ibaizabal  nahe  bei 
seinem  Ausfluss  gegen  Abend  übersetzen  Hess,  um  nach  Plencia 
zu  gehen,  war  das  Meer  gerade  sehr  stürmisch.  Seine  Höhe  war 
durchaus  schwarz,  aber  fleckweise  spielte  weisser  Schaum  auf  den 
finstern  Wellen,  und  dazwischen  schimmerten  die  weissen  Segel 
der  Fischernachen. 

Der  Weg  nach  Plencia  geht  durch  Algorta,  erst  im  Ufersande 
des  Meers,  nachher  durch  das  Land  hin.  Die  Berge  von  Umbe 
{las  penas  de  Ujube)^   eine   Reihe    Felsen  mit   vielen   Einschnitten 


1)  Nach  „kleiner"  gestrichen:  „aber". 


Portugalete,  Plencia,  Bermeo  und  Mundaca.  jcC 

und  schroffen  Kanten  mitten  im  Lande,  waren  das  Einzige,  was 
mir  auf  diesem  Wege  auffiel.  Doch  sah  ich  hinter  mir  am  Meer 
ausser  dem  Monte  Candina,  der  schon  vom  Sommorostro  aus  ins 
Gesicht  tritt,  noch  die  Berge  von  Santona,  die  wie  ein  grosses 
Vorgebirge  hervorstehen,^)  und  mir  die  w^eitere  Aussicht  westwärts 
begränzten. 

Plencia  ist  klein,  hat  aber  vielleicht  mehr  als  irgend  eine 
andre  Stadt  dieser  Gegend  ein  reinliches,  freundliches  Ansehn. 
Besonders  gut  nimmt  es  sich  von  der  Höhe  davor  aus.  Ueber  den 
Fluss  gleiches  Namens  der  sich  bei  der  Stadt  mit  dem  Meere  ver- 
mischt, geht  eine  Brücke. 

Auf  dem  Wege  zwischen  Plencia  und  Bermeo  muss  man 
zwei  hohe  Bergreihen  übersteigen,  die  von  Lemonis  und  die  von 
Bakin,  zwischen  denen  bei  Bakin  in  einem  Thal  ein  kleiner  Bach 
ins  Meer  geht.  Kaum  in  ganz  Spanien  giebt  es  einen  beschwer- 
licheren ^)  und  öderen  Weg ;  lauter  kahle  Bergrücken,  ohne  Häuser, 
Bäume  und  Aecker,  bloss  zur  Weide  tauglich.  Nur  wo  sich  der 
einsame  Fusssteig  hie  und  da  in  ein  kleines  Thal  hinabschlängelt, 
findet  man  wieder  die  bekannten  mit  Bäumen  und  Rebengeländern 
umgebenen  ^)  ländlichen  Wohnungen. 

Das  Meer,  das  man  von  der  Höhe  immerfort  übersieht,  war 
den  Tag,  als  ich  diesen  Weg  machte,  zauberisch  schön.  Es  war 
gerade  ein  Maitag  mit  Nebel  und  abwechselnden  Regenschauern, 
zwischen  denen  häufige  Sonnenblicke  die  magischsten  Beleuch- 
tungen hen^orbrachten.  Bald  waren  alle  Spitzen  der  Berge  un- 
beweglich in  dichte  Schleier  gehüllt,  bald  jagte  der  Nebel  dem 
Meer  zu  und  drohte  mich  mit  seinen  feuchten  Wolken  zu  umgeben. 
Dann  war  auf  einmal  die  Tiefe  des  Meers  und  der  Thäler  dunkel 
und  die  Spitzen  der  Vorgebirge  streckten  ihre  Häupter,  wie  glän- 
zende Inseln  hervor.  Dann  stieg  der  Nebel  wieder,  und  der  Himmel 
war  mit  schweren  und  finstren  Regenwolken  behangen,  die  ihre 
welligen  Spitzen  gegen  das  Meer  zu  herabsenkten.^) 

Auf  der  Hälfte  des  Weges  ungefähr  bei  Bakin  ist  das  Vor- 
gebirge S.  Juan  mit  einer  kleinen  Insel  gleiches  Namens  davor, 
auf  der,  wie  mir  mein  Führer  sagte,   ein  Einsiedler  wohnen  soll. 

Zwischen  Bakin  und  Bermeo  liegt  das  Vorgebirge  Machichaco, 

')  „hervorstehen"  verbessert  aus  „hervortreten". 
*)  „beschwerlicheren"  verbessert  aus  „einsameren". 
*)  „umgebenen"  verbessert  aus  „umpflanzten". 
*)  „her absenkten"  verbessert  aus  „herabsandten". 


156 


Die  Vasken. 


welches  die  flache  Einbiegung,  welche  das  Meer  gegen  Portugalete 
zu  macht,  auf  der  Ost-  so  wie  das  von  Santona  auf  der  Westseite 
begränzt.  Denn  die  Berge  von  Santona,  das  Cabo  Machichaco, 
die  Insel  S.  Anton  vor  Guetaria  und  das  Cado  del  Higuer  sind  die 
vier  am  meisten  hervortretenden  Punkte,  welche  die  Aussicht  des 
ganzen  Biscayischen  Golfs  beherrschen,  und  denselben  wieder  in 
drei  kleinere  flache  Busen  abtheilen. 

Gerade  vor  Bermeo  hatte  ich  das  Glück  eines  heitern  Sonnen- 
blicks zu  geniessen.  Die  uralte  Stadt  mit  ihren  schwarzen  wellen- 
bespülten Thürmen,  den  mahlerischen  Klippenufern  ihrer  kleinen 
Bucht,  und  den  freundlich  bebauten  Aeckern  um  den  Fluss 
herum,  der  sich  hier  ins  Meer  ergiesst,  lag  klar  und  hell  vor  mir, 
der  SonnenGlanz,  der  die  Landschaft  überstralte,  ward  ^)  durch 
den  Schatten  der  finstern  Regenwolken  erhöht,  welche  den  west- 
lichen Theil  des  Himmels  bedeckten,  ganz  in  der  Ferne  regnete 
es,  und  ein  herrlicher  Regenbogen  spannte  seine  glänzenden 
Farben  über  das  Meer  aus. 

Nirgends  übersieht  man  diese  Gegend  besser,  als  von  dem 
Wege  von  Bermeo  nach  Mundaca,  der  reizend  und  kurz  wie  ein 
blosser  Spaziergang  ist.  Da  er,  immer  zwischen  Ackerfeldern  und 
Weinbergen,  bald  höher,  bald  tiefer  hinläuft,  so  übersieht  man 
sowohl  die  grössere  Bucht,  an  welcher  Bermeo  und  Mundaca 
liegen,  als  die  kleinere,  welche  diese  wieder,  die  überall  umgränzt  -) 
von  mit  Gebüsch  bewachsnen  '^)  Felsen  und  kleinen  Vorgebirgen, 
bei  Bermeo  bildet,  in  den  mannigfaltigsten  Aussichten,  und  ge- 
niesst  bald  des  vollen  Anblicks  des  Meers,  bald  sieht  man  es 
nur  durch  eine  kleine  Oefnung  des  Felsenufers   durchschimmern. 

Vor  der  Bucht  von  Bermeo  liegt  eine  kleine  Insel  Izaro  vor. 
Auf  derselben  stand  ehemals  ein  von  der  Königin  Isabella  1500. 
gestiftetes  Franciscanerkloster,  das  aber  nachher,  zu  grösserer  Be- 
quemlichkeit, nach  Bermeo  verlegt  ward. 

Bei  Gelegenheit  dieses  Klosters  erzählte  mir  mein  sehr  ge- 
schwätziger Maulthierführer  ein  Bermeosches  Mährchen,  das  diese 
Insel  betrift.  Ein  Mönch  auf  derselben  habe  eine  Geliebte  in 
Bermeo  gehabt,  und  sey,  da  die  Insel  nicht  sehr  entfernt  vom 
Ufer  liegt,  immer  des  Nachts  zu  ihr  herübergeschwommen. 
Zu  diesem  nächtlichen  Uebergange  habe  sie  ihm  aus  ihrem  Fenster 

')  'Nach  ,,ward"  gestrichen:  „noch". 

^)  „umgränzt"  verbessert  aus  „umgeben". 

^)  „bewachsnen"  verbessert  aus  „umwachsnen" . 


Portugalete,  Plencia,  Bermeo  und  Mundaca.  I  ty 

eine  Fackel  entgegengehalten.  Einmal  aber  habe  der  Teufel  die 
Fackel  an  einem  andern,  sehr  weit  entlegnen  Orte  der  Küste  er- 
scheinen lassen,  und  der  betrogene  Mönch  sey  ertrunken. 

Da  mir  die  Aehnlichkeit  dieses  Mährchens  mit  der  Geschichte 
Hero's  und  Leanders  auffiel,  erkundigte  ich  mich,  ob  es  mehrere  ähn- 
liche Erzählungen  gebe,  und  erfuhr,  dass  viele  Griechische  Fabeln 
sich  mit  geringen  Veränderungen  in  Biscayischen  Erzählungen 
wiederfinden.  Man  führte  mir  die  Geschichte  des  Polyphems  an, 
der  wegen  seiner  Gefrässigkeit  Gargantua*)  heisst,  die  Arbeiten 
des  Hercules  und  namentlich  die  Fabel  der  Dejanira,  die  dem 
Chomin  sendo  **)  dem  starken  Dominicus  beigelegt  werden,  die  Ge- 
schichte des  goldnen  Vliesses,  die  in  eine  Schäfergeschichte  umge- 
wandelt ist,  u.  a.  m. 

Kein  Volk  treibt  die  Liebhaberei  zu  Mährchen  vielleicht  so 
weit,  als  die  Biscayer.  Auch  gehen  eine  grosse  Menge  derselben 
im  Volk  herum,  und  es  giebt  sogar  verschiedene  Glassen  der- 
selben. Eine  solche  sind  die  der  Kobolte,  de  los  dziendes.***)  Zu  diesen 
gehört  z.  B.  ein  sehr  bekanntes :  Smtton  hüdurhayena,  Antonius  ohne 
Furcht.  Eine  andre  Classe  sind  die  der  Unmöglichkeiten,  de  los 
impossibles^  wie  z.B.  die  Lebensgeschichte  des  Lngebohrenen  u.s.f. 
Mit  grossem  Vergnügen  würde  ich  über  diese  Volksmährchen  ge- 
nauere Nachrichten  eingezogen  haben.  Allein  da  sie  nur  im  Munde 
des  Volks  existiren,  so  würde  eine  vollkommene  Geläufigkeit  im  Ver- 
stehen des  Vaskischen  und  ein  noch  längerer  Aufenthalt  nöthig 
seyn,  sie  aus  dieser  Quelle  aufzusammlen.  Männer  aber,  die  nicht 
zum  Volke  gehören,  kennen  sie  theils  nicht,  theils  verachten  sie  es, 
sich  damit  zu  beschäftigen.  Auch  versicherten  mir  einige,  dass  der 
Reiz  dieser  Erzählungen  so  innig  mit  der  Sprache  verbunden  sey, 
dass  sie  im  Castilianischen  alle  Grazie  verlören,  und  in  der  That 
ist  das  mit  aller  ^^olkspoesie,  zu  welcher  die  Mährchen  doch  auch 
gewissermassen  gehören,  da  dieselbe  immer  der  natürlichste  und 
eigenthümlichste  Ausdruck  der  nationellen  Phantasie  ist,  der  Fall. 

*)  der  Verschlinger,  von  garganta,  der  Schlund. 
**)  Chomin,    die    Vaskische    Veränderung    des    Namens     Dominicus,    sendoa,    der 
Starke. 

***)  Duende  von  Duerio,  Dominus,  Herr,  ist  eigentlich  ein  Hausgeist.  Denn 
Duendo  heisst  zum  Hause  gehörig,  zahm.  Auch  Vaskisch  heisst  ein  solcher  Geist 
(wenn  nemlich  die  Wörter  naspechci,  icecJia  bei  Larramendi  nicht  bloss  von  ihm  ge- 
schmiedet sind)  ein  Hausverwirrer,  Hausschreck.  Dies  giebt  vielleicht  der  Herleitung 
des  Worts  Kobolt  von  Kobel,  dem  Oberdeutschen  Haus,  vor  den  anderen  gelehrteren 
den  Vorzug. 


158 


Die  Vasken. 


Ob  in  der  Aehnlichkeit  einiger  Vaskischen  Erzählungen  mit 
Griechischen  Fabeln  halbverschwundene  Spuren  alter  gemein- 
schaftlicher Abstammung  gesucht  werden  müssen,  daran  möchte 
ich  zweifeln.  Mir  scheint  diese  Aehnlichkeit,  wie  unstreitig  oft 
auch  die  zvv^ischen  für  verwandt  gehaltenen  Sprachen,  vielmehr  ^) 
von  selbst  zu  entstehen.  Das  Feld,  auf  welchem  die  Mährchen 
erfindende  Phantasie  herumschwärmt ,  muss  ^)  eigentlich  überall 
dasselbe  seyn,  weil  die  Phantasie  und  die  menschlichen  Leiden- 
schaften es  sind,  und  weil  auch  einzelne  Localitaeten,  auf  welche 
sich  gewisse  Fabeln  (wie  z.  B.  die  Geschichte  Heros  und  Leanders) 
beziehen,  überall  wiederkehren.  Die  Eigenthümlichkeit  des  National- 
charakters macht  nur,  dass  das  eine  Volk  anhaltender  an  einer, 
das  andre  an  einer  andern  Stelle  dieses  Feldes  verweilt,  und  die 
regellose  Mannigfaltigkeit  der  Einbildungskraft  reiht  die  möglichen 
Combinationen  immer  anders  urtd  anders  zusammen.  Gewiss  wäre 
es  interessant  in  dieser  Rücksicht  einmal  mit  prüfendem  Blick  das 
ganze  bekannte  Fabelreich  zu  durchlaufen,  und  wenn  gleich  nur 
mit  sehr  schwankenden  Umrissen  den  Cyclus  anzudeuten,  welchen 
die  Einbildungskraft  darin  durchwandert;  in  demselben  aber  wieder 
die  eigenthümlichen  Gebiete  einzelner  Zeiten  und  Nationen  abzu- 
stecken. Denn  offenbar  bilden  z.  B.  die  Griechische  Fabel,  die 
morgenländischen  Erzählungen ,  und  die  Ritterabentheuer  des 
westlichen  Europas  eigene  aber  grosse  Classen,  in  denen  man 
wieder  feinere  Nuancen  unterscheiden  kann. 

Mundaca  liegt  an  der  Mündung  des  Flusses,  der  von  Guernica 
herkommt,  und  ist  eine  Antciglesia.  Sie  ist  die  erste,  deren  De- 
putirten  in  der  Versammlung  der  Stände  Vizcayas  aufgerufen 
werden.  Dies  gründet  sich  aber  bloss  auf  ein  uraltes  Herkommen. 
Denn  sonst  gilt  in  diesen  Versammlungen  kein  Rang,  der  Aufruf 
geschieht  nur  pünktlich  einmal  wie  das  andre. 

Guernica. 

Ein  lieblicher  Weg  führt  landeinwärts  an  dem  Fluss  hin  zu 
diesem  Städtchen,  das  nur  etwa  aus  loo  Familien  besteht,  aber  gut 
und  reinlich  gebaut  ist.  Zuerst  kommt  man  durch  eine  bergigte 
und  waldreiche  Gegend,  die  sich  aber  gegen  Guernica  zu  in  eine 


^)  „vielmehr"  verbessert  aus  „ganz  natürlich  und"'. 
^)  Nach  „muss^'  gestrichen:  „grossentheils". 


Guernica. 


159 


schönbebaute  Ebne  öfnet.  Der  Fluss  ist  wenigstens  hinreichend 
gross,  um  mit  Getreide  und  Eisenerde  beladene  Kähne  bis  an  die 
Stadt  zu  bringen.  In  der  Zeit,  in  der  ich  in  Guernica  war,  über- 
zeugte ich  mich  nur  zu  sehr,  dass  er  manchmal  ein  sogar  seinen 
Ufern  gefährliches  Anschwellen')  erreichen  kann.  Er  über- 
schwemmte in  einer  einzigen  Nacht  die  ganze  Gegend  so  fürchter- 
lich, dass  das  Wasser  7  bis  8  Schuh  hoch  -)  über  der  Brücke 
stand,  und  die  Communication  mit  allen  benachbarten  Orten  auf 
einmal  abgeschnitten  war.  Hier  drei  Tage  lang  in  einer  elenden 
Herberge^)  eingeschlossen,*)  war  meine  Lage  nichts  weniger  als 
angenehm.  Zwar  fand  ich  glücklicherweise  einen  Don  Quixote, 
der  selten  in  einem  Spanischen  Wirthshause  fehlt;  allein  da  mir 
eine  ganz  dunkle  Kammer  zur  Wohnung  angewiesen  war,  so 
bheb  mir  zum  Lesen  kein  anderes  Zimmer,  als  das  meines  Winhes 
übrig,  und  selbst  aus  diesem  wurde  ich  jeden  Nachmittag,  wann 
er  seine  nicht  kurze  Mittagsruh  halten  wollte,  auf  eine  zwar 
sehr  höfliche,  aber  darum  nicht  minder  dringende  Weise  in  die 
Küche  verwiesen.  Ich  benutzte  indess  diesen  Aufenthalt,  um  mich  ge- 
nauer mit  der  Vizcavischen  Verfassung  bekannt  zu  machen,  die 
in  Guernica  ihren  eigentlichen  Sitz  und  Mittelpunkt  hat,  da  alle 
öffentliche  A^erhandlungen  immer  mit  den  Worten :  so  el  arbol  de 
Guernica,  unter  dem  Baum  von  Guernica,  anheben.^) 

Denn  so  wie  sich,  wie  ich  oben  bemerkt  habe,  die  Gemeinen 
von  Alava,  bis  zu  ihrer  freiwilligen  Autlösung,  auf  dem  Felde  von 
Arriaga  versammelten,  so  versammeln  sich  noch  bis  auf  den  heutigen 
Tag  die  Deputirten  von  Mzca3'a  unter  dem  Baum  von  Guernica, 
und  wenn  sie  auch  jetzt  nicht  mehr  dort,  sondern  in  der  dabei 
erbauten  Kapelle  ihre  Berathschlagungen  halten,  so  übergeben  sie 
doch  hier  unter  freiem  Himmel  ihre  Vollmachten,  und  fangen 
allemal  unter  dem  Baume  selbst  die  Feierlichkeit  an.  An  diesen 
dürfte  die  Einbildungskraft  ^)  nun  freilich  wohl  andre  Federungen 


^)  „ein  ....  gefährliches  Anschwellen"  verbessert  aus  „eine  ....  gefährliche 
Grösse". 

^)  „7  —  hoch"  verbessert  aus  „über  Mannshöhe". 

')  „elenden  Herberge"  verbessert  aus  „dunkeln  Kammer  und  der  Küche 
eines  elenden  Wirthshauses". 

*)  Nach  „eingeschlossen"  gestrichen:  ,,m  dem  mir  keine  andre  Zuflucht 
blieb,  als". 

*)  „anheben"  verbessert  aus  „anfangen". 

*)  Nach  „Einbildungskraft"  gestrichen:  „der  Reisenden". 


j(3o  I-^'^  Vasken. 

machen,  als  sie  beim  wirklichen  Anblick  erfüllt  findet.  Man  wünschte 
eine  durch  ihr  Alter  ehrwürdige,  laubreiche  ^)  Eiche  auf  einem 
schönen  freien,  ländlichen  Platze  zu  sehen,  um  sich  lebhafter  jene 
Zeiten  zurückrufen  zu  können,  in  welchen  die  Angelegenheiten 
einer  Nation  einfacher,  als  jetzt  kaum  die  einer  Familie  entschieden 
wurden.  Allein  man  findet  eine  zwar  ziemlich  grosse,  aber  nichts 
weniger  als  mahlerische  Steineiche,  mit  einem  vom  Winde  ge- 
wundenen aufgeborstenen  Stamm,  und  einigen  vertrockneten  Aesten, 
ein  Bild,  wenn  man  will,  der  \''erfassung,  die  auch  manchen  Stürmen 
getrotzt,  allein  auch  manchen  unterlegen  hat,  und  in  mehr  als 
einem  Stück  von  ihrer  ursprünglichen  Form  ausgeartet  ist.  Neben 
den  eigentlichen  Baum  sind  einige  jüngere  gepflanzt,  um  jenen, 
wenn  er  ausgehen  sollte,  sogleich  zu  ersetzen.  Keiner  von  allen 
steht  frei,  sondern  vor  ihnen  ist  eine  Art  steinerner  Schranken 
und  Bühne  gebaut,  zu  der  man  einige  Stufen  in  die  Höhe  steigt. 
Hier  sitzen  zur  Zeit  der  Versammlungen  die  Personen,  welche 
die^)  Regierung  der  Provinz  ausmachen,  auf  einer  Bank  mit 
sieben,  durch  steinerne  Zwischenlehnen  abgesonderten  Plätzen. 
Den  mittelsten  nimmt  der  Corregidor  ein,  und  auf  ihn  folgen  zu 
beiden  Seiten  die  beiden  General-Deputirten,  Syndici  und  Secretaire. 
An  der  hohen  steinernen  Hinterlehne  der  Sitze  sieht  man  in  der 
Mitte  das  Castilische,  und  an  beiden  Seiten  zweimal  das  Vizcayische 
Wappen,  zwei  laufende  Wölfe  mit  einem  mit  Laub  bewachsenen 
Kreuze  hinter  ihnen.  Zu  den  Seiten  und  vorn  ist  dieser  Sitz  von 
niedrigeren  gleichfalls  steinernen  Brustwehren  umgeben,  und  vorn, 
dem  Sitz  des  Corregidors  gegenüber,  ist  die  Oefnung  freigelassen. 
Vor  dem  Sitz  ist  ein  mit  Quadersteinen  gepflasterter  länglicht 
viereckter  Platz,  auf  dem  vier  Säulen  stehen.  Diese  trugen  ehemals 
ein  Dach,  unter  dem  man  vor  Erbauung  der  Kap.elle  die  Berath- 
schlagungen  hielt. 

Ferdinand  der  Katholische  beschwor  an  dieser  Stelle  die 
Freiheiten  und  Rechte  Vizcayas,  und  man  sieht  diese  Feierlichkeit 
noch  über  dem  einen  Eingange  der  Capelle  abgebildet.  Der 
König  sitzt  auf  dem  Platz  den  jetzt  der  Corregidor  einnimmt. 
Seine  Gemahhn,  Isabella,  befindet  sich  unter  den  Frauen  herum. ^) 


')  „laubreiche'^  verbessert  aus  „aestereiche". 

^)  Nach  „die"  gestrichen:  „eigent[liche]". 

')  Nach  Jierurn"  gestrichen:  „Seit  jener  Zeit  ist  kein  König  mehr  zu  dieser 
Feierlichkeit  in  Person  erschienen,  obgleich  die  eidliche  Bestärkung  der  Privilegien 
noch  immer  Statt  findet." 


Guemica.  1^1 

Die  Kapelle,  oder,  wie  sie  eigentlich  heisst,  la  Iglesia  juradera 
de  S.  Maria  la  aniigua  ist  dicht  daneben  gebaut,  und  ist  ein  läng- 
lichter Saal,  der  auf  seinen  Sitzen,  die  sich,  einfach  aus  Holz  ge- 
schnitzt, in  drei  Reihen  über  einander  erheben,  etwa  300  Menschen 
hält,  mit  zwei  Eingängen,  einem  an  der  schmalen  Seite,  dem  Altar 
gegenüber,  und  einem  am  Ende  der  einen  langen,  zur  rechten 
Seite  des  Altars.  Der  Saal  ist  mit  rothen  Steinen  gepflastert,  oben 
sieht  man  die  Sparren  des  Dachs,  und  statt  aller  Verzierungen 
dienen  ihm  die  sehr  mittelmässig  gemahlten  Abbildungen  der 
ehemaligen  unabhängigen  Herren  Vizcayas.  Nur  zwei  unter  diesen 
fielen  mir  besonders  auf:  liiigo  Esquerra  und  sein  Sohn  daneben. 
Der  \"ater  ist  in  einer  zornigen  Stellung,  und  in  völliger  Rüstung, 
als  wolle  er  fechten,  der  Sohn  barfuss,  im  Hemde  und  mit  einer 
Lanze  ohne  Spitze.  Die  Geschichte  erzählt  nemlich,  der  Vater 
habe  den  Sohn  zum  Kampf  herausgefodert,  der  Sohn  habe  sich 
zum  Beweise  seiner  Unschuld  auf  diese  wehrlose  Weise  gestellt, 
und  dennoch  den  Vater  getödtet.  Bei  den  Versammlungen  sitzen 
die  Deputirten  auf  den  Bänken  des  Saals,  für  die  Regierung  stellt 
man  einen  langen  Tisch  mit  Stühlen  vor  den  Altar,  die  Thüren 
bleiben  offen  und  der  Saal  ist  mit  Zuhörern  angefüllt.  Diese  sitzen 
ohne  Unterschied  unter  den  Deputirten  selbst;  nur  die  Frauen 
haben  ihren  Platz  immer  zunächst  an  der  Thür.  Bloss  die  De- 
putirten von  Mundaca  nehmen  gewöhnlich,  doch  ohne  ein  be- 
sondres Recht  dazu  zu  besitzen,  als  die  zuerst  gerufenen,  den 
obersten  Platz  ein.  Die  Deputirten  haben  kein  besondres  Costüm 
und  man  sieht  die  alte  ländliche  Nationaltracht  mit  unsrer  gewöhn- 
lichen städtischen  in  buntem  Gemisch  neben  einander. 

In  der  Sacristei  der  Kapelle  ist  das  Archiv  der  Provinz.  Die 
ältesten  Acten,  welche  Landesversammlungen  betreffen,  gehen 
nicht  über  das  15.  Jahrhundert  hinaus. 

Da  schon  der  edle  Vizcayer  ein  Stadtbewohner  zu  seyn  ver- 
schmäht,^) so  wird  man  sich  wundern,  den  Baum  von  Guernica, 
gleichsam  den  bildlichen  Repräsentanten  der  ganzen  Verfassung 
in  einer  Stadt  anzutreffen.  Allein  der  Ort,  wo  er  steht,  gehört 
zu  dem  Dorf  (der  Ankiglesia)  Luno  das  gegenüber  auf  einem 
Berge  Hegt;  nur  weil  derselbe  in  alten  Zeiten  eine  Art  Quartier 
oder  Vorstadt  {barriada)   von  Luno  war,   und  Guernica   hiess,   so 


')  „ein  —  verschmäht"  verbessert  aus  „einen  Stolz  darin  setzt,   kein  . 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     XIH.  I^ 


jg2  I-  Die  Vasken. 

führte  auch  der  Baum,  schon  vor  der  Erbauung  des  jetzigen 
Fleckens,  denselben  Namen. 

Vizcaya  war  ursprünglich  und  ist  grossentheils  noch  jetzt  ein 
wahrer  Freistaat  von  Landeigenthümern.  So  wie  es  in  Deutsch- 
land und  Frankreich  eine  feudale  Ritterverfassung  gab,  so  bestand 
hier  eine  freie  Bauernverfassung;  jeder  Hausvater  war  Bürger 
und  jeder  frei,  denn  jeder  nahm  (wie  auch  noch  heutiges  Tages) 
an  der  Wahl  der  Deputirten  Theil,  welche  die  allgemeinen  Landes- 
angelegenheiten besorgten.  Nur  der  Städter  und  Handwerker 
hatte  überall  das  Schicksal  von  dem  herrschenden  Theil  der  Na- 
tion ausgeschlossen  zu  werden,  und  wie  bei  uns  der  kampfrüstige 
Ritter,  so  verdrängte  ihn  hier  der  auf  seine  einsame  und  unab- 
hängige Gebirgswohnung  stolze  Landmann.  Das  Zusammenleben 
in  geschlossenen  Mauern  und  ,die  Beschäftigung  mit  sitzenden 
Arbeiten  brachten  einen  Geist  der  Abhängigkeit  hervor,  der  beiden 
gleich  verhasst  war.  Den  ächten  Freiheitssinn  des  Vizcayischen 
Landmanns  beweist  schon  sein  einsames  und  zerstreutes  Wohnen. 
Weder  durch  die  Furcht  vor  feindlichen  Anfällen,  wie  im  übrigen 
Spanien  (wo  die  beständigen  Streifzüge  ^)  der  Mauren  bei  denen 
man  der  festen  Plätze  bedurfte,  augenblickhch  Güter  und  Heerden 
in  dieselben  zu  retten,  die  Anlegung  otner  Dörfer  fast  unmöglich 
machte),  noch  durch  den  Willen  eines  Herrn,  dem  er  zu  dienen 
verbunden  war,  mit  vielen  in  einen  Haufen  zusammengedrängt, 
wählte  er  seine  Wohnung  am  liebsten  da,  wo  er  am  freiesten  und 
ungehindertsten  schalten  könnte. 

Ursprünglich  beruhte  auch  die  ganze  Verfassung  ausschliessend 
auf  den  Bewohnern  des  flachen  Landes  {los  moradores  de  la  Tierra- 
Llana\ "")  sie  machten  eine  abgesonderte  Parthei  im  Gegensatz  mit 
den  Städten  aus,  die  Ante-iglesias  allein  schickten  Deputirte  zur 
Landesversammlung  {Junta\  wann  eine  Stadt  einem  aus  ihrer 
Mitte  eine  Beleidigung  zugefügt  hatte,  übernahmen  sogar  gesetzlich*) 
alle  gemeinschaftlich  seine  Vertheidigung ,  und  seine  väterliche 
Wohnung  auf  dem  Lande  mit  einer  städtischen  zu  vertauschen 
war  als  eine  unedle,  erniedrigende  Handlung  angesehen.  Erst 
im  vorigen  Jahrhunderte  ist  die  Vereinigung  der  Ante-iglesias 
und   villas  geschehen,    und   erst  seitdem  geniessen   die  letzteren 


♦)  Fueros  de  Vizcaya.  Tit.  30.  /.  i.  p.  167. 

*)  „Streifzüge"  verbessert  ans  „Einfälle". 

^)  Nach  „TieiTa.-L\a.na."  gestrichen :  „die  sich  vorzugsweise  Vizcay er  nannten". 


Guernica. 


163 


gleiche  Rechte  mit  den  ersteren,  und  beschicken,  wie  sie,  die  Ver- 
sammlung.^) 

Die  Verfassung  Vizcayas  ist  nicht  so  regelmässig,  und  mit 
mehr  Ausnahmen  überladen,  als  die  von  Guipuzcoa.  Schon  die 
Art,  wie  die  Provinz  in  der  Junta  repraesentirt  wird,  ist  sonder- 
bar. Denn  jeder  Ort,  er  schicke  einen  oder  mehrere  Deputirte, 
er  sey  gross  oder  klein,  hat  nur  Eine  Stimme.  Dabei  besitzen 
nicht  alle  Theile  der  Provinz  gleiche  Rechte.  Die  Städte  sind  erst 
spät  in  die  Verfassung  aufgenommen  worden.  Die  sogenannten 
Eiicartaciones ,  Districte  jenseits  des  Ibayzabals,  in  denen  nicht 
mehr  Vaskisch  gesprochen  wird,  beschicken  zwar  die  Versamm- 
lung, haben  aber  weder  active,  noch  passive  Stimmen,  können 
weder  zu  GeneralDeputirten  wählen,  noch  gewählt  werden.  Doch 
hat  man  neuerlich  sechs  derselben  mit  den  übrigen  Merindaden 
der  Provinz  vereinigt,  die  andern  weigern  sich  noch  dessen,  weil 
sie  alsdann  zu  gleichen  Theilen  die  Ausgaben  der  -)  Provinz  mit 
bestreiten  müssen,  zu  denen  sie  jetzt  nur  eine  bestimmte  und 
kleine  Summe  beitragen.  Die  Merindad  Durango  ist  erst  seit  dem 
Jahre  1631.  Vizcaya  einverleibt  worden.  Indem  sie  damals  für 
eine  gewisse  Anzahl  von  Feuerstellen  an  den  allgemeinen  Ab- 
gaben Theil  zu  nehmen  versprach,  erhielt  sie  das  Recht  zwei 
Stimmen  auf  der  Junta  auszuüben.  •')  Da  sie  aber  aus  1 1  Ante- 
iglesias  besteht,  so  benutzte  sie  die  \'^eranlassung,  dass  man  sie  für 
eine  grössere  Anzahl  von  Feuerstellen  beisteuern  Hess,  um  mehr 
Stimmen^)  zu  verlangen,  und  erhielt  1740.  fünf.  Im  Jahr  1800. 
kehrte  sie  mit  einer  neuen  Foderung  zurück,  und  wollte  nun  für 
jede  ihrer  Ante-iglesistx\  eine  Stimme  besitzen,  um  völlig  den  übrigen 
Ortschaften  der  Provinz  gleichgestellt  zu  werden.  Sie  berief  sich 
dabei  auf  die  Lasten,  die  sie  während  des  letzten  Krieges  getragen, 
auf  den  thätigen  Antheil,  den  ihre  ganze  waffenfähige  Mannschaft 
an  der  allgemeinen  Landesvertheidigung  genommen,  und  auf  ein 
Project,  die  Anzahl  ihrer  steuerbaren  Feuerstellen  aufs  neue  höher 
zu  bestimmen.  Die  Sache  aber  wurde  nicht  entschieden,  sondern 
einer  Commission  zum  Vortrag  in  der  nächsten  Versammlung  über- 


^)  Hier  ist  folgender  Absatz  gestrichen:  „Die  Anzahl  der  Stimmen,  welche 
jeder  Ort  auf  der  Junta  ausübt,  richtet  sich  weder  .  .  .  ." 
^)  Nach  „der"  gestrichen:  „ganzen". 

*)  „Stimmen  —  auszuüben"  verbessert  aus  „Deputirte  zur  Junta  zu  senden". 
*)  ,^timmen"  verbessert  aus  „Deputirten". 

II* 


164 


I.  Die  Vasken. 


geben.  *)  Die  Zahl  aller  Stimmen  auf  der  Junta^  die  aber,  wie  man 
sieht,  von  Zeit  zu  Zeit  zugenommen  hat,  und  noch  zunehmen  kann, 
belief  sich  im  Jahr  1800.  auf  107.  Wenn  zwei  Deputirten  des- 
selben Orts  uneinig  sind,  so  verliert,  da  die  Stimme  nicht  getheilt 
werden  kann,  der  Ort  für  diesmal  sein  Stimmrecht.**) 

Die  Generalversammlung  geschieht  alle  zwei  Jahre,  im 
Junius  oder  Julius.  Die  Menge  von  Menschen,  die  bei  der  Klein- 
heit des  Landes  und  dem  vaterländischen  Interesse,  das  alle  an 
diesen  Berathschlagungen  nehmen,  dazu  zusammenströmen,  giebt 
dem  kleinen')  Guernica  in  dieser  Zeit^)  das  Ansehen  einer  der 
lebhaftesten  und  bevölkertsten  Orte.  Der  Zweck  der  Versammlungen 
ist  ein  doppelter:  die  Anordnung  der  gemeinschaftlichen  Landes- 
angelegenheiten, und  die  Wahl  der  GeneralDeputirten,  und  andrer 
zur  Regierung  gehörigen  Personen. 

Die  Punkte  über  die  berathschlagt  werden  soll,  sind  in  dem 
Zusammenberufungspatent  (der  Convocatoria)  angegeben.  Sie  be- 
treffen alles,  was  das  Wohl  der  Provinz  im  Ganzen  angeht,  die 
Foderungen  freiwilliger  Beisteuern,  welche  der  König  an  sie  macht, 
die  Innern  Finanzangelegenheiten  derselben,  die  Anstalten  zur 
öffentlichen  Sicherheit,  so  wie  alle,  welche  zur  Landespolizei  ge- 
hören, die  Besetzung  einiger  Stellen,  über  welche  die  Jimta  ver- 
fügt, die  Getreideausfuhr  und  andre  Handelsgegenstände,  den 
Zustand  und  die  Unterhaltung  der  Geistlichkeit,  endlich  die 
Ansprüche  einzelner  Gemeinen  oder  Individuen  an  die  Provinz. 
Die  Berathschlagung  über  alle  diese  Gegenstände  ist  durchaus  frei. 
Nur  hat  sie  die  Unbequemlichkeit,  dass,  da  jeder,  ohne  nur  erst 
das  Wort  zu  fodern,  von  seinem  Sitze  herab  spricht,  oft  mehr 
Lärm  und  Verwirrung,  als  ruhige  Discussion  statt  findet.  Meisten- 
theils  werden  auch  die  Sachen,  nach  unnützem  Hin  und  Her- 
sprechen, einer  Commission  übergeben,  die  sich  alsdann  in  die 
Sacristei  verfügt,  und  ein  Gutachten  entwirft,  über  das  hernach 
durch  Stimmenmehrheit  entschieden  wird. 

Die  Wahl  der  GeneralDeputirten,  die  ihr  Amt  von  einer 
Generalversammlung  zur  andern,  folglich  2  Jahre  hindurch  be- 
halten, ist  der  letzte  Act  der  Jimta.    Alle  Orte   der  Provinz   sind 

*)  Acuerdos  de  Juntas  Generales  del  Senorio  de  Vizcaya  celebrados  en  el 
ano  1800.  p.  68.  73.  83. 

**)  Ein  Beispiel  davon  findet  man  am  a.   O.  /?.  85. 
')  „giebt  dem  kleinen"  verbessert  aus  „macht  das  kleine". 
')  Nach  „ZeiV  gestrichen:  „zu  einem  der  lebhaßesten  und". 


Guernica. 


165 


ZU  diesem  Behuf  in  zwei  Partheien  (Parcialiaades)  ^  in  die  der 
Ohacinos  und  die  der  Gamhrinos  vertheilt  —  eine  Eintheilung,  die, 
so  wie  die  Namen  selbst,  aus  den  Zeiten  herrührt,  wo  das  ganze 
Land  in  ewig  mit  einander  in  Streit  begriffene  Partheien  zerfiel. 
Jeder  beider  Theile  wählt  einen  eignen  Deputirten,  und  auf  gleiche 
Weise  sind  auch  alle  übrige  Wahlen  zwischen  beide  vertheilt,  so 
dass  jede  ihre  selbstgewählten  Magistratspersonen  hat.  Dieser 
Unterschied  bezieht  sich  indess  bloss  auf  die  W^ahl,  und  hat  her- 
nach nicht  den  mindesten  weiteren  Einfluss.  Um  diese  nun  vor- 
zunehmen, werden  die  Namen  aller  stimmhabenden  Orte  einer 
Parthei  in  eine  Urne  gethan,  und  durch  einen  Knaben  drei  heraus- 
gezogen. Diese  drei  sind  die  eigentlichen  Wahlorte,  und  sobald 
sie  bestimmt  sind,  hört  der  Antheil  der  Jtinta  an  der  Wahl  auf, 
und  dieselbe  wird  für  geschlossen  erklärt. 

Am  Nachmittag  desselben  Tages  aber  versammeln  sich  die 
Deputirten  der  Wahlorte  in  der  Capelle,  bei  verschlossenen 
Thüren,  schwören  auf  das  Evangelium  unpartheiisch  und  nach 
Recht  und  Gewissen  zu  wählen,  und  schlagen  nun  jeder  laut 
ein  Subject  vor.  Jeder  Wahlort  hat  nemlich  zwei  Stimmen  die 
er  entweder  Einem  oder  zwei  Subjecten  ertheilen  kann.  Werden 
gegen  den  Vorgeschlagenen  Einwendungen  vorgebracht,  die  man 
gültig  findet,  so  bleibt  er  zurück;  sonst  aber  werden  die  xXamen 
aller  Vorgeschlagenen  wieder  in  eine  Urne  gethan,  und  drei  davon 
herausgezogen.  Der  erste  ist  der  wirkliche  GeneralDeputirte 
für  die  zwei  nächsten  Jahre,  die  beiden  andern  sind  seine  even- 
tuellen Substituten. 

Die  Wahl  der  übrigen  Magistratspersonen  geschieht  auf  ähnliche 
Weise,  und  ganz  auf  die  gleiche  die  der  andern  Parthei.  Die 
Ohacinos  wählen  dem  Herkommen  nach  zuerst. 

Die  GeneralDeputirten  geniessen  einen  Gehalt,  der  aber  so 
unbeträchtlich  ist,  dass  er  diejenigen,  die  nicht  gewöhnlich  Bilbao 
bewohnen,  nicht  einmal  für  die  Kosten  des  Aufenthaltes  daselbst, 
den  ihnen  ihr  Amt  zur  Pflicht  macht,  entschädigt.  Nach  Endigung 
ihrer  Würde  heissen  sie  Väter  der  Provinz  (Padres  de  Provincia)^ 
haben  als  solche  Sitz  in  der  Generalversammlung,  können  mit- 
reden, jedoch  nicht  mitstimmen,  und  werden  bei  dem  Zusammen- 
kommen sogar  zuerst  aufgerufen.  Auch  braucht  man  sie  häufig 
zu  Gommissionen.  Kein  Stand  schliesst  von  der  Würde  eines 
GeneralDeputirten  aus,  und  in  neueren  Zeiten  haben  auch  Kauf- 
leute sie  bekleidet. 


ißß  I.  Die  Vasken. 

In  der  Zwischenzeit  der  Versammlungen  besorgen  sie  gemein- 
schaftlich und  beide  mit  gleichem  Recht  die  Angelegenheiten  der 
Provinz,  und  sie  nebst  den  beiden  Syndicis  und  dem  Corregidor 
machen  die  wahre  Regierung  (Gobierno)  der  Provinz  aus.  Den 
Syndicis  zur  Seite  steht  ein  ConsiiUador  perpctuo  ^  der  einen 
reichlichen  Gehalt  geniesst,  ein  Rechtsverständiger  ist,  und  immer 
sein  Gutachten  hinzufügen  muss.  Der  Corregidor  wird  vom  König 
ernannt,  und  hat  zwar  eigentlich  in  den  Berathschlagungen  der 
Regierung  keine  Stimme,  giebt  aber  den  Ausschlag,  wann  die 
Stimmen  getheilt  sind. 

Dadurch  wird  sein  Einfluss  sehr  gross,  und  die  Krone  behält 
durch  ihn  hinlängliche  Mittel  in  Händen  ihre  Absichten  durch- 
zusetzen. Den  Rechten  der  Provinz  nach  soll  kein  königliches 
Edict  ( Ceditla)  gültig  seyn,  das  'gegen  die  einmal  zugestandenen 
Freiheiten  läuft.  Dies  sagt  das  Vizcayische  Recht  ausdrücklich; 
eine  solche  Verordnung  soll  mit  Achtung  aufgenommen,  aber 
nicht  erfüllt  werden,  und  der  Richter  der  nach  ihr  spricht,  soll, 
wenn  sie  auch  zwei  und  dreimal  erneuert  worden  wäre,  in  Strafe 
verfallen.*)  Allein  es  wird  nicht  bestimmt,  wem  die  Beurtheilung 
der  Verordnung  zukommen  soll.  Ehemals  übte  die  Provinz  sie 
aus;  allein  im  17.  Jahrhundert  schickte  der  Hof  einen  Alcalde  de 
Corte  mit  einer  Commission  nach  Bilbao  und  änderte  dies  ab. 
Jetzt  kommt  jede  Verordnung  an  den  Corregidor,  dieser  theilt  sie 
dem  Syndicus  mit,  der  sie  alsdann  mit  seinem  Gutachten,  das  sich 
immer  auf  die  Meynung  des  sich  mit  unterschreibenden  Consta- 
tador  perpetiw  stützt,  zurückschickt.  Nach  diesem  Gutachten  ent- 
scheidet nun  der  Corregidor,  ob  die  Verordnung  ungeachtet  der 
Einwendungen  des  Syndicus  durchgehen,  ob  ihre  Gültigkeit  auf- 
geschoben, oder  ob  sie  ganz  und  gar  zurückgenommen  werden  soll? 

In  den  Generalversammlungen  selbst  herrscht  jedoch  eine  fast 
unbeschränkte  Freiheit,  und  ein  wahrer  Geist  der  Unabhängigkeit, 
und  die  Gegenwart  des  Corregidors  hindert  nicht,  dass  jeder  frei 


*)  Fueros.  Tit.  i.  /.  11.  p.  20.  Otrosi  dixeron:  que  avian  por  fuero  et  ley 
et  franqueza  et  libertad,  que  qualquie?-a  Carla  0  Provision  Real,  que  el  dicho 
Senor  de  Vizcaya  diere  ö  mandare  dar,  ö  provar  que  sea  0  ser  pueda,  contra 
las  leyes  et  Fueros  de  Vizcaya,  directe  ö  indirecte,  que  sea  obedecida  et  no 
cumplida.  und  an  einer  andern  Stelle,  Tit.  36.  /.  3.  p.  21g.  y  que  aunque  venga 
proveido  et  mandado  de  su  Alteza  por  su  Cedula  et  Provision  Real,  primera,  ni 
seguenda,  ni  tercera  jusion  et  mas,  sea  obedecida  et  non  cumplida,  como  cosa 
desaforada  de  la  tierra. 


Guernica.  ißn 

seine  Meynung  sagt.  Manchmal  entfernt  er  sich  auch,  und  oft 
wird  Vaskisch  gesprochen,  das  er  nicht  versteht.  Er  selbst  lässt 
sogar ,  bei  allgemein  interessirenden  Verhandlungen ,  die  Ein- 
gaben manchmal  in  beiden  Sprachen  verlesen.  Dieser  Freiheit 
der  Aeusserungen  keine  Fesseln  anzulegen,  ist  eine  wohlver- 
standene und  heilsame  Politik.  Man  beleidigt  dadurch  nicht  den 
Stolz  der  Nation,  man  unterhält  in  ihr  die  Meynung  der  alten 
weniger  beschränkten  Unabhängigkeit,  nährt  den  edleren  und 
höheren  Charakter  und  den  Patriotismus,  der  aus  diesem  Gefühle 
entspringt,  und  verliert  in  den  Resultaten  nur  wenig.  Denn  wann, 
wie  fast  immer  geschieht,  der  Gegenstand  der  Verhandlung  vor 
eine  einzelne  Commission  kommt,  gewinnt  er  oft  eine  ganz  andre 
Gestalt,  als  in  der  allgemeinen  Berathschlagung. 

Indess  übt,  wie  man  zur  Ehre  des  Königs  und  seines  Mi- 
nisteriums gestehen  muss,  der  Hof  die  Gewalt,  die  er  natürlich  in 
Händen  hat,  immer  nur  mit  weiser  Mässigung  aus.  Noch  in 
diesem  Augenblick  geniesst  Vizcaya  der  wesentlichsten  Vorrechte ; 
man  bedenke  nur  das  eine,^)  dass  es  so  wenig  willkührlich  be- 
steuert werden  kann,  dass  noch  jetzt  bisweilen  die  von  der  Krone 
verlangten  freiwilligen  Geschenke  abgelehnt  werden.  Auch  könnte 
die  Spanische  Regierung,  man  kann  es  nicht  oft  genug  wieder- 
holen, nie  soviel  durch  Erweiterung  ihrer  Rechte  auf  Biscaya 
gewinnen,  als  sie  durch  das  Sinken  des  Patriotismus  und  des 
Nationalgeistes  verlieren  würde,  der  eine  unausbleibliche  Folge 
der  Beschränkung  der  Biscayischen  Freiheiten  se3'^n  würde.  Klein 
und  nur  kärglich  von  der  Natur  ausgestattet  besitzt  dies  sonder- 
bare Ländchen  keinen  andern  Reichthum,  als  die  Menge  und  die 
Charakterstärke  seiner  Bewohner.  Diese,  zugleich  muthig,  unter- 
nehmend und  thätig,  öfnen  sich  in  dem  Drange,  den  die  zahl- 
reiche Bevölkerung  verbunden  mit  der  Unzulänghchkeit  der  Er- 
zeugnisse des  Bodens  hervorbringt,  immer  neue  Bahnen  zu 
Reichthum  und  Glück,  und  wenden,  was  sie  auf  diesem  Wege 
erringen,  zur  Verbesserung  und  Verschönerung  ihres  Vaterlandes 
an.  Das  Beispiel  des  Einen  wird  dem  andern  zum  Sporn,  und 
so  herrscht  überall  in  den  FamiHen  Wohlstand  und  Bequemlich- 
keit, in  öffentlichen  Anstalten  Grösse  und  Pracht.  Wird  dieser 
Gemeingeist,  durch  Beschneidung  der  politischen  Freiheit,  in  seiner 


*)  „man  —  eine"    verbessert  ans    „wie   7nan    gleich  sieht,  wenn   man  nur 
bedenkt". 


jgg  I.  Die  Vasken. 

Wurzel  angegriffen,  nimmt  man  dem  Biscayer  den  Gedanken  dass 
er  für  das  Glück  und  den  Namen  eines  eignen,  abgesonderten, 
mehr  sich  selbst  überlassenen ,  und  auf  sich  selbst  beruhenden 
Volkes  arbeitet;  so  fällt  alles  dies  auf  einmal  über  den  Haufen, 
und  die  Provinz  wird  auf  einmal  zu  einem  Zustande  der  Armuth 
und  Nichtigkeit  verdammt.  Aus  diesen  Gründen  vorzüglich,  nicht 
aber  aus  kleinlichen,  oder  eigennützigen  LocalAbsichten  wird  der  ^) 
aufgeklärte  und  patriotisch  gesinnte  Biscayer  auf  die  Vorrechte 
seiner  Nation  stolz  seyn,  und  darum  verträgt  sich  das  Behaupten 
derselben  sowohl  mit  der  bei  allen  wahrhaft  patriotischen  Bis- 
cayern  grossen  und  lebhaften  Anhänglichkeit  an  die  Krone,  die,^) 
wenn  ihr  Bisca3^a  mehr  gelten  soll,  als  ein  unbedeutender  Strich 
von  wenigen  Quadratmeilen  meist  bergigten  und  unfruchtbaren 
Bodens,  kein  anderes  Mittel  in  Händen  hat,  als  den  Nationalgeist 
des  Volks  durch  weise  Schonung'  seiner  Vorrechte  zu  unterhalten. 
Die  sämmtlichen  Privilegien  Vizcayas  sind  in  den  sogenannten 
Fueros  de  Vizcaya*)  gesammelt,^)  die  zugleich  das  eigentliche  Ge- 
setzbuch der  Nation  ausmachen.  Am  5.  April,  1526.  nemlich 
beschloss  die  General-Versammlung  der  Gemeinen  unter  dem 
Baum  von  Guernica  eine  neue  Durchsicht  und  Verbesserung  ihres 
Fueros  vorzunehmen,  weil  dasselbe  in  mancher  Hinsicht  der  Be- 
richtigungen und  Zusätze  bedurfte.  Sie  wählten  zu  dieser  Absicht 
14.  Deputirten,  und  trugen  diesen  die  Anfertigung  eines  neuen 
Fueros  auf,  das  in  20  Tagen  beendigt  seyn  sollte.  Dies  kam  nun 
auch  in  der  That  in  dieser  Zeit  zu  Stande,  und  wurde  nach  den 
Vorschlägen  der  Deputirten,  denen  der  Corregidor  zugegeben  war, 
niedergeschrieben,  so  dass,  da  man  die  Form  der  einfachen  Er- 
zählung des  Herganges  beibehalten  hat,  jedes  Gesetz  mit  den 
Worten:  „und  wiederum  sagten  sie"  {Oirosi  dixeron)  anfängt. 
Darauf  wurde  es  der  Königin  Isabella  zur  Bestätigung  vorgelegt, 
die  es  in  Aranda  den  14.  October  1473.  beschwor.  Dieselbe  eid- 
liche Bestärkung  muss   jeder  König  wiederholen,  und  gleich  das 


*)  Fueros,  franqiiezas,  libertades,  Buenos  usos,  y  costunibres  del  muy  noble, 
y  muy  leal,  Senorio  de  Vizcaya,  confirmados  por  el  Key  D.  Philipe  Quinto, 
Nuestro  Senor,  y  por  los  Senores  Reyes  sus  Predecesores.  Impresso  en  Bilbao : 
por  Antonio  de  Zafra.  271.  Seiten  folio. 

^)  Nach  „der''  gestrichen:  „eifrige". 

*)  Nach  „die"  gestrichen:  „sich  in  Biscaya  immer  lebendig  und  gross  ge- 
zeigt hat,  weil  der  wohlverstandene  Vortheil  der  letzteren  mit  der  Erhaltung". 

^)  „gesammelt''  verbessert  aus  „enthalten". 


Guernica. 


169 


erste  Gesetz  des  Fueros  macht  sie  ihm,  sobald  er  nur  14.  Jahr 
alt  ist,  unter  Bedrohung  der  Aufkündigung  alles  Gehorsams,  wenn 
er  sie  nicht  innerhalb  eines  Jahres  vornimmt,  zur  Pflicht.  Eigent- 
lich muss  der  neue  König  selbst  nach  Vizcaya  kommen,  und  die 
Freiheiten  der  Nation  an  mehreren  Orten,  unter  andern  auch 
unter  dem  Baum  von  Guernica  beschwören.  Allein  seit  Ferdi- 
nand dem  Katholischen  ist  kein  König  in  Person  erschienen.  Ein 
Hauptpunkt  ^)  dieses  Schwurs  ist  das  Versprechen,  Vizcaya  nie 
wieder  ganz,  noch  irgend  einen  Ort  in  demselben  zu  verkaufen, 
zu  verschenken,  oder  sonst  zu  veräussern,  und  in  dem  Eid  Isa- 
bellens  wird  es  den  Vizcayern  sogar  zum  ^'erdienst  angerechnet, 
dass  sie  trotz  der  Veräusserungen,  welche  der  mit  den  Krongütern 
so  freigebige  König  Heinrich  4.  mit  mehreren  Vizcayischen  Orten 
vorgenommen,  doch  immer  treu  bei  der  Spanischen  Krone 
geblieben  seyen.-j  Ueberhaupt  hat  die  einfache  Sprache,  in  der 
in  jenen  Zeiten  die  Könige  geradezu  die  ihnen  von  Provinzen 
geleisteten  Dienste  anerkannten,  etwas  sehr  Rührendes.  Ferdinand 
der  Katholische  erwähnt  in  seinem  Schwur  alle  Stände  besonders, 
vergisst  selbst  die  Frauen  und  Mädchen  nicht,  und  gesteht, 
dass  sie  mehr  gethan,  als  wozu  ihre  Vorrechte  sie  verbindlich 
machten.  *) 

Nach  diesem  Gesetzbuche  nun,  von  dem  es  ausdrücklich  heisst, 
dass  es  mehr  nach  Billigkeit  und  schlichtem  Menschenver- 
stände, als  nach  rechtlichen  Spitzfindigkeiten  verfasst  sey,**)  sollen 
alle  Streitigkeiten  zwischen  Mzcayern  entschieden,  und  die  andern 
Gesetze  des  Königreichs  nur  subsidiarisch  zu  Hülfe  genommen 
werden,  und  dies  geschieht  auch  in  der  That  nicht  nur  im  Lande 


*)  (El  Rey)  dixo :  que  jiiraba  y  juri,  que  por-  quanto  despues  que  Su  Alteza 
reyna,  veyendo  sus  necessidades,  y  la  giierra  injusta  que  los  Reyes  de  Francia 
Y  Portugal  contra  su  Real  persona  y  sus  Reynos  han  movido,  los  Cavalleros  y 
Escuderos,  y  Hijos-Dalgo  y  Duenas  y  Donzellas,  y  Labradores  y  cada  uno  en 
SU  estado  de  los  Vezinos  y  Moradores  deste  Condado  y  Encartaciones  y  Duran- 
gueses,  con  gran  amor  y  lealtad  le  avian,  y  han  servido,  y  seguido,  e  sirven  e 
siguen,  e  poniendo  sus  personas,  y  caudales,  y  haziendas  a  todo  reisgo  y  peligro, 
como  Buenos  y  leales,  y  sinalados  Vassallos  y  con  aquella  obediencia  y  fidelidad 
y  lealtad  que  le  son  tenudos  y  obligados;  y  aun  de  mas,  y  allende  de  lo  que  sus 
fueros  y  Privilegios  les  obligaban  y  apremiaban.    Fueros.  p.  230. 

**)  su  fuero,  el  quäl  es  mas  de  alvedrio  que  de  sotileza  y  rigor  de  derecho. 
Fueros.  tit.  36.  /.  3.  p.  218. 

^)  „Ein  Hauptpunkt"  verbessert  aus  „Eine  Hauptclausel". 

^)  Bei  diesem  Satze  steht  am  Rande  ein  Fragezeichen. 


lyo 


I.  Die  Vasken. 


selbst,  sondern  auch  in  den  höchsten  Gerichtshöfen  Spaniens, 
wohin  die  Processe  in  letzter  Instanz  gelangen. 

Die  am  meisten  in  diesen  Gesetzen  ins  Licht  gesetzte  Frei- 
heit der  Vizcayer  ist  ihr  angenommener  Adel,  weil  auf  diesem 
wiederum  mehrere  der  andern  beruhen.  Alle  Vizcayer,  heisst  es, 
sind  Edelleute,  von  adlichem  Geschlecht  und  reinem  ßlut,*)  und 
wer  von  Juden  und  Mohren  oder  NeuBekehrten  abstammt,  kann 
sich  nicht  in  Vizcaya  ankaufen,  oder  einheimisch  machen.  Daher 
fremde  Kaufleute,  die  sich  in  Bilbao  häuslich  niederlassen  wollen, 
Nachweisungen  über  ihr  Geschlecht  geben  müssen  und  dabei  oft 
grosse  Schwierigkeiten  antreffen.  Wenn  dagegen  ein  Vizcayer  in 
eine  andre  Provinz  Spaniens  zieht,  so  ist  es  hinlänglich,  dass  er 
seine  Abkunft  aus  dieser  Provinz  darthut,  um  der  gewöhnlichen, 
aber,  wie  schon  im  Vorigen  bemerkt  worden  ist,^)  nicht  sehr 
bedeutenden  adlichen  Vorrechte  zu  geniessen. 

Auf  diesem  allgemeinen  Privilegium  beruhen^)  einige  per- 
sönliche Vorrechte  der  Vizcayer,  wie  z.  B.  dass  keiner  wegen 
Schulden  verhaftet  werden  kann**)  dass,  einige  wenige  Ver- 
brechen***) ausgenom^men ,  gegen  keinen  die  Folter,  noch  die 
Androhung  derselben  Statt  findet, f)  und  in  Vizcaya  liegende 
Güter  ^)  eines  Verbrechers  niemals  und  in  keinem  Fall  zum  Besten 
der  Krone  oder  des  Fiscus  confiscirt  werden  können,  sondern 
immer  den  natürlichen  Erben  anheimfallen  müssen.ff) 

Noch  wichtiger  aber  sind  diejenigen  Immunitäten,  die  eine*) 
unmittelbarere  Beziehung  auf  die  ganze  Nation  haben;  die  Frei- 
heit von  Abgaben,  die  Freiheit  des  Handels,  und  der  eigne  Gerichts- 
stand aller  Vizcayer. 

Von  eigentlichen  Abgaben  zieht  der  König  bloss'  einige  auf 
gewissen    Besitzungen    von     Alters    her    ruhende    unbedeutende 


*)  todos  los  dichos  Vizcaynos  son  hombres  hijos-dalgo  y  de  noble   linaje 
et  limpia  sangre.  Fueros.  tit.  i.  /.  13.  j?.  20. 
**)  Fueros.  tit.  16.  /.  3.  p.  95. 

***)  die    Ausnahmen    sind    die  Verbrechen    der  Ketzerei,    der   beleidigten   Majestät, 
des  falschen  Münzens,  und  der  Sodomie.   Ib.  tit.  9.  /.  9.  p.  66. 
t)  /.  c.  und  tit.   I.  /.    12.  p.  20. 
tt)  Ib.  tit.   II.  /.  2^.  p.  88. 
»)  Vgl.  oben  S.  86. 

^)  Nach  „beruhen"  gestrichen:  „grösstentheils". 
')  „in  —  Güter"  verbessert  aus  „das  Vermögen". 
*)  Nach  „eine"  gestrichen:  „noch". 


Guernica. 


171 


Renten  und  Zinsen.*)  Sonst  erhält  er  bloss  freiwillige  Geschenke 
und  noch  in  den  neuesten  Zeiten  sind,  wie  schon  im  Vorigen  be- 
merkt worden ,  ^)  Beispiele  vorhanden ,  dass  man  dieselben  ab- 
gelehnt hat. 

Die  Handelsfreiheit  ist  uneingeschränkt,  und  ihr  allein  ver- 
dankt Mzcaya,  dass  es  seine  vortheilhafte  Lage  am  Meer  so 
glücklich  benutzen  kann.  Dieselbe  erstreckt  sich  auch  auf  den 
Ein-  und  Verkauf  in  den  Dörfern  und  Städten  im  Innern  des 
Landes.**)  Wollen  jedoch  zwei  Drittheile  einer  Gemeine  überein- 
kommen, Brod,  Fleisch,  Wein  u.  s.  w.  nur  von  gewissen  privi- 
legirten  Aufkäufern  zu  nehmen,  so  steht  es  bei  ihnen,  diese  Ein- 
richtung zu  treffen.***) 

In  Absicht  des  Gerichtstandes  kann  kein  Vizca^^er  wegen 
irgend  eines  Verbrechens  (einige  wenige  ausgenommen)  oder 
irgend  einer  Schuld  in  erster  Instanz  vor  ein  Gericht  ausserhalb 
Vizcayas  gezogen  werden.f)  Ja  selbst  wenn  er  sich  in  andern 
Theilen  Spaniens  niedergelassen  hat,  hat  er  bloss  den  GrossRichter 
Vizcayas  in  der  Kanzlei  von  Valladolid  als  seinen  gesetzmässigen 
Richter  anzuerkennen.ft) 

Die  ^^erpflichtung  zur  allgemeinen  Bewafnung  im  Fall  eines 
Königlichen  Aufrufs,  die  aber  mehr  als  eine  Immunität  angesehen 
werden  kann ,  weil  sie  von  der  gezwungenen  Theilnahme  am 
Kriegsdienst  in  Friedenszeiten  befreit,  trägt  noch  ganz  den  Charakter 
der  ehemaligen  Zeiten  an  sich.  Die  ganze  waffenfähige  Mannschaft 
ist  dem  König  ohne  Sold  zu  folgen  verbunden.  Allein  diese  Ver- 
bindlichkeit geht  nur  bis  an  einen  bestimmten,  im  Gesetzbuch 
ausdrücklich  genannten  Ort  (fasta  el  Arbol  Malato  qiie  es  en  Luya- 
ondo).  Sollen  sie  in  weiterer  Entfernung  Dienste  thun,  so  muss 
ihnen  Sold  gezahlt  werden.yft) 

Aehnliche  Ueberbleibsel  älterer  Sitten  finden  sich  auch  in 
andern  Theilen  des  Gesetzbuchs.  So  haben  z.  B.  wenn  ein  Mensch 
von  einem  andern  umgebracht  ist,  die  Verwandten  des  Erschlagnen 
nicht  nur  das  Recht,  einen  ordentlichen  Anklageprocess  gegen  den 


*)  Fueros.  tit.  i.  /.  ^.  p.  15. 
**)  Ib.  tit.  I.  /.  10.  p.  20. 
***)  Ib.  tit.  33-  /•  4-  p-  192. 
t)  Ib.  tit.  7.  /.  1—4-  p-  47—51- 
tt)  Ib.  tit.  I.  /.  ig.  p.  27. 
t+t)  Ib.  tit.  I.  /.  s-  P-  16. 
1)   Vgl.  oben  S.  lö-j. 


1-^2  ^'  ^i^  Vasken. 

Mörder  zu  führen,  sondern  sie  können  ihm  auch  verzeihen  und 
ihn  dadurch  vor  aller  Strafe  sichern;  selbst  wenn  entferntere  Ver- 
v^andten  die  Sache  v^eiter  verfolgen  wollten.  Denn  das  Gesetz 
bestimmt  ausdrücklich,  dass  das  Recht  der  Anklage  und  der 
Verzeihung  zunächst  nur  den  Verwandten  in  auf-  und  absteigender 
Linie,  den  Vaterbrüdern  und  ihren  Söhnen,  erst  aber  in  Er- 
mangelung dieser  den  entfernteren  Verwandten  zukommt.*) 

In  der  Vertheilung  seines  Vermögens  nach  seinem  Tode  ist 
der  Hausvater  unumschränkter  Herr,  und  kann  sein  ganzes  Ver- 
mögen Einem  unter  seinen  Söhnen  und  selbst  unter  seinen  Töch- 
tern ertheilen,  und  braucht  die  andern  nur  mit  irgend  einem 
Stück  Land,  wie  gering  es  sey,  abzufinden.  **)  Wirklich  wird  auch 
häufig  von  diesem  Rechte  Gebrauch  gemacht,  und  die  wohlthä- 
tigen  Folgen  davon  für  das  Land  sind  unverkennbar.  Die  Güter 
werden  nicht  getheilt,  der  Ackerbau  leidet  nicht,  und  die  aus- 
geschlossenen Kinder  sind  genöthigt,  sich  durch  eigne  Betriebsam- 
keit einen  unabhängigen  Unterhalt  zu  verschaffen. 

Rückweg    nach    Bayonne    über   Lequeitio,    Azcoitia, 
Azpeitia,  Ernani,  Oyarzun  und  Irun. 

Ich  sah  meine  Reise  durch  das  Spanische  Vaskenland  mit 
Guernica  als  geendigt  an,  und  eilte  jetzt  nur  einen  kurzen  und 
durch  die  Ueberschwemmung  nicht  zu  sehr  verwüsteten  Rückweg 
zu  finden. 

Zwischen  Renteria  und  Guernica,  die  einander  an  beiden 
Seiten  des  Flusses  gegenüber  liegen,  war  das  Wasser,  auch  auf 
der  Brücke,  noch  zu  hoch,  um  ohne  Gefahr  hinüberzureiten. 
Ein  grosser  starker  Mann,  den  man  mir  von  Rentetia  entgegen- 
geschickt, musste  noch  bis  an  die  Brust  hineinwaten ,  und  ein 
Maulthier  konnte  von  der  schmalen  Brücke,  von  der  die  Geländer 
weggerissen  waren,  leicht  abirren  und  hinunterfallen.  Ich  wählte 
daher  einen  Umweg  durch  eine  Gegend,  wo  sich  das  Wasser 
früher  verlaufen  hatte. 

Von  Renteria  bis  Arteaga  *** )  geht  der  Weg  durch  ein  hübsches, 


*)  Fueros.  tit.  ii.  /.  24.  p.  87. 

**)  apartando  con  algim  tanto  de  tierra,  poco  0  mucho  ä  los  otros  hijos  ö 
hijas.     Ib.  tit.  20.  /.  11.  je.   116.  tit.  21.  /.  6.  p.  125. 

***)  Eichenplatz  von  einem  dabei  befindlichen  Gehölz  von  Eichen,  encinas,  Vaskisch 
arteac. 


Rückweg  nach  Bayonne  über  Lequeitio,  Azcoitia,  Azpeitia,  Ernani,  Oyarzun  und  Irun.  170 

reichlich  mit   Häusern,    Gebüschen,   und   Weingeländen  besetztes 
Land. 

Hinter  Arteaga  gegen  Ereno  zu  steigt  man  die  Berge  hinan, 
welche  schon  die  l[leine  Ebene  des  ersteren  Ort[s]  rings  umgeben. 
Einen  schauerlichen  Anblick  gewährt  die  Kirche  von  Ereno,  auf 
einer  beträchtlichen  Höhe,  gross  aus  dunklen  Quadersteinen, 
einem  öden  und  kahlen  Felsen  gegenüber,  gebaut.  Von  Ereno 
aus  verliert  man  sich  gleichsam  in  einem  der  grossesten  und 
malerischsten  Gebirgswälder.  Der  Weg,  einer  der  schönsten, 
deren  ich  mich  erinnere,  geht  immer  über  beträchtliche  Höhen, 
unter  den  Schatten  von  Eichen  und  Kastanien,  von  unglaublicher 
Grösse  und  den  wildesten  und  mannigfaltigsten  Formen.  In  der 
Tiefe  sieht  man  auf  die  kleineren  Berge  hinab,  die  fast  alle  pyra- 
midenförmig sind,  und  in  die  durch  sie  gebildeten  kesseiförmigen 
Thäler,  aus  deren  Mitte  sich  gewöhnlich  wieder  ein  spitziger  Berg 
erhebt.  Aus  dem  Gebüsch  blicken  überall  moosbewachsne  Felsen  her- 
vor, herabgerollte,  zum  Theil  von  ungeheurer  Grösse,  liegen  einzeln 
da,  und  dazwischen  sind,  aber  sehr  sparsam,  einige  ländliche 
Wohnungen,  freie  Weideplätze,  und  gut  bestellte  Ackerstücke  ver- 
streut. In  der  Ferne  sieht  man  die  Lage  der  beiden  kleinen  Häfen 
Elanchove  und  Ea  zwischen  Mundaca  und  Lequeitio,  der  einzigen 
an  der  Biscayischen  Küste,  die  ich  nicht  besuchte.  Vor  dem 
ersteren  erscheint  hier  der  sogenannte  Banderenberg,*)  der  letztere 
liegt  in  der  Oefnung,  welche  dieser  und  der  von  Izpaster 
zwischen  sich  lassen.  Auf  dem  ganzen  Wege  fand  ich  Spuren 
der  Verheerung,  welche  die  Ueberschwemmung  angerichtet  hatte; 
weggerissene  Saaten,  ganz  verschüttete  Wege,  an  deren  Wieder- 
herstellung halbe  Dorfschaften  beschäftigt  waren,  Erdstücke,  die 
mit  ihren  Bäumen  und  Hecken  herabgerollt  waren ,  ertrunkene 
Schlangen,  Katzen  und  andre  Thiere,  welche  die  Flut  aus  ihren 
Schlupfwinkeln  vertrieben  hatte.  Dabei  war  der  Himmel  nach 
dem  Regen,  der  mehrere  Tage  angehalten,  in  Eine  graue  Wolke 
gehüllt;  nur  im  Abend  glänzte  eine  matte  und  melancholische 
Helle;  die  Luft  war  still  und  schwül,  und  kein  Blättchen  regte 
sich  in  dem  dichten  Wald  —  ein  feierliches  Schweigen  der  Natur 
nach  einer  grossen  Verwüstung.  Einige  Minuten  vor  ihrem  Unter- 
gange  trat   die   Sonne  doch   noch    in   röthliche  Wolken   verhüllt 


*)  von    Bandera,    Fahne,    weil    auf   diesen    Bergen    die   Signalfahnen    der   Häfen 
aufgesteckt  sind. 


inA  i-  Die  Vasken. 

vor.  ^)  Ich  ritt  gerade  die  lange  Höhe  hinter  Izpaster  hinauf  und 
genoss,  mich  oft  umsehend,,  des  romantischen  Anblicks  der  amphi- 
theatralisch  von  Bergen  umschlossenen  Ebne  des  Dorfs,  und  des 
tiefen  Waldthals  zur  Seite,  in  dem  die  Bäume  aus  dem  zusammen- 
gelaufenen Wasser  hervorblickten.  Vor  mir  lag  die  kahle  Felsen- 
höhe des  Bergs,  deren  natürliche  röthliche  Farbe  die  scheidenden 
Stralen  der  Sonne  zu  wahrem  Purpur  erhöhten.  Als  ich  dem 
Gipfel  nah  war,  verschwand  die  Sonne;  es  fing  an  warm  und 
still  zu  regnen,  und  als  ich  die  Höhe  erstiegen  hatte,  sah'  ich  die 
Fläche  des  Meers,  bloss  eine  deutlich  gezeichnete  ^)  Linie,  die 
das  Grau  der  Wolken  von  dem  Grau  des  Himmels  schied;  ein  un- 
beschreiblich schwermutherregender  ^)  Anblick ;  so  grosse,  so  stille,  so 
einförmige  und  so  farblose  Massen.  Es  war  fast  Nacht,  als  ich, 
von  den  Bergen  herabsteigend,  in  Lequeitio  ankam. 

Der  Morgen ,  den  ich  dort  zubrachte ,  gehört  zu  den  ver- 
gnügtesten, deren  ich  mich  erinnere.  War  es  der  Contrast  der 
vorhergegangenen  finstren  Regentage  mit  der  jetzt  in  aller  ihrer 
Lieblichkeit  zurückkehrenden  Sonne,  oder  entsprach  der  Gegen- 
stand wirklich  dem  Eindruck,  kurz  Lequeitio  schien  mir  das 
freundhchste  und  lebhafteste  Städtchen  an  dem  ganzen  Biscayischen 
Golf.  Die  Aussicht  von  der  sogenannten  oberen  Warte  (atalaya 
superior)  am  Fuss  des  Berges  Otoyo*)  ist  gross  und  majestätisch. 
Sie  umfasst  den  Busen  vom  Vorgebirge  Machichaco  bis  an  das 
del  Higiier  und  ein  Paar  einzelne  mahlerische  Punkte,  die  sonst 
nirgend  recht  ins  Auge  fallen,  sind  die  Berge  von  Ea  und  Elan- 
chove.  Vor  dem  Hafen  der  Stadt,*)  der  eine  schön  umkränzte, 
ostwärts  durch  das  Vorgebirge  Garaspio  geschlossne  Bucht  bildet, 
liegt  die  Insel  S.  Nicolas  vor,  auf  der  im  letzten  Kriege  eine  ehe- 
mals darauf  stehende  Einsiedelei  ^)  einem  Fort  Platz  mächen  musste. 

Ein  Spatziergang  hier  am  Morgen  zeigt  mit  Einem  Blick  die 
ganze  Existenz  des  Örtchens,  das  mit  Wahrheit  eine  Fischer- 
republik genannt  werden  kann,  da  alles  darin  vom  Fischfange 
lebt,  und  was  nur  darauf  Bezug  hat  nach  gemeinschaftlicher  Be- 
rathung   unternommen   wird.     Bei  Tagesanbruch  gehen  zwei  so- 


*)  Lindenberg  von  Ota,  Linde,  und  oyana,  Höhe. 

')  „trat  ....  vor"  verbessert  aus  „erschien''. 

^)  „gezeichnete"  verbessert  aus  „abgeschiedene". 

^)  „schwermutherregender"  verbessert  aus  „wehmüthiger". 

*)  „der  Stadt"  verbessert  aus  „des  Örtchens". 

^)  „Einsiedelei"  verbessert  aus  „Hermita[ge]". 


Rückweg  nach  Bayonne  über  Lequeitio,  Azcoitia,  Azpeitia,  Ernani,  Oyarzun  und  Irun.    j^- 

genannte  Zeichengeber  {Seheros)  auf  die  kleine  Warte  dicht  beim 
Hafen  (die  obere  grosse  ist  eine  halbe  Stunde  weit  entfernt)  und 
erkunden  Wetter  und  Meer.  Ist  es  stürmisch,  so  lassen  sie  keinen 
Fischer  hinaus.  Giebt  es  Hofnung  für  den  Tag,  so  versammeln 
sie  die  Ruferinnen  {imichachas  llamadoras)  —  Mädchen,  welche  die 
Fischer  wecken  müssen  —  berathschlagen  noch  einmal,  und  senden 
dann  die  Mädchen,  einige  zwanzig  an  der  Zahl,  aus.  Nun  er- 
schallt ein  Rufen :  levanta  te  e7i  el  nombre  de  Dios !  stehe  auf  im 
Namen  Gottes !  durch  alle  Gassen  des  Städtchens ;  die  Fischer 
und  ihre  Gehülfen  kommen  zusammen,  die  Schiffsherren  bereden 
sich  nun  selbst  unter  einander,  und  die  Mehrheit  der  Stimmen 
entscheidet,  ob  ausgefahren  werden  soll  oder  nicht. 

Dann  ist  es  Zeit  den  Hafen  zu  besuchen,  wo  dann  der  Ver- 
kauf der  am  vorigen  Tage  gefangenen  Fische  und  das  Auslaufen 
zum  neuen  Fang  alles  in  Bewegung  setzt.  Der  Markt  ist  auf 
den  Kähnen  selbst,  und  die  aufkaufenden  Mädchen  laufen  mit 
Körben  auf  den  Köpfen  im  niedrigen  Wasser  von  einem  Nachen 
zum  andern.  Indess  tragen  die  Männer  die  Netze  in  die  Schiffe. 
Die  grossen  {Traums)  sind  sehr  theuer  anzuschaffen,  und  der 
Schiffsherr,  dem  sie  gehören,  lässt  daher  seinen  Gehülfen  nur  die 
Hälfte  des  Fanges  und  behält  die  andre  für  sich.  Ist  in  den  ^) 
Fahrzeugen  alles  geordnet,  so  laufen  sie  aus,  rudern  mit  frohem 
Muth  um  die  Wette,  zwischen  der  Insel  und  dem  Ufer,  der  Hof- 
nung des  Tages  zu,  und  die  kleinen  Nachen  schwanken  mit  un- 
glaublicher Geschwindigkeit  auf  den  Rücken  der  heranschwellenden 
Wellen  hin.  Sobald  sie  hinter  der  Insel  die  Höhe  erreicht  haben, 
zerstreuen  sie  sich  in  dem  ganzen  Busen,  und  nun  vermischen 
sich  alle  der  ganzen  Küste  auf  der  freien,  kein  gesondertes  Eigen- 
thum  kennenden  Fläche  des  Meers.  Doch  gehen  sie  selten  über 
4  bis  5  Seemeilen  weit  in  die  ofne  See,  und  jeder  Ort  kennt 
leicht  die  seinigen  wieder.  In  dem  Augenblick ,  da  ein  Sturm 
droht,  wird  ^j  Rauch  auf  der  Warte  gemacht,  und  auf  dies  Zeichen 
kehren  augenblicklich  alle  entweder  in  ihren  eignen  Hafen,  oder 
in  einen  fremden,  den  ersten,  den  sie  erreichen  können,  zurück. 
So  leben  alle  Küstenbewohner  Biscayas  durch  das  Element  selbst, 
das  ihnen  hauptsächlich  ihre  Nahrung  gewährt,  in  täglichem  und 
ununterbrochenem  \"erkehr  mit  einander. 

Die  Folgen  der  Ueberschwemmung,  welche   die  gewöhnliche 

•)  Nach  „den"  gestrichen :  „kleinen". 
'^)  Nach  „wird"  gestrichen:  „ein". 


176 


I.  Die  Vasken. 


Strasse  verderbt^)  hatte,  nöthigten  mich  meinen  Weg  bis  Motrico 
über  die  höchsten  Spitzen  der  Berge  zu  nehmen;  ich  wurde  aber 
für  die  Beschweriichkeit  des  Steigens  durch  die  herrliche  Aussicht 
auf  der  einen  Seite  aufs  Meer,  auf  der  andern  in  die  liebUchen 
Thäler   nach  Barriatua  und  Marquina  zu  reichhch  entschädigt. 

Zwischen  Motrico  und  Elgoibar  war  die  Chaussee  so  zerstört, 
dass  Tages  zuvor,  als  ich  den  Weg  machte,  dem  Kloster  von 
Sasiola  gegenüber,  ein  Maulthierführer  mit  vier  Maulthieren  in 
die  Deva,  die  der  Regen  zu  einem  reissenden  Strome  angeschwellt 
hatte,  ^)  [gefallen  undj  ertrunken  war. 

Hinter  Ondarroa  war  ich  wieder  in  Guipuzcoa  eingetreten, 
und  der  Waldweg  von  Elgoibar  bis  Azcoitia  ist  milder  und  freund- 
licher als  die  meisten  Gegenden  des  rauheren  Vizcayas.  Nur  der 
Izarraiz,  an  dessen  Seite  ich  lange  Zeit  hinritt,  ist  eine  steile,  öde  ^) 
und  hohe  Felswand,  voll  von  Marmorbrüchen,  aber  an  der  steilen 
Seite  meistentheils  ohne  Vegetation.  Azcoitia  und  Azpeitia  sind 
das  lebendigste  Bild  des  Biscayischen  Wohlstandes.  Nur  eine 
kleine  Viertelstunde  von  einander  entfernt  und  durch  eine  fort- 
laufende steinerne  Fussbank  für  Fussgänger  an  der  Urola  hin  mit 
einander  verbunden,  scheinen  beide  nur  Einen  Flecken  auszu- 
machen. Jeder  beider  Orte  hat  seine  grosse,  mit  Pracht  auf- 
geführte Pfarrkirche,  *)  und  die  Bauart  der  Häuser,  die  Reinlichkeit 
in  den  Strassen,  die  hübsch  angelegten  Spatzierplätze,  alles  zeugt 
von  dem  reichlichen  Auskommen  ihrer  Bewohner.  Doch  sind 
beide  nur  kleine  Ackerstädtchen,  aber  freilich  in  dem  fruchtbarsten 
Theile  Guipuzcoas. 

Auch  hier  klagt  man  über  die  Schädlichkeit  der  Gemeingüter, 
die  vorzüglich  den  Waldungen  nachtheilig  sind.  Man  verkauft  zu 
schnell,  wann  ein  Geldbedürfniss  bei  der  Gemeine  eintritt,  man 
lässt  durch  unordentliche  Wirthschaft  und  Mangel  an  Aufsicht 
umkommen  und  wegstehlen,  und  pflanzt  nicht  hinlänglich  nach. 
Patriotisch  gesinnte  Männer  haben  Vorschläge  gegen  diese  Mis- 
bräuche  gemacht,   allein  bis  jetzt  ohne  den  erwünschten  Erfolg.^) 

Zwischen  Azcoitia  und  Azpeitia  liegt  auf  einer  Ebne,   in  der 


')  „verderbt"  verbessert  aus  „verdorben". 

*)  „der  —  hatte"  verbessert  aus  „zu  einem  ....  geworden  war". 
^)  „öde"  verbessert  aus  „lange". 
*)  „Pfarrkirche"  verbessert  aus  „Haup[tkirche]^'. 

"*)  „allein  —  Erfolg"  verbessert  aus  „haben  aber  bis  jetzt  nicht  durchdringen 
können". 


Rückweg  nach  Bayonne  über  Lequeitio,  Azcoitia,  Azpcitia,  Ernani,  Oyarzun  und  Irun.     i-jn 

es  einer  schönen  Aussicht  auf  die  Felswand  des  Izarraiz  und  die 
fruchtbaren  Ufer  der  Urola  geniesst,  das  ehemalige  JesuiterColle- 
gium  S.  Ignazio  de  Loyala,  ein  wegen  seiner  Pracht  im  ganzen 
Spanien  berühmtes  Gebäude.  Die  Pracht  sey  ihm  dann  auch 
nicht  streitig  gemacht,  vielmehr  wird  jeder  Reisende  mit  Ver- 
gnügen das  herrliche  Farbenspiel  des  so  reichlich  verschwendeten 
einheimischen  Marmors  aus  den  benachbarten  Brüchen  des  Izarraiz 
bewundern.  Desto  mehr  aber  wird  er  zugleich  Geschmack  und 
edeln  Stil  in  der  Bauart  vermissen.  Die  Verhältnisse  haben  nichts 
Einfaches  und  Grosses,  am  besten  wäre  vielleicht  noch  die  Kuppel, 
allein  auch  sie  ist,  so  wie  das  Ganze,  mit  Schnörkeln  und  Ver- 
zierungen überladen.  Ueberdiess  ist  das  Gebäude  bei  weitem  noch 
nicht  fertig.  Seit  der  ^>rtreibung  der  Jesuiten  welche  dieser  An- 
stalt eine  grosse  Ausdehnung  und  Wichtigkeit  geben  wollten,  da 
meistentheils  die  alten  dahin  kamen,  ihr  Leben  dort  zu  beschliessen, 
ist  keine  Hand  daran  gelegt  worden,  und  alles  steht  und  liegt 
noch  so  da,  wie  sie  es  verliessen.  Jetzt  hat  es  der  König  einem 
Capitel  von  Praemonstratenser  Canonicis  eingeräumt,  die  von  den 
Franzosen  im  letzten  Kriege  aus  ihrem  Wohnsitz  vertrieben  worden 
waren.  Die  silberne  Statue  des  Heiligen  hatte  man  damals  nach 
Castilien  gerettet. 

Das  Merkwürdigste  ist  der  noch  stehende  Theil  des  Hauses 
des  Heiligen,  in  welchem  man  noch  seine  Kapelle  sieht,  und  an 
das  die  Vorderseite  des  neuen  Gebäudes  angebaut  ist.  Es  ist  ein 
hohes,  gelbangestrichnes  Haus,  mit  kleinen  Fenstern  und  durch- 
brochnen  Verzierungen,  die  in  langen  Streifen  unter  den  Fenstern 
hingehn.  Hier  wohnte  dieser  wunderbare  Mann,  der  auf  die 
seltsamste  W^eise  die  abentheuerlichen  Ideen  des  Rittergeistes 
seiner  Zeit  mit  religiösen  Schwärmereien  verband,  und  wohl 
schwerlich  ahndete,  zu  welcher  Grösse  und  Macht  der  von  ihm 
gestiftete  Orden  ausarten  oder  gedeihen  würde. 

Von  Azpeitia  nahm  ich  einen  einsamen,  nur  gewöhnlich  von 
Contrebandiers  und  einigen  wenigen  Landleuten  besuchten  Fuss- 
steig  ^)  nach  Astiasu.  Ein  wilder  Weg  über  das  Gebirge  in  dem 
dicksten  von  prächtigen  Bergströmen  durchrauschten  Walde.  Von 
Häusern  findet  man  bloss  einige  einzelne  Herbergen  —  Ventas. 
Die    höchste   ist   die   von   Iturriotz,  *)   hinter   der  man   das   ganze 


*)  kalter  Quell  von  Ituria,  die  Quelle,  und  Otza,  kalt. 
')  „Fusssteig"  verbessert  aus  „Weg". 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     XIH. 


178 


1.  Die  Vasken. 


Land  bis  an  den  Ausfluss  des  Orio,  S.  Sebastian  und  das  Meer 
übersieht. 

Bei  ^^illabona  erreichte  ich  die  gewöhnliche  Madrider  Heer- 
strasse wieder,  von  welcher  der  Weg  von  Ernani  bei  Oyarzun 
unstreitig  der  reizendste  Theil  ist. 

Auf  der  Bidassoa  fand  ich  jetzt  eine  Fähre  statt  der  ehemaligen, 
einige  Zeit  vorher  vom  Wasser  weggerissenen  Brücke.  Ueber 
diese  Fähre  war  bei  Gelegenheit  der  Reise  des  verstorbenen 
Königs  von  Toscana  nach  Frankreich  ein  Streit  zwischen  den 
Bewohnern  von  S.  Sebastian  und  Irun  entstanden,  der  nicht  ohne 
blutige  Köpfe  abging.  Beide  wollten  den  König  übersetzen  ;  beide 
aber  verfehlten  ihre  Absicht,  da  der  König  einen  neutralen  Fischer- 
nachen nahm,  der  sich  gerade  am  Ufer  befand. 

Das  Französische  Basquenland. 

Wie  man  in  Frankreich  die  Französischen  und  Spanischen 
Vasken  mit  zwei  verschiedenen  Namen  (Basques  und  Biscayem) 
bezeichnet,  so  verbindet  man  auch  mit  dem  Charakter  von  beiden 
verschiedene  Begriffe.  An  den  Basken  rühmt  man,  und  mit  Recht, 
Stärke  und  Behendigkeit  des  Körpers,  einen  hohen  Grad  warmer 
und  lebhafter  Einbildungskraft,  ein  beständiges  Streben  nach  grossen 
oft  sonderbaren  und  carricaturartigen  Ideen,  ein  zartes,  immer  reges 
und  leicht  bewegliches  Gefühl,  und  einen  Geist  der  Freiheit,  der 
allem  gesellschaftlichen  Zwange  entgegenstrebt;  aber  man  wirft  zu- 
gleich ihrem  Charakter  Leichtsinn,  unbegrenzten  Hang  zum  Ver- 
gnügen und  unbeständigen  Wechsel  in  den  Neigungen  vor.  Die 
Bisca3^er  geniessen  bei  ihren  Landsleuten  und  ihren  Nachbarn  eines 
solideren  Rufes.  Körperliche  Behendigkeit  und  Stärke,  Gewandt- 
heit des  Geistes  und  edler  Freiheitssinn  werden  ihnen  ebensowenig 
abgesprochen;  aber  sie  gelten  übrigens  gerade  vorzugsweise  für 
eine  überlegende,  arbeitsame,  in  ihren  Planen  mit  Festigkeit  be- 
harrende, und  sich  einem  nothwendigen  Zwange  gern  unter- 
werfende Nation. 

In  der  That  bilden  sie  aber  auch  ein  eignes  abgesondertes 
Volk,  bewohnen  ein  durch  Gebirge  und  das  Meer  geschiedenes 
Land,  besitzen  ergiebige  Quellen  des  Erwerbs  und  des  Reichthums, 
und  machen  in  strengem  Verstände  einen  eigenen  Staat  aus.  Die 
Französischen  Basquen  sind  bloss  ein  kleiner  fremdartiger  Stamm 
in   einem  grossen   ihnen    auf  jede  Weise   überlegenen  Volk;   ihr, 


Das  Französische  Basquenland.  170 

Land  ist  arm  und  besteht  grösstentheils  nur  aus  Viehweiden ;  und 
wenn  sie  auch,  vor  der  Revolution,  ausschliessliche  Rechte  be- 
sassen,  so  ist  doch  noch  weit  von  da  bis  zu  einer  eignen  Ver- 
fassung und  einem  abgesonderten  Staat.  Ueberhaupt  aber  war 
der  Nationalgeist  in  Frankreich  nie  dergestalt  provinzenweise  zer- 
spalten, als  es  noch  heutiges  Tages  in  Spanien  der  Fall  ist.  Auch 
werden  die  Basquen  immer  mit  den  Franzosen  verglichen,  denen 
sie  in  keiner  Rücksicht  den  Rang  streitig  machen  können;  die 
Biscayer  mit  den  Spaniern,  welchen  sie  offenbar  in  mehreren^) 
Stücken  überlegen  sind. 

Indess  klären  alle  diese  Umstände  noch  immer  nicht  die  Er- 
scheinung ganz  auf.  Die  Spanischen  Vasken  haben  offenbar  etwas 
Langsameres,  Schwerfälligeres  in  ihrem  Wesen,  ihre  Gesichtszüge 
selbst  drücken  weniger  Beweglichkeit,  weniger  Feinheit,  weniger 
Geist  und  Einbildungskraft  aus,  sie  haben  dagegen  vielleicht  festere, 
und  reiner  geschiedene  Grundzüge,  in  welchen  sich  der  gleiche 
Stammcharakter  beider  stärker  und  einfacher  ausdruckt.  Der  Unter- 
schied scheint  also  tiefer  und  in  der  eigentlichen  Organisation^) 
zu  liegen.  Wie  gering  '^)  auch,  wenn  von  Geist  und  Charakter 
die  Rede  ist,  die  Scheidewand  selbst  der  grossesten  Gebirgskette 
scheinen  kann,  so  weiss  man  doch  nicht,  wie  wichtig  es  seyn 
mag,  auf  der  einen  oder  anderen  Seite  zu  wohnen;  und  wie  ihre 
Bewohner  eine  lebendigere  Heiterkeit,  so  zeichnet  auch  die  Thäler 
und  Gipfel  der  Pyrenäen  auf  der  Französischen  Seite  ein  lachen- 
deres und  freundlicheres  Ansehn  aus.  Ja  der  Dialect  der  Basquen 
selbst  (der  sich  indess  freilich  auch  über  Navarra  erstreckt)  hat 
eine  gewisse  Lieblichkeit  vor  dem  von  Guipuzcoa  und  \'izcaya 
voraus,  und  schmeichelt  sich  w^enigstens  dem  Fremden,  der  sich 
einigermassen  um  die  Landessprache  bekümmert,  durch  leichtere 
Verständlichkeit  an.  Der  Basquische  Charakter  dem  französischen 
beigemischt  (wie  man  es  in  Personen,  die  Literatur  und  Umgang 
gebildet  hat,  antrift)  giebt  dem  letzteren  einen  unbeschreiblichen 
Reiz.  Er  giesst  einen  Schmelz  der  Einbildungskraft  zugleich  über 
den  Geist  und  das  Gefühl,  scheint  jenen  zu  unabhängigeren  Ideen 
zu  erheben,  in  dieses  die  ursprünglichen  Naturlaute  zurückzurufen, 
und  trägt  noch  gleichsam  die  Farbe  der  grossen  Naturgegenstände, 


^)  „mehreren"  verbessert  aus  „einigen". 

^)  Nach  „Organisation"  gestrichen:  „selbst". 

^)  >»^^^  gering"  verbessert  aus  „Wer  weiss". 


j^Q  I.  Die  Vasken. 

des  Gebirges  und  des  Meers,  und  der  einfachen  Verhältnisse  eines 
armen,  nur  Ackerbau  und  Viehzucht  treibenden  Volkes  an' sich, 
wenn  man  sich  auch,  bei  genauerer  Untersuchung,  eben  so  sehr 
und  vielleicht  noch  mehr  um  den  wahren  Gehalt  ächter  Charakter- 
einfalt betrogen  findet. 

Diese  Verschiedenheiten  zwischen  den  beiden  nur  zufällig  von 
einander  abgerissenen  Theilen  der  Vaskischen  Nation  treten  aber 
sogleich  in  einen  starken  Schatten  zurück,  sobald  man  beide  mit 
ihren  Nachbarn,  den  Gasco?is  und  den  Castilianern ,  vergleicht. 
Bei  Völkerstämmen,  die  keine  Literatur,  und  nicht  einmal  alle 
eine  eigne  Sprache  besitzen,  und  die  in  der  Geschichte  wenigstens 
nicht  einzeln  auf  eine  bedeutende  Weise  aufgetreten  sind,  ist  es 
nicht  möglich,  eigentliche  Beweise  ihrer  Charakteristik  beizubringen, 
man  kann  nur  seine  eigne  Beobachtung  mittheilen,  und  sich  auf 
das  zustimmende  Urtheil  desjenigen  berufen,  der  Augenzeuge  ge- 
wesen ist,  oder  noch  seyn  wird.  Aber  jeder  aufmerksame  Rei- 
sende wird,  glaube  ich,  in  den  Vasken  noch  mehr  GeistesUnab- 
hängigkeit,  ^)  eine  sichtbarere  Erhebung  der  Gefühle,  einen  ge- 
diegneren Charaktergehalt  und  in  den  Physiognomien  einen  kraft- 
volleren Ausdruck  antreffen  als  in  ihren  Französischen  Nachbarn, 
und  so  wie  er  hinter  Vitoria  in  Castilien  eintritt  die  Heiterkeit 
und  den  immer  regen  Frohsinn  vermissen,  dessen  der  düstre 
Castilianer  nicht  fähig  scheint.  Dagegen  hat  der  Vaske  auch  nicht 
die  Leidenschaftlichkeit,  und  wenn  gleich  eine  starke  und  beweg- 
liche, nicht  eine  so  tiefe  und  heftige  Phantasie  als  jener  schon  in 
den  finstern  Augenbraunen,  und  dem  funkelnden,  meistentheils 
zur  Erde  gesenkten  Blick  verräth.  Der  Biscayer  ist  nüchterner, 
als  sein  mehr  südlicher  Nachbar,  und  wenn  er  eine  vaterländische 
Poesie  haben  könnte,  würde  sie  schwerlich  Gefühl  und  Einbil- 
dungskraft so  wie  die  Spanische  hinreissen.  Selbst  das  weibliche 
Geschlecht  hat,  wie  schon  oben  bemerkt  worden,-)  etwas  Trocknes, 
Steifes  und  Strenges  in  Gesichtsbildung  und  Wuchs,  und  man 
stösst  eher  auf  Elemente  der  Schönheit  in  einem  Gesicht,  als  auf 
eine  eigentlich  reizende,  oder  üppige  Gestalt.  Im  Basquen,  Bis- 
cayer und  Castilianer  finden  Ausländer  noch  Spuren  einer  gewissen 
Rohheit  übrig.  Aber  bei  dem  Biscayer  möchte  man  sie  Rohheit 
der  Gutmüthigkeit   nennen   und   sie    bloss  einem  Mangel  der  Bil- 


')  „GeistesunabhängigkeiV  verbessert  aus  „Geist  der  Unabhängigkeit". 
^]  Vgl  oben  S.  21. 


Das  Französische  Basquenland.  l8l 

dung  zuschreiben;  in  dem  leidenschaftlichen  Castilier  nimmt  sie 
leicht  einen  höheren,  aber  auch  furchtbareren  Charakter  an,  und 
scheint  mir  nicht  sowohl,  wie  Spanische  Schriftsteller  behaupten, 
Ueberrest  Maurischen  Bluts  und  Maurischer  Barbarei,  als  Folge 
eines  von  der  Natur  nicht  begünstigten  Landstrichs,  eines  in  beiden 
Extremen  widrigen  Climas,  politischen  und  religiösen  Drucks  und 
endlich  vielleicht  auch  des  wilden  ungemächlichen  Lebens  zu 
welchem  der  Castilier,  so  oft  besiegt  und  nie  ganz  und  auf  lange 
unterjocht,  vorzugsweise  vor  andern  Bewohnern  Spaniens  durch 
die  Maurenkriege  verdammt  war;  in  der  Rohheit  des  Basquen, 
die  einen  leichteren  und  graziöseren  Charakter  an  sich  trägt, 
möchte  ich  mehr  die  des  Wilden  antreffen,  dem  der  gesellschaft- 
liche Zwang  verhasst  ist.  Alle  Vasken  aber,  ohne  Rücksicht  auf 
ihre  Vertheilung  unter  verschiedene  Herrschaft,  kommen,  nur  mit 
Unterschieden  des  Grades,  in  achtem  Freiheitssinn,  edlem  National- 
stolz, fester  Anhänglichkeit  an  einander,  ausgezeichneter  Liebe  zur 
Ordnung  und  ReinHchkeit,  heitrem  Frohsinn,  und  der  körper- 
lichen und  intellectuellen  Stärke  und  Gewandtheit  überein,  die 
sie  als  kühne,  behende,  immer  an  neuen  Hülfsmitteln  reiche  Berg- 
bewohner darstellt.^)  Da  alle  Bestimmungen  dieser  Art  immer 
von  dem  Verhältniss  zu  den  Vergleichungspunkten  abhängen,  so 
könnte  man  sie  vielleicht  am  besten  als  ein  südliches  Bergvolk 
und  als  Nordländer  eines  südlichen  Landes  charakterisiren. 

Aus  der  Charakterverschiedenheit  der  mittäglichen  Franzosen, 
N'asken  und  Spanier  geradezu  auf  Verschiedenheit  der  Abkunft 
zu  schliessen,  dürfte,  um  dies  beiläufig  zu  bemerken,  voreilig  seyn. 
Seit  so  vielen  Jahrhunderten  geschieden,  und  in  ganz  verschiedenen 
Lagen  lebend,  haben  sich  diese  Modificationen  nach  und  nach 
ausgebildet,  und  dem  ungeachtet  können  sehr  füglich  —  ohne 
auch  darüber  schon  jetzt  entscheiden  zu  wollen  —  die  Vorväter 
der  Vasken  auch  Aquitanien  und  Castilien  bewohnt  haben,  und 
ihre  Enkel  noch  einen  beträchtlichen  Theil  der  jetzigen  Bevölke- 
rung dieser  Provinzen  ausgemacht  haben.  Die  Identität  eines 
Stamms  lässt  sich  indess  mit  Gewissheit  nie  über  die  Identität 
seiner  Sprache  hinaus  beweisen,  und  das  Einzige,  was  sich  dem 
Augenschein  und  der  Untersuchung  als  unbezweifelt  und  unbe- 
streitbar aufdringt,  ist,   dass  alle  \"asken  Eine  Nation  ausmachen, 


')  „darstellt"  verbessert  aus  „char akter isirt". 


j^2  ^'  ^i^  Vasken. 

und  die  Aehnlichkeit  ihrer  Charakterzüge  im  Ganzen  aus  der 
Gleichheit  ihrer  Abstammung  hergeleitet  werden  mag. 

Denn  dadurch  dass  die  mannigfaltigen  Einflüsse  des  Climas, 
der  Lebensart,  der  Verfassung,  der  Sitten  u.  s.  f.  individuell  durch 
die  Fortpflanzung  fixirt;  nationeil  durch  Zusammenhalten  in  Einen 
Völkerhaufen  mit  Entgegensetzung  andrer  als  fremder  verstärkt; 
und  geschlechterweise  durch  die  Sprache  an  Einem  ununter- 
brochenen ^)  Faden ,  unter  beständigem  Wechsel ,  forterhalten 
werden,  entstehen  Nationalcharaktere,  und  nur  diess  Gesetz  und 
seine  drei  gleich  wesentlichen  Momente  machen  die  Stätigkeit 
einiger  unter  denselben  in  ganz  verschiedenen  Umgebungen,  andern 
Climaten,  und  andern  Erdstrichen  erklärlich. 

Unter  den  Gascognern,  und  namentlich  in  Bayonne,  hat  der 
grosse  Haufe  der  Basquen  das  Schicksal,  das  jede  kleinere  und 
sich  doch  selbst  hartnäckig  absondernde  Menge  unter  einer  grösseren 
erfährt.^)  Man  nennt  sie  diebisch,  hinterlistig  und  feige,  und  nur 
da  kühn,  wo  sie  ihren  Feind  ungesehen  anfallen  können,  und 
warnt  vor  einer  Reise  in  die  friedlichen  und  einsamen  Thäler  von 
Ustaritz,  Buigney  u.  s.  w.  wie  vor  einer  Reise  in  die  Wildniss. 
Glücklicher  Weise  sind  indess  diese  Urtheile  dem  aufgeklärten 
Theil  der  Nation  fremd,  und  wenn  der  Vorwurf  der  Schlauheit 
und  Hinterlist  einigen  Grund  der  Wahrheit  hat,  so  liegt  es  nur 
darin,  dass  der  Vaske  (vorzüglich  der  Französische)  mehr  schnell 
und  gewandt,  als  gross  und  stark  ist,  und  dass  sie,  als  ein  kleines 
Bergvolk,  ehemals  immer  mit  überlegenen  Feinden  zu  kämpfen 
hatten,  und  jetzt,  als  Grenzbewohner,  durch  die  unzweckmässigen 
Einschränkungen  der  Staaten  selbst  verleitet  werden,  aus  dem 
Schleichhandel  ^)  ein  Gewerbe  zu  machen. 

Wenn  auch  die  drei  Theile ,  aus  welchen  bekanntlich  das 
Französische  Basquenland  besteht,  das  pais  de  Labourd,  Unter- 
Navarra,  und  die  Soule  weniger  eng  zusammenhiengen,  als  die 
Spanisch Vaskischen  Provinzen,  so  genossen  sie  doch  auch  weit 
andere  Vorrechte,  als  alle  übrige  Provinzen  Frankreichs.  Jede 
hatte  ihre  Ständeversammlungen,  alle  bezahlten  der  Regierung 
nur  geringe  Steuern,  und  wenn  der  Adel  oder  die  Geistlichkeit 
noch  einige  Vorrechte  besassen,  so  waren  sie  äusserst  unbedeutend. 
Daher  wurde  auch   die  Revolution  von   den   Basquen   mit  mehr 

^)  „ununterbrochenen''''  verbessert  aus  „fortl[aufenden]". 

2)  Nach  „erfährt"  gestrichen:  .,Ihre  Gewandtheit  wird  Schlau[heit]". 

*)  „detn  Schleichhandel"  verbessert  aus  „der  Contrebande" . 


Das  Französische  Basquenland.  'iS*? 

Kälte  aufgenommen,  als  man  von  ihrem  Freiheitssinne  hätte  er- 
warten sollen.  Sie  konnten  durch  die  Gleichsetzung  mit  den 
übrigen  Bürgern,  vor  denen  sie  sonst  Vorzüge  voraus  hatten,  nur 
verlieren,  und  selbst  ihr  ländlicher  Wohlstand  verminderte  sich 
durch  die  neue  Gesetzgebung,  da  die  Güter  jetzt  nicht  mehr,  wie 
sonst,  dem  ältesten  Sohne  zufielen,  sondern  unter  alle  Kinder  ver- 
theilt  und  dadurch  versplittert  wurden. 

In  Labourd  wählten  die  Gemeinen  sich  einen  Syndicus  und 
dieser  war  unmittelbar  der  Regierung  unterworfen,  nur  dass  der 
Intendant  der  Provinz  eine  Mittelsperson  zwischen  ihm  und  dem 
Hofe  war.  Die  Wähler  bestanden  bloss  aus  dem  dritten  Stande ; 
Adel  und  Geistlichkeit  waren  gänzlich  von  der  Wahl  ausgeschlossen. 
Ihre  Zusammenkünfte  hiessen  Bütgirreac*)  ^^ersammlungen  der 
Alten.  Sie  vertheilten  auch  die  Steuern,  und  wiewohl  alle  Steuern 
damals  Grundsteuern  waren,  und  der  Adel  bei  weitem  nicht  den 
achten  Theil  der  Ländereien  besass,  so  wurde  ihm  doch  immer 
ein  Achtel  aller  Steuern  aufgelegt.  Dennoch  ward  er  für  diese 
grössere  Last  durch  keine  herrschaftlichen  Vorrechte  entschädigt.^) 
Da  das  Ländchen  sich  auf  Vorschlag  des  Vicomte  de  Guitane 
freiwillig  an  die  Krone  ergeben  hatte;  so  bezahlte  es  in  den 
ältesten  Zeiten  derselben  nur  52  francs  jährlich,  und  noch  am 
Ende  des  17.  Jahrhunderts  nicht  mehr  als  200.  Selbst  in  den 
letzten  Zeiten  war  es  im  Verhältniss  zu  andren  Provinzen  nur 
massig  besteuert.  Stempelpapier  wurde  erst  20  bis  30  Jahre  vor 
der  Revolution  darin  eingeführt. 

In  UnterNavarra  nahmen  zwar  alle  drei  Stände  an  den  ge- 
meinsamen Berathschlagungen  Theil.  Aber  in  allem  was  die 
Finanzen  des  Landes  betraf,  hatten  die  Gemeinen  das  Veto  selbst 
dann,  wann  Adel  und  Geistlichkeit  mit  einander  einstimmig  waren. 
Auch  die  sonst  dem  Adel  ausschliesslich  vorbehaltnen  Rechte, 
Waffentragen,  Jagd  u.  s.  f.  waren  allen  gemein. 

Das  geschriebene  Gesetz  der  Soule,  les  coutumes  de  la  Soule, 
(es  ist  gascognisch  abgefasst,  so  wie  das  von  Unternavarra  fran- 
zösisch) hebt  gleich  mit  Aufzählung  der  hauptsächlichsten  Vor- 
rechte der  Provinz  an.  Jeder  Einwohner,  heisst  es,  ist  frei,  und 
das  Land  ein  freies  Land;  jeder  kann  sich,  wie  er  es  für  gut  hält, 
verheirathen ,   zum   Priester   weihen   lassen,   und   aus  dem  Lande 


*)  Biltua,  sich  versammeln,     (^aharra  (Guipuzcoanisch  Zarrä),  der  Alte. 
')  Bei  diesem  Satze  steht  am  Rande  ein  Fragezeichen. 


i84 


Die  Vasken. 


wegbegeben;  jeder  hat  das  Recht  Waffen  zu  tragen;  keiner  Ge- 
meine ist  es  verwehrt  sich  so  oft  zu  versammeln,  als  ihre  gemein- 
schaftlichen Angelegenheiten  es  erfordern.  Auch  in  der  Soule 
hatten  ehemals  alle  drei  Stände  zu  den  allgemeinen  Zusammen- 
künften rechtmässigen  Zutritt;  die  Geistlichkeit  verlor  aber  nach 
und  nach,  weil  sie  zu  erscheinen  versäumte,  ihr  Recht  und  der 
Adel  blieb  allein  mit  den  Gemeinen  zurück.  Waren  beide  mit 
einander  uneins,  so  entschied  der  König. 

Da  die  Französische  Revolution  alle  diese  einzelnen  Ver- 
fassungen über  den  Haufen  gestürzt  hat,  so  würde  es  unzweck- 
mässig seyn,  länger  bei  Auseinandersetzung  derselben  zu  ver- 
weilen. 

Meine  erste  Auswanderung  war  über  Ustaritz  nach  Itzatzu. 
Das  Französische  Basquenland  ist,  wo  man  sich  nicht  in  die  Berge 
vertieft,  weder  schön,  noch  malerisch  zu  nennen.  Es  hat  vielmehr 
in  seinen  meisten  Theilen  ein  ödes  und  wüstes  Ansehn.  Zwar 
sind  die  einzelnen  Acker-  und  Gartenstücke  mit  der  diesem  Volke 
eigenthümlichen  Sorgfalt  und  Reinlichkeit  bearbeitet,  aber  im  Ganzen 
nähren  sich  die  Französischen  Basquen  mehr  von  Viehzucht  als 
Ackerbau,  lassen  daher  viel  Land  bloss  als  Weide  liegen,  und  sind 
auch  mehr,  als  die  Spanischen,  dem  Vergnügen  ergeben.  Auf 
grossen  Strecken  sieht  man  daher  nichts  als  Heidekraut  {bruyere) 
das^)  auch  zugleich  abgemäht,  eingestreut  und  zu  Mist  gemacht 
wird.  Selbst  der  fleissige  Hauswirth  darf  seinen  Antheil  an  diesen 
Ländereien  nicht  ohne  Erlaubniss  der  Gemeine  einzäunen,  weil 
sonst  dem  Vieh  die  gemeinschaftliche  Weide  geschmälert  wird. 
Einzelne  Häuser,  abgesondert  im  Felde  oder  Gebirge  liegend, 
erinnere  ich  mich  nicht  hier  angetroffen  zu  haben.  Aber  die 
Wohnungen  der  Dörfer  selbst  sind  zerstreut,  und  bilden  un- 
geheuer lange,  immer  durch  Gärten,  und  Ackerstücke  unter- 
brochene Strassen. 

Von  Baj^onne  bis  Itzatzu  verlässt  der  Weg  nur  sehr  wenig 
die  Ufer  der  Nive,  eines  Bergstroms  der  sich  bei  Bayonne  mit 
dem  Adour  vereinigt. 

In  der  Ferne  hat  man  die  Aussicht  auf  die  Pyrenaeen.  Die 
Larruna,  und  der  Mondarrin,*)  ein  spitziger,  doch  wie  es  scheint 
nicht  sehr  hoher  Felsberg,  fallen  am  meisten  in  die  Augen. 


*)  Monoa,  munoa,  montoa,  Anhöhe,  Hügel,  arria,  Stein.  Steinberg. 
')  Nach  „das"  gestrichen:  „im  Herbst". 


Das  Französische  Basquenland.  jgc 

Auf  diesen  beiden  Bergen,  vorzüglich  aber  amFuss  derLarrune, 
um  die  Dörfer  Ascaina  und  Gar  herum,  giebt  es  grosse  unter- 
irrdische  Gewölbe ,  von  welchen  mir  ein  Augenzeuge  folgende 
Anekdote  erzählte.  Er  war  auf  der Palombenjagd  und  vermisste 
auf  einmal  seinen  Hund.  Nachdem  er  ihn  lange  gesucht,  und 
hier  und  dort  nach  ihm  gerufen  und  gepfiffen  hatte,  hörte  er  ihn 
auf  einmal  tief  unter  sich  in  der  Erde  bellen.  Er  konnte  nicht 
begreifen,  wie  er  dort  hinuntergekommen  se}^  pfiff  wieder,  und 
hörte  das  antwortende  Bellen  des  Hundes  von  verschiedenen  und 
weit  entfernten  Orten  schallen.  Er  schloss  daraus  dass  eine  grosse 
unterirrdische  Hole  an  dem  Orte  se3^n  müsse,  und  entdeckte  wirklich 
endlich  ein  senkrecht  hinuntergehendes  sehr  tiefes  Loch,  in  das 
der  Hund,  glücklicherweise  ohne  sich  zu  beschädigen,  hinunter- 
gefallen seyn  musste.  Da  er  sah,  dass  er  ihn  ohne  andervv'eitige 
Hülfe  nicht  retten  konnte,  ging  er  nach  Hause,  einen  Korb  zu  holen, 
um  ihn  an  einem  Seile  in  die  Hole  hinunterzulassen.  Er  erzählte 
dort  seinem  Grossvater,  einem  steinalten  Greise,  die  Geschichte; 
dieser  schüttelte  aber  mit  dem  Kopf  und  zweifelte  an  der  Rettung 
des  Thiers.  —  Und  warum,  war  die  Frage?  —  Warum?  weil  es 
dort  ganze  Dörfer  im  Berge  giebt.  —  Dörfer  unter  der  Erde?  — 
Sicherlich.  Ich  habe  oft  von  alten  Leuten  gehört,  die  es  wieder 
von  ihren  Vätern  und  diese  von  den  ihrigen  gehört  hatten,  dass 
unsere  Vorfahren,  als  die  Römer  sie  zu  unterjochen  strebten, 
denn  gelungen  ist  es  ihnen  nie,  diese  unterirrdischen  Gewölbe 
anlegten,  umihreVorräthe,  ihre  Kranke,  Greise,  Weiber  und  Kinder 
dahin  zu  flüchten.  —  So  lautet  die  Volkstradition  über  diese  Holen; 
und  an  sich  sind  unterirrdische  Kornspeicher,  besonders  in  Italien 
und  Spanien,  nichts  seltenes,  wenn  der  Volksglaube  auch  die  Grösse 
und  das  Alter  dieser  übertrieben  hätte.  Der  Hund  wurde  indess, 
trotz  der  Zweifel  des  guten  Alten,  auf  die  gesagte  Weise  gerettet. 

Die  Jagd  der  wilden  Tauben  [palombes,  oder  ramiros)  deren 
ich  eben  erwähnte  wird  hier  auch  ohne  Hunde,  auf  eine  sonder- 
bare Weise  gemacht.  Man  stellt  in  einiger  E!ntfernung  hinter 
einander  3,  4  Arten  von  Gerüsten  auf,  deren  jedes  aus  drei  40  bis 
50  Schuh  hohen  pyramidalisch  an  einander  gelegten  Stangen 
besteht,  die  oben  einen  Korb  tragen,  zu  welchem  man  auf  Pflöcken, 
die  aneiner  der  Stangen  angebracht  sind,  hinaufsteigt.  Ein  solches 
Gerüst  heisst  im  Gascognischen  Dialect  (denn  diese  Jagd  ist  der 
Gegend,  nicht  den  Basquen  eigen)  pentiere^  und  man  legt  sie 
immer  so  an  dass  ungefähr  50  Schritt  davon  zur  Seite  parallel  mit 


jg(5  I-  Die  Vasken. 

ihnen  eine  Reihe  Bäume  steht,  zwischen  denen  Netze  aufgestellt 
werden.  Zur  Zeit  der  Jagd  steigt  nun  in  jeden  der  Körbe  der 
Pentieren  ein  Mensch,  und  andre  halten  sich  in  kleinen  Hütten 
neben  den  Bäumen  versteckt,  wo  sie  an  Seilen  die  Netze  herunter- 
ziehen können.  Wie  ein  Zug  Tauben  ankommt,  werfen  die  Leute 
in  den  Körben  aus  der  Höhe  Stücke  Holz  auf  sie;  die  armen 
Thiere,  dadurch  geschreckt  und  vielleicht  in  der  Meynung  dass 
Raubvögel  auf  sie  herabschiessen,  flüchten  sich  gegen  die  Erde 
und  die  Bäume  zu,  und  fallen  meistentheils  in  so  dichten  Haufen 
in  die  Netze,  dass  man  nicht  selten  in  Einem  Tage  hundert  und 
mehrere  Paare  fängt. 

Itzatzu  füllt  mit  seinen  zerstreuten  Häusern  ein  kleines  rings 
von  Bergen  umschlossenes  Thal  an.  Das  Pfarrhaus,  in  dem  ich 
wohnte,  liegt  gerade  der  romantischsten  Seite  des  Thals,  einer 
engen  Gebirgsschlucht,^)  aus  welcher  die  Nive,  von  Baigorry  her- 
kommend, mit  Brausen  hervorströmt,  gegenüber.  Neben  derselben 
sind  zwei  mächtige  Bergseiten,  vor  denen  der  Hartza,*)  ein  Berg 
voll  eckiger  schroffer  Klippenspitzen,  vorsteht.  Ein  sanfter  Abhang, 
mit  Heidekraut  bewachsen,  und  von  Castanien  und  Nussbäumen 
überschattet,  führte  von  dem  Hause  nach  der  Kirche  hin,  und  vor 
den  Fenstern^)  standen  einige  Reihen  schöner  und  grosser  Pappeln. 

Von  den  Tagen,  die  ich  in  dieser  friedlichen  Wohnung  zubrachte, 
werde  ich  zwar  hier  nicht  gerade  viel  zu  erzählen  haben;  aber 
ihr  Andenken  wird  nie  in  meinem  Herzen  verlöschen.  Der  Be- 
sitzer derselben,  ein  ehrwürdiger  Greis,  hatte  die  fünfzig  Jahre 
hindurch  mit  unverbrüchlicher  Treue  geführte  Seelsorge  der  Gemeine 
seinem  Nachfolger  übergeben,  um  hier  seine  Tage  in  Ruhe  und 
Einsamkeit  zu  beschliessen.  Aber  noch  genoss  er  in  gleichem 
Masse  die  Achtung  und  Liebe  seiner  Pfarrkinder  und  erst  kurz 
als  ich  dort  war,  hatten  sie  unaufgefodert  die  etwas  steile  Anhöhe 
vor  seinem  Hause  geebnet  und  für  seine  alternden  Kräfte  ersteiglicher 
gemacht.  Unausgesetzt  aber  war  er  auch  die  ganze  Zeit  seiner 
Amtsführung  hindurch   ihr  Wohlthäter   und  Rathgeber  gewesen. 


*)  Für  diejenigen,  welche  bei  diesem  Bergnamen  an  das  altdeutsche  Hart  oder 
Harz  denken  möchten,  bemerke  ich  hier,  dass  ich  im  Vaskischen  keine  Spur  dieses 
Wurzelworts  finde.  Artza,  labortanisch  Hartza  heisst  dagegen  der  Bär,  und  dies 
Wort  scheint,  so  wie  das  Irländische  Art,  mit  dem  Griechischen  a^tcxos  zu  Einem 
Stamme  zu  gehören. 

^)  „Gebirgsschlucht"  verbessert  aus  „Gebirgsschluft". 

^)  Nach  „Fenstern"  gestrichen :  „der  friedlichen  Wohnung". 


Das  Französische  Basquenland.  fg-y 

Denn  es  ist  Sitte  bei  den  Basquen,  dass  der  Pfarrer  auch  zu  allen 
wichtigeren  bürgerlichen  Angelegenheiten  des  Lebens  zugezogen 
wird,  und  dadurch  werden  seine  Geschäfte  manchmal  so  mannig- 
faltig, dass  er  kaum  Zeit  findet,  damit  fertig  zu  werden.  Die 
Sitten  der  Basquen  vorzüglich  in  dieser  Gegend  sind  noch  patri- 
archalischer, und  nähern  sich  noch  mehr  dem  ursprünglichen 
Zustande  der  Gesellschaft,  als  die  in  Biscaya;  und  noch  jetzt  bleiben 
sogar  einige  Spuren  von  der  ehemaligen  Rohheit  und  Wildheit 
zurück.  Vor  nicht  länger  als  150  Jahren  ging  noch  —  nach  des 
alten  Harambillets  (so  hiess  der  edle^)  Greis)  Versicherung  —  der 
Pfarrer  in  Hartza  jedesmal  mit  dem  Carabiner  auf  der  Schulter 
in  die  Kirche,  und  vor  etwa  100  wurde  nach  einem  ebendaselbst 
in  seiner  eignen  Stube  geschossen. 

Nie  habe  ich  in  einem  Greise  eine  so  liebenswürdige,  durch 
nichts  gestörte  Heiterkeit,  eine  solche  Aufgelegtheit  zum  unterrichten- 
den Gespräch  und  zu  jeder,  auch  weit  über  den  Kreis  seines  be- 
schränkten Lebens  hinausgehenden  Untersuchung,  eine  so  herz- 
liche Theilnahme  an  jedem  unschuldigen  Vergnügen,  mit  Einem 
Wort  einen  solchen  Geist  ächter  Duldung  und  wahrer  Humanitaet 
gesehen,  als  in  dem  wackeren  Harambillet.  Das  lebhafteste  Interesse 
hatte  natürlich  unter  allen  Gegenständen  seine  Nation  für  ihn,  und 
alles  was  nur  irgend  zu  ihr  gehörte.  Er  gerieth  in  eine  Art  von 
Begeisterung,  wenn  er  von  ihr,  ihrem  ehemaligen  Ruhm  und  ihrer 
Sprache  redete,  und  rührend  war  es,  ihn,  der  selbst  am  Rande 
des  Grabes  stand,  über  das  allmählige  Verhallen  der  letzteren 
klagen  zu  hören.  Er  erinnerte  sich  mit  sichtbarer  Freude  alter  in 
seiner  Jugend  gelernter  Lieder,  konnte  Stunden  lang  sitzen,  um 
sich  mit  andern  halb  vergessener  Weisen  und  Strophen  zu  erinnern, 
und  wusste  immer  mit  dem  richtigsten  Geschmack  ächte  Töne  des 
Volks  ^)  von  späteren  Nachbildungen,  aus  fremden  Sprachen  ge- 
nommen, zu  unterscheiden,  unglücklicherweise  war  sein  Gedächt- 
niss  nur  so  schwach  geworden,  dass  er  gewöhnlich  nur  noch  die 
Anfangsworte  und  allenfalls  die  Melodieen  zurückzurufen  vermochte. 

Eins  seiner  vorzüglichsten  Steckenpferde  war  die  Etymologie, 

Dl   s  Ländchen  Labourd  hat  nach  ihm  nicht  seinen  Namen  von 

Lapurdia,   Räuberhaufen,   sondern   von   den   vier   Flüssen,   die   es 

bewässern,   dem  Adour,   der  Nive,   Nivelle   und  Bidouse;   da   der 


')  „edle'  verbessert  aus  „ehrwürdige". 

^)l^Nach  „Volks"  gestrichen:  „das  Auf be [wahrte?]". 


l88  I.  Die  Vasken. 

Name  aus  Laur,  vier,  und  ura,  Wasser,  Strom,  zusammengesetzt  und 
dazwischen  nur  des  Wohlklangs  wegen  ein  h  eingeschoben  ist. 

Ueber  die  Ableitung  des  Namens  seines  Wohnorts  hat  er 
eine  eigne  Meynung.  Es  ist  auffallend  dass  Itzatzu  mitten  im 
Lande  liegt  und  Ifsatsoa  (auch  Ichasoa)  auf  Vaskisch  das  Meer 
heisst.  Harambillet  vermuthet,  dass  vielleicht  die  Nive  bei  ihrem 
ersten  Durchbruch  hier  in  dem  eng  umschlossnen  Thal  einen  See 
gebildet  habe,  der  den  ersten  ankommenden  Bewohnern  das  Meer 
geschienen.  —  Ich  selbst  dachte  bei  diesem  Namen  einen  Augen- 
blick an  die  von  Bergen  umschlossene  Lage  des  Orts  und  leitete 
es  von  IcM,  einschliessen,  ab.  Allein  genauere  Kenntniss  der 
Sprache  führt  auf  die  einfache  Bedeutung  eines  Haufens  von 
Häusern.  Denn  ühea  wird  häufig  für  ec/iea,  Haus,  gesagt,  und 
tsua  ist  die  gewöhnliche  Endigung  der  Eigenschaftswörter,  die  eine 
Menge  andeuten.  Ganz  ähnliche  Zusammensetzungen  sind  Ichagoya, 
Hausgipfel,  Dach,  Icharguia,  Hauslicht,  Fenster,  und  auch  andre 
Dörfer  in  Biscaya,  von  denen  mir  eine  solche  eingeschlossene 
Lage  nicht  bekannt  ist,  heissen  Ichaso,  Ichasendo  u.  s.  f.  Die 
Aehnlichkeit  des  Namens  mit  [dem]  des  Meers  ist  daher  entweder 
zufällig,  oder  rührt  aus  einer  tiefer  liegenden  Etymologie  beider 
her,  in  die  es  jetzt  nicht  der  Ort  ist  einzugehen. 

Die  Vorliebe  des  guten  Greises  für  seine  Ableitungen  machte 
ihn  aber  gegen  die  Schwäche  vieler  darunter  nicht  blind.  Dies 
bewies  er  mir  noch  am  Tage  meiner  Abreise.  Wir  hatten  schon 
am  Abend  vorher  von  einander  Abschied  genommen,  weil  ich 
des  andern  Morgens  sehr  früh  fortreiten  wollte.  Er  kam  aber 
doch  noch  zu  mir,  und  zwar,  wie  er  mir  ankündigte,  mir  eine 
Warnung  auf  den  Weg  mit  zu  geben.  Wir  haben,  sagte  er,  viel 
et^'mologisirt  in  diesen  Tagen,  und  Sie  haben  vieleii  meiner  Ab- 
leitungen Beifall  gegeben.  Trauen  Sie  aber  nicht  zu  sehr.  Ich 
konnte  diese  Nacht  lange  nicht  einschlafen,  und  versuchte  die 
Namen  aller  Könige  von  Frankreich,  von  Chlodowig  an  bis  auf 
die  Bourbons  herab,  aus  dem  Vaskischen  abzuleiten,  und  es  ge- 
lang mir  wirklich  mit  allen  leidlich  gut.  Man  scheint  daher  doch 
nur  sehr  oft  zu  finden,  was  man  selbst  hineingelegt  hat.  — 
Glücklich  für  meine  Leser  und  mich,  wenn  ich  ihnen  nicht 
scheine  ^)  die  freundliche  Warnung  des  ehrwürdigen  Alten  ver- 
gessen zu  haben ! 

*)  ISSach  „scheine"  gestrichen :  „weder  bis  jetzt  noch  in  der  Folge  dieser 
Blätter". 


Das  Französische  Basquenland.  i8q 

Der  kleine  aber  reissende  Nivestrom  geleitete  mich  von 
Itzatzu  aus  in  Unter-Xavarra  hinein  nach  einer  ehemals  hier  an- 
sehnlichen ^)  Kupferschmelzhütte,  die  aber  durch  die  Spanier  im 
letzten  Kriege  zerstört  worden  ist,  und  nur  eben  erst  wieder  in 
Gang  gebracht  worden  war,  und  die  nur  schlechthin  la  Fonderta 
genannt  wird.  Die  Mannigfaltigkeit  dieses  reizenden  Weges  er- 
laubt keine  Beschreibung.  Zu  beiden  Seiten  der  Nive  fallen 
andere  kleine  Gebirgsströme  in  dieselbe,  jeder  bildet  sein  eignes 
Thal,  wo  die  Thäler  zusammen  stossen,  sind  liebliche  von  Bergen 
umschlossene  Ebnen.  Dabei  die  Berge  schön  bewachsen,  in  den 
Thälern  und  Ebnen  üppige  Weide ,  und  überall  Gebirgswasser 
und  Quellen  die  unter  den  Füssen  des  Wandrers  hervorzusprudeln 
scheinen;  bald  in  schäumendem  Sturz  von  den  Höhen  herab- 
rollend, bald  sanft  hingleitend  durch  die  Wiesen  und  Ackerstücke. 
Dabei  ist  das  Gebirge  reichlich  mit  ländlichen  Wohnungen  be- 
setzt; die  Häuser  der  Dörfer  liegen  auch  hier  weit  zerstreut,  und 
hie  und  da  ragt  unter  ihnen  auf  einer  schroffen  Felsenspitze  ein 
halbverfallener  Thurm  hervor. 

Fast  überall  fand  ich  die  Landleute  mit  dem  Behacken  des 
Türkischen  Korns  beschäftigt.     Diese  Kihtil  {Arfojerratu)*)  ist  die 

*j  Artoa  heisst  jetzt  Mais,  und  Maisbrod  zum  Unterschiede  des  Waizenbrotes 
Oguia.  Ursprünglich  bedeutete  es  jede  Art  des  Getreides.  Die  Aehnlichkeit  mit 
aotof  ist  in  die  Augen  fallend,  es  ist  aber  wahrscheinlich,  dass  beide  von  dem  Begriff 
des  Pflügecs,  Ackerns  herkommen,  Vaskisch  Areatu,  Griechisch  aQOvu.  Eben  so  ist 
im  Irländischen  araim,  pflügen,  und  aran,  Brod,  und  im  Galischen  aradh  imd  aran 
in  denselben  Bedeutungen.  Im  Gothischen  arian,  pflügen,  ar,  Getreide.  Man  ver- 
gleiche was  ich  über  die  Ableitung  von  areatu,  arare,  S.  8l.  sagte.  Ist  dies  richtig, 
so  ist  der  Begriff"  welcher  diese  Wörter  bestimmt  hat,  der  der  ordentlichen  und  künst- 
lichen Arbeit,  das  anschauliche  Bild  der  Einbildungskraft  die  gerade  aneinander  ge- 
reihte Lage  der  Furchen.  Arare  hiess  ursprünglich  arbeiten  und  zwar  nicht  bloss 
mit  Gewalt  und  Kraft,  sondern  mit  Fleiss  und  Ordnung  (daher  die  abgeleiteten  Begriff'e 
von  ars,  uoEiri),  artoa  -j  hiess  das  nur  künstlich  und  durch  Fleiss  gewinnbare  'j  Ge- 
treide (wirklich  wächst  unser  Rocken  und  Weizen  in  nur  irgend  essbarer  Gestalt 
nicht  wild),  ferner  artoa  und  aoro£  das  aus  dem  künstlich  gewonnenen  Getreide  ge- 
machte Brod.  So  tief  liegt  es  in  der  Sprache  dass  das  Feld  nur  im  Schweisse  des 
Angesichts  bebaut  wird  und  der  Ackerbau  die  erste  Stufe  der  Civilisation  ist.  —  Dass 
auch  die  Wurzel  von  panis  dem  Vaskischen  nicht  fremd  ist,  zeigen  die  Vaskischen 
Wörter  Pamichia,  eine  Art  kleinen  und  dünnen  Brotes,  und  Pampuleta,  ein  rundes 
Brot.  —  Oguia  scheint  mit  keinem  noch  in  andern  Sprachen  üblichen  Wortstamm 
verwandt. 

M  Nach  „ansehnlichen'^  gestrichen:  „von  Genfer  [?]". 

^)  Nach  „artoa"  gestrichen:  „acno-,". 

')  „gewinnbare"  verbessert  aus  „gewonnene". 


lyo 


I.  Die  Vasken. 


hauptsächlichste  in  dem  Basquischen  Landbau,  so  wie  der  Mais, 
nebst  den  Kastanien,  fast  die  einzige  Nahrung  der  NiederNavarrons 
ausmacht.  In  Sprichwörtern,  Liedern  und  Erzählungen  geschieht 
ihrer  daher  oft  Erwähnung. 

Der  Mais  wird  sehr  weitläuftig  gesäet.  In  die  Zwischenräume, 
die  oftmals  behackt  werden,  pflanzen  sie  Bohnen,  Rüben  und 
andres  Gemüse,  und  bearbeiten  jedes  Ackerstück  mit  einer  Sorg- 
falt und  Zierlichkeit,  die  es  einem  Blumengarten  ähnlich  macht. 
Die  Arten  den  Mais  zu  essen  sind  verschieden.  Theils  bereiten 
sie  einen  Brei  daraus  und  essen  diesen  entweder  frisch ,  oder 
backen  ihn,  und  schneiden  ihn  in  Stücke.  Theils  machen  sie 
ßrod  daraus.  Da  dies  aber  immer  fest,  feucht  und  kuchenartig 
bleibt,  so  essen  sie  es  selten,  wie  wir  das  unsrige,  sondern  schnei- 
den es  in  schmale  Scheiben,  rösten  diese  auch  einmal  am  Feuer, 
belegen  sie  auch  wohl  mit  Schinken.  Alsdann  nennt  man  sie 
Chingarra.^)  Manchmal  auch  nehmen  sie  ein  Stück  Maisbrod, 
machen  es  am  Feuer  warm,  thun  Käse  dazu,  und  kneten  es  nun 
in  den  Händen  zu  einer  Kugel.  Eine  solche  Kugel  heisst  Mara- 
kukia  und  auf  diese  Weise  bereiten  sie  gewöhnlich  ihr  Frühstück. 
Es  schmeckt  nicht  übel,  nur  kommt  viel  auf  die  Hände  an,  die 
es  machen.  Solange  die  Kastanienzeit  dauert,  also  vier  Monate 
hindurch,  macht  diese  Frucht  Morgens  und  Abends  die  einzige 
Speise  des  NiederNavarrischen  Landvolks  aus.  Mittags  essen  sie 
eine  Brühe  von  Bohnen,  ohne  alles  Fett,  aber  mit  vielem  rothen 
Pfeffer.  Fleisch,  etwa  Schinken  ausgenommen,  und  Weizenbrod 
sieht  man  nur  in  den  Häusern  der  Vermögenden. 

Kastanienbäume,  wie  hier,  erinnere  ich  mich  fast  nirgends 
gesehn  zu  haben.  Sie  kommen  fast  den  Eichen  an  (Grösse  gleich 
und  ihre  vielfach  über  einander  starrenden  '•^)  Wurzeln  liegen,  ^) 
wie  ein  labyrinthisch  verschlungenes  Geäder  auf  dem  felsigten 
Boden,  und  fugen  sich  in  die  Ritzen  der  Felsen  ein. 

Eine  eigne  Art  die  Milch  zu  kochen  bemerkte  ich  in  Unter- 
Navarra  und  dem  Ländchen  Labourd.  Statt  sie  ans  Feuer  zu 
setzen,  werfen  sie  glühende  Kiesel  hinein.  Sie  wallt  augenblick- 
Hch  davon  auf,  und  erhält  einen  brenzlichten  Geschmack,  den  aber 
das  Volk  zu  lieben  scheint. 


')  N(3cA   „Chingarra"   gestrichen:  „Eine  andre  Art  der  Zubereitung  ist  die". 
^)  „starrenden"  verbessert  aus  „geschlungenen"  aus  „geäderten". 
')  „liegen"  verbessert  aus  „starren". 


Das  Französische  Basquenland.  IQI 

Auf  den  heitren  Morgen  an  dem  ich  den  romantischen  Weg 
bis  zur  Fonderia  zurückgelegt  hatte,  folgte  ein  dunkler  und  trüber 
Abend.  Von  allen  Seiten  hatten  sich  Wolken  erhoben,  und  als 
ich  am  Nachmittag  von  la  Fonderia  aus  über  das  Gebirge  nach 
Roncesvalles  ritt,  war  schon  fast  der  ganze  Himmel  bedeckt.  Ich 
kam  kurz  vor  Sonnenuntergang  auf  dem  Port  des  Gebirges, 
zwischen  dem  Mispira,  Mispelnberg,  und  dem  Naharrestoa  an, 
die  untergehende  Sonne  erleuchtete  noch  den  äussersten  Horizont, 
und  rund  um  ihn  herum  lief  ein  schmaler  weisser  Streifen,  der 
mich  noch  die  fernen  Gebirge  sehen  Hess.  Das  Nivethal,  und  die 
Wälder  der  niedrigeren  Berge  standen  in  magischer  Beleuchtung, 
wie  Decorationen  einer  Schaubühne  da.  Kaum  aber  war  die 
Sonne  hinter  die  fernsten  Gebirge  getreten,  so  umzog  mich  ein 
dicker  Nebel.  Ich  unterschied  nichts  mehr ,  als  nur  die  aller- 
nächsten Gegenstände ,  hohe  Bäume ,  Felsstücke ,  die  plötzlich 
finster  und  schauerlich  vor  mir  da  standen.  Aus  der  Ferne  tön- 
ten dumpf  die  Glocken  des  w^eidenden  Viehs  und  das  Rufen  und 
Pfeifen  der  Schäfer  her.  So  musste  ich  noch  einige  Stunden 
reiten,  ehe  ich  die  Abtei  erreichte. 

Ich  bewunderte  die  Geschicklichkeit  meines  Führers,  eines 
jungen  Basquen,  in  diesem  undurchdringlichen  Nebel  den  wenig 
betretenen  Fusssteig,  der  oft  ohne  alle  sichtbare  Spur  nur  über 
dem  Rasen  hinging,  zu  finden.  Allein  mit  der  seinem  Volke  so 
eignen  Behendigkeit  schritt  er  in  seiner  rothen  Jacke,  und  platten 
Bearner  Mütze,  seinen  Stock  in  der  Hand,  mit  vorwärts  gebognem 
Leibe,  und  aufgehobenem  Kopf  meinem  Maulthier  voran,  und 
spürte  jedem  leisesten  Geräusche  nach  und  achtete  auf  jedes  noch 
so  unbedeutende  Kennzeichen  des  Weges. 

So  stiegen  wir  noch  beträchtlich  höher,  theils  über  freie  Vieh- 
weiden, theils  durch  einen  dicken  Buchenwald.  Auf  der  höchsten 
Höhe  erreichten  wir  die  Spanische  Gränze.  An  diesem  Ort,  den 
ich  am  andern  Morgen  wiedersah,  steht  gerade  auf  dem  Kamme 
des  Berges,  wie  auf  einem  Sattel  die  Kapelle  von  Ibarrieta,  und 
das  Gebirge  sendet  von  hier  seine  Quellen  zu  beiden  Seiten  dem 
Oceane  und  dem  Mittelmeere  zu.  Von  der  Kapelle  selbst  sieht 
man  jetzt  nur  noch  die  Mauern,  da  sie  im  letzten  Kriege  zerstört 
worden  ist. 

Ich   besuchte  Roncesvalles  ^)   um   die  Reliquien  Rolands  und 


1)  'Nach  „Roncesvalles"  gestrichen:  „die  Abtei". 


JQ2  I.  Die  Vasken. 

das  SO  oft  besungene  Schlachtfeld  zu  sehen.  Allein  beides  belohnt 
den  beschwerlichen  Weg  dahin  nicht.  Das  Schlachtfeld  ist  eine 
Ebne  zwischen  der  Abtei  und  dem  Spanischen  Dorfe  Burguet, 
das  eine  halbe  Stunde  davon  entfernt  ist.  Die  Ueberbleibsel  des 
fabelhaften  Ritters  werden  jetzt,  ohne  alle  Feierlichkeit,  in  einem 
hohen  und  festen  Gewölbe  der  Kirche  aufbewahrt,  und  bestehen 
in  einem  grossen  zerbrochenen  Steigbügel,  zwei  Keulen,  zwei 
Stücken  des  zerbrochenen  Horns,  und  dem  vergoldeten  Kranz 
den  man  in  der  Schlacht  dem  Heere  vortrug.  Das  Schwert  haben 
die  Franzosen  im  letzten  Kriege  mit  fortgeführt.  Die  Keulen  sind 
gerade,  oben  und  unten  gleich  dicke  Stöcke,  etwa  eines  Armes 
lang,  an  denen  oben  an  einer  Kette  von  4  bis  5  Ringen  eine 
schwere  eiserne  mit  mehreren  Kanten  versehene  Kugel  hängt. 
Unten  hat  der  Stock  einen  eisernen  Ring  zum  Handgriff.  Zum 
Andenken  ^)  der  Schlacht  wir J  noch  jetzt  alle  Jahr  ^)  eine  feier- 
liche Seelenmesse  für  die  in  derselben  Umgekommenen  gelesen. 
An  demselben  Tag  ist  Markt  im  Ort,  und  allgemeine  Lustbar- 
keit. Nur  zu  tanzen  erlauben  die  strengen  Bewohner  der  Abtei 
nicht. 

Ein  finstrer  aber  herrlicher  Buchwald  führte  mich  von  der 
Höhe  des  Gebirges  nach  St.  Jean  pic  de  port  herab.  Der  oft 
schneckenförmig  geleitete  Weg  ändert  fast  mit  jedem^  Augenblicke 
die  Scene,  bleibt  aber  überall  gleich  romantisch  und  wunderbar;^) 
wolkenanstrebende  Bäume  mit  moosbewachsenen  Stämmen,  wilde 
Felsmassen  in  vielfachen  Geschieben  über  einander  gethürmt  und 
auf  jeder  Etage  üppig  mit  Gesträuch  überhangen;  in  der  Tiefe 
des  Thals  ein  brausender  Strom,  von  der  Höhe  herab  unzählige 
kleine  Quellen  ihm  schäumend  und  rauschend  entgegeneilend; 
dabei  lange  Züge  von  Eseln  und  Maulthieren  mit  iliren  Treibern 
in  mannigfaltigem  Gedräng  und  Gewühle. 

Es  führen  zwei  Wege  von  Roncesvalles  nach  St.  Jean,  einer 
über  den  Orisson;  der  andre  über  den  Luzarie.  Ich  wählte  den 
letzteren.  Ehemals  ging  die  grosse  Heerstrasse  von  Frankreich 
nach  Spanien  immer  über  St.  Jean  und  Pampelona. 

St.  Jean  mit  seinem  schwarzen  Thurm  und  seiner  viereckten 
Citadelle  erscheint  schon  aus  der  Ferne.    Es  liegt  mitten  in  einer 


^)  „Zum  Andenken"  verbessert  aus  „Am  Jahrstage" 
2)  „alle  Jahr"  verbessert  aus  „immer''\ 
*)  Nach  „wunderbar"  gestrichen:  „hier 


Das  Französische  Basqyenland.  ig^ 

weiten,  aber  überall  von  Bergen,  von  hohen  gegen  Spanien,  von 
niedrigen  gegen  Bayonne  und  St.  Palais  zu  umschlossenen  Ebene, 
in  welcher  sich  die  Nive  durch  das  Zusammenkommen  von  drei 
kleinen  Gebirgströmen  bildet. 

Freundlich  wie  die  Lage  des  Städtchens  ist  der  Anblick  des 
Volks.  Man  braucht  diese  NiederNavarrer  nur  in  ihrer  reinlichen 
und  zierlichen  Tracht,  mit  ihren  weissen  Strümpfen,  leinenen 
Beinkleidern  und  Weste  von  gleicher  Farbe,  rother  Scherpe  und 
Jacke,  ihrem  Stock  und  ihrer  flachen  Tuchmütze  herumgehen  zu 
sehen,  um  zu  fühlen,  dass  sie  ein  frohsinniges,  immer  heitres, 
gutmüthiges,  aber  mehr  dem  Vergnügen  als  der  Arbeit  ergebenes 
Volk  sind.  Ihr  Blick,  ihre  Haltung,  vor  allem  aber  ihr  Gang  ist 
das  Bild  kecker  und  kraftvoller  Behendigkeit.  Die  Leichtigkeit 
mit  welcher  ihnen  —  da  sie  sich  nur  auf  Viehzucht  legen  —  der 
Verkauf  ihres  Viehes,  ^)  ohne  merkliche  Verringerung  ihres  Eigen- 
thums,  baares  Geld  verschaft,  nährt  ihren  Leichtsinn  und  ihren 
Hang  zum  Vergnügen.  Sie  verkaufen  ihr  Vieh,  meist  Hammel, 
grösstentheils  an  die  Bearner,  die,  industrioser  als  sie,  es  fett 
machen,  und  Handel  damit  treiben. 

Die  Bewohner  der  Soule,  des  letzten  Basquischen  Ländchens, 
das  mir  zu  durchwandern  übrigblieb,  unterscheiden  sich  durchaus 
von  ihren  übrigen  Mitbrüdern. 

Sie  nennen  sich  selbst  die  Italiäner  unter  den  Vasken,  glauben 
mehr  Geschmack  und  Feinheit  als  ihre  Landsleute  zu  besitzen, 
und  haben  durch  alle  Stände  hindurch  einen  entschiedenen  Hang 
zu  Poesie  und  Musik.  Schade  nur,  dass  dieser  Hang  in  einem 
Völkchen,  dem  es  an  allen  interessanten  Nationalgegenständen 
fehlt,  seine  Einbildungskraft  zu  begeistern,  fast  nothwendig  zu  leerer 
Tändelei  und  poetischem  Geschwätz  ausarten  muss;  und  schader 
noch  mehr,  dass  der  Dialect  der  Souletaner  weit  mehr  mit  frem- 
den Worten  vermischt  ist,  als  der  der  übrigen  Vasken.  Ihre 
Aussprache  ist  zwar  sanft  und  hat  etwas  flötendes,  steht  aber 
auch,  vorzüglich  durch  die  durchgängige  Verwandlung  des  u  in  «, 
an  Kraft  und  Ausdruck  nach.  In  der  That  kann  man,  so  gross 
auch  die  Anhänglichkeit  der  Bewohner  der  Soule  an  ihre  Nation 
ist,  da  sie  nicht  einmal  gern  Heirathen  mit  den  Bearnern  eingehn,. 
dieselben  doch  als  eine  Art  Uebergang  von  den  Vasken  zu  den 
Gascognern,   oder  —  wenn   man   mehr  auf  die  Aehnlichkeit  des 

1)  l^ach  „  Viehes"  gestrichen :  „an  ihre  Nachbarn  die  Bearner  (aus  „in  Bearn 
hinein''')". 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     Xm.  13 


jQ^  I.  Die  Vasken. 

Charakters,  als  die  geographische  Lage  sieht  —  mehr  ^)  noch  zu. 
den  Provenzalen  ansehn. 

Die  Soule  ist  der  einzige  Ort  wo  noch  fortdauernd  Basquische 
Schauspiele  aufgeführt  werden.  Man  nennt  sie  hier  Pasforales, 
aber  sie  sind  nicht  immer  Schäfergedichte,  sondern  viel  eigent- 
licher sogenannte  Staatsactionen,  in  denen  Könige  und  Kaiser  auf- 
treten. Rolands  Thaten  spielen  darin  besonders  oft  eine  grosse 
Rolle.  Die  Schauspieler  sind  junge  Leute  beiderlei  Geschlechts 
die  meistentheils  nicht  lesen  können;  diese  werden  von  Leuten, 
die  man  Institiiteurs  des  acteurs  des  pastorales  nennt,  die  aber  ge- 
wöhnlich auch  Bauern  sind,  unterrichtet.  Der  Lehrer  ist,  nach 
acht  antiker  Sitte,  auch  meistentheils  der  Verfasser  des  Stücks. 
Die  Aufführung  geschieht  unter  freiem  Himmel,  in  Mauleon,  dem 
Hauptorte,  gewöhnlich  auf  dem  Spatzierplatz  der  Stadt,  einer 
hohen  schattigen  Lindenallee,  der  Vortrag  ist  theils  singend,  theils 
recitirend,  der  Zutritt  ist  unentgeldlich,  die  Fremden,  gegen  welche 
die  Souletaner  überhaupt  sehr  zuvorkommend  sind,  nehmen  dabei 
den  ersten  Platz  ein.  Auch  Dichten  aus  dem  Stegereif  über  jeden 
gegebenen  Gegenstand  ist  hier  nicht  ungewöhnlich. 

Auch  der  Feldbau  in  der  Soule  zeichnet  sich  durch  Sorgfalt 
und  Ordnung  aus.  Die  zierlich  bepflanzten  Maisfelder  gleichen 
den  Gartenbeeten,  und  dadurch  wird  der  Blick  auf  die  reich- 
bewachsene Ebne  von  der  Citadelle  von  Mauleon  überaus  reizend. 
Auf  der  Brücke  der  Stadt  ist  ein  schöner  Wasserfall.  Ein  Bach 
stürzt  sich  ^)  aus  zwei  Mühlengewölben  in  den  Gave  de  Saison, 
der  die  Ebne  von  Mauleon  durchschneidet  und  sich  dann  mit 
dem  Adour  vereinigt. 

Auf  dem  Wege  von  St.  Jean  nach  Mauleon  hatte  ich  zum 
letztenmale  meine  Blicke  auf  die  hohe  Pyrenaeenkette  und  die 
beschneiten  Gipfel  der  Berge  von  Jacea  gerichtet.  Als  ich  die 
Soule  verliess  nahm  ich  von  den  Gebirgsthälern  der  Vasken  Ab- 
schied, und  wie  ich  bei  mir  von  neuem  die  verschiednen  Cha- 
rakterabstufungen dieses  kleinen,  aber  in  sich  so  vielfach  nüan- 
cirten  Volkes  durchging,  glaubte  ich  die  Ueberbleibsel  einer  grossen 
Nation  zu  erkennen,  die  vielleicht  ehemals  zu  beiden  Seiten  der 
Pyrenaeen  und  vielleicht  weiter  hin,  diesseits  und  jenseits  der 
Alpen,  die  Länder  besass  von  denen   sie  nun  in  das  Gebirge  ver- 


')  „mehr"  verbessert  aus  „besser". 

*)  „Ein  —  sich"  verbessert  aus  „den  ein  Bach  bildet,  der". 


Das  Französische  Basquenland.  Iqc 

drängt  ist,  das  allein  ihr  noch  wirthlichen  Schutz  verheisst.  Der 
wackre  und  kraftvolle,  aber  rauhe  Vizcayer,  und  der  weichliche 
Souletaner,  in  dem  der  Geist  provenzalischer  Troubadours  wieder 
erwacht  scheint,  reden  Eine  Sprache,  und  sind  nur  durch  wenige 
Tagereisen  getrennt;  nahe  liegende  Districte  benennen  dieselben 
Dinge  mit  verschiedenen  und  doch  derselben  Sprache  angehörigen 
Namen;  fast  benachbarte  Ortschaften  verstehen  sich  mit  Mühe 
und  erkennen  sich  doch  als  Brüder  einer  und  eben  derselben 
Nation  an.  An  entfernten  Küsten  Spaniens,  Frankreichs  und  Ita- 
liens haben  sich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  Namen  von  Bergen, 
Flüssen  und  Städten  erhalten,  die  offenbar  Vaskischen  Ursprungs 
sind.  Bedarf  es  mehr,  um  zu  beweisen,  dass  Vaskische  Stämme 
ehemals  weite  Landstriche  besetzt  hielten,  dass  aber,  nach  und 
nach  von  allen  Seiten  zurückgedrängt,  zuletzt  diejenigen  Nachbarn 
wurden,  die  erst  grosse  Räume  von  einander  trennten.'* 

Diese  sichre,  wenn  gleich  dunkle  Stimme  der  Geschichte  ist 
unverkennbar.  Wer  sie  aber  weiter  befragen,  wer  das  wo?  und 
das  Wann?  und  das  Wie?  näher  erkunden  will?  dem  verstummt 
sie,  und  er  hört  nur  den  leeren  Nachhall  seiner  eigenen  Frage 
zurückschallen.  ^) 


Durch  den  glücklichsten  Zufall  hat  sich  Humboldts  Manuskript  der  baskischen 
Reisebeschreibung,  dessen  rätselhafter  Verlust  noch  Band  7,  6oj^  beklagt  wurde, 
wiedergefunden:  in  seiner  jetzt  auf  Schloss  Günthersdorf  in  Schlesien,  wohin  sie 
von  Ottmachau  übergeführt  wurde,  aufbewahrten  Bibliothek  fand  ich  bei  einer 
genaueren  Durchsicht  die  buchartig  in  Pappe  eingebundene  Handschrift  mitten 
unter  den  gedruckten  Büchern.  Die  äussere  und  innere  Geschichte  des  Werkes 
habe  ich  bereits  Band  j,  J75  in  Kürze  dargestellt  (vgl.  auch  Band  7,  60^):  seine 
Entstehung  teilweise  in  Berlin,  teilweise  in  Rom  wird  durch  die  Verschiedenheit 
des  verwendeten  Papiers  bestätigt.  Nur  ein  Punkt  bedarf  noch  einer  kurzen 
Erörterung,  die  Beziehungen  unsres  wiedergewonnenen  Textes  zu  den  Band  g, 
114  abgedruckten  „Cantabrica"   und  zit  den  gleichzeitigen  Briefen  an  Karoline. 

Dass  die  „Cantabrica"  nicht,  wie  ich  früher  (Band  ^,  ^j2)  angenommen 
hatte,  in  unmittelbarem  Anschluss  an  Humboldts  grosse  spanische  Reise  im  Sommer 
1800  verfasst  sind,  sondern  tatsächlich  erst  nach  seiner  Rückkehr  von  der  bas- 
kischen Reise  im  Sommer  1801,  obwohl  sie  sich  inhaltlich  auf  jene  erste  Reise 
beziehen,  ist  inzwischen  durch  den  Umstand  erwiesen  worden,  dass  eine  längere 
Betrachtung  über  die  Erhabenheit  der  Eindrücke  von  Meer  und  Gebirge  in  ihrem 
gegensätzlichen   Charakter  im  ersten  Abschnitt  (Band  q,  115)  mit  nur  geringen 


*)  „hört  —  zurückschallen'^  verbessert  aus  „ist  glücklich  genug  wenn   ihm 
nicht  der  leere  ....  zurückschallt". 

13* 


I9Ö 


1.  Die  Vasken. 


Änderungen  einem  Briefe  an  Karoline  vom  ^o.  April  1801  (  Wilhelm  und  Karoline 
von  Humboldt  2,  86)  entnommen  ist  (vgl.  auch  Euphorion  14,  635).  Die  andern 
Abschnitte  beruhen  auf  Humboldts  Tagebuch  der  spanischen  Reise  und  die 
Skizzen  sollten  einleitende  Proben  einer  spanischen,  nicht  einer  eigentlich  baskischen 
Reisebeschreibung  bilden,  wie  schon  die  beständigen  Vergleiche  der  baskischen  Ver- 
hältnisse mit  den  kastilischen  und  katalonischen  deutlich  zeigen.  Einzelne  Abschnitte 
der  „Cantabrica"  gingen  dann  in  leise  überarbeiteter  Form  in  das  Baskenwerk 
über:  so  findet  sich  die  Beschreibung  der  stürmischen  See  und  die  eben  erwähnte, 
daran  sich  anschliessende  Betrachtung  über  Meer  und  Gebirge  (Band  ß,  115) 
oben  S.  29,  die  Schilderung  der  Landschaft  von  Guipuzcoa  (ebenda  S.  126)  oben 
S.  S5i  <^^^  Stelle  über  die  Geschichte  von  Vitoria  und  die  Etymologie  des 
Namens  sowie  die  Beschreibung  des  Marktplatzes  und  der  Magdalena  Tizians 
(ebenda  S.  ißz)  oben  S.  116.  Namentlich  eine  genaue  Vergleichung  der  im 
obigen  Texte  durch  Korrekturen  veränderten  Lesarten  mit  den  entsprechenden 
Sätzen  der  „Cantabrica^'  zeigt  deutlich,  dass  überall  der  Text  der  letzteren  zu 
Grunde  liegt. 

Über  Humboldts  Reisebegleiter  Georg  Wilhelm  Bokelmann,  dem  das  Werk 
gewidmet  werden  sollte,  einen  jungen  Kaufmann,  der  im  Frühjahr  1801  von 
Hamburg  über  Paris  nach  Cadiz  reiste,  um  dort  das  Geschäft  seines  verstorbenen 
Schwagers  zu  übernehmen,  orientiert  Ludmilla  Assing,  Aus  Raheis  Herzensleben 
S.  127. 

Jena,  12.  Januar  igi^. 

Albert  Leitzmann. 


2. 

Zwei  amtliche  Berichte  aus  der  römischen  Zeit. 

a.  Über  die  Republik  der  sieben  ionischen  Inseln 
(Rom,  27.  Juli  1805). 

II  y  a  plusieurs  mois  que  V.  M.  me  fit  la  grace  de  me  demander 
des  renseignements  statistiques  sur  Tetat  de  la  Republique  des  Sept 
lies  et  d'en  faire  l'objet  d'un  rapport  separe  que  j'adresserois  au 
Departement  des  affaires  etrangeres.  Je  ne  manquai  point  des  le 
moment  que  je  recus  cette  commission  de  m'entourer  des  meilleurs 
ouvrages  ecrits  sur  ce  sujet  et  de  recueillir  en  meme  tems  de 
donnees  plus  authentiques  encore  de  personnes  qui  avoient  quel- 
ques relations  avec  ce  pays.  Mais  voyant  que  je  manquai  abso- 
lument  apres  tout  cela  encore  de  renseignements  sur  le  point  le 
plus  essentiel,  c.  v.  d.  sur  les  revenus  de  l'Etat  et  que  meme  ceux 
sur  Tapplication  varioient  extremement  entr'eux,  je  tächai  de  me 
procurer  du  pays  meme  les  notions  par  lesquelles  je  puisse  com- 
pleter  et  rectifier  Celles  que  j'avais  acquises  jusques  lä,  et  ce  n'est 
qu'apresent  que  j'ai  pü  les  obtenir  et  que  je  me  vois  en  etat  de 
remplir  les  ordres  de  V.  M.  Elle  daignera  trouver  reunis  mainte- 
nant  dans  le  memoire  ci-joint  tout  ce  qui  regarde  la  population, 
le  commerce,  la  grandeur,  la  position  geographique  et  les  revenus 
de  la  petite  Republique  des  Sept  lies,  et  je  crois  pouvoir  me  flatter 
que  les  donnees  qui  y  sont  contenues,  sont  exactes  et  peuvent  servir 
ä  rectifier  Celles  des  ouvrages  imprimes,  surtout  celui  du  Sr.  Seru- 
fani  sur  le  meme  objet.  M     Je  n'ai  pas  cru  devoir  entrer  dans  un 

^)  Ein  Werk  dieses  Autors  wird  in  der  Literaturübersicht  bei  Rodocanachi, 
Bonaparte  et  les  ilcs  ioniennes   1797 — 18 18  (Paris  l8gg)  nicht  genannt. 


198 


2.  Zwei  amtliche  Berichte  aus  der  römischen  Zeit. 


long  detail  sur  la  Constitution  ^)  de  la  Republique,  puisqu'outre 
qu'elle  est  imprimee,  eile. est  un  vain  simulacre  et  que  la  Cour 
de  Russie  dispose  de  tout  absolument  comme  si  le  pays  n'etoit 
tout  simplement  qu'une  Province  Russe. 

V.  M.  daigne  observer  avec  infiniment  de  justesse  dans  son 
tr.  gr.  Rescript  que  les  Sept  Des  peuvent  etre  facilement  un  des 
objets  de  discussion  ä  la  paix  que  l'Europe  desire  avec  tant  d'im- 
patience,  et  j'ose  Lui  demander  la  permission  de  faire  ä  ce  sujet 
quelques  reflexions,  que  je  n'ai  pas  cru  devoir  joindre  au  Memoire 
Statistique. 

Quand  on  considere  la  petitesse  des  iles  qui  forment  la  Re- 
publique Jonienne,  le  nombre  peu  considerable  de  leurs  habitans 
et  la  modicite  des  revenus  qu'elles  fournissent,  on  voit  du  premier 
coup  d'oeil  qu'elles  ne  peuvent  gueres  etre  un  objet  important 
pour  un  Souverain,  pour  formef  pour  ainsi  dire  un  seul  domaine. 
II  n'est  donc  point  probable  que  les  Puissances  qui  s'interessent 
au  sort  du  Roi  de  Sardaigne,  veuillent,  comme  le  bruit  en  a 
courru  plusieurs  fois,  lui  assigner  ce  pays^)  comme  un  objet 
d'indemnite,  et  il  est  fort  douteux  si  au  cas  qu'ils  le  voulussent, 
11  trouveroit  bon  d'accepter  une  possession  dont  la  position  geo- 
graphique  —  ces  lies  etant  eparses  sur  une  etendue  de  pres  de 
trois  degres  —  le  caractere  mutin  et  revolutionnaire  des  habitans 
et  le  voisinage  des  Turcs  rendroient  l'administration  deja  peu  lucra- 
tive  en  elle-meme,  ä  la  fois  incommode,  difficile  et  dangereuse. 
II  faudroit  au  moins  qu'on  lui  cedat  encore  une  partie  des  cötes; 
mais  aussi  dans  ce  cas  cet  Etat  manqueroit  toujours  d'un  centre 
commun  et  de  forces  süffisantes  pour  se  defendre  seul  contre  les 
pillages  et  les  vexations  des  peuples  voisins  et  des  Pachas  qui 
l'environnent.  ^)     Si   l'Ordre   de  Malthe  ne  s'eloignoit'  pas  entiere- 


^)  Vgl.  die  eingehende  Darstellung  bei  Rodocanachi  S.  ij^.  Die  Grund- 
gedanken der  Konstitution  sollen  unmittelbar  auf  Alexander  I.  zurückgehen  (vgl. 
den  Eingang  der  Denkschrift  von  Capo  d'IstiHa,  5.  August  18 r 4,  ebenda  S.  2^iJ; 
ein  Druck  aus  diesen  Jahren  ist  dort  nicht  genannt. 

^)  Nach  Carutti,  Storia  della  corte  di  Savoia  2,  12g  hat  Napoleon  i8oßl4  die  ioni- 
schen Inseln  Viktor  Emanuel  I.  als  Entschädigung  angeboten ;  vgl.  Rose,  Napoleon  I. 
I,  jgg  deutsche  Ausgabe.  Rodocanachi  S.  175  zitiert  eine  türkische  Note  vom  Oktober 
lygS,  in  der  u.  a.  der  Vorschlag  gemacht  wurde  „d'attribuer  les  iles  ä  une  puissance 
de  second  ordre,  qui  ne  pouvait  etre  que  le  royaume  de  Naples",  wobei  nicht  deutlich 
wird,  ob  die  Nennung  Neapels  auf  dem  Text  der  Note  oder  auf  Kombination  beruht. 

*)  Humboldt  berührt  damit  eine  entscheidende  Lebensfrage  der  ionischen 
Inseln.     Venedig  hatte  an  der  Küste  von  Epirus  in  Butrinto,  Parga,  Prevesa  und 


a.  Über  die  Republik  der  sieben  ionischen  Inseln.  IQQ 

ment  du  but  de  son  Institution  en  quittant  les  cötes  barbaresques 
et  en  se  mettant  dans  une  position,  dans  laquelle  incapable  de 
lutter  avec  succes,  il  devroit  necessairement  etablir  des  rapports 
d'amitie  avec  les  Infideles,  cette  possession  conviendroit  infiniment 
mieux  ä  cet  Ordre ,  qui  ne  peut  plus  former  des  pretentions  ä 
etre  un  Etat  proprement  dit  et  duquel  eile  pourroit  servir  ä 
suppleer  en  quelque  facon  ä  tant  de  Prieures  supprimes.  ^) 

11  est  cependant  ä  remarquer  que  les  lies  de  Malthe  et  de 
Gozo  ont  plus  de  la  moitie  des  habitans  que  les  lies  loniennes, 
puisqu'on  y  compte  150  milles,  tandisqu'ä  ces  dernieres  on  n'arrive 
qu'ä  220  milles.  -)  L'interet  qu'on  attache;  ä  la  Republique  des  Sept 
lies  consiste  tout  entier  dans  la  position,  mais  sous  ce  rapport 
ces  lies  sont  si  importantes  que  leur  veritable  destination  politique 
est  Sans  doute  d'appartenir  ä  une  des  grandes  Puissances,  qui  par 
leurs  moyens  puissent  exercer  une  influenae  sur  la  navigation  et 
le  commerce  dans  les  Mers  oü  elles  se  trouvent.  ^)  Dans  la 
Situation  actuelle  de  l'Europe,  elles  ne  peuvent  etre  contestees 
qu'entre  l'Autriche  et  la  Russie.^)  La  premiere  a  seulement  l'in- 
teret majeur  ä  ne  pas  les  voir  entre  les  mains  d'une  autre  grande 
Puissance,  mais  la  derniere  peut  retirer  de  plus  grands  avantages 
de  leur  possession  meme.  L'obstacle  le  plus  difficile  ä  vaincre 
qui  s'oppose  ä  Tinfluence  de  la  Russie,  est  Teloignement  dans 
lequel  eile  se  trouve  du  Centre  de  l'Europe.  La  possession  des 
Sept  lies  lui  ouvre   la   possibilite   de   franchir  d'autant  plus  facile- 


Vonitza  unentbehrliche  Brückenköpfe;  die  Franzosen  vermochten  sie  gegen  den 
Pascha  von  Janitia  nicht  zu  halten  und  waren  damit  der  ständigen  Gefahr  einer 
wirksamen  Blokade  preisgegeben  (Rodocanachi  S.  lO^J;  noch  181^  hat  Capo 
d'Istria  wiederholt  versucht,  den  Inseln  mit  russischer  Hilfe  den  Küstenstreifen  zu 
sichern  (ebenda  S.  2^6.  261). 

')  Der  gleiche  Gedanke  wird  von  Capo  d'Istria  in  seiner  Denkschrift  für 
Alexander  I.  vom  5.  Oktober  1814  erörtert  und  die  aus  dem  Wesen  des  Ordens 
dem  Plan  entgegenstehenden  Hindernisse  werden  als  die  entscheidenden  hingestellt 
(ebenda  S.  252I 

^)  Dieselbe  Zahl  bei  Capo  d'Istria  (ebenda  S.  252). 

*)  Genau  auf  das  Gegenteil  zielt  Capo  d'Istria  in  seiner  Denkschrift  ab, 
indem  er  zwar  die  Verwaltungsschwierigkeiten,  welche  einer  Macht  zweiten  Ranges 
aus  dem  Besitz  der  Inseln  erwachsen  würden,  ebenso  wie  Humboldt  auseinander- 
setzt, zugleich  aber  die  Störung  des  europäischen  Gleichgewichts  durch  ihren  Über- 
gang in  den  Besitz  einer  Grossmacht  als  notwendige  Folge  andeutet  (ebenda  S.  2^4). 

*■)  Dieser  Gegensatz  beherrscht  noch  i8i4ls  die  russische  Politik  unter  dem 
Einßuss  Capo  d' Istrias;  vgl.  die  ebenda  S.  262  gedruckten  russischen  Depeschen. 


200  2.  Zwei  amtliche  Berichte  aus  der  römischen  Zeit. 

ment  cette  distance  que  la  Porte  peut  encore  opposer  une  faible 
resistance  ä  ses  volontes  et  que  ses  flottes  peuvent  aller  librement 
de  la  Mer  noire  dans  la  Mer  adriatique;  ^)  eile  peut  comme  eile 
le  pratique  deja  faire  de  Corfou  un  arsenal  et  un  depöt  de  trouppes; 
eile  peut  menacer  de  lä  l'Italie,  gener  de  toutes  les  facons  possibles 
le  commerce  de  Venise  et  prendre  insensiblement  pied  ferme  sur 
les  cötes  de  la  Moree  et  de  l'Albanie,  et  rendre  par  lä  l'Empire 
Ottoman  encore  plus  dependant  qu'il  ne  Test  dejä.  En  tems  de 
paix  le  commerce  Russe  ne  gagne  pas  moins,  en  trouvant  ä 
moitie-chemin  entre  Odessa  et  le  detroit  de  Gibraltar  une 
possession  Russe  oü  l'on  peut  accorder  tous  les  privileges  possibles 
aux  batiments  nationaux  et  en  exclure,  si  l'on  veut,  tous  les 
etrangers.  Comme  l'Empereur  Alexandre  peut  retirer  des  avan- 
tages  aussi  precieux  de  la  Republique  des  Sept  lies,  ce  ne  pourroit  etre 
que  le  fruit  d'une  moderation  extreme  de  sa  part  s'il  vouloit  jamais 
se  desaisir  d'une  position  dans  laquelle  la  France  et  l'Autriche, 
par  la  plus  grande  faute  politique  possible,  l'ont  une  fois  laisse 
s'etablir.  ^)  Si  cependant  il  portoit  ce  Sacrifice  ä  la  pacification 
de  l'Europe,  les  Sept  lies  pourroient  facilement  venir  sous  la  do- 
mination  de  l'Autriche.  Ni  le  repos,  ni  le  commerce  de  l'Europe 
ne  courroit  aucun  risque  par  lä;  [l'Autriche]  n'y  gagneroit  pas 
meme  beaucoup  plus  que  la  domination  tranquille  de  l'Adria- 
tique,  qu'on  semble  lui  avoir  laisse  en  lui  cedant  Venise;  car  les 
Sept  lies  etant  la  Cle  de  l'Adriatique,  le  plus  naturel  est  de  les 
donner  ä  celui  qui  doit  etre  le  Maitre  paisible  de  cette  Mer.  De 
cette  maniere  on  oteroit  toute  importance  politique  ä  ce  pays; 
en  le  laissant  au  contraire  ä  la  Russie,  on  fourniroit  ä  celle-ci  un 
moyen  plus  puissant  de  plus  pour  contrebalancer  la  puissance 
toujours  croissante  de  la  France.  On  pourroit  cependant  choisir 
le  moyen-terme,  en  laissant  subsister  les  Sept  lies  en  Republique 
tributaire  de  l'Empire  Ottoman ;  mais  libre  en  elle-meme  ä  l'instar 
de  la  Republique  de  Raguse.^)  Mais  un  tel  etat  de  choses  seroit  diffi- 
cilement  de  longue  duree.    L'une  ou  l'autre  des  grandes  Puissances 


*)  Seit  Dezember  1806  befanden  die  Türkei  und  Russland  sich  wieder  im 
Kriegszustand,  so  dass  die  russischen  Schiffe  1807  den  Rückweg  durch  den  Kanai 
nehmen  mußten  (Rodocanachi  S.  ig^). 

2)  Der  Fehler  wurde  von  Napoleon  im  Tilsiter  Frieden  ausgeglichen 
f ebenda  S.  igi). 

*)  Der  Hinweis  auf  Ragusa  findet  sich  auch  in  der  russischen  Antwort- 
note  vom  Februar  jygg  (ebenda  S.  jy8). 


b.  Über  Napoleons  Orientpolitik.  201 

s'arrogeroient  bientöt,  des  que  les  circonstances  favoriseroient  leurs 
voeux,  comme  ä  present,  d'abord  une  influence  et  ensuite  l'empire 
sur  elles  et  surtout  dans  un  tems  oü  il  devient  toujours  plus  diffi- 
cile  de  se  garantir  par  de  simples  Traites.  Un  principe  des  plus 
essentiels  de  faire  une  paix  stable  doit  etre  celui  de  laisser  aussi 
peu  que  possible  les  positions  interessantes  entre  des  mains  qui  ne 
peuvent  point  les  defendre  efficacement.  Ayant  eü  occasion  de 
me  procurer  un  memoire  qui  contient  plusieurs  notions  statistiques 
sur  la  Republique  des  Sept  lies,  je  crois  bien  faire  d'en  transmettre 
ci-joint  une  copie  ä  V.  M.^) 


b.   Über  Napoleons   Orientpolitik 
(Rom,  26.  März  1806).  ^j 

Sire, 

le  General  Matthieu  Dumas,  Chambellan  de  S.  A.  I.  le  Prince 
Joseph,  qui  commandoit  les  trouppes  Francoises  envoyees  pour 
occuper  l'lstrie  et  la  Dalmatie  Ex-Venitiennes,  ^)  vient  de  passer 
hier  matin  par  ici  pour  se  rendre  ä  Naples,  et  c'est  par  lui  que 
nous  avons  appris  la  nouvelle  que  les  Kusses,  sta- 
tionnes  ä  Corfou,  sesont  emparesde  Cattaro.*)  Lecorps 
du  General  Dumas  etait  arrive  jusqu'  ä  Spalato  lorsque  6  vaisseaux 
de  guerre  Kusses,  accompagnes  de  beaucoup  de  batisseaux  de 
transport,  ayant,  si  on  n'exagere  pas  le  nombre,  10  ä  12000  hommes 
de   trouppes   ä  bord,   se  presenterent  devant  Cattaro.^)     La  garni- 


*)  Die  nun  folgende  statistische  Beschreibung  der  sieben  ionischen  Inseln 
ist  hier  fortgelassen. 

^)  Zum  ersten  Teil  der  Depesche  ist  heranzuziehen :  Pisani,  La  Dalmatie  de 
1797 — 1815  (Paris  i8gß),  für  den  zweiten  Teil:  d'Haussonville,  L'eglise  romaine 
et  le  premier  empire  Band  2  (Paris  i868),  namentlich  die  Kapitel  ig — 22. 

*)  Dumas  war  nicht  Kommandant  der  Okkupationstruppen ,  sondern  stell- 
vertretender commissaire  imperial  (Pisani  S.  i4j  Anm.  ^). 

*)  Der  Dechiffreur  schreibt  Spalatro  und  Cattano  für  Spalato  und  Cattaro  : 
diese  Schreibung  Humboldts  ist  im  Folgenden  ebenso  beibehalten  wie  die  großen 
Anfangsbuchstaben  bei  den  von  Ländernamen  hergeleiteten  Adjektiven ;  vgl.  zur 
Schreibung  der  dalmatinischen  Ortsnamen  ebenda  S.  XX. 

*)  Pisani  gibt  die  Zahl  der  russischen  Truppen  vor  Cattaro  nicht  an;  die 
russischen  Streitkräfte  in  der  Adria  werden  nach  französischen  Quellen  in  diesem 
Zeitpunkt  auf  42  Schiffe  und  45000  Mann  geschätzt  (ebenda  S.  150). 


202  2.  Zwei  amtliche  Berichte  aus  der  römischen  Zeit. 

son  Autrichienne  refusa  d'abord  de  laisser  debarquer  ces  trouppes, 
mais  elles  menacerent  de  bombarder  la  ville;  les  Autrichiens  se 
jetirerent,  et  les  Russes  debarquerent  paisiblement.  ^)  Les  Mon- 
tenegriens  se  declarerent  sur  le  champ  en  leur  faveur.  Les  trouppes 
Francoises  avaient  ordre  de  rester  ä  Zara  et  Spoleto,  et  le  General 
Dumas,  en  allant  rejoindre  le  Prince  Joseph,  en  a  laisse  le  com- 
mandement  au  General  Molitor.  Elles  sont  au  nombre  de  4000 
hommes  environ.  ^)  Le  General  Marmont  est  encore  ä  Udine.^) 
II  est  inconcevable  que  les  Russes  ne  se  soient  pas  d'abord  en 
quittant  Naples  diriges  vers  ce  cöte:  car  V.  M.  daignera  voir  par 
ce  qui  s'est  passe  apresent,  alors  ils  se  seroient  sans  coup-ferir 
rendus  maitre  de  toute  la  Dalmatie  venitienne,  d'oü  ä  present  il 
leur  sera  toujours  plus  difficile  de  deloger  les  Francois.  Si  cepen- 
dant  ils  entendent  leurs  interets,  ils  ne  tarderont  point  ä  les 
attaquer  et  s'assureront  d'abord  de  la  Republique 
de  Raguse  situee  entre  Spalato  et  Cattaro. ^)  Dejä  avant 
l'occupation  de  Cattaro  par  les  Russes  l'Empereur  Napoleon  se 
preparait  ä  envoyer  un  grand  nombre  de  trouppes  dans  ces  con- 
trees,  et  on  disoit  que  l'armee  de  Dalmatie  devoit  etre  portee  ä 
60  milles  hommes.  ^)  II  n'est  pas  probable  qu'il  consente  jamais  ä  ce 
que  les  pais  qui  bordent  la  mer  adriatique  au  cöte  oppose  ä  l'Italie 
restent  entre  les  mains  ou  sous  Tinfluence  directe  de  la  Russie. 
II  est  evident  et  le  langage  actuel  des  gazettes  francoises  meme  le 
prouve  que  la  possession  de  la  Dalmatie  a  surtout  prix  ä  ses  yeux 
ä  cause  de  l'influence  qu'il  pourra  exercer  lui-meme  par  eile  sur 
TEmpire  ottoman,  et  il  semble  que  c'est  cet  Empire  du  Le- 
vant  vers  oü  son  ambition  se  tourne  dans  ce  mo- 
ment.  ^)     Si    donc  il   ne   se   fait  pas  une  paix  generale  et  que  la 

^)  Vgl.  die  genaue  Darstellung  der  Übergabe  Cattaros  fPisani  S.  157^. 

*)  Diese  Zahl  erweist  sich  nach  den  Angaben  ebenda  S.  ij^.  i8j  als  un- 
gefähr zutreffend  für  die  in  den  dalmatinischen  Kämpfen  unmittelbar  verwendeten 
Truppen. 

*)  Marmont  wurde  erst  am  12.  Juni  1806  zum  general  en  chef  in  Dalmatien 
ernannt  (ebenda  S.  182). 

*)  Die  Russen  begnügten  sich  mit  einer  Neutralitätserklärung  von  Ragusa; 
dagegen  besetzten  es  die  Franzosen  unter  Lauriston  und  hielten  dort  eine  drei- 
wöchentliche Belagerung  der  Russen  und  Montenegriner  aus  (ebenda  S.  167.  175^. 

^)  Vermutlich  ist  diese  Zahl  viel  zu  hoch  gegriffen;  selbst  vor  dem  öster- 
reichischen Kriege  zu  Anfang  i8og  beliefen  sich  Marmonts  Streitkräße  nicht 
höher  als  auf  18000  Mann  (ebenda  S.  264.  go-]). 

®)  Vgl.  dazu  Humboldts  Charakteristik  der  Weltpolitik  Napoleons  bei  Geb- 
hardt,  Wilhelm  von  Humboldt  als  Staatsmann  i,  75  Anm.,  ferner  Berthiers  De- 


b.  Über  Napoleons  Orientpolitik.  20"^ 

Russie  et  l'Angleterre  ne  reussissent  point  a  faire  une  diversion 
ä  la  France  dans  le  nord,  il  pourras'engager  facilement 
une  lutte  sanglante  dans  la  Dalmatie,  et  les  provinces 
turcques  qui  avoisinent  l'Italie  et  particulierement  le  ro3^aunie  de 
Naples  souffriroient  considerablement  dans  ce  cas;  car,  comme 
les  expeditions  ou  executees  ou  au  moins  preparees  en  Grece, 
dans  l'Archipel,  en  Sicile  et  meme  ä  Malthe,  feroient  probable- 
ment  parti  de  ce  plan  qui  en  meme  tems  embrasseroit  toute  cette 
partie  de  la  Mediterranee,  ces  pais  seroient  vexes  par  des  marches 
continuelles  de  trouppes  francoises,  mais  le  reste  de  l'Europe 
jouiroit  au  moins .  d'une  paix  et  tranquillite  publique.  II  n'est 
peut-etre  pas  de  propos  de  rapporter  ici  ä  V.  M.  une  anecdote 
que  je  tiens  de  la  bouche  de  temoins  oculaires.  La  possibilite  de 
reunir  de  nouveau  l'orient  et  l'occident  etoit  dejä  avant 
plusieurs  annees  une  des  idees  favorites  de  l'Empereur  Napoleon. 
II  avait  coutume  alors  de  demander:  „qui  est-ce  qui  a  separe  Rome 
de  Constantinople?"  et  quand  on  lui  repondit:  „ce  fut  Theodose" 
il  ajouta:  „et  qui  est-ce  qui  les  reunit?"  ^)  —  un  pareil  propos  prouve 
naturellement  peu  de  chose  et  les  plans  de  l'Empereur  Napoleon  sont 
bien  certainement  lies  ä  un  büt  et  des  interets  plus  solides;  on 
ne  peut  cependant  pas  se  nier  qu'il  est  dirige  en  meme  tems  par 
des  idees  vastes  d'ambition  et  de  gloire  qui  meme  paroitroient 
souvent  difficiles  ä  croire  s'il  n'en  avoit  pas  deja  realise  une  grande 
partie.  —  Ici  il  ne  s'est  rien  passe  du  nouveau,  mais  il  devient  encore 
plus  interessant,  de  voir  la  decision  que  prendra  l'Empereur 
puisqu'  ayant  continue  mes  efforts  pour  penetrer  le  mystere  dans 
lequel  on  enveloppe  ici  les  negociations  avec  la  France,  j'ai  appris 
que  le  Pape  ne  s'oppose  pas  seulement,  ainsi  que  j'ai  eu 
l'honneur  de  le  mander  ä  V.  M.  dernierement,  ä  ce  que  les 
Etats  fassent  partie  du  nouveau  S3^steme  federatif 
de  la  France,  mais  qu'il  met  meme  des  entraves  ä  Texecution 
de  ce  Systeme  par  rapport  au  royaume  de  Naples.  V.  M.  daignera 
se  Souvenir  que  l'investiture  de  Naples  etait  deja  un  sujet  de  dis- 
pute entre  les  cours  de  Rome  et  de  Naples,  et  que  le  Pape  feroit 
tous  les  ans  par  cette  raison  une  protestation  solemnelle  ainsi  que 

pesche  an  Marmont,  welcher  angewiesen  wird,  zu  berichten  über  die  Rekrutierung s- 
iind  Verproviantierungsmöglichkeiten  in  Bosnien,  Mazedonien,  Thrazien,  Albanien, 
Griechenland  „pour  une  puissance  europeenne  qui  possederait  ce  pays"  (Tilsit,  8.  Juli 
iScrj,  bei  Pisani  S.  286). 

^)  Dies  ist  also  die  Quelle  der  bei  Gebhardt  mitgeteilten  Anekdote. 


20A.  2.  Zwei  amtliche  Berichte  aus  der  römischen  Zeit. 

pour  les  Etats  de  Parme.  ^)  A  cette  derniere  la  France  ne  s'est 
pas  oppose  jusqu'ici.  Mais  apresent  il  paraitroit  sans  doute  trop 
extraordinaire  si  apres  que  l'Empereur  Napoleon  a  declare  publi- 
quement  que  toute  la  peninsule  de  l'Italie  doit  faire  parti  de 
l'Empire  Francois,  le  Pape  qui  d'apres  cela  lui-meme  doit  en  etre 
une  espece  de  vassal,  ^)  osoit  protester  contre  le  droit  de  suzerai- 
nete  de  la  France  sur  une  autre  partie  de  l'Italie.  L'Empereur 
Napoleon  a  donc  demande  que  le  Pape  omit  cette  protestation  et 
qu'il  renoncat  ä  tout  droit  sur  le  royaume  de  Naples,  *)  qui  devoit 
relever  apresent  de  la  couronne  de  France,  et  c'est  ä  quoi  je  dois 
meme  rectifier  ce  que  j'ai  eu  l'honneur  de  dire  ä  V.  M.  dans  mon 
tr.  h.  rapport  du  12.  de  ce  mois,  que  cela  a  ete  cette  demande  et 
Celle  de  prendre  des  mesures  contre  les  ennemis  de  la  France  et 
de  les  regarder  comme  des  ennemis  communs,  qui  seuls  pour 
apresent  ont  ete  formes  directement  au  St.  Siege.  *)  De  l'autre 
idee  que  l'Etat  Romain  devoit  etre  etat  federatif  lui-meme,  on 
n'en  a  fait  mention  qu'accessoirement  mais  comme  decoulante  du 
meme  Systeme,  le  Pape  a  cru  devoir  embrasser  le  tout  dans  sa 
reponse  au  Cardinal  Fesch. ^)  Le  Pape  a  refuse  egalement 
la  renonciation  ä  ses  pretensions  sur  Naples  et 
d'omettre  les  protestations  usitees,   et  quelque   peu   politique  que 


')   Vgl.  Ranke,  Die  römischen  Päpste  ^',  177  Anm.  ij8. 

^)  £5  wird  Beachtung  verdienen,  daß  Consalvi  auf  eben  jene  Situation  den 
Ausdruck  anwendete,  Napoleon  habe  den  Papst  „ä  titre  de  feudataire  et  de  vassal" 
zu  unbedingter  Gefolgschaft  zwingen  wollen  (Memoires  2,  42^  bei  d' Haiissonville 
S.  12g  Anm.). 

^)  In  den  ebenda  angejahrten  Dokumenten  findet  sich  eine  dahingehende 
Forderung  Napoleons  nicht  ausdrücklich  ausgesprochen;  doch  ist' z.  B.  das  große 
Schreiben  Pius  VII.  vom  21.  März  1806  nicht  in  extenso  mitgeteilt;  es  könnte 
ebenda  S.  1^8  in  Fortsetzung  des  abgebrochenen  Satzes  „la  gardc  du  patrimoine 
de  l'eglise  romaine"  eine  entsprechende  Protestation  des  Papstes  ausgelassen  sein. 

*)  Napoleon  an  Pius  VII.  und  an  Fesch,  22.  Februar  1806  (ebenda  S.  wo. 
104J;  Fesch  an  Consalvi,  2.  März  (ebenda  S.  12^)- 

^)  Vgl.  das  Schreiben  Pius  VII.  vom  21.  März  (ebenda  S.  ij]);  Humboldt 
muß  also  sehr  gut  informiert  gewesen  sein,  wenn  er  am  26.  bereits  über  das 
päpstliche  Antwortschreiben  berichten  konnte.  Doch  lagen  die  Dinge  insofern 
günstig,  als  die  Grundzüge  der  Antwort  in  zwei  Konsistorien,  am  6.  und  8.  März, 
in  Gegenwart  von  etwa  ^o  Kardinälen  festgestellt  und  damit  diplomatischem 
Nachrichtenbedürfnis  wohl  eher  zugänglich  waren,  als  es  sonst  mit  den  Verhand- 
lungen der  Kurie  der  Fall  war.  Napoleon  hat  dann  auch  in  dieser  Beratung  im 
erweiterten  Kreis  der  Kardinäle  „un  calcul  profond,  une  nouvelle  et  noire  perfidie" 
Consalvis  sehen  wollen  (ebenda  S.  1^6.  i^oj. 


b.  Über  Napoleons  Orientpolitik.  20C^ 

cela  paroisse ,  il  semble  vouloir  persister  dans  ce  refus.  ^)  La 
chose  devient  donc  plus  compliquee  encore  et  si  le  Pape  ne  cede 
point  ou  que  rEmpereur  Napoleon  n'adopte  pas  le  Systeme  du 
mepris  des  protestations,  qui  sont  l'aveu  de  la  propre  impuissance, 
il  est  difficile  ä  voir  de  quelle  maniere  eile  pourra  etre  arrangee. 
Voilä  ce  que  j'ai  appris  jusqu'  apresent  de  plus  positif;  je  ne 
manquerai  pas  de  continuer  ä  vouer  l'attention  la  plus  suivie  ä 
cet  objet  important.  Mais  j'ose  supplier  d'avance  V.  M.  de  par- 
donner si  dans  des  objets  de  cette  nature  il  n'est  pas  toujours 
possible  d'etre  informe  d'abord  avec  une  parfaite  exactitude. 
Plusieurs  prisonniers  d'etat  ont  ete  conduits,  il  y  a 
quelques  )ours,  de  Naples  ici,  pour  etre  transportes 
en  France.  On  pretend  que  le  vice-consul  anglois  ä  Naples,  le 
Sr,  Scott,  qui  y  avoit  ete  arrete  ä  cause  d'une  correspondance 
avec  le  General  Craig  ä  Messine,  est  aa  nombre  de  ces  prisonniers. 
La  gazette  de  Naples  et  les  lettres  particulieres  de  cette  ville 
annoncent  la  conquete  des  deux  Calabres  comme  terminee.  On 
assure  que  le  General  Dumas  s'est  embarque  pourla 
Sicile,  et  le  Prince  Joseph  a  ecrit  des  environs  de  Gaeta,  oü 
il  s'etoit  rendü  le  19.,  au  Cardinal  Fesch,  que  les  Francois  mar- 
choient,  sans  rencontrer  d'autres  obstacles,  sur  Reggio.  Un  chef 
d'insurgens,  nomme  Rodio,  vient  d'etre  pris  par  le  General  Lachi 
ä  Pomarico.  Un  autre,  Michel  Pezza,  connü  sous  le  nom  de  Fra 
Diavolo,  est  sorti  de  Gaeta  et  s'est  refugie  vers  Pontecorvo  oü  se 
trouve  encore  un  troisieme,  nomme  Antoine  Petrucci.  Un  Irlan- 
dois  defend  avec  une  poignee  d'hommes  le  fort  de  Civitella  del 
Tronto  qui  n'a  pas  encore  ete  attaque  par  les  Francois.  Le  siege 
de  Gaeta  que  le  General  Lacour  dirige,  devoit  commencer  serieuse- 
ment  le  22.  de  ce  mois.  En  attendant  la  place  a  ete  ravitaillee 
par  6  vaisseaux  Anglois.  Parmi  les  nombreux  decrets  donnes  ä 
Naples  on  remarque  surtout  celui  de  ne  faire  aucun  paiment,  sous 
quelque  pretexte  que  ce  soit,  de  Naples  en  Sicile. 

Le  comte  de  Kaunitz  est  retourne  pour  quelques  jours  ä 
Naples.  II  n'est  pas  decide  encore  s'il  ne  devra  pas  suivre  la  Cour 
en  Sicile. 

Le  Prince  Borghese  est  revenü  hier  ici  d'une  excursion  de 
quelques  jours  qu'il  avait  faite  ä  Naples. 

')  d' Haussonville  erwähnt  (S.  186)  einen  päpstlichen  Protest  betreffend  die 
Lehnshohtit  über  Neapel  erst  mit  der  Mitteilung  der  Antwort  Consalvis  auf  die 
Notifizierung  der  Thronbesteigung  Josephs  vorn  26.  April  1806. 


2o6  2.  Zwei  amtliche  Berichte  aus  der  römischen  Zeit.    b. 

La  Cour  de  Sardaigne  qui  etait  partie  le  ii.  de  Fevrier  de 
Naples,  est  arrive  apres  un  trajet  de  sept  jours,  le  18.  du  meme 
mois,  heureusement  ä  Cagliari.^) 

Ici  on  vient  de  faire,  sous  le  nom  de  Prestito  perequa- 
tivo,  un  nouvel  impöt  occasionne  surtout  par  les  fraix  du  passage 
des  trouppes  Francoises.  Tous  les  proprietaires  sont  obliges  de 
payer  pendant  18  mois  doublement  Timpöt  territorial.  Si  la  France 
rembourse  jamais  les  avances  que  le  Gouvernement  a  fait  pour 
ses  trouppes,  ^)  ceux  qui  auront  paye  cet  impot,  seront  rembourses 
ä  leur   tour,   et  voilä  pourquoi   on  a  donne  ä  cet  impot  le  nom 

d'emprunt.  D'apres  l'evaluation  la  plus  juste  que  j'aye  pü  me 
procurer,  cet  impot  devroit  rapporter  au  Gouvernement  Romain 
presqu'  un  Million  et  demi  de  Piastres.  Mais  comme  les  fraix  de 
perception  sont  enormes  dans  ce  pais,  il  faut  öter  une  partie  con- 

siderable  de  cette  somme  en  voulant  determiner  ce  qui  en  coulera 

effectivement  dans  les  caisses  du  St.  Pere. 


*)  Carutti,  Storia  della  corte  di  Savoia  2,  i^6  gibt  den  ly.  Februar  an. 
^)  Auf  diesen  Ersatz  hatte  Pius  VII.   noch  am  2g.  Januar  1806  gedrungen 
(d'Haussonville  S.  83). 


Die  beiden  Depeschen  Humboldts  über  die  adriatisch- dalmatinischen  An- 
gelegenheiten sind  in  der  Zeit  und  unter  dem  Eindruck  der  kurzen  und  bald  auf 
immer  verschwundenen  russischen  Vorherrschaft  in  der  Adria  entstanden.  Aus 
diesem  Umstand  ist  wohl  die  eigentümliche  Tatsache  zu  erklären,  daß  Humboldt, 
immer  im  Hinblick  auf  den  russisch-französischen  Antagonismus,  in  seinen  Zukunfts- 
erörterungen den  endgültigen  Erben  der  einstigen  venezianischen  Besitzung,  Eng- 
land, durchaus  bei  Seite  läßt,  obschon  England  Malta  festhielt  und  absehen  die 
Insel  Zante  1801  die  englische  Flagge  gesetzt  und  England  sich  in  den  kor- 
fiotischen  Parteiungen  mit  militärischem  Eingreifen  bemerkbar  gemacht  hatte 
(Rodocanachi  S.  i8j.  i8sJ.  Nicht  minder  auffallend  ist  Humboldts  Ansicht,  Öster- 
reich werde  im  Besitz  der  ionischen  Inseln  der  „friedliche  Beherrscher  der  Adria" 
sein:  er  übersah  dabei  den  Wert,  den  die  Inseln  für  Österreich  als  Einfalls- 
pforte nach  Morea  und  Epirus  haben  mußten ,  weswegen  die  russische  Politik 
noch  181S  der  österreichischen  Okkupation  entschiedenen  Widerstand  leistete.  Diese 
Momente  rusammen  mit  der  Unterschätzung  der  türkischen  Machtstellung  am 
Bosporus  lassen  den  wesentlichen  Mangel  dieser  Depeschen  hervortreten:  daß  sie 
eben  Berichte  aus  zweiter  Hand  sind,  zwar  auf  sorgfältig  gesammeltem  Material 
beruhend  und  in  den  einzelnen  Angaben  zutreffend,  aber  der  auf  eigene  Anschauung 
sich  gründenden  Kenntnis  der  gegeneinander  streitenden  Kräfte  und  der  Über- 
sicht über  die  allgemeinere  Lage  entbehrend. 

Halle,  ßo.  Januar  igiß. 

Siegfried  Kahler. 


3- 

Amtliche  Arbeiten 
aus  den  Jahren  1809  und  1810. 


A.    Generalverwal tungsberichte  der  Sektion  für 
den  Kultus  und  öffentlichen  Unterricht. 

Königsberg,  den  13.  Februar  1809. 

An   des   Königlichen   Wirklichen  Geheimen  Staats-Minister  Herrn 
Reichs-  und  Burggrafen  zu  Dohna  Excellenz. 

Die  Section  des  Cultus  und  des  öffentlichen  Unterrichts  ist 
in  ihrer  Thätigkeit  durch  den  Zustand  einer  noch  sehr  unvoll- 
ständigen Organisation  und  durch  die  Erwartung  ihres  Chefs 
gehemmt,  bis  zu  dessen  Ankunft  durchgreifende  Maasregeln  billig 
ausgesetzt  bleiben.  Der  verflossene  Monat  hat  daher  nur  zu  Vor- 
bereitungen und  zu  Fortsetzung  der  vom  neulich  aufgelöseten 
Geistlichen  und  Schul-Departement,  (an  dessen  Geschäften  der 
Unterzeichnete  sowohl  als  der  für  die  Section  des  öffentlichen 
Unterrichts  ernannte  Staatsrath  Suevern  Antheil  hatten,)  getroffenen 
Einleitungen  benutzt  werden  können. 

Für  die  beabsichtigte  Verbesserung  der  protestantischen  Kirchen- 
verfassung ist  die  Section  nur  durch  Beprüfung  mehrerer  ein- 
gekommener  Vorschläge  und  durch  Aufstellung  zweckmässiger 
Gesichtspunkte  in  den  darauf  ertheilten  Bescheiden  thätig  gewesen. 

Als  einen  wichtigen  Schritt  zu  angemessener  Betreibung  der 
Geistlichen  Angelegenheiten  darf  die  Section  ihren  Antrag  ansehen, 
dass  in  den  Geistlichen  Deputationen  der  Regierungen  dem  Präsidio 
ein  angesehener  Geistlicher  zugeordnet  werde.  -) 

^)  Konzept  von  Nicolovius'  Hand. 

*)   Vgl.  das  unten  unter  E,  b  abgedruckte  Schreiben  Humboldts  an  Nicolovius. 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     XHI.  M 


210  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

Die  in  mehreren  Schriften  laut  werdende  Klage  über  die  Be- 
handlung des  Geistlichen  Standes  in  Hinsicht  der  Kriegsleistungen 
hat  es  der  Section  zur  Pflicht  gemacht,  die  Berichte  und  Gutachten 
der  Geistlichen  Provinzial-Behörden  hierüber  einzuziehen,  um 
nöthigenfalls  auf  angemessenere  Festsetzungen  für  die  Folge  an- 
tragen zu  können. 

Die  Einführung  einer  bessern  Lehrmethode  in  die  Elementar- 
schulen ist  durch  einen  unter  bestimmten  und  vortheilhaften  Be- 
dingungen erneuerten,  aber  leider  noch  unbeantwortet  gebliebenen 
Ruf  des  Educations-Rath  Zeller  in  Heilbronn,  und  durch  die  Auswahl 
zweyer,  zum  Unterricht  in  der  Pestalozzischen  Methode  nach 
Yverdon  zu  sendenden  jungen  Männer,  vorbereitet  worden.  ^) 

Der  Plan  zu  Verbesserung  der  vorhandenen  und  Einrichtung 
der  fehlenden  Institute  auf  der  hiesigen  Universität  ist  weiter  ver- 
folgt; als  wirklich  beschlossen  und  verfügt  ist  hier  aber  nur  der 
Allerhöchst  genehmigte  Ankauf  astronomischer  Instrumente  aus 
dem  Landmarschall  von  Hahnschen  Nachlass  in  Meklenburg 
anzuführen. 

Von  Besetzungen  erledigter  Lehrstellen  muss  hier  als  wichtig 
die  Berufung  des  Professor Remer-)  aus  Helmstaedt  zum  Professor 
der  Medicin  auf  die  hiesige  und  des  Professor  Bredow^)  daselbst 
zum  Professor  der  Geschichte  auf  die  Universität  Frankfurt  erwähnt 
werden. 

Ns. 

Königsberg,  den  i.  März  1809. 
An   des   Königlichen   Wirklichen  Geheimen  Staats-Minister  Herrn 
Reichs-  und  Burggrafen  zu  Dohna  Excellenz. 

Die  Section  des  Cultus  und  des  öffentlichen  Unterrichts  hat 
in  dem  abgelaufenen  Monat,  ausser  den  currenten  Geschäften,  ihre 
vorbereitenden  Arbeiten  fortgesezt  und  hofft  in  mancher,  nicht 
unwichtiger  Hinsicht  ihrem  Ziel  näher  gekommen  zu  seyn. 


')  Vgl.  Diltheys  Artikel  „Süvern"  in  der  Allgemeinen  deutschen  Biographie 
3^,  206  und  Gebhardt,  Die  Einführung  der  Pestalozzischen  Methode  in  Preussen 
(Berlin  i8g6). 

*)  Wilhelm  Remer  (1775—1830);   Band  10,  218  ist  fälschlich  „Renner"  ge- 
druckt. 
•      *)  Gottfried  Gabriel  Bredow  (1773 — 1814). 

*)  Konzept  von  Nicoloviu^  Hand. 


A.    Generalvenvaltungsberichte  der  Sektion,  a.  b.  211 

Der  Antrag,  in  den  Geistlichen  und  Schuldeputationen  der 
Regierungen  dem  Präsidio  einen  Geistlichen  zuzuordnen,  ist 
Allerhöchst  genehmigt,  und  für  die  Ostpreussische  Regierung  der 
ConsistorialRath  Borowski ')  zum  Mitdirektor  der  Geistlichen  und 
Schuldeputation  mit  dem  auszeichnenden  Prädicat  eines  Oberconsi- 
storialraths  ernannt  worden.  Diese  Allerhöchst  genehmigte  Verände- 
rung in  der  Organisation  der  Consistorien  wird  unfehlbar  eine 
würdigere  Behandlung  der  Geistlichen  Angelegenheiten,  sowie 
eine  Aufmunterung  des  Geistlichen  Standes  und  eine  Vermehrung 
seines  Vertrauens  zu  der  vorgesetzten  Provinzial-Behörde  zur  Folge 
haben.  Es  werden  aber  leider!  für  jezt  noch  nicht  überall  wo 
die  Regierungen  ihren  Sitz  haben,  qualilicirte  Geistliche  anzu- 
treffen seyn. 

Der  Plan  zu  Einführung  einer  bessern  Methode  in  die 
Elementarschulen  ist  seiner  Ausführung  näher  gekommen.  Der 
EducationsRath  Zeller  in  Heilbronn  hat  die  Bedingungen,  unter 
denen  er  den  Absichten  der  Section  im  ganzen  Umfange  entsprechen 
zu  können  glaubt,  mitgetheilt.  Die  Schwierigkeiten,  die  sich  den- 
selben sowohl  in  Hinsicht  des  Locale  als  der  Fonds  entgegenstellten, 
sind  überwunden,  und  der  ganze  Plan  bedarf  nur  noch  der  Aller- 
höchsten Genehmigung. 

Die  Absendung  zweyer  jungen  Männer  nach  dem  Pesta- 
lozzischen  Institut  in  Yverdon  ist  von  des  Königs  Majestät  ge- 
nehmigt, auch  zu  gleichem  Zweck  einem  in  der  Schweiz  bereits 
sich  aufhaltenden  jungen  Pädagogen  aus  Pommern  -)  eine  Unter- 
stützung bewilligt. 

Das  bedeutende  Vermögen  der  Geistlichen  milden  Stiftungen  im 
Ermland,  das  nicht  unsichern  Nachrichten  nach  wohl  eine  Million 
Thaler  betragen  mag,  scheint  der  Aufmerksamkeit  sehr  werth  und 
erregt  den  Wunsch  einer  bessern,  vielleicht  auch  zum  Theil 
pädagogischen  Zwecken  gewiedmeten  Benutzung  desselben.  Es  ist 
deshalb  eine  Verfügung  erlassen,  um  die  vorgängig  nöthige  Ueber- 
sicht  der  gegenwärtigen  Lage  dieser  Sache  zu  erhalten. 

Ns. 

')  Ludwig  Ernst  Borowski  (i']4o — i8^i),  der  bekannte  Biograph  Kants. 
2)  Henning. 


14' 


212  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   iSio. 

Königsberg,  den  5.  April   (809. 

An   des   Königlichen   Wirklichen  Geheimen  Staats-Minister  Herrn 
Reichs-  und  Burggrafen  zu  Dohna  Excellenz  hieselbst. 

Die  Section  für  den  Cultus  und  den  öffentlichen  Unterricht  sieht 
sich  noch  fortdauernd  durch  ihre  unvollendete  Organisation  und 
durch  die  Abwesenheit  ihres  Chefs  an  einer  das  Ganze  umfassenden 
Wirksamkeit  behindert.  Beyden  Uebeln  wird  aber  hoffentlich  in 
kurzem,  wenn  auch  nicht  völlig,  doch  zum  Theil  abgeholfen  seyn, 
da  die  Ankunft  des  Chefs  erwartet  wird  und  zwey  neue  Mitglieder, 
Herr  Geheimer  Rath  Uhden  und  Herr  KriegsRath  Schmedding,  zu 
Staatsräthen  bey  der  Section,  lezterer  als  katholischer,  ernannt  sind. 

Inzwischen  sind  die  angefangenen  Pläne  mit  glücklichem  Er- 
folg fortgesezt.  Die  Ideen  wegen  Einführung  einer  bessern 
Unterrichtsmethode  in  die  Landschulen  und  Belebung  des  Interesse 
der  Landgeistlichen  und  Schullehrer  für  dieselbe  durch  Errichtung 
von  Normal-Instituten  und  Einberufung  einer  bedeutenden  Anzahl 
von  Predigern  und  Schullehrern  zur  Theilnahme  am  Unterricht  in 
denselben  sind  Allerhöchst  genehmigt  und  ihre  Ausführung  ist 
durch  Anweisung  der  nöthigen  Zuschüsse  aus  Staatscassen  zu  den 
vorhandenen  Fonds  gesichert.  Es  ist  nun  ein  auf  die  Allerhöchste 
Cabinetsordre  gegründeter  Ruf  an  Herrn  Zeller  in  Heilbronn  zur 
Direction  dieser  Normal-Institute  ergangen,  auch  die  nöthige  Vor- 
bereitung zu  Einrichtung  des  hiesigen  Königlichen  Waysenhauses  zur 
ersten  Anstalt  dieser  Art  getroffen.  Die  zur  Bildung  für  den 
Schullehrerstand  in  das  Pestalozzische  Institut  zu  Yverdon  zu 
sendenden  be3^den  jungen  Männer^)  treten  ihre  Reise  in  diesen 
Tagen  an,  und  auf  die  Auswahl  einer  grösseren  Anzahl  für  den- 
selben Zweck  wird  Bedacht  genommen. 

Die  Angelegenheit  der  Universitäten  schwebt  noch  in  der 
bisherigen  Ungewissheit.  Wiewohl  mehrere  vorgefallene  Vacanzen 
auf  der  Universität  Frankfurt  die  nöthige  Verbesserung  derselben 
begünstigen,  so  ist  doch  noch  die  Frage  zu  entscheiden,  ob  die 
Idee,  in  Berlin  eine  höhere  Lehranstalt  zu  errichten,  ausgeführt 
werden  solle,  und  welchen  Einfluss  dies  auf  die  Universität 
Frankfurt  und  auf  die  zu  ihrer  Verbesserung  etwa  anzuweisenden 


*)  Konzept  von  Nicolorius'  Hand. 
^)  Preuss  lind  Kawerau. 


A.    GeneralverwaltunfTsberichte  der  Sektion,  c. 


213 


Fonds  haben  werde?  Da  die  Existenz  der  hiesigen  Universität 
hievon  unabhängig  und  keiner  Unsicherheit  unterworfen  ist,  so  hat 
die  Section  unbedenklich  für  die  Regeneration  derselben  thätig  seyn 
können.  Bey  des  Königs  Majestät  ist  die  Unzulänglichkeit  ihrer 
bisherigen,  und  großentheils  zu  milden  Nebenzwecken  bestimmten 
Fonds,  ihr  Mangel  an  gelehrten  Hülfsanstalten,  als  Seminarien, 
Sternwarte  p.  p.,  und  die  Dürftigkeit  mancher  Gehalte  u.  s.  w. 
vorgestellt  und  auf  einen  Zuschuss  angetragen  worden.  Dieser 
ist  Allerhöchst  bewilligt  und  auf  jährlich  17000  Rth.  festgesezt 
und,  bis  der  Plan  der  nöthigen  Verbesserungen  im  Allgemeinen 
realisiert  wird ,  zu  den  ersten  Einrichtungen  bestimmt  worden. 
Es  ist  hierauf  sogleich  die  Einrichtung  des  botanischen  Gartens, 
zu  dem  schon  vor  3  Jahren  ein  bisher  noch  unbenuztes  Grund- 
stück angekauft  wurde,  eingeleitet,  zu  dessen  Vorsteher  der  Professor 
Schweigger,  ^)  ehemals  in  Erlangen,  jetzt  in  Paris,  Allerhöchst  er- 
nannt ist.  — 

-)Da  zu  der  erledigten  Professur  der  Staatswissenschaften  ein 
auswärtiger  Gelehrter,  der  mit  vollem  ^^ertrauen  berufen  werden 
könnte,  vergebens  gesucht  worden;  so  ist  die  Idee,  einen  Schüler 
und  Liebling  des  verewigten,  aber  unvergesslichen  Professor  Kraus, 
den  Regierungs  Assessor  Hagen,^)  der  mit  beynah  allen  Hülfswdssen- 
schaften  ausgerüstet,  diesem  Studio  und  der  Universität  sich  ganz 
wiedmen  will,  zu  jener  Professur  zu  bestimmen,  ihm  aber  nur 
vorläufig  einen  Theil  des  Gehalts  derselben  zur  Unterstützung  auf 
1^2  Jahre  zu  einer  gelehrten  Reise  zuzugestehen,  bey  des  Königs 
Majestät  vorgetragen   und  Allerhöchst   genehmigt  worden. 

Auf  den  Antrag  der  Section  sind  die  Berliner  Gelehrten  Wolf 
und  Buttmann,  die  beyde  nach  Bayern  berufen  w^aren,  durch  An- 
weisung höherer  Gehalte  und  Eröfnung  eines  künftigen  ihren 
Neigungen  und  Talenten  angemessenen  Wirkungskreises  dem 
preussischen  Staate  erhalten. 

Die  neuorganisirten  Consistorien  in  Marienwerder  und  Gum- 
binnen  sind  dadurch  ihrer  völligen  Einrichtung  näher  gebracht, 
dass  beym  erstem  für  das  Schulfach,  insonderheit  das  gelehrte, 
dem  Director  Rose  in  Plock  die  Stelle  eines  Schulraths  angetragen, 
und  die  Zuziehung  des  reformirten  Superintendenten  Wesselick  in 
Elbing  bey  den  reformirten  Geistlichen  und  Schulsachen  vertügt; 

•)  August  Friedrich  Schweigger  (i-j8j—i82j). 

2)  Dieser  und  der  folgende  Absatz  sind  nachträglich  eingeschaltet. 

^)  Karl  Heinrich  Hagen  (ij8s—iSs6j  hat  die  Professur  Ende  1811  erhalten. 


21 A  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jaliren  1809  und  1810. 

für   das  leztere  aber  der  Prediger  Luis  in  Goeritten  mit  den  besten 
Hofnungen  als  reformirter  Consistorialrath  in  Vorschlag  gebracht  ist. 

Gemeinschaftlich  mit  der  Ew.  Excellenz  unmittelbaren  Leitung 
untergebenen  Section  der  allgemeinen  Polizey  ist  auf  eine  bessere 
Einrichtung  des  Censurwesens  ^)  von  der  Section  des  öffentlichen 
Unterrichts,  auf  eine  Hemmung  der  auffallendsten  Störungen  der 
Sabbathsfeyer  aber  von  der  Section  des  Cultus  Bedacht  genommen. 

Diese  hat  es  auch  nöthig  gefunden,  eine  Verbesserung  des 
hiesigen  neuen  Gesangbuchs  einzuleiten,  da  dasselbe  das  Gepräge 
einer  Zeit  trägt,  die  das  wahre  Wesen  der  Religion,  der  Andacht 
und  der  Poesie  entweder  verkennt  oder  nach  unrichtigem  Maass- 
stabe schäzt. 

Als  eine  erfreuliche  Folge  der  neulichen  neuen  Organisation  des 
Präsidii  der  Geistlichen  Deputation  der  Ostpreussischen  Regierung 
darf  hier  noch  angeführt  werden,  dass  im  verflossenen  Monate  die 
sonst  in  einer  leeren  Kirche  geschehene  Ordination  angehender 
Prediger  von  einer  merklichen  Theilnahme  eines  grossen  Theils  des 
PubHkums  und  von  sehr  guten  Eindrücken  auf  dasselbe  begleitet 
gewesen. 

Bey  der  verfügten  Besteurung  des  Silbers  hat  die  Section  in 
Hinsicht  des  Kirchensilbers  dahin  zu  wirken  gesucht,  dass  allen 
Übeln  Eindrücken  bey  den  Gemeinen  vorgebeugt,  dem  illiberalen 
Verfahren  weltlicher  Behörden  Schranken  gesezt,  und  die,  ihrem 
Innern  Wesen  nach  verwandten,  religiösen  und  patriotischen  An- 
sichten nicht  in  Widerspruch  gebracht  werden.^) 

Ns. 

d.3) 

Königsberg,  den  19.  Mai,  1809. 

Da  die  Section  des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts  nur 
erst  die  letzte  Hälfte  des  verflossenen  Monats  hindurch  hat  in 
Verbindung  mit  ihrem  Chef  arbeiten  können,*)  die  Herreise  des- 
selben selbst  aber  den  Aufschub  mehrerer  Angelegenheiten  ver- 
anlasst hat,  so  hat  nur  wenig  von  ihr  geschehen  können,  das  sich 
auf  allgemeinere  Verfügungen  bezieht,  wesentliche  Verbesserungen 

')   Vgl.  die  Band  10,  j6  abgedruckten  Aktenstücke. 

^)  Über  das  Silberedikt  vgl.  auch  Wilhelm  und  Karoline  von  Humboldt  jy 
11^.  IIS-  127.  ijo. 

^)  Konzept  von  Humboldts  Hand. 

*)  Humboldt  traf  am  ij.  April  in  Königsberg  ein 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  cd.  2ICi 

•bezweckt,  und  dadurch  sich  zum  Gegenstande  des  gegenwärtigen 
Berichtes  eignet. 

Das  Wichtigste,  was  in  dieser  Art  zu  Stande  gekommen,  ist 
unstreitig  die  auf  den  Vorschlag  des  Geheimen  Raths  Wolf  bei 
dem  Joachimsthalschen  Gymnasio  gemachte  Veränderung.^)  Der 
Zweck  derselben  war  zwar  ursprünglich  nur  der,  die  Lücke  aus- 
zufüllen, welche  bei  dieser  Anstalt  durch  den  Abgang  des  Professor 
Buttmann  ^)  entstand.  Allein  es  ist  durch  die  getroffene  Einrichtung 
bei  weitem  mehr  erreicht  w^orden.  Denn  obgleich  die  Professur 
des  p.  Buttmann  nicht  eigentlich  wieder  besetzt  worden  ist,  sondern 
man  nur  den  Professor  Ideler  ^)  und  Dr.  Schneider  *)  angestellt  hat 
-einzelne,  einzeln  bezahlte  Stunden  zu  geben,  so  hat  das  Gymna- 
sium mit  einem  nur  um  sehr  Weniges  grösseren  Aufwände, 
als  das  Buttmannsche  Gehalt  machte,  doch  bedeutend  mehr  Unter- 
richtsstunden erhalten,  und  diese  sind,  nach  einem  veränderten 
Lectionsplan,  zweckmässiger  vertheilt  worden.  Dadurch  nun  ist 
ein  Uebelstand  gehoben,  über  den  man  bisher  mit  Recht  sehr 
viele  Klage  führte.  Die  Stunden  waren  nemlich  so  wunderbar 
und  unzweckmässig  vertheilt,  dass  die  jungen  Leute  nicht  in  fort- 
währender Thätigkeit  blieben,  sondern  leere  Stunden  und  Zwischen- 
zeiten eintraten,  die  gewöhnlich,  statt  noch  auf  irgend  eine  nütz- 
liche Weise  ausgefüllt  zu  w^erden,  nur  in  Müssiggang  hingebracht 
wurden. 

Indess  ist  die  gegenwärtige  Einrichtung  doch  immer  nur 
interimistisch;  mehrere  Verbesserungen  bleiben  noch  immer  bei 
der  Anstalt  zurück,  und  zwei  Professuren  sind  im  gegenwärtigen 
Augenblick  zu  besetzen.  Der  Abhelfung  dieser  Mängel  steht  die 
ungünstige  Lage  der  Finanzen  der  Anstalt  im  Wege.  Zwar  ist 
-der  Status  activoriun  und  passivoriiui  derselben  von  der  Art,  dass 
sie  im  Stande  wäre,  sich  vollkommen  aus  eignen  Mitteln  zu  er- 
halten, allein  ihre  Einkünfte  kommen  von  mehreren  Seiten  nicht 
•ein,  es  ist  wenig  oder  keine  Hofnung,  dass  diese  Stockungen  sich 
bald  wieder  heben  werden,  und  das  Schuldirectorium  sieht  sich 
gegenwärtig  genöthigt  auf  eine  Anleihe  von  3000  Rth.  zu  denken. 


')  Vgl.  Spranger,  Wilhelm  von  Humboldt  imd  die  Reform  des  Bildungs- 
wesens S.  i-]6. 

^)  Philipp  Buttmann  (i-]64—i82g),  der  namhafte  Schüler  Wolfs ;  vgl.  Band  10,  21. 

^)  Christian  Ludwig  Ideler  (1J66—1846),  Astronom,  seit  1810  Mitglied  der 
Akademie  der  Wissenschaften;   vgl.  Band  10,  216. 

*)  Friedrich  Konrad  Leopold  Schneider,  Philolog  Ci~86—i82i);  vgl.  ebenda. 


2j(5  3.    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

Die  Section  hat  es  sich  zur  angelegentlichsten  Pflicht  gemacht^ 
diese  dringende  Lage  dem  Finanz-Ministerio  vorzustellen,  und 
dasselbe  zu  vermögen,  dem  Gymnasium  die  Summen  wieder  zu- 
fliessen  zu  lassen,  welche  es  ehemals  aus  den  Lotterie- Ueber- 
Schüssen  erhielt.  Bisher  sind  diese  Versuche  nicht  glücklich  ge- 
wesen; da  indess  das  Finanz  Ministerium  doch  versprochen  hat, 
sich  für  Anträge  die  bei  des  Königs  Majestät  zur  Unterstützung 
der  Anstalt  geschähen,  selbst  mit  zu  verwenden,  so  ist  das  Gym- 
nasium angewiesen  worden,  seine  Verlegenheiten  genau  zu  docu- 
mentiren,  und  die  Sache  soll  alsdann  aufs  neue  eingeleitet  werden. 
Auf  jeden  Fall  gewinnt  jedoch  die  Anstalt,  wenn  sie  auch  jene 
Zuschüsse  empfängt,  nur  wenig  dadurch,  indem  sie  auch  alsdann 
diejenigen  Pensionen  zahlen  rnuss,  mit  welchen  fremde  Personen 
an  sie  gewiesen  sind,  und  deren  Zahlung,  da  sie  wirklich  nur 
verpflichtet  ist,  solche  von  ihren  Ueberschüssen  zu  leisten,  seit 
einiger  Zeit  von  ihr  suspendirt  worden  war. 

Auf  der  Universität  Frankfurt  ist  der  Professor  Bredow  wirk- 
lich angekommen  und  hat  seine  Vorlesungen  angefangen.  Die 
übrigen  Verbesserungen,  welche  die  Section  für  diese  Universität 
eingeleitet  hat,  gehören  erst  in  den  Bericht  des  gegenwärtigen 
Monats ;  indess  kann  schon  so  viel  hier  mit  Grunde  bemerkt  werden,, 
dass  sich  die  Muthlosigkeit,  die  am  Ende  des  vorigen  und  im 
Anfange  des  jetzigen  Jahres  unter  den  Professoren  herrschte,  be- 
reits sehr  gehoben  hat.  Nur  die  Finanzen  der  Universität  befinden 
sich  gleichfalls,  wie  die  des  Joachimsthalischen  Gymnasiums  und 
aus  denselben  Gründen,  in  einem  ungünstigen  Zustande. 

Für  die  Ritteracademie  in  Liegnitz')  ist  durch  eine  neue  Ver- 
pachtung, welche  die  Einkünfte  der  Anstalt  um  5000  Rth.  höher 
herausbringt,  eine  ansehnliche  Verbesserung  vorbereitet  worden. 
Allein  welche  Bestimmung  diese  Anstalt  wird  erhalten  müssen? 
da  man  es  wohl  als  erwiesen  ansehen  kann ,  dass  ihre  jetzige 
Einrichtung  fehlerhaft  ist,  erfordert  noch  genaue  und  reifliche 
Ueberlegung.  Man  hat  vorgeschlagen  sie  einzuziehen,  und  ihre 
Einkünfte  (die  sich  nach  dem  Etat  von  1803/4  auf  19000  Rth. 
ungefähr  belaufen,  jetzt  folglich  circa  24000  Rth.  und  mithin  fast 
doppelt  soviel  als  alle  Einkünfte  der  Universität  Frankfurt  betragen 
werden)  entweder  der  neuen  Universität  in  Berlin  zu  geben,  oder 
dieselben  zur  Anlegung  einer  Universität  in  Breslau  zu  verwenden. 


')   Vgl.  die  Band  10,  160  abgedruckten  Aktenstücke  und  Spranger  S. 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  d.  217 

Allein  Fonds  einer  bloss  Schlesischen  Anstalt,  und  zu  deren  Stif- 
tung mehrere  Schlesische  Familien  beigetragen,  auf  Institute  ausser- 
halb Schlesiens  zu  verwenden,  würde  äusserst  han  für  die  Provinz 
seyn,  und  sehr  stark  von  ihr  empfunden  werden.  Breslau  aber 
zu  einer  Universität,  wie  es  eigentlich  jetzt  nicht  ist,  zu  erheben, 
scheint  mir  nicht  rathsam,  und  beziehe  ich  mich  deshalb  auf  die 
in  meinem  Berichte  an  den  König,  die  Berliner  Universität  be- 
treffend, ausgeführten  Gründe.  Soviel  ich  bis  jetzt  urtheilen  kann, 
muss  die  Anstalt  nicht  nur  in  Schlesien,  sondern  auch  in  Liegnitz 
bleiben,  und  könnte  vielleicht,  da  die  Fonds  so  ansehnlich  sind, 
zu  einer  in  demselben  Institut  vereinigten  Bürger-,  Gelehrten-  und 
Realschule  (die  letztere  für  diejenigen,  so  sich  nicht  eigentlich 
gelehrten  Studien  widmen)  gemacht  werden.  Da  Landgüter  dabei 
sind,  Hesse  sich  eine  für  Schlesien,  wo  eine  so  grosse  und  schöne 
Neigung  zur  Landwirthschaft  selbst  unter  dem  höheren  Adel 
herrscht,  vorzugsweise  wohlthätige  Ackerbauschule  damit  ver- 
binden, und  somit  Liegnitz  für  diejenigen  welche  nicht  studiren 
wollen,  für  ihre  ganze  Bildung,  für  die  andern  aber  bis  zum 
Uebergang  zur  Universität  zu  einem  Central  Punkt  der  Bildung 
für  die  bemittelten  Stände  der  ganzen  Provinz  machen,  womit, 
dünkt  mich*,  mehr  gewonnen  wäre,  als  wenn  man  die  Schlesier 
auf  einer  wahrscheinlich  immer  nur  mittelmässigen  Provincial 
Universitaet  auf  eine  ihrer  allgemeinen  Ausbildung  gewiss  nach- 
theilige Weise  gewissermassen  isolirte.  Ehe  indess  hierüber  etwas 
entschieden  werden  kann,  muss  der  Bericht  abgewartet  werden, 
welchen  die  Section  von  dem  Ober-Praesidenten  von  Massow  über 
den  Zustand  des  ganzen  Protestantischen  Schulwesens  in  Schlesien 
gefordert  hat. 

Wenn  die  Section  dasjenige  erwägt,  was  sie  zu  thun  hat,  ehe 
sie  behaupten  kann  nur  irgend  etwas  Wichtiges  geleistet  zu  haben, 
ja  ehe  ihre  Thätigkeit  nur  einen  eigentlich  consequenten ,  und 
stufenweis  zum  Besseren  fortschreitenden  Gang  gewinnen  kann, 
so  sind  es  folgende  drei  wichtige  Punkte: 

1.  Vervollständigung  ihrer  selbst  in  Verbindung  mit  ihren 
geistlichen  Mitgliedern,  was  die  Section  des  Cultus  betrift,  und 
mit  der  wissenschaftlichen  Deputation,  was  die  Section  des  öffent- 
lichen Unterrichts  angeht. 

2.  Festsetzung  eines  allgemeinen  Schulplans  welcher  sowohl 
die  verschiedenen  Arten  der  Schulen  und  ihre  Unterordnung,  als 


2i8  3.    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

den  Lehrplan  und  die  Grundsätze  der  Methode,  zwar  nicht  un- 
bedingt vorschreibend,  aber  so,  dass  nicht  ohne  vorhergehende 
Darlegung  der  Gründe  davon  abgewichen  werden  darf,  be- 
stimmt. 

3.  Regulirung  der  Fonds  und  der  Etats  aller  Schulen  und 
der  Besoldungen  aller  Geistlichen,  nicht  bloss  dergestalt,  dass  jeder 
ein  hinreichendes  Einkommen  geniesse,  sondern  auch  dass  dies 
Einkommen  gegen  unvorhergesehene  Zufälle  gesichert  sey. 

Die  vollkommene  Constituirung  der  Section  kann  nicht  eher 
zu  Stande  kommen,  als  bis  sie  nach  Berlin  verpflanzt  ist.  Nur 
da  findet  die  Section  des  Cultus  ihre  geistlichen  Mitglieder,  die 
des  öffentlichen  Unterrichts  die  wissenschaftliche  Deputation, 
beide  auch  ausser  ihrem  Kreise  Männer,  die  sie  zu  Rathe 
ziehen,  und  Acten  aus  denen  sie  sich  belehren  können.  Indess 
hat  der  Chef  der  Section  bereits  einen  Plan  für  den  ganzen 
Personal  und  Salarien  Etat  entworfen,  und  erwartet  nur  noch 
einige  data  über  die  bei  dem  bisherigen  geistlichen  Departement 
angestellten  Personen,  um  ihn  Ew.  Excellenz  zur  Vollziehung 
vorzulegen. 

Die  Entwerfung  eines  allgemeinen  Schulplans  ist  jetzt  theils 
unmöglich,  da  die  wenigen  jetzigen  Mitglieder  der  Section  für  die 
Müsse  und  Ruhe,  welche  ein  solcher  Plan  erfordert,  zu  sehr  mit 
den  currenten  Arbeiten  beschäftigt  sind;  theils  hält  der  Sections 
Chef  mit  Fleiss  diese  Arbeit  zurück,  weil  sie  sich  nicht  auf  die 
Einsichten  weniger,  sondern  aller  Mitglieder  der  Section  sowohl, 
als  der  wissenschaftlichen  Deputation  gründen,  und  ein  Resultat 
ihrer  gemeinschaftlichen  Bemühungen  seyn  muss.     • 

Der  dritte  Punkt  hängt,  da  der  Staat  dazu  nur  zum  Theil 
mitwirken  kann,  von  zwei  Dingen  ab:  von  der  vollendeten  Ein- 
richtung der  geistlichen  Deputationen  bei  den  Regierungen,  und 
der  gehörigen  Organisation  der  verschiedenen  Corporationen  der 
Nation,  deren  Hülfe  vorzüglich  in  Anspruch  genommen  werden 
muss.  Die  Regierungs  Deputationen  werden  nun  in  Kurzem 
organisirt  se3^n.  Von  den  Corporationen  der  Nation  haben  die 
Städte  eine  neue  und  heilsame  Verfassung  erhalten,  und  die  Section 
hat  eben  jetzt  hier  in  Königsberg  Einleitungen  gemacht,  um  zu 
versuchen,  wie  sich  dieselbe  für  das  Schulwesen  benutzen  lassen 
wird.  Eine  DorfOrdnung  soll,  soviel  mir  bekannt  ist,  nachfolgen. 
Allerdings  wäre   nun   für  die  Verbesserung  des  Schulwesens  gar 


A.    GeneralverwaUungsberichte  der  Sektion,  d.  2 IQ 

sehr  zu  wünschen,  dass  auch  eine  ganze  Provinz,  als  solche, 
ins  Interesse  gezogen  werden  könnte.  Sollte  indess  auch  die 
jetzige  ständische  Verfassung  so  bleiben,  wie  sie  gegenwärtig  ist, 
so  wird  die  Section  keine  Mühe  sparen,  auch  mit  grösserer 
Anstrengung  und  geringerem  Erfolge,  auch  diese  zu  ihren  Zwecken 
zu  benutzen.  Der  erste  Schritt,  den  sie  in  Absicht  dieses  ganzen 
Punkts  zu  machen  denkt,  wird  der  se3^n,  sich  mit  denjenigen 
Regierungspraesidien  von  denen  sich  ein  vorzüglicher  Antheil 
hieran  erwarten  lässt,  in  gemeinschaftliche  Berathung  hierüber 
«inzulassen,  und  ihre  Vorschläge,  da  hierin  nichts  ohne  genaue 
Localkenntniss  vorgenommen  werden  kann,  einzufordern. 

Diesen  Punkt,  die  Nation  bei  dem  eigentlich  ihr  anvertrauten 
Geschäft  mit  thätig  zu  machen,  sieht  die  Section  übrigens  für  den 
wichtigsten  und  wesentlichsten  an.  Denn  wenn  E.  p.  erlauben, 
einen  Augenblick  aus  dem  engeren  Kreis  der  Geschäftsführung 
hinauszugehen,  so  lässt  sich  mit  Wahrheit  behaupten,  dass  der 
Zeitpunkt,  wo  die  Section  ihren  Zweck  erreicht  hätte,  der  wäre, 
in  dem  sie  ihr  Geschäft  gänzlich  in  die  Hände  der  Nation  nieder- 
legen, und  sich  mit  dem  Unterricht  und  der  Erziehung  nur  noch 
in  den  höchsten  Beziehungen  desselben  auf  die  andern  Theile  der 
obersten  Staatsverwaltung  beschäftigen  könnte.  Der  (in  England 
freilich,  aber  aus  andern  Gründen,  zum  Verderben  aller  Schulen 
ausschlagende)  Grundsatz,  dass  der  Staat  sich  um  das  Schulwesen 
gar  nicht  einzeln  bekümmern  muss,  ist  an  sich,  einer  consequenten 
Theorie  der  Staatswissenschaft  nach,  gewiss  der  einzig  wahre  und 
richtige.^) 

Nach  jenen  oben  erwähnten  drei  Hauptgeschäften  wird  die 
vorzüglichste  Sorge  der  Section  auf  eine  zweckmässige  Besetzung 
der  Prediger-  und  Schulstellen  gerichtet  seyn.  Sie  glaubt  einen 
bedeutenden  Schritt,  dieselbe  zu  befördern,  dadurch  gemacht  zu 
haben,  dass  sie  die  Prüfungen  der  Bewerber  zu  den  einen  und 
den  andren  zwei  durch  das  ganze  Land  gehenden,  aus  den  an- 
gesehensten Männern  aller  Fächer  bestehenden,  und  nach  gemein- 
schaftlich verabredeten  Grundsätzen  verfahrenden  Commissionen 
zu  übertragen  denkt.  Allein  auch  dieser  Plan  muss  erst  genauer 
entworfen  werden  und  kann  es  nur  in  Gemeinschaft  mit  den 
geistlichen  Mitgliedern  und  der  wissenschaftlichen  Deputation. 


1)   Vgl.  Band  i,  142. 


220  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   j8io. 

Was  endlich  die  currenten  Arbeiten  betrift,  so  bemüht  sich 
die  Section  soviel  als  möglich  Einfachheit  in  den  Geschäftsgang 
zu  bringen,  und  Aufenthalt  und  unnützen  Schriftwechsel  zu  ver- 
meiden. 

Königsberg,  den  19.  Mai,  1809. 

Humboldt. 

An  des  wirklichen  Geheimen  Staats-Ministers  Herrn  Grafen  zu 
Dohna,  Excellenz. 

e.i) 

Königsberg,  den  3^  Juni  1809. 

Die  erwähnungswerthen  Geschäfte,  welche  bei  der  Section  des 
Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts  im  letztverflossenen  Monate 
vorgekommen,  sind  folgende : 

Zuerst  ist  auf  ihren  Antrag  der  Prediger  Natorp^)  in  Essen 
durch  eine  allerhöchste  Cabinets-Ordre  vom  8!^/;'.  zugleich  zum 
Mitgliede  der  geistlichen  und  Schul-Deputation  der  Kurmärkischen 
Regierung  und  der  Section  des  öffentlichen  Unterrichts  ernannt 
worden. 

Der  Staatsrath  Schmedding  ist  in  Berlin  angekommen  und  hat 
sogleich  in  Thätigkeit  gesetzt  werden  können. 

In  dem  Verhältniss  der  Kurmärkischen  Regierung  zur  Section 
ist  durch  eine,  auf  Beschwerden  des  ehemaligen  OberConsistorii 
in  Berlin  bei  Sr.  Majestät  dem  König  erlassene  Cabinets-Ordre  vom 
6ten  pr.  eine  Aenderung  hervorgebracht  worden.  Die  Regierung 
soll  nemlich  die  alleinige  Prüfung  der  Prediger  verlieren,  und 
dieselbe  von  einer  eigenen  ExaminationsCommission  besorgt 
werden ;  und  in  Absicht  der  Hauptstadt  sollen  zwei  beständige  Com- 
missarien  der  Regierung,  ein  geistlicher  und  ein  weltlicher,  für  das 
Schulfach  in  Berlin  zurück  bleiben.  Es  ist  zu  bedauern,  dass  in 
der  übrigens  ganz  nach  dem  Sinn  eines  von  der  Section  abge- 
gebenen Gutachtens  abgefassten  Cabinets-Ordre  einige  Punkte 
ausgelassen  sind,  wie  z.  B.  dass  die  Examinations  Commission  allein 
unter   der  Section   stehen   und   ihre  Prüfungen   in   den  Sessionen 


1)  Konzept  von  Schreiberhand  mit  kleinen  eigenhändigen  Zusätzen  Humboldts. 

2)  Vgl.  den  unten  unter  E,  c  abgedruckten  Antrag  und  Thiele,  Die  Organi- 
sation des  Volksschid-  und  Seminarwesens  in  Preussen  (i8og—i8igJ  mit  beson- 
derer Berücksichtigung  der   Wirksamkeit  L.  Natorps  (Leipzig  igi2j. 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  d.  e.  221 

derselben  halten  soll,  dass  wenn  einer  der  beiden  Berlinischen 
Pröpste  Commissarius  der  Regierung  werde,  nicht  auch  derselbe 
Mitglied  der  Section  seyn  könne  u.  s.  f.  Die  Section  wird  sich 
aber  bemühen,  diese  Berichtigungen  auf  dem  schicklichsten  Wege 
nachträglich  beizubringen. 

Die  Section  des  Cultus  hat  die  Aufhebung  einer  Beschränkung 
der  Gewissensfreiheit  der  Katholiken  bewirkt,  von  der  man  sich 
wundern  muss,  dass  sie  sich  solange  in  den  Preussischen  Staaten 
hatte  erhalten  können:  In  Stettin  und  den  umliegenden  Colonie- 
Dörfern,  in  Frankfurth  a/0.  (wie  seitdem  angezeigt  worden  ist) 
und  vermuthlich  noch  an  anderen  Orten  (wie  die  Folge  lehren 
wird)  war  es  herkömmlich,  dass  die  sich  an  diesen  Orten  befindenden 
Katholischen  Geistlichen  Adus  Ministeriales  nur  dann  bei  ihren 
Glaubensgenossen  verrichten  konnten,  wenn  diese  den  Protestan- 
tischen Geistlichen  die  Jura  stolae  bezahlten.  Eine  eigne  Cabinets- 
Ordre  hat  dies  nicht  nur  in  Absicht  Stettins  autgehoben,  sondern 
auch  die  Section  autorisirt,  ferner  nach  dem  gleichen  Grundsatz 
zu  verfahren. 

Die  so  nothwendigen  geistlichen  Einrichtungen  in  den  ab- 
gerissenen Dioecesanstücken  von  VVestpreussen  sind  jetzt  dem 
StaatsRath  Schmedding,  der  diese  Provinz  zu  diesem  Endzweck 
bereisen  soll,  aufgetragen,  und  so  sieht  diese  wichtige  und  lange 
ohne  Erfolg  ventilirte   Sache   endlich   einer  Erledigung  entgegen. 

Die  Zuschüsse,  welche  Königliche  Gassen  ehemals  den  geist- 
lichen und  Schulanstalten  gaben,  waren  seit  dem  Ausbruch  des 
Krieges  in  Stockung  gerathen.  Die  Section  hat  darauf  angetragen, 
dieselben  wieder  in  Gang  zu  bringen,  und  das  Finanz-Ministerium 
hat  dies  vom  i  t£n  März  c.  an,  zu  bewirken  versprochen,  so- 
bald die  Section  ein  Verzeichniss  jener  Zuschüsse  einreiche.  Die 
Section  ist  jetzt  mit  Anfertigung  desselben  beschäftigt,  wird  es 
sich  aber  angelegen  seyn  lassen,  dabei  alle,  nur  mit  dem  Zweck 
der  Anstalten  irgend  vereinbare  Ersparungen  eintreten  zu  lassen. 

In  Schlesien  wurden  bei  Vergebung  grösserer  Beneficien  den 
commissarisch  dabei  beschäftigten  Kammer-Mitgliedern  von  den 
Stiftern  gewisse  Douceurs  ertheilt.  Diese  hat  des  Königs  Majestät 
jetzt  dem  Schul-Fond  angewiesen,  und  die  Section  hat  es  für 
billig  gehalten,  dem  Ober-Präsidenten  von  Massow  bekannt  zu 
machen,  dass  sie  nur  zu  Schlesischen  Schulanstalten  verwendet 
werden  sollen. 


222  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   1810. 

Zur  Organisation  der  Elementarschulen  ist  durch  die  Voll- 
endung der  mit  dem  zum  Organisator  der  in  sämmtlichen  Preussischen 
Staaten  für  das  Volks- Schulwesen  zu  errichtenden  Normal-Institute 
ernannten  EducationsRath  Zeller  gepflogenen  Unterhandlungen 
ein  sicherer  Grund  gelegt  worden.  Zeller  hat  seine  Entlassung 
im  Wirtembergischen  erhalten,  und  verspricht  im  August  hier 
einzutreffen.  Diese  ganze  Einrichtung  ist  vor  meiner  Ankunft  in 
Königsberg  getroffen  worden  und  ich  habe  erst  seitdem  officielle 
Kenntniss  davon  erhalten. 

Von  der  Zahl  der  12  jungen  Leute,  welche  zu  Pestalozzi  ge- 
schickt werden  sollen,  ist  wiederum  einer,  Namens  Kzionsiuk,  ab- 
gegangen, der  schon  durch  sein  Aeusseres  und  seine  bisherige 
Bildung  soviel  Lebendigkeit  und  Beharrlichkeit  des  Willens  beweist, 
dass  man  mit  Zuversicht  hoffen  kann,  er  werde  seinem  mit  fast 
leidenschaftlicher  Wärme  gefassten,  und  durch  die  Erinnerung  an 
seine  eigne  frühere,  sehr  schlechte  Erziehung  in  ihm  befestigten 
Vorsatz,  in  seinem  Geburtsort  und  der  umliegenden  Gegend  zur 
Einführung  besserer  Volks-Bildung  künftig  kräftig  zu  wirken, 
getreu  bleiben. 

Zwei  andere  junge  Leute  werden,  mit  Königlicher  Erlaubniss, 
nicht  in  die  Schweitz  geschickt,  sondern  bei  dem  sich  sehr  aus- 
zeichnenden, und  Pestalozzische  Methode  vorzüglich  auch  auf  höhere 
Gegenstände  anwendenden  Plamannschen  Institute  in  Berlin  an- 
gestellt. Ihre  Wahl  ist  dem  Dr.  Plamann^)  selbst  überlassen,  und 
ihm,  um  dem  Staat  desto  tüchtigere  Subjecte  zu  verschaffen,  auch 
erlaubt  worden,  sie  aus  seiner  eignen  Anstalt  zu  nehmen.  Die  Be- 
setzung aller,  nicht  den  Regierungen  competirenden  Lehrstellen 
in  Gymnasien  und  höheren  Bürgerschulen  ist  durch  eine  Cabinets- 
Ordre  der  Section  des  öffentlichen  Unterrichts  überlassen  worden, 
ohne  dass  es  dabei  ferner  der  Königlichen  Bestätigung  bedarf. 

Im  vergangenen  Monat  sind  nur  zwei  Stellen  dieser  Art  ver- 
geben worden: 

in  Königsberg  in  der  Neumark  das  Rectorat  des  Lyceums 
an  den  ehemaligen  Professor  vom  Posenschen  Gymnasio 
Dr.  Leps;  in  Demmin  das  Rectorat  an  der  Stadtschule 
an  den  bisherigen  Conrector  Reinholz. 


*)  Johann  Ernst  Piamann  Cijji—i8j4j,  i8oj  in  Burgdorf  bei  Pestalozzi,  er 
öffnete  seine  Anstalt  i8os- 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  e.  22^ 

Auf  der  Universität  zu  Frankfurth  ist  der  Prediger  Spieker^) 
zum  Professor  extraordinarius  der  Theologie,  jedoch  für  jetzt  ohne 
Gehalt,  ernannt  worden. 

Zur  Dotirung  einer  neuen  ordentlichen  Professur  der  Theologie 
hat  der  König  1200  Rth.  von  den  neulich  durch  den  Tod  des  Grafen 
von  Hoym  ledig  gewordenen  und  dem  Schulfonds  geschenkten 
2000  Rth.  anzuweisen  geruht.  Die  Section  hat  zu  dieser  Stelle  den 
Professor  Pott'')  in  Helmstädt  berufen,  und  erwartet  dessen  Antwort. 

Dem  für  die  künftige  Berlinische  Universität  bestimmten  Pro- 
fessor Fichte  hat  der  König  seine  Besoldung  von  800  Rth.  aufs 
neue  zugesichert.^) 

Zur  Vermehrung  der  mit  der  Academie  der  Wissenschaften 
verbundenen  Sammlungen  hat  der  König  den  Ankauf  der  Herb- 
stischen  Krebs-    und   KrabbenSammlung  zu   genehmigen   geruht. 

Bei  der  Academie  der  Künste  ist  eine  Professur  der  Musik 
und  mit  ihr  eine  eigne  Musikbehörde  zur  Veredlung  der  öffent- 
lichen Musik  errichtet,  und  die  Professur  dem  bekannten  Ton- 
künstler Zelter  ertheilt  worden.*) 

Die  Censur  der  Schriften,  die  bisher  zum  Sprengel  des  Kammer 
Gerichts  gehörte,  ist  dem  Dr.  Biester  übertragen  worden,  wobei 
die  Section  vorzüglich  zur  Absicht  gehabt  hat,  durch  die  Wahl 
eines  Mannes,  der  sich  immer  durch  lebhaften  Eifer  für  Denk- 
freiheit ausgezeichnet  hat,  eine  gute  Meinung  von  der  Liberalität 
der  Grundsätze  zu  erregen,  welche  die  Regierung  über  die  Censur 
hegt.  Einen  Censor  in  Breslau,  welcher  einen  durchaus  unschäd- 
lichen ^)  Aufsatz  über  das  Edict  vom  9^  October  mit  dem  Be- 
merken, man  liebe  in  Königsberg  solche  Aufsätze  nicht,  bei  der 
Censur  zurückgewiesen  hatte,  hat  die  Section  Verdientermassen 
zurechtgewiesen. 

Königsberg,  den  3^  Juni  1809. 

Humboldt. 
An 

den  Königlichen  Wirklichen  Geheimen  Staatsminister  des  Innern 
Herrn  Grafen  zu  Dohna  Excellenz. 


')  Christian  Wilhelm  Spieker  (i'jSo — 1858),    als  Erbauungsschriftsteller  be- 
kannt geworden. 

2)  David  Julius  Pott  fij6o—i8j8). 

^)   Vgl.  den  Band  10,  72  abgedruckten  Antrag. 

*)   Vgl.  Band  10,  75. 

■^)  „unschädlichen"  von  Humboldt  verbessert  aus  „harmlosen". 


224.  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

Königsberg,  den  2.  Julius  1809. 

Die  einzelnen  Gegenstände,  welche  die  Section  des  Cultus 
und  des  öffentlichen  Unterrichts  im  Laufe  des  verflossenen  Monats 
beschäftigt  haben,  und  um  die  ihre  Bemühungen  so  weit  gediehen 
sind,  dass  sie  Ew.  Excellenz  Aufmerksamkeit  einigermassen  ver- 
dienen, sind  folgende. 

Zwischen  der  Section  des  Cultus  und  dem  Kriegs  Departe- 
ment sind  die  Verhältnisse  der  Feldprediger  regulirt  worden. 
Mehrere  Gründe  von  Seiten  beider  Behörden  hätten  vielleicht  eine 
gänzliche  Abschaffung  derselben  rathsam  gemacht;  im  Frieden 
kann  der  Soldat  sich  an  den  Civil  Geistlichen  wenden,  und  im 
Felde  thut  ein  kurzes  Gebet  eines  alten  Militairs,  ein  vielleicht  zu- 
fällig angestimmtes  Lied  mehr  Wirkung,  als  ein  Vortrag  eines 
Geistlichen,  zu  dem  überdies  nur  selten  Gelegenheit  seyn  wird.  Allein 
die  Beibehaltung  derselben  stand  einmal  vor  der  Berathung  fest, 
und  es  kam  daher  nur  darauf  an,  die  sonst  bei  ihnen  bemerkten 
Mängel  zu  vermeiden,  und  ihnen  ihren  Wirkungskreis  gehörig  zu 
bestimmen.  In  der  ersteren  Hinsicht  ist  festgesetzt  worden,  dass 
die  Feldprediger  künftig  unter  den  geistlichen  undSchuldeputaiionen 
der  Regierungen  stehen  sollen,  und  daher  der  Feldpropst  von  jetzt 
an  wegfällt,  dass  sie  bloss  das  active  Militaire  als  ihre  Gemeine 
ansehen  dürfen,  und  dass,  einige  Festungs  Prediger  vielleicht  aus- 
genommen, ihrer  überhaupt  künftig  nur  19  seyn  werden.  Der 
Vorschlag  des  Feldpropstes ,  sie  unmittelbar  unter  die  Section 
zu  stellen,  ist,  da  ihre  Versorgung,  nach  Beendigung  ihrer  Lauf- 
bahn als  Feldprediger,  von  den  Regierungen  abhängt,  und  diese 
sie  daher  kennen  müssen,  abgewiesen  worden.  Ihr  Geschäft  soll 
vorzüglich,  ausser  den  geistlichen  Verrichtungen,  in  dem  Unter- 
richte der  Portepee  Fähnriche,  und  der  Aufsicht  auf  die  Lehr- 
anstalten für  die  jungen  Soldaten,  und  die  Schulen  für  die  Soldaten- 
kinder bestehen;  ihr  Gehalt  mehr  als  doppelt  soviel,  als  bisher, 
betragen.  Die  Soldatenkinderschulen  sollen  jedoch  von  jetzt  an, 
soviel  als  möglich ,  mit  den  Bürgerschulen  verbunden  werden. 
Diese  gemeinschaftlichen  Beschlüsse  sind  des  Königs  Majestät  zur 
allerhöchsten  Genehmigung  vorgelegt  worden. 


^)  Konzept  von  Humboldts  Hand;  avi  Rande:  „Ich  habe  das  Miindum  zur 
eignen  Beförderung  zurück  behalten.    6.  Jul.  180g.  H." 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  f.  22 c, 

In  Absicht  der  Schulfonds  im  Allgemeinen  ist,  auf  Antrag 
der  Section,  der  wichtige  Beschluss  gefasst  worden,  dass,  obgleich 
die  Westphalische  Regierung  der  KurA'Iark  15000  Rth.  Sti- 
pendien- und  die  Universität  Halle  einige  Freitischgelder  streitig 
macht,  dennoch  keine  Retorsionen  deshalb  ausgeübt  werden  sollen. 
Dieser  Beschluss  ist  gemacht,  weil  an  jenen  15000  Rth.  wirklich 
die  Altmark  einige  gegründete  Ansprüche  hat,  und  die  West- 
phalische Regierung  alles  Preussische  Schuleigenthum  gewissen- 
haft respectirt,  es  war  aber  auch  nothwendig,  da  die  Besitzungen 
der  diesseitigen  Schulanstalten  an  Gütern,  Praestationen,  und 
Capitalien  im  Königreich  Westphalen  aufs  mindeste  auf  Va  Million 
Thaler  gerechnet  werden  können,  die  jenseitigen  Behörden  dagegen 
bei  uns  nur  etwa  35,000  Rth.  Capital  besitzen. 

Um  sich  mit  der  Pestalozzischen  Schul metho de  be- 
kannt zu  machen,  sind  aufs  neue  zwei  junge  Männer,  der  2^^  und 
3  te^  der  bestimmten  Zahl  von  zwölfen.  Dreist  aus  Schmiedeberg  und 
Marsch  aus  Grüneberg  in  Schlesien,  nach  Yverdun  gesendet  worden. 
Der  erste  ist  durch  Herrn  Professor  Schleiermacher  empfohlen, 
war  bisher  Hauslehrer  bei  einem  Kaufmann,  und  nimmt,  was  ein 
doppelt  günstiger  Umstand  ist,  seine  beiden  Zöglinge  mit.  Der 
letztere  ist  Garnisonschullehrer,  hat  seit  1807.  60 — 70.  arme  und 
zum  Theil  verwaiste  Soldatenkinder  unentgeldlich  unterrichtet, 
und  mit  Schreibmaterialien  versehen,  verlässt  jetzt  Frau  und  Kinder, 
und  bewährt  daher  durch  grosse  Aufopferungen  seinen  Eifer  und 
inneren  Beruf  für  seine  Bestimmung. 

Bei  dem  Waisenhause  in  Bunzlau  ist  auf  den  Antrag 
der  Section  von  des  Königs  Majestät  nachgegeben  worden,  dass 
nunmehr  auch  ohne  Unterschied  Waisen  katholischer  Religion 
aufgenommen  werden  können.  Bis  jetzt  war  dies  nur  als  Aus- 
nahme, in  dringenden  Fällen  erlaubt. 

Das  Conrectorat  zu  Tilsit  ist  dem  Studiosus  Raue,  je- 
doch nur  interimistisch,  um  ihn  erst  Proben  seiner  Fähigkeit,  auch 
auf  höheren  Classen  Unterricht  zu  geben,  ablegen  zu  lassen,  er- 
theilt  worden. 

Auf  der  Universität  zu  Frankfurt  a/0.  hat  der  bisherige  ausser- 
ordentliche Professor  der  Philosophie  Thilo  die  durch  Steinbarts ^) 


^)  Gotthilf  Samuel  Steinbart  fijj8—iSog),  Professor  der  Philosophie  und 
Theologie  in  Frankfurt  a.  O.,  zugleich  Leit  er  der  Züllichauer  Erziehungsanstalten 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     Xm,  ^5 


225  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   18 10. 

Tod  erledigte  ordentliche  philosophische  Professur  erhalten  und 
angenommen. 

Allein  der  aus  Helmstädt  zum  Professor  der  Theologie  be- 
rufene Pott  hat  den  Ruf  abgelehnt.  Die  Section  denkt  daher 
jetzt  auf  die  Wahl  eines  andern  Gelehrten. 

Ebenso  hat  für  die  theologische  Professur  in  Königsberg 
Brettschneider  die  Vocation  ausgeschlagen,  für  die  statistische 
dagegen,  nur  dass  er  nicht  wird  vor  dem  Januar  aus  Russland 
abreisen  können,  Gaspari^)  gänzlich,  und  die  der  orientalischen 
Sprachen  Vater'^)  so  gut  als  angenommen. 

Für  die  medicinische  Facultaet  ist  die  Section  mit  Vollendung 
der  Einrichtung  der  Hospital-  und  Anordnung  einer  ambulatorischen 
Clinik  beschäftigt.  Wegen  der  ersteren  wird  mit  dem  Löbenicht- 
schen  Hospital  ein  Contract  abgeschlossen,  vermöge  welches 
dieses  die  Wohnung  einräumt,  und  zur  Speisung  goo  Rth.  beiträgt. 

Die  ambulatorische,  die  etwa  jährlich  400  Rth.  kosten  dürfte, 
soll  von  den  Armenanstalten  der  Stadt  erhalten  werden,  und  die 
näheren  Einrichtungen  deshalb  werden  jetzt  von  dem  Magistrat  in 
Vereinigung  mit  dem  Professor  Remer  eingeleitet. 

Bei  der  mit  der  Akademie  der  Wissenschaften  verbundenen 
Kunstkammer  hat  sich  der  unangenehme  Zufall  ereignet,  dass 
in  einer,  wegen  des  Krieges  hierher  geflüchteten,  jetzt  aber  nach 
Berlin  zurückgekommenen  Kiste  ein  massiv  goldener  Degenbügel 
vermisst  wird,  der  auch  durch  seine  kunstreiche  und  geschmack- 
volle Arbeit  ein  interessantes  Denkmal  des  Mittelalters  war.  Wie 
derselbe  hat  verloren  gehen  können,  ist  bis  jetzt  nicht  auszufor- 
schen gewesen.  Die  Section  hat  aber  hiervon  Gelegenheit  ge- 
nommen, dem  Bibliothekar  und  Aufseher  der  Kunstsammlungen 
....  Auftrag  zu  *  geben,  einen  Bericht  wegen  aller  durch  die 
feindliche  Besitznehmung  geflüchteten,  und  durch  die  Flucht  ge- 
retteten, oder  aus  derselben  verloren  gegangenen  Objecte  abzu- 
statten.^) 

Ein  Gesuch  der  Academie  der  Künste,  den  Prinzen 
Wilhelm  K.  H.  zu  ihrem  Curator  zu  ernennen,  hat  eine  Cabinets 
Ordre  veranlasst,    durch  welche   der  Grundsatz   festgestellt  wird. 


^)  Adam  Christian  Gaspari  (i']52 — 18 jo),  Historiker,  Geograph  und  Sta- 
tistiker;  vgl.  Band  10,  218. 

^)  Johann  Severin  Vater  (i-]']i — 1826),  Sprachgelehrter  und  Theolog;  vgl. 
Band  j,  222. 

*)  Vgl.  Gebhardt,  Wilhelm  von  Humboldt  als  Staatsmann  i,  184. 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  f.  227 

■dass  Akademien  und  Universitäten  keine  besondern  Curatoren 
haben,  sondern,  bei  dem  Genuss  möglicher  eigner  Freiheit,  allein 
unter  der  Section  des  öffentlichen  Unterrichts  stehen  sollen. 

Auch  ist  durch  dieselbe  Cabinets  Ordre  die  \"ereinigung  der 
BauAcademie  mit  der  KunstAcademie  bestimmt  worden. 
Diese  in  der  That  zu  bewirken,  bedarf  es  jedoch  noch  einer  direc- 
ten  Eröfnung  Ew.  p.  an  die  Section.^) 

Nach  Aufzählung  dieser  einzelnen  Gegenstände  nehme  ich 
mir  die  Freiheit  mich  in  Absicht  der  allgemeinen  \^erhältnisse 
der  Section  auf  die  dem  gegenwärtigen  gehorsamsten  Bericht 
beigefügte  besondere  Beilage  zu  beziehen. 

Königsberg,  den  2.  Julius,  1809. 

Humboldt. 

An    des   Königlichen   wirklichen   Geheimen   Staats   und    diri- 
girenden  Minister  des  Innern,  Herrn  Grafen  zu  Dohna,  Excellenz^ 

[Nachtrag.] 

Königsberg,  den  2.  Julius,  1809. 

Ew.  Excellenz  verzeihen,  wenn  ich  mich  veranlasst  sehe,  meinem 
IjeneralBericht  von  diesem  Monat  noch  einen  besonderen,  aber 
gleich  ofßciellen  Nachtrag  beizufügen. 

Ich  habe  jetzt  die  Geschäfte  meiner  Section  beinahe  drei  Mo- 
nate unter  den  Augen  Ew.  p.  geführt,  und  dadurch  Gelegenheit 
gehabt,  die  Mängel  zu  bemerken,  die  sich,  bei  dem  gegenwärtig 
eingeführten  Geschäftsgange,  bereits  wirklich  zeigen,  und  noch 
für  die  Zukunft  besorgen  lassen,  und  daher  über  die  UnvoUkommen- 
heit  desselben  und  die  Unmöglichkeit  ihn,  ohne  die  wichtigsten 
Nachtheile,  lange  unverändert  fortdauern  zu  lassen,  mit  Sicherheit 
aus  der  Erfahrung  zu  urtheilen. 

Der  Aufsatz,  den  ich  Ew.  p.  privatim  übergeben,  und  sogar 
auf  Ihre  Veranlassung  gemacht  habe,  setzt  dies  und  die  Gründe 
ausführlich  auseinander.  -)  Er  enthält  zugleich  ^^orschläge  zur 
noth wendigen  Abhülfe.  Alle  diese  Vorschläge  laufen  auf  die 
Errichtung  des  Staatsraths  auf  eine  oder  die  andere  Weise  hinaus. 
Ew.   p.   sind  mit  mir,   jedoch  mehr,  wie  es  scheint,  über  die  Zu- 


*)  Dieser  Satz  ist  nachträglich  eingeschaltet. 

^)  Am  Rande:   „Ist  in  der  Anlage  beigejügt.    //.";  in  dem  betreffenden  Fas- 
zikel hat  er  sich  nicht  vorgefunden. 

15* 


228  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

lässigkeit,  als  die  Nothweridigkeit  einer  solchen  Einrichtung  ein- 
verstanden. Allein  ebendeswegen  muss  ich  hier  wiederholen,  dass^ 
wenn  der  StaatsRath  nicht  so  eingerichtet  wird, 

dass  nun  wirklich  Einheit  und  Regelmässigkeit  in  der  Ge- 
schäftsverwaltung eingeführt, 

das  Eingreifen  einer  Behörde  in  die  andere  verhindert,  und 
Willkühr  vermieden  wird, 
derselbe  mehr  schädlich  als  nützlich  seyn  muss,  indem  er  die  als- 
dann immer  nöthig  bleibende  Hauptreform  aufhält  und  erschwert» 
Auch  hierüber  habe  ich  meine  Ansicht  in  dem  eben  angeführten 
Aufsatz  ausführlich  und  bestimmt  auseinandergesetzt. 

Es  bleibt  mir  jetzt  nichts  übrig,  als  Ew.  p.  gehorsamst  zu 
ersuchen 

denselben   als    eine   Ihnen   officiell  vorgelegte  fiece  zu  be- 
trachten 
und  Ihnen  diese  ganze  Sache  dringend  ans  Herz  zu  legen. 

Ich  mache  es  mir  zu  einer  sehr  angenehmen  Pflicht,  Ew.  p» 
bei  dieser  Gelegenheit  zu  bezeugen,  dass  ich  mit  dankbarem  Ver- 
gnügen die  Sorgfalt  bemerkt  habe,  mit  welcher  Ew.  p.  bemüht 
sind,  das  Verhältniss  meiner  Section  zu  Ihrem  Ministerium  dem 
in  der  Grundverordnung  vom  24.  November,  pr})  festgesetzten  so 
nahe  zu  bringen,  als  es  bei  der  jetzt  freilich,  wie  man  freimüthig 
gestehen  muss,  höchst  unvollkommenen  Verfassung  möglich  ist. 
Allein  ich  brauche  Ew.  p.  nicht  zu  sagen,  dass  diese  bloss  per- 
sönlichen Verhältnisse  wohl  persönliche  Beruhigung  für  den 
Augenblick  einflössen,  allein  den  Geschäften  weder  Sicherheit  für 
die  Folge,  noch  einmal  Schutz  gegen  mancherlei  Nachtheile  jetzt 
gewähren  können,  da  auf  den  festen  Gang  in  diesen  nur  die  Ueber- 
zeugung  wirkt,  dass  sie  nach  Grundsätzen  geführt  werden, 
die,  wie  auch  die  persönlichen  Gesinnungen  seyn  möchten,  befolgt 
werden  müssen,  und  ohne  die  Allerhöchste  Zustimmung  nicht 
abgeändert  werden  können. 

Königsberg,  den  2.  Julius,  1809. 


Humboldt. 


An  den  Wirklichen  Geheimen  StaatsMinister 
des  Innern,  Herrn  Grafen  zu  Dohna,  Excellenz. 


*)  Abgedruckt  bei  Pertz,  Das  Leben  des  Ministers  Freiherrn  vom  Stein  2y 
68g.    An  ihrer  Stelle  trat  zunächst  das  Piiblikandum  vom  16.  Dezember  in  Gel 
tung;   vgl.  Preussische  Gesetzsammhmg  1806— iSio  S.  46g. 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  f.  22Q 

[Anlage.^)] 
Der  jetzigen  Verwaltung  der  obersten  Staatsgeschäfte  liegt 
die  Verordnung  vom  24.  November  zum  Grunde.  Sie  ist  aber  nur 
theilweise  ausgeführt.  Da  sie  nun  doch  von  einem  consequenten 
Kopfe  als  ein  Ganzes  entworfen  worden,  so  entsteht  die  sehr 
ernsthafte  Frage: 

ob  die  in  ihr  aufgestellte  Staatsverwaltung  in  ihrer  Ver- 
stümmelung noch  sich  zu  erhalten  und  Nutzen  zu  bringen 
im  Stande  ist? 

wohin  diese  halbe  Ausführung  ausschlagen  muss? 
und    durch   welche    Mittel    man    die   sich    etwa    zeigenden 
Mängel  verbessern,  und  den  etwa  drohenden  Gefahren  vor- 
beugen kann? 

Der  Punkt,  um  welchen  sich  der  ganze  Steinische  Geschäfts- 
plan, wie  um  seine  Angel,  dreht,  ist  das  Verhältniss  der  Minister 
zu  den  Sectionschefs. 

Die  Sectionen  und  ihre  Chefs  sind,  nach  diesem  Plan,  die 
einzigen  administrativen  Behörden  im  Staat;  sie  sollen,  als  solche, 
und  innerhalb  der  ihnen  gesezten  Schranken  durchaus  selbst- 
ständig (S.  13)  aber  auch  vollkommen  verantwortlich  seyn. 

Die  Minister,  insofern  sie  nicht  selbst  Sectionschefs  sind  (da 
der  Plan  ihnen  eine  zwiefache  Rolle  zutheilt),  sollen 

die  Resultate  der  Administration  der  Sectionen  zu  der 
Einheit  ihres  ganzen  Ministeriums  verbinden, 

die   Sectionen   in   den   ihnen   bei  ihrer  Administration 
angewiesenen  Schranken  erhalten ; 
dieselben  controlliren ; 
allein    schlechterdings    nicht    sich    in    die    Administration    selbst 
mischen.     Sie  sollen  nur  leiten,  nicht  ausführen. 

Daher  können  die  Sectionen  von  den  Entscheidungen  der 
Minister  an  den  Staatsrath  oder  den  König  appelliren,  und  mit- 
■einander,  auch  aus  einem  Ministerio  ins  andere  hinüber,  ohne 
Dazwischenkunft  der  Minister  in  Correspondenz  treten.  Denn 
sie ,  und  nicht  die  Ministerien  allein ,  sind  die  wahren  De- 
partements. 

In  diesem  gegenseitigen  Verhältniss  liegt  der  Perpendikel  der 
ganzen  Staatsmaschine;   und  sie   ist  zerstört,  wenn   die  Minister 


^)  Konzept  von  Schreiberhand. 


2QO  3-   Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

sich  in  die  Administration  mischen,  oder  die  Sectionen  sich  ihrer 
Leitung  entziehen  wollen. 

Im  ersteren  Fall  steigen  die  Minister  von  ihrem  höhern 
Standpunkt  herab,  verlieren  sich  im  Detail,  und  bringen  sich  um 
die  Uebersicht  des  Ganzen  ihres  Ministerii,  ohne  doch  je  recht  in 
die  einzelnen  Sectionen  eindringen  zu  können. 

Im  letztern  machen  sich  die  Sectionen  zu  Ministerien. 

Minister  und  Sectionschefs  aber  finden  wiederum  ihre  Einheit 
im  Staatsrath,  als  dem  wahren  Centralpunkt  der  ganzen  Steinischen 
Verfassung. 

Im  Staatsrath  werden  alle  Sachen  von  allgemeiner  Wichtig- 
keit, ohne  Ausnahme,  vorgetragen.  Das  Cabinet  ist  bloss  ein 
Mittel  zur  Controlle,  und  zur  Erleichterung  der  Uebersicht  für 
die  Person  des  Königs.  Die  Sectionschefs  haben  gleiche  Stimme 
mit  den  Ministern,  und  ihr  Verhältniss  nimmt  hier  eine  andre 
Gestalt  an.  Die  Minister,  als  Mitglieder  des  Staatsraths,  sind,  wie 
ausdrücklich  gesagt  ist,  zugleich  Geheime  Staatsräthe.  Auch  ist 
dies  sehr  natürlich.  Denn  hier  ist  nicht  mehr  von  der  Haltung 
schon  festgesetzter  Schranken,  sondern  von  der  Festsetzung  der 
Schranken  selbst,  nicht  mehr  von  Leitung  und  Controlle  einer 
einzelnen  Behörde,  sondern  des  Ganzen  die  Rede. 

Sectionen  und  Staatsrath  hängen  nun  dermassen  von  einander 
ab,  dass  nur  unter  der  Voraussetzung  eines  Staatsraths  die  Sec- 
tionen noch  nützlich,  ohne  denselben  aber  durchaus  gefährlich 
und  verderblich  werden. 

Alle  Verwaltungszweige  sind  auf  das  innigste  mit  einander 
verbunden;  alle  Verwaltung  hängt  wieder  unaufhörlich  von  der 
jedesmaligen  den  Umständen  und  Zeiten  nach  unausbleiblich 
wechslenden  Stimmung  der  Regierung  ab,  insofern  unter  Regierung 
der  Landesherr  und  das  Total  der  Mitglieder  der  obersten  Ver- 
waltungs-Behörde verstanden  wird;  und  jede  gute  Administration 
d  h.  eine  solche,  die  sich  nicht  an  Abmachung  der  vorkommenden 
Geschäfte  begnügt,  sondern  die  ihr  anvertraute  ganze  Parthie  so 
weit  bringen  will,  als  es  jedesmal  möglich  ist,  setzt  in  dem  Chef 
nicht  bloss  Grundsätze  und  Motive  bei  jedem  einzelnen  Schritt,, 
sondern  einen  durchgehenden  und  herrschenden  Geist  voraus. 

Wer  nun  das  Treiben  der  andern  Verwaltungszweige  nur 
von  ferne  kennt,  wer  die  Regierung  nur  immer  in  ihren  Resul- 
taten, nie  in  ihrem  Wirken  sieht,  wer  nicht  selbst  bemerken  kann, 
wohin  ihre  Stimmung  geht,  was  von  ihr  zurückgewiesen,  was  mit 


A.    Generalverwaltunssberichte  der  Sektion,  f. 


231 


Kälte,  was  mit  Lebhaftigkeit  aufgenommen  wird,  der  verliert  die 
Lust  mehr  zu  thun,  als  das  alte  Rad  fortzulaufen,  weil  er  keine 
sichere  Spur  sieht,  geht  über  das  hinaus,  was  sich  durchsetzen 
lässt,  oder  bleibt  dahinter  zurück,  weiss  nicht,  was  er  wagen 
und  nicht  wagen  soll,  und  läuft  Gefahr,  vielleicht  lange  fort- 
zuarbeiten, ehe  er  bemerkt,  dass  er  eine  ganz  andere  Methode 
und  ganz  andere  Mittel  einschlagen  muss.  Er  administrirt  isolirt, 
und  jede  isolirte  Administration  ist  eine  schlechte  Administration. 
In  solcher  Lage  ist  der  Sectionschef  ohne  Staatsrath.  Er  er- 
fährt alsdann  unausbleiblich  folgende  Xachtheile: 

er  kann  seine  Anträge  nicht  mehr  selbst  vertreten; 

er  kann  seine  Meynung,  wo  sie  von  der  des  Ministers 
abweicht,  nicht  selbst  rechtfertigen; 

er  kann,  was  so  sehr  wichtig,  und  wo  alle  gut  gestimmt 
sind,  nicht  schwer  ist,  der  Regierung  im  Ganzen  keinen 
seiner  einzelnen  Parthie  vorteilhaften  Impuls  geben; 

er  kann  keinen  Wink  benutzen,  der  ihm  so  oft  aus 
der  Behandlung  anderer  Angelegenheiten  zukommt; 

er  läuft  Gefahr,  dass  ein  anderer  Minister,  vielleicht  sein 
eigener  für  eine  andere  Section  einen  Vorschlag  macht,  der 
auf  die  seinige  nachtheilig  zurückwirkt,  und  dass  sein,  ihn 
vertretender  Minister,  der  mit  seiner  besonderen  Parthie 
nicht  so  vertraut  seyn  kann,  es  unbeachtet  lässt; 

er  läuft  auf  dieselbe  Weise  Gefahr,  dass  Vortheile  un- 
benutzt bleiben,  die  aus  solchen  Vorschlägen  für  seine  Sec- 
tion entstehen  können. 

Bei  dieser  Lage  der  Sache  wird  dem  Sectionschef  nichts  übrig 
bleiben,  als  viel  häufiger  bei  dem  Minister  anzufragen,  als  er  sonst 
thun  würde,  und  ihn  selbst  einzuladen,  sich  um  das  Detail  seiner 
Parthie  zu  bekümmern,  und  Minister  und  Sectionschef  werden 
beide  gezwungen  werden  zu  thun,  was  dem  Steinischen  Plane 
durchaus  zuwider  ist :  ministerielle  Leitung  und  Sectionsadministra- 
tion  mit  einander  zu  vermischen.  Solange  beide  das  aber  nicht 
klar  und  rein  aussprechen,  wird  es  nur  halb  und  zufallsweise  ge- 
schehen, und  die  Verwaltung  wird  schlechter  seyn,  als  die  ehe- 
malige, wo  die  Minister  ganz  und  allein  dirigirten. 

Recapitulirt  man  alles  Vorhergehende,  so  ist  klar,  dass,  wenn 
i)  die  Minister  sich  in  die  Administration  der  Section  mischen, 
oder 


2Q2  3»    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

2)  die  Sectionen  selbstständig  seyn  sollen,  ohne  dass  es  einen 
Staatsrath  giebt, 
die   Geschäftsführung  nach   dem   Steinischen   Plan    unzusammen- 
hängend, unhaltbar  und  verderblich  wird. 

In  jedem  dieser  Fälle,  und  noch  mehr,  wenn  beide  zusammen 
kommen,  muss  daher  jeder  Sections-Chef,  der  es  ehrlich  mit  der 
Sache  me3^nt,  wünschen,  dass  sein  Minister  auch  seine  Section 
dirigire,  ihm  seine  precaire  Selbstständigkeit  abnehme,  und  ihn 
zum  bloss  vortragenden  Rathe,  ungefähr  nach  Art  der  ehemaligen 
Geheimen  Finanzräthe,  mache. 


Dass,  wenn  es  keinen  Staatsrath  giebt,  die  Minister  nicht 
umhin  können  sich  in  die  Administration  zu  mischen,  und  die 
Sectionschefs  es  zu  wünschen,  ist  eben  gezeigt  worden.  Die  Frage 
ist  also  nur:  kann  es  einen  Staatsrath  geben,  oder  nicht? 

An  sich  und  der  Sache  nach,  sehr  wohl  und  ohne  Bedenken. 

Die  Nachtheile,  die  man  befürchtet,  sind: 
Partheigeist  und  unnützes  Gezanke, 

Schwatzhaftigkeit  und  Uebergewicht  der  Sectionschefs  über 
die  Minister. 

Den  ersten  Nachtheil  zu  vermeiden  hängt  von  der  Festigkeit 
und  der  Autorität  des  Präsidii  ab.  Ist  dies  der  König,  so  fällt 
auch  die  leiseste  Besorgniss  deshalb  weg.  Ist  es  ein  Minister,  so 
wird  er  zu  imponiren  verstehen.  Vergisst  sich  einer  dennoch,  so 
ist  die  Suspension  seines  Rechts  auf  einige  Sessionen  und  die 
Entfernung  von  seiner  Stelle  bei  Rückfällen  die  natürliche  Folge. 

Gegen  die  Schwatzhaftigkeit  sind  dieselben  Mittel  vorhanden. 
Ueberdies  aber  sind  die  Sectionschefs  so  wenige,  dass  die  Zahl 
der  Personen  nicht  zu  sehr  durch  sie  vermehrt  wird. 

Auf  den  letzten  Punkt  ist  es,  wie  man  fühlt,  delicat  zu  ant- 
worten. Man  kann  aber  wohl  mit  Recht  sagen,  dass  ein  Minister, 
welcher  sich  vertraut,  dies  Uebergewicht  nicht  besorgen  wird. 

Soll  aber  der  Staatsrath  wirklich  nützlich  seyn,  so  muss  er 
folgende  drei  Bedingungen  erfüllen: 

i)  es  müssen  alle  innere  Civil-Landes Angelegenheiten ,  ohne 
Ausnahme,  an  ihn,  und  niemals,  mit  Vorbeigehung  seiner,  un- 
mittelbar an  das  Cabinet  gebracht  werden; 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  f.  2^^ 

2)  die  Sectionschefs  müssen  mit  den  Ministern  durchaus  gleiche 
Stimme  haben,  und  es  muss  jedesmal  ein  wahres  Conclusum  nach 
der  Stimmenmehrheit  abgefasst  werden; 

3)  es  muss  hinter  dem  Staatsrath  her  entweder  gar  keine 
Cabinets-Vorträge  mehr  geben,  oder  es  müssen  in  denselben  nicht 
mehr  die  blossen  Anträge  einzelner  Sectionschefs  und  Minister, 
sondern  zugleich  die  Conclusa  des  Staatsraths  der  Person  des 
Königs  zur  Vollziehung  oder  Verwerfung  vorgelegt  werden. 

Erfüllt   man   diese   Bedingungen    nicht   streng ,    sondern   will 
man  gleichsam  einen  modificirten  Staatsrath  einführen,  es  sey  nun 
dass   man,   nach  Willkühr,   nur  gewisse   Sectionschefs, 
mit  Ausschluss  anderer  zuziehe; 

oder  zwar  nach  einer  beständigen  Regel  immer  die- 
jenigen, deren  Berichte  an  den  König  gerade  vorliegen, 
über  diese  Berichte,  allein  keine  andern,  und  jene  nicht 
über  andere  Gegenstände; 

oder  nur  gewisse  Angelegenheiten  an  denselben  bringe, 
andere  nicht; 

oder  endlich  die  Berathung  in  demselben  bloss  als  vor- 
läufige Discussion  ansehe,   und  im  Cabinet  ohne  Rücksicht 
auf  die   Stimmenmehrheit  in   der  Vorconferenz   die   Sache 
von  Neuem  zur  Sprache  bringe, 
so  kann   eine   solche   Einrichtung   nie   das  Uebel   heilen,   sondern 
muss    dasselbe  vielmehr,  wie   jede  Palliativcur,  w^o   eine  radicale 
möglich  ist,  schlimmer  und  gefährlicher  machen. 


Dasjenige,  wohin  der  jetzige  Zustand  führen  muss,  ist  sichtbar: 

dass  die  Selbstständigkeit  der  Sectionschefs   nach  und  nach 

aufhört,   ohne   dass   dieselben   doch   die  Verantwortlichkeit 

verlieren,  und  ohne  dass  die  Minister  wahrhaft  dirigiren. 

Dieser   Zustand    aber    ist    nicht    nur   für    die    Personen    der 

drückendste,  sondern  auch  für  die  Sache  ganz  und  gar  verderblich. 

Denn   es   ist   eine  Verwischung   der   Gränzen    der  leitenden   und 

administrirenden    Behörden,    ohne   Princip,    nach   Willkühr    und 

Zufall.  

Das  einzige  Mittel,  diesem  Uebel  vorzubeugen,  ist: 

Die  Einrichtung  eines  wahren  Staatsraths. 
Will   man   diese   nicht,   oder   ist  ein  Staatsrath   mit  den  Per- 
sonen, die  ihn  jetzt  ausmachen  müssten,   ent\veder  nicht  ausführ- 


204  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

bar,  oder  in  der  Ausführung,   die  sich  erwarten  lässt,   nicht  rath- 
sam,  so  bleibt  nichts  übrig,  als 

Vernichtung  des  Steinischen  Plans,  Vervielfältigung  der 
Ministeria,  Aufhebung  der  Sectionschefs,  und  Organisirung 
eines  Staatsraths  aus  blossen  Ministern,  denen  man  aber 
nothwendig  einige  gar  nicht  administrirende  Mitglieder  zu- 
ordnen müsste. 
Dass  des  sehr  wichtigen  Gedankens: 

dass  ein  ächter  Staatsrath  zum  grössten  Theile  aus  solchen 
Mitgliedern  bestehen  müsste,  und  die  Minister  nur  neben- 
her ein  Recht  darin  zu  sitzen  erhielten,, 
hier  nicht  erwähnt  worden  ist,  rührt  daher,  dass  hier  nur  von 
der  leichtesten  Abhelfung  der  gröbsten  Mängel  der  jetzigen  Ver- 
fassung gesprochen  werden  sollte,  und  man  auf  Ausführung,  nicht 
Kritik  des  Steinischen  Planes  ausging.  Denn  unstreitig  ist  es  ein 
sehr  wesentlicher  Mangel  in  diesem  Plan,  dass  dieser  Gedanke 
darin  gar  nicht,  wie  er  sollte,  aufgefasst,  und  daher  der  Begriff 
eines  eigentlichen  Staatsrathes  und  eigentlicher  Staatsräthe  gänz- 
lich verfehlt  ist.  Man  sieht  es  überhaupt  diesem  Plan  auf  jeder 
Seite  an,  dass  er  zwar  von  einem,  allgemeiner  Ideen  fähigen  Kopfe, 
aber  nicht  nach  Resultaten  unabhängigen  Nachdenkens,  sondern 
nach  speciellen  Erfahrungen  und  zu  speciellen  Zwecken  gemacht 
worden  ist.  ^) 

Königsberg,  den  i6.  August  1809. 

In  dem  verflossenen  Monat  Julius  ist  die  Organisation  der 
geistlichen  und  Schulbehörden  um  einige  sehr  bedeutende  Schritte 
weiter  vorgerückt. 

Es  war  ein  dringendes  Bedürfniss,  der  Section  des  Cultus  einen 
Geistlichen  beizuordnen,  von  dessen  Ansehn  in  der  protestantischen 
Kirche  man  sich  kräftige  Mitwirkung  zur  Beförderung  ächter  Reli- 
giosität  und  der  zur  Erreichung  dieses  Zwecks  vorzunehmenden 

1)  Hier  findet  sich  folgender  Vermerk  Dohnas:  „pr.  2.  Aug.  i8og.  Ew.  Hoch- 
iind  Wohlgeboren  erwiedere  ich  auf  das  gefällige  Schreiben  vom  2  ten  d.  M.  er- 
gebenst,  dass  die  Sache  wegen  Einrichtung  des  Staatsraths  jetzt  in  der  Arbeit 
ist  und  ich  hoffe,  dass  der  Wunsch  hierunter  bald  erreicht  seyn  wird.  Königsberg 
d.  27^  July  i8og.  Dohna."  In  diesen  Zusammenhang  gehört  auch  die  unten 
unter  E,  h  abgedruckte  Beschwerde. 

^)  Konzept  von  Schreiberhand, 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  f.  g.  2^t^ 

Reformen  versprechen  konnte.  Für  die  Ausfüllung  dieser  Lücke 
ist  durch  die  von  des  Königs  Majestät  genehmigte  Berufung 
des  Ober-Hofpredigers  und  Kirchenraths  Dr.  Reinhard^)  aus 
Dresden  gesorgt  v^^orden,  und  die  Antwort  desselben  muss  höchst- 
wahrscheinlich am  Ende  gegenwärtigen  Monats  hier  eintreffen. 
Da  die  demselben  zu  seinem  eigentlichen  Gehalt  zu  ertheilende 
Zulage  noch  unbestimmt  gelassen  war,  so  habe  ich  diesen  Punkt 
durch  ein  PrivatSchreiben  an  den  Dr.  Reinhard,  der  mir  persön- 
lich bekannt  ist,  so  einzuleiten  gesucht,  dass  das  Zartgefühl  des- 
selben nicht  beleidigt,  und  doch  der  Staat  nicht  mit  einer  zu  be- 
deutenden Ausgabe  belästigt  werde. 

Da  die  Kurmärkische  Regierung  gegenwärtig  in  Thätigkeit 
getreten  ist,  so  hat  das  Kurmärkische  OberConsistorium 
mit  dem  i  \^  Jmjus  aufgelöst  werden  können,  und  wirklich  am 
^iten  Juli  seine  letzte  Sitzung  gehalten.  Nach  den  Ew.  Excellenz 
bereits  hinlänglich  bekannten  Verfügungen  war  schon  früher  das 
Schicksal  aller  Räthe  desselben  bis  auf  den  Präsidenten  von  Scheve 
und  den  OberConsistorialrath  Hecker  bestimmt.  Letzterer  ist 
gegenwärtig  auch,  mit  Beibehaltung  seines  Gehalts,  in  Ruhestand 
versetzt,  der  von  Scheve  aber  verdient  um  so  mehr  berücksichtigt 
und  wenigstens  jetzt  durch  Ew.  p.  für  die  Zukunft  beruhigt  zu 
werden,  als  er  mit  wirklich  beifallswürdiger  Fassung  die  Unge- 
wissheit,  in  der  er  sich  befand,  ertragen,  und  allen  in  Beziehung 
auf  die  neuen  Einrichtungen  erhaltenen  Weisungen  pünktliche 
Folge  geleistet  hat. 

Mit  der  Auflösung  des  Kurmärkischen  Consistorii  hing  das 
Aufhören  der  Thätigkeit  des  reformirten  Kirchen-Directorii  und 
französischen  OberConsistorii,  jedoch  beider  nur  für  die  Kurmark 
ab,  da  sie,  wenigstens  das  erstere,  für  die  übrigen  Provinzen  noch 
fortbestehen  müssen. 

Bei  dem  reformirten  Kirchendirectorio  war  bei  dieser 
GeschäftsTrennung  eine  Absonderung  der  generellen  Angelegen- 
heiten von  den  besondern  der  Kurmark  erforderlich,  und  wenn 
demselben  auch  nicht  die  unter  diesem  Vorwand  gemachten  äusserst 
übertriebenen  Forderungen,  nach  w^elchen  es  sich  sogar  die  Be- 
setzung der  Predigerstellen,  auch  in  der  Kurmark,  noch  vorbe- 
halten wollte,  haben  nachgegeben  werden  können,  so  ist  ihm  doch 

^)  Franz  Volkmar  Reinhard  (175^— /5'/2);  vgl.  Schwabe,  Der  D?-esdner 
Oberhofprediger  F.  V.  Reinhard,  in  den  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  deutsche 
Schul-  und  Erziehungsgeschichte  16. 


noQ  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1S09  und   1810. 

die   Aufsicht    auf    das  CandidatenAlumnen-Institut ,   und    die 

Verwaltung 

der  Prediger-Wittwen  und  Waisen,  und  der  Stadtschulleh- 
rer-Wittwen  Gasse, 
des  Gnadenfonds, 

der  Gasse  monä's  pietatis'^)  und  der  dieser  angehängten 
Polnischen  StipendienGasse 
gelassen  worden.  Alle  diese  Gegenstände  gehen  künftig  zur  Sec- 
tion  über.  Die  GandidatenPrüfungen  zu  Predigerstellen  in  der 
Kurmark  geschehen  von  jetzt  an  vor  der  aus  lutherischen  und  re- 
formirten  Mitgliedern  bestehenden  Examinations-Gommission. 

Das  Französische  OberGonsistorium  hat  die  Abgabe  der  Kur- 
märkischen  Acten  an  die  Regierung  verweigert,  und  sein  Gesuch 
um  die  Fortdauer  seiner  Selbständigkeit  liegt  Sr.  Majestät  dem 
König  zur  Entscheidung  vor. 

Auf  eine  in  der  That  höchst  unzweckmässige  Weise  waren 
bis  jetzt  einzelne  Kirchen  in  Berlin  unter  der  Aufsicht  eigener 
Guratorien  nur  den  Personen  der  ehemaligen  DepartementsMinister 
untergeordnet.  Dies  fand  bei  dem  Dom,  der  Parochial-,  der 
Dreifaltigkeits-  und  der  Katholischen  St.  Hedwigs- 
Kirche  statt.  Die  Section  hat  dieselben,  der  jetzigen  Verfassung 
gemäss,  sämtlich  der  geistlichen  und  Schul-Deputation  der  Regierung 
untergeordnet. 

Obgleich  die  geistliche  und  SchulDeputation  der  Kurmärkischen 
Regierung  erst  die  Genehmigung  ihres  Organisations-Plans  er- 
wartet, so  ist  doch  schon  jetzt,  nach  erfolgter  Ankunft  des  OberGon- 
sistorialRaths  Natorp,  eine  hinlängliche  Anzahl  von  Räthen  zur 
Besorgung  der  Geschäfte  vorhanden. 

Bei  der  hiesigen  Regierung  ist  die  bisher  noch  ledig  gebliebene 
Regierungsrathsstelle  für  Schulsachen  durch  den  bisherigen  Pro- 
fessor Delbrück^)  und  bei  der  Liegnitzer  Regierung  durch  den  bis- 
herigen Gymnasiums-Director  Wolfram  besetzt  worden. 

Section  des  Gultus. 
Nachdem  S.  Majestät  der  König  die  Ew.  p.  in  meinem  letzten* 
monatlichen  Bericht  angezeigten  Verabredungen  wegen  der  künf- 


*)  Jjber  diesen  von  Friedrich  Wilhelm  I.  gestifteten  Schulfonds  im  Betrage 
von  so  000  Thalern  vgl.   Vollmer,  Friedrich  Wilhelm  I.  und  die  Volksschule  S.  j4. 

2)  Johann  Friedrich  Ferdinand  Delbrück  (1772 — 1848),  der  Bruder  von 
Johann  Heinrich  Delbrück,  dem  Erzieher  des  Kronprinzen. 


A.    Generalverwallungsberichte  der  Sektion,  g.  2^7 

tigen  Verhältnisse  der  Feldprediger  genehmigt  haben,  ist  das 
MilitairDepartement  unter  Zuziehung  des  Feldprobsts  mit  der 
ersten  Besetzung  der  noch  beibehaltenen  Feldpredigerstellen  und 
ihrer  ^^e^theilung  in  die  verschiedenen  Garnisonen  beschäftigt. 
Nach  Vollendung  dieser  Arbeit  werden  die  Feldprediger  der  Auf- 
sicht der  Regierungen  überwiesen  werden. 

Auf  die  schon  im  Mai  an  das  französische  OberConsistorium 
ergangene  Verfügung  über  die  dem  Prediger  ....  gemachten  Be- 
schuldigungen Bericht  zu  erstatten,  hat  dasselbe  ein  im  December, 
1806.  beim  Französischen  Consistoire  ordinaire  abgehaltenes  Proto- 
coll  eingesandt.  Nach  demselben  hat  das  Consistorium  dem  .... 
damals  den  Vorwurf  gemacht, 

öfter  ohne  Urlaub  verreist  zu  seyn,  sein  Amt  deshalb  ver- 
säumt und  Geschäfte  übernommen  zu  haben,  die  demselben 
fremd  waren,  und  über  die  ausserdem  schon  nachtheilige 
Gerüchte  herumgingen, 
und  ihn  mit  einer  Anzeige  beim  OberConsistorio  bedroht.  Da 
er  aber  sein  Unrecht,  ohne  Urlaub  verreist  zu  seyn,  anerkannt 
und  um  Verzeihung  gebeten,  sich  wegen  der  übernommenen  Ge- 
schäfte, als  wären  sie  gerade  zum  Nutzen  seiner  Mitbürger  ab- 
zweckend gewesen,  gerechtfertigt,  und  versprochen,  künftig  sich 
aller  Reisen  ohne  Urlaub,  und  selbst,  w^gen  des  entstandenen 
Argw^ohnes,  aller  ähnlichen  Geschäfte  zu  enthalten,  so  hat  das 
Consistorium  die  Sache  auf  sich  beruhen  lassen.  Die  Section  hat 
aber  jetzt  dem  OberConsistorio  zu  erkennen  gegeben,  dass  das 
Consistoire  ordinaire  sich  bei  so  strafwürdigen  Dienstvernachlässig- 
ungen des  ....  auffallend  nachsichtig  gegen  denselben  bewiesen, 
und  näheren  Bericht  über  die  Aufführung  des  ....  seit  dem  De- 
cember 1806,  und  ob  er  seinem  Versprechen  pünktlich  nachgelebt? 
eingefordert.  Erst  nach  Eingang  dieses  Berichts  wird  sich  eine 
endliche  Entscheidung  über  diese  in  jeder  Rücksicht  grosse  Auf- 
merksamkeit verdienende  Sache  fällen  lassen. 

Der  gleichfalls  angeschuldigt  gewesene  Pfarrer  Riemasch  in 
Laptau  hingegen  ist  bei  einer  an  Ort  und  Stelle  vom  Consistorial- 
Rath  Wald  angestellten  Untersuchung  nicht  nur  durchaus  un- 
schuldig, sondern  auch  auch  als  ein  um  die  Schule  seines  Dorfs 
und  auch  sonst  ^)  verdienter  Mann  erfunden  worden.  Weil  er 
sich  jedoch  nicht  überall  vorsichtig  benommen,   auch   durch   ehe- 


^)  liach  „sonst'  gestrichen:  „sehr". 


2o8  3.    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und  1810. 

malige,  jedoch  immer  höheren  Orts  vorher  genehmigte,  unüber- 
legte Verwendung  der  Kirchenbaugelder  seine  Gemeine  in  die 
Nothwendigkeit,  jetzt  auf  eigene  Kosten  zu  bauen,  versetzt  hat, 
so  ist  er  deshalb  für  die  Zukunft  ernstlich  verwarnt  worden. 

Ueber  den  Zustand  der  katholischen  Geistlichkeit  in 
Westpreussen  hat  der  Staatsrath  Schmedding  sehr  interessante 
Berichte  eingesandt.  Obgleich  diese  keinen  Auszug  erlauben,  so 
geht  seine  Meynung  im  Ganzen  dahin,  dass  eine  neue  Dioecese 
errichtet,  bis  dahin  aber  durch  einzelne  kräftige  Maassregeln  den 
einzelnen  Nachtheilen  entgegengearbeitet  werden  muss.  Seine  Aeusse- 
rungen  sind  auch  insofern  beruhigend,  dass  er  die  früheren  Berichte 
über  die  grosse  von  der  Geistlichkeit  im  Herzogthum  Warschau 
und  dem  Einverständniss  einiger  inländischer  Geistlichen  mit  der- 
selben zu  besorgende  Gefahr  wenigstens  für  sehr  übertrieben  hält. 

Der  OberPräsident  von  Massow  hatte  der  Section  sehr  dringend 
die  Aufnahme  einiger  Conventualinnen  in  die  jungfräulichen 
Stifter  zu  Liebenthal  und  Liegnitz  empfohlen,  und  sich  vorzüglich 
auf  den  Nutzen  berufen,  welche  die  mit  dem  Liebenthalschen 
Stift  verbundene  MädchenlndustrieSchule  stiftet.  Da  aber  die 
Cabinets  Ordre  vom  29^  Februar  v.  J.  nur  in  den  Orden  der 
Elisabethanerinnen  und  Ursulinerinnen  Novizen  aufzunehmen  ge- 
stattet, und  die  vorgeschlagenen  Personen  auch  ohne  Ablegung 
förmlicher  Ordensgelübde  der  gedachten  Schule  nützlich  seyn  können, 
so  hat  die  Section  das  Gesuch  für  jetzt  zurückgewiesen. 

Section  des  öffentlichen  Unterrichts. 
Die  Wiederherstellung  des  ehemaligen  lutherischen  General- 
Schulfonds  ist  im  Laufe  des  verflossenen  Monats  nunmehr 
vollendet  worden.  Das  FinanzMinisterium  hat  die  sich  auf  etwas 
mehr  als  14000  Rth.  jährlich  belaufende  Summe  königlicher  Zu- 
schüsse, welche  ehemals  zur  Ober-SchulCasse  flössen,  wieder 
vom  I.  Juni  c.  ab  bewilligt,  aber  auf  den  Vorschlag  der  Section 
auf  die  Etats  der  ProvincialRegierungen  übernehmen  lassen. 
Doch  verlieren  darum  diese  Gelder  nicht  ihre  Eigenschaft  der 
Generalfonds,  und  ihre  Bestimmung  hängt  immer,  ohne  an  eine 
Provinz  gebunden  zu  seyn,  von  der  Section  ab.  Ein  grosser 
Theil  davon  wird  in  einzelnen,  zum  Theil  so  kleinen  Zulagen  für 
Schullehrer  zersplittert,  dass  einige  nur  2.,  6.,  viele  10  Rth.  jähr- 
lich erhalten.  Die  Section  hält  diese  von  dem  vorigen  Geistlichen 
Departement  als  System  angenommene  Zersplitterung  für  durchaus 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  g.  2'?Q 

unzweckmässig,  und  glaubt,  dass  eine  kräftige  Verbesserung  nur 
durch  Schulbeiträge  der  Gemeinen,  nicht  durch  Zuschüsse  des 
Staats,  für  welche  auch  der  reichste  zu  arm  ist,  zu  bewirken  steht. 
Für  jetzt  indess  wird  in  der  Verwendung  jener  Summen  auf  welche  die 
Personen  einmal  angewiesen  sind,  keine  Abänderung  zu  treffen  seyn. 
Einen  neuen,  erst  kurz  vor  Ausbruch  des  letzten  Krieges  durch 
Zuschüsse  aus  den  Tabaks-OfliciantenPensionen  gebildeten  Ge- 
neralSchul-Fonds  von  23000  Rthl.  jährlich  hat  das  FinanzMiniste- 
rium  noch  wieder  in  Gang  zu  bringen  abgelehnt,  weil  die  Art 
der  Verwendung  desselben  noch  nicht  bestimmt  war,  und  daher 
erst  die  Xothwendigkeit  dieser  nachgewiesen  werden  muss,  wes- 
halb bereits  an  die  Regierungen  verfügt  ist. 

In  Absicht  der  Organisation  der  untern  Schulbehörden  ist  die 
Section  jetzt  mit  einem  Reglement  für  die  städtischen  Schulde- 
putationen beschäftigt.^)  In  hiesiger  Stadt  sind  bereits  vier,  sich 
vorzüglich  durch  patriotische  und  liberale  Gesinnung  auszeichnende 
Mitglieder  der  Stadtverordneten 

der  Consistorial  [Rath]  Busolt 

Stadtrath  Hagedorn 


unter  Vorsitz 


und  Beiordnung 


Kaufmann  Richter  und 
Buchhändler  Xicolovius 

des  Stadtraths  Hörn 


des  Stadtraths  Glagau 

zur  Schuldeputation  gewählt  worden,  eine  Wahl,  welche  die  Sec- 
tion zu  beschleunigen  und  zu  lenken  bemüht  gewesen  ist,  um 
hier  sogleich  den  ersten  Versuch  einer  Verbesserung  des  städtischen 
Schulwesens  durch  eine  allgemeine  Bürgerabgabe  zu  machen.^) 

Da  es  gut  schien,  um  desto  kräftiger  auf  die  Litthauische 
Nation  zu  wirken,  einen  jungen  Litthauer  nach  Yverdun  zur  Er- 
lernung der  Pestalozzischen  Methode  zu  senden,  so  ist  ein 
sich  durch  grossen  Eifer  für  das  Lehrfach,  Lebhaftigkeit  des  Kopfes, 
hinlängliche  schon  gesammelte  Kenntnisse,  und  eine  grosse  Ein- 
fachheit und  Offenheit  des  Charakters  empfehlender  junger  Mensch, 
Namens  Macik  aus  Barscheiten,   dazu  gewählt   worden.    Er  wird 


')   Vgl.  Band  10,  115. 

2)  Vgl.  Hollack  lind  Tromnau,  Geschichte  des  Schulwesens  der  königlichen 
Haupt-  und  Residenzstadt  Königsberg  in  Preussen  S.  62g. 


2A0  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   1810. 

jetzt  der  4*3  dort  hingesandte  Eleve  von  der  bestimmten  Zahl  der 
Zwölfe. 

Von  dem  Plamannschen  Institut  waren  durch  dessen 
Vorsteher  zum  Genuss  der  allerhöchst  bewilligten  Pension  zwei 
Subjecte  vorgeschlagen,  von  denen  die  Section  jedoch  nur  den 
einen,  Namens  Schmidt,  von  welchem  sich  etwas  Bedeutendes 
hoffen  lässt,  genehmigt  hat.  Wegen  der  andern  Stelle  ist  ein 
anderweitiger  Vorschlag  aufgegeben  worden. 

Die  Wahl  des  bisherigen  Prorectors  Schummel  zum  Rector 
am  Elisabethano  in  Breslau  ist  von  der  Section  förmlich 
annullirt  worden,  da,  die  gegen  den  Schummel  sonst  erhobenen 
Einwürfe  abgerechnet,  er,  nach  allen  eingezogenen  Nachrichten, 
dieser  Stelle  nicht  gewachsen  war.^)  An  das  vom  Magistrat  zu 
Breslau  bisher  ausgeübte  Recht  aber,  die  Prediger  und  Schullehrer, 
ohne  Bestätigung,  zu  wählen,  hat  die  Section  nicht  sich  binden 
zu  müssen  geglaubt,  weil  der  Umfang  der  ConsistorialRechte 
des  Breslauer  Magistrats  überhaupt  noch  streitig  ist,  nach  dem 
allgemeinen  Landrecht  alle  MediatConsistoria  unter  der  Geistlichen 
Oberbehörde  stehen,  und  eine  ältere  allgemeine  Verordnung  alle 
Magistratswahlen  der  höhern  Bestätigung  unterwirft.  Zu  einer 
neuen  Wahl  ist  der  jetzige  Magistrat  veranlasst,  aber  ihm  ge- 
äussert, dass  es  zweckmässiger  seyn  werde,  wenn  er  der  Section 
3  Candidaten  zur  eignen  Wahl  in  Vorschlag  bringe,  und  weil  er 
hierin  eine  Schmälerung  seines  Patronatsrechts  finden  könnte, 
dem  Vice-Regierungs-Präsidenten  Merkel  die  geschickte  Einleitung 
dieser  von  ihm  angegebenen  Maassregel  aufgetragen  worden.^) 

Bei  dem  Joachim stha Ischen  Schuldire ct'orio  ist  nun- 
mehr, auf  Vorschlag  der  Section,  bestimmt  worden,  dass  diejenigen 
Mitglieder,  welche  andere  Aemter  erhalten,  aus  demselben,  mit 
Verzichtleistung  auf  ihre  Bestallung,  austreten  sollen. 

Eines  der  grössten  Gebrechen  unsers  Schulwesens  ist  die 
Nachlässigkeit  bei  den  Prüfungen  der  von  den  gelehrten  Schulen 
zur  Universität  abgehenden  jungen  Leute,  und  dass  der  Titel  ge- 


1)  Johann  Gottlieb  Schummel  {1J48—181J),  Schulmann  und  Schriftsteller^ 
bekannt  durch  seine  satirische  Kritik  des  Philanthropismus,  vom  Minister  Zedlitz 
geschätzt,  seit  i'j'jS  Prorektor  am  Breslauer  Elisabethanum ;  vgl.  Band  10, 
214  und  Wiedemanns  Aufsatz  in  der  Festschrift  zur  Feier  des  j^sojährigeyi  Be- 
stehens der  Anstalt  (Br-eslau  igi2). 

2)  Vgl.  das  Band  10,  ijÖ  abgedruckte  Aktenstück  über  die  Patronatsrechte. 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  g.  24 1 

lehrter  Schulen  und  das  Recht  zur  Universität  zu  dimittiren  Schulen 
verstattet  v^^orden  ist,  welche,  schon  ihrer  kärglichen  Dotirung 
wegen,  nicht  darauf  Anspruch  zu  machen  im  Stande  sind.  Ein- 
führung grösserer  Strenge  bei  jenen  Prüfungen  und  Verminde- 
rung der  gelehrten  Schulen  sind  daher  ein  Hauptaugenmerk  der 
Section.^) 

^^on  diesen  Grundsätzen  geleitet,  hat  sie  auf  den  Vorschlag 
der  litthauischen  Regierung,  in  welcher  der  Geist  ihres  gegen- 
wärtigen Chefs  schon  jetzt  sehr  sichtbar  wird,  der  Schule  zu 
Angerburg  sich  als  gelehrte  Schule  zu  geriren  untersagt.  Sie 
ist  dazu  durch  die  geringe  Anzahl  der  Lehrer,  deren  es  nur  vier 
giebt,  um  die  jungen  Leute  von  den  Elementen  des  Buchstabirens 
bis  zur  Universität  zu  führen,  und  die  höchst  unvollkommene 
Beschaffenheit  ihrer  letzten  eingereichten  Prüfungsarbeiten  bewogen 
worden,  und  übrigens  nur  in  die  Fussstapfen  des  vorigen  geist- 
lichen Departements  getreten,  welches  die  Wirksamkeit  dieser  An- 
stalt, als  gelehrte  Schule,  schon  suspendirt  hatte,  ohne  dass  jedoch 
gehörig  auf  Befolgung   dieser  Verfügung  geachtet  worden  war. 

Der  Finanzzustand  der  Blindenanstalt  ist  durch  eine 
Königliche  Cabinets-Ordre,  welche  ihr  1550  Rth.  jährlich  zugetheilt, 
aufs  Neue  gesichert,  und  ihr  Wirkungskreis  dadurch,  dass  man 
dem  Vorsteher  unentgeldlichen  Unterricht  armer  Kinder  zur  Pflicht 
gemacht  hat,  erweitert  worden. 

Ein  gleiches  soll  nunmehr  auch  mit  dem  Taubstummen- 
Institut  geschehen. 

Immer  aber  muss  man  gestehen,  dass  diese  Anstalten  für 
ihren,  doch  nur  beschränkten  Zweck  äusserst  kostbar  sind,  und 
dass  es  daher  wünschenswerth  wäre,  wenn  man,  w4e  der  Re 
gierungsrath  Zeller  verspricht,  und  wie,  seiner  Versicherung  nach, 
schon  an  einigen  Orten  geschieht,  Taubstummen  und  Blinde  auch 
in  den  gewöhnlichen  Elementarschulen  unterrichten  könnte. 

Dem  Uebelstande,  dass  in  Berlin  in  der  Nähe  einiger  Gymna- 
sien Bordell  wirtschaften  waren,  ist,  auf  meine  Beschwerde, 
vom  PolizeiDirectorio  abgeholfen  und  diese  Häuser,  ein  einziges 
ausgenommen,  wo  dies  nicht  füglich  anging,  in  andere  Strassen 
verlegt  worden.^) 


*)   Vgl.  die  Darstellung  bei  Gebhardt  i,  2j^  und  Spranger  S.  2j4. 
2)  Die  Beschwerde,  die  in  den  Akten  erhalten  ist,  bezieht  sich  auf  die  Um- 
gebung des  Gymnasiums  zum  Grauen  Kloster. 

W.  V.  Humboldt,  Werke.    Xm.  l6 


2  12  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   1810. 

Für  die  Universitäten  hat,  da  die  Antworten  der  für 
Frankfurth  und  Königsberg  berufenen  Lehrer  noch  nicht  ein- 
gelaufen sind,  nichts  weiter  geschehen  können. 

Dem  Professor  Schleiermacher  ist  indess  bis  zur  Errich- 
tung der  in  Berlin  ein  Wartegeld  von  500 Rth.  angewiesen  worden.^) 

Bei  der  Academie  der  Wissenschaften  haben  des  Königs 
Majestät  dem  Geheimen  Rath  Hermbstädt'^)  die  durch  den  Tod 
des  Kriegsraths  Kuhn  erledigte  Besoldung  von  200  Rth.  jedoch 
dergestalt  ertheilt,  dass  die  wirkliche  Auszahlung  vom  Zustande 
der  Gasse  der  Academie  abhängig  gemacht  worden  ist. 

Die  Kunst-  und  Bau -Academie  sind  zwar  jetzt  wirklich 
an  die  Section  übergegangen;  indess  hat  der  Staatsrath  Uhden  in 
Berlin  noch  immer  nicht  die  Ablieferung  aller  Acten,  die  Ueber- 
gabe  der  Gasse,  und  die  Auszahlung  von  200  Rth.,  wegen  welcher 
die  Verfügung  schon  am  1^^  Junius  c.  vom  FinanzMinisterium 
erlassen  wurde,  vom  Geheimen  Staatsrath  Sack,  ungeachtet  der  Befehle 
Ew.  p.  und  der  ergangenen  GabinetsOrdre,  erlangen  können.  Die 
Section  wartet  noch  einen  Bericht  des  Uhden  ab,  um  hernach 
andere  Maassregeln  zu  ergreifen. 

Die  Pension  des  in  Rom  studirenden  Bildhauers  Rauch  ist 
durch  eine  allerhöchste  GabinetsOrdre  bis  auf  400  Rth.  jährlich 
erhöhet  worden. 

Schliesslich  muss  ich  Ew.  p.  um  geneigte  Entschuldigung  der 
verzögerten  Abstattung  dieses  Berichts  gehorsamst  ersuchen. 

16^  August  1809. 

Humboldt. 
An 

des  Königlichen  Wirklichen  Geheimen  Staats-  und  dirigirenden 
Minister  des  Innern  Herren  Grafen  zu  Dohna  Excellenz. 

h.3) 
Königsberg,  den  16.  September,  1809. 

In  dem  verflossenen  Monat  ist  eine  Angelegenheit  berichtigt 
worden,  die  seit  vielen  Monaten  eine  laute  Beschwerde  aller  geist- 
lichen  und  Schulbedienten   ausmachte,   und   für  welche  auch  die 


^)   Vgl.  den  Band  10,  80  abgedruckten  Antrag. 

*)  Sigismiind  Hermbstädt  [1^60 — 18^^,  Chemiker,    Technolog  und  Pharma- 
kolog,  seit  i-jgi  Professor  beim  Collegium  medico-chirurgicum. 

^)  Konzept  von  Humboldts  Hand;  ein  zweites  von  Schreiberhand  liegt  bei. 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  g.  h.  24^ 

Section  des  Cultus  und  öftentlichen  Unterrichts  sich  thätig  ver- 
wandt hatte,  die  Praegravation,  welche  die  Geistlichen 
bei  Vertheilung  der  Kriegslasten  erfahren  zu  haben 
behaupteten.  Man  hat  ihnen  nemlich  nachgelassen,  hypothekarische 
Schulden  auf  das  Kirchenvermögen  aufzunehmen,  und  nun  all- 
mälig  zu  tilgen.  Da  aber  dieser  Gegenstand  durch  das  Ministerium 
selbst  entschieden  worden  ist,  so  ist  das  Detail  davon  Ew.  Excellenz 
hinreichend  bekannt. 

Die  auch  in  andern  Provinzen  nicht  selten  vorkommenden 
Klagen,  dass  den  Geistlichen  und  Schullehrern  die  ihnen  zu- 
kommenden x\bgaben  nicht  gehörig  entrichtet  werden,  waren  in 
Litthauen  so  häufig  geworden,  dass  die  Regierung  sich  genöthigt 
gesehen  hatte,  in  vielen  Orten  Execution  deshalb  zu  verfügen. 
Das  Insterburgische  OberLandesGericht  hatte  sich  aber  heraus- 
genommen, diese  Execution  einseitig  zu  inhibiren.  Auf 
die  Vorstellungen  der  Section  hat  der  Grosskanzler  dem  Ober- 
landesGericht  dies  verfassungswidrige  \^erfahren  untersagt.  Die 
Section  hat  dagegen  auch  die  Regierung  aufgefordert  mit  den 
Executionsverfügungen  nicht  zu  rasch  und  häufig  vorzugehen,  um, 
da  viele  dortige  Unterthanen  seit  Jahren  mit  diesen  Abgaben  in 
Rest  sind,  ihnen  nicht  auf  Einmal  zu  hart  zu  fallen. 

Zwischen  der  Section  der  directen  und  indirecten  Abgaben  und 
•der  Section  des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts  war  die  Frage 
entstanden,  ob  die  den  Geistlichen  und  Schulbedienten  competirende 
Brau-Bonification  auch  den  E  m  e  r  i  t  i  s  verstattet  werden  könne. 
Die  Abgabensection  hatte  diese  Vergünstigung  anfangs  schlechter- 
dings nur  Einem  (entweder  dem  Emerito,  oder  dem  wirklich 
Angestellten  nach  Wahl  der  Section  des  Cultus  p.)  zugestehen 
wollen.  Sie  hat  sich  aber  in  der  Folge  doch  bereit  erklärt,  den 
Emeritis,  da  die  BrauBonification  natürlich  den  wirklich  thätigen 
Geistlichen  verbleiben  muss,  die  NaturalAcciseFreiheit  zu  ge- 
währen. 

Section  des  Cultus. 

Die  Verhältnisse  des  Domkirch enD  irectorii,  das  bisher 
«in  durchaus  eignes  Collegium  ausgemacht,  und  nur  unter  der 
unmittelbaren  Leitung  des  reformirten  geistlichen  Ministers  ge- 
-standen  hatte,  sind  durch  die  CabinetsOrdre  vom  i8.  v.  M.  nun 
auch  dergestalt  regulirt  worden,  dass  dasselbe  der  geistlichen  De- 
putation der  Kur  Märkischen  Regierung  untergeordnet  worden  ist, 

16* 


2aA     .  3.  Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

Durch  die  Abtretung  der  dem  Herzogthum  Warschau  zu- 
gefallenen Provinzen  ist  es  gekommen,  dass  geistlich  Katho- 
lische Rechtshändel  derjenigen  Dioecesen,  deren  Bischöfe 
sich  ausser  den  Königlichen  Staaten  befinden,  in  2t£^  I  n  s  t  a  n  z  eigent- 
lich ausser  Landes  gehen  müssten.  Da  dies  nun  durchaus  ver- 
fassungswidrig ist,  so  ist,  auf  Vorschlag  des  JustizMinisterii,  die 
Einrichtung  getroffen  w^orden,  dass  diese  Sachen  in  2^  Instanz 
vor  das  Officialat  in  Frauenburg  verwiesen  werden.  ^) 

Da  sich  bereits  mehrere  Candidaten  in  Berlin  gemeldet  haben, 
pro  Ministerio  examinirt  zu  werden,  so  ist  es  nothwendig,  jetzt 
die  Verhältnisse  der  in  Berlin  errichteten  ExaminationsCom- 
mission  festzustellen.  Die  Section  ist  seit  einiger  Zeit  mit  den 
beiden  Berlinischen  Pröpsten  und  dem  ersten  Hofprediger  darüber 
in  Correspondenz.  Diese  Angelegenheit  ist  aber  mit  nicht  ge- 
ringen Schwierigkeiten  verknüpft,  da  auf  der  einen  Seite  die 
Prüfungen  der  Geistlichen  wirklich  in  Beriin  besser,  als  in  Pots- 
damm  besorgt  werden  können,  auch  die  Verhältnisse  der  Haupt- 
Kirchen  in  Berlin  geschont  werden  müssen,  auf  der  andern  aber 
es  von  der  äussersten  Wichtigkeit  ist,  die  KurMärkische  Regierung 
nicht  gegen  andere  Regierungen,  bloss  ihrer,  freilich  in  allem, 
was  das  geistliche  und  Schulfach  betrilft,  höchst  nachtheiligen  Ver- 
legung nach  Potsdamm  wegen,  zu  sehr  zurückzusetzen,  und 
ihr  dadurch  das  nöthige  Ansehen  bei  den  Geistlichen  zu  be 
nehmen. 

Seit  dem  letzten  unglücklichen  Kriege  waren  eine  grosse  An- 
zahl von  PredigerBesoldungen,  die  auf  General-Gassen 
angewiesen  waren,  unbezahlt  geblieben.  Für  die  Berlinischen 
Prediger  ist  diese  Angelegenheit  nunmehr  auch  so  gut  als  gänz- 
lich berichtigt  worden,  indem  die  auf  die  GeneraldomainenCasse 
und  den  Französischen  Etat  angewiesenen  Prediger  daselbst 
sämmtlich  vom  i.  März,  c.  ab  auf  andere  Gassen  übernommen 
sind.  Mit  den  auf  die  DispositionsGasse  angewiesenen  ist  das- 
selbe zwar  einzeln,  wie  sie  sich  gemeldet  haben,  jedoch  so  ge- 
schehen, dass  nicht  leicht  noch  einer  unbefriedigt  geblieben  seyn 
wird.  Sehr  dringend  wird  aber  jetzt  die  Befriedigung  der  Fran- 
zösischen Prediger  ausserhalb  Berlin,  für  die  das  FinanzMiniste- 
rium  eher  thätig  zu  sorgen  verweigert  hat,  bis  die  ganze  Ange- 
legenheit des  Französischen  Etats  abgemacht  seyn  wird.    Künftig 


^)   Vgl.  Gebhardt  i,  2gi. 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  h.  24^, 

sollen,  was   im   höchsten   Grade   zweckmässig   ist,   alle  Prediger- 
gehalte auf  die  Provincial-Cassen  übernommen  werden. 

Section  des  öffentlichen  Unterrichts. 

Ew.  p.  werden  aus  meinem  letzten  monatlichen  Bericht  er- 
sehen haben,  wie  das  FinanzMinisterium  die  ehemaligen  Zuschüsse 
zu  der  OberSchulCasse  wieder  in  Gang  gebracht  hat.  Dasselbe 
wollte  jedoch  damals  die  sonst  ad  extraordinaria  verwandte 
Summe  von  2000  Rth.  auf  1500  Rth.  herabsetzen,  weil  die 
Monarchie  beträchtlich  verringert  sey.  Auf  meine  Vorstellung 
aber,  dass  dagegen  auch  Schlesien,  das  ehemals  vom  OberSchul 
Collegio  getrennt  war,  zur  Section  gehöre,  hat  das  FinanzMiniste- 
rium jetzt  die  ganze  Summe  unverkürzt  gelassen.  Dieses  quanium 
war  ehemals,  und  soll  jetzt  wieder  bestimmt  seyn  zu  den  so 
äusserst  nothwendigen  Reisen  des  SectionsChefs  und  der  Räthe 
durch  die  Provinzen,  und  zu  kleinen  ausserordentlichen  Be- 
willigungen und  Remunerationen.  Zu  letzteren  habe  ich  schon 
jetzt,  um  Ew.  p.  nur  dies  Eine  Beispiel  anzuführen,  eine  sehr 
nützliche  Gelegenheit  gefunden,  indem  ich  dem  Professor  Herbart, 
dessen  Tendenz  vorzüglich  auf  Paedagogik  und  Prüfung  der 
gegenwärtigen  Erziehungssysteme  gerichtet  ist,  versprochen  habe, 
armen  Studirenden,  die  er  zum  Versuche  dieser  oder  jener 
Methode  beim  Unterricht  gebraucht,  kleine  Aufmunterungen  (von 
5,  IG  Rth.  bis  100  zusammen  höchstens  jährlich)  zu  geben.  ^)  Ew.  p. 
haben  nun  genehmigt,  dass  ich,  ohne  weitere  vorherige  Anfrage, 
über  diese  Summen  disponirte,  es  ist  jedoch  in  der  Antwort  der 
Zusatz  enthalten: 

„insofern  die  Verordnung  vom  24.  November  1808  dies  verstat- 
tet." Ich  halte  es  daher  für  nöthig  hinzuzufügen,  dass  dies  letztere 
keinem  Zweifel  ausgesetzt  seyn  kann.  Denn  diese  Verordnung 
verlangt  nur  die  Vollziehung  der  HauptEtats  jeder  Departements 
Parthie  durch  den  Minister,  und  in  diesem  HauptEtat  würde 
jene  Summe  nur  unter  dem  allgemeinen  Namen  ^^ad  Extra- 
ordinaria!'- vorkommen  können.  Es  heisst  aber  auch  S.  13  fr.  aus- 
drücklich : 

„Rücksichtlich     kleiner    Unterstützungen    und    GnadenGe- 
schenke    werden  ihnen   (den   Geheimen   StaatsRäthen)   be- 


')   Vgl.  Herbarts  Sämtliche  Werke  i4,2j  Kehrbach  und  die  weitere  Literatur 
bei  Spranger  S.  224. 


2aQ  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   1810. 

sondere    Fonds    zur    freien  Disposition    bis    zu    gewissen 
NormalSummen   angewiesen;   ausserdem   ist  die   Genehmi- 
gungs-Einholung erforderlich." 
Ich   brauche   übrigens  Ew.   p.  nicht  zu  versichern,   dass   ich 
dies  nur  darum  bemerke,  weil  es   mir  nothwendig  scheint,   alles, 
was  Geschäfte  betrifft,   einer  genauen  und   festen  Bestimmung  zu 
unterwerfen,  weil  es  mir  peinlich  seyn  würde,  Ew.  p.  mit  Kleinig- 
keiten zu  behelligen,   und  weil  ich  endlich  weiss,  dass  Sie  durch- 
aus mit  dem  Grundsatz  einverstanden  sind,  welcher  die  Seele  der 
Verordnung  vom  24.  November  ausmacht,  und  ohne  den  das  ganze 
Verhältniss  und  der  ganze  Nutzen  der  Sectionen  über  den  Haufen 
fällt,  dass  nemlich  alles  blosse  Administrationsdetail  den  Sectionen 
überlassen  werden,  und  der  Minister  nur  die  zur  obersten  Leitung 
und  Controlle  nothwendige  Kenntniss  davon  nehmen  muss.    Um 
Ew.  p.  diese  Kenntniss  zu  verschaffen,  bemühe  ich  mich,  in  meinen 
monatlichen  Berichten   nichts   irgend  Erhebliches   zu    übergehen, 
und  werde   sehr  gern,   wenn   sich   hierin  unwillkührliche  Mängel 
einschleichen   sollten,  Ew.  p.  Erinnerungen   hierüber  empfangen, 
da  mir  nichts   so  wünschenswerth  seyn  kann,   als   die  genaueste 
und  speciellste  Theilnahme  Ew.   p.  an  der  von  Sr.  Majestät  dem 
König  meiner  Leitung  anvertrauten  Parthie. 

Dr.  Piamann,  dem  durch  eine  CabinetsOrdre  zugesichert 
worden  war,  dass  zwei  aus  Königlichen  Gassen  zu  pensionnirende 
junge  Leute  sich  bei  ihm  in  der  Pestalozzischen  Methode  üben 
sollten,  hat  nunmehr  auch  zu  der  zweiten,  nach  meinem  Bericht 
vom  vorigen  Monat  noch  offnen  Stelle  ein  Subject  vorgeschlagen, 
welches  die  Section  bestätigt  hat.  Es  ist  dies  der  Studiosus 
Süssenbach  aus  Frankfurt,  der  von  den  Professoren  Thilo  und 
Bredow  die  günstigsten  Zeugnisse  seines  Talents  und  seines  Eifers 
für  das  Erziehungsfach  erhält,  und  schon  im  Sinn  hatte,  für  sich 
eine  Reise  zu  Pestalozzi  zu  unternehmen. 

In  die  durch  die  Versetzungdes  Professor  Delbrück  i)  nach  Königs- 
berg erledigte  Collaboratorstelle  beim  BerlinischCöllnischen 
Gymnasium  ist  der  Professor  Heinsius  gerückt,  und  zu  der  von 
diesem  bisher  bekleideten  jüngsten  Collaboratorstelle  hat  der  Ma- 
gistrat den  bisherigen  Subrector  der  Cöllnischen  Schule  Land- 
schuftz  wiederum  gewählt.  Die  Section  hat  zwar  aus  dem  Wahl- 
protocolle  gesehen,  dass  der  Magistrat  unter  den  vier  Competenten 

')  Vgl.  oben  S.  2j6. 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  h.  247 

mit  Uebergehung  des  überaus  vorzüglichen  Prorectors  Gotthold 
in  Cüstrin,  des  jetzt  brotlosen  Professor  Brohm  in  Posen  und  des 
Collaborators  Dr.  Ritschi  an  der  Cöllnischen  Schule  gerade  den 
am  wenigsten  gelehrten  und  bekannten  gewählt  hat;  sie  hat  sich 
jedoch,  nach  der  bestehenden  Verfassung,  da  sich  nicht  gerade 
etwas  Bedeutendes  gegen  den  Gewählten  einwenden  Hess,  ihn  zu 
bestätigen  nieht  entbrechen  können.  Der  Magistrat  hatte  zugleich 
um  den  Professortitel  für  den  p.  Landschultz  angehalten,  und  es 
ist  richtig,  dass  durch  eine  Cabinets-Ordre  vom  4.  October  1774 
sämmtlichen  damaligen  und  künftigen  Lehrern  des  Gymnasii  dieser 
Titel  und  zwar  gratis  beigelegt  ist,  nur  dass  nach  einer  Verfügung 
des  lutherisch-geistlichen  Departements  vom  10.  November  1774  der 
Magistrat  in  jedem  einzelnen  Fall  besonders  darum  einkommen 
muss.  Da  aber  eine  spätere  CabinetsOrdre  vom  26.  November  1S03 
ausdrücklich  festsetzt,  dass  der  ProfessorTitel 

in  Zukunft  ausschliesslich  den  academischen  Lehrern,  den 
Lehrern  solcher  Institute,  bei  denen  öffentliche  Vorlesungen 
gehalten  werden,  als  z.  B.  bei  den  Medicinischen  CoUegien 
in  Berlin,  und  solchen  Lehrern  öffentlicher  Schulanstalten, 
denen  einmal  durch  die  Constitution  dieser  Anstalten  dieser 
Charakter  zugesichert  ist,  zu  ertheilen 
und  auch  noch  bei  diesem  hier  eintretenden  Fall  die  Einschrän- 
kung macht, 

doch  letzteren  nur  in  dem  Fall,  wenn  sie  schon  öffentlich 
anerkannte  Beweise  einer  nicht  gewöhnlichen  Gelehrsamkeit 
gegeben  haben,  ^) 
und  dies  bei  dem  Landschultz  keineswegs  der  Fall  war,  so  hat 
die  Section  die  Ertheilung  des  Professortitels  um  so  mehr  ab- 
geschlagen, als  auch  neuerlich  bei  Gelegenheit  des  p.  Grashoff 
höheren  Orts  die  Nothwendigkeit,  den  Professortitel  seltener  zu 
machen,  bemerkt  worden  ist  und  dies  bei  der  jetzt  näher  rücken- 
den Errichtung  der  Universität  in  Berlin  noch  rathsamer  wird 
Die  Stelle  des  Subrectors  Landschultz  soll  wieder  von  einem  ge- 
wissen Schmidt  besetzt  werden,  und  da  dieser  erst  geprüft  werden 
muss,   so   ist  seine  Prüfung,   bei   noch   nicht  organisirter  wissen- 


*)  Eine  Abschrift  dieser  beim  400jährigen  Jubiläum  des  Lyzeums  zu  Stettin 
an  Massow  erlassenen  Kabinetsordre  befindet  sich  in  den  Akten  des  Kultus- 
ministeriums A,  Generalia,  Landes-  und  Hoheitssachen  4,  i  (betreffend  Erteilung 
der  Charaktere  und  Titel). 


2^8  3«    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   18 10. 

schaftlicher  Deputation,  dem  Geheimen  Rath  Wolf  und  dem 
Professor   Schleiermacher  ausserordentlich   aufgetragen  worden.^) 

In  Züllichau  sind  bekanntlich  drei  öffentliche  Anstalten,  ein 
Waisenhaus,  ein  Schullehrer-Seminarium  und  ein  Paedagogium. 
Alle  danken  der  Steinbartischen  Familie  ihr  Daseyn,  die  beiden 
ersten  sind  aber  seit  längerer  Zeit  für  königliche  Anstalten  erklärt 
worden;  die  letzte  ist  ein  blosses  Privat-Institut.  So  vielen  Nutzen 
auch  diese  Anstalten  gestiftet  haben,  so  zeigte  doch  jetzt  ihr  oeco- 
nomischer  Zustand  sowohl,  da  man  unter  anderem,  um  dem 
Paedagogium  aufzuhelfen,  Documente  des  Waisenhauses  verpfändet 
hat,  als  die  Beschaffenheit  und  Vertheilung  des  Unterrichts,  dass 
es  um  so  nöthiger  war,  sie  einer  genauen  und  vollständigen  Unter- 
suchung zu  unterwerfen,  als  auch  der  jetzige  Director,  der  jüngere 
Steinbart,  schwerlich  seinen  Vater  ^)  ganz  zu  ersetzen  im  Stande  seyn 
möchte.  Die  Section  hat  diese  Untersuchung,  auf  den  V^or- 
schlag  des  ViceRegierungsPraesidenten  Troschel,  dem  ehemaligen 
Kriegs-Rath  Fischer  aufgetragen,  der  mit  allgemeiner  Einsicht  in 
das  Schulwesen  eine  grosse  Thätigkeit  verbindet. 

Der  Plan,  welchen  die  Section  zur  Verbesserung  des  hiesigen 
Schulwesens  entworfen  hatte,  ist  Ew.  p.  bekannt.^)  Ew.  p.  wissen 
auch  bereits,  welche  Schwierigkeiten  die  Ausführung  derselben 
findet,  ungeachtet  den  Stadtverordneten  die  Aufbringung  einer 
Summe  von  20000  Rth.  durch  die  CabinetsOrdre  vom  26.  pr. 
aufgegeben  worden  war.  Ohne  daher  Ew.  p.  mit  Wiederholung 
dieser  Umstände  zu  ermüden,  füge  ich  nur  einige  Bemerkungen 
über  die  Nothwendigkeit  der  Reform,  und  die  Unmöglichkeit,  die 
Mittel  dazu  auf  andre  Weise  herbeizuschaffen,  hinzu.  Das  Mis- 
verhältniss  unter  den  drei  hiesigen  magistratischen  gelehrten  Schu- 
len ist  so  gross,  dass  die  Altstädtische  400,  die  Kneiphöfische  100, 
die  Löbenichtsche  70  Schüler  hat.  Die  Frequenz  auf  der  erstem 
entsteht  lediglich  durch  die  Thätigkeit  des  Rectors  Haman*)  und 
die  Schlechtigkeit  der  andern  Schulen;  sie  ist  aber,  da  bei  der 
verhältnissmässig  geringen  Lehrerzahl  die  Zöglinge  nicht  übersehen 


^)  Vgl.  Heidemann,  Geschichte  des  Grauen  Klosters  zu  Berlin  S.  279  und 
Humboldts  Briefe  an  WolJ  in  Fleckeisens  Neuen  Jahrbüchern  für  Philologie 
und  Pädodogik  752,  2^2.  295.  ^00. 

")   Vgl.  oben  S.  225  Anm. 

^)  Abgedruckt  unten  unter  C,  a. 

*)  Johann  Michael  Hamann  {i']6g — 181^,  Sohn  Johann  Georg  Hamanns, 
seit  lygö  Rektor  der  Altstädtischen  Schule. 


A.    Generalverw'altungsberichte  der  Sektion,  h. 


249 


werden  können,  offenbar  dem  Unterricht  schädlich.  Dennoch  ist 
es  unmöglich,  onne  ansehnliche  Geldzuschüsse  dem  Uebel  abzu- 
helfen, da  die  Lehrer  jetzt  nur  vermöge  des  Schulgeldes  bestehen 
können,  keiner  aber  leicht  auf  die  ungewisse  Aussicht,  seine  Anstalt 
so  ansehnlich  zu  haben,  wenn  er  irgend  ein  besseres  Mittel  der 
Subsistenz  weiss,  eine  Stelle  im  Kneiphof,  oder  Löbenicht  an- 
nehmen kann,  mithin  die  Sache  immer  dieselbe  bleibt,  und  die 
Section,  wie  bei  einer  eben  jetzt  entstandenen  Vacanz  wieder  der 
Fall  seyn  wird,  in  die  Nothwendigkeit  kommt,  höchst  mittel- 
mässige  Subjecte  bestätigen  zu  müssen.  Wie  schlecht  aber  die 
Lehrer  gesetzt  sind,  können  Ew.  p.  daraus  sehen,  dass  keiner  der 
Rectoren  ein  Gehalt  von  400  Rth.  bezieht,  die  Lehrerbesoldungen 
aber  grösstentheils  unter  200  Rth.  sind.  Ueberhaupt  betragen  die 
Einnahmen  sämmtHcher  drei  gelehrten  Schulen,  ohne  das  Schul- 
geld, nur  5652  Rth.,  da  in  Berlin  z.  B.  ohne  die  reichen  Anstalten 
zu  erwähnen,  das  Berlinisch-Cöllnische  Gymnasium,  ohne  die  Zu- 
schüsse aus  der  Streitischen  Stiftung,  allein  6000  Rth.  bezieht. 
Diese  Revenuen  fliessen  aber  bis  auf  1500  Rth.,  welche  die 
Kämmerei  hergiebt,  aus  den  KirchenCassen,  und  sind,  da  diese 
meistentheils  verarmt  sind,  in  Gefahr  ganz  zu  versiegen.  Auch 
haben  in  der  That  die  Lehrer  ihr  Gehalt  seit  mehreren  Monaten 
nicht  bekommen.  Dabei  sind  die  Gebäude  in  einem  solchen  Zu- 
stande, dass  in  der  Altstädtischen  Schule  z.  B.  eine  Ciassenstube 
im  Winter  vor  Rauch  kaum  brauchbar  ist,  und  zwei  durch  eine 
so  dünne  Wand  getrennt  sind,  dass  man  jedes  in  der  einen  ge- 
sprochene Wort  in  der  andern  hört.  Nimmt  man  nun  das  Innere 
hinzu,  so  kann  man  mit  Wahrheit  behaupten,  dass,  wenn  man 
von  der  einzigen  Altstädtischen  Schule,  gegen  die  sich  doch  auch 
noch  Manches  erinnern  lässt,  abgeht,  die  Schulen  sich  in  keiner 
der  grösseren  Städte  der  Monarchie  in  einem  so  kläglichen  Zu- 
stand, als  in  Königsberg,  befinden.  Mittel  aber,  diesen  Zustand 
zu  verbessern,  giebt  es,  ohne  einen  Beitrag  der  Stadt,  so  gut  als 
keine.  Denn  gute  Lehrer  sind  bei  so  schlechten  und  ungewissen 
Besoldungen  zu  erhalten  unmöglich,  und  die  Section  darf  um  so 
weniger  wagen,  dem  König  Vorschläge  zu  machen,  für  die  hiesigen 
magistratischen  Schulen  Summen  aus  Königlichen  Gassen  zuzu- 
geben, als  schon  das  gleichfalls  ganz  in  Verfall  gerathene  Collegium 
Fridericianum  einen  nicht  unbedeutenden  Zuschuss  verlangt,  wenn 
es  wieder  gehoben  werden  soll.  Dies  aber  ist  durchaus  noth- 
wendig,  wenn  es  möglich  seyn  soll,  die  Kneiphöfische  und  Lobe- 


2C0  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

nichtsche  Schule  in  Bürgerschulen  zu  verwandeln,  und  ihnen  das 
traurige  Recht  zu  nehmen,  höchst  mittelmässig  vorbereitete  Schüler 
zur  Universität  zu  dimittiren. 

Die  Regulirung  des  neuen  Etats  der  Universität  Königs- 
berg und  die  Pensionnirung  der  nicht  mehr  brauchbaren  Pro- 
fessoren hat  noch  nicht  Statt  finden  können,  weil  der  zuerst  schon 
am  21.  Mai,  c.  eingereichte  Vertheilungsplan  der  von  des  Königs 
Majestät  bewilligten  Zuschüsse  noch  nicht  an  die  Section  zurück- 
gekommen ist.  Es  entspringt  hieraus  der  Uebelstand,  dass  die 
zur  Pension  vorgeschlagenen  Professoren  noch  haben  im  Lections- 
Catalog  für  das  nächste  Winter  Halbe  Jahr  aufgeführt  werden 
müssen.  Selbst  der  Bau  der  zum  Klinischen  Institut  angewiesenen 
Locale  wäre  unterblieben,  und  somit  diese  so  nützliche  Anstalt 
gänzlich  aufgehalten  worden,  wenn  Ew.  p.  nicht  die  Güte  gehabt 
hätten,  die  Fortsetzung  des  Baues,  auch  ohne  die  Königliche 
Genehmigung,  auf  Sich  zu  nehmen. 

Da  sowohl  der  Professor  Pott  in  Helmstädt,  als  der  Professor 
Augusti^)  in  Jena  den  an  sie  ergangenen  Ruf  ausgeschlagen  haben, 
so  hat  die  erledigte  theologische  Professur  in  Frankfurt  noch 
nicht  wieder  besetzt  werden  können.  Die  Section  hofft  indess 
noch   vor   dem  Winter  in  neuen  Versuchen   glücklicher  zu   seyn. 

Da  es  einen  sehr  guten  Eindruck  machen  würde,  wenn  die 
Geheimen  Räthe  Wolf,  und  Schmalz,  und  die  Professoren  Schleier- 
macher und  Fichte  schon  in  diesem  Winter  Vorlesungen  in  Berlin 
hielten ;  so  hatte  ich,  sobald  nur  Hofnung  war,  das  Prinz  Heinrichsche 
Palais  für  die  Berliner  Universität  zu  erlangen,  einen  Saal  zu  einem 
öffentlichen  Auditorium  darin  auswählen,  und  mit  Anfertigung 
der  nöthigen  Bänke  und  Tische  immer  anfangen  lassen.  In  der 
CabinetsOrdre  vom  i6.  August  haben  nun  des  Königs  Majestät  die 
Errichtung  der  Universität  aufs  Neue  zu  beschliessen  geruht,  und 
derselben  in  Verbindung  mit  den  beiden  Akademieen  und  den 
wissenschaftlichen  Instituten  Domainen  von  150000  Rth.  Ertrag 
unter  den  Ew.  p.  bekannten  Bedingungen  zu  verleihen  geruht. 
In  der  darauf  mit  dem  Finanz-  und  JustizMinisterio  am  28.  ej. 
gehaltenen  Conferenz^)   ist  vorläufig  festgesetzt   worden,   dass   die 


^)  Johann  Christian  Wilhelm  Augusti  {1771—1841),  Alttestamentier  und 
Orientalist. 

2)  Vgl.  Band  w,  i^S.  Der  weiter  unten  erwähnte  Zusatz  Humboldts  ist  von 
Gebhardt   ebenda   nicht   aufgenommen    worden ;    er    ist   abgedruckt   bei  Köpke, 


A.    Generalverwaltungsberichte  der  Sektion,  h.  2^1 

Auswahl  der  Domainen  der  DomainenSection  überlassen  werden 
soll,  jedoch  solche  Aemter  vorzugsweise  zu  nehmen  sind,  welche 
den  KurMärkischen  Ständen  nicht  verpfändet  worden,  dass  (wo- 
rüber bereits  an  den  ViceRegierungsPraesidenten  Merkel  geschrie- 
ben worden)  in  der  vom  JustizMinisterio  auszufertigenden  Ur- 
kunde die  zu  saecularisirenden  katholisch-geistlichen  Güter  namhaft 
gemacht  werden  sollen;  dass  die  Administration  dieser  Domainen 
von  der  KurMärkischen  Regierung  unter  der  Firma:  Admini- 
strationsCommission  der  gelehrten  Anstalten  geführt,  die  Ein- 
künfte aber  von  den  Aemtern  unmittelbar  an  die  gemeinschaft- 
liche Gasse  des  Instituts  gezahlt;  die  OberAdministration  von  der 
DomainenSection  geleitet,  die  HauptEtats  aber  von  ihr  und  der 
UnterrichtsSection  gemeinschaftlich  vollzogen  werden  sollen.  Die 
Revenuen  werden  vom  i.  September  c.  an  berechnet,  allein  insofern 
nicht  ihre  Disposition  sogleich  freigegeben  wird,  als  ein,  wie  alle 
andern  Staatsschulden  zu  behandelndes  Darlehen  betrachtet.  Ueber 
die  jetzt  zu  bewilligende  Summe  steht  die  Section  gegenwärtig 
mit  dem  FinanzMinisterio  in  Correspondenz,  es  ist  aber  dabei 
schon  vorläufig  der  Grundsatz  angenommen,  dass  die  beiden  Aca- 
demien  ihre  bisherigen  Einkünfte  dem  Staate  abtreten  und  da- 
gegen ihren  Antheil  an  der  neuen  Verleihung  erhalten.  Ausserdem 
ist  in  diesem  ConferenzProtocoll  auch  der  Punkt  enthalten,  dass 
der  Werth  der  Domainen  zwar  nach  dem  diesjährigen  Ertrag, 
aber  ohne  Abzug  der  Remission  und  Baukosten,  bestimmt  werden 
soll.  Hiergegen  habe  ich  geglaubt  noch  bei  Unterzeichnung  des 
Protocolls  schriftlich  protestiren  zu  müssen,  habe  jedoch  bisher 
keine  Antwort  vom  FinanzMinisterio  erhalten.  Da  nun  die  Grün- 
dung einer  solchen  Anstalt  für  Ew.  p.  Ministerium  gewiss  von 
grosser  Wichtigkeit  ist,  so  ersuche  ich  Dieselben  gehorsamst,  Sich 
Selbst  vor  Ausfertigung  der  Urkunde  in  Kenntniss  der  von  der 
DomainenSection  auszuwählenden  Aemter  geneigtest  zu  setzen, 
um  zu  beurtheilen,  ob  sie  in  der  That  den  vom  König  zugesicher- 
ten Enrag,  auch  ohne  Abzug  jener  Kosten,  zu  gewähren  im  Stande 
sind,  und  das  Institut  und  die  dasselbe  vertretende  Section  hierin 
zu  unterstützen. 

Die  Kunst-   und   Bau-Academie   hatten  seit    dem  Aus- 
bruch des  letzten  Krieges  die  ihnen  sonst  aus  Königlichen  Gassen 


Gründung  der  Universität  Berlin  S.  irjj ;  vgl.  Lenz,   Geschichte  der  Universität 
Berlin  i,  ig^. 


2L2  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und  1810. 

zufliessenden  Zuschüsse,  erstere  gänzlich,  letztere  grösstentheils  ent- 
behrt. Auf  den  Antrag  der  Section  aber  sind  dieselben  wiederum 
mit  21,500  Rth.  jährlich  angewiesen  worden.  Die  für  die  hiesige 
Kunstschule  hat  die  hiesige  Regierung  auf  ihren  Etat  übernommen, 
dagegen  sind  die  für  die  BauAcademie,  welche  ehemals  aus  mehr 
denn  20  verschiedenen  ProvinzialCassen  kamen,  nunmehr  sämmt- 
lich  auf  die  GeneralCasse  überwiesen  worden.  Indess  hat  die 
Section  auch  hier  bedeutende  Ersparungen  gemacht,  und  diese 
Zuschüsse  sind  um  7000  Rth.  etwa  geringer,  als  diejenigen,  welche 
ehemals  etatsmässig  waren. 

Da  die  Section  es  für  ihre  Pflicht  hielt,  dem  Aufseher  der 
Kunstkammer,  Prediger  ....  ihr  Misfallen  über  den  Ver- 
lust eines  Fässchens  mit  Medaillen,  das  ihm  auf  seiner  Flucht  ent- 
wendet worden  ist,  zu  erkennen  zu  geben,  so  hat  sich  derselbe 
hierüber  sehr  beleidigt  gefunden  und  ^)  in  einer  langen  Vertheidi- 
gung  darthun  wollen,  wie  er  bei  jenem  Verluste  ausser  aller  Schuld 
gewesen  sey.  Seine  eigne  Erzählung  des  Hergangs  der  Sache 
aber  enthält  die  deutlichsten  Beweise  seines  unachtsamen  und  un- 
geschickten Benehmens  bei  diesem  Vorfall,  und  die  Section  hat 
daher  nicht  umhin  gekonnt,  ihm  dasselbe  noch  einmal  ernstlich 
zu  verweisen. 

Königsberg,  den  16.  September,  1809. 

Humboldt. 

An 

den    Königlichen   Wirklichen   Geheimen  StaatsMinister,   Herrn 
Grafen  zu  Dohna,  Excellenz.  ^) 


1)  Nach  „und"  gestrichen:   „seine  angebliche". 

'')  Hier  findet  sich  folgender  Vermerk  Dohnas:  „Da  die  Frist  eines  Monats 
zu  kurz  ist,  um  während  derselben  merkbare  Fortschritte  in  der  Administration 
zu  machen ;  so  bin  ich  veranlasst,  Ew.  Hoch-  imd  Wohlgeboren  von  Einreichung 
der  durch  die  Verordnung  vom  24^^  Novbr.  v.  J.  angeordneten  monatlichen 
Uebersicht  des  VerwaltungsZustandes  der  Ihrer  Leitung  anvertrauten  Section 
für  den  Kultus  und  öffentlichen  Unterricht  zu  entbinden  und  Sie  ganz  ergebenst 
zu  ersuchen,  selbige  künftig  nur  Viertel] äh-ig,  mit  dem  z.  t£?  Decbr.  Maerz,  Ju- 
niiis  und  September  beliebig  zu  übergeben. 

Das  nächste  Mal  läuft  zugleich  das  erste  VerwaltungsJahr  nach  der  neuen 
Einrichtung  ab,  und  ich  beabsichte,  im  Monath  Decbr.  c.  den  in  jener  Verordnung 
vorgeschriebenen  Bericht  an  des  Königs  Majestät  zu  erstatten.  Ew.  Hoch-  und 
Wohlgeboren  wird  es  gewiss  interessieren ,  dass  Sr.  Majestät  diesen  HauptBe- 
richt  in  Rücksicht  des  Ressorts  der  gedachten  Section  nach  Ihrer  eigenen  Dar- 


B.     Über  die  Organisation  des  Medizinalwesens.  2^^ 

B.  Über  die  Organisation  des  Medizinalwesens.  ^) 

Königsberg,  den  i8.  Junius,  1809. 

Da  ich  aus  den  mir  durch  Ew.  Excellenz  mitgetheilten,  und 
anliegend  zurückerfolgenden  Papieren  gesehen  habe,  welche  gütige 
und  wirklich  freundschaftliche  Absichten  Sie  in  Ansehung  des 
Medicinalwesens  für  mich  gehegt  haben;  so  glaube  ich  dadurch 
gerechtfertigt  zu  werden,  wenn  ich  so  frei  bin,  Ihnen  meine  Mey- 
nung   über  diesen  Gegenstand  freimüthig  und  offen  mitzutheilen. 

Ich  brauche  Ew.  p.  nicht  auf  die  grosse  Wichtigkeit  desselben 
aufmerksam  zu  machen;  ich  brauche  Ihnen  nicht  zu  sagen,  in 
welchem  unvollkommenen  Zustande,  nach  dem  Urtheile  aller  Un- 
partheiischen,  sich  das  (y^oxCollegium  medicmn  et  sanitatis  und  das 
Collegium  medtco-chirurgüum  befand;  es  ist  genug,  wenn  ich  Ihnen 
in  wenigen  Grundzügen  andeute,  wie,  meines  Erachtens, 

1.  die  neuen  oberen  Medicinalbehörden  organisirt,  und 

2.  dieselben  mit  der  Section  des  Cultus  und  öffentlichen  Unter- 
richts in  Verbindung  gesetzt  seyn  müssten. 

I. 

Die  Organisation  setzt  schon  die  V^erordnung  vom  24.  No- 
vember, pr.  fest,  und  ich  bin  ganz  mit  derselben  einverstanden, 
dass  künftig  eine  wissenschaftliche  Deputation  und  ein  OberMe- 
dicinalRath  vorhanden  seyn  muss. 

Allein  die  Organisation  des  letztern  wünschte  ich  ein  wenig 
anders  zu  modificiren. 

Er  soll  nemlich  bestehen  aus  dem  Chef,  einem  Staatsrath, 
dem  Director  der  wissenschaftlichen  Deputation  und  einem  Mit- 
glied derselben,  also  nur  zur  Hälfte  aus  Aerzten,  und  wenn  man 
annimmt,  dass  bei  Gleichheit  der  Stimmen  der  Chef  entscheidet, 
mit  3  Laienstimmen  gegen  2  sachkundige. 

Stellung  und  Ansichten  erhalten.  Aus  diesem  Grunde  ersuche  ich  Ew.  Hoch-  und 
Wohlgeboren  künftigesmal  eine  generelle  Uebersicht  von  dem  ganzen  Jahre  ge- 
fälligst beizufügen,  imd  sie  so  zu  fassen,  dass  sie  des  Königs  Majestät  eingereicht 
werden  könne. 

Königsberg,  77.  Octbr.  iSog. 

Dohna." 

Der  hier  geforderte  Hauptbericht  ist  abgedruckt  Band  10,  igg.  Weitere  Berichte 
scheinen  nicht  erstattet  zu  sein. 

V  Eigenhändiger  Entwurf  Humboldts. 


2Z.A.  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   1810. 

Dies  ist  offenbar  unzweckmässig;  der  OberMedicinalRath 
muss,  soviel  möglich,  bloss  aus  Aerzten  bestehen;  es  ist  viel  leichter, 
dass  diese  sich  die  nöthige  Geschäftskenntniss  erwerben,  als  dass 
Geschäftsleute  mit  Verstand  über  medicinische  Gegenstände  ur- 
theilen;  auch  sind  die  Fehler,  die  aus  dem  Mangel  der  erstem 
entstehen  können,  bei  weitem  leichter  zu  heben  und  minder 
gefährlich. 

Ich  würde  daher  von  Laien  bloss  den  Chef  zulassen,  und 
auch  zu  diesem  nur  einen  Mann  wählen,  der  wenigstens  histo- 
risch ziemlich  vollständige  Kenntnisse  besässe.  Ausserdem  aber 
müssten  die  andern  Mitglieder  bloss  Aerzte  seyn,  und  der  Director 
der  wissenschaftlichen  Deputation  gehörte  natürlich  zu  ihrer  Zahl. 
Auch  wünschte  ich  eine  gleiche  Zahl  von  Käthen,  weil  in 
diesem  Collegio  schlechterdings  nicht  der  nicht  sachkundige  Chef, 
sondern  nur  Stimmenmehrheit  entscheiden  müsste,  nun  doch  nur 
Eine  Laienstimme  in  die  Entscheidung  einträte,  da  man  bei  un- 
gleicher Zahl  der  Räthe  im  gleichen  Fall  dem  Chef  nothwendig 
zwei  einräumen  muss. 

Der  Chef  der  Abtheilung  mit  4  oder  6  Aerzten,  als  Käthen 
bildete  also  das  Collegium,  das  an  die  Stelle  des  Ober Colle^-ü  medici 
et  sanitatis  träte.  Zu  Bearbeitung  juristischer,  ökonomischer  und 
allgemein  polizeilicher  Gegenstände  würde  dem  Collegium  noch 
ein  Kath  zugeordnet,  der  aber  bloss  ein  votum  consiiltativum 
nicht  decisiuum  hätte. 

Das  Collegium  medico-chirur^icuvi  hörte  gleichfalls  auf  und 
die  wissenschaftliche  Deputation  träte  in  dessen  Stelle.  Diese  hätte 
einen  Arzt  zum  Director  und  lauter  Aerzte  zu  Mitgliedern.  Allein 
Mitdirector  zur  Erhaltung  des  Geschäftsganges  wäre  das  dem 
OberMedicinalKath  zugeordnete  Mitglied;  allein  auch  hier  ohne 
entscheidende  Stimme.  Diese  könnte  sich  hier  nicht  einmal  der 
Chef  der  Abtheilung  anmassen,  ob  es  gleich  von  ihm  abhinge, 
auch  selbst  den  Vorsitz  in  der  Deputation  zu  führen. 

Die  Prüfungen  machen  einen  Theil  der  Geschäfte  der  wissen- 
schaftlichen Deputation  für  das  Medicinalwesen.  Eine  eigne  Com- 
mission  für  dieselben  ist  alsdenn  nicht  mehr  nothwendig;  nur 
werden  sie  zweckmässig  eingerichtet,  wie  sie  bisher,  worin  ich 
mich  abermals  auf  das  allgemeine  Zeugniss  berufen  kann,  nicht 
waren. 

Von  den  medicinischen  Bildungsanstalten,  deren  es  bei  der 
Medicinalbehörde   allerdings  auch  noch   ganz  unabhängig  von  der 


B.    Über  die  Organisation  des  Medizinalwesens.  255 

Section  des  öffentlichen  Unterrichts  geben  kann,  werde  ich  gleich 
jetzt  bei  der  Verbindung  der  Abtheilung  für  das  Medicinalwesen 
und    der  Section  des  öffentlichen  Unterrichts  reden. 


II. 

Diese  beiden  Abtheilungen  hängen  allerdings  sehr  genau  zu- 
sammen, und  genauer,  als  die  letztere  mit  andern  Verwaltungs- 
zweigen, da,  obgleich  keiner  der  Grundlage  einer  guten  wissenschaft- 
lichen Bildung  entbehren  kann,  doch  das  Medicinalwesen  am  meisten 
einer  rein  wissenschaftlichen  bedarf.  Steckt  man  hingegen,  was  sehr 
gut  möglich  ist,  die  Gränzen  genau  ab,  so  lassen  sie  sich  auch  sehr 
füglich  trennen.  Nur  ist  freilich  bei  der  Trennung  bloss  in  dem 
einzigen  Falle  Gewinnst,  wenn  der  Chef  der  MedicinalAbtheilung 
doch  Arzt  ist.  Dies  hielte  ich  allerdings  für  das  Beste,  nur  müsste 
er  dann  auch  Chef  im  vollen  Sinne  des  Worts,  und  ebenso  frei 
in  seiner  Abtheilung  seyn,  und  in  einem  ebenso  liberalen  Verhältniss 
zum  Minister  des  Innern  stehen,  als  dies  die  Verordnung  vom  24. 
November  für  die  Sectionschefs  überhaupt  festsetzt.  Soll  aber  dieser 
Chef  nicht  selbst  Arzt  seyn,  so  ist  es  unstreitig  besser,  die  Medicinal- 
Abtheilung gleichfalls  dem  Chef  der  Section  des  Cultus  und  öffent- 
lichen Unterrichts  zu  geben,  als  einen  Fremden  dazu  zu  nehmen, 
oder  sie  unmittelbar  dem  Minister  zuzuordnen.  Denn  es  werden 
dadurch  viele  Collisionen  vermieden,  und  Fächer,  die  durch  das 
wissenschaftliche  Interesse  nahe  verwandt  sind,  auch  in  der  Geschäfts- 
form verbunden;  auch  kann  man  von  dem  Chef  des  öffentlichen 
Unterrichts  am  meisten  erwarten,  dass  er  ein  CoUegium,  das  aus 
blossen  Aerzten  besteht,  zu  ehren  und  zu  leiten  verstehe,  und 
indem  er  die  nöthige  Ordnung  erhält,  ihm  auch  die  gehörige 
Freiheit  gewähren  wird. 

Sind  beide  Abtheilungen  verbunden,  so  bestimmt  sich  ihr 
gegenseitiger  Einfiuss  von  selbst,  und  ohne  weitere  ausdrückliche 
Festsetzungen,  deren  es  nur,  wenn  sie  getrennt  sind,  bedarf. 

Ueber  diese  nun  ist  es  nothwendig  zu  reden 

1.  im  Allgemeineren 

2.  in  besondrer  Beziehung  auf  die  in  Berlin  jetzt  existirenden 
medicinischen  Unterrichtsanstalten. 


2cß  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   1810. 

I. 

Aus  einem  Briefe  des  Herrn  Geheimen  Rath  Hufeland  ^)  an  mich, 
den  ich  diesem  Schreiben  beilege,  werden  Ew.  p.  ersehen,  dass  die 
Erörterung  der  Frage,  inwiefern  die  Section  des  öffentlichen  Unter- 
richts abhängig,  oder  unabhängig  von  dem  MedicinalRath  seyn  soll, 
keineswegs  überflüssig  ist,  und  ich  fange  daher  mit  dieser  an. 

In  keiner  Stelle  dieser  Verordnung  wird  der  Section  des 
öffentlichen  Unterrichts  zur  Pflicht  gemacht,  die  MedicinalBehörde 
auch  nur  zu  Rathe  zu  ziehen.  Die  Universitäten  werden  ihr  ohne 
Einschränkung  untergeordnet.  Nicht  einmal  der  Name  der  Medi- 
cinalBehörden  kommt  in  dem  ganzen  Abschnitt  vom  Departement 
des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts  vor. 

In  dem  vom  Departement  des  MedicinalWesens  werden  zwar 
unter  den  Stellen,  die  der  OberMedicinalRath  nicht  ohne  höhere 
Anfrage  besetzen  soll, 

„die   ersten  Aerzte   oder  Directoren   grösserer  Medicinalln- 
stitute  in  den  Hauptstädten,  auf  Universitäten," 
und 

„die   medicinischen   Lehrer  bei   den  BildungsAnstalten  für 
das  MedicinalPersonale" 
genannt. 

Allein  die  ersteren  gehören  an  sich  nicht,  oder  nur  wenn  sie 
zugleich  Professoren  sind,  in  dieser  Eigenschaft  zum  Ressort  der 
Section  des  öffentlichen  Unterrichts,  und  bei  den  letzteren  sind, 
so  wie  bei  den  dem  OberMedicinalRath  ganz  untergebenen 

allgemeinen  BildungsAnstalten   für   das  Medicinal  Wesen 
gewiss  nicht  die  medicinischen  Facultaeten  der  Universitäten,  sondern 
die  bloss  medicinischen  Schulen  verstanden,  die  entweder  auf  den 
UniversitätsUnterricht  folgen,  oder  denselben  umgehen. 

Bei  diesen  ist  dagegen  der  OberMedicinalRath  gemeinschaftlich 
mit  dem  Departement  des  öffentlichen  Unterrichts  zu  handeln 
angewiesen,  und  also  mehr  jener  von  diesem,  als  dies  von  jenem 
abhängig  gemacht. 

Und  in  der  That  folgt  dies  auch  aus  richtigen  Grundsätzen» 
Selbst  ein  wissenschaftliches  Institut,  sobald  es  nur  einen  einzelnen 
Zweig  der  Wissenschaft  betrifft,  wird  leicht  einseitig,  und  muss 
daher,   da   es   um  zu   gedeihen   doch   der  allgemeinen   Ansichten 


1)    Über  Christoph   Wilhelm  Hufeland  {ij62—i8^6),   seit  iSoi  Direktor  des 
Collegiummedico-chirurgicum, vgl.  Lenz,  Geschichte  der  Universität  Berlin  1,51- 197. 


B.    Über  die  Organisation  des  Medizinalwesens.  257 

bedarf,  wieder  auf  die  allgemeine  wissenschaftliche  Behörde 
recurriren. 

Es  würde  auch  vergeblich  seyn  zu  sagen,  dass  die  Section  des 
öffentlichen  Unterrichts  kein  competentes  Urtheil  über  zu  berufende 
medicinische  Lehrer,  die  Anordnung  des  medicinischen  Lehrcursus, 
die  Direction  der  klinischen  Lehranstalten  u.  s.  f.  fällen  könne, 
und  dass  man  ihr  deshalb  ein  Mitglied  des  OberMedicinalRaths 
zuordnen  müsse.  Sie  w^rd  schon  dafür  sorgen,  in  ihrer  wissen- 
schaftlichen Deputation  auch  Mediciner  zu  haben,  sie  hat  ausser- 
dem die  medicinischen  Facultäten  ihrer  Universitäten  und  kann, 
wenn  sie  will,  jeden  berühmten  inländischen  und  auswärtigen 
Arzt  um  Rath  fragen.  Es  stehen  ihr  also  Mittel  zu  Gebote,  die 
gewiss  wirksamer  und  besser  sind ,  als  ein  ärztliches  Mitglied. 
Ueberzeugt,  dass  unsre  deutschen  Universitäten,  nur  weil  sie 
freie  Corporationen  waren,  viel  Gutes  wirkten,  wird  sie  auch 
die  medicinischen  Facultaeten  derselben  nicht  selbst  gängeln,  sondern 
sie  sich  selbst,  nur  unter  Aufsicht  überlassen.  Selbst  auf  die  Wahlen 
neuer  Mitglieder  wird  sie  ihnen  immer  sehr  gern  hauptsächlichen 
Einfluss  gestatten.  ♦ 

Dem  OberMedicinalRath  einen  Einfluss  auf  die  Universitäten 
zu  gestatten,  würde  (ausserdem  dass  die  Universitäten  ungern  von 
'2wei  Behörden  abhängen  würden)  für  die  allgemeine  medicinische 
Bildung  im  Ganzen  offenbar  zweckwidrig  seyn,  da  hingegen  freie 
Wirksamkeit  der  Universitäten  und  MedicinalBehörden  zugleich 
erst  zusammen  ein  wohlthätiges  Ganzes  bildet.  Denn  Medicinal 
Behörden  nehmen  fast  unvermeidlich  eine  mehr  praktische,  und 
■den  LocalUmständen  ihrer  Lage  angemessne,  also  einseitige,  und 
nicht  rein  wissenschaftliche  Richtung;  die  FacultaetsGelehrten 
befinden  sich  in  dem  entgegengesetzten  Falle.  Beide  zusammen 
wirken  also  ungemein  heilsam.  Die  Section  des  öffentlichen  Unter- 
richts wird  die  rein  wissenschaftliche  Tendenz,  auch  in  der  Medicin, 
immer  von  selbst  befördern,  bei  dem  Uebergewichte  der  Medicinal 
Behörde  liefe  sie  dagegen  schlechterdings  Gefahr,  unterdrückt  oder 
anderswohin  gerichtet  zu  werden. 

Nicht  einmal  also,  wenn  man  alles  durchaus  neu  organisirte, 
dürfte  die  Section  des  öffentlichen  Unterrichts  von  den  Medicinal 
Behörden  abhängig  gemacht  werden,  jetzt  aber,  da  es  der  Ver- 
ordnung vom  24.  November  entgegenläuft,  und  die  Section  alsdann 
:mcht  einmal  soviel,  als  der  mit  weit  wenigeren  Mitteln  zu  guten 
Wahlen   auch  in   der  Medicin   versehene  Minister  des  geistlichen 

W.  V.  Humboldt,  Werke.     XUI.  ^7 


2rQ  3.    Amtliche  Arbeiten   aus  den  Jahren   1809  und  1810. 

Departements  vermöchte,  würde  sie  durch  eine  solche,  auch  noch 
so  geringe  Abhängigkeit  in  ihren  wesentlichsten  Rechten  ge- 
kränkt. Stünde  die  Section  ihrem  Amte  nicht  recht  vor,  lieferte 
sie  den  Medicinalbehörden  unfähige  angehende  Aerzte,  so  hätte 
diese  dasselbe  Recht  im  Staatsrath  oder  beim  König  darüber  ge- 
rechte Klage  zu  führen,  wie  der  Grosskanzler  über  schlechte 
Juristen,  und  der  Sectionschef  'der  allgemeinen  Gesetzgebung  über 
schlechte  Staatsbeamte  in  anderen  Fächern.  Aber  solange  die 
Section  ihre  Unfähigkeit  nicht  bewiesen  hat,  muss  man  ihr  freie 
Hand  lassen. 

Da  nun  aber  gewisse  Bildungsanstalten  zum  ressort  der 
Medicinalbehörden  gewiesen  werden  sollen,  so  fragt  es  sich  welche  ? 
und  wie  hier  die  Gränzen  zwischen  beiden  Sectionen  zu  be- 
stimmen sind? 

Es  giebt  dreierlei  Arten  medicinischer  Bildungsanstalten: 

1.  Die  Universitäten,  also  theoretisch-wissenschaftlichen  Unter- 
richt in  Verbindung  mit  dem  ganzen  Gebiet  der  Wissenschaft, 
und  mit  soviel  praktischer  Einleitung  als  zum  Uebergange  aus 
der  Theorie  in  die  Praxis  und  zur  Verbindung  beider  nöthig  ist; 

2.  medicinisch-practische  Anstalten,  nach  vollendetem  Univer- 
sitätsUnterricht ; 

3.  medicinische  SpecialSchulen  und  zwar  entweder: 

a.  wissenschaftliche,  wie  es  in  Paris  und  leider  seit  langer 
Zeit  auch  in  Berlin  giebt; 

b.  empirische  für  diejenigen,  die  nicht  studiren  können. 
Die   erstere  Classe   dieser  Specialschulen  ist  verderblich   und 

kann  weder  von  der  Section  des  öffentlichen  Unterrichts,  noch  den 
Medicinalbehörden  in  Schutz  genommen  werden.  Die  letztere  ist, 
da  man  einer  zu  grossen  Menge  von  Aerzten  bedarf  als  dass 
alle  ordentlich  studiren  könnten,  und  bloss  empirische  Bildung 
besser  als  halbstudirte  ist,  unentbehrlich,  muss  aber  erst  geschaffen 
werden,  um  das  Curiren  und  Operiren  der  Bader  auszurotten,  und 
Chirurgie  und  Medicin  zweckmässig  zu  verbinden.  Hierher  gehört 
Reils^)  Vorschlag  über  die  Bildung  der  Routiniers. 

Die  ersten  dieser  drei  Anstalten  gehören   nun   ausschliesslich 
zum  ressort  der  Section  des  öffenthchen  Unterrichts; 


')  Im  Konzept  ist  der  Absatz  und  die  Ziffer  2  vergessen. 
*)   Vgl.  Band  10,  231. 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  a.  2C.Q 

die  zweiten  ausschliesslich  zu  dem  der  Medicinalbehörden; 

bei  den  dritten,  da  der  Unterricht  da  nicht  mehr  rein  medi- 
cinisch  seyn  kann,  concurriren  beide,  allein  die  Section  des  öffent- 
lichen Unterrichts  nur  auf  eine  untergeordnete  Weise. 

So  bestimmen  sich  die  Gränzen  mit  Leichtigkeit  und  Sicherheit, 
wenn  man  nur  von  dem  Grund  ausgeht,  dass  die  Section  des 
öffentlichen  Unterrichts  nicht  auf  einzelne  Fächer  beschränkt 
seyn  (da  sonst  auch  die  Gerichtshöfe  die  juristische  Facultaet, 
die  Bergbauadministration  die  mineralogische  Professur,  die  Re- 
gierungen die  cameralistische  an  sich  reissen  könnten,  und  so 
die  Einzige  und  wissenschaftliche  Universität  von  administrierenden 
und  polizeilichen  Behörden  in  lauter  SpecialSchulen  zerrissen 
würde)  sondern  alle  Fächer  des  Unterrichts,  insofern  er  theoretisch 
und  wissenschaltlich  ist,  umfassen  soll ;  da  hingegen  die  Verwaltungs- 
behörden auch  den  Unterricht  und  die  Bildungsanstalten  da  an 
sich  nehmen,  wo  er  ins  Praktische  und  zur  einzelnen  Anwendung 
übergeht. 

C.    Der    königsberger    und   der   litauische   Schulplan. 

a.   Ueber  die  mit  dem  Koenigsbergischen 
Schulwesen  vorzunehmende  Reformen.^) 

I. 

Wie  vielerlei  Arten  von  Schulen  soll  es  geben? 
wie  viele  von  jeder  Art?  und  welche? 


Man  ist  sowohl  in  dem  Möllerschen,  als  Hoffmannschen  Plane, 
die  beide  viele  zweckmässige  Vorschläge  enthalten,  davon  aus- 
gegangen, dass  es,  ausser  den  Elementar-  und  gelehrten  Schulen, 
noch  Mittelschulen  geben  solle. 

Diese  Frage  ist  daher  zuerst  zu  erörtern. 

Ich  bin  dagegen. 

Mittelschulen  sollen  entweder  den  Uebergang  von  den  Ele 
mentar-  zu  den  gelehrten  Schulen  ausmachen,  so  dass  die  letzteren 
gar  keine  sogenannten  Bürgerklassen  mehr  haben;  oder  als  eine 
eigne  Art  der  Schulen  für  diejenigen  bestimmt  seyn,  welche  auf 
eigentlich  wissenschaftliche  Bildung  und  besonders  auf  Universitäts 

*)  Eigenhändiges  Konzept  Humboldts. 

17* 


2(5o  3-  Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und    iSio. 

Studium   Verzicht    thun,    oder    endlich    beide    Zwecke    zugleich 
erfüllen. 

Die  Trennung  der  Bürgerklassen  von  den  gelehrten  in  zwei 
verschiedenen  Anstalten  stört  oifenbar  die  so  nothwendige  Einheit 
des  Unterrichts,  der  in  der  Wahl  der  Lehrgegenstände,  in  der 
Methode  und  der  Behandlung  der  Schüler  von  dem  Augenblick 
an,  wo  das  Kind  die  ersten  Elemente  gefasst  hat,  bis  zu  der  Zeit 
wo  der  Schulunterricht  aufhört,  in  einem  so  ununterbrochnen 
Zusammenhange  stehen  muss,  dass  Klasse  auf  Klasse  und  halbes 
Jahr  auf  halbes  Jahr  berechnet  sey.  Die  Mittelschulen  bei  dieser 
Anordnung  könnten,  indem  sie  nach  vollendetem  Elementarunter- 
richt anfiengen,  und  bei  dem  Beginnen  des  höheren  gelehrten 
aufhören  sollten,  schlechterdings  nur  ein  Stück  des  Unterrichts, 
und  zwar  ein,  wenigstens  in  Absicht  der  Gränze  nach  oben,  will- 
kührlich  abgeschnittenes  behandeln.  Es  liegt  nun  aber  in  der 
Natur  der  Sache,  dass  eine  Anstalt,  die  ganz  dasselbe  mit  einer 
andern,  dies  aber  nur  bis  zu  einem  gewissen  Punkte  treiben  soll, 
also  so  dass  sie  ihr  Complement  immer  ganz  ausser  sich  sieht, 
auch  innerhalb  des  bestimmten  Punktes  schlecht  werde. 

Es  giebt,  philosophisch  genommen,  nur  drei  Stadien  des 
Unterrichts : 

Elementarunterricht 

Schulunterricht 

Universitätsunterricht. 

Der  Elementarunterricht  soll  bloss  in  Stand  setzen,  Gedanken 
zu  vernehmen,  auszusagen,  zu  fixiren,  fixirt  zu  entziffern,  und 
nur  die  Schwierigkeit  überwinden,  welche  die  Bezeichnung  in 
allen  ihren  Hauptarten  entgegenstellt.  Er  ist  noch  nicht  sowohl 
Unterricht,  als  er  zum  Unterricht  vorbereitet,  und  ihn  erst  mög- 
lich macht.  Er  hat  es  also  eigentlich  nur  mit  Sprach-,  Zahl-  und 
Mass -Verhältnissen  zu  thun,  und  bleibt,  da  ihm  die  Art  des  Be- 
zeichneten gleichgültig  ist,  bei  der  Muttersprache  stehen.  Wenn 
man,  und  mit  Recht,  noch  andern  Unterricht,  geographischen, 
geschichtlichen,  naturhistorischen  hinzufügt,  so  geschieht  es  theils 
um  die  durch  den  Elementarunterricht  entwickelten,  und  zu  ihm 
selbst  nöthigen  Kräfte  durch  mannigfaltigere  Anwendung  mehr  zu 
üben,  theils  weil  man  für  diejenigen,  welche  aus  diesen  Schulen 
unmittelbar  ins  Leben  übergehen,  den  blossen  Elementar-Unter- 
richt  überschreiten  muss. 

Der   Zweck   des  Schulunterrichts   ist  die  Uebung   der  Fähig- 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  a.  20 1 

keiten,  und  die  Erwerbung  der  Kenntnisse,  ohne  welche  wissen- 
schaftliche Einsicht  und  Kunstfertigkeit  unmöglich  ist.  Beide  sollen 
durch  ihn  vorbereitet;  der  junge  Mensch  soll  in  Stand  gesetzt 
werden,  den  Stoft",  an  welchen  sich  alles  eigne  Schaffen  immer 
anschliessen  muss,  theils  schon  jetzt  wirklich  zu  sammeln,  theils 
künftig  nach  Gefallen  sammeln  zu  können,  und  die  intellectuell- 
mechanischen  Kräfte  auszubilden.  Er  ist  also  auf  doppelte  Weise, 
einmal  mit  dem  Lernen  selbst,  dann  mit  dem  Lernen  des  Lernens  ') 
beschäftigt.  Aber  alle  seine  Functionen  sind  nur  relativ,  immer 
einem  Höheren  untergeordnet,  nur  Sammeln,  Vergleichen,  Ordnen, 
Prüfen  u.  s.  f.  Das  Absolute  wird  nur  angeregt,  wo  es,  wie  es 
gar  nicht  fehlen  kann,  selbst  in  einem  Subjecte  zur  Sprache  kommt. 
Der  Schulunterricht  theilt  sich  in  linguistischen,  historischen  und 
mathematischen ;  der  Lehrer  muss  immer  beobachten,  bei  welchem 
von  diesen  dreien  der  Schüler  mit  vorzüglicher  Aufmerksamkeit 
verweilt,  allein  auch  streng  darauf  sehen,  dass  der  Kopf  für  alle 
drei  zugleich  gebildet  werde.  Denn  die  Schule  soll  eng  verbinden, 
damit  die  Universität  zu  besserer  Verfolgung  des  Einzelnen,  ohne 
Schaden  eilen  ^)  könne.  Der  Schüler  ist  reif,  wenn  er  so  viel  bei 
andern  gelernt  hat,  dass  er  nun  für  sich  selbst  zu  lernen  im  Stande 
ist.  Sein  Sprachunterricht  z.  B.  ist  auf  der  Schule  geschlossen, 
wenn  er  dahin  gekommen  ist,  nun  mit  eigner  Anstrengung  und 
mit  dem  Gebrauche  der  vorhandenen  Hülfsmittel  jeden  Schrift- 
steller, insoweit  er  wirklich  verständlich  ist,  mit  Sicherheit  zu 
verstehen,  und  sich  in  jede  gegebene  Sprache,  nach  seiner  allge- 
meinen Kenntniss  vom  Sprachbau  überhaupt,  leicht  und  schnell 
hinein  zu  studiren. 

Wenn  also  der  Elementarunterricht  den  Lehrer  erst  möglich 
macht,  so  wird  er  durch  den  Schulunterricht  entbehrlich.  Darum 
ist  auch  der  Universitätslehrer  nicht  mehr  Lehrer,  der  Studirende 
nicht  mehr  Lernender,  sondern  dieser  forscht  selbst,  und  der  Pro- 
fessor leitet  seine  Forschung  und  unterstützt  ihn  darin.  Denn  der 
Universitätsunterricht  setzt  nun  in  Stand,  die  Einheit  der  Wissen- 
schaft zu  begreifen,  und  hervorzubringen,  und  nimmt  daher  die 
schaffenden  Kräfte  in  Anspruch.  Denn  auch  das  Einsehen  der 
Wissenschaft  als  solcher  ist  ein,  wenn  gleich  untergeordnetes 
Schaffen.     Daher  hat  der  Universitätsunterricht  keine  Gränze  nach 


*)  Schleiermacher,   Gelegentliche  Gedanken   über  Universitäten  S.  Ji4  weist 
das  „Lernen  des  Lernens"  der  Universität  zu. 
*)   Vielleicht  ist  hier  „theilen"  zu  lesen. 


202  3-  Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   18 10. 

seinem  Endpunkt  zu,  und  für  die  Studirenden  ist,  streng  genommen, 
kein  Kennzeichen  der  Reife  zu  bestimmen.  Ob,  wie  lange,  und 
in  welcher  Art  derjenige,  der  einmal  im  Besitze  tüchtiger  Schul 
kenntnisse  ist,  noch  mündlicher  Anleitung  bedarf?  hängt  allein 
vom  Subject  ab.  Das  Collegienhören  selbst  ist  eigentlich  nur  zu- 
fällig; das  wesentlich  Noth wendige  ist,  dass  der  junge  Mann  zwischen 
der  Schule  und  dem  Eintritt  ins  Leben  eine  Anzahl  von  Jahren 
ausschliessend  dem  wissenschaftlichen  Nachdenken  an  einem  Orte 
widme,  der  Viele,  Lehrer  und  Lernende  in  sich  vereinigt. 

So  wie  es  nun  bloss  diese  drei  Stadien  des  Unterrichts  giebt, 
jedes  derselben  aber  unzertrennt  ein  Ganzes  macht,  so  kann  es 
auch  nur  drei  Gattungen  auf  einander  folgender  Anstalten 
geben,  und  ihre  Gränzen  müssen  mit  den  Gränzen  dieser  Stadien 
zusammenfallen,  nicht  dieselben  in  der  Mitte  zerschneiden. 

Auch  ist  die  Idee  zur  Absonderung  wohl  nur  daher  entstanden, 
dass  man  sich  unter  Mittelschulen  eine  eigne  Gattung  von  Schulen, 
die  auf  andre  Kenntnisse,  als  die  gelehrten  Rücksicht  nehmen, 
gedacht  und  nun  besorgt  hat,  die  gelehrten  durch  Verbindung 
beider  zu  verwickelt  zu  machen.  Allein  auch  in  dieser  zweiten 
Absicht,  dass  die  Mittelschulen  für  diejenigen,  die  auf  höheren 
Unterricht  Verzicht  leisten,  bestimmt  seyn  sollen,  bestreite  ich 
dieselben. 

Da,  um  dies  nur  vorläufig  zu  bemerken,  die  Bestimmung 
eines  Kindes  oft  sehr  lange  unentschieden  bleibt,  so  bringen  sie 
den  Nachtheil  hervor,  dass  leicht  Verwechslungen  vorgehen,  der 
künftige  Gelehrte  zu  lange  in  Mittelschulen,  der  künftige  Hand- 
w^erker  zu  lange  in  gelehrten  verweilt,  und  daraus  Verbildungen 
entstehen. 

Aber  ich  läugne  auch  die  Möglichkeit,  ihnen  auf  eine  zweck- 
mässige Weise  eine  wesentlich  verschiedne  Einrichtung  zu  geben, 
und  es  ist  leicht  zu  zeigen,  dass  die  durch  ihren  Mangel  ent- 
stehende Lücke  vollkommen  durch  andre  Einrichtungen  ausgefüllt 
werden  kann. 

Der  Unterschied  zwischen  den  Mittel-  und  gelehrten  Schulen 
soll  entweder  in  der  Wahl  der  Lehrgegenstände,  oder  in  der 
Methode  bestehen.  Man  hat  überdies  in  beider  Hinsicht  bei  ihnen 
eine  doppelte  Classe  von  Menschen  im  Auge,  einmal  die  ärmere, 
die  darum  höherer  Bildung  entsagen  muss,  dann  diejenige,  welche 
sich  nicht  dem  Universitätsstudium  widmet.  Allein  beide  lassen 
sich  nach  gleichen  Grundsätzen  beurtheilen. 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  a.  263 

Bei  der  Wahl  der  Lehrgegenstände  schliesst  man  einige  aus, 
und  dies  Loos  trifft  dann  gewöhnlich  beide  alte  Sprachen,  oder 
eine  derselben,  nimmt  andre  auf,  wie  mehr  neuere  Sprachen, 
Technologie  und  Statistik  u.  s.  f.  und  macht  die  zur  Hauptsache, 
die  man  sich  in  den  gelehrten  Schulen  als  Nebensache  denkt,  wie 
Geographie,  Geschichte,  Physik  u.  s.  f. 

Allein  man  vermischt  auf  diese  Weise  immer  auf  eine  kläg- 
liche Weise  die  vom  Schulunterricht  allemal  zu  fordernde  allge- 
meine Uebung  der  Hauptkräfte  des  Geistes  und  die  Einsammlung 
der  künftig  nothwendigen  Kenntnisse,  welche  zum  wirklichen 
Leben  vorbereitet,  da  es  hingegen  allgemeiner  Grundsatz  seyn 
sollte : 

Die  Uebung  der  Kräfte  auf  jeder  Gattung  von 
Schulen  allemal  vollständig  und  ohne  irgend  einen 
Mangel  vorzunehmen,  alle  Kenntnisse  aber,  die  sie 
überhaupt  wenig  oder  zu  einseitig  befördern,  wie 
nothwendig  sie  auch  seyn  mögen,  vom  Schulunter- 
richt auszuschliessen,  und  dem  Leben  die  speciellen 
Schulen  vorzubehalten.^) 

Auch  würden  diese  Realschulen  (und  je  besser  und  vornehmer 
sie  wären,  je  mehr)  nach  und  nach  alle  Disciplinen  der  gelehrten 
an  sich  reissen ;  viele  Schüler  würden  Lateinisch,  manche  Griechisch 
lernen  wollen,  nur  würde  eigentliche  Gelehrsamkeit  vermieden 
w^erden,  man  würde  Griechisch  und  Lateinisch  wie  Französisch 
und  Englisch  gleichsam  aus  dem  Gebrauch  und  kursorisch  lernen, 
viele  Sprachen  gewissermassen  besitzen,  und  von  keiner  einen 
eigentlichen  Begriff  haben.  Denn  es  ist  sicher  ein  Vorurtheil, 
dass,  wenn  man  (und  kaum  die)  einige  Kleinigkeiten  (wie 
z.  B.  im  Griechischen  die  Accentuation)  abrechnet,  ein  künf- 
tiger Kritiker  im  Anfange  auf  andre  Weise  Griechisch  lernen 
müsse,  als  jeder  andre.  Beide  sollen  mit  Sicherheit  verstehen, 
nicht  rathen;  und  in  der  bestimmten  Sprache  die  Sprache 
überhaupt  anschauen.  Ihre  Wege  gehen  allerdings,  aber  immer 
erst  spät,  aus  einander. 

Ebensowenig  lässt  sich  ein  wesentlicher  Unterschied  in  der 
Methode  denken.  Die  Betrachtung  der  Länge  oder  Kürze  der 
Jahre,   welche   in   der  Mittel-   und   in   der  gelehrten  Schule   dem 


V  Vgl.  zu  diesen  Ausführungen  Band  10,  205- 


26a  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren    1809  und    1810. 

Unterricht  gewidmet  wird,  rechtfertigte  einen  solchen  noch  am 
meisten.  Allein  auch  da  lässt  sich  bei  den  Fundamenten  nichts 
thun;  nicht  abkürzen,  denn  man  bestimmt  ja  in  jeder  Disciplin 
die  Menge  des  aufzunehmenden  Stoffs  im  Verhältniss  zu  der  Kraft,. 
die  er  üben,  und  die  ihn  verarbeiten  soll;  nicht  übereilen,  denn 
die  Entwicklung  erfordert  ihre  natürliche  Weile.  Das  Einzige^ 
was  hier  geschehen  könnte,  wäre  wieder  dem  Leben  vorgreifen; 
man  könnte  nemlich,  was  in  der  gelehrten  Schule  nach  Gründen 
gezeigt  wird ,  in  der  Mittelschule  mechanisch  beibringen ,  z.  B.. 
chemische  Mischungen,  Rechnungsformeln  u.  s.  f.  Allein  dies, 
hiesse  durchaus  die  Gränzen  des  Schulunterrichts  verlassen,  die 
zur  Bildung  bestimmte  Zeit  zur  Abrichtung  misbrauchen  und  die 
Köpfe  verderben.  Alle  den  gelehrten,  als  solchen,  entgegengesetzte 
Mittelschulen  sind  also  im  besten  Sinne  Verbindungen  allgemeiner 
Schulen  mit  speciellen,  woraus,  meiner  Ansicht  nach,  immer  Mis- 
geburten  entstehen. 

Um  dagegen  alle  Nachtheile,  um  derentwillen  man  sie  ein- 
führen will,  zu  vermeiden,  muss  man  nur  überhaupt  und  bei  den 
gelehrten  für  folgende  Dinge  sorgen. 

1.  dass  es  wenigstens  in  jeder  grösseren  Stadt  eine  oder 
einige  so  vorzügliche  Elementarschulen  gebe,  dass  es  für  keinen 
Nachtheil  angesehen  werden  kann,  wenn  auch  viele  Bürger  allein 
sie  und  nie  eine  andere  Schule  besuchen.  Und  wenn  man  be- 
denkt, dass  der  Elementarunterricht,  wie  er  jetzt  hier  genommen 
wird,  alles  in  sich  fasst,  wovon  die  Klarheit  und  Bestimmtheit 
der  Begriffe  abhängt,  worauf,  wie  auf  einem  Fundament,  die 
höchste  Mathematik  ruht,  und  was  die  Einbildungskraft  zu  den 
beiden  Hauptgattungen  der  Kunst,  der  bildenden,  und  musika- 
lischen, anregt,  und  dass  dies  alles  auf  eine  die  Empfindung  stark 
bewegende  Weise  behandelt  wird,  so  dürfte  man  gewiss  in  Ver- 
suchung gerathen,  diese  Erziehung  der  auf  manchen  unsrer  jetzt 
berühmten  Gymnasien  vorzuziehen. 

2.  dass  für  die  Güte  der  unteren,  oder  Bürgerklassen  der  ge- 
lehrten Schulen  ebensosehr,  als  für  die  der  höheren  gesorgt  werde  ; 
man  aber  den  eigentlichen  Elementarunterricht  von  ihnen  ab- 
sondere. Nehmen  sie  diesen  auch  nur  einigermassen  mit  auf,  sa 
werden  die  eigentlichen  Elementarschulen  bald  als  Volksschulen 
im  verächtlichen  Sinne  des  Worts  angesehen,  was  ihrer  Ver- 
besserung   sehr    nachtheilig   ist.     Folgen   diese   gut   organisirtea 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  a.  26tL 

unteren  Classen  auf  gute  Elementarschulen,  so  lässt  sich  für  sehr 
viele  Zwecke  des  Lebens  der  Unterricht  sehr  gut  bei  ihnen  be- 
schliessen. 

3.  dass  die  gelehrten  Schulen  nicht  bloss  lateinische  seyen, 
sondern  der  historische  und  mathematische  Unterricht  gleich  gut 
und  sorgfältig  mit  dem  philologischen  behandelt  werde.  Gegenwärtig, 
wo  es  sehr  oft  hieran  mangelt,  entsteht  der  Nachtheil,  dass  der- 
jenige, welcher  für  Sprachunterricht  weniger  Sinn  hat,  entweder 
die  Schule  zu  früh  verlassen  oder  unnütz  auf  derselben  ver 
weilen  muss. 

4.  dass  der  Sprachunterricht  wirklich  Sprachunterricht  und 
nicht,  wie  jetzt  so  oft,  eine  mit  Alterthums  und  historischen 
Kenntnissen  verbrämte,  und  hauptsächlich  auf  Uebung  gestützte 
Anleitung  zum  Verständniss  der  classischen  Schriftsteller  sey.  Denn 
die  Kenntniss  der  Sprache  ist  immer,  als  den  Kopf  aufhellend,  und 
Gedächtniss  und  Phantasie  übend,  auch  unvollendet  nützlich,  die 
Kenntniss  der  Literatur  hingegen  bedarf,  um  es  zu  werden,  einer 
gewissen  Vollständigkeit,  und  anderer  günstiger  Umstände. 

5.  dass  die  Klassenabtheilung  nicht  durchweg,  sondern  nach 
den  Hauptzweigen  der  Erkenntniss  gehe,  und  die  Lehrer  erlauben 
und  begünstigen,  dass  der  Schüler,  wie  ihn  seine  Individualität 
treibt,  sich  des  einen  hauptsächlich,  des  andern  minder  befleissige, 
wofern  er  nur  keinen  ganz  vernachlässigt.  Eine  Verschiedenheit 
der  intellectuellen  Richtung  auf  Sprachstudium,  Mathematik  und 
Erfahrungskenntnisse  ist  einmal  unläugbar  vorhanden,  und  es  wäre 
ebenso  wunderbar  nur  Eine  begünstigen,  als,  sie  in  verschiedene 
Anstalten  verweisend,  sie  noch  mehr  spalten  zu  wollen.  Bloss  die 
letztere  muss  man  nie  dulden,  ohne  sie  fest  an  eine  der  andern 
zu  knüpfen,  da  sie  sonst  nach  und  nach  auch  die  Möglichkeit 
wahrer  Wissenschaft  in  einem  Kopfe  zerstört. 

6.  dass  es  viele  SpecialSchulen  gebe  und  kein  bedeutendes 
Gewerbe  des  bürgerlichen  Lebens  eine  entbehre.  Was  man  in 
Bürgerschulen  in  Technologie  lehrt,  Hesse  sich  sehr  gut  mit  den 
Kunstschulen,  in  denen  ja  viele  Handwerker  schon  jetzt  unter- 
richtet werden,  verbinden.  Ausserdem  könnten  sie,  wie  in  Berlin 
geschieht,  technische  und  chemische  Vorlesungen  hören,  und  da 
viele  doch  wandern  und  reisen,  so  schadete  es  nichts,  wenn  diese 
nur  an  einigen  Orten  der  Monarchie  zu  finden  wären.  Ackerbau- 
Handels-  Steuermannsschulen  giebt  es  schon  jetzt.  Ebenso  An- 
stalten für  nicht  wissenschaftlich  gebildete  Aerzte  u.  s.  f. 


256  3-  Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   18 10. 

Auf  diese  Weise  sehe  ich  keinen  Mangel,  dem  durch  eine 
Mittelschule  abgeholfen  werden  müsste.  Der  ganz  Arme  schulte 
seine  Kinder  in  die  wohlfeilsten,  oder  unentgeldlichen  Elementar- 
schulen; der  weniger  Arme  in  die  besseren,  oder  wenigstens 
theureren.  Wer  noch  mehr  anwenden  könnte,  besuchte  die  ge- 
lehrten Schulen,  bliebe  bis  zu  den  höheren  Classen,  oder  schiede 
früher  aus,  triebe  mehr  Sprachunterricht  oder  mehr  gemeinhin 
realen  genannten.  Auf  diesen  Schulunterricht  folgten  die  Univer- 
sität, eine  Specialschule  oder  der  Eintritt  in  das  bürgerliche  Leben 
selbst.  Jeder,  auch  der  Aermste,  erhielte  eine  vollständige  Menschen- 
bildung, jeder  überhaupt  eine  vollständige,  nur  da,  wo  sie  noch 
zu  weiterer  Entwicklung  fortschreiten  könnte,  verschieden  be- 
gränzte  Bildung,  jede  intellectuelle  Individualität  fände  ihr  Recht 
und  ihren  Platz,  keiner  brauchte  seine  Bestimmung  früher  als  in 
seiner  allmähgen  Entwicklung  selbst  zu  suchen,  die  meisten  end- 
lich hätten,  auch  indem  sie  die  Schule  verliessen,  noch  einen 
Uebergang  vom  blossen  Unterricht  zu  der  Ausführung  in  den 
SpecialAnstalten. 

Nur  noch  ein  Paar  Winke  jetzt  über  die  Erlernung  der  alten 
Sprachen.  Von  dem  Grundsatz  ausgehend,  einmal  dass  die  Form 
einer  Sprache,  als  Form,  sichtbar  werden  muss,  und  dies  besser 
an  einer  todten,  schon  durch  ihre  Fremdheit  frappirenden,  als 
an  der  lebendigen  Muttersprache  geschieht,  dann  dass  Griechisch 
und  Lateinisch  sich  beide  gegenseitig  unterstützen  müssen,  würde 
ich  festsetzen :  ^) 

dass  alle  Schüler,  ohne  Ausnahme,  beide  in  dej  untersten 
Classe  jede  schlechterdings  lernen  müssten,  es  sey  nun,  dass  sie 
beide  zugleich,  oder  eine,  und  welche?  zuerst  anfiengen,  damit 
keinen,  wenn  er  nachher  Lust  erhält,  die  ersten  Fundamente  auf- 
halten, und  auch  keinen  etwas  ganz  Unbekanntes  zurückstösst, 

dass,  nach  absolvierter  untersten  Classe,  es  zwar  von  jedem 
abhängt,  mit  Zustimmung  seiner  Eltern  oder  Vormünder,  eine 
aufzugeben,  er  aber  die  andere  nothwendig  forttreiben  muss,  auch 
wenn  er  nicht  das  Studium  beider  verbindet,  niemals,  welche  Fort- 
schritte er  auch  mache,  in  Rücksicht  auf  Sprachstudium  eine  Prämie 
oder  Auszeichnung  erhalten  könne. 


')  Vgl.  zu  diesen  Ausführungen  Band  10,  20j;   Wilhelm  und  Karoline  von 
Humboldt  ^,  25g;  Spranger  S.  i6y. 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  a.  207 

In  Absicht  des  Hebräischen  muss  allerdings  mehr  Freiheit 
Statt  finden.  Allein  es  müsste  gleichfalls  sehr  befördert  werden, 
nicht  bloss  der  Theologen  wegen,  sondern  auch,  weil  sein  gram- 
matischer und  lexikalischer  Bau  auf  den  ersten  Anblick  sehr  von 
dem  des  Griechischen  abweicht,  nah  verwandt  ist  mit  dem  Bau 
der  Sprachen  wilder  Völker,  und  daher  den  Begriff  von  der  Sprach- 
form überhaupt  nach  einer  sonst  fast  unbekannt  bleibenden  Seite 
hin  erweitert. 

Nach  dieser  allgemeinen  Erörterung  würde  ich  daher  hier^) 
nur  Elementar-  oder  Bürger-  und  gelehrte  Schulen  bestehen  lassen. 
Da  indess  die  Bürgerschulen  nothwendig  von  sehr  verschiedener 
Güte,  einige  sehr  beschränkt,  andere  sehr  gut  und  vollständig  seyn 
würden,  so  können  diese  letzteren  gewissermassen  für  das  ge- 
halten werden,  was   man   mit   den  Mittelschulen   abgezweckt  hat. 

Die  Zahl  der  gelehrten  Schulen  muss  nun  aber  vermehrt 
w^erden,  weil  sich  alle  Kinder,  welche  über  die  Mittelschule  hinaus- 
gehen, in  ihnen  vereinigen.  Dennoch  halte  ich  drei  für  hinreichend : 

die  Altstädtische, 

das  Collegium  Fridericianum, 

die  reformirte,  und  selbst  ob  ich  hierin  nicht  zu  viel  nehme, 
bleibt  noch  zu  untersuchen  übrig.  Zu  blossen  Bürgerschulen,  mit 
der  Beschränkung,  aber  auch  mit  der  Vollständigkeit,  welche 
Elementarschulen  haben  müssen, 

die  Kneiphöfische, 

die  Löbenichtsche. 

Die  gelehrten  Schulen  Hessen  niemand  zu,  der  nicht  fest  in 
den  Elementarkenntnissen  und  wenigstens  neun  Jahr  alt  wäre. 
Sie  hätten  fünf  Classen,  die  Bürgerschulen  zwei. 

Die  gelehrten  Schulen  hätten  jede  sechs  Lehrer  und  zwei 
Collaboratoren ;  die  Bürgerschulen  jede  einen  Lehrer. 

Der  Unterricht  in  den  Bürgerschulen  umfasste 
Lesen,  Schreiben, 

die  Zahl-  und  Massverhältnisse  Sprechübungen, 

die  nöthigsten  und  ersten  Begriffe  von  der  Beschaffenheit  des 
Menschen  und  des  menschlichen  Geschlechts,  des  Erd- 
bodens, der  Gesellschaft, 

Musik,  Zeichnen, 


^)  In  Königsberg. 


268 


3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   18 10. 


Geographie,  Geschichte,  Naturgeschichte,  insofern  sie  Stoff 
nergeben  können  an  dem  sich  der  Verstand  innerhalb  der  ihm 
hier  angewiesenen  Sphäre  üben  kann. 

Der  Religionsunterricht  ist  minder  Lehren,  als  Anregung  des 
Gefühls. 

Die  beiden  sehr  vollständig  organisirten  Bürgerschulen  führen 
natürlich  diese  Kenntnisse,  vorzüglich  die  Zahl-  und  Massver- 
hältnisse w^eiter  fort,  als  die  andern  Elementarschulen  es  können, 
und  vermehren  dann  auch  in  den  sogenannten  Realkenntnissen 
den  Stoff  nach  Massgabe  der  grösseren  Erweiterung  der  Verstan- 
deskräfte. Bei  ihrer  näheren  Organisation  wäre  vorzüglich  auf 
diejenige  Rücksicht  zu  nehmen,  welche  Zeller  dem  Waisenhause 
geben  wird,  und  zu  bestimmen,  in  welchem  Zweckverhältniss  sie 
mit  dieser  Anstalt  stehen  sollten. 


Welche  Fonds  sind  zur  Erhaltung  dieser  Schulen  nothwen- 
dig?  und  woher  werden  sie  genommen? 

Ich  bin  mit  Herrn  StaatsRath  Hoffmann  der  Meynung,  dass  eine 
Stadt,  wie  Königsberg,  ihre  Lehrer  gut  besolden  muss. 

Ich  schlüge  daher  folgenden  Etat  vor,  nehme  ihn  als  Maximum, 
Herrn  Möllers  Vorschläge,  aber  nach  der  hier  verlangten  Lehrerzahl 
erweitert,  als  Minimum  an. 

I.  für  eine  gelehrte  Schule: 

I .     Rector  maxmium  800  Rth.  minimuni    600  Rth.  Holz  5  AchteL 

*2. — 6.  fünf  Lehrer 3000  Rth 1900  Rth ,_2o 

zu  600  Rth.  nemlich  2 

zu  500  Rth. 
2  zu  400  Rth. 
I  zu  100  Rth. 


Zwei  Collaboratoren 
200  Rth. 


7.8 
zu 

Zu  Schulbedürfnissen 
Fünf  Ciassenstuben  und 
eine  zu  ausserordent- 
lichen Bedürfnissen, 
Theilung  von  Classen 
u.    s.   f. 


400  Rth. 
200  Rth. 


minimtmi  200  Rth. 


Summa    Maximum     4,400  Rth.  Minimum  2,700  Rth.  35  Achtel. 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  a.  200 

II.  für  eine  Bürgerschule: 
i.Der  Kcctor  maxwmm     600 Rth.  7mmvmm ^^oKih.  Holz    5  Achtel 

2.DreiLehrer 1200  Rth . 650  Rth 12 . 

zu  400  Rth.  nemlich 


zu  300  Rth. 
230  Rth. 
100  Rth. 


230  Rth.  und 


Zu  Schulbedürfnissen 1 00  Rth. 

Zwei  Ciassenstuben  und 
eine  zu  ausserordent- 
lichen Bedürfnissen 


Summa :      Maximum     j  900  Rth.  Minimum  1 000  Rth.  Holz  20  Achtel 

Freie  Wohnung   können   alle   Lehrer  haben.     An  den  Magi- 
stratischen Schulen  sind  jetzt  15  Lehrerwohnungen,  und  hiernach 
hätten  diese  Schulen  künftig  nur  14  ordentliche  Lehrer.     Das  Colle- 
gium  Fridericianum  und  die  reformirte  Schule  haben  eigne  Gebäude. 
Auf  diese  Weise  kosteten  die  Hauptschulen  der  Stadt  zusammen 

3  gelehne Maximum  13,200 Rth.  Minimum  8, 100 Rth.  Holz  io5AchteI 
2  Bürgerschulen 3,800  Rth. 2,000  Rth. 40 . 

Summa:  Maximum  17000      Minimum  10,100 Rth.  Holz  145 Achtel 

[und  3000  Rth.  Pensionsfonds,  dazu  ge- 
rechnet nach  dem  höchsten  Anschlag]. 
20,000  Rth.  und  Holz  145  Achtel 

Diese  Einkünfte  würden  beschaft 

durch  die  bisherigen  der  Schulen, 

das  Schulgeld, 

einen  Zuschuss  der  Stadt. 
Von  den  bisherigen  müsste  jedoch  alles  gleich  abgezogen  werden, 
was  irgend  unsicher  ist.     Hierzu  fehlen  mir  die  Localdata. 

Das  Schulgeld  bliebe  zur  Hälfte  den  Lehrern;  zu  Vi  käme 
es  zum  gewöhnlichen  zur  Auszahlung  der  Gehalte  bestimmten; 
je  ^/4  zum  ausserordentlichen  Schulfonds.  Ohne  diese  letzte  An- 
ordnung setzt  man  sich  in  Gefahr,  auch  die  Gehalte  ungewiss 
werden  zu  sehen. 

Jede  Schule  hat  einen  der  Hälfte  ihres  Gehaltsquanti  gleichen 
eisernen  Bestand,  welcher  gesammelt  wird  durch  das  letzte  Vi  des 
Schulgeldes,  und  angegriffen  nur  zu  Gehaltszahlungen.  Er  wird 
im    letzteren   Falle    sogleich    wieder  hergestellt,    und  dies   letzte 


2'TO  3*    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   18 10. 

^4    des  Schulgeldes   wird  bis  dahin  zu   nichts  Andrem  verwandt. 
Nachher  zu  Praemia  und  Schulbedürfnissen. 

Das  Schulgeld  könnte,  meines  Erachtens,  betragen : 

für  die  Bürgerschulen  i  Rth 

für  die    3    untren  Classen    der   gelehrten   i  Rth.  i5gr. 

für  die  2  obren  der  gelehrten 2  Rth. 

Aus  Armuth  der  Schüler  darf  die  Schule  gar  kein  Schulgeld 
verlieren;  sondern  sie  muss  immer  die  Früchte  der  Frequenz, 
die  ihr  Verdienst  ist,  rein  und  ungeschmälert  geniessen.  Den 
nach  Wahrscheinlichkeit  beim  Schulgeld  zu  berechnenden  Ausfall 
schlage  man  zum  Zuschuss  der  Stadt,  da  er  nie  viel  betragen 
kann.  Ueber  den  Anspruch  darauf  verfüge  das  Concilium  der 
Lehrer,  seine  Verfügung  sey  aber  nachher  dem  Ausspruch  der  Armen- 
vorsteher unterworfen.  So  werden  die  Eltern  zu  Aufbringung  des 
Schulgeldes  die  äussersten  Anstrengungen  machen,  und  dazu  muss  man 
sie  bewegen.  Das  Schulgeld  werde  von  keinem  der  Lehrer,  sondern  von 
einer  Rechnungsbehörde  des  Magistrats  eingenommen,  und  wo  nicht 
Erlasse  erlangt  sind,  mit  äusserster  Strenge  beigetrieben. 

Die  beiden  Collaboratoren  und  der  jüngste  ordentliche  Lehrer  bei 
den  gelehrten  Schulen  haben  gar  keinen  Antheil  am  Schulgeld.  Der 
Rector  empfängt  Ve?  jeder  der  andern  4  ältesten  Lehrer  Vi 2  desselben. 

Ebenso  empfängt  der  jüngste  Lehrer  der  Bürgerschulen  nichts 
vom  Schulgeld,  der  Rector  V45  jeder  der  andern  2  ältesten  Lehrer  ^g* 

Da  die  Frequenz  einer  Schule  bei  weitem  mehr  von  der  Be- 
schaffenheit des  Rectors,  als  der  übrigen  Lehrer  abhängt,  so  recht- 
fertigt sich  dadurch  sein  vorzüglicher  Antheil. 

Ueber  die  Baukosten  der  Schulen  und  ihre  Herbeischaffung 
ist  nach  der  Localverfassung  besonders  nachzudenken. 

Der  Zuschuss  der  Stadt  muss  durch  einen  allgemeinen  Bei- 
trag erlangt,  und  daher  an  die  allgemeinste  Bürgerabgabe  geknüpft 
werden.  Er  muss  so  festgesetzt  werden,  dass  gewiss  eher  mehr 
als  weniger  einkommt,  und  es  muss  V3  mehr  als  der  zu  den  jetzt 
verbesserten  Schulen  nöthige  Aufwand  verlangt,  ausgeschrieben 
werden,  um  von  diesem  ^g,  zu  welchem  das  über  den  Anschlag 
herauskommende  hinzugefügt  wird,  die  übrigen  Elementarschulen 
der  Stadt  noch  danach  verbessern  zu  können. 

Wieviel  dieser  Zuschuss  betragen  müsse,  beruht  auf  daä's^  die 
noch  nicht  gehörig  ausgemittelt  sind. 

Zuerst   entsteht  die  Hauptfrage:   soll   die  Stadt   nur  für  ihre 


C.  Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  a.  271 

Jetzigen  drei  Schulen,  oder  auch  für  das  Collegium  Fridericianum 
und  die  reformirte  Schule  sorgen? 

Ich  bin  für  das  letztere.  Jedoch  muss  der  Staat  den  beiden  letz- 
teren Anstalten  lassen,  was  er  ihnen  einmal  verliehen  hat,  oder  noch 
giebt.  Indess  auch  so  vermehrt  sich  der  Zuschuss  der  Stadt  ansehnlich. 

Nur  begreife  ich  nicht,  wie  auf  einem  andern  Wege  das  Collegium 
Fridericianum  und  die  reformirte  Schule  gehoben  werden  können,  und 
da  es  für  Schulen  ein  Maximum  der  Frequenz  giebt,  das  nicht  Über- 
schrittenwerden darf,  so  muss  die  übermässige  der  Altstädischen  Schu- 
le, die  ein  wahres  Uebel  ist,  durch  die  Verbesserung  jener  beiden  An- 
stalten vermindert  werden.  Die  Güte  der  magistratischen  Schulen  steht 
daher  mit  der  der  andern  in  sehr  genauer  Verbindung. 

Ersparungen  am  Lehrergehalt  wären  sehr  schlimm.  Dagegen 
ist  noch  wohl  zu  überlegen,  ob,  wie  ich  angenommen  habe,  die 
Anzahl  der  zu  versorgenden  Schüler  drei  gelehrte  Schulen  noth 
wendig  macht.  Ist  dies  nicht  der  Fall,  so  könnte,  meines  Be- 
dünkens,  das  Fridericianum  aufhören,  die  reformirte  Schule,  die 
schon  jetzt  auch  lutherische  Lehrer  hat,  in  das  Gebäude  desselben 
verlegt,  und  mit  seinen  Einkünften,  im  Gebäude  der  reformirten, 
wozu  sie  mehr  als  hinreichen,  eine  Bürgerschule  errichtet  werden. 
Mit  dem  Fridericianum,  als  einer  ganz  Königlichen  Anstalt,  lässt 
sich  am  leichtesten  schalten,  und  die  Vorurtheile  der  Reformirten 
würden  dadurch,  und  dass  man  dem  reformirten  Prediger  die 
Aufsicht  über  den  Religionsunterricht  Hesse,  geschont.  Alsdann 
sorgte  die  Stadt  nur  für  2  gelehrte  und  2  Bürgerschulen  und 
erhielte  zu  ihren  jetzigen  Fonds  die  der  reformirten  Schule  hinzu. 
Schiene  das  zu  verwickelt,  so  würde  die  reformirte  Schule  zur 
Bürgerschule,  oder,  was  aber  freilich  schlimm  wäre,  bliebe  ganz 
aus  dem  jetzigen  Verbesserungsplan  ausgeschlossen,  und  ihrem 
Schicksal  überlassen. 

Alles  dies  vorausgeschickt,  wären  nunmehr  ^.nfonds  vorhanden  : 

1.  Die  bisherigen  der  3  magistratischen  Schulen 

nach  Herrn  Möller  und  Hoffmann 5652Rth.  17  gr. 

Diese  Angabe  ist  aber  wohl  zu  prüfen.  Herrp. 
Weiss  giebt  nur  4658 Rth.  77g.  'i^'^\^^{.  d^n^ 
scheint  aber  das  Leichengeld  und  andre 
Accidentien  nicht  gerechnet  zu  haben. 

2.  die  des  Collegii  Fridericiani  *) 2120  —    60  — 

*)    nach   dem    Etatsentwurf  Tpro    1809/10    nach    Abzug    von    620    Rth.    66   gr. 
Schulgeld. 


2-72  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

3.  die  der  reformirten  Schule 1409  —     36  — 

4.  ^4  des  Schulgeldes. 

^)  Gegenwärtig  sind  auf  den  hiesigen  6  ge- 
lehrten Schulen,  (die  deutschen  Classen 
des  Collegii  Fridericiani  nicht  mitgerechnet) 
843  Schüler,  von  welchen  83  gar  nicht  und 
72  nicht  voll  bezahlen,  (die  Freischüler  der 
reformirten  Schule  sind  mir  unbekannt  und 
also  nicht  hierunter  begriffen.)  Von  diesen 
Schülern  (wenn  man  die  der  reformirten 
Schule  als  alle  bezahlend  annimmt,  das  un- 
bedeutende Schulgeld  des  Waisenhauses  aber 
gar  nicht  mit  rechnet)  kommt,  nach  der  An- 
gabe im  gegenwärtigen  Augenblick,  jährlich 
die  Summe  von  6622  Rth.  ein.  Bei  der  neuen 
Einrichtung  der  Schule  könnte  man  mehr  be- 
zahlende Schulkinder  rechnen,  da  viele  der- 
selben von  der  Löbenichtschen  und  Kneip- 
höfischen Schule  in  die  gelehrten  Schulen 
übergehen  und  also  in  beiden  successive  be- 
zahlen werden.  Sollte  aber  auch  die  Zahl 
wegen  des  erhöheten  Schulgeldes  abnehmen, 
glaube  ich  doch  mit  Sicherheit  für  die  3  ge- 
lehrten Schulen  wenigstens  600,  für  die  Bürger- 
schulen 300  Schüler  rechnen  zu  können.  Von 
den  850  Schülern  sitzen  ^/g  in  den  3  untern, 
\  in  den  zwei  höhern  Klassen.  Dies  giebt 
von 

300     Schülern     in     der    Bürger- 
schule zu  I  Rth.     3600  Rth. 

400  in  den  untern  Classen  der  ge- 
lehrten zu  1V2  Rth 7200  Rth. 

200     in    den   obern    zu    2  Rth. 

monatlich _    4800  Rth. 

Summa  15600  Rth. 

Wovon  das  Viertel  hier  in  Rechnung  kommt  3900  Rth. 

Summa ^ , 13,082  Rth.    23  gr. 

Mithin  wäre  zu  20  000 Rth.  nur   noch   ein 


^)  Die  Exposition  dieses  Titels  4.  ist  zum  Teil  vo»  Schreiberhand. 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  a.  21% 

Zuschuss  von  7000  Rth.  nöthig.    Schlägt  man 

zu  diesen    7000  Rth. 

noch    Ve    <ics    Schulgeldes    für  Freischüler 

mit 2600  Rth. 

und  für  die   übrigen  Elementarschulen    der 

Stadt 3400  Rth. 


so  beträgt  der  ganze  Zuschuss  13000  Rth. 

Um  aber  recht  hoch  zu  gehen,  wollen  wir  ihn  einmal  auf 
16000  Rth.  setzen,  Angenommen  nun,  dass  Königsberg  auch  nur 
■8000  Familienhäupter  hätte,  die  überhaupt,  ohne  gedrückt  zu 
werden ,  Abgaben  bezahlen  können ,  und  diese  in  drei  Classen 
zwei  zu  3000  und  eine  zu  2000  vertheilt,  würde  die  dürftigste 
Classe,  um  jene  Summe  zusammenzubringen,  nur  6^/3  hiesige 
-Groschen,  die  reichste  aber  i  fl.  monatlich  beitragen  müssen. 

Wäre  aber  auf  diese  Weise  einmal  ein  allgemeiner  Schulfonds 
der  Stadt  vorhanden,  so  würde  er  hernach  auch  durch  Geschenke, 
Vermächtnisse  und  selbst  durch  die  Freigebigkeit  des  Staats  ver- 
mehrt werden. 

Ich  glaube  nicht,  das  Schulgeld  zu  hoch  angenommen  zu 
haben.  W>nn  man  Herrn  StaatsRath  Hoffmanns  und  Herrn  Möllers 
Rechnungen  so  macht,  dass  jeder  Schüler,  wie  ich  annehme,  voll 
bezahlt,   so  schlägt  der  Erstere  das  Schulgeld  an 

1.  für  90  Schüler  der  gelehrten  Schule  auf 

2.  480  der  Mittelschulen 
zusammen  auf 

der  Letztere 

1.  für  120  der  gelehrten  auf 

2.  388  der  Mittelschulen  auf 
zusammen  auf  9084  Rth. 

"Ich  rechne  fast  noch  einmal  so  viel  Schüler,  als  sie.  Allein  wenn 
850  Schüler  in  den  jetzigen  gelehrten  Schulen  sind,  so  rechne  ich 
gewiss  mit  900  für  2  Bürger-  und  3  gelehrte  noch  zu  wenig,  um 
so  mehr  als,  nach  meinem  Plan,  das  Schulgeld  nicht  einmal  so, 
wie  nach  dem  von  Herrn  Möller  erhöht  wird.  Denn  der  ganze 
Unterricht  bis  zur  Universität  würde,  nach  meiner  Annahme,  für 
ein  Kind  nur  circa  6^0  Rth.  kosten,  wenn  der  Vater  es  12  Jahre  die 
Schule  besuchen  liesse,  nämlich  4  die  Bürger-,  5  die  untern  Classen 
und  3  die  obern  der  gelehrten  Schule,  und  wenn  man,  was  schon 
wohl  mehr  ist,  als  gewöhnlich  geschieht,  auf  Schulbedürfnisse, 
^ausser  dem  Schulgeld,   im  ersten  Stadium  ebensoviel,  im  zweiten 

W.  V.  Humboldt,  \Verke.     XIH.  l8 


3240 

II  520 

Rth. 

14760  Rth. 

2880  Rth. 
6204  — 

274.  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jaliren   1809  und  18 10. 

doppelt,  und  im  dritten  dreifach  soviel  jährlich,  als  das  Schulgeld 
ausmacht,  rechnete. 

Auf  die  sogenannten  deutschen  Gassen  des  Collegii  Frideri- 
ciani  habe  ich  gar  keine  Rücksicht  genommen.  Sie  müssten,  als  zu 
dieser  Anstalt  gehörig,  ganz  untergehen  und  eine  eigne  Elementar- 
schule ausmachen,  die  besonders  von  der  Stadt  dotirt  würde ;  oder 
man  Hesse  ihnen  von  den  Einkünften  des  Fridericiani,  was  sie 
jetzt  davon  ziehen,  und  erhöhte  um  so  viel  den  Zuschuss  der 
Stadt  zur  jetzigen  Reform. 

3- 
Nothwendigkeit  eines  allgemeinen  Schulreglements. 
Es  ist  natürlich  hier  nur  von  einem  für  Königsberg,  aber  für 

alle  Schulen  die  Rede. 

Ich  erwähne  nur  einzelne  Punkte,  die  mir  gerade,  als  vorzüglich 
wesentlich,  hier  aufgefallen  sind. 

Alle  sogenannte  Winkelschulen  müssen  aufhören,  keiner  kann 
Schule  halten,  der  nicht  bei  der  geistlichen  und  Schuldeputation 
geprüft  ist,  und  jetzt  gleich  muss  eine  allgemeine  Visitation  vor- 
genommen werden,  um  die  nützlichen  der  bisherigen  Schulen  dieser 
Art  förmlich  zu  genehmigen,  die  andern  zu  unterdrücken.  Das 
PoliceiDirectorium  muss  hernach  angewiesen  werden  zu  wachen, 
dass  nicht  neue  ohne  vorhergängige  Bestätigung  entstehen. 

Die  Besorgniss,  die  ich  äussern  hörte,  dass  diese  Anordnung 
die  öffentlichen  Schulen  mit  Kindern  überfüllen  würde,  ist  unge- 
gründet.    Je  kleiner  die  Zahl  dieser  Privatschulen  wird,  desto  mehr 

Schüler  werden  die  übrigbleibenden  bestätigten  haben. 

Die  gelehrten  Schulen  müssen  niemals  Kinder  annehmen,  als 
beim  Anfange  eines  neuen  Lehrsemesters.  Da  alle  Kinder,  die  sie 
erhalten,  immer  schon  aus  einem  öffentlichen  oder  Privatunter- 
richt zu  ihnen  kommen,  so  schadet  es  nie,  wenn  sie  einige  Monate 
länger  in  demselben  bleiben. 

Die  Bürgerschulen  nehmen  zwar,  um  die  Kinder  nicht  herum- 
laufen zu  lassen,  in  jedem  Monat,  doch  immer  nur  mit  dem  i^, 
auf,  aber  beschäftigen  die  in  der  Mitte  des  halben  Jahres  kommen- 
den Kinder,  die  sonst  nur  stumm  der  untern  Klasse  beiwohnen, 
abgesondert  einige  Stunden  täglich,  was  sehr  füglich  angeht,  weil 
hier  bei  2  Klassen  auf  4  Lehrer  und  auf  eine  Stube  mehr,  ausser 
den  Klassenstuben,  gerechnet  ist. 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  a.  275 

Keine  Schule  dringt  einem  Schüler  mehr  als  36  Schulstunden, 
was  das  Maximum  ist,  und  einem  Lehrer  mehr  als  24  wöchentlich 
auf.  Der  Rector  giebt  nur  12.  Mit  noch  mehr  verringerter 
Stundenzahl  den  gleichen  Zweck  zu  erreichen,  steht  frei,  und  ist, 
wenn  der  Hausfleiss  befördert  wird,  lobenswerth. 

Der  Uebergang  aus  der  Bürgerschule  in  die  gelehrte,  und  in 
beiden  aus  einer  Klasse  in  die  andre,  geschieht  immer  nach  vor- 
gängigem Examen,  aber,  wenn  es  die  Lehrer  wollen,  und  wo  es 
die  Natur  des  Lehrgegenstandes  erlaubt,  auch  mitten  im  halben 
Jahr. 

Bei  der  Aufnahme  in  die  gelehrte  Schule  geschieht  die  Prü- 
fung durch  den  jüngsten  Lehrer  in  Gegenwart  des  Rectors,  und 
bei  getheilter  Meynung  ist  die  zurückweisende  Stimme  die  ent- 
scheidende. 

Die  Versetzung  aus  einer  Classe  in  die  andre  geschieht  nach 
einer  Prüfung  des  dimittirenden,  und  des  aufnehmenden  Lehrers 
in  Gegenwart  des  Rectors,  und  der  Rector  entscheidet,  wenn  beide 
uneins  sind. 

Bei  Entwerfung  des  Lectionsplans  wird  möglichst  genau  be- 
stimmt, was  die  Reife  in  jeder  Classe  für  jede  Disciplin  bezeich- 
nen soll. 

Keine  höhere  Classe  lehrt  je,  sondern  wiederholt  nur,  fragend, 
das  Pensum  der  nächst  vorhergehenden.  Ist  ein  Subject  ihr  nicht 
gewachsen,  so  kann  es,  ungeachtet  des  Receptionsexamens,  jedoch 
nur  nach  nochmaliger  Prüfung,  zu  jeder  Zeit  zurückgewiesen  werden. 

Die  Bürgerschule  entlässt  nie,  als  nach  vorgängiger  Prüfung, 
und,  es  sey  denn  zum  Uebergang  in  eine  andre  Bürgerschule, 
erlangter  Reife,  oder  anerkannter  Unfähigkeit  des  Kindes,  je  weiter 
vorzurücken.  Eltern,  die  ihre  Kinder  früher  wegnehmen  wollen, 
kommen  in  die  Kategorie  derer,  welche  sie  nicht  zur  Schule  schicken. 

Die  gelehrte  Schule  muss  zwar  zu  jeder  Zeit  entlassen;  ohne 
bei  der  geistlichen  und  SchulDeputation  nachzusuchende  Dispen- 
sation rhut  sie  es  aber  nur  am  Ende  eines  Schulsemesters,  und 
nie  anders,  als  nach  vorhergängigem  Examen,  dessen  Zweck  aber 
nur  ist,  dem  jungen  Menschen  eine  Erklärung  mitzugeben,  wie 
viel  oder  wenig  Fortschritte  er  gemacht  hat.  Von  dieser  Erklärung 
bleibt,  von  der  3.  Classe  an,  Abschrift  bei  der  Schule. 

Ein  MaturitaetsZeugniss  zur  Universität  giebt  die  Schule, 
welches  auch  der  Grad  der  Fähigkeiten  und  Kenntnisse  seyn 
möchte,  nie  als  nach  vollendetem  18.  Jahre. 

i8» 


2'y5  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und  1810. 

Das  Schulgeld  wird  zwar  monatlich  bezahlt,  läuft  aber,  bis 
das  Kind  aus  der  Schule  gesetzlich  genommen  werden  kann,  und 
genommen  wird,  ununterbrochen  fort.  Nur  bei  Krankheitsfällen 
wird  es  sistirt;  doch  nur  gegen  ein  Zeugniss  des  Arztes. 

Es  wird  praenumerirt,  und  der  angefangene  Monat  gilt,  auch 
bei  Krankheiten,  für  einen  ganzen. 

b.  Unmassgebliche  Gedanken  über  den  Plan  zur  Ein- 
richtung des  Litthauischen  Stadtschulwesens.  ^) 

Wenn  ich,  mit  Vorbeilassung  alles  Details,  gleich  auf  das 
Wesentliche  des  Plans  gehe,  so  weicht  er  in  den  Hauptgesichts- 
punkten weit  von  den  bisherigen  Grundsätzen  der  Section  ab;  in 
der  Ausführung  nach  der  örtlichen  Lage  würde  diese  Abweichung 
grösstentheils  wieder  verschwinden.  Allein  es  ist  dennoch  ebenso 
nothwendig,  als  mit  denkenden  Männern  erfreulich,  auch  über  die 
Grundsätze  zu  discutiren.  Von  ihnen  hängt  der  Geist  ab,  in  dem 
auch  auf  demselben  Wege  gewirkt  wird,  und  dieser  macht  offen- 
bar durch  seine  innere  Kraft  durchaus  verschieden,  was,  den 
äussren  Einrichtungen  nach.  Eins  und  dasselbe  scheint. 

Die  Abweichung  nun  liegt  in  dem  Begriffe  der  Bürgerschulen, 
welche  in  dem  Plane  als  eine  eigne,  ihrem  Begriff  und  Zweck 
nach  abgegränzte  Gattung  von  Schulen,  und  selbst  wo  sie  das 
nicht  sind,  (für  den  Gelehrten)  als  ein  besonderes  Stadium  des 
Unterrichts  betrachtet  werden. 

Die  durch  die  wirkliche  Ausführung  wieder  herbeigeführte 
Uebereinstimmung  würde  daraus  entstehen,  dass  doch  nur  in  Lyk 
Bürger  und  Gelehrtenschule  getrennt  seyn  sollten,  sonst  aber  nah 
und  enge  verbunden  wären. 

Die  Frage  über  die  Zulässigkeit  abgesonderter  Bürger  oder 
Realschulen  scheint  weitläuftig  und  schwierig  zu  erörtern.  Sie 
hat  zwei  verschiedene  Systeme  hervorgebracht,  wovon  man  das 
realistische  neulich,  in  Baiern,  so  weit  getrieben  hat,  dass  man 
beinahe  RealUniversitäten  aufstellt. 

Alle  Schulen  aber,  deren  sich  nicht  ein  einzelner  Stand,  son- 
dern die  ganze  Nation,  oder  der  Staat  für  diese  annimmt,  müssen 
nur  allgemeine  Menschenbildung  bezwecken.  —  Was  das  Bedürfniss 
des  Lebens  oder  eines  einzelnen  seiner  Gewerbe  erheischt,  muss 
abgesondert,  und  nach  vollendetem  allgemeinen  Unterricht  er- 
worben werden.     Wird   beides  vermischt ,   so   wird   die  Bildung 

*)  Eigenhändiges  Konzept  Humboldts. 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  a.  b.  277 

unrein,   und  man  erhält  weder  vollständige  Menschen,   noch  voll- 
ständige Bürger  einzelner  Klassen. 

Denn  beide  Bildungen  —  die  allgemeine  und  die  specielle  — 
werden  durch  verschiedene  Grundsätze  geleitet.  Durch  die  all- 
gemeine sollen  die  Kräfte,  d.  h.  der  Mensch  selbst  gestärkt,  ge- 
läutert und  geregelt  werden;  durch  die  specielle  soll  er  nur 
Fertigkeiten  zur  Anwendung  erhalten.  Für  jene  ist  also  jede 
Kenntniss,  jede  Fertigkeit,  die  nicht  durch  vollständige  Einsicht  der 
streng  aufgezählten  Gründe,  oder  durch  Erhebung  zu  einer  all- 
gemeingültigen Anschauung  (wie  die  mathematische  und  ästhe- 
tische) die  Denk-  und  Einbildungskraft,  und  durch  beide  das 
Gemüth  erhöht,  todt  und  unfruchtbar.  Für  diese  muss  man  sich 
sehr  oft  auf  in  ihren  Gründen  unverstandene  Resultate  beschränken, 
weil  die  Fertigkeit  da  seyn  muss,  und  Zeit  oder  Talent  zur  Ein- 
sicht fehlt.  So  bei  unwissenschaftlichen  Chirurgen,  vielen  Fabri- 
kanten u.  s.  f.  Ein  Hauptzweck  der  allgemeinen  Bildung  ist,  so  vor- 
zubereiten, dass  nur  für  wenige  Gewerbe  noch  unverstandene,  und 
also  nie  auf  den  Menschen  zurück  wirkende  Fertigkeit  übrigbleibe. 
Die  Organisation  der  Schulen  bekümmert  sich  daher  um  keine 
Kaste,  kein  einzelnes  Gewerbe,  allein  auch  nicht  um  die  gelehrte 
—  ein  Fehler  der  vorigen  Zeit,  wo  dem  Sprachunterricht  der 
übrige  geopfert,  und  auch  dieser  —  mehr  der  Qualität,  als  Quan- 
tität nach  —  zum  äussern  Bedarf  (in  Erlangung  der  Fertigkeit 
des  Exponirens  und  Schreibens)  nicht  zur  wahren  Bildung  (in 
Kenntniss  der  Sprache  und  des  Alterthums)  getrieben  wurde. 

Der  allgemeine  Schulunterricht  geht  auf  den  Menschen  über- 
haupt, und  zwar 

als  g}'mnastischer 
ästhetischer 

didaktischer  und  in  dieser  letzteren  Hinsicht  wieder 
als  mathematischer 

philosophischer,  der  in  dem  Schulunterricht 
nur   durch   die  Form  der  Sprache   rein, 
sonst  immer  historisch-philosophisch  ist, 
und 
historischer^) 
auf  die  Hauptfunktionen  seines  Wesens. 

')  „Historisch"  bedeutet  nach  dem  Sprachgebrauch  der  Leibniz-Wolff sehen 
Philosophie  bekanntlich  das  Tatsächliche  im  Gegensatz  zum  Rationalen,  aus 
ewigen  Wahrheiten  Ableitbaren.  ^^^ 


27^  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   18 10. 

Dieser  gesammte  Unterricht  l^ennt  daher  auch  nur  Ein  und 
dasselbe  Fundament.  Denn  der  gemeinste  Tagelöhner,  und  der 
am  feinsten  Ausgebildete  muss  in  seinem  Gemüth  ursprünglich 
gleich  gestimmt  werden,  wenn  jener  nicht  unter  der  Menschen- 
würde roh,  und  dieser  nicht  unter  der  Menschenkraft  sentimental, 
chimärisch,  und  verschroben  werden  soll. 

Eher  könnte  es  scheinen,  dass  bei  der  allmählig  fortschreiten- 
den Bildung  die  Methode  insofern  verschieden  seyn  müsste,  als 
sich  das  Ziel  derselben  durch  Unterricht  als  weit  oder  nahe  ge- 
steckt voraussehen  lässt.  Allein  auch  hier  scheint  mir  der  Unter- 
schied nicht  bedeutend.  Bleibt  man  fest  dabei  stehen,  Zahl  und 
Beschaffenheit  der  Unterrichtsgegenstände  nach  der  Möglichkeit 
der  allgemeinen  Bildung  des  Gemüths  in  jeder  Epoche  zu  be- 
stimmen, und  jeden  Gegenstand  immer  so  zu  behandeln,  wie  er 
am  meisten  und  besten  auf  das  Gemüth  zurückwirkt,  so  muss 
eine  ziemliche  Gleichheit  herauskommen.  Auch  Griechisch  gelernt 
zu  haben  könnte  auf  diese  Weise  dem  Tischler  ebenso  wenig  un- 
nütz seyn,  als  Tische  zu  machen  dem  Gelehrten.  Indess  lässt  kleine 
Verschiedenheiten  allerdings  die  Wahl  des  Stoffes,  da  jede  Form 
nur  an  einem  Stoffe  geübt  werden  kann,  zu  und  auf  diese  wird 
in  der  Folge  auch  Rücksicht  genommen  werden.  Auch  können 
die  grellen  Contraste  immer  vermieden  werden,  und  es  braucht 
nie  dahin  zu  kommen,  dass  ein  Handwerker  Griechisch,  kaum 
lateinisch  gelernt  habe. 

Die  Gränze  des  Unterrichts,  da  wo  derselbe  nicht  seinen  End- 
punkt, die  Universität,  als  die  Emancipation  vom  eigentlichen 
Lehren  (da  der  UniversitätsLehrer  nur  von  fern  das  eigene  Lernen 
leitet)  erreicht,  kann  nun  durch  nichts  andres  bestimmt  werden, 
als  durch  die  zu  allem  Unterricht  nöthigen  Bedingungen  Kraft 
und  Zeit.  Soweit  der  Schüler  das  eine  hergiebt,  und  zum  andern 
Mittel  hat,  so  weit  kann  der  Lehrer  ihn  führen,  und  soweit  muss 
der  Staat  dafür  sorgen,  dass  er  gebracht  werden  könne. 

Die  Pflicht  der  Schulbehörde  bei  der  Organisation  des  Schul- 
wesens ist  nun,  zu  verhüten,  dass  der  Schüler  einen  Weg  mache 
der  ihm  unnütz  se3^n  würde,  wenn  er  ihn  nun  nicht  auch  noch 
weiter  verfolgte.  Leider  aber  ist  dies  fast  immer  jetzt  bei  unsern 
Schulen  der  Fall,  wenn  einer  in  tcrtia  oder  secimda  stecken  bleibt. 
Es  wird  aber  nie  Statt  haben,  wenn  man  (wie  auf  den  sehr  guten 
Schulen  schon  jetzt  geschieht)  beim  Unterricht  nicht  auf  das 
Bedürfniss  des  Lebens,  sondern  rein  auf  ihn  selbst,  auf  die  Kenntniss, 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  b.  270 

als  Kenntniss,  auf  die  Bildung  des  Gemüths  und  im  Hintergrunde 
auf  die  Wissenschaft  sieht.  Denn  im  Gemüth  und  in  der  Wissen- 
schaft (die  nur  sein  von  allen  Seiten  vollständig  gedachtes  Object 
ist)  steht  jeder  einzelne  Punkt  mit  allen  vorigen  und  künftigen 
in  Contact,  ist  kein  Anfang  und  kein  Ende,  ist  alles  Mittel  und 
Zweck  zugleich,  und  also  jeder  Schritt  weiter  Gewinn,  auch  w^enn 
unmittelbar  dahinter  eherne  Mauern  gezogen  würden. 

Sind  diese  Grundsätze  richtig  und  kommt  man  nun  von  ihnen 
auf  die  verschiedenen  Gattungen  der  Schulen  (Specialschulen  immer 
ganz  abgesondert),  so  ist  wieder  das  erste  und  wichtigste  Princip 
die  Einheit  und  Gontinuität  des  Unterrichts  in  seinen  natür- 
lichen Stadien, 

da  jede  Theilung  der  Anstalt  da,  w'o  der  Unterricht  keine  natür- 
liche Theilung  kennt,  seine  Folge  zerreisst,  \'erschiedenheit  in  der 
Behandlung  und  dem  Geiste  derselben  hervorbringt,  und  selbst 
die  Lehrer,  die  nur  bis  zu  einem  willkührlich  angenommenen 
Punkt  führen  sollen,  ungewiss  und  verwirrt  macht. 

Als  natürliche  Stadien  aber  kann  ich  nur  anerkennen: 
den  Elementarunterricht 
den  Schulunterricht 
den  Universitätsunterricht. 

Der  Elementarunterricht  umfasst  bloss  die  Bezeichnung  der 
Ideen  nach  allen  Arten,  und  ihre  erste  und  ursprüngliche  Classi- 
fication, kann  aber,  ohne  Nachtheil,  in  dem  Stolf  zu  dieser  Form 
in  Natur-  und  Erdkenntniss  mehr  oder  minder  Gegenstände  mit 
aufnehmen.  Er  macht  es  erst  möglich,  eigentlich  Dinge  zu  lernen, 
und  einem  Lehrer  zu  folgen. 

Der  Schulunterricht  führt  den  Schüler  nun  in  Mathematik, 
Sprach-  und  Geschichtskenntniss  bis  zu  dem  Punkte  wo  es  unnütz 
seyn  würde,  ihn  noch  ferner  an  einen  Lehrer  und  eigentlichen 
Unterricht  zu  binden,  er  macht  ihn  nach  und  nach  vom  Lehrer 
frei,   bringt  ihm  aber  alles  bei,   was  ein  Lehrer  beibringen  kann. 

Der  Universität  ist  vorbehalten,  was  nur  der  Mensch  durch 
und  in  sich  selbst  finden  kann,  die  Einsicht  in  die  reine  Wissen- 
schaft. Zu  diesem  SelbstActus  im  eigentlichsten  Verstand  ist 
nothwendig  Freiheit,  und  hülfereich  Einsamkeit,  und  aus  diesen 
beiden  Punkten  fliesst  zugleich  die  ganze  äussere  Organisation 
der  Universitäten.  Das  Kollegienhören  ist  nur  Nebensache,  das 
Wesentliche,  dass  man  in  enger  Gemeinschaft  mit  Gleichgestimmten 
und  Gleichaltrigen,   und  dem  Bewusstseyn,   dass  es    am   gleichen 


23o  3«    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

Ort  eine  Zahl  schon  vollendet  Gebildeter  gebe,  die  sich  nur  der 
Erhöhung  und  Verbreitung  der  Wissenschaft  widmen,  eine  Reihe 
von  Jahren  sich  und  der  Wissenschaft  lebe. 

Uebersieht  man  diese  Laufbahn  von  den  ersten  Elemente» 
bis  zum  Abgang  von  der  Universität,  so  findet  man,  dass,  von 
der  intellectuellen  Seite  betrachtet ,  der  höchste  Grundsatz  ^} 
der  Schulbehörde  (den  man  aber  selten  aussprechen  muss)  der 
ist:  die  tiefste  und  reinste  Ansicht  der  Wissenschaft  an  sich  her- 
vorzubringen, indem  man  die  ganze  Nation  möglichst,  mit  Bei- 
behaltung aller  individuellen  Verschiedenheiten,  auf  den  Weg^ 
bringt,  der,  weiter  verfolgt,  zu  ihr  führt,  und  zu  dem  Punkte^ 
wo  sie  und  ihre  Resultate  nach  Y^i'schiedenheit  der  Talente  und 
Lagen,  verschieden  geahndet,  begriffen,  angeschaut,  und  geübt 
werden  können,  und  also  den  Einzelnen  durch  die  Begeisterung^ 
die  durch  reine  Gesammtstimmung  geweckt  wird,  zu  Hülfe  kommt. 
Nicht  überall  aber  kann  der  eigentliche  Schulunterricht  in 
Einer  Anstalt  vollendet  dargestellt  werden.  Da  indess  diese  Hinder- 
nisse nur  zufällig  sind,  so  ist  auch,  nach  meiner  Einsicht,  jeder 
andere  Unterschied,  ausser  dem  oben  angegebenen,  nur  ein  zu- 
fälliger und  nur  als  solcher  zu  behandeln. 

Hieraus    fliesst    nun    für    die    Schulbehörde    der    praktische- 
Grundsatz : 

an  Orten,  wo  es  gelehrte  Schulen  (d.  h.  solche,  welche 
den  Schulunterricht  bis  zu  seinem  Endpunkte  führen) 
geben  kann,  müssen  keine  abgesonderte  Bürger-  sondern 
nur  Elementarschulen  seyn; 

an  Orten   hingegen,  wo   dies   nicht  möglich  ist,   kann- 
und  muss  es  Bürgerschulen  geben,  welche  indess  dann  nur 
die    unteren    Klassen    der    von    ihnen    abgesonderten    ge- 
lehrten sind. 
Wie   es   aber  Pflicht  jedes   praktischen  Verfahrens  ist,   dafür 
zu  sorgen,   dass   die  Einheit   des   Princips   nicht   die  wohlthätige 
Mannigfaltigkeit   der  Wirklichkeit  verschlinge,   so  können  in  dem 
ersten  Falle  Elementarschulen   eine   solche   Ausdehnung  erhalten,, 
dass  sie  den  Zögling  gewiss  weiter  bringen  als  die  Bürgerschulen 
von    Einer  Klasse  des  Plans.    Nur   müssen   sie   nie    alsdenn   ins 
Gebiet  der  gelehrten  Schulen  mit  Unterricht  im  Lateinischen  ein- 
greifen.   Sonst  zerreissen  sie  die  Einheit  dieses  Unterrichts.    Auch 


*)  Von  fremder  Hand  übergeschrieben  „Ziveck^'. 


C.    Der  königsberger  und  der  litauische  Schulplan.  b.  08 1 

in  Geschichte  müssen  sie  bei  Gränzpunkten  stehen  bleiben.  In 
der  Mathematik  aber  können  nur  in  solchem  Fall  die  Talente 
des  Lehrers  und  Schülers  und  die  Zeit  die  Gränzen  setzen.  Es 
ist  ein  abgesondertes  Fach,  in  dem  der  Begriff  der  Wissenschaft 
leichter  errungen  werden,  und  daher  allgemeiner  gewährt  wer- 
den kann. 

Aus  gleichen  Accommodationsmaximen  muss  im  zweiten  Fall 
die  sogenannte  Bürgerschule  sich  bequemen  in  Mathematik  weiter 
zu  gehen,  als  sonst  die  unteren  Klassen  der  gelehrten  thun  würden, 
auch  mehr  bloss  historische  Kenntnisse  aufzunehmen. 


Trete  ich  nunmehr  dem  vorliegenden  Plane  näher,  so  finde 
ich  vorzüglich  folgende  Hauptwidersprüche  mit  den  hier  ent- 
wickelten Grundsätzen: 

1.  die  aufgestellte  Maxime,  dass  es  nur  zu  dulden  sey, 
Bürger-  und  gelehrte  Schule  in  Einer  Anstalt  zu  verbinden,  an 
sich  aber  das  Gegentheil  wünschenswerth.  Sehr  bedenklich  ist 
schon  in  dieser  Hinsicht  der  Grundsatz,  dass  für  jene  die  Stadt. 
für  diese  die  Provinz  sorgen  soll,  woraus  sogar,  nach  dem  Plan, 
zwiefache  Aufsichtsbehörde  entsteht.  Hierbei  scheint  es  mir  durch- 
aus unmöglich,  eine  gute  gelehrte  Schule  zu  haben.  Denn  wie 
genau  auch  die  geistliche  Deputation  die  Städte  angehen  möge, 
so  kann  sie  doch  für  die  wahre  Güte  der  Bürgerschulen,  und 
vorzüglich  für  ihre  Angemessenheit  zu  Vorbereitungsschulen  zu 
den  gelehrten  nicht  mehr  einstehen.     Mir  schiene  daher  besser 

a.  entweder  die  Königlichen  fonds  zwar  nur  den  Städten,  wo 
gelehrte  Schulen  sind,  zu  geben,  aber  da  mit  den  städtischen  zu- 
sammenzuwerfen und  zu  machen,  was  sich  nun  damit  machen 
lässt;  oder 

b.  die  gelehrten  Schulen  ganz  von  ihrer  untersten  Klasse  an 
auf  Königliche  Kosten  zu  übernehmen,  und  die  Städte,  die  da- 
durch erleichtert  werden,  dagegen  zu  nöthigen,  verhältnissmässig 
gleichviel,  als  andre  Städte  auf  Elementar-  und  Bürgerschulen 
zugleich  wenden,  bloss  für  ihre  Elementarschulen  zu  geben. 
Ungleichheiten  sind  das  Wesen  der  Welt,  und  dass  etwas  besser 
sey,  als  anderes,  ist  leicht  zu  dulden; 

2.  kommt  mir  die  Klasseneintheilung  bei  weitem  zu  dürftig 
vor.  Eine  Bürgerschule  mit  Einer  Klasse  kann  schwerlich  mehr, 
als  jede  Elementarschule  leisten.  Für  eine  Bürgerschule,  die  Vor- 
bereitungsschule  zugleich  seyn  soll,  sind  noch  2  Klassen  zu  wenig. 


2g2  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und    1810. 

Trotz  aller  Anstrengungen  könnten  die  gelehrten  Schulen  nichts 
leisten,  wenn  ihnen  Schüler  aus  fremden  Schulen  von  i,  oder 
2  Klassen  zukämen,  und  sie  selbst  nur  nothdürftig  3  hätten.  Man 
würde  bald  aufs  neue  theilen,  combiniren  u.  s.  f.  müssen. 

Schon  bei  einer  Elementarschule  muss  selbst  Ein  Lehrer, 
wenn  er  ordentlich  unterrichten  will,  wenigstens  manchmal  die 
Stunden  theilen.  Sehr  vollständige  und  gute  Elementarschulen 
müssten  also  2  Klassen  haben,  obgleich  die  Regel  eine  seyn  könnte. 

Sogenannte  Bürgerschulen  (besser  Stadtschulen)  müssen  un- 
nachlasslich  2  Classen,  oder,  wo  möglich,  drei  haben,  und  doch 
sehr  streng  nie  Schüler,  die  im  Elementarunterricht  nicht  ganz 
fest  wären,  aulnehmen.  Sonst  muss  eine  3^^  oder  4te  Classe  hinzu- 
kommen. 

Gelehrte  (besser  hier  Provincialschulen,  die  also  die  Bürger- 
schule des  Plans  mit  sich  vereinigen)  können  sich  mit  5  Classen 
begnügen. 

3.  scheint  noch  im  Plan  eine  gewisse  Tendenz  zu  liegen,  in 
den  Bürgerschulen  sich  selbst  von  der  Möglichkeit  künftiger 
Wissenschaft  zu  entfernen,  und  aufs  naheliegende  Leben  zu  denken. 
Warum  soll  z.  B.  Mathematik  nach  Wirth  und  nicht  nach  Euclides, 
Lorenz  ^)  oder  einem  andern  strengen  Mathematiker  gelehrt  werden  ? 
Mathematischer  Strenge  ist  jeder  an  sich  dazu  geeignete  Kopf,  und 
die  meisten  sind  es,  auch  ohne  vielseitige  Bildung  fähig,  und  will 
man  in  Ermangelung  von  Specialschulen  aus  Noth  mehr  Anwen- 
dungen in  den  allgemeinen  Unterricht  mischen,  so  kann  man  es 
gegen  das  Ende  besonders  thun.  Nur  das  Reine  lasse  man  rein. 
Selbst  bei  den  Zahlverhältnissen  liebe  ich  nicht  zu  häufige  An- 
wendungen auf  Carolinen,  Ducaten  u.  s.  f.  Je  tiefer  der  Mensch, 
der  nicht  höher  gebildet  werden  kann,  leider  ins  Leben  eintauchen 
muss,  desto  sorgfältiger  halte  man  ihn  bei  dem  wenigen  Formellen, 
was  er  rein  zu  fassen  im  Stande  ist.  Gerade  dies  hat  auf  Mora- 
lität  durch  die  Strenge  des  Pflichtbegriff's,  der,  wo  man  gar  keine 
andern  reinen  Begriffe  kennt,  nur  als  Zwang  erscheint,  und 
auf  Religion  durch  das  Abziehen  vom  sinnlichen  Stoff  sehr  wesent- 
lichen Einfluss. 


V  Johann  Friedrich  Lorenz,  Rektor  der  Schule  zu  Burg  bei  Magdeburg, 
Übersetzer  des  Euklid  und  Verfasser  mehrerer  mathematischer  Lehrbücher.  Über 
das  im  Text  gemeinte  Lehrbuch  von  Wirth  hat  sich  nichts  feststellen 
lassen. 


D.    Bericht  an  Altcnstein  über  die  Finanzgrundsätze  der  Sektion.  28^ 

Dies  ist  ungefähr,  was  es  mir  gut  schien,  im  Ganzen  voraus 
zu  erinnern,  da  es  im  Zusammenhang  überlegt  seyn  will  und  sich 
für  eine  Conferenz  mit  der  Deputation  nicht  passt.  Uebrigens, 
diese  bestrittenen  Punkte  abgerechnet,  in  denen  auch  die  Section, 
wenn  ich  auch  vielleicht  nicht  über  ihre  Meynung  hinausginge, 
irren  kann,  ist  ein  tref licher  Geist  in  dem  ganzen  Plan ;  sehr  viel 
Einzelnes  stimmt  ganz  mit  dem  System  der  Section  überein, 
andre  Kleinigkeiten,  wie  dass  die  Lehrer  noch  viel  zu  sehr  mit 
Lectionen  überhäuft  bleiben,  lassen  sich  mündlich  besprechen. 

Gumbinnen,  den  27.  September  1809. 

Humboldt. 


D.    Bericht   an  Altenstein  über  die  Finanzgrundsätze 

der  Sektion.  ^) 

Die  von  Ew.  Excellenz  veranstaltete  Conferenz  über  die  Kir- 
chen und  Schul-Etats  der  verschiedenen  Regierungen  mit  dem 
Herrn  Staats-Rath  Schultz  ^)  veranlasst  mich.  Denselben  folgende 
Gedanken  über  die  ganze  Finanz-Parthie  der  Section  des  Cultus 
und  öffentlichen  Unterrichts  gehorsamst  vorzulegen. 

In  dem  ersten  Augenblick,  wo  ich  die  Leitung  derselben  über- 
nahm, bemühte  ich  mich,  die  Totalität  sowohl  der  vorhandenen 
Schul-Fonds,  als  der  dem  Schulwesen  aus  Königlichen  Gassen 
bisher  zugeflossenen  Zuschüsse  mit  einiger  Genauigkeit  kennen 
zu  lernen.  In  der  Registratur  des  ehemaligen  Geistlichen  Departe- 
ments und  OberSchul-CoUegii  fanden  sich  schlechterdings  nur 
einzelne  und  zerstreute  Data  hierüber.  Ich  wandte  mich  an  die 
vormalige  General-Controlle,  allein  auch  da  würde  der  Total-Betrag 
nur  mit  Mühe  haben  zusammen  gesucht  werden  können,  und  die 
gewiss  nicht  unwichtige  Frage: 

wie  viel  die  Unterhaltung  der  kirchlichen  und  SchulAnstalten 

dem  Lande  überhaupt  gekostet  habe? 
schien  daher  nie  aufgeworfen  worden  zu  seyn. 

^)  Von  Sehr  eiber  hand. 

^)  Christoph  Ludwig  Friedrich  Schultz  {ij8i — i8j4),  durch  seinen  Brief- 
wechsel mit  Goethe  weiter  bekannt  geworden,  seit  1808  Staatsrat  im  Finanz- 
ministerium, seit  1814  im  Ministerium  des  Inneren,  von  dort  i8ij  in  das  neu 
abgezweigte  Ministerium  der  geistlichen  und  Unterrichtsangelegenheiten  über- 
nommen; vgl.  sein  Lebensbild  im  Briefwechsel  zwischen  Goethe  und  Staatsrat 
Schultz  von  Düntzer  [Leipzig  18^3)- 


2g  1  3,    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   18 10. 

Als  ich  nach  Königsberg  kam,  führte  mich  Ew.  Excellenz  bei 
einigen  Gelegenheiten  geäusserte  Bemerkung,  dass  es  weniger  auf 
die  historische  Untersuchung  des  bisherigen  Zustandes,  als  die 
Ausmittelung  des  jetzigen  wahren  Bedüfnisses  ankomme,  um  so 
mehr  von  diesen  Nachforschungen  ab,  als  ich  mit  lebhaftem  Ver- 
gnügen bemerkte,  dass  Ew.  Excellenz  diesen  Grundsatz  sehr  häufig 
zum  Vortheil  der  wissenschaftlichen  Institute  anzuwenden  die  Ge- 
neigtheit hatten. 

Es  wurden  daher  die  alten  Zahlungen  nur  einzeln  wieder  in 
Antrag  gebracht,  grösstentheils  hergestellt,  zum  Theil  aber  auch,, 
wie  die  zu  dem  Joachimsthal  und  der  Monas  pütafis-CdiSse^  noch 
suspendirt  gelassen. 

Da  ich  die  Schonung  fühlte,  deren  die  Staats-Cassen  bedürften^ 
so  zog  ich  es  vor,  Ew.  Excellenz  durch  wiederholte  einzelne  Ge- 
suche lästig  zu  werden,  als  ganze  Etats,  in  denen  einige  Zahlungen 
vielleicht  noch  ruhen  konnten,  auf  einmal  wieder  aufzunehmen, 
und  wandte  mich  daher  nur  da  an  Ew.  Excellenz,  wo  die  Institute 
es  schlechterdings  erforderten,  oder  die  zahlungsberechtigten  Per- 
sonen dringend  wurden. 

Wo  es  möglich  war,  machte  ich  gegen  die  vorigen  Etats  be- 
deutende Ersparungen.  So  bei  der  Academie  der  Künste  und 
Wissenschaften. 

Auf  der  andern  Seite  machte  ich  meine  Anträge,  wo  sich  ein 
kirchliches,  Lehr-  und  wissenschaftliches  Bedürfniss  zeigte,  ein- 
zeln, und  Ew.  Excellenz  genehmigten  die  mehresten  dieser  An- 
träge entweder  geradezu,  oder  unterstützten  dieselben  bei  des 
Königs  Majestät.  Das  Normal-Institut  zu  Königsberg,  das  Colle- 
gium  Fridericianum  ebendaselbst,  die  Universität  Königsberg  und 
die  neue  Lehranstalt  hier  in  Berlin  werden  dauernde  Beweise  der 
Fürsorge  Ew.  Excellenz  für  Erziehung  und  Wissenschaften  bleiben. 

Allein  so  sehr,  und  für  die  von  allen  Seiten  bedrängten  Zeit- 
umstände unglaublich  viel  auch  wirklich  geschehen  ist,  soviel 
bleibt,  wie  ich  Ew.  Excellenz  unumwunden  gestehen  muss,  noch 
zu  thun  übrig. 

Wenn  auch  die  schlechterdings  nothwendige  Verbesserung  der 
Landschulen  grösstentheils  durch  die  Gemeinen  geschehen  könnte  und 
sollte,  so  wird  doch  die  Anlegung  anderer  Normal-Institute,  deren 
Nutzen  jetzt  das  Königsbergsche  bereits  durch  die  Erfahrung  be- 
währt hat,  schlechterdings  nothwendig  seyn,  wenn  die  Verbreitung, 
einer   bessern  Methode  nicht  allzu  langsam  von  Statten  gehen  solL 


D.    Bericht  an  Altenstein  über  die  Finanzgrundsälze  der  Sektion. 


-'"D 


Die  gelehrten  Schulen  in  allen  Provinzen,  fast  ohne  Ausnahme, 
sind  auf  eine  den  Forderungen,  die  man  billigerweise  jetzt  an  sie 
machen  muss,  durchaus  unangemessene  Art  dotirt,  und  die  Ver- 
legenheit in  Absicht  derselben  ist  um  so  grösser,  als  die  Städte, 
in  welchen  sie  sich  befinden,  meistentheils  zu  klein  sind,  als  dass 
ihre  Verbesserung  von  ihnen  gefordert  werden  könnte. 

Die  neue  Lehranstalt  hier  erfordert,  worüber  ich  mich  auf 
ein  am  lo.  Junius  an  des  Herrn  StaatsMinisters  des  Innern  er- 
lassenes Schreiben,  welches  derselbe  Ew.  Excellenz  mittheilen  wird, 
zu  beziehen  die  f^hre  habe,  noch  eine  immer  für  die  Umstände 
nicht  unbedeutende  Summe,  um  aufzuhören  ein  blosses  Project 
zu  seyn. 

Für  kirchliche  ^^erbesserungen  ist  bis  jetzt  noch  fast  nichts 
geschehen.  Da  aber  dies  vorzüglich  daher  rührte,  dass  die  Sec- 
tion  des  Cultus,  in  Ermangelung  ihrer  geistlichen  Mitglieder,  in 
Königsberg  nur  wenig  thätig  seyn  konnte,  so  wird  auch  hiefür 
das  Bedürfniss  bald  fühlbar  w^erden. 

Ganz  besonders  dringend  ist  die  Schulverbesserung  in  West- 
preussen  und  dem  Ermeland.  Schon  vor  dem  Kriege  war  der 
Zustand  des  Schulwesens  dort  wenig  erfreulich.  Allein  der  Krieg 
und  die  Folgen,  welche  derselbe  auf  den,  noch  überdies  vielleicht 
nicht  mit  der  nothwendigen  Sorgfalt  administrirten  Jesuiter-Fonds 
gehabt  hat,  haben  dasselbe  so  zerrüttet,  dass  man  es  ohne  alle 
Uebertreibung  als  gänzlich  zerstört  ansehen  kann.  Es  wird  hier- 
über dem  Herrn  Staats-Rath  Schultz  ein  eigener  detaillirter  Auf- 
satz mitgetheilt  werden.  Die  Hülfe  in  dieser  Provinz  ist  um  so 
nothwendiger,  als  wegen  der  Mischung  deutscher  und  polnischer 
Einwohner  in  derselben  die  National-Bildung  schwieriger  ist,  und 
die  Folgen  des  Mangels  an  derselben  so  leicht  auch  politisch  be- 
denklich werden.  Auf  der  andern  Seite  fehlt  es  aber  auch  nicht 
an  inneren  schon  vorhandenen  Hülfsmitteln,  und  es  ist  nur  zu 
bedauern,  dass  nicht  gegenwärtig  schon  über  dieselben  disponirt 
werden  kann.  In  jedem  Falle  ist  daher  das  Zutreten  der  Staats- 
Cassen  nur  auf  eine  Zeitlang  nothwendig. 

Für  Schlesien  und  namentlich  für  Breslau  würde  schon  be- 
deutend gesorgt  seyn,  wenn,  indem  die  7000  Rth.  von  den  Stiftern 
und  Klöstern  jetzt  auf  den  Kurmärkschen  Regierungs-Etat  über- 
gehen, diese  Summe  nebst  den  3000  Rth.  von  den  Militär-Pensionen 
auf  die  gelehrten  Anstalten  verwendet  würden.  Ueberhaupt  bieten 
für  Schlesien  die  Stifter  und  Klöster   immer  eine  noch  im  hohen 


286  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

Grade  ergiebige  Hülfsquelle  dar,  wenn  nur  der  Gesichtspunkt  im 
Auge  behalten  wird,  dass  im  Fall  sie  einmal  eingezogen  werden 
sollten,  ihre  Einkünfte,  so  weit  es  erforderlich  ist,  zur  Schul- 
verbesserung zu  verwenden  seyn  würden. 

Ich  glaube  also  mit  Recht  voraussetzen  zu  dürfen,  dass 
Ew.  Excellenz,  wenn  Sie  jetzt  die  Feststellung  des  Etats  veranstalten, 
doch  nicht  damit  bloss  die  Berichtigung  der  bisher  bewilligten 
Summen  im  Sinne  haben,  sondern  auch  wirklich  nothwendige  Ver- 
besserungen, die  im  Laufe  des  Etats-Jahres  zu  machen  seyn  werden, 
schon  jetzt  zu  berücksichtigen  gemeynt  sind,  sey  es  nun,  dass  gleich 
jetzt  eine  disponible  Summe  eveiihialüer  bestimmt  werde,  oder 
nur  allgemein  vorbehalten  bliebe^  neue  Anträge  wie  bisher  bei 
Sr.  Majestät  dem  Könige,  auch  im  Laufe  des  Jahres  zu  machen. 

Ew.  Excellenz  sind  gewiss  überzeugt,  dass  ich  lebhaft  fühle, 
welche  Schonung  im  gegenwärtigen  Augenblick  die  erschöpften 
und  noch  auf  so  mannigfaltige  Weise  in  Anspruch  genommenen 
Kräfte  des  Staats  nothwendig  fordern.  Allein  gerade  diese  un- 
vermeidliche Erwägung  führt  mich  auf  die  Idee  der  Ausmittelung 
eines  General-Etats  für  die,  nothwendige  Verbesserungen  mit  in  sich 
begreifenden  Bedürfnisse  der  Section  zurück.  Denn  gewiss  ist  es 
gleich  peinlich,  Seine  Majestät  den  König  mit  Anträgen  zu  be- 
helligen, die  nun  einmal  nicht  für  jetzt  ausgeführt  werden  können, 
und  aus  dieser  Besorgniss  nützliche  Reformen  zu  unterlassen.  Auch 
ist  es  unläugbar,  dass  die  Section,  wenn  sie  die  Summe  kennt, 
auf  welche  sie  sich  über  das  bisherige  Quantum  würde  Rechnung 
machen  können,  besser  im  Stande  ist,  dieselbe  zu  den  einzelnen 
Zwecken  zu  repartiren,  als  wenn  über  die  Prioritaet  dieses  oder 
jenes  Antrags,  wie  jetzt  unvermeidlich  oft  der  Fall  seyn  muss,  der 
Zufall  entscheidet. 

Ein  solcher  Etat  sollte  nun  eigentlich  freilich  von  Seiten  der 
Schulbehörde,  welche  ihr  Bedürfniss  angeben  muss,  vorgelegt 
werden,  und  die  Section  würde  hiezu  sehr  bereitwillig  seyn.  Es 
würde  ihr  hierin  allerdings  die  Neuheit  sowohl  ihrer  eigenen,  als 
der  Organisation  der  Provinzial-Schul-Behörden  entgegen  stehen, 
die  eine  hinlänglich  genaue  Kenntniss  aller  einzelnen  Anstalten 
schon  jetzt  unmöglich  macht.  Allein  auch  ausserdem  würde  ein 
solcher  Etat,  in  seiner  ganzen  Ausdehnung,  jetzt  ohne  reellen 
Nutzen  seyn.  Es  ist  augenscheinlich,  dass  man  jetzt  nur  bei  dem- 
jenigen stehen  bleiben  muss,  was  unter  den  gegebenen  Umständen 
zu   thun   möglich   ist,   und   ein  von   Seiten  der  administrirenden 


D.    Bericht  an  Altenstein  über  die  Finanzgrundsätze  der  Sektion.  287 

Behörde  so  beschränkter  und  doch  allgemeiner  Etat  würde  in  die 
Einrichtung  jeder  Anstalt  schiefe  Gesichtspunkte  bringen.  Von 
dieser  Seite  aus  kann  die  Section  Ew.  Excellenz  nur  eine,  ihren 
Ansichten  nach  gemachte  Auswahl  des  Nothwendigsten  vorlegen 
und  hierauf  hat  dieselbe  die  zur  Conferenz  mit  Herrn  StaatsRath 
Schultz  deputirten  Räthe  instruirt. 

Wenn  man  aber  das  Kirchen-  und  Schulwesen  als  etwas  an- 
siehet,  das  gewissermassen  einer  unbestimmten  Verbesserung  fähig 
ist,  das  in  einem  Staate  von  einigem  Umfange  schon  äusserst  be- 
deutende Mittel  bedarf  um  überall  nur  gut  und  hinlänglich  dotirt 
zu  seyn,  und  für  das,  wenigstens  bis  auf  einen,  auch  vielleicht 
dem  reichsten  Staate  schwer  zu  erreichenden  Punkt,  nie  zuviel 
geschehen  kann;  so  rechnet  man  vielleicht  diesen  Verwaltungszweig 
nicht  unbillig  zu  denjenigen,  für  die  ein  Etat  nicht  nach  dem 
immer  zu  relativen  Bedürfniss,  sondern  nach  den  Kräften,  es  zu 
befriedigen,  und  mithin  nach  der  StaatsEinnahme  gemacht  werden 
müsste,  und  diese  Methode  möchte  wohl  in  einem  Staate,  wie 
der  unsrige,  in  seiner  jetzigen  Lage,  der  nicht  alles  thun  kann, 
was  er  möchte,  wo  man  aber  mit  Wahrheit  von  Sr.  Majestät  dem 
Könige  und  dem  Ministerio  behaupten  kann,  dass  der  bereiteste 
Wille  vorhanden  ist,  das  Mögliche  in  vollem  Maasse  zu  thun,  die 
sicherste  se3'n. 

Wenn  daher  Ew.  Excellenz  vorzögen,  eine  Summe  im  Ganzen 
zu  bestimmen,  bis  auf  welche  Sie  (ohne  Rücksicht  auf  die  einzelnen 
Fälle  des  Bedürfnisses)  den  Anträgen  der  Section  über  die  bisherigen 
Etats  hinaus,  während  des  jetzt  beginnenden  Etats-Jahres,  vom 
blossen  Interesse  des  Finanz-Punktes  aus  nicht  entgegen  seyn 
würden;  so  würde  die  Section  gewiss  das  aufrichtige  Vertrauen 
hegen,  dass  Ew.  Excellenz  hiebei  eben  die  Grundsätze  und  Maximen 
befolgen  würden,  welche  schon  so  oft  den  Lehr-  und  wissen- 
schaftlichen Anstalten  wohlthätig  geworden  sind,  und  sie  selbst 
könnte  ihre  Mittel  besser  übersehen,  und  richtiger  das  Verhältniss 
zwischen  den  möglichen  Verwendungen  treffen. 

Auch  hierüber  sind  die  mit  dem  Herrn  Staats-Rath  Schultz 
zu  conferiren  bestimmten  Räthe  der  Section  gehörig  instruirt,  so 
wie  sie  sich  überhaupt  theils  für  sich  aus  den  Acten,  theils  in 
einer  eigenen  Sections-Conferenz  und  endlich  durch  einen  Vortrag 
in  Pleno  des  Minislerii  des  Innern  auf  die  Verhandlungen  mit 
Ew.  Excellenz  Ministerium  so  vollständig  vorbereitet  haben,  als 
die  Lage  der  Umstände  es  erlaubte.  Indess  konnte  diese  Vorbereitung 


-288  3-  Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

immer  nur  mangelhaft  seyn,  da  die  Zeit,  seitdem  Ew.  Excellenz 
Ihr  Verlangen  zu  diesen  gemeinschaftlichen  Verabredungen  ge- 
ä  ussert  haben,  so  überaus  kurz,  und  der  Weitläuftigkeit  des  Gegen- 
standes nicht  angemessen  ist,  und  bei  der  Section  auch  nur  von 
vier  Regierungen,  nemlich  den  drei  Preussischen  und  der  Bres- 
lauischen, die  Etats  vorhanden  sind. 

Ich  kann  dieses  Schreiben  nicht  schliessen,  ohne  Ew.  Excellenz 
noch  auf  eine  Idee  aufmerksam  zu  machen,  die  ich,  gleich  beim 
Antritt  meines  Amts,  hatte,  die  ich  während  der  Führung  des- 
selben nur  kaum  hier  und  dort  habe  auszuführen  versuchen  können, 
die  ich  aber  noch  jetzt  für  hinlänglich  wichtig  halte  um  wenigstens 
■auf  das  reiflichste  erwogen  zu  werden. 

Es  schiene  mir  nemlich  viel  zweckmässiger,  die  für  das  Kirchen- 
und  Schulwesen  bestimmten  Gelder  unmittelbar  aus  dem  Ver- 
mögen der  Nation  in  eine  abgesonderte  Geistliche  Casse,  von 
welcher  die  schon  vorhandenen  Schul-  und  Kirchen-Fonds  den 
Hauptbestandtheil  ausmachten,  fliessen  zu  lassen  als  sie,  wie  jetzt 
geschieht,  mit  den  übrigen  Staatsausgaben  zu  vermischen. 

Die  Vortheile  einer  solchen  Einrichtung,  die  grössere  Selbst- 
ständigkeit dieser  Casse,  das  höhere  Interesse  der  Nation  an  In- 
stituten, die  nun  sichtlicher  ihr  Werk  wären,  liegen  am  Tage.  Ja, 
es  entstände  vielleicht  dann,  wenn  es  solche,  nicht  mit  den  Re- 
gierungs-Cassen  vermischte,  sondern  von  den  Administratoren  der 
Communen  selbst  verwaltete  Gassen  gäbe,  wieder  der  alte  fromme 
Gemeingeist,  der  sich  in  zu  oft  und  ungerecht  geschwächten  Schen- 
kungen und  Vermächtnissen  thätig  erwiese. 

Die  Art  der  Erhebung  könnte  alsdann  eine  doppelte  seyn. 

Entweder  erhöbe  der  Staat  neben  den  Königlichen  Abgaben 
«inen  für  das  ganze  Land  ungefähr  berechneten  Ueberschuss,  und 
dieser  flösse  unmittelbar  in  die  Casse. 

Oder  jeder  Theil  der  Nation  erhielte  unmittelbar  die  für  ihn 
besonders  bestimmten  Anstalten  und  Personen. 

In  diesem  letztern  Fall  müsste  jedoch  der  Staat,  der  schon 
durch  die  Bildung  seiner  Diener  ein  unmittelbares  und  evidentes 
Interesse  bei  der  Schulreform  hat,  die  Unterhaltung  der  Universi- 
täten ganz,  und  der  gelehrten  Schulen  wenigstens  zu  dem  Theile, 
in  welchem  sie  gelehrte,  nicht  bloss  mit  denselben  verbundene 
Elementar-  und  Bürgerschulen  sind,  tragen. 

In  wie  fern  aber  die  Unterhaltung  der  Land-  und  niedern 
Stadtschulen   durch  Einrichtung  von  Schul-Societäten   im   ganzen 


D.    Bericht  an  Altenstein  über  die  Finanzgnindsätze  der  Sektion.  28q 

Lande,  durch  Zuschüsse  aus  den  Stadt-Cassen  und  durch  Bildung 
von  Provincial-Cassen  zu  bewirken  seyn  möchte,  würde  näher 
^usgemittelt  werden  müssen. 

Wichtige  Hindernisse  hierbei  sind  allerdings  einestheils  die  noch 
mangelnde  Organisation  des  ländlichen  Gemeinwesens  und  der  Kreis- 
tind  Provincial- Verfassung,  anderntheils  der  traurige  Finanzzustand 
sowohl  der  Städte,  als  Provinzen  im  gegenwärtigen  Augenblick. 

Allein  nicht  bloss  das  Kirchen-  und  Schulwesen,  sondern  auch 
andere  Gegenstände,  von  welchen  ich  nur  hier  das  mich  gleich- 
falls unmittelbar  angehende  MedicinalWesen  und  die  Armenpflege 
namhaft  machen  will,  sind  von  der  Art,  dass  dabei  auf  die  Ge- 
meinen wird  gerechnet  werden  müssen,  und  dass  dies  wirklich 
geschieht.  Es  lässt  sich  in  der  That  keine  wahre  und  erschöpfende 
Sorge  für  die  Befriedigung  der  Bedürfnisse  der  Nation  und  des 
Staats  denken,  wenn  nicht 

genau  gesondert  ist,  was  Communal-Last  werden  und 
was  aus  Staats-Mitteln  bestritten  werden  muss, 

den  Gemeinen  in  allen  Stufen  ihres  Umfanges,  in  den 
Dörfern,  Städten,  Kreisen,  und  Provinzen  eine  überein- 
stimmende Verfassung,  in  welcher  die  StädteOrdnung  noch 
immer  isolirt  da  steht,  gegeben  wird,  und  endlich 

das  jetzige  Schuldenwesen  der  Städte  und  Provinzen 
auf  eine  feste  Weise  geregelt  ist. 
Da  nun  die  Xothwendigkeit  dieser  Einrichtungen  allgemein  an- 
erkannt ist,  da  die  verschiedenen  Ministerien  schon  sehr  viel  für 
dieselben  gethan  haben  und  unablässig  an  ihrer  Vollendung 
arbeiten;  so  kann,  dünkt  mich,  hieraus  keine  gegründete  Ein- 
wendung gegen  den  Vorschlag  im  Ganzen  hergenommen  werden. 
Sollte  nun  dieser  Gedanke  nur  im  Allgemeinen  mit  Ew. 
Excellenz  Ansichten  übereinstimmen,  so  bin  ich  sehr  bereit,  einen 
detaillirten  Plan  hierüber  ausarbeiten  zu  lassen  und  zu  gemein- 
schaftlicher Berathung  zu  bringen. 

Berlin,  den  12.  Mai  iSio.  Humboldt. 

An 
des  Königlichen  Wirklichen  Geheimen  Staats-  und  Finanz- 
ministers,   Herrn    Freiherrn    von    Altenstein,    Excellenz.^) 

^)  Präsentiert  ij.  Mai  1810,  von  Altenstein  an  Schult::  zum  Referat  überwiesen. 
Dieser  bemerkt  am  Rande  der  ersten  Seite: 

„Resp.  Man  sey  bereit,  mit  ihm  über  die  Bedürfnisse  des  SchulWesens  in 
^iner  dem  Abschluss  des  GeneralStaatsLastenEtats  vorangehenden  Conferenz  zu 

W.  V.  Humboldt.  Werke.     XUI.  19 


290 


3.    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   1810. 


E.  Verschiedenes. 

a.   Amtsantritt. 

I.  Dohna  an  Humboldt.  ^) 

Mit  sehnsuchtsvoller  Erwartung  und  mit  der  innigsten  Freude 
sehe  ich  dem  Augenblick  entgegen,  in  welchem  Ew.  Hochwohl- 
geboren  den  wichtigen  Posten,  zu  welchem  Dieselben  durch  das 
ausgezeichnete  Vertrauen  des  Königs  Majestät  berufen  worden 
sind,  antreten  und  dadurch  zugleich  dem  Wunsch  des  theuern 
deutschen  Vaterlandes  und  aller  derer,  welche  sich  auch  im  fernen 
Auslande  mit  heiliger  Wärme  und  Gründlichkeit  für  die  höhere 
Bildung  der  Menschheit,  für  Wissenschaft  und  Kunst  interessiren, 
erfüllen  werden. 

Bis  zu  diesem  ersehnten  Augenblick,  in  welchem  Ew.  Hoch- 
wohlgeboren  die  specielle  Leitung  der  Geschäfte  der  Ihnen  an- 
vertraueten  Section  übernehmen,  dürften  Dieselben  wahrscheinlich 
geneigt  seyn.  Sich  von  dem  Zustande  der  Geistlichen  und  Schul- 
Angelegenheiten,  den  darüber  obwaltenden  Bedürfnissen  und  vor- 
handenen Hülfsmitteln,  gehörig  zu  unterrichten. 

In  der  abschriftlichen  Anlage  beehre  ich  mich,  Ew.  Hoch- 
wohlgeboren  dasjenige  mitzutheilen ,  was  in  dieser  Hinsicht  an 
sämmtliche  Consistoria  und  an  die  vorzüglichsten  wissenschaftlichen 
Behörden  in  Preussen,  Pommern,  den  Marken  und  Schlesien, 
auch  gleichlautend  an  das  evangelisch  Lutherische,  imgleichen  an 
das  französische  OberConsistorium  zu  Berlin  heute  erlassen  worden 
ist,  und  bemerke  dabei,  dass  bis  jetzt  die  Consistoria  (mit  Aus- 
nahme des  Kurmärkischen,  welches  für  sich  bestehet,  und  des 
Ostpreussischen  und  Litthauischen,   die  schon  mit  den  Kammern 

rathschlagen,  77iüsse  jedoch  bevorworten,  wenn  er  wünsche,  vorerst  festgestellt  zu 
sehen,  was  der  Staat  zu  diesem  Behuf  aus  seinen  Fonds  leisten  könne,  solches 
das  Resultat  ergäbe,  dass  garnichts  dazu  übrig  sey ,  indem,  wie  ihm  bekannt 
seyn  würde,  die  gefahrvolle  politische  Lage  des  Staats  es  zur  dringendsten  aller 
Verpflichtungen  mache,  die  Staatsfonds  zu  Abtragung  der  grossen  Schuld  an 
Franckreich  zu  verwenden,  insofern  solche  nicht  zur  Erhaltung  des  Innern  noth- 
wendig  absorbirt  werden.  Es  komme  also  in  Absicht  des  Schulwesens  immer 
wiederum  auf  die  Nothwendigkeit  einer  überzeugenden  Darstellung  von  den 
wahren  und  unumgänglichen  Bedürfnissen  dieses  Zweigs  an,  und  nach 
dieser  würden  sich  die  Leistungen  abmessen  lassen,  welche  der  Staat  dafür  auf 
seine  Fonds  übernehmen  könne. 

B.  jj.jö.  w,    Seh.'' 
')  Von  Schreiberhand. 


E.    Verschiedenes,  a. 


291 


hieselbst  und  in  Gumbinnen  vereinigt  worden)  noch  mit  den 
Provincial-Justiz-Collegien  vereinigt  sind. 

Die  Verbindung  des  Westpreussischen  Consistorii  mit  der 
p.  Kammer  zu  Marienwerder  soll  jedoch  in  kurzem  geschehen 
und  in  den  übrigen  Provinzen  wird  solche  gleichfalls  eintreten, 
sobald  die  von  des  Königs  Majestät  bereits  vollzogene  und  im 
Druck  befindliche  Verordnung  wegen  verbesserter  Einrichtung  der 
ProvinzialPolizei  und  FinanzBehörden  ^)  zur  Ausführung  kommt. 

Dem  Vernehmen  nach,  soll  der  ehemalige  Chef  des  Geist- 
lichen Departements,  Herr  StaatsMinister  von  Massow  Excellenz, 
bereits  eine  sehr  ausgebreitete  Sammlung  von  gar  mannigfaltigen 
Materialien  zur  Reform  und  Verbesserung  der  Geistlichen  und 
SchulAngelegenheiten  veranstaltet  haben,  welche  Ew.  Hochwohl- 
geboren  auf  Dero  Aufforderung  durch  das  OberSchulCollegium 
oder  durch  den  Herrn  Präsidenten  von  Scheve  werden  vorgelegt 
werden  können.  ^) 

Auch  sind  während  der  interimistischen  Verwaltung  der  Geist- 
lichen und  Schul-Sachen  von  Ost-  und  VVestpreussen  im  vormaligen 
Preussischen  Provincial-Depanement,  mehrere  Nachrichten  über 
das  Schulwesen  nach  der  abschriftlichen  Anlage  erfordert,  jedoch 
noch  nicht  eingekommen.  ^)  Sobald  dieses  geschiehet,  werde  ich 
nicht  ermangeln,  Ew.  Hochwohlgeboren  davon  Mittheilung  zu 
machen.  Es  ist  jetzt  die  Absicht,  ähnliche  Nachrichten  aus  den 
übrigen  Provinzen  zu  erfordern. 

Ich  werde,  wie  es  sich  ganz  von  selbst  versteht,  bis  zu  dem 
Augeijblicke,  in  welchem  Ew.  Hochwohlgeboren  ganz  die  Ge- 
schäfte übernehmen.  Denselben  von  den  vorkommenden  erheb- 
lichen Gegenständen  Kenntniss  geben,  vorzüglich  keine  irgend 
wichtige  Stelle  ohne  Ihre  Zuziehung  besetzen  und  überhaupt  alles 
beizutragen  mich  beeifern,  um  Ihr  künftiges  Verhältniss  zu  Ihrer 
Zufriedenheit  einzurichten. 


*)  Vom  26.  Dezember  1808;  vgl.  Preussische  Gesetzsammlung  1806— 1810 
S.  404- 

^)  Vgl.  Heilbaum,  Die  Geschichte  des  ersten  preussischen  Schulgesetzentwurfs 
(i'jgS — 180-])  in  der  Monatsschrift  für  höhere  Schulen  i.  Humboldt  hat  das  Ma- 
terial tatsächlich  erhalten.  Von  Scheve  war  Präsident  im  Oberschulkollegium,  im 
Lutherischen  Oberkonsistorium  und  Mitglied  zahlreicher  andrer  Kollegien;  vgl. 
oben  S.  255  und  Spranger  S.  j4. 

')  Gemeint  ist  eine  Verfügung  von  Schroetters  vom  27.  September  1808,  der 
4  Umfrageformulare  beiliegen  mit  Bezug  auf  i)  Landschulen,  2)  Stadtschulen, 
j^)  Erziehungsanstalten.  4)  Lehrer seminarien. 

19* 


oQo  3.    Amtliche   Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und  1810. 

Da  Ihnen  auch  ein  Expedient  und  Kanzelist  bei  Ihren  vor- 
läufigen Arbeiten  nöthig  seyn  wird;  so  überlasse  ich  Ew.  Hoch- 
wohlgeboren,  Sich  dieserhalb  an  den  Herrn  Geheimen  StaatsRath 
und  OberPräsidenten  Sack  beliebigst  zu  wenden,  welcher  beauf- 
tragt ist,  Ihnen  hiezu  zwei  brauchbare  Subjecte  anzuweisen,  oder 
für  deren  Remuneration  zu  sorgen,  im  Fall  Ew.  Hoch  wohlgeboren 
vorziehen  sollten,  selbige  unter  den  dortigen  Officianten  des  vor- 
maligen General-Directorii  Selbst  zu  wählen. 

Königsberg,  den  24ten  Januar  1809. 

Dohna. 

2.   Humboldt  an  Dohna. ^) 

Berlin,  den  4.  Februar,  1809. 

Ew.  Excellenz  zwei  geehrteste  Schreiben  vom  24.  und  27.  pr. 
sind  richtig  vor  einigen  Tagen  bei  mir  eingegangen,  und  je  auf- 
richtiger ich  Denselben  für  die  mir  geäusserten  schmeichelhaften 
Gesinnungen  verbunden  bin,  desto  lebhafter  ist  mein  Wunsch, 
wenigstens  einigermassen  den  Erwartungen  zu  entsprechen,  welche 
Sie  darauf  zu  gründen  die  Güte  haben.  Mein  neuliches  Schreiben  an 
des  Herrn  Staats  und  CabinetsMinisters  Grafen  von  Goltz  Excellenz^) 
wird  Ew.  Excellenz  ein  überzeugender  Beweis  gewesen  seyn,  welchen 
Begriff  ich  von  der  Wichtigkeit  des  mir  von  des  Königs  Majestät 
allergnädigst  angetragenen  neuen  Berufs  hege,  und  wie  unange- 
messen ich  meine  Kräfte  dem  Umfange  und  den  Schwierigkeiten 
desselben  finde.  Indem  ich  mich  nun  hierin,  so  wie  in  Absicht 
meines  ganzen  künftigen  Schicksals,  allein  der  Entscheidung 
Sr.  Königlichen  Majestät  unterwerfe,  werde  ich  mit  ausnehmendem 
Vergnügen  die  Gelegenheit,  schon  in  der  Zwischenzeit  und  wie 
auch  jene  Angelegenheit  entschieden  werden  möge,  thätig  zu  seyn, 
ergreifen,  welche  Ew.  Excellenz  mir  darzubieten  die  Gewogenheit 
haben,  und  die  ich  mit  herzlichem  Danke  für  einen  neuen  Beweis 
Ihres  gütigen  Vertrauens  erkenne. 

Ich  werde  nemlich  sogleich,  von  Anfang  der  künftigen  Woche 
an,  mich  bemühen,  die  zu  den  bei  der  Section  des  Cultus  und 
öffentlichen  Unterrichts  vorzunehmenden  Einrichtungen  nöthi- 
gen  Materialien  über  den  Zustand  der  Geistlichen  und  Schul- 
Angelegenheiten,   die   Bedürfnisse   derselben,   und   die   dabei  vor- 

')  Eigenhändiges  Konzept. 

'^)  Dieses  Schreiben  an  den  Minister  der  auswärtigen  Angelegenheiten,  Grafen 
von  Goltz,  Humboldts  bisherigen  Chef,  wird  in  der  Briefabteilung  abgedruckt  werden. 


E.    Verschiedenes,  a.  OQ*? 

handenen  Hülfsmittel  einzusammeln.  Ich  werde  dabei  die  Befehle 
benutzen,  welche  Ew.  Excellenz  an  die  Consistoria  und  Universi- 
täten des  Landes  haben  ergehen  lassen,  und  nehme  mir  nur  die 
Freiheit,  Denselben  gehorsamst  anheimzustellen, 

ob  nicht   ähnliche   auch   an    die  Akademieen    der  Wissen- 
schaften und  Künste  allhier  zu  erlassen  seyn  dürften? 

Meine  erste  Sorge  wird  natürlich  die  seyn,  mich  hier  durch  die  Ver- 
mittlung des  Herrn  Praesidenten  von  Scheve  aus  den  Registraturen 
des  geistlichen  Departements,  des  OberConsistorii  und  des  Ober- 
Schul-Collegii  zu  unterrichten,  um  unnütze  Anfragen  zu  vermeiden, 
und  ich  werde  dort  unstreitig  das  schon  von  dem  Herrn  Staats 
Minister  von  Masso  w  Excellenz  zweckmässig  Vorgearbeitete  antreffen. 

Ueberaus  wichtig  und  schätzbar  werden  gleichfalls  diejenigen 
Nachrichten  über  das  Schulwesen  in  Ost-  und  Westpreussen  seyn, 
für  deren  Einziehung  man  bereits  Sorge  getragen  hat,  da  schon 
die  mir  von  Ew.  Excellenz  gewogenst  mitgetheilten  Fragen  den 
Umfang  und  die  wohl  überlegte  Anordnung  der  beabsichteten 
Erkundigungen  beweisen. 

Indess  ist  in  dieser  Rücksicht,  meines  Erachtens,  im  jetzigen 
Augenblick  ein  doppeltes  Geschäft  zu  unterscheiden. 

Es  giebt  bei  der  jetzt  vorzunehmenden  Organisation  des 
Schulwesens  einige  Punkte,  welche  die  Wiederherstellung  in  Ver- 
fall gerathener,  oder  die  Errichtung  neuer  Institute  an  der  Stelle 
verloren  gegangener  betreifen,  und  da  eine  zu  lang  fortgesetzte 
Ungewissheit  über  dieselben  von  nachtheiligen  Folgen  seyn  könnte, 
sobald  als  möglich  entschieden  werden  müssen.  Diejenigen  Data 
zu  sammeln,  welche  zur  vollständigen  Uebersicht  und  sicheren 
Entscheidung  dieser  Punkte  dienen  können,  wird  daher  mein 
erstes  und  angelegentlichstes  Geschäft  seyn. 

Etwas  Andres  ist  es  nachher  zur  Uebung  der  erforderlichen 
Aufsicht  und  Beurtheilung  der  nöthigen  Verbesserungen  Nach- 
richten über  die  Beschaffenheit  aller  Schulanstalten  überhaupt  ein- 
zuziehen. Dies  Geschäft,  das  einer  vollständigen  Prüfung  und 
Revision  dieser  Anstalten  gleichkommt,  erfordert  nicht  nur  in 
der  Ausführung  nothwendig  Zeit,  sondern  auch  in  der  Anordnung 
selbst,  ausser  der  Bestimmung  der  Fragen,  oder  der  Angabe  der 
Methode  der  zu  erstattenden  Berichte,  wenn  sich  vielleicht  nicht 
alles  bequem  unter  Fragen  fassen  Hesse,  noch  eine  vorzügliche 
Sorgfalt  in  der  Auswahl  solcher  Personen,  welche  diese  Prüfung 
vorzunehmen  im  Stande  sind. 


204.  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und  1810. 

Da  dies  nun  in  Ost-  und  Westpreussen  bereits  zweckmässig 
eingeleitet  ist,  so  werde  ich  mir  angelegen  seyn  lassen,  dasselbe 
auch  in  den  übrigen  Provinzen  vorzubereiten,  indess  nicht  ver- 
fehlen, meine  Gedanken  darüber  erst  Ew.  Excellenz  zur  gefälligen 
Beurtheilung  und  Entscheidung  vorzulegen. 

Was  Ew.  Excellenz  übrigens  die  Gewogenheit  haben,  mir 
von  dem  Antheil  zu  sagen,  welchen  Sie  mir  schon  jetzt  an  den 
Geschäften  der  Section  des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts 
gütigst  erlauben  wollen,  ist  mir  ein  neuer  Beweis  Ihrer  gütigen 
Gesinnungen  gegen  mich  und  des  Vertrauens  gewesen,  welchem 
zu  entsprechen   ich   ununterbrochen   eifrigst  bemüht  seyn  werde. 

Berlin,  den  4.  Februar,  1809. 

H. 
3.   Humboldt  an  Dohna.  ^) 

Berlin,  den  28.  Februar,  1809. 

Da  Se.  Majestät  der  König  allergnädigst  geruhet  haben,  mich 
durch  die  von  Allerhöchstdemselben  empfangene  CabinetsOrdre 
vom  20.  huj.  in  Stand  zu  setzen,  den  mir  mit  so  vieler  Huld  an- 
vertrauten Posten  wirklich  anzutreten,  und  auch  Ew.  Excellenz 
in  dem  mir  mitgetheilten  Schreiben  an  den  Herrn  Geheimen 
StaatsRath  und  OberPraesidenten  Sack  bereits,  dass  dies  geschehen 
ist,  voraussetzen,  so  eile  ich  Ew.  Excellenz  die  Versicherung 
der  Verehrung  und  der  Ergebenheit  zu  wiederholen,  welche  mich 
immer  für  Sie  beseelt  haben.  Ich  bitte  Ew.  Excellenz,  überzeugt 
zu  seyn,  dass  ich  mir  aus  innigem  Herzen  Glück  wünsche,  der 
Section  des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts  in  dem  Ministerium 
eines  Mannes  vorzustehen,  welchen  der  wärmste  und  lebendigste 
Eifer  für  alles  Grosse,  Gute  und  Schöne  belebt,  und  bei  dem 
jedes  auf  Gründung  und  Befestigung  aufgeklärter  und  edler  Grund- 
sätze ^)  gerichtete  Unternehmen  der  günstigsten  Aufnahme  und 
der  thätigsten  Mitwirkung  gewiss  ist.  Mein  eignes  Bestreben, 
Ew.  Excellenz  gütigen  Erwartungen  in  meinem  Fache,  nach  allen 
meinen  Kräften,  zu  entsprechen,  wird  Ihnen,  wie  ich  mir  zu 
schmeicheln  wage,  ein  überzeugender  Beweis  der  Wahrheit  und 
Aufrichtigkeit  dieser  Gesinnungen  seyn. 

Um  sogleich  die  volle  Wirksamkeit  meines  neuen  Postens 
anzufangen ,  habe  ich  den  beiden  hiesigen  Akademien  und  dem 
Herrn  Praesidenten  von  Scheve  und  durch  ihn  den  unter  seinem 


^)  Eigenhändiges  Konzept. 

'•')  „Grundsätze"  verbessert  aus  „Gesinnungen". 


E.    Verschiedenes,  a.  b. 


295 


Vorsitz  arbeitenden  Käthen  angezeigt,  dass  ich  jetzt  in  die  Thätig- 
keit  meines  Amtes  eingetreten  sey,  und  ich  werde  nicht  ver- 
säumen, soviel  es  schon  jetzt  möglich  seyn  wird,  alles  dasjenige 
wahrzunehmen,  was  zu  meinem  Geschäftskreis  gehört.  Nur  muss 
ich  Ew.  Excellenz  gehorsamst  bitten,  mir  gütigst  zu  erlauben,  da 
ich  mich  hier  noch  bis  jetzt  ganz  allein  befinde,  mich  öfter  um 
Zustimmung  und  Befehl  an  Ew.  Excellenz  zu  wenden,  als  ich 
sonst  bei  den  wichtigern  und  ausgebreiteten  Geschäften  Ihres 
Ministeriums  zu  thun  wagen  würde. 

Im  gegenwärtigen  Augenblick  bleibt  mir  weiter  nichts  übrig, 
als  mich  Ew.  Excellenz  nachsichtsvollem  Wohlwollen  und  der 
Fortdauer  der  Gesinnungen  zu  empfehlen,  die  in  jeder  Rücksicht 
einen  so  grossen  und  unschätzbaren  Werth  für  mich  haben. 

Berlin,  den  28.  Februar,  1809. 

Humboldt. 

b.    Humboldt  an  Nicolovius   über  die  geistlichen  und 
Schuldeputationen.  ^) 

Berlin,  den  4ten  März  1809. 

Extract. 

Der  Herr  StaatsMinister  Graf  von  Dohna  Excellenz  hat  mir 
unterm  18.  praet.  Abschriften  einiger  Verfügungen  zugesendet, 
welche  die  Zuziehung  würdiger  Geistlichen  zur  MitDirection  der 
zw.  bildenden  Geistlichen  und  SchulDeputationen  betreffen. 

Nichts  könnte  mehr  mit  meinen  Gesinnungen  und  innersten 
Ueberzeugungen  übereinstimmen,  als  die  Absicht,  welche  durch 
diese  Anordnungen  erreicht  werden  soll,  und  der  ganze  Inhalt 
derselben  scheint  mir  in  so  hohem  Grade  zweckmässig,  dass  ich 
selbst  schon  gleich  nach  Empfang  der  Instruction  für  die  Regie- 
rungen dem  Herrn  Grafen  Dohna  meine  Besorgniss  äusserte,  dass 
die  Verbindung  der  Kirchen-  und  Schul-Deputationen  mit  den 
ehemaligen  Kammern  leicht  den  Nachtheil  haben  könnte,  dass  die 
Reinheit  der  Grundsätze,  welche  die  höchste,  und  am  meisten 
von  allen  kleinlichen  politischen  und  oeconomischen  oder  sonst 
beschränkten  Rücksichten  entfernte  ^Angelegenheit  des  Staats  noth- 
wendig  leiten  müssen,  durch  den  zu  grossen  Einfluss  von  Per- 
sonen, die  mit  ganz  verschiedenem  Interesse  umzugehen  gewohnt 


'1   Von  Schreiberhand. 


200  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   1810. 

sind,  gedrückt  werden  könne.  Wissenschaftlich  gebildeten,  prac- 
tisch  erfahrenen,  und  durch  ihr  Amt  selbst  bei  ihren  Mitbürgern 
angesehenen  Geistlichen  bedeutende  Mitwirkung  und  entscheidenden 
Einfluss  bei  allen  auf  Kirchen  und  Schulen  Bezug  habenden  Ver- 
fügungen der  Regierung  zu  verschaffen,  ist  nun  gewiss  das  beste 
Mittel  jenem  nur  zu  sehr  zu  befürchtenden  Nachtheil  wirksam  zu- 
vorzukommen. 

Nur  erscheint  mir  die  getroffene  Verfügung,  so  wie  dieselbe 
in  dem  Schreiben  an  die  OberPräsidenten  und  dem  Rescript  an 
die  Consistorien  ausgedrückt  ist,  noch  einige  Erläuterungen  zu  er- 
fordern, welche  ihr  erst  die  nothwendige,  meines  Erachtens  ihr 
jetzt  noch  mangelnde,  Klarheit  und  Bestimmtheit  geben. 

In  der  CabinetsOrdre  vom  1 3  i£5  praef.  wird  nemlich  gesagt^ 
dass  es  rathsam  seyn  werde 

„dem  Praesidium  einer  jeden  Kammer  einen  angesehenen 
Geistlichen  als  Mitglied  zuzuordnen" 
und  in  dem  Schreiben  an  die  OberPräsidenten  heisst  es,  dass  der 
Geistliche  MitDirector  nicht  als  eigentlicher  Geschäftsmann  ge- 
braucht werden  solle.  Es  wird  also  dort  von  ihm  als  einem  Mit- 
Director, der  einen  weltlichen  Vorsitzenden  Rath,  den  Präsidenten 
oder  Director,  welcher  die  specielle  MitDirection  der  Geistlichea 
und  SchulDeputation  führt,  zur  Seite  hat,  gesprochen. 

Hierin  scheint  mir  nun  eine  Dunkelheit  zu  liegen,  welche 
nothwendig  aufgeklärt  werden  muss,  wenn  die  OberPräsidenten 
im  Stande  seyn  sollen  die  Verfügung  zu  einer  den  wohlthätigen 
Absichten    des   Ministeriums   gemässen   Ausführung   zu    bringen. 

Denn  wenn  man  die  neuen,  die  Organisation  der  Regierungen 
betreffenden  Verordnungen  mit  Aufmerksamkeit  durchliest,  so 
scheint  es  klar,  dass  jede  RegierungsDeputation  ihren  eigenen 
Director  haben  und  also  das  Praesidium  aus  5  Personen,  nemlich 
dem  Präsidenten  und  4  Directoren  bestehen  soll. 

Zwar  heisst  es  in  der  Verordnung  wegen  der  ProvincialBe* 
hörden^)  §  17. 

ausser  demx  Praesidium,  welches  aus  dem  Präsidenten  und 

zweien  bis  dreien  RegierungsDirectoren  besteht   u.  s.  f. 

Allein   diese  Stelle   hat  mich  auch  gleich  befremdet,   man  müsste 

denn  annehmen,  dass  bei  schwach  besetzten  Regierungen  Ein  und 

derselbe  Director  mehreren  Deputationen  vorstehen  sollte. 


*)  Preussische  Gesetzsammlung  1806— 1810  S.  46g. 


E.    Verschiedenes,  b. 


297 


Nach  der  neuen  Verfügung  muss  nun  jede  Kirchen-  und 
SchulDeputation  einen  Geistlichen  zum  Director  haben  und  dieser 
muss  alle  DirectorialGeschäfte  besorgen,  oder  es  muss,  wie  das 
Schreiben  an  die  OberPräsidenten  besagt,  zwei  Directoren,  einen 
geistlichen  und  einen  weltlichen  geben,  so  dass  das  Praesidium 
eine  Person  mehr  dadurch  erhält. 

Wie  aber  der  weltliche  mit  Vorsitzende  Rath  jemals  der  Prä- 
sident selbst  seyn  könne,  ist  mir  nicht  klar,  denn  nach  dem  Inhalte 
der  Instruction  für  die  Regierungen^)  soll,  soviel  ich  absehe,  der 
Präsident  nie  einer  einzelnen  Deputation,  als  ihr  Director  vorstehen. 
Dass  nun  eine  solche  gemeinschaftliche  Direction,  wenn  dieselbe 
wirklich  überall  eingeführt  werden  soll,  ihre  Schwierigkeiten  und 
Nachtheile  hat  und  die  Maschine  verwickelter  macht,  ist  wohl 
keinem  Zweifel  unterworfen. 

Könnte  man  (und  am  Ende  ist  doch  die  Zahl  der  Regierungen 
nicht  so  gross)  jeder  geistlichen  Deputation  einen  Mann  zum  Director 
geben,  der  keinen  der  Nachtheile  befürchten  Hesse,  zu  deren  Ver- 
meidung man  die  geistlichen  MitDirectoren  bestimmt,  so  wäre  dies 
unstreitig  besser. 

Wo  ein  Geistlicher  Neigung  und  Müsse  genug  hätte  (und 
wenigstens  hier  und  da  trifft  dies  gewiss  ein)  sich  der  ganzen 
Geschäftsführung  der  Deputation  als  Director  zu  unterziehen, 
könnte  auch  er  genommen  werden  und  so  wäre  allerdings  alles 
einfacher. 

Jetzt  dürfte  es  aber  wohl  nothwendig  seyn,  die  Verhältnisse 
der  beiden  Directoren  zu  einander,  zum  Praesidio  und  den  Räthen 
noch  genau  und  bestimmt  festzusetzen.  Der  Gedanke,  Räthen 
der  ProvincialBehörden  zugleich  wie  bei  Herrn  Borowski  ^)  ge- 
schehen ist,  Titel  zu  geben,  die  nur  für  die  obern  Behörden 
passen,  um  ihnen  dadurch  die  Pflicht  aufzuerlegen,  der  Section  des 
Cultus  auf  Erfordern  in  wichtigen  Angelegenheiten  ihr  Gutachten 
abzugeben,  ist,  da  darunter  natürlich  über  die  einzelne  Provinz  her- 
ausgehende allgemeine  Angelegenheiten  verstanden  werden,  sehr 
glücklich,  da  er  gleichsam  der  Section  auswärtige  Mitglieder  ver- 
schafft. Ich  war  gerade,  als  ich  dies  empfing,  im  Begriff  etwas 
Aehnliches  vorzuschlagen. 

Ew.  Hochwohlgeboren  ersuche  ich  gegenwärtig,  mir  gefälligst 
anzuzeigen,  ob  die  oft  erwähnte  Verfügung  in  dem  Sinne  genom- 

')   Vgl.  ebenda  S.  481,  besonders  §  gi. 
*)  Vgl.  oben  S.  211. 


2Q^  3.    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   i8io. 

men  worden  ist,  welchen  ich  ihr  beilege,  vorher  aber  die  von  mir 
geäusserten  Bedenken  Sr.  Excellenz  dem  Herrn  Minister  vorzu- 
tragen und  mir  das  Weitere  darüber  mitzutheilen. 

Auch  wünsche  ich  Mittheilung  des  ganzen  Berichts  vom  24. 
Januar  ^.,  von  welchem  der  Verfügung  nur  ein  Extract  beigefügt 
ist,  in  sofern  nemlich  der  ganze  Bericht  von  der  Section  herrührt, 
wie  ich  voraussetzen  muss. 

p.  ich  verharre  p. 
Ew.  p. 

Berlin,  4.  März  09. 

ergebenster 

V.  Humboldt. 


c.  Berufung  des  Predigers  Natorp.^) 

Berlin,  den  14.  März,  1809. 

Eins  der  dringendsten  Bedürfnisse  bei  der  Organisation  der 
meiner  Leitung  anvertrauten  Behörden  ist  unstreitig,  Personen  zu 
besitzen,  welchen  mit  Sicherheit  die  speciellere  Aufsicht  auf  die 
Land-  und  niederen  Bürgerschulen  anvertraut  werden  kann,  und 
von  welchen  sich  heilsame  Verbesserungen  in  diesem  wichtigen 
Theile  der  Nationalerziehung  erwarten  lassen,  und  ich  freue  mich, 
Ew.  Excellenz  hierzu  einen  Mann  vorschlagen  zu  können,  der  sich 
vorzugsweise  diesem  Fache  gewidmet  und  sich  einen  entschiedenen 
Ruf  darin  erworben  hat,  den  Prediger  Natorp  in  Essen.  Ew.  Excellenz 
sind  vermuthlich  Selbst  schon  näher  mit  den  Verdiensten  und  den 
Schriften  dieses  Mannes  bekannt,  und  ich  darf  mir  daher  mit  der 
Hoffnung  schmeicheln,  dass  auch  Sie  schon  ein  günstiges  Vor- 
urtheil  für  ihn  besitzen. 

Soviel  sich  aus  seinen  Schriften  urtheilen  lässt  (denn  persönlich 
ist  er  mir  nicht  bekannt)  hat  er  in  der  That  mehr,  als  sonst  andre, 
den  wahren  Gesichtspunkt  gefasst,  der  bei  der  Bildung  der  untern 
Volksklassen  nicht  verlassen  werden  darf.  Denn  er  geht  überall 
auf  die  Begründung  eines  festen,  bestimmten,  durch  Moralität  und 
Religion  zugleich  gestärkten  und  erwärmten  Charakters  aus;- 
hängt  nirgend  am  Buchstaben;  und  ist  immer  bemüht,  den  gesunden 
und  schlichten  Sinn,  und  die  reine  und  natürliche  Empfindung  zu 
wecken,   aus  welcher  jener  Charakter  gleichsam  von   selbst  ent- 


')  Eigenhändiges  Konzept. 


E.    Verschiedenes,  b.  c. 


299 


springt.  Man  darf  daher  von  ihm  licinen  der  verderblichen  Mis- 
bräuche,  dem  Volke  bloss  auf  das  Bedürfniss  des  Lebens  berechnete 
mechanische  Fertigkeiten  beibringen,  oder  dasselbe  mit  Fleiss  inner- 
halb der  Schranken  gewisser  Begriffe  halten,  oder  endlich  den 
Kreis  seiner  Kenntnisse  auf  eine  zweckwidrige  Weise  erweitern  zu 
wollen,  befürchten. 

Allein  was  ihn  noch  ausserdem  vorzüglich  schätzbar  macht, 
ist,  dass  er  mit  der  Theorie  auch  Erfahrung  verbindet,  und  wie 
seine  Schriften  häufig  beweisen,  oft  und  reiflich  über  die  Möglich- 
keit nachgedacht  hat,  die  Schwierigkeiten,  welche  der  Verbesserung 
der  unteren  Schulen  im  Wege  stehen,  hinwegzuräumen.  Die 
Mittel,  sowohl  Einrichtungen  dieser  Art  ohne  zu  grossen  Aufwand 
machen,  als  das  Volk  selbst  bewegen  zu  können,  zu  dem  nun 
einmal  unvermeidlichen  nach  Vermögen  mit  beizutragen,  werden 
ihm  daher  w^eniger  fremd  seyn. 

Und  dieser  Punkt  verdient  auf  alle  Weise  beherzigt  zu  werden. 
Ungeachtet  der  Grossmuth,  mit  welcher  Se.  Majestät  der  König  sehr 
bedeutende  Summen  zur  Verbesserung  der  Land-  und  niederen 
Bürgerschulen  hergeschossen  hat,  war  es  doch  bisher  immer  un- 
möglich, eine  wesentliche  und  bedeutende  Verbesserung  zu  be- 
wirken, und  es  ist  allgemein  anerkannt,  dass,  auch  in  Rücksicht 
des  Aufwandes,  eine  solche  Verbesserung  schwerer  zu  bewirken 
ist,  als  die  Einrichtung  der  glänzendsten  gelehrten  Anstalten.  Man 
muss  also  schlechterdings  darauf  denken,  einen  andern  Weg 
einzuschlagen,  und  nicht  vom  Staate  allein  zu  fordern,  was  der 
Staat  allein  nicht  zu  leisten  vermag,  sondern,  da  die  Erziehung 
überhaupt,  vorzüglich  aber  dieser  Theil  derselben,  im  eigentlichsten 
Verstände  Sache  der  Nation  ist,  auch  die  Nation  unmittelbar,  nur 
auf  eine  zweckmässige,  und  in  die  bisherige  Staatsverwaltung  ein- 
greifende Weise,  dazu  mitwirken  und  beitragen  zu  lassen.^)  An 
dem  Willen  dazu  wird  es  ihr  nicht  mangeln,  sobald  nur  das  rechte 
Interesse  in  ihr  geweckt  wird,  allein  dazu  w^erden  in  den  leitenden 
Behörden  Männer  erfordert,  die  mit  Erfolge  auf  sie  einwirken 
können. 

Dass  aber  für  diesen  Theil  der  Erziehung  besonders  alles  ge- 
schehen, ja  selbst  das  unmöglich  scheinende  versucht  werden  muss, 
davon  sind  Ew.  Excellenz  gewiss  auch  mit  mir  überzeugt,  sowie 
auch  davon,   dass   es   damit  bei  w^eitem  anders  werden  muss,   als 


ij  Vgl.  oben  S.  288. 


300 


3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 


es  bisher  gewesen  ist.  Die  Volksbildung  ist  die  Basis  aller  Bildung 
überhaupt.  Sie  macht  nicht  nur  (so  segensvoll  auch  dies  allein 
schon  ist)  glücklichere  Menschen  und  gehorsamere  Unterthanen; 
sondern  aus  ihr  entspringt  auch  allein  die  ächte  Vaterlandsliebe, 
und  sie  wirkt  selbst  in  der  höheren  Bildung  mit  fort,  welche  so- 
gleich anfängt,  in  Spitzfindigkeit  und  Tändelei  auszuarten,  und  bis 
auf  den  Gehalt  ihrer  eignen  Sprache  verliert,  wenn  das  Volk  einen 
festen,  geraden,  durch  natürliches,  aber  wahres  Gefühl  gehobenen 
Charakter  zu  besitzen  aufhört.  Wirklich  zehrt  dieselbe  in  den 
meisten  Ländern  nur  noch  von  dem  Fonds,  der  den  Nationen  in 
ehemaligen  Zeiten  eigen  war. 

In  den  Preussischen  Staaten  kann  auch  hierin  der  Grund  zu  einer 
heilsamen  Verbesserung  gelegt  werden.  Die  Aufmerksamkeit  des 
Publikums  ist  seit  einigen  Jahren  gar  sehr  auf  diesen  Punkt  ge- 
richtet, und  man  hat  Lehrmethoden  erfunden,  die  Prüfung  und 
Verbesserung  erheischen,  aber  die  es  unverzeihlich  wäre,  unversucht 
und  unbenutzt  liegen  zu  lassen.  Der  erste  Schritt  hierzu  thätig 
zu  seyn  ist,  Leute  zu  versammeln,  die  diesem  Geschäfte  gewachsen 
sind,  und  als  einen  Mann,  zu  dem  man  das  Vertrauen  hegen 
kann,  dass  er  nicht  nur  dies  selbst  seyn,  sondern  auch  Andre 
fähige  'bilden  und  heranziehen  werde,  schlage  ich  den  Prediger 
Natorp  vor. 

Ich  werde  jetzt  nur  ein  Paar  Worte  über  die  Stelle  hinzu- 
zusetzen brauchen,  die  man  ihm,  meines  Erachtens,  anweisen 
müsste. 

Da  es  dem  beabsichteten  Zweck  am  meisten  entsprechen 
würde,  ihm  einen  allgemeinen  Einfluss  zu  verschaffen,  so  würde 
er  natürlicherweise  seinen  Platz  in  der  Section  des  öffentlichen 
Unterrichts  finden  und  zu  seinem  besonders  abgegränzten  Departe- 
ment die  Land-  und  niedern  Bürgerschulen  erhalten. 

Allein  folgende  Gründe  lassen  mich  wünschen,  ihn  auch  zu- 
gleich bei  der  hiesigen  KurMärkischen  geistlichen  Regierungs- 
Deputation  angestellt  zu  sehen. 

1.  Die  wichtigsten  und  unentbehrlichsten  Werkzeuge  zur  Ver- 
besserung der  Land-  und  Bürgerschulen  sind  die  Prediger,  die 
sogar  noch  bei  weitem  mehr,  als  bis  jetzt  der  Fall  ist,  thätige  Mit- 
arbeiter an  denselben  werden  müssen.  Nun  heisst  es  zwar  durch- 
aus den  neuen  Organisationsplan  verkennen,  wenn  man  die 
Unterabtheilung  für  den  öffentlichen  Unterricht  als  eigentlich  ge- 
trennt von  der  für  den  Cultus  ansehen  wollte;   allein  zu  läugnen 


E.    Verschiedenes,  c. 


301 


ist  dennoch  nicht,  dass  in  der  RegierungsDeputation  Schul-  und 
Kirchenwesen  noch  bei  weitem  enger  verbunden  sind.  Die  Arbeit 
in  derselben  muss  daher  noch  eine  andre  und  demjenigen,  der 
thätig  auf  die  Schulverbesserung  einwirken  soll,  unentbehrliche 
Ansicht  gewähren. 

2.  Die  RegierungsDeputation  wirkt  zwar  nur  auf  Eine  Pro- 
vinz, aber  praktisch  und  unmittelbar,  und  wer  an  allgemeinen 
Planen  zu  arbeiten  bestimmt  ist,  verfährt  zweckmässiger,  wenn  er 
auch  selbst  mit  den  Schwierigkeiten  der  Ausführung  zu  kämpfen 
hat,  und  den"  Erfolg  zu  prüfen  im  Stande  ist. 

3.  Da  die  Prüfung  der  Schullehrer  und  vielleicht  selbst  der 
Prediger,  und  wenigstens  die  Ernennung  der  letzteren  künftig  bei 
der  Deputation  verbleibt,  so  ist  es  nothwendig,  sich  da,  wo  Re- 
gierung und  Section  an  demselben  Ort  vereinigt  sind,  nicht  des 
Vortheils  zu  berauben,  demjenigen,  welcher  das  Fach  der  Land- 
schulen bearbeitet,  auch  Einfluss  auf  die  Besetzung  der  Prediger- 
stellen zu  verschaffen. 

4.  Bisher  bestanden  das  Kur-Märkische,  das  OberConsistorium 
und  das  OberSchulCollegium  fast  ganz  aus  denselben  Mitgliedern,^ 
und  dies  brachte  unstreitig  Einseitigkeit  hervor.  Allein  jetzt  muss  auf 
der  andern  Seite  auch  alles  Mögliche  geschehen,  um  die  Verbindung 
der  an  ihre  Stelle  tretenden  Behörden  zu  erleichtern,  und  da 
können  Mitglieder,  welche  regelmässig  in  beiden  Sitz  und  Stimme 
haben,  ausserdem  dass  sie  die  Gleichförmigkeit  der  Grundsätze 
befördern,  und  die  Ansichten  des  einen  Collegii  durch  die  des 
andern  berichtigen  helfen,  oft  in  wenigen  Worten  Aufklärungen 
geben,  die  sonst  nicht  ohne  grössere  Weitläuftigkeit  zu  erhalten 
seyn  würden. 

Sollten  Ew.  Excellenz  in  diesen,  sich  auf  die  Organisation  im 
Ganzen  beziehenden  Ideen  mit  mir  übereinstimmen,  so  ersuche 
ich  Sie  gehorsamst,  Sr.  Majestät  dem  Könige  vorzuschlagen: 

1.  den  Prediger  Natorp  zum  Mitgliede  der  geistlichen  Depu- 
tation in  der  KurMärkischen  Regierung  zu  ernennen,  und  ihm 
vielleicht  auch  in  derselben  denjenigen  Antheil  an  der  Direction 
selbst  zu  verleihen,  welchen  Ew.  Excellenz,  nach  vielleicht  mit 
dem  Praesidio  zu  nehmender  Rücksprache,  für  gut  finden  werden, 

2.  denselben  aber  zugleich  zum  Assessor  der  Section  des  öffent- 
lichen Unterrichts  zu  bestimmen. 

Die  Beifügung  von  Assessoren  zu  den  StaatsRäthen  würde  der 
Section   des   Cultus   und  öffentlichen  Unterrichts  überhaupt  noch 


Q02  3-    Amtliche   Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   18 10. 

den  Vortheil  gewähren,  was  bei  einer  Oberbehörde  so  nothwendig 
ist,  aus  einer  grösseren  Anzahl   stimmführender  Mitglieder  zu  be- 
stehen, ohne  dass  dadurch  die  Zahl  der  höheren  Staatsämter,  und 
der  Besoldungsetat  zu  beträchtlich  vermehrt  würde. 
Berlin,  den  14.  März,  1809. 

Humboldt. 

An  des  Herrn  StaatsMinister  des  Innern,  Grafen  zu  Dohna,  Excellenz. 

d.   Vokation  der  Prediger.  ^) 
(An  Dohna.) 

'    Berhn,  den  25.  März  1809. 

Ew.  Excellenz  werden  aus  der  abschriftlich  inliegenden  Eingabe 
des  Herrn OberConsistorialPräsidentenvonSchevezu ersehen  die  Güte 
haben,  dass  derselbe  mich  um  die  Ausfertigung  der  Vocation  für 
den  Feldprediger  Kegler,  welcher  als  Adjunctus  des  Predigers 
Weisser  zu  Königshorst  aim  spe  succedendi  angestellt  werden 
soll,  ersucht.  Zugleich  fragt  er  an,  wie  es  künftig  in  ähnlichen  Fällen 
gehalten  werden  soll? 

Da  hier  ein  wichtiger  und,  wie  es  mir  scheint,  durch  die 
neueren  Organisationsverordnungen  noch  nicht  gehörig  bestimmter 
Punkt  in  Frage  kommt,  so  halte  ich  es  für  meine  Pflicht,  mich 
deshalb  unmittelbar  an  Ew.  Excellenz  zu  wenden. 

Die  Geschäftslnstruction  für  die  Regierungen  vom  26t£5  Decem- 
ber  praet.  2)  bestimmt,  daß  die  Besetzung  der  dem  Königlichen 
PatronatRechte  unterworfenen  Geistlichen  und  SchulStellen  der  geist- 
lichen und  SchulDeputation  der  Regierungen  zustehen  soll.  Ich 
kann  indess  nicht  glauben,  dass  dadurch  die  ehemals  schlechterdings 
immer  nothwendige  Bestätigung  dieser  Ernennungen  durch  die 
OberBehörde,  die  damals  das  lutherisch  geistliche  Departement 
war,  und  jetzt  die  Section  des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts 
ist,  aufgehoben  seyn  sollte. 

Es  kann  der  Section  auf  keine  Weise  gleichgültig  seyn,  aut 
die  Besetzung  der  Pfarrstellen  auch  nicht  den  mindesten  Einfluss 
zu  haben,  sondern  höchstens  nachher  Anzeige  zu  erhalten,  dass 
dieses  oder  jenes  Subject  ernannt  sey.  Nach  §  39  der  erwähnten 
Geschäftslnstruction  soll  jede  Stellen-Besetzung  allemal  im  Plenum 


^)   Von  Schreiberhand. 

^)  Vgl.  Preussische  Gesetzsammlung  1806— 1810  S.  4-j8  (§  62). 


E.    Verschiedenes,  c.  d. 


303 


der  Regierung  zur  Sprache  gebracht  werden,  um  zu  erfahren,  ob 
den  anderen  Mitgliedern  Umstände,  welche  die  Anstellung  des 
gewählten  Subjects  wiederriethen,  bekannt  sind?  Wieviel  mehr 
nun  wäre  es  zwecl^mässig,  eben  dies  bei  der  Section  zu  thun,  da 
diese  ein  noch  viel  näheres  Interesse  bei  der  Besetzung  der  Pfarr- 
stellen, als  die  übrigen  Deputationen  der  Regierung,  hat,  und  da 
vorauszusetzen  ist,  dass  sie  nie  versäumen  wird,  sich  schon  von 
den  Universitäten  her  und  auch  sonst  Kenntniss  von  den  zu 
Predigerstellen  aspirierenden  Candidaten  zu  verschaffen? 

Auf  der  anderen  Seite  ist  es  nothwendig,  den  Regierungen, 
da  sie  für  die  Besetzung  der  Predigerstellen  verantwortlich  seyn 
sollen,  alle  erforderliche  Freiheit  in  dieser  Rücksicht  zu  lassen, 
und  es  schiene  mir  daher  folgender  Mittelweg  rathsam: 

Die  Regierungen  wählten  und  ernennten  die,  dem  Königlichen 
Patronat  unterworfenen  Prediger,  zeigten  aber  die  geschehene 
Wahl  allemal  zur  Bestätigung  der  Section  des  Cultus  und  öffentlichen 
Unterrichts  an;  in  dieser  würde  die  Sache  und  zwar  im  Plenum 
beider  Unter-Abtheilungen,  da  jeden  Prediger,  als  natürlichen 
Aufseher  der  Schule  seiner  Gemeine,  das  Schulfach  mit  angeht, 
vorgetragen,  und  die  geschehene  Wahl  entweder  bestätigt  oder 
verworfen.  Dies  letztere  müsste  aber  nur  dann  geschehen  können, 
wenn  sich  erhebliche  Gründe  gegen  das  gewählte  Subject  zeigten, 
nicht  wenn  bloss  ein  anderes  vorzüglicher  schiene,  damit  die  Be- 
stätigung nicht  in  wahre  Besetzung  ausartete.  Die  Section  ge- 
wönne durch  diese  Einrichtung  ausserdem,  dass  sie  untaugliche 
Subjecte  zurückweisen  könnte,  noch  den  Vortheil,  auch  da,  wo 
sie  die  Bestätigung  nicht  wirklich  verweigerte,  doch  aber  die  Wahl 
nicht  recht  zweckmässig  fände,  die  RegierungsDeputation  darüber 
zurechtweisen  und  ihr  an  dem  einzelnen  Beispiel,  wie  sie  künftig 
besser  zu  verfahren  habe,  zeigen  zu  können. 

Wirklich  scheint  mir  nur  auf  diese  Weise  eine  gehörige  Con- 
trolle  der  Section  über  die  Regierungen  in  diesem  wichtigen  Punkte 
möglich. 

Die  V^ocation  müsste  alsdann  von  der  Section  ausgehen,  aber 
von  dem  Praesidio  der  Regierung  oder  dem  Director  der  geist- 
lichen Deputation  (wie  dies  nun  beliebt  werden  würde)  mit  unter- 
schrieben seyn.  Durch  diese  Unterschrift,  die  bei  den  Vocationen 
der  allein  von  der  Section  zu  ernennenden  Superintendenten  weg- 
fiele, würde  die  Regierung  und  ihre  Deputation  für  die  Ernennung 
verantwortlich.     In   der   Section   selbst  geschähe   die  Unterschrift 


QQA  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   18 10. 

der  Vocationen  von  dem  Chef  der  beiden  Unterabtheilungen  der- 
selben, sowohl  wegen  des  Interesses,  das  die  Section  des  öffentlichen 
Unterrichts  an  der  Besetzung  jeder  Predigerstelle  nimmt,  als  auch 
deswegen,  weil  diese  Angelegenheit  in  der  That  von  allgemeiner 
Wichtigkeit  ist. 

Die  für  die  Ausfertigung  der  Vocationen  zu  zahlenden  Ge- 
bühren flössen  in  die  Kanzlei  der  Section,  welche,  so  viel  ich  ab- 
sehe, an  die  Stelle  der  Geheimen  StaatsKanzlei  des  Geistlichen. 
Departements  treten  muss. 

Der  einzelne  Fall  wegen  des  Feldpredigers  Kegler  würde  nun 
sogleich  nach  der  hierüber  zu  nehmenden  allgemeinen  Entschei- 
dung, welche  ich  den  höheren  Einsichten  Ew.  Excellenz  anheimstelle, 

zu  bestimmen  seyn. 

Berlin  den  25^  März  i8oq. 

Humboldt. 
An 

des    Königlichen    StaatsMinisters     Herrn    Grafen    zu    Dohna 

Excellenz.  ^) 

e.   Humboldt  an  Nicolovius.  '^) 

Königsberg,  den  3.  December  1809. 

Meine  jetzt  so  nah  bevorstehende  Abreise  veranlasst  mich 
Ew.  Hoch  wohlgeboren  über  die  Führung  der  Geschäfte  der  Section 
während  meiner  Abwesenheit  folgendes  zu  eröffnen. 

Ich  ersuche  Ew.  p.  von  Morgen  an,  wo  es  mir  unmöglich 
seyn  wird,  noch  selbst  der  Session  beizuwohnen,  das  Praesidium 
sowohl  hier  als  in  Berlin  zu  führen,  und  es  theils  hiermit,  theils 
mit  der  Unterzeichnung  der  Reinschriften,  die  sonst  von  mir  voll- 
zogen werden,  eben  so  zu  halten,  als  es  während  meiner  Reise 
nach  Litthauen  geschehen  ist. 

Bei  Ew.  p.  Ankunft  in  Berlin  scheint  es  mir  zweckmässig,  dass 
Ew.  p.  die  Sessionen  der  Section  noch  so.  wie  bisher  ungetheilt 
und  bloss  mit  Zuziehung  des  Herrn  StaatsRath  Uhden  abhalten, 
und  nur  da  wo  einzelne  Fälle  es  Ihnen  nöthig  zu  machen  scheinen, 

')  Aus  der  AnWort  vom  Ö.  April  i8og:  „Den  Vorschlag,  bei  Besetzimg  der 
Predigerstellen  die  Regierungen  zu  beschränken,  finde  ich  aus  denselben  Gründen 
bedenklich,  aus  welchen  ich  mich  nicht  für  die  vorgeschlagenen  Modifikationen 
bei  Besetzung  der  Rektorstellen  an  untern  und  der  untern  Lehrerstellen  an  höheren 
Schulen  habe  erklären  können" ;  im  übrigen  empfehle  sich  Vorsicht  bei  der  Wahl 
der  Regierungsmitglieder  und  ihre  Beaufsichtigung  dw-ch  die  Oberpräsidenten. 

^)   Von  Schreiberhand  mit  eigenhändigen  Korrekturen. 


E.    Verschiedenes,  d.  e. 


305 


die   deutschen   Geistlichen   und   die  französischen   Mitglieder   ein- 
laden. 

Da.  es  indess  möglich  wäre,  dass  dennoch  Umstände  einträten, 
welche  dies  nicht  rathsam  machten  ^),  so  wird  es  von  Ew.  p.  Ermessen 
abhängen,  dies  auch  früher  abzuändern,  alle  Mitglieder  zuzuziehen 
und  beide  Abtheilungen    der  Section    einzeln   arbeiten  zu  lassen. 

Ew.  p.  werden  auch  alsdann  die  Gefälligkeit  haben,  den  Vor- 
sitz in  der  einen  und  der  andern  zu  übernehmen,  und  die  fernere 
Einrichtung  muss  künftig,  wie  Ew.  p.  schon  mündlich  mit  mir 
übereinstimmten,  aut  folgenden  Grundsätzen  beruhen. 

Die  Section  des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts  ist  eine  und 
eben  dieselbe,  und  ihre  beiden  Abtheilungen  müssen  auf  das  engste 
zusammenwirken. 

Ihre  beiden  Abtheilungen  haben  jedoch  besondere  Sessionen 
in  welchen  der  jeder  besonders  bestimmte  Chef  den  Vorsitz 
führt. 

Eine  Session  wöchentlich  für  jede  wird  in  der  Regel  zur  Ab- 
machung der  Geschäfte  hinreichen.  Von  beiden  Chefs  wird  er- 
wartet, dass  sie  soviel  als  möglich  den  beiderseitigen  Sessionen 
beiwohnen,  welche  daher  nie  zu  gleicher  Zeit  gehalten  w^erden 
können.  Allein  die  Anwesenheit  des  Sectionschefs  in  den  Vor- 
trägen für  den  Cultus  bringt  keine  xVenderung  im  Praesidium 
hervor,  und  der  besondere  Chef  des  Cultus  übernimmt  für  den 
Unterricht  keine  ^^ortragsSachen,  es  sey  denn,  dass  er  aus  eigner 
Wahl  es  wünsche.  Die  Reinschriften  für  den  Cultus  unterzeichnet 
der  besondere  Chef  desselben  allein,  die  Concepte  aber  zeichnet 
der  SectionsChef  zugleich  mit,  um,  da  er  die  Sachen  erbrechen 
soll,  und  doch  nicht  unausgesetzt  wird  den  Vorträgen  beiwohnen 
können,  den  Faden  der  Geschäfte  nicht  zu  verlieren.  Er  erlaubt 
sich  aber  in  den  Concepten  keine  Aenderungen,  ohne  sich  dar- 
über mit  dem  besondern  Chef  für  den  Cultus  vorher  zu  vereinigen. 

Es  freut  mich  ungemein  im  voraus  überzeugt  seyn  zu  können, 
dass  Sie  mit  mir  darin  übereinstimmen,  dass  auf  diese  Weise  die 
uns  gemeinschaftlich  übertragenen  Geschäfte  werden  auf  eine  dem 
wichtigen  Zweck,  der  uns  beiden  so  sehr  am  Herzen  liegt,  ent- 
sprechende Weise  geführt  werden  können. 

^)  Nach  „machten"  gestrichen:  „oder  dass  ein  längerer  Aufschub  ihrer  regel- 
mässigen Geschäftsthätigkeit  von  den  Geistlichen  übel  empfunden  würde". 

\V.  V.  Humboldt,  Werke.     XUI.  20 


«Q^  3.    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   1810. 

Herrn  Staatsrath  Schmedding  und  die  beiden  französischen 
Mitglieder  ^)  bitte  ich  Ew.  p.  auf  jeden  Fall  so  anzusehen,  als  ge- 
hörten sie  der  Section  des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts  ge- 
meinschaftlich an,  wogegen  diese  Herren,  wie  ich  im  voraus  über- 
zeugt bin,  keine  Schwierigkeit  machen  werden. 

Den  Geheimen  Secretair  Felgentreff  habe  ich  angewiesen, 
sich  sogleich  nach  meiner  Abreise  bei  Ew.  Hochwohlgeboren  zu 
melden  und  von  Ihnen  die  weitere  Verfügung  über  seine  Beschäf- 
tigung und  eigenen  Abgang  zu  empfangen. 

f.   Berufung  von  Klaproth.^) 

Berlin,  den  9.  März   1810. 

Der  OberMedicinalRath  Klaproth  ^)  ist  durch  die  unglücklichen 
Ereignisse  der  letzt  verflossenen  Jahre  in  eine  Lage  versetzt  worden, 
welche  mich  um  so  mehr  veranlasst,  Ew.  Königlichen  Majestät 
allerunterthänigst  Vorschläge  zur  Verbesserung  derselben  zu  machen, 
als  dieser  Mann  den  hiesigen  gelehrten  Instituten  bereits  wichtige 
Dienste  geleistet  hat,  und  auch  die  hier  zu  errichtende  Universität 
sich  mit  Recht  gleich  grosse  von  ihm  versprechen  kann. 

Das  Gehalt,  welches  der  OberMedicinalRath  Klaproth  vor  dem 
Kriege  genoss,  floss  zum  grossesten  Theile  aus  der  ArtillerieAcademie- 
Casse.  Denn  ausser  den  600  Rth.  aus  dieser  Gasse  bezog  er  nur 
noch  200  von  der  Academie  der  Wissenschaften,  160  als  Mitglied 
der  HofapothekenGommission,  und  165  Rth.  als  Mitglied  des 
OhcivCollegü  media  et  sanitatis.  Das  Gehalt  aus  der  Artillerie- 
AcademieCasse  wurde  seit  dem  Anfange  des  Krieges  nicht  mehr 
gezahlt;  für  das  letzte  Vierteljahr  ist  zwar  die  Zahlung  einstweilen 
geleistet  worden,  und  dasselbe  wird  auch  nach  der  Äusserung  des 
GeneralMajor  von  Scharnhorst  tür  das  nächste  Vierteljahr  der  Fall 
seyn;  allein  da  die  ArtillerieAcademie  seit  dem  Jahre  1806  aufgehört 
hat,  so  finden  diese  interimistischen  Zahlungen  nur  bis  zur  Einrichtung 
der  allgemeinen  MilitärAcademie  statt.  Das  Gehalt  von  der  Hofx'Xpo- 
thekenCommission  kann  sehr  leicht,  da  das  Schicksal  der  Hof- 
apotheke noch  nicht  entschieden  ist,  gleichfalls  authören;   das  bei 

*)  Ancillon  und  von  Lancizolle;  vgl.  Gebhardt  i,  282. 

')  Konzept  von  Schreiberhand  mit  eigenhändigen   Verbesserungen. 

*)  Martin  Heinrich  Klaproth  (ij4_3—i8iyj,  Chemiker,  seit  ij82  Mitglied  des 
CoUcgium  medicum  et  sanitatis,  seit  ij8j  Mitglied  der  Akademie  der  Künste,  ij88 
der  der  Wissenschaßen ;  vgl.  Lenz,  Geschichte  der  Universität  Berlin  i,  207. 


E.    Verschiedenes,  c.  f. 


:^o7 


dem  OhtTCollegio  rnedico  ist  in  ein  Wartegeld  von  i6o  Rth. 
verwandelt  worden,  und  wenn  gleich  der  OberMedicinalRath  Klap- 
roth  gegenwärtig  300  Rth.  als  Mitglied  der  wissenschaftlichen  Depu- 
tation für  das  Medicinalwesen  geniesst,  so  ist  auch  diese  Anstellung 
ihrer  Natur  nach  nur  temporell.  Dauernd  kann  derselbe  also  jetzt 
nur  auf  das  geringe  Gehalt  bei  der  Academie  der  Wissenschaften 
rechnen. 

Der  OberMedicinalRath  Klaproth  gehört  unleugbar  z\x  den  ersten 
jetzt  lebenden  Chemikern.  Er  hat  seine  Wissenschaft  durch  wahre 
Entdeckungen  bereichert  und  sich  dadurch  auch  im  Auslande  einen 
Namen  erworben,  in  dem  sich  nur  sehr  wenige  Gelehrte  Ew.  König 
liehen  Majestät  Staaten  mit  ihm  vergleichen  können.  Er  hat 
ausserdem  durch  seine  Lehrvorträge  und  vorzüglich  durch  die 
damit  verbundenen  genauen  Experimente  sehr  viele  trefliche 
Schüler  gebildet,  und  auch  bei  Ew.  p.  p.  ArtillerieCorps  allgemein 
anerkannte  Dienste  geleistet. 

Ich  würde  geglaubt  haben,  eine  meiner  ersten  Pflichten  zu 
versäumen,  wenn  ich  nicht  gesucht  hätte,  einen  solchen  Mann 
auf  eine  Weise  hier  zu  fixiren,  die  ihm  eine  sorgenfreie  Be- 
schäftigung mit  seiner  Wissenschaft  verstattete.  Wirklich  hatte 
der  p.  Klaproth  im  Anfang  dieses  Jahres  einen  ungemein  vortheil- 
haften  Ruf  nach  Russland  erhalten ;  er  hat  aber  denselben  sogleich 
und  ohne  Ew.  pp.  mit  Bitten  beschwerlich  zu  werden,  auf  meine 
ihm  nur  im  allgemeinen  gemachte  Hofnung,  dass  auch  hier  werde 
für  ihn  gesorgt  werden,  abgelehnt. 

So  wie  dies  seinen  uneigennützigen  Patriotismus  und  seine 
Anhänglichkeit  an  Ew.  p.  p.  beweist,  so  freue  ich  mich,  ihm  auch 
überhaupt  in  Absicht  seiner  patriotischen  Gesinnung  das  vortheil- 
hafteste  Zeugniss  geben  zu  können.  So  hat  er,  um  nur  dies  eine 
anzuführen,  im  letzten  Kriege  von  der  ihm  von  Frankreich  aus 
wegen  seiner  wissenschaftlichen  Verdienste  unaufgefordert  ertheilten 
Einquartirungsfreiheit  keinen  Gebrauch  gemacht. 

Die  hier  zu  errichtende  Universität  könnte  keinen  berühmteren 
Lehrer  der  Chemie  erhalten,  und  ich  wage  daher  bei  Ew.  p.  p. 
allerunterthänigst  dahin  anzutragen 

den  OberMedicinalRath  Klaproth  mit  einem  vom 
i^  Januar  c.  ab  zu  zahlenden  Gehalte  von  1200  Rth.  zum 
Professor  der  Chemie  bei  der  hiesigen  Universität  aller- 
gnädigst  zu  ernennen,  ihm  aber  dabei  aufzugeben,  seine 
jetzigen  Vorlesungen  beim  ArtillerieCorps  dafür  fortzusetzen, 


508  3-    Amtliche  Arbeiten  au?  den  Jahren   1809  und   18 10. 

auch  allerhöchst  Sich  vorzubehalten  bei  der  künftigen  Bildung 

der  MilitärAcademie   ihn   vielleicht   gleichfalls  in  Thätigkeit 

zu  setzen. 

Dies  letztere  glaube  ich  hinzufügen  zu  müssen,  weil  der  Gene- 

ralMajor   von  Scharnhorst  sich  zweifelhaft  gegen  mich   geäussert 

hat,  ob  es  nicht  nothwendig  seyn  dürfte,   den  OberMedicinalRath 

Klaproth  bei  der  Militär-Academie  anzustellen.   Wann  dieser  Punkt 

entschieden  seyn  wird,  dürfte  auch  erst  bestimmt  werden  können, 

ob  die  ganzen  1200  Rth.   oder  welcher  Theil  davon  wird  auf  die 

Fonds  der  hiesigen  Universität  angewiesen  werden  müssen. 

Schliesslich  kann  ich  mich  nicht  der  ehrfurchtsvollen  Aeusserung 
des  dringenden  Wunsches  enthalten,  dass,  wenn  Ew.  p.  p.  viel- 
leicht wieder  einmal  Gelehrten  ehrenvolle  Auszeichnungen  zu  er- 
theilen  allergnädigst  geruhen  sollten,  Allerhöchstdieselben  die  Gnade 
haben  möchten,  dabei  auf  den  OberMedicinalRath  Klaproth  Rück- 
sicht zu  nehmen,  welcher  in  der  That  vorzügliche  Ansprüche 
darauf  hat. 

Beriin,  den  9^  März  1810. 

Humboldt. 
An  des  Königs  Majestät. 

g.  Votum   über  die  wissenschaftlichen  Deputationen 

und  wissenschaftlich-technischen  Kommissionen  bei 

den  Regierungen.) 

Bemerkungen  der  GesetzgebungsSection  und  eigne  noch  reifere 
Ueberlegung  haben  bei  der  Section  des  öffentlichen  Unterrichts 
Zweifel  ge  cn  die  Zweckmässigkeit  einiger  Punkte  in  der  ent- 
worfenen Instruction  für  die  wissenschaftlichen  Deputationen  (nach 
welcher  Herr  StaatsRath  Köhler  auch  die  anliegende  ausgearbeitet 
hat)  erregt.^)    Vorzüglich  hat  es  geschienen: 

dass    man    die   wissenschaftlichen   Deputationen    gar   nicht 
mit  dem  Publicum  und  andern  Behörden  in  Berührung 
bringen ; 
dass    man   ihnen   das  Nachdenken   über  Verbesserungsvor- 
schläge  nicht  zu  einer  gleichsam  fortdauernden  Pflicht 


')  Eigenhändiger  Entwurf. 

'•')  Die  Instruktion  für  die  wissenschaftliche  Deputation  der  Sektion  des  öffent- 
lichen Unterrichts  findet  sich  Band  10,  iq6.  Das  Konzept  von  Koehler  umfasst 
40  Paragraphen  und  trägt  das  Datum  des  ry.  Februar  1810. 


E.    Verschiedenes,  f.  g.  -iqq 

machen  müsse,  indem  hieraus  leicht  für  die  Section 
selbst  mehr  Unannehmlichkeit,  als  Vortheil  für  die  Sache 
entstehen  könne. 

Aus  diesem  Grunde  hat  die  Section  des  öffentlichen  Unter- 
richts statt  dieser  Instruction  bloss  die  anliegende  Verfügung  an 
die  wissenschaftliche  Deputation  erlassen,  und  die  eigentliche 
Instruction  noch  hinausgesetzt.^) 

Ich  wünschte  nun,  dass  dieselbe  auch  mtdatis  niutandis  für 
die  wissenschaftliche  Deputation  bei  der  MedicinalSection  geschehen 
möchte.  Es  würde  aber  die  Verfügung  bloss  an  die  Berliner  De- 
putation zu  richten  seyn,  und  dieser  würde  man  nicht  zu  sagen 
brauchen,  wie  die  ProvincialDeputationen  und  Commissionen  ein- 
gerichtet wären.  Es  würde  also  aus  dieser  Verfügung  Alles  weg- 
bleiben, was  sich  in  der  Anlage  auf  die  Breslauer  und  Königs- 
bergische Deputation  bezieht.  Auch  würde  der  Punkt  des  Gehalts 
nicht  zu  berühren  seyn. 

Um  nun  gleich  den  Standpunkt  der  Berliner  Deputation  recht 
zu  fixiren,  so  muss  dieselbe,  meines  Erachtens,  ganz  und  gar  füi 
sich,  bloss  unter  der  Section,  und  ausser  aller  Verbindung  mit 
der  KurMärkischen  Regierung  stehen. 

Sollte  sie  zugleich  Commission  für  die  Regierung  se3'n,  so 
wird  sie  nicht  nur  zwei  Behörden  untergeordnet  (da  die  Regierung 
ihre  Commissionen  so  nothwendig  braucht,  dass  sie  ihr  unbedingt 
zu  Gebote  stehen  muss)  sondern  auch  mit  detail  überladen,  was 
sehr  zu  vermeiden  ist,  weil  sie  die  wichtigsten  Prüfungen  hat, 
und  auch  oft  über  wichtige  Dinge  befragt  werden  kann. 

Die  Commissionen  in  Breslau  und  Königsberg  müssen  wissen 
schaftliche  Deputationen  für  diese  beiden  OberPraesidialDeparte- 
ments  seyn.  Sie  stehen  also  wirklich  unter  der  Section  und  Re- 
gierung zugleich,  was  aber  auch,  da  die  Section  wenig  mit  ihnen 
unmittelbar  zu  thun  haben  wird,  gut  angeht;  sie  haben  auch, 
wie  gleich  unten  folgen  soll,  mehr  Arbeiten,  als  die  blossen  Com- 
missionen. 

Die  blossen  RegierungsCommissionenin  Berlin  (fürPotsdamm)^ 
Königsberg  Neumark,  Stargard,  Marienwerder  und  Liegnitz  bilden 
die  letzte,  in  ihrem  Wirkungskreis  am  meisten  beschränkte  Classe. 

Um  nun  auf  die  hiesige  wissenschaftliche  Deputation  zurück- 
zukommen, so  finde  ich  in  Absicht  der  schon  entworfenen  Instruc- 

')     Vgl.   über    die  vorläufige  Instruktion  für  die  n-issenscfmftlichen  Depu 
tationen  vom  25.  Februar  1810  Gebhardt  i,  226. 


2JQ  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und  18 10. 

tion  nur  noch,  ausser  dem  schon  durch  das  Vorige  Abgeänderten, 
Folgendes  zu  bemerken. 

Die  Prüfungen  bei  der  UnterrichtsSection  sind  zwar  unent- 
geldlich  angeordnet  worden.  Im  MedicinalWesen  wäre  indess  für 
jetzt  noch  die  Sache  beim  Alten  zu  lassen.  Auch  könnte  ebenso 
die  Vertheilung  noch  wie  bisher,  und  also  dieser  Punkt  aus  der 
Verfügung  ganz  wegbleiben. 

Bei  Erwähnung  der  Arbeiten  der  Deputation  dürfte  der  §  7  der 
von  Herrn  p.  Köhler  entworfenen  Instruction  nach  der  Anlage  zu 
modificiren  seyn.  Von  besondern  Arbeiten  müsste  man  einige, 
etwa  so,  wie  ich  bei  §  8  in  margine  gethan,  specificiren. 

Bei  der  Eintheilung  in  Fächer  §  -15.  nach  Herrn  p.  Hufeland  ist 
CS  auffallend  Anatomie,  Phj'^sik  u.  s.  f.  aufgeführt,  die  andern 
Wissenschaften,  wie  Pathologie  u.  s.  f.  fehlen  zu  sehen.  Es  ist 
also  wohl  besser,  die  drei  Classen  nur  so  zu  bestimmen: 

Gegenstände,  zu  deren  Beurtheilung  eigentliche  Arzneikunde, 
mit  Inbegriff  der  Thierarzeneikunde, 

zu  deren  Beurtheilung  Kenntniss  der  Wundarznei  und  Geburts- 
hülfe  und 

zu  deren  Beurtheilung  pharmaceutische  auf  Chemie  und  Natur- 
geschichte beruhende  Kenntniss  gehört. 

Bildung  der  ProvincialMedicinalBehörden. 

Die  Verordnung  vom  24.  November  1808  verordnet  wissen- 
schaftliche Deputationen  in  den  Provinzen,  die  Regierungslnstruc- 
tion  wissenschaftlich  technische  Commissionen  n  bei  jeder  Regierung. 
Ob  beide  darunter  dasselbe  verstehen?  ist  nicht  klar. 

Ich  glaube  man  kann  die  wissenschaftlichen  Deputationen  von 
den  Commissionen  unterscheiden  durch  zwei  nur  den  erstem  zu 
übertragende  Geschäfte : 

die  Abfassung  von  Gutachten  in  Criminalfällen ;  die  höheren 

Prüfungen,  d.  h.  derer,  die  sich  zu  solchen  Stellen  widmen, 

zu  denen   man   nur  Personen,  die   studirt  haben,   zulassen 

kann. 

Der  letzte  Punkt  aber  müsste  für  jetzt  noch  nicht  gesagt  werden, 

da  bis  jetzt  noch   alle   diese  Prüfungen  hier  in  Berlin  geschehen. 

Die  wissenschafthchen  ProvincialDeputationen  bestünden  nur 

aus   8   Mitgliedern,  vier  Aerzten,  zwei  Wundaerzten,   und  zwei 

•)  ?  22. 


E.    Verschiedenes,  g.  <»  1 1 

Apothekern.  Unter  den  erstem  müsste  ein  der  Thierarznei  Kun- 
diger seyn. 

Die  Commissionen  hätten  mit  6  Mitgliedern  genug. 

Beide  wären  auf  3  Jahre,  da  kleinere  Städte  nicht  so  viel 
Wechsel  erlauben. 

Die  Regierungen  könnten  sich,  jede  ausser  ihrer  Commission 
auch  der  wissenschaftlichen  Deputation  ihres  OberPraesidialDepar- 
tements  bedienen,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dass  sie  hierzu  nur 
autorisirt  nicht  verpflichtet  wären,  und  dass  sie  nicht  befehlsweise 
an  die  wissenschaftlichen  Deputationen  schreiben,  sondern  sie  nur 
durch  die  Section  in  Berlin,  und  in  Breslau  und  Königsberg  durch 
die  dortigen  Regierungen  ersuchen  könnten.  Dies  könnte  geschehen 
bei  Anfragen  über  wichtige  Gegenstände,  bei  wichtigeren  Prüfungen. 

In  den  wissenschaftlichen  Provincial  Deputationen  und  den 
Commissionen  hätte  der  MedicinalRath  der  Regierung  den  Vorsitz. 

Diese  Deputationen  und  Commissionen  bloss  ihren  eignen 
Sportein,  ohne  feste  Bestimmung  zu  überlassen,^)  scheint  mir  nicht 
zweckmässig.  Es  müsste  festgesetzt  werden,  dass  jede  wissenschaft- 
liche Deputation  1800  Rth.,  jede  Commission  1200  Rth.  jährlich  er- 
hielte, allein  den  Regierungen  bei  den  jedesmaligen  Ernennungen 
der  Mitglieder  überlassen  bliebe.  Vertheilungsvorschläge  über  diese 
Summen  zu  machen,  die  sich  nach  den  Bedürfnissen  der  einzelnen 
Personen  richteten. 

Diese  Summe  könnte  folgendergestalt  zusammengebracht 
werden : 

1 .  würde  dazu  genommen,  was  schon  für  das  MedicinalWesen 
auf  einigen  RegierungsEtats  steht; 

2.  was  z.  B.  in  Schlesien  die  MedicinalCasse  oss.  fonds  besitzt 

3.  die  Sportein,  die  gesammelt  würden, 

4.  das  alsdann  Fehlende  schösse  die  Regierung  aus  ihren 
Extraordinarienfonds  zu. 

Machten  aber  die  Sportein  eine  grössere  Summe,  als  die  er- 
forderte, so  würde  der  Ueberschuss  unter  die  Mitglieder  vertheilt. 


Hiernach  wäre  nun  das  Folgende  zu  thun: 
I.  die  als  Instruktion  dienende  Verfügung  an  die  hiesige  wissen* 
schaftliche  Deputation  zu  entwerfen,^) 

')  So  war  es  beim  Collegium  medico-chirurgicum  et  sanitatis  gewesen. 
,  -)  Konzipiert  von  Koehler  am  2g.  März  1810. 


0  12  3-    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und   1810. 

2.  sich  mit  dem  FinanzMinisterio  über  den  Modus  der  Be- 
zahlung der  ProvincialDeputationen  und  der  Commissionen  zu 
einigen, 

3.  die  Litthauische  Regierung  zu  befragen,  ob  sie  wirklich 
eine  eigne  Commission  entbehren  will  ?  Auf  gleiche  Weise  könnte 
es  auch  Königsberg  Neumark  in  Rücksicht  auf  Potsdamm  oderStar- 
gard.  Allein  man  braucht  doch  Leute  an  Ort  und  Stelle.  Kann  man 
nicht  viele  Gute  haben,  nimmt  man  nur  Einige,  erspart  an  fonds^ 
und  gibt  mehr  Aufträge  an  die  nächste  wissenschaftliche  Deputation, 

4.  von  der  Neumärkischen  und  Pommerschen  Regierung  Be- 
richt über  die  Organisation  ihrer  Commission,  das  Personal  und  die 
fonds  zu  fordern, 

5.  alle  Mitglieder  zu  ernennen,  jedoch  immer  mit  vorgängiger 
Rücksprache  mit  den  Regierungen, 

6.  der  Instruction  der  Section  ähnliche  Verfügungen  für  die 
wissenschaftlichen  Provincial  Deputationen  und  Commissionen  zu 
entwerfen. 

17.  März,  1810. 

s.  m.  Humboldt. 

h.  Beschwierde  Humboldts  über  verfassungswidrigen 
Geschäftsgang.^) 

An   des   Königlichen   Geheimen   Staatsminister  Herrn   Grafen   zu 

Dohna  Excellenz. 

Das  Königliche  Staatsministerium  hat  der  Section  für  den  Cultus 
unterm  3.  d.  eröfnet,  dass  der  Immediat-Bericht  derselben  wegen 
Verlegung  des  Busstages  bey  ihm  zum  Vortrage  gekonimen  sey, 
es  aber  diesen  Antrag  jetzt  nicht  gerathen  finde,  die  Section  da- 
her die  Sache  wenigstens  ein  Jahr  ruhen  lassen,  alsdann  aber 
auch  auf  die  vom  Staatsministerio  sehr  zweckmässig  gefundene 
Abschaffung  des  Himmelfahrtstages  antragen  möge. 

Dieses  der  Section  gewordene  Schreiben  sezt  Verhältnisse 
voraus,  die  ihr  ganz  fremd  sind,  und  die  mir  nicht  nur  der  ihr 
ursprünglich  gegebenen  Stellung,  worüber  ich  jetzt  schweifen  würde, 
sondern  auch  der,  wegen  der  Geschäftsführung  des  Königlichen 
Staatsministerii  unterm  31.  Maerz  ergangenen  Cabinets  Ordre,  der 
man  doch  wenigstens  keine^  durchaus  über  ihren  klaren  Inhalt  gehende 
ausdehnende  Erklärung  ^eben  darf,  zu  widersprechen  scheinen, 

')  Der  Haupttext  ist  von  Nicolovius  konzipiert,  das  kursiv  Gedruckte  von 
Humboldt  eingeschaltet.  , 


K.  Verschiedenes,  s.  h.  'i  I  •? 

Die  Sectionen  sind  ihrer  Bestimmung  und  wesentlichen  Ein- 
richtung nach  keine  irgend  untergeordnete  Behörden ,  sie  sind 
Theile  des  Ministeriums,  führen  die  ihnen  anvertrauten  Geschäfts- 
zweige als  höchste  Landesbehörden,  stehen  blos  unter  Aufsicht ') 
des  DepartementsMinisters,  welcher  die  von  den  Sectionen  an 
des  Königs  Majestät  unmittelbar  zu  erstattenden  Berichte  zwar  mit 
seinem  Voto  begleiten,  nicht  aber  dem  Könige  vorenthalten  darf. 
Durch  das  m  dem  gegenwärtigen  Fall  beobacJdete  Verfahren  ivird 
vermittelst  des  Staats Ministerii  eine  wahre  Zivischen-Instanz  zwischen 
den  Sectionen  7ind  dem  Thro7i  gebildet,  welche  ohne  alle  Anfiihnmg 
von  Gründen,  ja,  wenn  auch  mit  gelinderen  Ausdrücken,  ihnen  An- 
weisungen zu  ertheilen  unternimmt.  Eine  solche  Zwischenbehörde 
kannten  die  Sectionen  bis  jetzt  nicht ;  sie  verwalteten,  in  einzelnen 
Fällen  nicht  ohne  besondere  Zustimmung  des  Departements  xMinister, 
sonst  aber  selbständig^mit  voller  Autorität  und  Verantwortung  die 
ihnen  anvertrauten  Geschäfte  und  hingen  7iie  von  der  Meynung  der 
übrigen  Minister,  als  nur  insofer^i  ab,  als  diese  Meynu7ig  beim  Cabinets-' 
Vortrag  auf  die  Ent Schliessung  S.  Majestät  des  Königs  Einfluss  haben 
konnte. 

Es  ist  ihnen  nicht  bekannt  geworden,  dass  diese  ihre  Be- 
stimmung verändert  sey;  die  Cabinetsordre  vom  31.  Maerz  d.  J. 
will,  dass  diejenigen  Sections  Chefs,  welche  bey  den  im  Staats- 
ministerio  vorkommenden  Gegenständen  concurriren,  gegen- 
wärtig seyn  und  ein  volles  \'^otum  haben  sollen.  Nirgends  aber 
gehet  aus  der  Cabittets  Ordre  hervor,  dass  in  der  Berichterstattung  der 
Sections  Chefs  an  den  König  eine  Veränderung  Statt  finden  solle,  und 
dass  dem  Staatsministerium  mehr  zustände,  als  im  Falle  die  Section 
einer  verschiedenen  Meynu?ig  ist,  seine  abweichende  Sr.  Königlichen 
Majestät  mit  vorzulegen.  Die  von  dem  Staatsministerio  unterm 
17.  V.  M.  an  die  Provinzial-CoUegien  erlassene  Bekanntmachung  er- 
klärt ausdrücklich,  dass  in  dem  Ressort  der  Sectionen  nichts  geändert 
worden. 

Das  gedachte  Schreiben  sezt  dagegen  ganz  andere  Verhält 
nisse  voraus.  Es  wehrt  der  Section  den  Zugang  zu  des  Königs 
Majestät,  es  entscheidet  in  einer  durchaus  zur  Entscheidung  der  Section 
und  noch  dazu  vorzüglich  der  geistlichen  Mitglieder  in  derselben  ge* 
eigneten  Sache,  ohne  mich  und  den  in  der  Cultus-Section  Vorsitzenden 
Staatsrath  gehört  zu  haben.     Die  Section  soll  hienach  nicht  länger 


Nach  „Aufsicht''  gestrichen:  „doch  nicht  unter  I^itung". 


oj^  3.    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und  1810. 

selbst  integrirender  Theil  des  Ministerii  seyn,  sie  soll  nicht  länger 
nach  ihrer  Ueberzeugung  administriren,  Vorschläge  die  sie  ine- 
stimmig,  wie  die  Ahschaffitng  des  Himmelf ahristag es,  unzweckmässig 
befunden  hat,  soll  sie,  ihrer  Meynung  darüber  ungeachtet,  an  des 
Königs  Majestät  bringen,  sich  also  in  den  Fall  setzen,  Anordnun- 
gen zu  bewirken  und  zur  Ausführung  zu  bringen,  welche  sie  selbst 
nicht  billigt  sondern  nachtheilig  findet. 

Ew.  Excellenz  stimmen  gewiss  mit  mir  überein,  dass')  die 
heiligste  Amtspflicht  mir  nicht  gestattet,  bey  solchem  Verfahren 
gegen  die  Section  zu  schweigen,  ich  würde  noch  hinzusetzen,  dass 
mich  auch  gekränktes  Ehrgefühl  zu  redefi  Z7uingt,  wenn  ich  nicht  in 
dieser  Hinsicht  mich  gegen  ?nehr  als  diesen  Punkt  allein  erheben 
müsste,  und  7ucn?i  Ew.  p.  nicht  bekafifit  wärc^  dass  ich  deshalb  un- 
mittelbar einen  Schritt  bei  Sr.  Majestät  dem  König  gethan  habe,  den 
mich  der  fetzige  Vorfall  veranlasst  hat,  heute  noch  einmal  zu  "wieder- 
holen. Allein  wenn  ich  mich  persönlich  zurückziehe,  darf  ich  das  Interesse 
der  Section  und  die  Rechte,  die  ihr,  auch  nach  der  Cabinets  Ordre  vom 
ji.  März,  c.  noch  übrig  bleiben,  darum  nicht  verabsäumen  tmd  unter 
Umständen,  wie  die  durch  jenes  il/wü/mfy/ Schreiben  angedeuteten, 
hört  alle  zweckmässige  Geschäftsverwaltung,  aller  Muth  zu  neuen, 
wichtigern  Operationen,  alle  Hofnung  auf  Erfolg  auf.  Die  Sectionen, 
die  nach  der  Bestimmung  der  Verordnung  vom  24.  November  t8o8. 

mit  voller  Verantwortung  selbständige, 

selbstthätige  Behörden  sind, 
werden  in  eine  Abhängigkeit  versezt,  die  den  freyern  Wirkungs- 
kreis der  ihnen  untergeordneten  Provinzialbehörden  beneidenswerth 
macht,  und  das  todte  Formenwesen,  welches  die  neue  Organi- 
sation zu  vertilgen  beabsichtigte,  mit  allen  seinen  Folgen  und  mit 
vermehrtem  Unmuth  jedes,  von  Liebe  für  den  Staat  und  für  sein 
Amt  erfüllten  Staatsdieners  herbey  geführt. 

Ew.  Excellenz  mufsich  daher  gehorsamst,  aber  auch  dringendst 
pflichtmässig  ersuchen,  die  mir  anvertrauten  Sectionen  vor  Beein- 
trächtigungen zu  schützen,  welche  die  Bestimmung  derselben  zer- 
stören, und  keine  kräftige,  freudige  und  erfolgreiche  Geschäfts- 
führung derselben  ferner  gestatten.  Doppelt  treifen  alle  angeführten 
Nachteile  meine  Parthie,  da  die  Überzeugungen  von  den  in  sie 
einschlagenden  Gegenständen  nur  bey  anhaltender  Beschäftigung 
mit  denselben  richtig  entstehen  und  sich   abändern   können,   und 

')  "Nach  „dass"  gestrichen    „nicht  allein  gekränktes  Ehrgefühl,  sondern". 


E.    Verschiedenes,  h.  i.  -^  I - 

da  es  nicht  immer  möglich  ist,  sich  mit  Personen,  die  einmal 
von  Grund  aus  andere  Ansichten  hegen,  darüber  durch  blosse 
Gründe  zu  verständigen;  eine  Ansicht,  worüber  Ew.  Excellenz  bisher 
ganz  mit  mir  einverstanden  gewesen  sind  und  die  Sie,  wenn  sie 
angefochten  wurde,  mit  Überzeugung  und  Nachdruck  unterstüzt 
haben. 

Von  der  vorliegenden  einzelnen  Sache,  die  nur  durch  die 
Behandlung,  die  ihr  widerfahren,  wichtig  wird,  sonst  aber  gering- 
fügig und  auf  Verlangen  der  Kurmärkischen  Regierung,  nicht  aus 
eignem  Antrieb  der  Section  Sr.  Majestät  vorgetragen  werden  sollte, 
mag  immerhin  nicht  weiter  die  Rede  seyn.  Das  aber  mufs  ich 
Ew.  Excellenz  dringend  und  bestimmt  bitten,  einen  gleichen  Ge- 
schäftsgang ferner  nicht  zu  gestatten,  den  ich  nicht  ohne  völlige 
Vernachlässigung  meiner  Pflicht  ertragen  kann  und  der  mich  nöthi- 
gen  würde,  um  die  Bestimmung  der  mir  anvertrauten  Sectionen 
zu  erhalten,  die  lezten  mir  noch  übrigen  Schritte  zu  thun. 

Berlin,  23.  Mai,  1810. 

Humboldt. 

i.   Humboldts  Verabschiedung  an  Dohna.^) 

Berlin,  den  19.  Junius,  1810. 

Nichts  hätte  mir  gleich  schmeichelhaft  seyn  können,  als  das 
Bedauern,  welches  Ew.  Excellenz  mir  in  dem  geehrtesten  Schreiben 
von  heute  über  meinen  Abgang  zu  erkennen  zu  geben  die  Ge- 
wogenheit haben,  und  der  Wunsch,  dass  ich  die  Geschäfte  der 
mir  anvertrauet  gewesenen  Sectionen  noch  so  lange  als  möglich 
fortführen  möchte.  Ich  schmeichle  mir,  dass  Ew.  p.  bemerkt 
haben  werden,  dass  es  immer  mein  Ziel  war,  mir  Ihre  Zufrieden- 
heit zu  erwerben,  und  Ihnen  auch  dadurch  zu  beweisen,  wie  leb- 
haft ich  die  mir  von  Ew.  p.  bewiesene  Güte  und  Freundschaft 
empfand,  für  die  ich  Ew.  p.  nochmals  bei  dieser  Gelegenheit 
meinen  aufrichtigsten  und  herzlichsten  Dank  wiederhole. 

So  gern  ich  mich  aber  auch  noch  ferner  meinen  bisherigen 
Geschäften  widmen  möchte,  so  macht  mir  dies  doch  die  Vorbe- 
reitung zu  meiner  neuen  Stelle  und  die  nothwendige  Besorgung 
vieler  Privatgeschäfte  unmöglich.  Ich  werde  daher  mit  Ew.  p. 
Erlaubniss,   so   wie  mich  die  Königliche  CabinetsOrdre   ausdrück 


^)  Eigenhändiger  Entwurf. 


Itjß  3.    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren  1809  und   1810. 

lieh  anweist,  meine  Geschäftsführung  mit  dem  Ende  dieser  Woche 
in  Ew.  p.  Hände  niederlegen,  und  in  der  MedicinalSection  über- 
morgen, 21.  /mj.^  in  der  des  Cultus  und  öffentlichen  Unterrichts 
Sonnabend,  23.  /mj.  meine  letzte  Sitzung  halten,  und  alsdann  die 
Geschäfte  der  ersten,  nach  Ew.  p.  Befehl,  Ihnen  selbst,  die  der 
letztern  dem  Herrn  StaatsRath  Nicolovius  übergeben. 

An  der  Organisation  der  Universität  hingegen  werde  ich  sehr 
gern  noch  so  lange  ich  hier  bin  fortwährend  Antheil  nehmen; 
den  Sitzungen  der  von  mir  errichteten  Commission,  sofern  Ew.  p. 
solche  bestehen  lassen,  beiwohnen,  und  auf  jede,  von  mir  ab- 
hängende Weise  zum  Besten  eines  so  wichtigen  Instituts  ange- 
legentlichst mitwirlven.^) 

In  der  Voraussetzung,  dass  Ew.  p.  diese  ergebensten  Anträge 
zu  genehmigen  die  Güte  haben  werden,  empfehle  ich  mich  Ihrem 
ferneren  echt  freundschaftlichen  Wohlwollen. 

Berlin,  den  19.  Junius,  1810 

Humboldt. 

Berlin,  den  23.  Juni  1810. 

An  des  Königlichen  Ministers  pp.  Herrn  Grafen  zu  Dohna,  Excellenz.') 

Ew.  Excellenz  habe  ich  die  Ehre  gehorsamst  anzuzeigen,  dass 
ich  heute  die  letzte  Sitzung  der  Section  des  Cultus  und  öffentlichen 
Unterrichts  unter  meinem  Vorsitze  gehalten  und,  Ew.  Excellenz 
geneigten  Anweisung  zufolge,  die  Leitung  dieser  Partie  dem  Herrn 
StaatsRath  Nicolovius  übergeben  habe. 

H. 
k.   Berufung  von  Thaer.') 

Berlin,  den  20.  Junius,  1810. 
An  den  Königlichen  StaatsRath,  Herrn  Thaer, 

Hochwohlgeboren. 

Zu  den  wichtigsten,  bis  jetzt  noch  unbesetzten  Lehrstellen  an 

der  hiesigen  Universität,  welche,  Sr.  Majestät  des  Königs  neuesten 

Befehlen   gemäss,   um  Michaelis   eröfnet  werden   soll,  gehört  die 

Professur  des  Ackerbaus.   Ich  brauche  Ew.  Hochwohlgeboren  nicht 


•)  Vgl.  Lenz,  Geschichte  der  Universität  Berlin  i,  21g. 

')   Von  Schreiberhand. 

*)  Eigenhändiges  Konzept. 


E.    Verschiedenes,    i.    k. 


317 


ZU  sagen,  wen  ich  am  liebsten  mit  derselben  bekleidet  sehen 
möchte.  Gewiss  würde  es  in  ganz  Deutschland  zu  den  wichtigsten 
Vorzügen  der  Universität  hier  gerechnet  werden,  wenn  Ew.  p. 
Sich  entschliessen  könnten,  einen  Ruf  hierher  anzunehmen.  Ich 
fühle  aber,  dass  dies  unmöglich  ist.  Ihr  Institut  in  Mögelin  und 
die  Annehmlichkeit,  unabhängig  und  auf  dem  Lande  zu  leben, 
werden  natürlich  der  Ausführung  eines  solchen  Plans  immer  im 
Wege  stehen.  Dennoch  kann  ich  den  Gedanken  nicht  ganz  auf- 
geben, dass  gerade  Sie  und  selbst  Ihr  Institut  der  hiesigen  Uni- 
versität von  dem  wichtigsten  und  erspriesslichsten  Nutzen  seyn  könn- 
ten, und  ich  wünschte  nur,  Ihre  eignen  Ideen  über  die  Ausführbarkeit 
hievon  zu   vernehmen.     Mir  scheint  ein  doppelter  Weg  möglich. 

Der  erste  wäre  der,  dem  ich  in  ieder  Rücksicht  den  Vorzug 
ertheilen  würde.  Er  bestände  darin,  dass  Ew.  p.  sich  entschlössen, 
wenigstens  den  Winter  immer  hier  zuzubringen,  und  alsdann 
ordentliche  ^"orlesungen  zu  halten.  Der  Sommer  könnte,  da  ich 
so  in  diesen  alle  Ferien  beider  Semester  fallen  zu  lassen  denke, 
in  Rücksicht  auf  das  Studium  des  Ackerbaus  dem  eignen  Studium 
und  Besuchen  in  Mögelin  gewidmet  seyn.  Glaubten  Ew.  p.,  dass 
die  Ausführung  einer  solchen  Idee  nicht  unmöglich  wäre,  so  würde 
ich  Sie,  Sich  näher  mit  mir  über  die  Art  und  die  Bedingungen 
zu  erklären,  ergebenst  einladen. 

Der  zweite  Weg  wäre  allerdings  viel  weniger  wohlthätig  für 
die  Universität.  Es  wäre  der,  dass  Ew.  p.  mir  jemanden  vor- 
schlügen, der  die  Vorlesungen  hier  hielte,  aber  so,  dass  Ew.  p. 
dieselben  aus  der  Ferne  dirigirten,  manchmal  selbst  die  Zuhörer 
zu  prüfen  und  kennen  zu  lernen  herkämen,  und  bestimmten, 
welche  davon  nach  und  nach  durch  das  theoretische  Studium  zum 
praktischen  in  Mögelin  reif  geworden  wären.  Auch  hierüber  er- 
bitte ich  mir  Ihren  Rath. 

Im  Fall  Ew.  p.  Sich  leider  nicht  im  Stande  sehen  sollten, 
meinen  ersten  Vorschlag  anzunehmen,  und  der  zweite  Ihnen  für 
das  Studium  selbst  nicht  hinlänglich  schiene,  so  bliebe  nichts 
andres  übrig,  als  dass  man  einen  andern  Gelehrten  zum  Professor 
des  Ackerbaus  wählte.  Je  schwieriger  hier  die  Wahl  seyn  dürfte, 
desto  mehr  muss  ich  Ew.  p.  ergebenst  ersuchen,  mir  auch  des- 
halb in  diesem  Fall  Ihre  Gedanken  zu  eröffnen,  und  mir  über- 
haupt und  ganz  nach  Ihren  eignen  Erfahrungen  zu  sagen,  was  Sie 
überhaupt  von  der  Einrichtung  des  Studiums  der  Sie  interessiren 
den  Wissenschaft  auf  der  hiesigen  Universität  gerade  halten.    Die 


«j^  3.    Amtliche  Arbeiten  aus  den  Jahren   1809  und    1810. 

Wichtigkeit  des  Gegenstandes  wird,  wie  ich  mir  schmeichle,  mich 
der  Nothwendigkeit  überheben,  die  Unbescheidenheit  dieser  Bitte 
zu  entschuldigen. 

Ew.  p.  werden  zwar  vermuthlich  gehört  haben,  dass  ich  seit 
kurzem  zum  Gesandten  in  Wien  bestimmt  bin.  Auch  lege  ich 
wirklich  meinen  jetzigen  Posten  mit  dieser  Woche  nieder,  und 
verlasse  Berlin  mit  Ende  künftigen  Monats.  Allein  des  Herrn  Staats 
Ministers  Grafen  zu  Dohna  Excellenz  wünschen,  dass  ich  während 
meiner  Anwesenheit  hier  noch  die  auf  die  (Jrganisation  der  hiesigen 
Universität  Bezug  habenden  Geschäfte  führen  möge,  und  auf  diese 
Weise  werde  ich  noch  immer  im  Stande  seyn,  Ew.  p.  zu  beweisen 
wie  gern  ich  Ihren  Rathschlägen  Folge  leiste. 

Berlin,  den  20.  Junius,   [810. 

Humboldt. 

1.    Antrag  auf  Anstellung  Schleiermachers  in  der 

Sektion.^) 

Berlin,  den  22.  Junius,  1810. 
An  des  Königs  Majestät. 

Ew.  Königlichen  Majestät  sehe  ich  mich  genöthigt,  ehe  ich  die 
mir  bisher  anvertraut  gewesene  Führung  der  Section  des  Cultus 
und  öffentlichen  Unterrichts  niederlege,  noch  einen  allerunterthänig- 
sten  Antrag  in  Ansehung  derselben  zu  machen. 

Obgleich  die  Organisation  der  Section  im  Ganzen  als  vollendet 
angesehen  werden  kann,  so  hat  dieselbe  doch  noch  immer  drei 
Räthe  weniger,  als  ihr  die  Verordnung  vom  24.  November,  1808 
bestimmt.  Die  Anstrengung,  mit  welcher  alle  Mitglieder,  wie  ich 
ihnen  dies  ehrenvolle  Zeugniss  pflichtmässig  ablegen  muss,  unaus- 
gesetzt gearbeitet  haben,  hat  zwar  verhindert,  dass  dieser  Mangel 
in  den  Geschäften  der  Section  fühlbar  geworden  ist.  Allein  es 
ist  auch  bei  jeder,  auch  nur  augenblicklichen  Abwesenheit  oder 
Verhinderung  eines  Raths  immer  eine  sichtbare  Verlegenheit  ent- 
standen, und  wenn  ein  solcher  Zufall,  wie  doch  so  leicht  ge- 
schehen kann,  einmal  zwei  Mitglieder  zugleich  getroffen  hätte, 
wäre  eine  Stockung  unvermeidlich  gewesen.  Im  gegenwärtigen 
Augenblick  bringt  nun  mein  Abgang,  da  wenigstens  für  jetzt 
niemand  an  meine  Stelle  tritt,  eine  neue  Lücke  hervor. 

')  Eigenhändiger  Entwurf. 


li.    Verschiedenes,  k. 


V9 


Um  diese,  aui  eine  den  Geschäften  höchst  zweckmässige,  und 
zugleich  für  Ew.  Königlichen  Majestät  Gassen  weniger  lästige  Weise 
auszuiüllen,  hielte  ich  es  für  gut,  den  Professor  und  Prediger 
Schleiermacher  zum  Mitglied  der  Section  des  öÜ'entlichen  Unter- 
richts zu  ernennen. 

Dieser  Mann  ist  als  Gelehrter  hinlänglich  bekannt,  um  von 
dieser  Seite  mit  Recht  der  obersten  wissenschaftlichen  Behörde 
beigesellt  zu  werden.  Ich  habe  mich  aber  auch  dadurch,  dass 
er,  als  Director  der  wissenschaftlichen  Deputation,  den  Sitzungen 
der  Section  seit  einiger  Zeit  beigewohnt,  und  an  ihren  Arbeiten 
thätigen  Antheil  genommen  hat,  überzeugt,  dass  es  ihm,  was 
nicht  immer  bei  Gelehrten  der  Fall  ist,  sehr  gut  gelingt,  sich  in 
den  formellen  Geschäftsgang  zu  linden,  und  mit  Leichtigkeit  und 
Fertigkeit  darin  zu  arbeiten.  Er  würde  sich  zugleich  mit  einem 
Gehalte,  das  geringer  als  das  StaatsrathsGehalt  wäre,  begnügen, 
und  ich  wüsste  auf  diese  Weise  keinen  Weg  vorzuschlagen,  auf 
dem  es  möglich  wäre,  der  Section  ein  so  ausgezeichnetes  Mitglied 
mit  gleich  geringem  Aufwände  zu  verschaffen. 

Aus  diesen  Gründen  wage  ich,  bei  Ew.  Königlichen  Majestät 
ehrfurchtsvoll  dahin  anzutragen, 

den  Professor  und  Prediger  Schleiermacher  zum  Mitgliede 
der  Section   des    öffentlichen   Unterrichts   mit    einem   vom 
I.   Julius  c.  ab  zahlbaren  Jahrgehalte   von    2000  Rth.   huld- 
reichst zu  ernennen,   zugleich   aber  zu   gestatten,   dass   er» 
wenigstens   für   dies   Jahr,    und   wenn    im    künftigen    kein 
gleich  taugliches  Subject  dazu  gefunden  werden  sollte,  auch 
Director   der  wissenschaftlichen  Deputation  bleiben  könne. 
Der  p.  Schleiermacher  würde  neben  dieser  seiner  Stelle 
in  der  Section  sein  Predigeramt  an  der  Dreifaltigkeitskirche 
beibehalten   können,   wenn   ihm   nur  mit  Ew.  Königlichen 
Majestät    huldreicher  Erlaubniss    nachgelassen  würde,    die 
kleinen  Amtsverrichtungen    dabei    durch    einen   ordinirten 
Candidaten  verrichten  lassen  zu  dürfen. 
Geruheten  Ew.  Königliche  Majestät  allergnädigst,  diesen  Antrag 
zu  genehmigen,   so   würde   in   der  Folge  nur  noch  ein  zur  Bear- 
beitung   finanzieller    und    ökonomischer    Gegenstände    geeignetes 
Mitglied   in   der  Section  nothwendig  seyn,  und   auch  dazu  dürfte 
sich  vermuthlich  ein  nicht  sehr  kostbarer  Weg  auffinden  lassea 

Berlin,  den  22.  Junius,  1810. 

Humboldt. 


Nachwort, 


Der  vorliegende  dreizehnte  Band  war  bis  zum  neunzehnten  Bogen 
gedruckt,  der  zwanzigste  Bogen  gesetzt,  als  den  Fortgang  der  Aus- 
gabe das  vorzeitige  Hinscheiden  Erich  Schmidts,  ihres  geistigen  Vaters 
und  Leiters,  aufs  schtnerzlichste  unterbrach. 

Nachdem  durch  die  verständnisvolle  Fü/rsorge  des  Preussischen 
Kultusministeriums  die  Verbreitung  der  Ausgabe  im  Kreise  der 
höheren  U^iterrichtsanstalten  gefördert  war,  gelang  es,  dank  der  im 
Amt  des  Herausgebers  unermiidet  d)ewährten  Arbeitskraft  und  Pflicht- 
treue Albert  Leitzrnanns,  der  seinerzeit  im  Einverständnis  mit  der 
Familie  Humboldt  das  ganze  Unternehmen  angeregt  hatte,  die  Ab- 
teilung  der  Tagebücher  inmitten  der  Nöte  des  Weltkriegs  anzufangen 
und,  wenn  auch  unter  grossen  Opfer^i  des  neuen  Inhabers  des 
Behrschen  Verlages  (Friedrich  Feddersen),  zu  volletiden. 

Angesichts  der  ungeheuerlichen  Teuerung  im  Druckgewerbe,  die 
eine  Fortführung  des  Drucks  für  die  nächsten  Jahre  unmöglich 
macht,  schien  es  der  Akademie  nun  aber  Pflicht,  vom  dreizehnten 
Band  alles  was  fertig  war  für  sich  allein  der  Öflentlichkeit  endlich 
zu  übergeben:  namentlich  die  längst  von  vielen  Seiten  erwartete 
Mitteilung  des  neuen  Fundes,  der  Abhandlung  über  die  Basken, 
durfte  nicht  weiter  verzögert  werden.  Der  noch  ausstehende  Rest 
der  Nachträge  zu  den  Politischen  De?tkschriften  wird,  sobald  es  die 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  zulassen,  als  Ergä?tzu?igsband  erscheinen. 
Auch  für  die  vorbereitete  und  angekündigte  Abteilung  der  Briefe 
wird  mafi  bessere  Zeiten  abwartest  müssen. 

Es  ist  so  ein  Abschluss  dieser  Atisgabe,  die  das  Denkmal  einer 
eingelösten  Ehrenschuld  sein  soll,  für  die  Gesamtheit  der  eigentlichen 
Schriften  Wilhelm  von  Humboldts  erreicht  u?id  dem  grossen  Wieder- 
hersteller der  geistigen  Arbeit  in  Preussen,  desse7i  Name  bei  der 
Jahrhundertfeier  der  Berliner  Universität  vor  Glückwunsch  spendenden 
Gästen  aller  Natione?i  so  feierlich  und  nachdrucksvoll  erklang,  die 
Bahn  eröffnet  zu  neuer  Wirkung  auf  sein  Volk  und  auf  alle  Welt. 

Berlin,  den  j.  Oktober  ig20. 

Konrad  Bur dach. 


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