Wilhelm von Humboldts
Gesammelte Schriften.
Wilhelm von Humboldts
Gesammelte Schriften.
Herausgegeben von der
Preussischen Akademie der Wissenschaften.
Band Xm.
Erste Abteilung:
Werke XIII.
Berlin
B. Behr's Verlag
(Friedrich Feddersen)
1920.
n^cir
Wilhelm von Humboldts
Werke.
Herausgegeben von
Albert Leitzmann.
Dreizehnter Band.
Nachträge.
Unter Mitwirkung von Siegfried Kahler
und Eduard Spranger.
^cS^^
fEm^rM^sirt
Berlin
B. Behr's Verlag
(Friedrich Feddersen'i
1920.
Inhalt
Seite
[. Die Vasken oder Bemerkungen auf einer Reise durch Biscaya und das
französische Basquenland im Frühling des Jahrs i8oi i
2. Zwei amtliche Berichte aus der römischen Zeit (bearbeitet von Siegfried
Kahler) , igj
j. Amtliche Arbeiten aus den Jahren i8og und i8w (bearbeitet von Eduard
Spranger) 207
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion für den Kultus und öffent-
lichen Unterricht 209
B. Über die Organisation des Medizinalwesens 25^
C. Der königsberger und der litauische Schulplan 259
D. Bericht an Altenstein über die Finanzgrundsälze der Sektion . . . 28J
E. Verschiedenes ......' 2go
Nachwort (von Konrad Burdach) 320
Alle Rechte vorbehalten.
I.
Die Vasken,
oder
Bemerkungen auf einer Reise durch Biscaya und das französische
Basquenland im Frühling des Jahrs 1801.
nebst
Untersuchungen über die Vaskische Sprache und Nation, und einer
kurzen Darstellung ihrer Grammatik und ihres Wörtervorraths.
Handschrift (ausser dem Titel- und dem Widmungsblatt 251 halbbeschriebene
Quartseiten) im Besitz des Freiherrn von der Lancken- Wakenitz auf Günthersdorf.
Sie ist mit dem Tagebuch der baskischen Reise zusammengebimden.
W. V. Humboldt, Werke. XHI. I
Herrn Bockelmann
in Hamburg gewidmet.
An des Biscayischen Golfs einsam umfluteten Küsten
Wallt' ich, Theurer, mit Dir einst in den Tagen des Mays.
Möge der Sehnsucht Flamme jetzt mild dir den Busen umspielen,
Da dies erinnernde Blatt dankbar dir weihet der Freund !
Versteckt zwischen Gebirgen, wohnt zu beiden Seiten der
WestP^Tenaeen ein Völkerstamm, der eine lange Reihe von
Jahrhunderten hindurch seine ursprüngliche Sprache, und grossen-
theils seine ehemalige Verfassung und Sitten erhalten und sich,
nach dem glücklichen Ausdruck eines neueren Schriftstellers,') eben-
sowohl dem Auge des Beobachters, als dem Schwerdt der Erobrer
entzogen hat — der Stamm der Vasken *) oder Biscayer. Wie die
*) Man geräth in Verlegenheit, wenn man den ganzen Stamm der Biscayischen
Nation mit Einem Namen benennen will, und man sucht vergebens nach einem, der
einstimmig von Spaniern, Franzosen und Deutschen angenommen wäre. Die Franzosen
kennen schlechterdings keine allgemeine Benennung. Sie sagen : Biscciyens, wenn sie
von den Spanischen, Basqiies, wenn sie von den Französischen Vasken reden, und
nehmen im Nothfall ihre Zuflucht zu dem alten Namen : Cantabres. Die Spanier
schränken den Namen Vizcaya nur auf die eigentliche Herrschaft, el Sefiorio, ein,
und sagen übrigens von dem Lande: las provincias Bascongadas, und von der
Sprache el Bascuence. Die Bewohner benennen sie nach den einzelnen Provinzen :
Vizcainos, Guipuzcoanos, Alaveses. So hat dieser unglückliche Völkerstamm selbst
bis auf die Einheit seines Namens verloren. Um zugleich kurz und deutlich zu seyn,
und alle bei diesen verschiednen Nationen üblichen Namen zu benutzen, werde ich
mich folgender Benennungen bedienen. Wenn von dem ganzen durch das Basquenland,
Biscaya und Navarra verbreiteten Stamm die Rede ist : Vasken ; wenn ich von dem
Spanischen Antheil des Landes rede : Biscaya ; wenn ich von den der Französischen
Republik unterworfenen Vasken spreche : Basquen ; wenn ich das sogenannte Sefiorio
besonders meyne : Vizcaya.*) — Eigennamen von Personen und Oertern werde ich, bei
der Verschiedenheit der Vaskischen Dialecte, immer so schreiben, wie es der Dialect
des Districts, dem sie angehören, mit sich bringt.
^) Ich kann den Ursprung dieses Zitats nicht nachweisen.
^) Nach „Vizcaya" gestrichen: „Diese Benennungsart wähle ich jedoch
mehr ihrer Bequemlichkeit als ihrer Richtigkeit wegen. Denn sonst Hessen sich
selbst gegen den neuerlich, und soviel ich weiss, zuerst von (gestrichen : „Herrn")
Schlözer gebrauchten Namen Vasken nicht ungegründete Einwürfe machen.
Doch hievon erst nachher bei der etymologischen Untersuchung des Namens
der Nation."
Q Die Vasken.
Häupter der Berge, deren waldigte Abhänge sie umwohnt, sich
aus den Revolutionen des Erdkörpers, ^) so hat sich diese kleine
Völkerschaar aus den gewaltigen Stürmen ') gerettet, welche seit
dem Sinken der Römischen Herrschaft das südwestliche Frank-
reich und Spanien heimsuchten. Selbst in neueren Zeiten in zwei
sehr ungleiche Theile zerrissen und zwei grossen und mächtigen
Nationen untergeordnet, haben die Vasken dennoch keineswegs
ihre Selbstständigkeit aufgegeben. '^} Sich mit keinem ihrer Nach-
barn vermischend, *) sind sie, aller Fortschritte des Luxus und der
Verfeinerung um sie her ungeachtet, in einem Zustand ursprüng-
licher Sitten-Einfalt ^) geblieben, und haben immerfort die Eigen-
thümlichkeit ihres Nationalcharakters, und vor allem den alten Geist
der Freiheit und Unabhängigkeit bewahrt, den schon die Griechi-
schen und Römischen^) Schriftsteller an ihnen preisen.
Auch in andern Theilen Europens giebt es einzelne Völker-
haufen, die, durch den Drang geV^^altsamer Revolutionen in ein-
same Bergthäler oder an dürre und unwirthbare Seeküsten zurück-
getrieben, mit einem Trotz, den das Unglück ehrwürdig macht,
ihre väterliche ') Sprache und Sitten ^) aus dem Strome der allge-
meinen Verwüstung gerettet haben, und nun theils aus Gewohn-
heit, theils aus edlerem Nationalstolz jedes Zusammenschmelzen ^)
mit ihren fremden Nachbarn hartnäckig verweigern.^") So stehen,
und einige unter ihnen vielleicht nicht mehr auf lange Zeit, die
NiederBretagner in Frankreich, in England ihre Brüder, die
Bewohner von Wales, in Schottland die Hochländer, in Süd- und
NordDeutschland die einzeln zerstreuten Wendischen Völker-
schaften, in Schweden die tapfern Dalecarlier, an den Busen der
Ostsee die Esten und Liven, und einige andre noch unbedeuten-
dere Stämme in Italien und auf den Italiänischen Inseln, gleichsam
*) Nach „Erdkörpers" gestrichen: „erhalten haben''.
^) „Stürmen" verbessert aus „Völker stürmen".
*) Nach „aufgegeben" gestrichen: „Sie haben".
*) „vermischend" verbessert aus „beträchtlich vermischt".
^) „ursprünglicher Sitten-Einfalt" verbessert aus „der Einfalt oder der
Wildheit der Sitten (denn beide Ausdrücke passen auf verschiedene Vaskische
Cantons)".
•*) „Griechischen und Römischen" verbessert aus „alten".
') „väterliche" verbessert aus „alte".
^} Nach „Sitten" gestrichen: „fest umklammernd, beide".
^) „jedes Zusammenschmelzen" verbessert aus ,Jeder Vermischung".
^°) „verweigern" verbessert aus „widerstehen".
Einleitung. n
als lebendige Ruinen von ebensoviel ehemals mächtigen und weit-
verbreiteten Nationen da. Allein keinem unter allen diesen
Stämmen ist es so sehr, als den Vasken, gelungen sich noch bis
auf den heutigen Tag eine') selbstständige politische Verfassung
und einen ^) blühenden Wohlstand zu verschaffen, keinem so als
ihnen, viele der w^ohlthätigsten Früchte Europaeischer^) Auf-
klärung ') glückhch mitten in ihre Einöden zu verpflanzen, ohne
darum doch ihre Eigenthümlichkeit und ihre ursprüngliche Ein-
fachheit aufzugeben. Diesen Vorzug verdanken sie offenbar ihrer
Lage zwischen den P3Tenaeen und dem Oceane, die sie auf der
einen Seite vor feindlichen Einfällen sichert und selbst den zu
häufigen Verkehr mit ihren Nachbarn einschränkt, auf der andern
aber ihnen den Weg zur Gemeinschaft mit allen Nationen und
zum Handel mit allen Welttheilen eröfnet. In dieser ihrer geo-
graphischen Lage muss man auch den Schlüssel ihrer ganzen,
und besonders ihrer früheren Geschichte suchen.
Das Schicksal der Süd- und Nordküste Spaniens wurde vor-
zügHch durch die Meere bestimmt, welche beide bespülen. Jede
schönere Blüthe früher Cultur sprosste allein an den Ufern des
glücklichen Mittelmeers. Früh von Phoeniciern, Garthagern, und
Griechen beschifft, trug dies auch schon in den ältesten Zeiten
die Fremdlinge des verfeinerten Orients dem gesegneten Baetika
zu, und bald wimmelte das heutige Andalusien, Valencia und
Gatalonien, von Gades bis Emporium hinauf, von Pflanzstädten
verschiedener Völker. Allein hinter Gades erhoben sich ^) die ge-
fürchteten Säulen des Herkules, und hier begann das Reich der
Fabel und des Wahns ; die Sonne, glaubte man, tauchte sich da mit
Gezisch in den Ocean, auf die Helle des Tages folgte unmittelbar
und ohne alle Dämmerung die Finsterniss der Nacht, und so ver-
hinderte abergläubischer Wahn, verbunden mit Unkunde der
Schiffarth, auch nur den kurzen Weg durch die Meerenge von
Gibraltar hindurch bis an die West-Küsten Portugalls und Spaniens
fortzusetzen. Einzelne Handlungsschiffe gingen zwar unstreitig
sogar noch viel weiter und bis nach Britannien hinauf, aber die
Gewinnsucht hüllte diese Schiffarth gern in geheimnissvolles
Dunkel, um allein im Besitz des Vortheils zu bleiben, den sie
gewährte. Auf diese Weise sähe Gallicien zuerst unter Caesar,
^) Gestrichen: „so".
^) Nach „Europaeischer" gestrichen: „Cultur und".
*) „erhoben sich" verbessert aus „waren".
g Die Vasken.
und der Vaskische Meerbusen erst unter August eine Römische
Flotte. Ja die letztere umschiffte nicht einmal die ganze Nord-
küste Spaniens, sondern kam nur von Aquitanien aus dahin.*)
Bis auf diese Zeit lebten also die Völker dieser Gegenden fast
ohne alle Gemeinschaft mit Fremden und behielten daher alle bis
zum Ende des Cantabrischen Krieges (im [734.] Jahre Roms), einige
sogar noch nachher, die immer mit dieser Absonderung ver-
bundne rauhe und unbändige Wildheit. Dazu kam noch die Be-
schaffenheit des Landes, ^) das kalt, bergigt und unfruchtbar, auch
die Gefahren der Schiff"arth und die Beschwerden des Landwegs
abgerechnet, niemand reizen konnte, es zu besuchen.**) Was
also Spanien an uralten Bewohnern besass, man mag dieselben
nun für ursprünglich Iberische Stämme, oder schon in den frühesten
Zeiten mit Kelten und andern Fremdlingen vermischt, annehmen,
kann ^) man allein in dieser Gegend, an der Küste des einsamen
und unbesuchten Oceanes antreffen, ^) und je mehr der Süden
des Landes von Karthagern und Römern, bald verwüstet, bald
erobert wurde, desto mehr drängten sich die des Jochs unwilligen
Urbewohner in die Nähe des Weltmeers und der Pyrenaeen zu-
sammen.
In der grossen Völkerwanderung, wo Spanien der Tummel-
platz vieler*) streitenden Nationen wurde, sahen zwar die Pyre-
naeen den Durchzug mehrerer fremden Völkerstämme. Allein
theils wählten dieselben die bekanntere Südküste durch Roussillon
und Catalonien, theils konnten nach Beute begierige Barbaren,
das reiche und gesegnete Spanien im Auge, keine Lust haben,
sich beim Eingang mit der Besiegung eines armen und tapferen
Volks aufzuhalten,^) und so blieben'') die Vasken auch damals
abgesondert und unabhängig. Selbst die Mauren drangen nie tief
in das Land ein, sondern machten nur einzelne Streifzüge nach
*) Orosius. /. 6. c. 2i. (? Mann. 255.)'')
**) Strabo. /. 3. p. 200. 234. (ed. Almeloveenii)
^) Nach „Landes" gestrichen : „selbst".
^) „kann" verbessert aus „miiss".
^) ,.antreffen" verbessert aus „aufsuchen".
*) „vieler" verbessert aus „mehrerer".
•*) „sich — aufzuhalten" verbessert aus „ein armes imd tapjeres Volk
zu unterjochen".
®) „blieben" verbessert aus „erhielten sich".
') Mannerts geographisches Werk ist Band 4, 66 Anm. i nachgewiesen.
Einleitung. q
Alaba. ^) Dadurch setzten sich die Ueberbleibsel des Vaskonischen
Stammes nach und nach in den natüriichen Gränzen fest, die sie
noch jetzt einnehmen, wo sie gegen Norden das Meer, gegen
Osten die Kette der Pyrenaeen, und gegen Westen und Süden
das Gebirge einschliesst, das am linken Ufer des Ebro Vizcaya,
Alaba, und Xavarra von AltCastilien scheidet. Auf der Franzö-
sischen Seite der Pyrenaeen erstrecken sie sich nur sehr wenig
ins Land hinein, und haben -) bloss die zunächst um den Fuss
des Gebirgs liegenden Ortschaften inne.
Jetzt stehen^) ihnen zwar nicht leicht mehr*) gewaltsame
Erschütterungen bevor, vielmehr können die Vaskischen Provinzen
in Spanien und Frankreich einem steigenden Wachsthum ihrer
Bevölkerung und ihres Wohlstandes entgegensehn. Aber ihrer
nationeilen Eigenthümlichkeit bereiten desto sichrer die langsamen^)
Einflüsse den Untergang, welche, bei der wechselseitigen Berührung
fast aller Punkte Europens unter einander, jeden geringeren Haufen
in unsern Tagen seinen ausschliessenden Charakter aufzugeben ^)
nöthigen. Sie verdrängen nach und nach ihre Sprache und mit
dieser geht nothwendig zugleich auch jene ') verloren. Schon
jetzt muss dieselbe, von allen Seiten verfolgt, und am stiefmütter-
lichsten gerade von dem aufgeklärtesten Theile der Nation be-
handelt, von Jahrzehend zu Jahrzehend tiefer in das Gebirg zu-
rückweichen, und es ist vorauszusehen, dass ihr Verfall, ^) von
nun an, einen noch mehr beschleunigten Gang nehmen wird. Die
schnelle Abnahme, welche die provenzalische und tolosanische
Mundart im südlichen Frankreich seit dem Anfange der Revolu-
tion erfahren hat, giebt davon ein warnendes und lehrreiches Bei-
spiel. In weniger als einem Jahrhundert also wird vielleicht das
Vaskische aus der Reihe der lebendigen Sprachen verschwunden
seyn, und sogar in neuern Zeiten gab es ähnliche Erscheinungen. ^)
*) „nach Alaba" verbessert aus „in Alaba hinein".
^) „haben .... inne" verbessert aus „besitzen".
^) „stehen .... bevor" verbessert aus „drohen".
*) „nicht leicht fnehr" verbessert aus „keine".
^) Nach „langsamen" gestrichen: „doch um desto gewisser wirkenden".
") „seinen — aufzugeben" verbessert aus „sich mit Aufopferung seiner
ausschliessenden Eigenthümlichkeit an die grösseren Ganz . . . ."
'') Jene" verbessert aus „ihre abgesonderte Nationalitaet".
*) „ihr Verfall" verbessert aus „die Ursachen, die dies bewirken".
^) „und — Erscheinungen" verbessert aus „und diese Erscheinung wäre
dann schon nicht einmal in unsern Zeiten die erste in ihrer Art."
jQ Die Vasken.
Denn auf gleiche Weise starb im Anfange des achtzehnten Jahr-
hunderts die AltPreussische Sprache mit einigen Greisen in einem
Winkel von Samland*) aus, und in unsern Tagen sahen wir eine
Mundart des Kymrischen in Cornwallis**) untergehen.
Es scheint einmal in dem Gange der menschlichen Cultur ^)
unwiderruflich bestimmt, dass auf einer gewissen Stufe der Bildung
die Unterschiede hinwegfallen müssen, welche kleine Völkerhaufen
von einander absondern, und dass nur grosse Massen in gemein-
schaftliche Wirksamkeit treten dürfen. Ganze Nationen zu be-
deutenden intellectuellen Fortschritten zu veranlassen, und vor-
züglich sie vor jedem möglichen Rückfall in Barbarei und Un-
wissenheit zu sichern, fodert grosse politische Mittel; die Mannig-
faltigkeit der daraus entstehenden neuen Verhältnisse bringt Mannig-
faltigkeit und Neuheit in den Ansichten und Ideen hervor; und
der menschliche Geist wäre ohne das erweckende Schauspiel einer
heftigen und fast allgemeinen Reibung der menschlichen Kräfte
vielleicht nie zu einigen seiner erhabensten Entdeckungen gelangt.
Ob indess nicht auch dies eine Gränze kennt, ob nicht die Bildung
wiederum einen Punkt erreicht, auf dem es eben so nothwendig
ist, Einbildungskraft und Gefühl in einen engen Kreis einzuschliessen,
als den Verstand in eine weite Sphäre zu führen, um dem Charakter
die Wärme und Kraft zu erhalten, ohne die nichts in ihm Frucht
tragen kann? ist eine andre und gewiss nicht unwichtige Frage.
Allein ohne auch in diese Untersuchung einzugehen, erregt
der Untergang eines Völkerstamms, sollte er gleich als ein dem
wohlthätigen Geschick der ganzen Menschheit dargebrachtes Opfer
fallen, immer eine wehmüthige Empfindung und noch mehr der
gänzliche Untergang einer Sprache. Den Menschen sind wir einmal
gewohnt uns vergänglich zu denken; also wenn auch der Laut auf
ewig verstummt, in dem er sonst sich selbst überlebt, ■^) wenn die
Form zerbrochen wird, in die ein eigner Menschenstamm seine ^)
*) Praetorii Nachricht von der Preussischen Sprache in Actis Bornss. V. 2.
p. 900. (? Schlözers Nord. Gesch. p. 9. 34.) *)
**) Steht, wenn ich mich nicht irre, in den Origines Gauloises. p. 114.
^) „Cultur" verbessert aus „Schicksale".
*) „in — überlebt" verbessert aus ,,der sonst Menschenalter an Menschen-
alter knüpft".
^) „ein eigner Menschenstamm seine" verbessert aus „eine eigne Menschen-
gattung ihre".
*) Vgl. Band 6, 1^6 Anm. i.
Einleitung. I j
Gedanken und Empfindungen goss,^) dann scheint sein Untergang
doppelt wehmüthig, weil nun alle Verbindung zwischen ihm und
der Folgezeit hinweglällt. Selbst wenn eine Sprache, noch durch
keine Literatur verfeinert, nur der reine Ausdruck der Denkart
eines rohen Volkes ist, bleibt ihr Verlust keinesweges gleichgültig.
Denn auch in der höchsten Cultur giebt es unläugbar einen Punkt,
auf dem die zartesten -) Regungen der verfeinerten Empfindung
von selbst in die einfachen Ergiessungen des natürlichen Gefühls
zurückkehren, und auf dem in einer wahrhaft cultivirten Nation
die am sorgfältigsten ausgebildeten Individuen in fortwährender
und gegenseitiger Berührung mit dem schlichten, aber gesunden
Theile des Volks stehn.
Gerade dadurch, dass die Vaskische Sprache Volkssprache ist,
und dass man in den Vasken mehr gesunde Richtigkeit des
Unheils, als wissenschaftliche Bildung, mehr natürlich warmes und
lebendiges Gefühl, als verfeinerte Empfindsamkeit suchen muss,
flösst diese Sprache und diese Nation^) ein noch lebendigeres*)
Interesse ein. Sobald eine Sprache literarische und wissenschaft-
liche Bildung bekommt, wird sie den Händen des Volks entrissen,
und selten gewinnt sie nachher noch'^) an Energie oder Reichthum.**)
Denn immer empfängt sie ein sinnlicheres '^) und mannigfaltigeres
Gepräge in dem Gebrauche *) des Volks, als in dem der Schrift-
steller; sie muss erst im Munde eines kräftigen und weit ver-
breiteten Völkerstamms (dessen ursprünghches Eigenthum sie ist)
zum Ausdruck der unmittelbarsten Bedürfnisse, der natürlichsten
Empfindungen, der kindlichsten Phantasie, ja selbst der rohesten
Leidenschalten gedient haben, ehe sie unter späteren verfeinerten
^) Nach „goss" gestrichen: „nun bis zur Vertilgung ihrer letzten Spur ver-
nichtet wird, können daher wohl nur diejenigen mit Gleichgültigkeit untergehen
sehen, die auf alles, was sie roh und ungebildet nennen, mit schnöder Verachtung
hinabschauen, und nicht hohe Menschlichkeit genug in sich tragen, um den
zarten Punkt zu erkennen, yvo . . . ."
^) „zartesten" verbessert aus „feinsten".
^) Nach „Nation" gestrichen : „demjenigen, der den Menschen nicht bloss in
Individuen, sondern auch in Massen zu beobachten liebt".
*) „lebendigeres" verbessert aus „höheres".
^) „nachher noch" verbessert aus „durch die Berichtigung imd Erweiterung,
die sie nachher erhält".
^) Nach „Reichthum" gestrichen : „meistentheils vielmehr biisst sie dadurch an
beiden zugleich ein."
') „sitinlicheres" verbessert aus „kräftigeres".
*) „Gebrauche" verbessert aus „Munde".
j2 Die Vasken.
Generationen durch Lebendigkeit, Stärke und Tiefe zum höchsten
geistigen Gebrauch fähig werden kann. Der Mensch ist einmal
bestimmt, sich gesellschaftlich auszubilden; der einzelne muss
sich immer an eine Masse anschliessen, und alles Menschliche
berührt sich zugleich in der Einfachheit der Natur und der
höchsten Blüthe der Ausbildung. Ohne einen entschiednen, festen
und kräftigen Volkscharakter erwartet man daher vergebens auch
in der feinsten Bildung einer Nation Wahrheit, Stärke und Haltung.
Je unermesslicher aber die Kluft zwischen dem Volk und den
gebildeten Ständen der Nation wird, desto seltner wird auch die
Erscheinung von Volkscharakteren. ^) Will man daher dieselben
noch jetzt in reger und lebendiger Thätigkeit sehen, so muss man,
gerade der Cultur ausweichend, in Gegenden gehen, wohin sie noch
weniger gedrungen ist. Bei den Vasken aber kommen noch ausser-
dem mehrere Umstände zusammen, die Erscheinung auffallender
und belehrender zu machen.
Die Vasken, vorzüglich die Spanischen, sind nicht bloss arme
Gebirgshirten oder gar unterdrückte Leibeigne. Sie sind ein
Ackerbau, Schif farth und Handlung treibendes Volk und ermangeln
des körperlichen Wohlstandes nicht, ohne den alles sittliche Ge-
deihen unmöglich ist. Sie haben eine freie Verfassung, öffentliche
Berathschlagungen grossentheils in ihrer Landessprache, also ein ge-
meinschaftliches Interesse, das jeden angeht und für das jeder
thätig seyn kann. Von einem, manchem Fremden vielleicht wunder-
bar scheinenden Enthusiasmus für ihr Land und ihre Nation beseelt,
bleiben auch die Begüterten, auch die, welche Ehrentitel in Casti-
lien empfangen, oder angesehene Aemter bekleidet haben, gern
ihrer Heimath getreu, und in dieser leben sie nothwendig in einer
'■) „sie muss — Volkscharakteren" verbessert aus „und wenn einige neuere
Sprachen sich vorzugsweise vor andern durch Lebendigkeit, Stärke und Tiefe des
Ausdrucks auszeichnen, so rührt dies vielleicht nur davon her, dass sie länger,
als jene, bloss Volkssprachen waren, oder von weiter verbreiteten, oder kräftigeren
Stämmen gebildet wurden. Ueberhaupt beachtet man wohl nicht genug die
Wichtigkeit der Ausbildung, welche das Volk durch den blossen freien, aber
wohlgeregelten Gebrauch seiner Kräjte, ohne wissenschajtliche Cultur, sich selbst
zu geben im Stande ist. Gewiss aber ist dieselbe einer Nation nicht bloss für ihren
Wohlstand und ihre Sittlichkeit wichtig, sondern sie wirkt auch auf eine sehr
bedeutende Weise auf ihre Fortschritte in der höchsten und feinsten Entwicklung
von Ideen und Gefühlen ein. Freilich aber ist eine solche Ausbildung in der
heutigen Lage unsrer Cultur, welche die Klujt zwischen dem Volk und den
gebildeten Ständen immer unermesslicher macht, auch immer seltener anzutreffen.''
Einleitung.
13
sogar sehr grossen Gemeinschaft mit der Masse des Volks, da sie
sich ebensowenig von den Sitten als der Sprache desselben aus-
schliessen können. So geht immer ein gewisser Theil neuerer
Aufklärung und Bildung in die Volkssprache und die Volksbe-
griffe über, und es giebt eine minder sichtbare Absonderung der
Stände, deren \"erschiedenheit in den Augen des ächten Vizcayers
sogar gänzlich hinwegfällt. Auch muss es jedem Reisenden schon
an der Physiognomie des Landes und der Menschen sichtbar seyn,
dass in den Vaskischen Pro\dn2en das Volk mehr natürliche Bil-
dung, und die Vornehmen mehr Popularität besitzen, als in dem
benachbarten Spanien und Frankreich. Hierin kann man nur die
kleinen Cantons der Schweitz mit ihnen in Vergleichung stellen,
denen aber ihre politische Unabhängigkeit eine andre äussere und
ihre geringere Absonderung, da sie keinen besondern Völkerstamm
ausmachten, auch eine andre innere Lage gab.
Den Vasken zeichnet Sprache, Verfassung, Sitte, Gesichtsbil-
dung, alles mit einem Wort, was ihn umgiebt, den Anblick seines
Landes selbst nicht ausgenommen, als einen reinen und abgeschie-
denen Völkerstamm aus. Seine tief in ihn verwebte Eigenthümlich-
keit ist durchaus unabhängig von äussern und zufälligen Ursachen;
ja weder nah, noch fern, kennt er einen verbrüderten Stamm,
sondern steht in seinem kleinen Bezirk, zwischen dem Gebirge
und dem Ocean, allein und inselmässig da. Was also reiner
Stammcharakter heisst und wie er entsteht, lässt sich nirgend
besser prüfen, als an ihm. In dem Fortgange der Bildung müssen
freilich die grellen Contraste der Nationalcharaktere abgeschlif-
fen werden, und insofern könnte diese Prüfung nur der Gegen-
stand einer müssigen Neugierde scheinen. Aber einen Theil jener
Charactere sorgfältig zu erhalten und zu nähren, und ihnen auch
in der feineren Bildung, ihn mit in dieselbe hinüberführend,
Gültigkeit zu verschaffen, gehört gewiss zu den nur noch wenig
beachteten Mitteln, einer Nation Kraft und Charakter zu erhalten,
über deren Mangel man so oft gerechte Klage führt. Denn jeder
Versuch der Bildung ist übelverstanden, der nicht den Einfluss
auch der blossen Natur, so viel es geschehen kann, lebendig
erhält.
Die Stammeigenthümlichkeit der Vasken weist auf entfernte
Jahrhunderte, auf die Zeit vor der Römischen und Karthagischen
Herrschaft und die ersten Bevölkerer Spaniens zurück. Sie nimmt
natürlich mit dem häufigeren Verkehr zwischen ihnen und ihren
14
Die Vasken.
Nachbarn nach und nach ab, aber wie sie sich auch in der Folge
vermischen und anders gestalten mag, so wird noch lange Zeit
hindurch immer ein gewisser Theil davon übrigbleiben. Es ent-
stehen daher zwei wichtige Fragen, eine historische und eine po-
litische: woher rührt der Stamm und die Sprache der Vasken,
und mit welchen andern Stämmen und Sprachen smd beide
verwandt? und wie soll die Spanische Monarchie (denn für die
Französische Republik können ihre Vaskischen Districte nur eine
sehr geringe Wichtigkeit haben) die Vaskische Nation behandeln,
um ihre Kräfte und ihren Fleiss für Spanien so erspriesslich, als
möglich, zu machen?
Die erste Frage ist oft aufgeworfen, aber wohl noch nirgends
gründlich beantwortet worden. Fast alle Auflösungen, die man
bisher davon gegeben hat, sind weniger das Resultat einer aus-
führlichen und gründlichen Untersuchung, als willkührliche Ent-
scheidungen der Systemsucht und des Partheigeistes. Auch ist
wohl kein Ausländer, der über diese Materie geschrieben hat (denn
die inländischen Schriftsteller sind aus andern Gründen verdäch-
tig), von einer hinlänglichen Kenntniss der Sprache ausgegangen.
Die zweite Frage hat ein höheres praktisches Interesse, und das
um so mehr, als gerade jetzt der Fall häufiger wird, dass ver-
schiedene Völkerstämme in denselben Staat vereinigt werden.
Man muss aber frei gestehen, dass man bisher wohl immer mehr
daran gedacht hat, nur die Schwierigkeiten hinwegzuräumen,
welche die Verschiedenheit entgegensetzt, als das Gute zu benutzen,
das die Eigenthümlichkeit mit sich führt.
Diese und ähnliche Betrachtungen machten mir, seitdem ich
den Entschluss fasste, Spanien zu bereisen, die Vaskische Nation
und Sprache zu einem anziehenden Gegenstande der Untersuchung.
Ich studirte die Vaskische Grammatik, suchte Nachrichten über
das Land, aber es fehlte mir an den nöthigen Hülfsmitteln, vorzüglich
an dem sehr seltenen Wörterbuch, das keine der verschiedenen
öffentlichen Bibliotheken in Paris, wo ich mich damals aufhielt,
besitzt. Als ich zum erstenmal im Herbst 1799. nach Spanien
gieng, hatte ich nicht Zeit die Vaskischen Provinzen einzeln zu
bereisen ; ^) auch war ich zu fremd in Spanien selbst, als dass ich
eine solche Reise hinlänglich hätte benutzen können. Ich fuhr
nur, wie jeder von Bayonne nach Madrid Reisende, durch den
^) „bereisen" verbessert aus „durchstreifen."
Einleitung. I c
weniger eigenthümlichen Theil des Landes hin. Aber die schöne
Abwechslung freundlich bewachsner Hügel und lieblich durch-
wässerter Thäler, die üppige Frische des Baumwuchses, die sorg-
fältige Bebauung des Landes, in lauter kleinen, meist mit leben-
digen Hecken befriedigten Gartenstücken, die Reinhchkeit der
Dörfer und Städte, und vor allem die muntre und anziehende
Physiognomie der Bewohner, flössten mir schon damals grosse
Lust ein, länger in dieser Gegend zu verweilen. Nach meiner
Rückkunft nach Paris im Sommer 1800. nahm ich mein unter-
brochenes Studium des Vaskischen wieder vor, ich erhielt die
nöthigen Hülfsmittel, das gedruckte Wörterbuch, und ein andres
handschriftliches, das sich in der Sammlung der Nationalbibliothek
befindet, ich las, was die Reisebeschreiber von dem Ländchen
und der Nation sagen, vorzüglich des Engländers Bowles*) zwar
nicht gerade sehr bedeutende, aber mit der Theilnahme an
seinem Gegenstand, die auch den Leser ergreift, geschriebene
Abhandlung, und ging mit mehreren Landeseingebohrnen, Fran-
zosen und Spaniern, um, durch deren Güte ich manche sehr schätz-
bare Nachrichten erhielt. Durch dies alles zusammengenommen
stieg meine Begierde, das Land selbst genau zu durchreisen, aufs
höchste. Denn ich sähe wohl ein, dass eine bloss gesprochene
Sprache nicht anders als an Ort und Stelle erlernt werden könne.
Gerade um diese Zeit, im Anfange des Aprils des vorigen
Jahrs, reiste mein Freund, Herr B. von Paris über Bayonne nach
Cadiz.^) Er schlug mir vor, ihn bis an die Gränze von Castilien
zu begleiten, und da ich gerade hinlängliche Vorkenntnisse ge-
sammelt hatte, die Reise mit Nutzen anzustellen, auch meine Be-
k£inntschaften in Paris mir den Weg zu den interessantesten Männern
in dem Lande selbst öfneten, so fasste ich schnell den Entschluss,
den Vorschlag anzunehmen. Vier und zwanzig Stunden darauf
reisten wir ab ; ich verlebte zwei glückliche Monate theils im Spani-
schen, theils im Französischen Vaskenlande ; und immer werde ich
diesen an den Ufern des ßisca^ischen Busens zugebrachten Früh-
ling für einen der schönsten meines Lebens ansehn.
Mein Hauptaugenmerk bei dieser Reise war die Sprache ; ich
wusste nach den Erkundigungen, die ich eingezogen hatte, vorher,
dass ich einige Personen in dem Lande antreffen würde, welche
*) Indroduccion ä la hist. natural y ä la Geografia fisica de Espana por D.
Guülertno Bowles. Madrid 1775. ^1. 4. S. 281.
') „Cadiz" verbessert aus „Madrid".
Wir waren in neun Tagen von Paris bis Bayonne gereist.
Wir waren an den fruchtbaren Ufern der Loire hin geflogen,
hatten den ehemals berühmten, nun vergessenen Mauern von Blois,
Amboise, Tours, Poitiers und Angouleme einen flüchtigen Blick
geschenkt, waren drei Tage in Bordeaux geblieben, und hatten
endlich durch die wenig bebauten dürren Landen Bayonne er-
reicht.
Wir schickten uns jetzt an, nachdem wir Frankreich fast
seiner ganzen Breite nach im Fluge durchstrichen hatten, das
kleine Vaskenland Schritt vor Schritt zu bereisen. Wir veriiessen
doch aber Bayonne nicht, ohne vorher Biarits zu besuchen, den
gewöhnlichen Badeplatz der Bayonner und eine der reizendsten
Gegenden.
Die Häuser des Orts liegen auf Felsen zerstreut, welche un-
mittelbar das Meer bespült. Der Stein, aus dem der Felsen be-
steht,^) ist sehr locker, und das Meer hat mannigfaltige Holen
darin gebildet; einzelne mächtige Stücke haben sich von ihm los-
getrennt und ragen, zum Theil in beträchtlicher Entfernung vom
Ufer, aus den Fluten hervor, die sich mit majestätischem Brausen
an ihnen brechen. Was man von einer schönen Meeresansicht
erwarten kann, findet sich hier vereint, mahlerisöhe Gestalten eines
felsigten Ufers in der Nähe und ein unbeschränkter-) Blick auf
die ungeheure Fläche. Zur Rechten sahen wir die Gegenden, die
wir nun bald genauer kennen lernen sollten, St. Jean de Luz,
das Spanische Biscaya, die Gebirge von Fontarrabia und Lezo, zur
linken die flacheren Französischen Ufer gegen den Ausfluss des
Adour und die gefürchtete Barre — eine gefähriiche Sandbank
vor demselben.
1) „aus — besteht" verbessert aus „der den Felsen bildet".
2) „unbeschränkter" verbessert aus „freier".
St. Jean de Luz. IQ
Wir verfolgten auf unserm Rückweg zur Stadt das Ufer auf
dieser Seite noch eine Strecke hin. Ueberall fanden wir dieselbe
Beschaffenheit des Ufers, niedrige Felsen von demselben lockern
Gestein das sich in flach über einander geschobenen Lagen ins
Meer hinein erstreckt, und in wunderbar gewundenen und durch-
löcherten Figuren, und der dunkelgrauen Farbe verhärtetem
Schlamme gleicht.
An einer Stelle überraschte uns ein sonderbarer Anblick.
Etwa zweihundert Schritt vom Ufer stand ein einzelner Fels im
Meer, der sich unten in einem weiten Bogen öfnete. Die Fluth
war eben zurückgetreten, und es wimmelte um den Fels von
Menschen, Männern, Weibern, und halb erwachsenen Knaben,
die mit Fischen in der niedrigen Fluth beschäftigt waren. Die
meisten angelten, einige suchten Muscheln, ein Paar Männer
schwammen in dem tieferen Wasser jenseits, und stiegen her-
nach ^) mit vieler Behendigkeit auf den glattgespülten Fels, oben
einige Vogelnester auszunehmen. Die aufgeschreckten Mütter
umflatterten ängstlich ihre zerstörten Nester, und der Haufe unten
nahm einen lebhaften Antheil an dem Erfolge der Jagd. -)
Der Zweck unsres Spatziergangs war eigentlich eine Grotte zu
sehen, die man die Grotte der Liebe [la grotte d'ajnour) nennt.
Wir wurden aber für unsre Anstrengung, da der Tag schon
ziemlich heiss war, sehr schlecht belohnt. Denn die Grotte hat,
ausser ihrem Namen, und der Fabel, dass dort ein Paar Liebende
Zuflucht gegen Verfolgung gefunden hätten, schlechterdings nichts
merkw^ürdiges.
St. Jean de Luz.
Dem Wege von Bayonne nach St. Jean de Luz fehlt es an
Bäumen und Schatten. Sonst würde er durch den Anblick der
Pyrenaeen und des Meers, und die reizend auf kleinen Anhöhen
zerstreuten, immer von ihren Gärten und Ackerbesitzungen um-
schlossenen Häuser von Bidart und Gatal eben so anmuthig ^) als
mahlerisch seyn.
Die Einwohner von Bidart treiben einen beständigen kleinen
') 'Nach „hernach" gestrichen: „ganz nackt, wie sie waren".
*) Nach „Jagd" gestrichen: „Ein schöner Stoff für einen Landschaftsmahler
zum Vordergriinde eines Meerstücks (verbessert aus „für eine Meeresaussicht"). '^
') „anmuthig" verbessert aus „bezaubernd".
20 Die Vasken.
Handel und Waarentransport zwischen St. Sebastian und Bayonne.
Sie bedienen sich dazu sehr kleiner, aber muntrer und starker
Pferde. Dies ganze Geschält aber ist den Weibern und Mädchen
überlassen, da die Männer sich mit Schiffarth und Fischerei be-
schäftigen. Dem Reisenden, der nur eine kleine Excursion in die
nächstgelegnen Gegenden Guipuzcoas vornehmen will, bieten
diese Bidartinerinnen, deren man täglich viele in den Strassen von
Bayonne antrift, die leichteste und sicherste^) Gelegenheit dar.
Sie bringen ihn ohne alle Weitläuftigkeit über die Spanische Grenze,
und ihr Cacaulet ist nicht nur eine äusserst bequeme, sondern
auch sehr gesellschaftliche Art zu reisen,") da immer zwei Per-
sonen auf demselben Pferde reiten. Zu jeder Seite eines gewöhn-
lichen Saumsattels wird nemlich ein kleiner, mit Lehnen und
Fussschemeln versehener Strohstuhl, und zwar nicht quer, sondern
gerade wie beim gewöhnlichen Reiten,^) angebracht. Auf diesen
sitzt man fast gleich gemächlich, als in seiner Stube, da man die
Bewegung des Thiers, die man nicht unmittelbar theilt, nur wenig
fühlt, und kann voller Behaglichkeit der Gegend und des Gesprächs
gemessen; ja ich sah manchmal die Reisenden noch auf dem
Rücken des Pferdes zwischen den Stühlen Karten spielen. Das
einzige iJebel dabei ist die Unzertrennlichkeit, in der die beiden
Reitenden mit einander stehen. Denn natürlich kann keiner von
beiden allein absteigen, ohne den andern dadurch herunterzu-
kippen.
In Rücksicht der Arbeitsamkeit scheinen beide Geschlechter
in Bisca3^a und besonders im Französischen Basquenlande die
Rollen vertauscht zu haben. Nirgends sah ich so viele und müh-
selige Arbeit von Weibern verrichtet, als hier. In dem spanischen
Antheil durchbrechen sie oft, über der sauren Laya^ einem Acker-
werkzeug, das ich in der Folge beschreiben werde, gebückt, den
strengsten und härtesten Boden; in Bilbao tragen sie, beim Aus-
laden der Schiffe, die schwersten Lasten, besonders Eisenstangen,
mit denen dort häufig Handel getrieben wird, auf dem Kopf vom
Fluss in die Gewölber; selbst in Schmieden sah ich sie mit dem
Hammer am Ambos beschäftigt. Das Merkwürdigste aber ist,
') „sicherste" verbessert aus „beste".
^) „eine — reisen" verbessert aus „die bequemste und gesellschaftlichste Art zu
reisen, die es geben kann".
^) „quer — Reiten" verbessert aus „zur Seite, sondern in derselben Rich-
tung, in der das Pferd geht".
St. Jcuii de Luz. 21
dass sie mit dieser ungewöhnlichen Stärke zugleicli eine gleich
grosse •) Schnelligkeit und Behendigkeit verbinden.
Diese bewunderte ich vorzüglich an den sogenannten Stir(/i-
//ürt's oder Sardellentriigerinnen, von denen mir auf dem Wege
nach St. Jean de Luz viele '^j begegneten. Es ist ein närrischer")
Anblick, wenn man von lern fünf bis sechs, manchmal aber auch
zehn bis zwanzig meistentheils lange imd magre weibliche Ge-
stalten, grosse runde verdeckte Fischkörbe auf dem Kopf, die sie
frei, und ohne sie zu halten, tragen, nach einander in einer Reihe
hinter einer Anhöhe emporkommen, und fast ohne alle Bewegung
mit dem Leibe steif auf sich zu traben sieht. Denn jede eilt die
erste zu seyn , ihre Sardellen in Bayonne auszurufen, und so
laufen sie den ganzen Weg in einem Trabe, und gehen höchstens
da langsamer, *) wo er steiler bergan steigt. In der Zeit, wo der
Fang sehr stark geht, bringen sie, wie man mich versicherte,
wohl auch ihre Waarc zweimal des Tages zu Markt, und legen
also, trotz des schattenlosen Weges, und der brennenden Sonnen-
hitze, diesen etwa 3 französische Meilen langen Weg viermal in
demselben Tage zurück.
Ihre Bekleidung ist, wie man denken kann, sehr leicht, die
Füsse ganz nackt, die Arme nur mit den Hemdärmeln bedeckt
und der Kock bis auf die halben Schenkel aufgeschürzt, so dass
das Hemde darunter nur bis ans Knie oder wenig darüber reicht.
Die Leichtigkeit ihres (langes, die schon der sichre und geschickte
Tritt verräth, drückt sich auch in dem Bau ihres Körpers aus.
Ivist alle haben gutgeformte sogar zierliche'"') Beine, einen feinen
Knochenbau und rein ausgearbeitete Muskeln, an keiner sieht
man ungeschickt hervorstehende Knöchel, plumpe oder nieder-
gedrückte Waden. Dagegen scheint die unselige Arbeit ") jede
üppige VüWe des Wuchses weggeschnitten zu haben, und ob man
gleich gewöhnlich alle Alter beisammen sieht, so lindet man selten
eine eigentlich hübsche; doch sind die meisten gross, schlank und
von richtigen Verhältnissen. Dem Oberleibe und der Haltung
<ier Arme giebt das häutige Tragen auf dem Kopf") natürlich
') „gleich grosse" verbessert aus „noch bewiindcrnsiviirdigere".
') „viele" verbessert aus „mehrere Haufen".
•) ,,närrischer" verbessert aus „wunderbarer'-.
*) „gehen — langsamer" verbessert aus „ni/in ItDcli.^tcns".
") „sogar zierliche" verbessert aus „rein au.sgcarbcitcte".
«) Vgl. Band 7. 5rp.
') „das — Kopf verbessert aus „die Stellung".
20 Die Vasken.
Handel und Waarentransport zwischen St. Sebastian und Bayonne.
Sie bedienen sich dazu sehr kleiner, aber muntrer und starker
Pferde. Dies ganze Geschäft aber ist den Weibern und Mädchen
überlassen, da die Männer sich mit Schiffarth und Fischerei be-
schäftigen. Dem Reisenden, der nur eine kleine Excursion in die
nächstgelegnen Gegenden Guipuzcoas vornehmen will, bieten
diese Bidartinerinnen, deren man täglich viele in den Strassen von
Bayonne antrift, die leichteste und sicherste^) Gelegenheit dar.
Sie bringen ihn ohne alle Weitläuftigkeit über die Spanische Grenze,
und ihr Cacaulet ist nicht nur eine äusserst bequeme, sondern
auch sehr gesellschaftliche Art zu reisen,") da immer zwei Per-
sonen auf demselben Pferde reiten. Zu jeder Seite eines gewöhn-
lichen Saumsattels wird nemlich ein kleiner, mit Lehnen und
Fussschemeln versehener Strohstuhl, und zwar nicht quer, sondern
gerade wie beim gewöhnlichen Reiten, ^) angebracht. Auf diesen
sitzt man fast gleich gemächlich, als in seiner Stube, da man die
Bewegung des Thiers, die man nicht unmittelbar theilt, nur wenig
fühlt, und kann voller Behaglichkeit der Gegend und des Gesprächs
gemessen; ja ich sah manchmal die Reisenden hoch auf dem
Rücken des Pferdes zwischen den Stühlen Karten spielen. Das
einzige Üebel dabei ist die Unzertrennlichkeit, in der die beiden
Reitenden mit einander stehen. Denn natürlich kann keiner von
beiden allein absteigen, ohne den andern dadurch herunterzu-
kippen.
In Rücksicht der Arbeitsamkeit scheinen beide Geschlechter
in Biscaya und besonders im Französischen Basquenlande die
Rollen vertauscht zu haben. Nirgends sah ich so viele und müh-
selige Arbeit von Weibern verrichtet, als hier. In dem spanischen
Antheil durchbrechen sie oft, über der sauren Laya^ einem Acker-
werkzeug, das ich in der Folge beschreiben werde, gebückt, den
strengsten und härtesten Boden; in Bilbao tragen sie, beim Aus-
laden der Schiffe, die schwersten Lasten, besonders Eisenstangen,
mit denen dort häufig Handel getrieben wird, auf dem Kopf vom
Fluss in die Gewölber; selbst in Schmieden sah ich sie mit dem
Hammer am Ambos beschäftigt. Das Merkwürdigste aber ist.
') „sicherste" verbessert aus „beste".
*) „eine — reisen" verbessert aus „die bequemste und gesellschaftlichste Art zu
reisen, die es geben kann".
') „quer — Reiten" verbessert aus „zur Seite, sondern in derselben Rich-
tung, in der das Pferd geht".
St. Jean de Luz. 21
dass sie mit dieser ungewöhnlichen Stärke zugleich eine gleich
grosse ^) Schnelligkeit und Behendigkeit verbinden.
Diese bewunderte ich vorzüglich an den sogenannten Sardi-
nieres oder Sardellenträgerinnen, von denen mir auf dem Wege
nach St. Jean de Luz viele -) begegneten. Es ist ein närrischer ^)
Anblick, wenn man von fern fünf bis sechs, manchmal aber auch
zehn bis zwanzig meistentheils lange und magre weibliche Ge-
stalten, grosse runde verdeckte Fischkörbe auf dem Kopf, die sie
frei, und ohne sie zu halten, tragen, nach einander in einer Reihe
hinter einer Anhöhe emporkommen, und fast ohne alle Bewegung
mit dem Leibe steif auf sich zu traben sieht. Denn jede eilt die
erste zu seyn, ihre Sardellen in Bayonne auszurufen, und so
laufen sie den ganzen Weg in einem Trabe, und gehen höchstens
da langsamer, *) wo er steiler bergan steigt. In der Zeit, wo der
Fang sehr stark geht, bringen sie, wie man mich versicherte,
wohl auch ihre W^aare zweimal des Tages zu Markt, und legen
also, trotz des schattenlosen Weges, und der brennenden Sonnen-
hitze, diesen etwa 3 französische Meilen langen Weg viermal in
demselben Tage zurück.
Ihre Bekleidung ist, wie man denken kann, sehr leicht, die
Füsse ganz nackt, die Arme nur mit den Hemdärmeln bedeckt
und der Rock bis auf die halben Schenkel aufgeschürzt, so dass
das Hemde darunter nur bis ans Knie oder wenig darüber reicht.
Die Leichtigkeit ihres Ganges, die schon der sichre und geschickte
Tritt verräth, drückt sich auch in dem Bau ihres Körpers aus.
Fast alle haben gutgeformte sogar zierliche ^) Beine, einen feinen
Knochenbau und rein ausgearbeitete Muskeln, an keiner sieht
man ungeschickt hervorstehende Knöchel, plumpe oder nieder-
gedrückte Waden. Dagegen scheint die unselige Arbeit^) jede
üppige Fülle des Wuchses weggeschnitten zu haben, und ob man
gleich gewöhnlich alle Alter beisammen sieht, so findet man selten
eine eigentlich hübsche ; doch sind die meisten gross, schlank und
von richtigen Verhältnissen. Dem Oberleibe und der Haltung
-der Arme giebt das häufige Tragen auf dem Kopf^) natürlich
„gleich grosse" verbessert aus „noch bewundernswürdigere".
„viele" verbessert aus „mehrere Haufen".
,,närrischer" verbessert aus „wunderbarer".
„gehen — langsamer" verbessert aus „ruhn höchstens".
„sogar zierliche" verbessert aus „rein ausgearbeitete".
Vgl. Band 7, ^g2.
„das — Kopf" verbessert aus „die Stellung".
22 Die Vasken.
eine gezwungene Steifigkeit, und die Gesichtsmine hat den Aus-
druck einer mühevollen Anstrengung.
Ich bin einen Augenblick länger bei dieser Schilderung ver-
weilt, weil sie zugleich die Grundzüge der weiblichen Basquischen
Nationalphysiognomie enthält. Fast durchgehends hat dieselbe
mehr Charakterausdruck, als Reiz, feine und tief ausgearbeitete
Züge, die sich bis ins hohe Alter hinein erhalten, und in der
Schmalheit der Gesichter, den langen gerade heruntersteigenden
Nasen, den schwarzen, starken, eng zusammenstehenden Augen-
braunen einen Ernst, der in Strenge übergeht, aber immer durch-
aus von Castilianischer Finsterkeit, und sorgenvoller Schwermuth
entfernt ist.
An der Seeküste, besonders in Luz kann die Lage, in der
sich dort das andre Geschlecht befindet, leicht einen sichtbaren
Einfluss auf die Physiognomie ausüben. Fast alle Männer sind
in diesen Gegenden Seeleute, und daher ein grosser Theil der-
selben abwesend. Von St. Jean de Luz befanden sich namentlich
zur Zeit meiner Reise viele in Englischer Gefangenschaft. In der
Abwesenheit der Männer müssen nun die Weiber nicht nur allein
ihr Haus erhalten, sondern auch oft noch jenen Geld in die
Fremde nachschicken. Die armen Sardellenträgerinnen haben bei
ihrem mühseligen Gewerbe meistentheils nur einen sehr geringen
Gewinn, ja manchmal, wenn die Goncurrenz der Verkäuferinnen
gross ist, noch Verlust. Dem Weibe des Seemanns kann daher
die Unterhaltung ihres Hauswesens, die ihren Kräften allein auf-
gebürdet ist, und die Sorge über ihren in steten Gefahren
schwebenden Mann leicht eine strengere und männlichere Ge-
sichtsbildung geben, die nach und nach zur Nationalphysiognomie
eines arbeitsamen Küstenvolks wird.
Ueberhaupt aber ist die Arbeitsamkeit des weiblichen Ge-
schlechts einer von den mehreren Zügen, durch welche sich die
schon von Strabo bemerkte Aehnlichkeit der Nordküste ^) Spaniens
in Sitten und Gewohnheiten bewahrt, und durch welche dieselbe
sich vor dem Innern und vorzüglich dem Mittag des Landes aus-
zeichnet. In dem Gebirge von Pas, beim Thal Carriedo, im
Norden von AltCastilien tragen die Weiber 20 Spanische Meilen
in die Runde auf ihrem Rücken Butter «und Käse herum, und
bringen dafür Waaren zurück; und Campomanes in seiner ge-
') „Nordküste" verbessert aus „Nordbewohner".
St. Jean de Luz. 2^
haltvollen Schrift über die Volkserziehung ^) vergleicht sie mit den
Weibern der früheren Menschenalter, die Juvenal*) den weich-
lichen Damen seiner Zeit entgegensetzt, und die nach ihm selbst
ihre ungeschlachten Männer an rauher Stärke übertrafen. Uebrigens
sind diese sogenannten Pasiegas gerade durch das Gegentheil dessen,
was man an den Biscayerinnen bemerkt, nemlich durch plumpe
ungeschickte Dicke und Fülle des Wuchses bekannt, und es ist
die Frage ob der Unterschied des Tragens auf dem Rücken und
auf dem Kopf nicht schon allein diese Verschiedenheit hervor-
bringt. Das erstere drückt die Gestalt offenbar unedler nieder, da
das letztere, wenn es gelingen soll, schon Leichtigkeit und Sicher-
heit des Ganges und eine gewisse Geschicklichkeit in der Haltung
voraussetzt. In Galicien ist, wie mir einsichtsvolle Augenzeugen
versicherten, der Unterschied an Geisteskräften zwischen beiden
Geschlechtern in den niedrigen arbeitenden Classen beim ersten
Anblick auffallend. Die Männer, welche durch ganz Spanien
Last- und besonders WasserträgerDienste verrichten, werden
durch diese einförmige, bloss körperliche Arbeit durchaus roh
und stumpf und die aguadores Gaüiegos sind nur zu häufig das
Ziel des Spanischen Volksvvitzes, da den indess zu Hause allein
wirthschaftenden Weibern die mannigfaltigere Sorge für ihr Haus-
wesen eine sonst ungewöhnliche Einsicht und Gewandtheit giebt.
Diese Geschäfts-Ivlugheit (die, im Vorbeigehn gesagt, auch in
Frankreich im Ganzen grösser ist als in Deutschland) trift man,
und zwar in höheren Graden auch in Biscaya an. In Bilbao ist
es nichts Ungewöhnliches, dass Kaufmannsfrauen nicht nur ihre
Männer bei Führung ihrer Geschäfte, auch w^o es grossen und eigent-
lichen Speculationshandel betrift, thätig unterstützen, sondern auch
demselben allein im Grossen und im Kleinen mit Glück vorstehen.
*) silvestrem montana torum curn sterneret iixor
frondibiis et culnio vicinanimque ferarum
pellibus —
sed potanda ferens infantibus ubera magnis
et saepe horridior glandem ructante marito. Sat. 6.^)
wenn das Gebirgsweib streuet des Walds Ehbett aus Gezweigen,
und aus schilfigem Rohr und der nahumschweifenden Thiere
Häuten — — —
aber reichend den Kindern, den starken, zu trinken die Brüste
und oft scheuslicher noch als ihr eichelnrülpsender Gatte.
^) Seine „Discursos sobre el fomento de la industria populär y su educacion"
erschienen Madrid i-]']4—'j'j.
*) Juvenals Satiren 6, 5.
2A Die Vasken.
Dagegen führen die Weiber in Castilien, in dem ganzen Innern
des Königreichs, und in den mittäglichen Provinzen, wenn man
Catalonien und gewissermassen Valencia ausnimmt, ein fast durch-
aus müssiges und unthätiges Leben. Campomanes*) hält dies
für ein Ueberbleibsel der bei den Mauren üblichen Einsperrung
des andern Geschlechts, welche nothwendig Trägheit und Schwäche
zur Folge haben musste. Indess ist es sonderbar, dass gerade da,
wo die Mauren sich am längsten aufhielten, im unteren Andalusien,
in Granada und vorzüglich in Malaga die Frauen, selbst bei
weniger Bildung, und selbst unter dem Volk, eine Lebhaftigkeit
und Gewandtheit des Geistes, eine Fülle und Feinheit des Witzes
besitzen, in der sie die Männer weit hinter sich zurücklassen,
und die, verbunden mit ihrer meistentheils sehr reizenden Bildung,
ihnen eine Liebenswürdigkeit so eigner Art giebt, dass der Aus-
länder sie kaum zu ahnden im Stande ist.^) Müsste man hierin
Spuren Maurischer Sitten suchen,^ so dürfte man in der That ihren
Einflüssen so abgeneigt nicht seyn. Wenn es dagegen einen
Theil Spaniens giebt, in welchem die Weiber im Volk weder
die Stärke, welche die Arbeit hervorbringt, noch den Gesichts-
ausdruck verrathen, den ein heiter beschäftigtes Gemüth giebt,
so sind es die inneren Provinzen, namentlich AltCastilien. Es
scheint mir daher bei weitem wahrscheinlicher, dass die vielfältigen
unglücklichen Einflüsse, welche Castilien Jahrhunderte hindurch
verfolgten, welche den Castilianer, der gewiss an innerm Edel-
muth seinen Nachbarn aufs wenigste gleich ist, selbst wider seinen
Willen zu Trägheit und Armuth verdammten, und deren Ent-
wicklung ich einer andern Gelegenheit vorbehalte, das weibliche
Geschlecht doppelt schwer trafen und doppelt tief nieder-
drückten.
Hinter Gatal verliess ich die Landstrasse und wählte einen
einsameren Fusssteig dicht am Meeresufer. Es war ein schöner
Frühlingsmorgen, und die sanft gekräuselten Wellen funkelten ^)
in unendlichem Glanz. An dem Abhänge eines der Hügel, an
denen ich ritt, war ein Quell, zu dem die Mädchen des be-
nachbarten Orts, grosse irdene Gefässe ^) auf dem Kopf, Wasser
zn schöpfen kamen. Hinter mir sah ich Biarits mit seinen weit
*) p. 86.
^) „sie — ist" verbessert aus „keinen Begriff" davon hat".
2) „funkelten" verbessert aus „leuchteten".
^) Nach „Gefässe" gestrichen: „beinah von der Gestalt unsrer Thekannen".
St. Jean de Luz. 2C>
ins Meer hinein zerstreuten einzelnen Felsmassen, vor mir St. Jean
de Luz und im Hintergrunde die Berge von Fuentarrabia.
Die Kette der Pyrenaeen hat ihren höchsten Gipfel in ihrer
Mitte, in der Gegend von Barreges und Gavarnie, in einer Gruppe
um dtn Moni per du herum, der, 1763.*) toisen hoch, die ganze öst-
liche und westliche Reihe beherrscht. Von da senkt sie sich gegen
beide Meere zu hinab, aber in ungleichen Verhältnissen. Die
Westseite steigt allmählig hernieder, und verliert sich an dem
Ufer des Oceans in unbedeutende Hügel; die Ostseite dagegen
ist steil und setzt dem Mittelmeer schroffe Vorgebirge entgegen.
Der Weg von Perpignan nach Spanien hat daher mit Mühe durch
den Fels gehauen werden müssen, da der von Bayonne nur
zwischen kleinen Anhöhen hinläuft.
Ramond beginnt seine an ^) grossen und glücklichen Natur-
ansichten reiche Schrift über die Pyrenaeen mit der Bemerkung,
dass kein andres Gebirge dem Naturforscher eine solche Regel-
mässigkeit des Baues darbietet, und dies bestätigt sich auch durch
das gleichförmige Absteigen des westlichen Theils ihrer Kette.
Vom Vignemale am Ende des Thals von Cauteres, der, wenn
man an den wunderschönen Wasserfällen des Gave hin den Lac
de Gaiibe besucht, hinter dem tiefen Blau des dunkeln ^) Sees gleich
einer ungeheuren Schneepyramide dasteht, bis zu den letzten
Anhöhen an der Meeresküste bildet das Gebirge gleichförmige,
fast genau immer um 200 Toisen niedrigere Stufen,**) so dass man
*) Observations faites dans les Pyrenees fpar Ramond). p. 126. [Der neue
Theil nachzusehen.] ^)
**) Ich nehme diese Bemerkung aus den niemoires siir la derniere guerre entre
la France et l'Espagne. Paris et Strasbourg. 1801. Der Verfasser derselben be-
stimmt 9 Gipfel, die 8 solche Stufen bilden.
I., Vignemale 1728. toisen (Ramond. p. 126. 1722. toisen).
2., la Somme de Soule 1607. —
3., le pic de midi de
Pau ou d'Ossau 1472. —
Ramond führt p. 127. eine andre Messung an, nach welcher derselbe 1557. toisen
haben würde, die er aber selbst übertrieben nennt.
Bis hieher sind die Gebirge den grössten Theil des Jahrs hindurch mit Eis be-
deckt. Von hier an aber wird ihr Anblick milder. — Denn der Anfang der Eisregion
^) Nach „an" gestrichen: „scharfsinnigen".
'^) „des dunkeln" verbessert aus „der dunkeln Fluth des".
') Seinem Paris ij8g erschienenen Hauptwerk Hess Ramond 1801 ,,Voyages
au Mont perdu et dans la partie adjacente des hautes Pyrenees" folgen.
25 l^i^ Vasken.
um Bayonne herum schon keinen der höheren Pyrenaeengipfel
mehr im Gesicht hat.
Die schönsten Berge, welche man von dort aus überschaut, ^)
sind die Larruna*) und der Kronenberg, montagjie couronnec. Der
erstere erscheint lang hin gedehnt, gemach ansteigend auf der
einen Seite, schnell abstürzend auf der andern ; dem zweiten haben
seine dreifachen zinnenähnlichen Erhebungen auch den Namen
des Drei-Säulen-Berges gegeben. Es wird dem Reisenden schwer,
diesen Berg, wenn man ihm näher kommt, wiederzuerkennen.
Soviel ich mich habe orientiren können, ist er derselbe, der in
Biscaya la haya de Oyarzima genannt wird, und dann bestimmte
er den Ausgang des Feldzugs von 1794. Denn die Generale
Moncey und Delaborde vertrieben von dort am 14. Thermidor
des gedachten Jahrs die Spanier aus ihrem verschanzten Lager,
nachdem die Truppen den Berg mit unglaublicher Mühe und
Kühnheit erstiegen hatten ; nun erst konnte Frey wille ihre von vorn
unbezwingliche Stellung auf St. Martial umgehen und einnehmen ;
und solange der Feind diese behauptete, war es unmöglich über
die Bidasoa in Spanien einzudringen.**)
Die eben erwähnten Berge, "-) an die sich gegen das Meer zu
die Gebirge von Lezo und Fuentarrabia anschliessen, bilden einen
kann bei den Pyrenaeen nur erst bei 1200. toisen (also 100 toisen höher als bei den
Alpen) angesetzt werden. Ramond. p. 302.
4., le pic d'Anie, bei den Französi-
schen Basquen Ahagua, bei den
Spaniern Cenia-Larra genannt, 1280. toisen (Ramond. p. 127. 1269. toisea)
5., Hory 1031. toisen
6., Orsansurietta 801. toisen
7., Haussa über dem Thal Bastan 667. toisen
8., Larruna (nicht la Rhune) . . 462. toisen
9., Jaizquibel 278. toisen
*) Es ist ein gewöhnlicher Fehler, die ersten Silben Baskischer Namen in Spa-
nien und Frankreich zum Spanischen und Französischen Artikel zu verdrehen. So
heisst die Larruna (von larrea, Weide, und ona, gut, guter Weideplatz) in Bayonne
gewöhnlich la Rhune, Elorrio, Elanchove auf Spanischen Karten el Orrio, et Anchove.
Die merkwürdigste Verstümmelung dieser Art ist die des Namens des bekannten du
Halde, der, obgleich in Paris gebühren, seiner Abstammung nach ein Basque war, und
eigentlich Uhalde (also d'Uhalde) hiess. Uhalde (der zur Seite des Wassers, so wie
Larralde, der zur Seite der Weide wohnt) ist nemlich ein in Biscaya häufig vorkom-
mender Familienname.
**) Metn. sur la guerre cet. p. 100 — 112.
^) „dort aus überschaut" verbessert aus „Bayonne aus im Auge hat".
^) Nach „Berge" gestrichen: „mit den kleineren, die sie umgeben".
St. Jean de Luz. 27
zusammenhängenden Kreis, ^) der nur da unterbrochen ist, wo
bei dem Pass von Behobie der Weg nach Spanien hineingeht.
Von diesem anmuthigen Gebirgskranze steigt nun ein Busen
fruchtbaren Landes gegen das Meer herab. Die Berge verlieren
sich in niedrigere Hügel, die Hügel in Ebne, und am Ende der
Ebne dicht am Meer, von seinen Wellen bespült und gedrängt,
liegt St. Jean de Luz. Ein reizendes Amphitheater, von unge-
heuren Massen, dem Gebirg und dem Ocean, umschlossen.
Ein kleiner Fluss theilt St. Jean de Luz in zwei Theile, Ci-
boure und Luz. Vermuthlich in Vergleichung mit der Ba3'onner
Nive hat man dem kleinen ^) namenlosen Wasser den Namen
Nivelle gegeben. Aber das mit jeder Fluth einströmende Meer
macht das unbedeutende Bächlein zum jNIeeresarm, den gemauerte
Quais aus Quadersteinen bis an die Bucht einschliessen. Die
Bai ist klein, aber mahlerisch; fast ein regelmässiges Rund, links
vom Fort Socoa,*) rechts vom Fort St. Barbe begränzt. Bei
Socoa ist der Hafen von Ciboure, der Haupthafen des ganzen
Orts, auf den Anhöhen von Bordagaina, **) ^) dicht hinter dem
Städtchen, steht ein Leuchtthurm und daneben ist ein Altan zum^
Versammlungsplatz der Seeleute. Luz hat seinen eignen Hafen
in der Stadt selbst, der aber von gefährlicher Einfahrt ist.
Am besten übersieht man die Lage von St. Jean de Luz von
Ste Barbe aus. Auf Vaubans Vorschlag wollte Ludwig 14. die
ganze Bai durch eine vom Meeresgrund an aufgeführte Mauer
schhessen lassen, um den Schiffen innerhalb einen sichern Zu-
fluchtsort zu verschaffen, zu dem sie durch eine in der Mitte
gelassne Oefnung gelangen sollten. Die Ausführung dieses bei-
nahe riesenmässigen Plans wurde aber, wie so viele andre,*)
verschoben. In neueren Zeiten nahm Dupre de St. Maur, der
Intendant der Provinz war, diesen schon vergessnen Plan wieder
auf, und von ihm rühren die beiden Mauerstücke her, die von
Socoa und St. Barbe aus einige hundert Schritte ins Meer hinein-
gehen, und mit der kühnen Grösse gebaut, die Jahrhunderten
*) Socoa, bei den Spanischen Biscayern Zocoa, der Winkel, die Ecke.
**) Die Meierei auf der Höhe. Borda, Meierei, gaina, Guip. gana, die Höhe,
der Gipfel.
M ,,zusammenhängenden Kreis'^ verbessert aus „anmuthigen Gebirgskranz".
^) „kleinen" verbessert aus „unbedeutenden".
*) Nach „Bordagaina" gestrichen: „schöner, grünbewachsener Hüg[el]".
*) Nach „andre" gestrichen : „bis auf künftige Zeiten".
28 Die Vasken.
Trotz bietet, unerschüttert dem Andrängen der tosenden Wellen
widerstehn. Allein Dupre konnte das Werk nicht beendigen und
nach ihm blieb es liegen.
Steigt man bei St. Barbe auf dem blättrigen mürben Fels bis
zu dem Anfang jener Mauer herab, und wendet sich rechts gegen
Ba3'^onne zu, so geniesst man einer unermesslichen Meeresansicht.
Die Ufer weichen hier zurück, eine schroffe Felskante versperrt
die Aussicht aufs Land, überall ist nur Himmel und Meer. Auch
bei nicht stürmischer See rollen die Wogen hier mit fürchter-
licher Gewalt gegen das Ufer, ihr weisser Schaum sprützt über
den Steindamm in die Höhe, und sie schiessen tief in die Holen
des durchlöcherten Felsen hinein. Man hört sie unter seinen
Füssen brüllen, und da sie die Grundfesten des Felsens selbst
untergraben, reissen sich oft Stücke von demselben los, und stürzen
herab. Auf diese Weise entstanden wohl die Felsmassen im
Meer bei Biarits.
Links übersieht man die lieblich umschlossene Bai, den^)
fruchtbaren Landbusen des Städtchens, gegenüber die Ecke von
Socoa, die grünbewachsnen Hügel des Leuchtthurms , und da-
hinter in der Ferne die blaue weit ins Meer vorragende ^) Ge-
birgsreihe, welche in eine schmale Landspitze, la punta del Higuer^*)
ausläuft, die von hier nur noch wie ein einzelner Punkt im Meere
schimmert.
Der Weg von Ste Barbe nach der Mündung der Nivelle zeigt
eine Menge von Spuren des verwüstenden Vordringens des Meers.
Der Ort sieht beim Eingange von dieser Seite wirklich wie ein
Fischerort aus. Einzelne steinerne Hütten mit platten Dächern
sind ganz unregelmässig durch einander gebaut. Das Meer war
ehemals viel weiter von der Stadt entfernt ; durch Ueberlieferung
alter Personen weiss man, dass es vor kaum 2oo' Jahren noch
Gärten innerhalb der Bai gab, und Leute von 50 erinnern sich
auf Stellen am Meere in ihrer Kindheit gespielt zu haben, von
denen es jetzt nie zurückweicht. Ueberall am Ufer sieht man
Ruinen verlassner Häuser, von andern, noch weiter entfernten
sind die Mauern bis auf einige Fuss hoch mit Sand bedeckt,
den das näher heranbrechende Meer, ehe es selbst kommt, ge-
*) la pointe du figuier bei Fuentarrabia.
') Nach „den" gestrichen: ,.schönen".
*) „vorragende^' verbessert aus „sich erstreckende" aus „hinein vorlaufende".
St. Jean de Luz. 2Q
wohnlich voranzuschicken pflegt. Die Einwohner benutzen die
Ruinen der verlassnen Häuser zu Gärten und ziehen ihre Wohnungen
gegen die Berge zurück. Allein dort sind Sümpfe und so sind
sie auch von dieser Seite im Gedränge.
Nah an der Flussmündung stand ehemals ein Ursulinerinnen-
kloster. Das Meer sandte bei grossen Stürmen den Nonnen oft-
mals seinen Schaum ins Dach hinein. Vor etwa 15 Jahren verlegte
sie ein Bischof in ein anderes Kloster, und nun geben die verfallnen
Mauern, in deren ehemals heilig verschlossnes Innre man ^) frei
hineinblickt, eine mahlerische Ruine.-)
Der steinerne Quai des Flusses gieng sonst weiter in die Bai hin-
ein; jetzt ist er sehr beschädigt und verfallen. Ich erinnerte mich
lebhaft, wie ich zwei Jahre vorher an einem stürmischen Herbst-
tage an demselben Fleck mit den Meinigen stand. Wir mussten,
um durch den Fluss zu fahren (da eben die Brücke zerbrochen
war), die Ebbe abwarten, machten einen Spaziergang an den
Hafen, und setzten uns auf die äusserste Spitze des Quais. Neben
uns angelten ein Paar Fischer ; die Lumpen, aus denen ihre starken
Glieder nackt hervorblickten, bewiesen die Armseligkeit ihres
Fanges, und sie riefen uns sehr lebendig die Theokritische
Schilderung der Dürftigkeit des Fischerlebens zurück. ^)
Wir sassen damals lang dort, und ergetzten uns unglaublich
an dem Schauspiel des sturmbewegten Meers. Die W^ogen
rollten majestätisch von der Höhe auf uns zu; aus der engen
Mündung prallten ihnen entgegen andre zurück, und so in diesem
Widerstände aufgehalten, brach sich ihre finsterthürmende Spitze
in weissen Schaum, der vom Mittelpunkt aus, wie ein plötzlich
entzündetes Feuer, zu beiden Seiten in unabsehlichen Reihen hin-
lief; dann sich mit verdoppelter Gewalt überwälzend, stürzten sie
lautbrausend zwischen den qiiais in den Fluss. Dieselbe Flut aber,
die hier vor uns, eingeengt im Drange des Ein- und Zurückströmens,
wild auftobte, ergoss sich hinter uns mit pfeilschneller Geschwindig-
keit in lieblichen Schlangenlinien über das glattgespülte Ufer und —
so unglaublich rasch war die Bewegung — wann die zweite Welle
der ersten zurückkehrenden begegnete, sah man, wie in einem
durchsichtigen Kr}^stall, zwei zusammenhängende Spiegelflächen
über einander in entgegengesetzten Richtungen hingleiten. In der
^) Nach „man" gestrichen: ,Jetzt".
*) „eine mahlerische Ruine" verbessert aus „einen mahlerischen Anblick".
^) Vgl. Band 3, IIS.
30
Die Vasken.
Ferne vernahm man nur ein dumpfes Toben, ein verwirrtes Ge-
wühl der Wogen ; an den hervorragenden Klippen spriitzte Schaum
aus der dunkeln Flut empor, und auf der äussersten Höhe des
Meers schwankten von Zeit zu Zeit die schimmernden Segel
eines Schiffes vorüber.
Nie ist mir die todte und rohe Masse der Schöpfung so über-
gewaltig vorgekommen, nie der Keim des Lebens in der Natur
dagegenjso schwach und ohnmächtig, als hier zwischen denPyrenaeen
und dem Ocean. In den Gebirgen jene Ungeheuern, von keinem
mildernden Grün umkleideten Felsmassen, das Bild einer ewig
unthätigen Ruhe, einer Last, die, immer auf den Mittelpunkt ihrer
Schwere drückend, nur zusammenzustürzen droht, um sich noch
fester an einander ballend jedes freie Lebensspiel zu ersticken. Was
dagegen bei dem Anblick des Meers die Einbildungskraft bis zum
Entsetzen anspannt, ist die fürchterliche, sich mit unglaublicher
Geschwindigkeit nach allen Seiten zugleich fortpflanzende, von
dem unbedeutendsten Stoss die ungeheuerste Tiefe aufwühlende,
den ganzen Erdkreis erschütternde ^) Beweghchkeit. Vor diesen all-
gewaltigen Kräften einer doppelten Zerstörung, dort durch in sich zu-
sammenstürzende Schwere, ^) hier durch ewig mit sich fortreissendes
Rollen, beide in todten, blinden und ungeschiedenen ^) Massen, vor
diesen wüsten Elementen des Chaos scheint jede lebendige *) Kraft
verschwinden und verstummen zu müssen. Dennoch erhält sich,
der Pflanze gleich, die, aus den Ritzen des Felsens hervorkriechend, ^)
seine schroffen Ecken umklammert, mitten unter dieser Ver-
wüstung der leblosen Natur die lebendige Organisation, und wie
der im Stein verborgne Funke, springt der Trieb der Bildung
aus ihr selbst hervor. In diesem unauflösbaren Räthsel, in dem
Gefühl der verschwindenden Ohnmacht des Menschen gegen die
Macht der Elemente, und in der Bewunderung ihrer entsetzlichen
Massen, die wild und ungebändigt, wie sie sind, doch durch dasselbe
Gesetz, durch das sie Allem Zerstörung drohen, einem fremden
Zuge zu folgen, sich in unaufhaltsamem Umschwünge fortzuwälzen
und dadurch in Gleichgewicht zu halten gezwungen werden, verliert
sich zugleich Gedanke, Phantasie und Empfindung, so oft wir dem
^) „erschütternde^' verbessert aus „ bedrohende".
^) „Schwere" verbessert aus „Ruhe".
^) Nach „ungeschiedenen" gestrichen: „und ungeheuren".
*) „lebendige'^ verbessert aus „geistige".
^) „hervorkriechend" verbessert aus .,sich .... hervorwindend".
St, Jean de Luz. o j
Meer oder einem Gebirge gegenüber stehen. Es ist der geheimniss-
volle Zug, durch den die grosse Natur uns unauflöslich an sich
fesselt, und uns in die sanfte Schwermuth hinüberzieht, ^) von der
wir uns ebensowenig, als von ihrem Anblick loszureissen vermögen.
Es ist der Kampf des Leblosen mit dem Lebendigen, durch die
eigenthümlichen Kräfte beider, wie durch ein ewiges Schicksal,
dessen innren Zusammenhang ein undurchdringlicher Schleier -)
verbirgt, zu Harmonie und Eintracht verbunden.
Am Flusse hinauf nach der Stadt zu, geniesst man des An-
blicks des Landes und der Berge. Auf einer kleinen Halbinsel
im Fluss gerade zwischen Ciboure und Luz steht ein ehemaliges
Recollectenkloster. Beide Oerter hatten in älteren Zeiten beständige
Händel mit einander. Bei Gelegenheit feierlicher Processionen
kamen diese dann gewöhnlich zum Ausbruch. Man schlug sich erst
mit den Kreuzen, dann aber folgten auch Steine und andere Waffen.
Endlich kam man im vorigen Jahrhundert überein, zum Zeichen
der wiederhergestellten Eintracht, die nun nichts wieder stören
sollte, auf gemeinschaftliche Kosten dies KJoster zu bauen. Auch
das übrige Basquenland trug dazu bei, und man verband mit dem
Kloster noch eine Erziehungsanstalt. Um das Versöhnungskloster
herum stehen einige Pappeln. Jenseits ist die Aussicht sehr schön.
Ein Hügel hinter der Stadt am Fusse der Larrune ist mit einem
reizenden grünen Gehölze umkränzt, und aus dem Gebüsch blickt
ein freundliches Landhaus hervor. Ein herrlicher grüner Vorgrund
vor den hinteren graueren Bergen.
Ciboure*) wird, wie schon im Vorigen gesagt ist, nur durch
eine Brücke von Luz getrennt. Im Anfange der Revolution war
es den Neuerungen weniger günstig, als Luz ; allein der Spottname
der olfrapontains^ den man den Cibourern gab, brachte viele zu
andern Gesinnungen.
In älteren Zeiten waren beide Oerter bei weitem blühender,
als jetzt. Ihre Hauptnahrung war der Wallfisch- und Stockfisch-
fang. Ersterer hat schon seit langer Zeit gänzlich aufgehört, und
letzterer ist ungleich minder bedeutend, als ehemals. Im Jahr 1730.
sandten sie noch 30 Schiffe zu demselben, jetzt etwa noch 6.
1675. foderte (eine Nachricht, die sich, wie man mir sagte, in
*) Man leitet sogar den Namen des Orts daher ab. Cubia, Brücke, blirua, Kopf;
Brückenkopf.
') „hinüberzieht" verbessert aus „versenkt'' aus „hinreisst".
^) Nach „Schleier" gestrichen: „iinsern Augen".
32
Die Vasken.
den Archiven von Ciboure findet) die Regierung Seeleute von
Ciboure ; der Ort antwortete aber, dass er deren schon 3000 Mann
zu verschiedenen Expeditionen gegeben habe, und nun deren
nicht mehrere auftreiben könne. Jetzt rechnet man in dem ganzen
Ort nicht mehr als 1400. so wie in Luz etwa 2000 Seelen.
Als der letzte beträchtliche Grenzort Frankreichs gegen
Spanien ist St. Jean de Luz bei einigen politischen Ereignissen
merkwürdig geworden. Man zeigt noch das Haus, in welchem
Carl 5. wohnte, als er hier durch nach Spanien ging, und eben so
dasjenige, welches Ludwig 14. zur Wohnung diente, als er i6[6o]
seiner Spanischen Braut hier entgegen kam. Es liegt am
Markte und hat 4 kleine Thüren an den Ecken, das Haus der
Infantin war schräg gegenüber und zwischen beiden war ein
hölzerner bedeckter Gang^) über den Markt weg gebaut, um
unmittelbar^) von dem einen zu dem andern zu gelangen.
Anda3^e und Fuenterrabia.
Wir verliessen St. Jean de Luz , als der Tag kaum ^) zu
dämmern anfing. Der Mond schien noch falb vom Himmel herunter,
und warf eine göttlich magische Beleuchtung auf die vielen in
mahlerischen Gruppen vertheilten kleinen und grösseren Gehölze
und die mit Epheu überdeckten Mauern der zerstreut liegenden
ländlichen Wohnungen. Der Hebliche Reichthum dieser unendlich
mannigfaltigen Gegend, wo der sich schlängelnde Weg mit jeder
Krümmung eine neue Scene zeigt, bald Gruppen üppig gewachsener
Bäume sich in einander verschränken, bald aus dem dichten Grün
die Gemäuer eines alten Schlosses mit seinen Thürmchen her-
vorsteigen, bald ein freundlich von Hecken umschlossnes Acker-
stück, eine fruchtbare Ebne, oder eine reich durchwässerte Wiese
einen grünen Teppich ausbreitet, vervielfältigte sich auf eine
entzückende Weise in dem zweifelhaften Schimmer der nächtlichen
Beleuchtung, und die dunkeln ^) Gebirgsmassen im Westen ^) vor
uns warfen einen finstern Schatten auf das bezaubernde Gemähide.
^) „ein — Gang^' verbessert aus „eine Brücke^'.
2) „unmittelbar'^ verbessert aus „eine unmittelbare Gemeinschaft zwischen
beiden'^
^) „kaum'' verbessert aus „eben".
*) „dunkeln" verbessert aus „finstern".
^) „im Westen" verbessert aus „in der Ferne".
Andaye und Fuenterrabia. 95
Als wir Urogne verlassen hatten, brach der Tag an. Wir
wandten unsre Pferde um, und sahen den herrlichsten Sonnen-
aufgang vor uns. Dichte Nebelwolken bedeckten den Osten. Die
ersten Stralen brachen lichte Plätze durch und vergoldeten den
dunkeln Saum. Zuerst traf der Glanz ^) die entferntesten Gewölke;
sie rissen sich von der finstern Masse los, und schwammen wie^)
goldne Flecken in der reinen Lutt. Dann trat er näher und
näher zum Horizonte herunter, und nur noch dicht über dem
Aufgang ^) ruhte ein schwarzes Gewölk. Vom flammendsten
Purpur bis zum zartesten Rosenroth; schwammen alle Nuancen
des Feuergelben in einander über, und als hätte das aufspringende
Licht mit dem Glänze zugleich Bewegung ausgegossen, fluthete
die erst schwer ruhende Wolkenmasse nun in wogendem Schimmer
hin und wieder. Aber bald war der ungleiche Kampf geendet,
der prächtige Farbenreichthum verlor sich in Einen blendenden^)
Lichtglanz, und die Sonne °) trat hinter dem schattigen Gewölk
hervor.
Ich kann mich nicht enthalten bei der Erinnerung an diesen
göttlichen Morgen eine Stelle des Apollonius Rhodius herzusetzen,
in der dies freudige Aufspringen, mit dem Berg und Wald bei
jedem heitern Sonnenaufgang dem hervortretenden Licht entgegen-
zuzittern scheinen, auf eine wahrhaft grosse Weise geschildert
ist. Die Argonauten landen nach einer mühseligen nächtlichen
Fahrt in der Morgendämmerung an einer wüsten Insel. Der Tag
bricht an, und die Sonne erscheint.
Ihnen erschien dort, auf vom fernen Libyen steigend ®)
Zu dem unendlichen Volk der Ilyperboreischen Männer,
Letos Sohn. Herab von den Wangen des Schreitenden wallten
Dicht wie Trauben ergossen die goldgeringelten '') Locken.
In der Linken bewegt' er den silbernen Bogen ; den Rücken
Deckt' ihm über die Schultern der Köcher; doch unter den Füssen
Sprang aufzitternd die Insel, es schlug das Meer aufs Gestade.
^) „traj der Glanz" verbessert aus „wurden .... bestrahlt".
^) Nach „wie" gestrichen: „rein&'.
*) „dem Aufgang^' verbessert aus „der Sonnenscheibe".
*) Nach „blendenden^' gestrichen: „milden".
^) Nach „Sonne" gestrichen: „selbst'.
*) „steigend" verbessert aus „gehend".
') „den — goldgeringelten" verbessert aus ,Jeglicher Wange geringelt
Wallten dem Schreitenden mächtig die goldentraubigen" ; am Rande steht noch
„Aehnlich den" und „Traubenähnlich".
W. V. Humboldt, Werke. Xm. 3
oA Die Vasken,
Und es ergriff sie Entsetzen, unendliches ; keiner auch wagte
Grad entgegenzuschaun ins herrliche Auge des Gottes,
Sondern sie standen, den Blick zum Boden gesenket, doch er ging.
Fern durch die Luft hinwandelnd, entgegen des Oceans Wogen.*)
Urogne**) ist der letzte Französische Ort auf der grossen
Strasse nach Madrid. Man findet nachher nur noch das Zollhaus
im Pass von Behobie, ***) wo man über die Bidasoa übersetzt.
Wir verliessen aber die Landstrasse nicht weit hinter dem
Flecken und nahmen unsern Weg^) rechts über die dem Meer
näher liegenden Anhöhen. Ein Basque, der auf seinem kleinen
Pferde nach Andaye ritt, gesellte sich zu uns. Er hatte den letzten
Krieg gegen Spanien mitgemacht und erklärte ^) uns die ver-
schiedenen Stellungen beider Armeen. Auch schon bis dahin
hatte uns der Weg mehr als eine Spur der Verwüstung in halb
eingeschossenen Mauern und verlassenen Häusern gezeigt; hier
sähe man noch die damaligen yerschanzungen, aber Wälle und
Gräben waren mit Gras, Blumen und Gebüsch überwachsen, und
dienten w^ieder, wie vormals, zum friedlichen Weideplatz.
Die Gegend zwischen dem Pass von Behobie, Anda3^e und
Ciboure war im Feldzug von 1793. ehe man die Spanier in ihrem
eignen Lande angriff,^) der hauptsächlichste Schauplatz des Krieges,
da die Franzosen alle Anhöhen in diesem Strich, vorzüglich den
Berg Ludwigs 14. an der Bidasoa besetzt hielten.
Am 23. April griffen die Spanier mit einem Regen von Bom-
ben, Kugeln und Haubitzen die Verschanzung dieses Bergs und
Andaye an. Die erschrocknen Einwohner flohen mit Weibern
und Kindern davon, und obgleich die Spanier wieder über die
*) Argon. II. 674.
**) Es hat seinen Namen von seiner Lage auf einer kleinen Anhöhe an einem
Bach. Ura, Wasser, oina, ona, Erhöhung und daher der Fuss. Eigentlich bedeutet
es den Theil, wo der Fuss in die Höhe steigt, den Spann, und so liegt in der Vas-
kischen Benennung dieses Theils dasselbe Bild, was das deutsche Wort Rist (verwandt
mit Riese)*) ausdrückt. Dieselbe Silbe findet sich in mehreren andern Namen z. B.
Onate, Oüa u. s. f.
***) Nicht, wie in mehreren Reisebeschreibungen steht, Beobid. Es heisst die
Grube, die Vertiefung dort unten. Wirklich liegt das Zollhaus in einer Tiefe zu der
man von beiden Seiten hinabsteigt.
*) „nahmen unsern Weg" verbessert aus „ritten".
2) „erklärte" verbessert aus „zeigte".
*) „7nan — angriff"" verbessert aus „der Krieg in Spanien selbst geführt
wurde*' aus „die Franzosen in Spanien eingedrungen waren".
*) Nach „Riese" gestrichen: „und Spann {wenigstens nach Adelung h. v.)".
Andaye und Fuenterrabi'a. oc
ßidasoa zurückgingen, so nöthigten sie doch durch diese Expedi-
tion den Feind, seine vorige Stellung zu verlassen und sich bis
zu der Croix des botiqtLcts zurückzuziehen.
Der Hauptschlag aber musste ihm in seinem Lager bei Sare
beigebracht werden, und die Spanier richteten daher auf dieses
ihr ganzes Augenmerk. Sie überlielen die Franzosen hier am Morgen
des 1. Mais. Diese erschraken aus den Gebirgsschlünden auf sich
schiessen zu sehn, ohne dass sie noch einen Feind erblickten,
gegen den sie sich vertheidigen konnten, entflohen aus allen
Kräften, und die aus dem Hinterhalt hervorbrechenden Spanier
gingen auf das Lager los.^j Der tapfre Latour-d'Auvergne, der
sich zugleich als Ivrieger und als Schriftsteller Ansprüche auf die
Dankbarkeit der-) ßasquen erworben hat, versuchte ihnen den
letzten schwachen Widerstand entgegenzusetzen. Er stellte sich
mit hundert Mann auf die Anhöhe der Heiligen Barbara, und
indess rund um ihn her die Verwirrung und der Schrecken der
Flucht und Verfolgung herrschten, erwartete er dort ruhig den
Angriff eines 500 Mann starken Trupps Spanischer Reuterei. Er
Hess sie auf 20 Schritt auf sich zu kommen, empfieng sie dann
mit einem fürchterlichen Musketenfeuer und sprengte sie glück-
Hch auseinander. Allein sein Haufe war zu klein, ^j er musste
kurz darauf gleichfalls weichen, und erreichte nur mit wenigen
Grenadieren das Lager bei Sare. Hier fand er nichts als Unord-
nung und Verwirrung und so zog sich die ganze Armee nach
Ustariz zurück.
Nachdem die Stellung *) bei Sare aufgegeben war, konnte sich
Andaye nicht mehr halten. General Servan befahl daher am 2. Mai
es zu verlassen. Der Feind machte hiebei nicht die mindeste
Bewegung, aber der panische Schrecken, der die Franzosen be-
fallen hatte, war so gross, dass dieser Rückzug einer völligen
Flucht ähnlich sah. Nur die Lagergeräthschaften wurden gerettet;
eine Menge Mund und Kriegsprovisionen und mehrere Stücke
groben Geschützes blieben in dem Fort zurück. Alles dies fiel
den Spaniern in die Hände; sie brachten es auf die andre Seite
der Bidasoa herüber, zerstörten die Festungswerke von Andaye,
^) }}g^^g^^ — ^05" verbessert aus „verfolgten sie^'.
^) „Ansprüche — der" verbessert aus „bedeutende Verdienste um die".
*) „klein" verbessert aus „schwach".
*) „die Stellung" verbesseret aus „das Lager".
3*
36
Die Vasken.
und legten an den Ufern des Meers und auf dem Berg Ludwigs 14.
mehrere kleine Läger an.
Wenn die Phantasie ein Bild der Oede, Menschenleere und
Verwüstung entwirft, so hat sie ein treues Gemähide des jetzigen
Zustandes von Andaye. Der Flecken liegt ^) auf einer ziemlich
weiten Fläche zerstreut, und scheint ehemals ein reinliches und
freundliches Ansehn gehabt zu haben. Jetzt sind alle Häuser, bis
auf einige wenige, zerstört; die leeren Mauern stehen halb ein-
gefallen da; den Fussboden, den sonst Menschen bewohnten, be-
decken wildes Gesträuch und Dornen, an den inneren Wänden
rankt Epheu empor; durch die halbzertrümmerten Fenster sieht
man mitten durch die Wohnung hindurch auf das wüste Meer.
Auf den Strassen findet man noch hie und da Bomben liegen;
kaum aber begegnet man nur von Zeit zu Zeit einem Menschen.
Der grösste Theil der Einwohner ist in den Gefahren und in dem
Elend der Flucht umgekommen, oder hat sich anders wohin zer-
streut; jetzt mag der ganze Ort kaum noch von 50 Familien be-
wohnt seyn,^) und was das rührendste ist, so haben sich neue
Ankömmlinge, unvermögend das Alte wiederherzustellen, in den
weiteren Mauern der alten Häuser kleine elende Hütten, nur an-
gelehnt an den ehemaligen W^ohlstand, angebaut.^)
Wir eilten diesen jammervollen Anblick zu verlassen und be-
stiegen die Ruinen des Forts, das unterhalb der Stadt auf einer
schönbewachsenen Anhöhe dicht an der Meeresbucht liegt, und
dem Flecken sein unglückliches Schicksal zugezogen hatte. Wir
kletterten über die Steine und das verfallene Gemäuer hinweg,
und genossen nun einer schönen Aussicht auf Fuenterrabia vor
uns, die Ufer der Bidasoa ins Land hinein zur Linken, und hinter
uns auf einen von den grösseren Gebirgen mahlerisch um-
schlossenen Acker- und Wiesengrund,
Fuenterrabia und Andaye liegen einander gerade gegenüber,
an der Bucht, welche die in die Flussmündung heraufsteigende
Meeresfluth vor dem Ausfluss der Bidasoa macht. Die Bucht
ist lang, schmal, und in verschiedenen Windungen gekrümmt.*)
^) Nach „liegt" gestrichen : „mit seinen Häusern".
^) „jetzt — seyn" verbessert aus „kauyn 50 Familien vielleicht sind nachher
wieder dahin zurückgekeh7-t'\
*) Nach „angebaut" gestrichen : „und nähren auf diese Weise ein fortwäh-
rendes Andenken an ihr trauriges Geschick.'^
*) „gekrümmt" verbessert aus „gebogen".
Andaye und Fuenterrabi'a. nn
Zwei beinah sichelförmig gestaltete Sandbänke verengen sie noch
mehr, und lassen nur eine ^) bogenförmige Strasse zur Ausfahrt
ins Meer die überhaupt bloss Fischernachen dienen kann. Andaye
liegt, wie schon gesagt, mit seinen Häusern dorfartig zerstreut.
Fuenterrabia, das sich mit seiner hohen Kirche und ihrem Thurm
von dem runden Vorhügel herab, auf dem es steht, im Meer
spiegelte, hat, eng zusammengebaut, ein mehr städtisches, aber
auch finstres und trauriges Ansehn. Die Hügel hinter Andaj'^e
sind reich mit hohem Gras und Gehölze bewachsen, eine freund-
liche Flur, hinter welcher die Pyrenaeen, besonders die Spitze
der Larruna hervorblicken. Die Berge hinter Fuenterrabia gegen
das Meer sind höher; eine zusammenhängende Kette, die Fort-
setzung des Jaizquibels, erstreckt sich bis an die Spitze del Higuer,
aber es sind oede Heiden, baumlos und kahl. Von Fuenterrabia
her klangen die Glocken, die zur Messe läuteten ; in Andaye ging
die Trommel zur freilich etwas späten (am 30. April) Ausrufung
des Luneviller Friedens, an deren Wahrheit die armen Einwohner
— so ungläubig hat sie das Unglück gemacht — nur erst auf
unsre Versicherung nicht mehr zweifelten.^) So verschieden kün-
digte sich uns Frankreich und Spanien an.
Die Einwohner von Fuenterrabia und Andaye leben natüriich
in täglicher Gemeinschaft mit einander. Zu demselben Völker-
stamm, gehörend, dieselbe Sprache, und auf der Grenze sogar nur
mit kleinen Verschiedenheiten des Dialectes, redend, müssen sie
noch näher, als sonst Gränzbewohner verschiedener Reiche mit
einander verbunden seyn. Es gehört mit zu den weniger be-
achteten Grausamkeiten unsrer in das Interesse der \^ölker, die
sie führen, wenig verflochtenen Kriege, diese Gemeinschaften
plötzlich abzuschneiden, und zwischen ruhige Bewohner be-
freundeter Orte eine Scheidewand des Hasses und der Feind-
schaft zu setzen, die ihrem Interesse und ihren Neigungen gleich
fremd ist.
In den weiter entfernten Gebirgsthälern hat es dem unge-
bildeten einfachen Natursinn der \"asken Mühe gekostet, zu be-
greifen, dass ein Krieg zwischen Staaten, denen sie nur zufällig
angehören, sie aus ihren gewöhnlichen Verhältnissen herausheben
und ihren Empfindungen gebieten soll. Gleich beim Ausbruch
*) iVflcÄ „eine'' gestrichen: „schmale und''.
*) „nicht mehr zweifelten" verbessert aus „glaubten'
38
Die Vasken.
des ersten Feldzugs im Jahr 1793. zeigte sich ein merkwürdiges
Beispiel davon in OberNavarra.
Die Thäler von Mauleon und Baretons zahlten jährlich einen
Tribut von drei jungen Kühen an die Spanischen Thäler von
Roncal und Salazar. Als wäre kein Krieg zwischen beiden Län-
dern ausgebrochen, oder als könnte eine Streitigkeit des Königs
von Spanien mit der Französischen Republik die Freundschaft
zwischen ihnen und ihren Nachbarn nicht stören, begaben sich
die Bewohner der Spanischen Thäler zur gewöhnlichen Zeit an
den gewöhnlichen Ort, um ihren Tribut zu empfangen. Da aber
niemand erschien, gingen sie über die Gränze, wählten aus der
ersten Heerde, die sie fanden, drei junge Kühe aus, und kehrten
ruhig, und ohne zu ahnden, etwas gethan zu haben, das Ver-
geltung heischte, in ihre Wohnungen zurück. Die Franzosen
hingegen nahmen die Sache nicht so harmlos auf. Sie fielen in
die Spanischen Thäler ein, triebeji eine grosse Anzahl von Heerden
fort und zündeten selbst einige Häuser an. Jetzt, da man den
friedlichen Navarrer gezwungen hatte, seine Nachbarn feindlich
zu behandeln, erwachte auch in ihm das Gefühl des erlittenen
Unrechts.^) Die Bewohner jener Thäler brachen wiederum in
Frankreich ein, und steckten das Dorf St. Engrace in Brand.*)
Wie mannigfaltiges Unglück hätte vermieden werden können,
wenn man Thäler, welche die Natur selbst durch ungeheure Ge-
birge von der übrigen Welt absonderte, in der glücklichen Un-
wissenheit der Verbrechen und Thorheiten gelassen hätte, die man
jenseits beging 1
Fuenterrabia hat seinen Namen der versandeten Flussmündung
zu verdanken, an der es liegt. In Urkunden des 13. Jahrhunderts
wird es On- oder Undarribia genannt, und bei den heutigen Bis-
cayern heisst es Ondarrabia, beides von Ondarr-zdaya, .SRndÜuss**}
*) Diese Anecdote ist so sonderbar, dass sie vielleicht bei einigen eines Gewährs-
mannes bedarf. Sie steht in den schon oben angeführten mem. siir la deniiere guerre.p. 14.
**) Oihenart in seiner Notitia utriusque Vasconiae p. 168. erklärt Ondarr-
ibaya, letzter Fluss, weil die Bidasoa der letzte Fluss von Spanien her ist. Ondoa
aber (ver^vandt mit fiindus) heisst eigentlich der Grund, das Tiefste einer Sache und
nur insofern das Ende, das Letzte ; von ondoa ist ondarra, das was sich auf dem
Grunde setzt, der Schlamm, und in weiterer Bedeutung der Sand. Vergleicht man diese
Bedeutung des Worts mit der Lage des Orts und dem Namen des ähnlich gelegnen
Ondarroa, so fällt die wahre Ableitung^) in die Augen.
^) „erwachte — Unrechts" verbessert aus „unterliess er nicht, sich zu rächen".
2) Nach „Ableitung" gestrichen: „klar".
Pasages. (Le Passage.) 99
Denselben Namensursprung hat Ondarroa, ein andrer kleiner
Küstenflecken in Vizcaya. Aus Ondarrabia ist nachher durch
Verdrehung der Spanische und Französische Name*) entstanden.
Wenn man sich über die Meeresbucht nach Fuenterrabia
übersetzen lässt, geht ein Weg landeinwärts den Fluss hinauf. Wir
verfolgten diesen, ohne die Stadt selbst zu besuchen. Er läuft an
einer Reihe steiler, aber dicht mit Gebüsch bewachsener lOippen
hin, an denen kleine Felstreppen zu oben angelegten Garten-.
stücken hinaufführen. Links ist eine Allee von Ellern und Eschen
und durch sie hindurch sieht man die in lauter schmalen, durch
Wassergräben geschiedenen Gartenbeten sorgfältig bebauten Ufer
des Flusses. Es macht einen sonderbaren Contrast, aus diesem
dichten mannigfaltigen Grün zurück auf die finstre Stadt zu blicken,
deren Festungswerke gerade auf dieser Seite zerstört sind. Sie
liegen noch eben so in Schutt und Graus da, wie die Mine sie
gesprengt hat, und hinter ihnen erhebt sich die hohe unversehrt
gebliebene Kirche mit ihrem Thurm.
Fuenterrabia fiel ^) nemlich im August 1794. den Franzosen in
die Hände. Die Stadt hatte durch ein sechstägiges Beschiessen
sehr gelitten, und da die Besatzung nur aus 600. Mann bestand,
welche den Depot verschiedener Regimenter ausmachten, so ver-
diente ihr Befehlshaber D. Mcente de los Reyes, ein bejahrter
Officier, Entschuldigung, sich auf die erste Auffoderung zu er-
geben. Die Festungswerke wurden erst nachher gesprengt, nur
ein kleiner Theil blieb stehen, und auch unter diesem war die Mine
schon angelegt. Das Fort del Higiier ergab sich zu gleicher Zeit.**)
Bei dem Capucinerkloster macht der Berg eine Ecke und wir
wandten uns nun rechts gegen St. Sebastian zu.
Pasages. (Le Passage.)
Einige wenige zum Fahren eingerichtete Chausseen abge-
rechnet, kann man in den Innern Theilen Biscayas nur zu Pferde
*) Risco in der Fortsetzung der Espana sagrada. T. 32. p. 153. hält den Vas-
kischen Namen für neuer als den Spanischen, allein ohne hinlänglichen Grund. Schrift-
steller, die Lateinisch schreiben, haben den wahren Namen noch eleganter in fons
rapidus oder rabidiis verdreht.
**) Mem. sur la derniere guerre cet. p. 114. Die genaueste und ausführlichste
Zeichnung der Gegend zwischen St. Jean de Luz bis Fuenterrabz'a findet man auf der,
dieser Schrift beigefügten Karte der französischen und Spanischen Grenze.
*) „fiel" verbessen aus „ergab sich".
40
Die Vasken.
fortkommen, und selbst für das Reiten sind manche Wege noch
gefährlich oder unbequem. Gewöhnlich findet man schmale
schlecht gepflasterte Strassen, die indess wenigstens ein ziemlich
häufiges Verkehr der Oerter unter einander beweisen.
Ein solcher führte uns, meistentheils im Schatten kleiner Eichen-
gehölze, an dem Fusse des Jaizquibels hin;^) zu unsrer Linken
sahen wir die schön angebaute Ebne, die aber überall von Hügeln
und lieblichen Gründen durchschnitten ist. Wir wurden es müde,
immer nur den öden Jaizquibel*) im Gesichte zu haben, und
durch ihn der freien Aussicht auf das Meer beraubt zu werden,
wir verliessen unsre Pferde, und trotz der Hitze des Mittags, be-
stiegen wir den Gipfel des Bergs.
Bis auf ein Drittheil ungefähr ist er noch mit Gehölz be-
wachsen; hernach kommt wüste und steinigte Heide. Das Auf-
steigen ist wegen der Steile auch für Fussgänger beschwerlich;
dennoch fährt man hier sogar mit Ochsenwagen hinauf, und man
sieht so wenigstens den Grund ihrer Kleinheit '^) ein.
Oben überraschte uns die ungeheure Meeresaussicht. Die un-
ermessliche Flut lag, ohne allen unterbrechenden Gegenstand, vor
uns; um die heisse Mittagsstunde still und wellenlos gelagert,
schien ihr äusserster Saum, wie Duftwolken am^ Horizonte empor-
zusteigen; die wüste Einsamkeit des Berges entsprach dem An-
blick des Meers und Land, Himmel und Wasser vollendeten
zugleich das Bild einer furchtbaren, Schwermuth erregenden Oede.
Welchen Eindruck musste dieser Anblick auf den Römer machen,
als sich zuerst seine Flotten von dem oft besuchten Mittelmeer
in diesen einsamen Busen wagten, zu einer Zeit, wo vermuthlich
noch undurchdringliche Waldungen diese unwirthbare Küste be-
deckten, wo noch keine wohlthätige ^) Cultur die Rauhigkeit des
Climas gebrochen hatte, wo ihm keine Spur menschlichen Fleisses
entgegenlächelte, und die Wildheit der Bewohner und der bar-
barische Klang ihrer Töne, die sein verweichlichtes Ohr sich so-
*) Der Jaizquibel hat seinen Namen von seiner Lage. Quibela oder guibela
heisst das Hintertheil von etwas, guibelean, hinter. Die erste Silbe soll von Itsasoa,
Meer, herkommen, also hinter dem Meer, Meeresrücken,
') „an — hin" verbessert aus „zu unsrer Rechten stieg der Jaizquibel auf
in die Höhe".
^) „den — Kleinheit" verbessert aus „warum es nothwendig ist, dieselben so
klein zu bauen".
*) „wohlthätige'' verbessert aus „milde".
Pasages. (Le Passage.) ai
gar in einigen wenigen Eigennamen aufzubewahren scheute,*) die
Furchtbarkeit der Gegend noch vermehrten.
Wir gingen eine lange Strecke oben auf dem Gipfel hin. Die
Heide des Bergs senkt sich in mehreren Hügeln zum Meeres-
ufer hinab, oben weidete einzelnes Vieh. Vor uns zeigten sich
neue Gebirge, unter denen wir besonders zwei in gleicher Ge-
stalt und Höhe schwesterlich aufsteigende Spitzen bemerkten.
Wir traten nun in eine neue Berggegend ein,^) und die bekann-
ten Gipfel, die wir bis Jetzt jeden Alorgen begrüsst hatten, fingen
an, in der Ferne zu verschwinden.
Die Ebne, die man vom Jaizquibel aus übersieht, ist das
Thal von Oyarzuna. In den Urkunden des Mittelalters geschieht
dieses Thals häufige Erwähnung; es erstreckte sich damals von
St. Sebastian bis an die Bidasoa, und begriff, ausser dem Flecken
Oyarzun selbst, noch Fuenterrabia, Renteria, und Irun unter
sich; Pasages hiess sogar nur der Hafen von Oyarzuna. Die
Spanischen Schriftsteller rühmen den Muth und die Leibesstärke
seiner Bewohner, und die Könige von Spanien ertheilten demselben
mehrere-) Privilegien. Seit dem 13. Jahrhunderte aber erhielten
einige dazu gehörende Orte besondre Freiheiten und eigne Ge-
richtsbarkeit, und seitdem ist der Name Oyarzun auf die nächste
Gegend um den Ort, der ihn trägt, beschränkt worden.
Als Plinius in seiner geographischen Beschreibung Europas
von Gallien zu Spanien übergeht, nennt er zuerst von den Pyre-
naeen aus am Ocean : das Vasconische Waldgebirge Olarso.**)
Derselbe Ort, nur mit verschiedenen Veränderungen des Namens,
larso, Oeaso, Eason, findet sich auch bei den übrigen Erdbeschrei-
bern der Alten. Man erkennt hierin leicht den heutigen Namen
des Orts, in den Urkunden des Mittelalters Oyarzo, wieder, und
man sieht zugleich hierin einen Beweis des Alters der Vaskischen
Sprache. Denn Oyarzuna ist ein rein Vaskisches Wort und deutet
eine steinigte Anhöhe***) an. Wirklich ist der heutige Flecken aui
*) Die alten Schriftsteller klagen namentlich über die entsetzliche Härte ') der
Namen der Nordküste Spaniens.
**) IV. 34. Vasconum saltus, Olarso.
***) Oyana heisst, vorzüglich im Labortanischen Dialect, Wald, Gebüsch, und daher
erklärt Oihenart Oyarzun durch locum siluestre}7i. Allein nach Herrn Astarloas scharf-
^) „traten — ein" verbessert ans „saheti jetzt eine neue Berggegend vor
uns, in die wir kommen sollten".
*) „mehrere" verbessert aus „daher besondre".
*) „Härte" verbessert aus „Schwierigkeit der Aussprache".
42
Die Vasken.
einer solchen gebaut, und das ganze Thal von dergleichen Hügeln
unterbrochen. Das Vorgebirge Oeaso ist vermuthlich der Jaizqui-
bel oder dessen äusserste Spitze, la funta del Higuer, und der
Flecken gleiches Namens lag wahrscheinlich mehr landeinwärts '^)
oberhalb Pasages ; *) denn auch da noch konnte er leicht von dem
Busen des Meeres bespült werden, da das Meer ehemals an dieser
Seite tiefer ins Land ging, und man noch jetzt weiss, dass bei
Renteria sonst Schiffswerfte waren, wo sich jetzt Gärten befinden.
Von den Wäldern, deren Plinius gedenkt, würde man jetzt nicht
gleich viele mehr antreffen. Doch hat es noch Zeiten gegeben,
wo der Flecken Renteria allein 29 aus seinen eignen Waldungen
erbaute Kauffartheischiffe besass.
Beim Heruntersteigen vom Jaizquibel fanden wir den Weg
felsigter, auch benahmen uns viele meistentheils mit Gehölz be-
kränzte vortretende Hügel die freie Aussicht auf die Ebne und
Hessen uns nur in die kraterä)inlichen Kessel blicken, die sie
bilden. Der Charakter der Gegend ist hier an der Küste fast
überall derselbe. Kleinere und grössere Bäche ergiessen sich, von
den entfernteren Bergen herkommend, ins Meer. Die Fluth steigt
in ihnen hinauf und lässt ihren Schlamm zurück. Daher immer
enge Thäler zwischen den Bergen, tiefe Flussbetten und häufige
Sandrisse. Von der Höhe hatten wir noch einmal die Aussicht
auf eine schöne Bucht. Zwei vortretende Klippen bildeten eine
enge Mündung, auf der ruhigen grünbeschatteten Fläche der lieb-
lich mit Gebüsch überhangenen Bucht schwamm ein Fischernachen
und durch die Enge der Felsenöfnung sah man auf die hohe See.
Der Jaizquibel ist 278 französische Klaftern hoch,**) wir
waren schon beträchtlich hinuntergestiegen und sahen in der
sinniger Bemerkung drückt die Silbe O, Oi, und davon Oyana, oihana, vorzüglich in
Namen, eine Anhöhe, einen Berg aus. So bei Marquina S. Christoval de Oiz (der
Heilige Christoph von der Höhe), Oion, Oyarzun von Oyana, Höhe, und ar'ria, Stein,
und Oihenarts Name selbst (von o und artea, zwischen), einer der zwischen zwei An-
höhen wohnt. Die Bedeutung des Waldes ist erst abgeleitet, die Verwechslung beider
Begriffe aber in Gebirgsgegenden natürlich, und auch in andern Sprachen gewöhnlich, wie
das Spanische monte beweist.
*) So giebt Risco in der Espana sagi'ada Vol. XXXII. p. 186. sq. ihre Lage an, er
bestimmt sie (wohl aber zu genau) durch eine Höhe, die jetzt Basanoaga (vielleicht von
Basoa, anoa und aga, Walddickichtort) heisst.
**) Mein, sur la derniere giierre cet. p. 12.
^) „mehr landeinwärts" verbessert aus „tiefer ins Land hinein und in der
Nähe des heutigen Oyarzuna".
Pasages. (Le Passage.) 42
Tiefe ein schönes Eichengehölz unter uns. Gleich einem durch die
Natur selbst geformten Altar, lag ein grosses Felsstück vor einer
alten mächtigen Eiche, wie man sie selten in südhchen Ländern
antrift, in einiger Entfernung davon ein Kreis andrer kleinerer.
Wir lagerten uns hier auf einige Augenblicke; als wir aber im
Schatten von der Ermüdung des Steigens sanft ausruhten, ahn-
deten wir nicht, dass wir nur um wenige Schritte von dem lieb-
lichsten Flecke geschieden waren, den vielleicht an der ganzen
Französischen und Spanischen Küste das Meer bespült. Wie gross
war daher unsre Ueberraschung, als wir, da wir wieder aufge-
standen waren, und an den Abhang des Berges kamen, erst die
Gipfel von Schiffsmasten, dann eine neue Bucht, die mahlerischsten
Felsgruppen und zwischen ihnen und dem Meer weissschimmernde
Häuser erblickten. Wir stürzten mit Ungeduld die kleinen Fels-
stufen, an deren Rande wir standen, hinunter, und befanden uns
auf einmal^) auf den Strassen von Pasages.
Wir entliessen hier unsern Begleiter, einen Bauerknaben, den
wir von dem Felde zum Wegweiser über den Berg mitgenommen
hatten. Er wusste kein Wort Spanisch. Wir suchten zwar alles
unser Vaskisch zusammen, aber nur wenigemale gelang es uns,
ihm eine verständliche Antwort zu entlocken. Meistentheils mussten
wir uns an seinem traurigen Ezfaquit (ich verstehe es nicht) be-
gnügen.
Die Schönheit und Sicherheit des Hafens von Pasages ist aus
andern Beschreibungen längst bekannt. Nur die Mündung desselben
ist ausserordentlich enge, und daher das Ein und Auslaufen nicht
ohne Gefahr. Das Meer bildet zwischen hohen und schroffen Felsen
eine -) lange und schmale Strasse ins Land hinein ; von dem dies-
seitigen Ufer angesehen, treten in derselben drei Felsen, der mittlere
mehr, als die andern, vor, und bilden wieder in ihr zwei kleinere
Buchten. An dem aeussern Eingange ist das Fort Ste. Isabelle, am
Innern das Fort St. Sebastien gebaut. Am Ende dieser Felsstrasse
erweitert sich der enge, von beiden Seiten von furchtbaren Fels-
wänden bedrohte Meeresarm in ruhige, freundliche Buchten.^)
Das eigentliche Hafenbecken ist in dem Flecken selbst, von da
wendet sich die Fluth links und dehnt sich gegen St. Sebastian
*) Nach „einmal'' gestrichen: „mitten".
*) Nach „eine" gestrichen: „ziemlich".
') „freundliche Buchten" verbessert aus „Buchten und freundliche Seen".
44
Die Vasken.
ZU in einen See aus, den Weinberge und Gärten umschliessen.
Ein andrer Theil des Wassers reicht bis an Lezo, und kleinere
Arme noch jetzt, denn ehemals kamen selbst grössere Schiffe so-
weit, bis an Renteria.
Dies mildernde Uebergehen furchtbarer Felsmassen in niedrige,
schön bebaute Hügel, und die tiefe Ruhe des Hafens dicht hinter
den wütenden Wellen des Oceans geben diesem Ort einen einzigen
und unnachahmlichen Zauber. Abgeschieden von der übrigen
Welt fühlt man sich wie festgewurzelt in diesem köstlichen Ufer-
thal, eilt bald von der dunkeln Tiefe des Hafens zu dem glänzenden
Spiegel des weiten Sees, bald von diesem zu jenem zurück, kann
sich nicht sättigen an dem Genuss dieser freundlichen Einsamkeit
in der alle furchtbare Massen nur als Schutzwehren gegen das
Meer gekehrt scheinen, damit nichts die himmlische Ruhe dahinter
unterbreche. W^elchen der umherliegenden Gipfel man besuche,^)
die Höhe über der Bucht, oder den prächtigen Eichenwald am
Abhänge , oder die Kapelle der Heiligen Anna dicht bei dem-
selben, überall sieht man die Felsen von üppigem Gesträuch und
mannigfaltigem Grün überhangen, die Hügel sorgsam angebaut
und bepflanzt. Die kahle Scheitel des Jaizquibels tritt zu sehr
zurück, um den herrlichen Anblick zu stören, und kein lieblicherer
Wechsel kann auf die Wüste dieses Bergrückens folgen.
Wer mit ^) Naturgenüssen geizt, wird Pasages nie auf einem
andern Wege besuchen, als auf diesem, den der Zufall uns finden
Hess. Für diejenigen, die von Bayonne nach Madrid fahren und
ihren Wagen nicht auf lange verlassen wollen, ist es am leichtesten
von Oyarzun aus dahin zu kommen. Denn an Oyarzun liegt
Renteria so nah, dass es ehemals nur eine Vorstadt davon war,*)
und bis an Renteria geht der Meeresarm von Pasages. Sie dürfen
daher nur alsdann ihren Wagen in Oyarzun lassen und haben
einen sehr kurzen Weg zu reiten oder zu gehen.
Die Häuser von Pasages sind zum Theil an dem einen Ufer
des gegen St. Sebastian zu liegenden Sees, zum Theil um den
Hafen herum gebaut. Hinter diesen steigen unmittelbar schroffe
Felswände empor, und man ging aus dem Wirthshause, in das wir
*) Renteria heisst ein Pacht-Gut, und ist ein allgemeiner Name mehrerer kleiner,
dicht neben grösseren liegender Orte. So giebt es unter andern eine Renten'a de
Ondarroa und de Guernica.
^) „besuche" verbessert aus „besteige".
^) „mit" verbessert aus „nach".
Pasages. {Le Passage.J 45
einkehrten, ebenen^) Fusses von dem Boden auf eine Terrasse 2)
des Bergs. Von vorn werden sie oft von der Flut überschwemmt.
In diesem Gedränge sind die Einwohner nicht selten ihre Wohnungen
zw wechseln genöthigt, was bei der Kleinheit der Häuser ohne
viele Weitläuftigkeit geschieht. Wir sahen an mehreren Orten
verlassene Trümmer stehen.
Wenige Tage vor unsrer Ankunft, war eine Französische
aus Isle de France kommende Fregatte, VEgiptienne^ in Pasages
eingelaufen. Das Wirthshaus war mit Passagieren derselben an-
gefüllt, die sich mit erstaunlicher Neugier nach allem erkundigten,
was sich in Frankreich seit mehreren Monaten, in denen sie ohne
Nachricht geblieben waren, zugetragen hatte.
In dem Augenblick, da diese Fregatte in den Hafen einlief,
erschoss sich in demselben ein französischer Capercapitaine in
seinem Schiff. Er hatte 8 Schiffe erbeutet und alle, bis auf zwei
sehr unbedeutende, wieder verloren. Es war erst sein zweites
Auslaufen und er lag nun müssig und voller Verzweiflung in
Pasages. Als er die Egiptienne in den Hafen hereinkommen
sah, fragte er, was es für ein Schiff sey? Man sagte es ihm, und
setzte hinzu, dass sie eine ungewöhnlich schnelle und schöne Fahrt
gemacht habe. AJi! qiCüs sont heureux ceux-la! rief er aus, ging
vom Verdeck in seine Stube und erschoss sich.
Zu gleicher Zeit hatte sich eine andre unglückliche Begebenheit
zugetragen. Die Spanische Regierung hatte ein augenblickliches
Verbot auf das Auslaufen der Schiffe gelegt. Ein nach der
Guadeloupe bestimmtes Französisches, das schon lange im Hafen
lag, hatte die Kühnheit, um diesem Verbot zu entgehen, in einer
sehr stürmischen Nacht, den Hafen verlassen zu wollen. Es
strandete, eilf Menschen kamen um, der Capitaine aber und seine
drei Brüder (alle Officiere des Schiffs) retteten sich. Unter den
Umgekommenen war eine Frau mit ihrem Kinde, die ihrem
Mann nach Guadeloupe, wo er sich aufhielt, nachgehen wollte.
Die Unglückliche schien ein Vorgefühl ihres Schicksals zu haben.
Solange sie in Pasages gewesen war, hatte sie nicht aufgehört
allen ihren Bekannten davon zu reden. Je iiiembarque, sagte sie
oft, viais je sais qiie je vais me perdre.
Spät am Abend Hessen wir uns über den See nach St. Sebastian
übersetzen. Es sind immer Mädchen, welche hier die Stelle der
') „ebenen" verbessert aus „gerades".
*) „eine Terrasse" verbessert aus „die Spitze".
Aß Die Vasken.
Ruderer vertreten; sie umringen den Fremden, so wie er sich
nur dem Wasser nähert, und eifern in unverständUchem Vaskisch
mit einander um die Ehre ihn überzufahren. An dem jenseitigen
Ufer fanden wir unsre Pferde, und ritten nach St. Sebastian.^)
Am See empfiengen uns eine Menge Kinder, meistentheils Mädchen,
mit Tambourins und begleiteten uns, spielend und tanzend, mit
entsetzlichem Geschrei in die Stadt hinein. Diese Art zu betteln
ist jedoch hier nur den Maimonat hindurch üblich.
St. Sebastian.
Das Ländchen Guipuzcoa, in welchem St. Sebastian der vor-
züglichste Handelsplatz ist, erstreckt sich von der Bidasoa bis an
den kleinen Fluss, der sich bei Ondarroa ins Meer ergiesst. Gegen
Mittag gränzt es an Navarra und Alava. Es ist, wie alle Biscayische
Provinzen, sehr gebirgigt, aber dennoch, vorzüglich in einigen
Gegenden, ungemein fruchtbar, upd unter allen am meisten bevölkert.
Die Volkszählung von 1787. giebt die Zahl der Einwohner auf
120 716 an. In Rücksicht der Sprache hat diese Provinz ihren
eigenen Dialect, der für das Ohr des Fremden angenehmer, als
der eigentlich Vizcayische, obgleich nicht so lieblich als der
Französische (Labortanische) ist. Ueber den Ursprung des
Namens Guipuzcoa*) hat man vielerlei wunderbare Vermuthungen
gemacht; obgleich die Töne otlenbar Vaskisch sind, dürfte es
schwer seyn, auf etwas nur irgend Wahrscheinliches zu kommen ;
in älteren Urkunden wird das Land gewöhnlich Ipuscua,**)
Ypuscua genannt, und in einer vom Jahr 980. heisst S. Sebastian
bloss S. Sebastian de Puzico.***)
Jedermann kennt die bedeutenden Freiheiten, welche die
Biscayischen Provinzen geniessen. Da sie nicht durch Eroberung,
noch Erbschaft, sondern durch freiwillige Uebergabe der Krone
*) Oihenarts Ableitung von den Biturigibus Ubiscis oder Viuiscis ist gleich
unstatthaft, als die andern. Not, Vascon. p. 163. Die Vhiisci waren überdies
fremde Völker in Aquitanien und stammten von Nordgallien her. Strabo. IV. p. 131. (?)
**) Oihenart /. c. behauptet, dass es eben diesen Namen bei den Eingebohrnen
führe ; allein in gedruckten Vaskischen Büchern , unter andern schon in Ascular's
Gueroco giiero ^) finde ich immer Guipuzcoa.
***) Marca Hist. de Beame. l. I. c. 4. (?) [Larram. Dicc. I. LXXI.] Wären die
Wohnsitze der Paesiker (Paesici. Plin. ed. Bip. IV. 34. Cellarii not. orb. ant. I. 86.
§. 56. Mannert. I, 345.) nicht zu weit westlich, noch hinter den Cantabrern gewesen,
so könnte man bei der Ableitung des Namens an sie denken.
^) „nach St. Sebastian" verbessert ans „in die Stadt hinein".
^) Vgl. Band ß, 26g.
St. Sebastian.
47
einverleibt wurden, so hieng es von ihnen ab, die Bedingungen
dabei festzusetzen.^) Bekanntlich geschah diese Einverleibung im
Jahr 1200. unter Alphons 8. Alava und Guipuzcoa waren bis
dahin, nur mit kleinen Unterbrechungen, der Krone Navarra
unterworfen gewesen. Als aber Alphons 8. (in Castilien eigent-
lich 3.) im Kriege mit Sancho von Navarra Vitoria belagerte,
riefen ihn die mit Sancho unzufriednen Guipuzcoaner zu sich,
fielen von Navarra ab, und unterwarfen sich ihm. Es scheint,
als hätte sich Guipuzcoa gleich damals ganz und unwiderruflich
an Castilien ergeben, da man von demselben nicht, wie von Alava,
eine zweite Unterwerfung angemerkt findet. Doch sind die näheren
Bedingungen dieser Uebergabe nicht bekannt. Ueberhaupt ist es
zu bedauern, dass die Geschichte Biscayas noch bis jetzt so wenig
Aufklärungen erhalten hat. Die sparsamen -) Bruchstücke , die
man davon antrift, muss man mühsam aus den allgemeinen Ge-
schichtschreibern Spaniens und Navarra's zusammensuchen; die
einzigen,'^) welche, soviel ich weiss, bloss Biscava zu ihrem Zweck
gemacht, dies aber ganz umfasst haben, sind Oihenart*) und
Henao. *) Des letzteren Cantabrische Alterthümer aber bleiben
in vieler Rücksicht unbefriedigend,^) und der erstere führt nur
die Geschichte des Französischen Basquenlandes und Navarras
weiter aus. Ungemein wäre es daher zu wünschen, dass ein
vaterländischer Schriftsteller diese wichtige Lücke ausfüllte. Diesem
würde es alsdann nicht an hinlänglichen Materialien fehlen. In
wenig Landern giebt es in öffenthchen und Privat Archiven so
reichhaltige Quellen für die vaterländische Geschichte, als in Spa-
nien; in wenigen ist die Lust nach Untersuchungen dieser Art,
und selbst eine gewisse Geschicklichkeit, Urkunden zu lesen und
abzuschreiben, so allgemein verbreitet, und gewiss fände, wer
diese Geschichte zu bearbeiten unternähme, auch manche hand-
schriftliche vor Zeiten zu gleichem Behuf gemachte Arbeit, die er
benutzen könnte. Ich selbst erinnre mich, ohne weitere Xach-
*) Notitia utriusque Vasconiae tum Ibericae, tum Aquitanicae cet. authore
Arnaldo Oihenarto Mauleosolensi. (Mauleon in der Provinz Soule.) Parisiis. 1638. 4.
^) l>lach ,,festziisetze)i" gestrichen : „und die Könige von Spanien haben diese Vor-
rechte mit ebensoviel Gewissenhaftigkeit heilig gehalten, als die Eingebohrnen selbst."
^) „sparsamen'' verbessert aus „wenigen".
') Nach „einzigen" gestrichen: „Schriftsteller".
*) Hier steht ein Fragezeichen als Anmerkung. Henaos „Averiguaciones
de las antiguedades de Cantabria" erschienen Salamanca i68g—gi.
"*) „unbefriedigend" verbessert ans „unvollständig" .
^8 Die Vasken.
forschung, bei einem Gelehrten in Vitoria eine ungedruckte ^) Ge-
schichte Guipuzcoas und in dem Hause der Mazarredo's in Bilbao
eine der Familie ^) der Salazare, eines der ältesten und berühm-
testen Spanischen Geschlechter, das durch eine Erbtochter in das
Mazarredosche überging und seinen Stammsitz in Vizcaya hatte,
gesehen zu haben.
Am dunkelsten ist die Geschichte Guipuzcoa's. Man weiss
nicht einmal, ob es eigne Grafen, wie Vizcaya, hatte oder nicht.
Man findet bloss einzelne Beispiele dass in Urkunden der Titel :
Herr von Ipuscua vorkommt, und überhaupt ist es wahrscheinlich,
dass sich diese Provinz, wie die übrigen, sey es nun regelmässig
oder von Zeit zu Zeit, eigne Beschützer gewählt habe. Erst unter
Heinrich 4. erhielt sie das Vorrecht, nur unmittelbar dem Könige
unterwürfig zu seyn, und auch von ihm unter keiner Bedingung
verkauft oder einem andern überlassen zu werden.*)
Die Darstellung der kleinlithen Befehdungen und Innern Un-
ruhen, von denen ganz Biscaya, ehe Spanien zur Innern poh-
tischen Consistenz gelangte, ununterbrochen der Schauplatz war,
könnte man dem künftigen Geschichtschreiber desselben ohne Mühe
erlassen. Aber höchst interessant müsste es seyn, die Umstände
entwickelt zu sehen, unter deren Begünstigung es diesem kleinen
Bergvolke gelang, sich in Zeiten, wo ueberall ^) Unterdrückung
und Gewaltthätigkeit herrschte, eine Verfassung zu geben, die,
gleich weit von Despotismus und Anarchie entfernt, durchaus
einen edlen Freiheitsgeist athmet, und deren wohlthätige Folgen
auf die Sitten und den Charakter noch jetzt unverkennbar sind.
Die Vorrechte, welche Biscaya auszeichnen,*) sind im Ganzen
allen drei Provinzen gemein. Aber die Verfassung der einzelnen
weicht beträchtlich von einander ab. Die von Guipuzcoa ist
weniger verwickelt, als die Vizcayische, und beide sind reiner
demokratisch, als die von Alava.
Alle entscheidende Macht bei der Verwaltung der Angelegen-
heiten der Provinz geht in Guipuzcoa von der Versammlung der
Gemeinen aus. Sie ist es, welche den General-Deputirten sowohl,
als die Deputirten der Districte wählt, und diese sind nicht nur
*) Oihenart. p. 170.
^) „ungedruckte" verbessert aus „handschriftliche^^.
^) „der Familie"' verbessert aus „des Hauses".
*) „ueberall' verbessert aus „nichts als."
*) „welche Biscaya auszeichnen" verbessert aus „deren Biscaya geniesst".
St. Sebastian. xq
an ihre Beschlüsse gebunden, sondern müssen auch, wenn die
Wichtigkeit des Falls es erfodert, sie aufs neue ^) berufen, und
ihre Entscheidung abwarten.
Die Gemeinen kommen zwar nicht 2) selbst, sondern nur
durch Deputirte zusammen; allein diese werden immer ^) von
neuem gewählt, und die Grundsätze, nach welchen sie stimmen,
beruhen durchaus auf der Voraussetzung, als erschiene jeder selbst,
und gäbe seine Stimme in Person ab. Jedem Ort nemlich sind
nach Massgabe der Anzahl seiner Familienhäupter {vecinos\ bei
der ersten Einrichtung dieser Verfassung, eine gewisse Menge
von Stimmen eingeräumt worden, und das Gewicht, das er der
Entscheidung hinzufügt, hängt nun von dieser Anzahl der Stimmen,
nicht der Deputirten ab, die er sendet. Denn diese ist willkühr-
lich, auch pflegt jeder Ort gewöhnlich nur einen oder zwei zu
ernennen. Diese Art zu stimmen hat natürlich den Nachtheil, dass
die grösseren Ortschaften allein die Entscheidung in ihren Händen
haben. Sind die 8 oder lo Deputirten dieser für eine Sache ge-
wonnen, so schlägt das Gewicht ihrer Stimmen die übrigen 70,
wenn sie auch alle einmüthig**) einer andern Me3'nung wären, da-
nieder. Denn die Zahl aller Deputirten pflegt sich auf 80 zu belaufen.
Diese Generalversammlung^) geht in 18 Orten Guipuzcoas
um. Sie ist bestimmt den General- und die Districtsdeputirten zu
wählen, über allgemeine LandesAngelegenheiten zu entscheiden,
und die Punkte festzusetzen, über die in der nächstfolgenden Ver-
sammlung ^) berathschlagt werden soll. Die Zusammenkunft ge-
schieht in einem verschlossenen Zimmer, nicht öffentlich, und der
Vortrag immer in Spanischer Sprache. Nur erklärt man, wenn
die Sache wichtig ist, denen, welche kein Spanisch wissen, das
Gesagte auf Vaskisch. Die Deputirten sind im buchstäblichen
Verstände Stellvertreter ihrer Machtgeber. Die Gemeinen schrei-
ben ihnen, sobald die Sache ein hinlängliches Interesse für sie
hat, bestimmt vor, welche Meynung sie äussern "') sollen, und die
^) „aufs neue'' verbessert aus „zusammen".
*) Nach „nicht" gestrichen: „alle".
*) „immer" verbessert aus „alle Jahr".
*) „einmüthig" verbessert aus „einstimmig".
^) Nach „Generalversammlung" gestrichen: „wird alle zwei Jahre im Ju-
lius gehalten und".
®) „in — Versammlung" verbessert aus „im nächstfolgenden Jahre".
■') „äussern" verbessert aus „begünstigen".
W. V. Humboldt, Werke. Xm. 4
TQ Die Vasken.
Stimmen eines Orts werden so sehr als Eine Collectivstimme an-
gesehen, dass, wenn zwei Deputirte einer Gemeine ^) eine ver-
schiedene Meynung äussern, das Stimmrecht derselben für diesen
Fall gänzlich aufgehoben bleibt.
An ein Repraesentativsystem ist also hier nicht zu denken ; es
ist eine reine, und vollkommene Demokratie. Niemand lässt
seinen Willen durch einen Fähigeren vertreten, jeder entscheidet
jede Sache selbst , und der Deputirte ist nur das Organ der'
Stimmenmehrheit in jeder Gemeine.
Der Fall, dass die Deputirten desselben Orts in ihren Mey-
nungen nicht übereinstimmen, kommt nur selten vor, da sie nie
versäumen, bei ihrer Ernennung ihre Committenten um ihren
Willen in dieser oder jener Angelegenheit zu befragen. Er kann
sich daher nur dann zutragen, wann die Sache dem Ort, der sie
abschickt, wenig wichtig ist, und die Berathschlagung sie unvor-
bereitet antrift. Ihre Ernennung geschieht in den ^) besondern
Versammlungen jeder Gemeine. In diesen hat der Alcalde den
Vortrag und gewöhnlich wird er selbst gewählt.^)
Weder in diesen, noch in der General- Versammlung gilt irgend
ein Rangunterschied. Jeder Guipuzcoaner ist durch seine Geburt
selbst adlich; jeder, ohne Unterschied des Vermögens und Ge-
werbes, kann zum GeneralDeputirten ernannt werden; nur
müssen alle, welche Stimmrecht haben sollen, Grundeigenthümer
seyn. Von dieser Seite ist an einigen Orten die politische Ver-
fassung mit der Cultur des Landes in eine wohlthätige Verbindung
gebracht. Ein merkwürdiges Beispiel hievon sah ich auf einem
Spatziergange bei St. Sebastian.*) Neben dem Dorf Artigarraga*)
liegt ein hoher ^) Berg , von einer darauf befindlichen Capelle
Santiago genannt, der bis auf die äusserste Spitze ungemein gut
bebaut ist.*^) Ich wunderte mich über diesen ausserordentlichen
Fleiss, erfuhr aber nachher, dass, einem alten Herkommen zufolge,
niemand im Orte die Rechte eines stimmgebenden Bürgers ge-
messen ') könne, ohne Eigenthümer eines Ackerstücks auf diesem
*) Lindenplatz.
') „einer Gemeine" verbessert aus „eines Orts".
2) Nach „den" gestrichen: „jährlichen".
^) „gewählt" verbessert aus „ernannt".
*) Nach „Sebastian" gestrichen: „nach Ernain zu".
^) „liegt ein hoher" verbessert aus „sah ich einen hohen".
•) „ist" verbessert aus „war".
') „die — gemessen" verbessert aus „stimmgebender Bürger seyn".
St. Sebastian.
51
Berge zu seyn, wieviel er auch immer in der Ebne besitzen möge.
So ist durch diese auf den ersten Anblick wunderbar scheinende
Einrichtung eine ehemals wüste Heide in fruchtbares Acker- und
Gartenland verwandelt worden.
Der GeneralDeputirte steht an der Spitze der Verwaltung
aller Landesangelegenheiten und behält seine Würde zwei*) Jahre
hindurch. Er hat einen Adiunctus zur Seite, und berathet sich,
wenn er es für nöthig hält, mit den DistrictsDeputirten, oder
beruft auch eine ausserordentliche allgemeine Versammlung.^) Der
Districtsdeputirten [Dipidados de partido) sind 8 an der Zahl,^)
und der GeneralDeputirte hält mit ihnen jährlich zwei regel-
mässige Zusammenkünfte, die eine ^) im Julius, die andre im No-
vember, um ihnen Rechenschaft von seiner Verwaltung abzulegen.
Er ist *) nichts mehr als ihr ^"orsitzer und kann, wie man sieht,
keine Sache, die nur von einiger Erheblichkeit ist, allein nach
seiner Willkühr entscheiden.
Der Sitz des GeneralDeputirten , so wie des Königlichen
Corregidors, welcher die höchste Justizinstanz im Lande aus-
macht, ging ehemals zwischen den vier Städten Tolosa, St. Se-
bastian , Azcoytia und Azpeytia um , und der GeneralDeputirte
musste immer selbst aus einem dieser vier Orte genommen wer-
den. Man vv'ünschte seit längerer Zeit, hierin eine Aenderung zu
treffen. Aber das vorhin bemerkte Uebergewicht der grösseren
vier Ortschaften, deren Interesse hier gerade im Spiel war, ver-
eitelte die deshalb gemachten Versuche. Endlich setzte man es auf
die Weise durch, dass die Sache der Entscheidung einer Com-
mission überlassen wurde. Jetzt haben der GeneralDeputirte
und der Corregidor ihren beständigen Sitz in Tolosa, das sich
durch seine Grösse, und seine Lage, an der Strasse von Madrid
und fast mitten im Lande, am besten dazu schickt, und die Wahl
des ersteren ist auf keinen einzelnen Ort mehr eingeschränkt.
Ein sonderbares Herkommen ist es noch, dass sich zur Zeit
*) Josef de Beovide schreibt 15. Mai, 1784. an Hervas: la provincia celebra
todos los anos sus juntas en cada Junta de estas se nombra iiTi Dipu-
tado general. — Damals wäre er alle Jahre gewählt.
^) Nach „Versammlung" gestrichen: „aller Deputirten".
^) Nach „Zahl" gestrichen : „ihr Attit dauert gleichfalls nur zwei (aus
„ein") Jahr".
*) Nach „eine" gestrichen : „14 Tage vor der allgemeinen Versammlung,
am 2."
*) Nach „ist" gestrichen: „alsdann".
4*
["2 Die Vasken.
der Generalversammlung kein Advocat noch andrer Rechts-
gelehrter in dem Ort, in dem sie zusammenkommt, und in einem
gewissen Bezirk herum aufhalten darf. Der Ort selbst ernennt
bloss einige Rechtsverständige, deren Rath die Versammlung
nöthigenfalls einholen lassen könnte. So sorgfältig, scheint es,
suchte man den einfachen, aber gesunden Sinn des Landvolks,
aus dem sehr häufig die Deputirten gewählt zu werden pflegen,
allein wirken zu lassen und von den Einflüssen einer verfänglichen
Rechtsgelehrsamkeit frei zu erhalten.*)
Der König kann bekanntermassen den Biscayern keine Ab-
gaben auferlegen ; er schreibt nur, wenn es die Umstände erfodern,
freiwillige Geschenke aus. Diese werden alsdann in Guipuzcoa
nach dem Verhältniss der Stimmenzahl, welcher jeder Ort geniesst,
vertheilt, und um sie aufzubringen, legt die Gemeine eine kleine
Auflage auf den Verkauf des Fleisches, Weins u. s. f.^) Durch
ganz Spanien ist diese Art, die zu den Gemeineausgaben nöthigen
Summen zu erheben,^) die gewöhnliche. Man nennt dergleichen
Auflagen Arbitrios, so wie die Einkünfte aus den Gemeinegütern
Proptos. Beide, die Propios und Arbitrios stehen unmittelbar unter
der Aufsicht des Hohen Raths von Castilien. Die Gemeingüter
sind auch in Biscaya, wie in dem übrigen Spanien, der Landes-
cultur nachtheilig. Vorzüglich leiden die Waldungen darunter.
Es wird bei dringenden Bedürfnissen viel Holz verkauft, man
pflanzt wenig oder nichts wieder nach, und der Mangel an Auf-
sicht begünstigt noch ueberdies den Diebstahl aller Art. Schon
Jovellanos in seiner treflichen nur im Auslande nicht genug be-
kannten Schrift über die Verbesserung der Spanischen Ackerbau-
Gesetze,**) welche ein so helles Licht über den ganzen Zustand
des Ackerbaues in Spanien verbreitet,^) klagt über diesen Mis-
*) Auch in den Versammlungen der Hermandaden von Alava darf [nach] der Ver-
ordnung Heinrichs 4. vom Jahr 1463. kein Advocat, ausser in einigen wenigen be-
sondern Fällen, zugegen seyn. Landazuri hist. de Alava. I, 264.
**) Informe de la Sociedad Economica de esta corte al — — Consejo de
Castilla en el Expediente de Ley Agraria, extendido por D. Caspar Melchor de
Jovellanos. Madrid. 1795. 4. §. 55. p. 17.
') T^ach „f." gestrichen: „Doch befindet man sich manchmal deshalb in
nicht kleiner Verlegenheit, da vorzüglich baares Geld aufzubringen dem Biscay-
ischen Landmann schwer fällt (aus „da der Landmann sich baares Geld zu geben
sträubt")."
') „zu erheben" verbessert aus „zusammenzubringen'^
^) „verbreitet" verbessert aus „wirft".
St. Sebastian.
53
brauch.^) Der nunmehr verstorbene Director des Erziehungs-
instituts in Bergara D. Iturriaga hatte einen Plan für Gui-
puzcoa ausgearbeitet, wie die Gemeinen durch eine beschränkte
Art der Veräusserung dieser Güter zugleich ihren zerrütteten Ver-
mögensumständen aufhelfen, und der Landescultur einen beträcht-
lichen Theil ihr jetzt fast ganz entzogner Grundstücke wieder geben
könnten. Er fand aber zu viele Schwierigkeiten, um damit durch-
zudringen.^)
Es schien mir nothwendig, diese allgemeinen Nachrichten
über das Ländchen vorauszuschicken, in dem unsre Wanderung
uns noch einige Augenblicke verweilen wird. Ich kehre jetzt zu
dieser zurück.
Wir besuchten am Morgen nach unsrer Ankunft sogleich das
Castell um von der Höhe herab die Aussicht aufs Meer zu ge-
niessen, nach der man sich immer wieder von neuem sehnt. Der
Weg hinauf zieht sich an den Seiten des Berges herum, und hat
mehrere Standpunkte, von denen man die Gegend sehr gut über-
sieht. Das Castell wird nach seinem französischen Erbauer La Mota
genannt.
Das Meer bildet zu beiden Seiten des Bergs, auf dem das
Fort liegt, kleine Busen, die zwischen sich nur eine schmale Land-
zunge lassen. An dieser, unmittelbar am Fusse des Castellberges
ist die Stadt gebaut. Die beiden Busen zur Seite sind durch
kahle und oede Berge begrenzt. Auf dem an der Westseite des
Orts, Mendiotza (Spanisch Monte frio, kalter Berg), steht der
Leuchtthurm des Hafens, der an der Ostseite wird Ullas genannt.
Vor der westlichen Bucht liegt die Insel Sta Clara vor,-^) ein kleines
felsigtes Eiland, an dessen mit Gebüsch überwachsenen Ufern die
Wellen emporschäumen — der mahlerischste Anblick'*) in dieser
sonst kahlen und traurigen Landschaft. \"on dieser Seite ist auch
der Hafen, ein kleines bei zurücktretendem Meer zum Theil trocken
bleibendes Becken.
Als wir dort waren, stand kein einziges Schiff darin. Nur
ein Paar waren auf den Docken. Der Handel von St. Sebastian
war in dieser Zeit noch unbedeutender als der anderer Spanischer
*) „Misbrauch" verbessert aus „Unfug".
^) „durchzudringen" verbessert aus „durchdringen zu können".
*) Nach „vor" gestrichen : „und theilt zwei Einfahrten derselben ab".
*) „Anblick" verbessert aus „Gegenstand".
54
Die Vasken.
Seestädte. ^) In den ersten Zeiten des Französischen Krieges
machte St. Sebastian dadurch gute Geschäfte, dass es zum
Zwischenort zwischen Ameril^a und Frankreich diente, solange
die vereinigten Staaten nicht mit der Republik in Idarem und
gutem Vernehmen standen. Manchmal fanden auch die Fran-
zösischen Kaper mehr Vortheil dabei, ihre Prisen hier, als in Fran-
zösischen Häfen aufzubringen. Die Anzahl der Einwohner in der
Stadt wird auf 8000. und mit dem dazu gehörenden Bezirk auf
14000. angegeben.^)
Die Aussicht auf die hohe See ist hier minder schön als in
St. Jean de Luz oder noch weiter hin an der Küste. Die nächsten
Berge treten zu sehr hervor, doch sieht man noch die äusserste
Landspitze von Guetaria.
Merkwürdig, aber nur sonderbar, nicht reizend, ist die Aus-
sicht auf die Stadt an der Landseite. Sie macht ein regelmässiges
von allen Seiten befestigtes Viereck aus. Die Strassen sind eng,
aber die Häuser hoch, und zum Theil mit Pracht gebaut; die
Menge der Balcone, die regelmässige Figur des Marktplatzes, das
mit Vergoldungen reich verzierte Rathhaus {casa de ayuntamiento),
alles in acht Spanischem Geschmack. Von der Höhe nun sieht
man überall m die Strassen hinein, nirgends fällt die Kleinheit
des Orts so deutlich ins Auge; und die Höhe und Bauart der
Häuser und die Lage der Gassen ^) giebt ein finstres, trauriges
Ansehn. Zu beiden Seiten der Stadt stehen zwei Klöster, an der
Westseite eins von Carmeliternonnen, an der Ostseite ein andres
von Dominicanern. Melancholischer ist mir nie etwas vorge-
kommen, als der Blick von oben in diesen Klosterhof, den ein
grauer gothischer Kreuzgang umschliesst, und eine einzige grosse
Cypresse in der Mitte noch mehr verfinstert. Die nächste Gegend
um die Stadt entspricht diesem Bilde. Das Meer hat seine Ufer
überall versandet. Doch schon in einer kleinen Entfernung sieht
man wieder grünes Gebüsch und Ackerfeld, und den Hintergrund
schliesst ein Kranz hoher Navarrischer und Biscayischer Gebirge.
Der vollen und geraden Aussicht aufs Meer durch den Berg,
auf dem das Castell liegt, beraubt, und zunächst von kahlen An-
höhen und Sandstrecken umgeben, hat die Stadt St. Sebastian,
') „Seestädte" verbessert aus „Häfen".
^) Dieser Satz hiess ursprünglich: „Die Bevölkerung der Stadt ist für ihre
Kleinheit ziemlich ansehnlich."
*) „Gassen" ve)-bessert aus „Strassen"..
St. Sebastian.
55
wie man sieht, sich keiner schönen Lage zu erfreuen. Dabei ist
das Clima rauh, und die Regen pflegen sich volle zwei Drittheile
des Jahrs so häufig und anhaltend einzustellen, dass ihr der Spa-
nische Volkswitz deshalb einen nichts weniger als ehrenvollen
Beinamen*) gegeben hat. Man sollte daher denken, dass das
Vaskische Sprichwort: „dem Gottesfürchtigen ist St. Sebastian und
Biriatu (ein Dorf in der Nähe) ein gleich lieblicher Aufenthalt"**)
leicht eine allgemeinere Anwendung, auch auf weniger Fromme,
finden dürfte.
Wie angenehm aber wird man überrascht, wenn man sich
nur etwas weniges weiter in der Gegend umsieht. Welchen der
zahlreichen Spatziergänge um die Stadt man wählen mag, findet
man die lieblichste Abwechslung waldigter Hügel und fruchtbarer
Thäler, und nicht leicht dürfte ein andrer Ort Biscayas so sehr
im Mittelpunkt reizender Naturscenen liegen. Man muss dies
schöne Küstenland selbst gesehen haben, um sich einen Begriff
von der ihm ganz eigenthümlichen Lieblichkeit uijd Frische der
Vegetation zu machen.
Wenn man die Wildheit und die furchtbare Grösse einer
Gebirgsgegend bis zur anmuthig überraschenden Abwechslung
von Bergen und Thälern, die Strenge eines nördlichen Climas bis
zu erquickender Kühle und stärkender Frische mildert : wenn man
der trägeren Vegetation des Nordens einen schnelleren und kräf-
tigeren Wuchs leiht, den kalten, manchmal finstren Ernst seiner
Bewohner mit einem Theil der Lebhaftigkeit und der Heiterkeit
des Südländers versetzt, so hat man ein treues Bild von Biscaya,
und vorzüglich von den bevölkensten und fruchtbarsten Theilen
Guipuzcoas. Man fühlt, dass man sich im Norden befindet, die
Luft im Frühjahr und Herbst ist nicht eigentlich milde zu nennen,
die Produkte unsres Vaterlandes und des nördlichen Frankreichs
finden sich auch hier, die zarteren des Südens, Orangen, Palmen,
Mandeln, selbst Olivenbäume fehlen. Aber dieser Norden ist der
Norden Spaniens , und die Vegetation findet in der reichlichen
Bewässerung des Landes einen mehr als hinlänglichen Ersatz für
die anhaltend rauhere Witterung.
Thäler und Berge sind hier liebHcher an einander gereiht,
*) Sie wird spottweise el orinal del cielo genannt.
**) Guizon (Menschen) Jaincotiarrari (gottesfürchtigen dem) Biriatu eta (und)
Donostia (Der Vaskische Name von St. Sebastian. Done heisst ein Heiliger) bardin
(gleicher) laquetguia (Lustort, zusammengezogen von laquet-teguia).
56
Die Vasken.
und in einander verschränkt, als leicht in irgend einem andren
Lande. Mit jedem Augenblick verändert sich die Scene; fast
überall ist die Aussicht geschlossen, das Auge übersieht nur kleine,
aber immer mahlerisch begränzte Parthieen.') Schnell rieselnde
Ströme stürzen sich von den Anhöhen herab, durchschneiden in
ruhigen aber vielfachen Windungen die Anger, oder treiben, in
engen Betten gev^altsam hinrauschend, Mühlen und Hüttenwerke.
Selten sieht man kahle Berggipfel,^) die Anhöhen sind bis zur
Spitze hinauf mit Grün bedeckt, und nackte Felsecken drängen
sich nur aus dichtverwachsnem Gesträuch hervor. Die Aecker
sind mit lebendigen^) Hecken umzäunt, an sie schliessen sich
Wiesen und Waldstücke, meist aus den beiden, durch ganz
Spanien häufigen Eichenarten (robles und encinas) bestehend.
Man findet hier nicht mehr die Ueppigkeit der Vegetation
der Ufer der Garonne, es sind nicht mehr schwer behangene
Reben, die sich, lange Strecken fort, um hohe schlanke Ulmen
schlingen; es ist ebensowenig das fette, Kühe verdeckende Gras
unsrer Marschländer; aber der stämmige Wuchs der Bäume, das
dichte, krause, dem Blick undurchdringbare Laub, das gleich
kräftige *) Aufschiessen des Grases und der Saat besitzen eine
männliche,^) dem Charakter einer Gebirgsgegend angemessnere
Schönheit.
Den ehrwürdigen Wuchs unsrer Jahrhunderten ^) Trotz bieten-
den Eichen trift ') man zwar auch in Biscaya selten an.^) Er bleibt
ein eigenthümlicher, von uns nur aus Gewohnheit nicht hinläng-
lich geschätzter Reiz unsrer nordischen Landschaft.^) Wie reich
und üppig auch die Vegetation des Südens seyn mag, wie leicht
und zart die Bildung jener uns beim ersten Anblick so bezaubern-
der Gewächse, wie prachtvoll das glänzende Gemisch ihrer Farben,
immer bleibt es unläugbar, dass der Norden seinen ßergwäldern
^) "Nach „Parthieen" gestrichen: „Kleine, aber". >
2) „kahle Berggipfel" verbessert aus „nackte Felsen".
') „lebendigen" verbessert aus „grün[en]".
*) „kräftige" verbessert aus „reichliche".
^) Nach „männliche" gestrichen: „Schönheit, die sich noch besser für . . . .
schick[t]."
^) „Jahrhunderten" verbessert aus „der Zeit".
') „trift" verbessert aus „ßndet".
*) Nach „an" gestrichen: „Die Bäume werden fast iieberall, von Zeit zu
Zeit, geköpft."
®) „Landschaft" verbessert aus „Landschaften".
St. Sebastian.
57
einen Charakter der Grösse und Würde aufdrückt, der die Ein-
bildungskraft tiefer und ernster erschüttert. Ich wenigstens habe
sie, das gestehe ich gern, während meines ganzen Aufenthalts in
Frankreich und Spanien, oft mit Sehnsucht vermisst und mit un-
beschreiblicher Freude die ersten ^j begrüsst, die ich auf Deutschem
Boden wiederfand.
In Guipuzcoa und Biscaya ueberhaupt werden die Bäume
meistentheils geköpft, theils weil man das Holz zu Kohlen für die
Eisenhämmer verbraucht, theils bisher aus einem politischen
Grunde. Die Königliche Marine hatte nemlich bisher das Recht,
in den, ihren verschiednen Departements angewiesenen Districten
das zum Schiffbau tüchtige Holz -) anzuschlagen. Von diesem
Augenblicke an gehörte es dann nicht mehr dem Eigenthümer,
der nur eine gesetzlich bestimmte Entschädigung erhielt, sondern
dem König. Der Eigenthümer hatte daher von dem Wachsthum
seines Holzes, statt Vortheils, nur Einschränkung seines freien
Eigenthums zu erwarten. Diese den Forsten und dadurch der
Königlichen Marine selbst nachtheilige Einrichtung ist ^) neuerlich
aufgehoben worden. Das Anschlagen der Bäume hört auf; der
Eigenthümer geniesst wieder das Recht des freien Verkaufs seines
Holzes, ohne Unterschied der Grösse, und der König hat sich
nur das Vorkaufsrecht vorbehalten.
Biscaya verdient vielleicht unter allen Spanischen Provinzen
die sorgfältigst angebaute genannt zu werden. Guipuzcoa ist zwar
zum Ackerbau bequemer als das mehr rauhe und bergigte Vizcaya;
aber der Boden ist dennoch*) nicht sehr fruchtbar, und nur die
Gegend von Azpeytia, Azcoytia, Ofiate und Mondragon, in der
man nicht ungewöhnlich das 3oste und 3(5ste Korn erntet, macht
hiervon eine Ausnahme. Ohne den Fleiss und die unglaubliche
Arbeitsamkeit des Landvolks könnte daher dies kleine Ländchen
unmöglich eine so grosse Menge von Einwohnern ernähren.^) Ich
hatte sehr gewünscht, mir sowohl über die Grösse, als Bevölkerung
jeder der drei Biscayischen Provinzen sichre Angaben zu ver-
schaffen. Allein in keinem Lande ist es, nach dem eignen Ge-
ständniss der Spanier, so schwer, zuverlässige statistische Nach-
') Nach „ersten" gestrichen: „wieder''.
^) „tüchtige Holz" verbessert aus „nöthige Bauholz".
^) Nach „ist" gestrichen: „aber ganz".
*) Nach „dennoch" gestrichen: „an sich auch".
^) „ernähren" verbessert aus „Nahrung geben".
rg Die Vasken.
richten*) zu erhalten, als in Spanien, und das nicht aus Zurück-
haltung, sondern weil die Aufmerksamkeit nur noch sehr wenig
auf diesen Punkt gerichtet ist. In Absicht der Bevölkerung muss
man noch immer auf die Zählung von 1787. zurückgehen, die
gewiss auch keineswegs von mancherlei Unrichtigkeiten frei ist.
Der gewöhnlichen Angabe zufolge fasst ganz Biscaya 250 Quadrat-
meilen*) in sich. Davon aber ist das bei weitem grosseste Drit-
theil, die Provinz Alava, schlecht bevölkert, und Guipuzcoa
hat gerade bei dem kleinsten Flächeninhalt die grosseste Volks-
zahl. Wenn man das gegenseitige Verhältniss der Grösse aller
drei Provinzen auch nur ungefähr überschlägt, so behauptet man
gewiss nicht zu viel, wenn man in Guipuzcoa auf jede Quadrat-
meile 2000 Menschen rechnet,**) so dass die Bevölkerung noch
die der Schweiz übertrift. Dabei aber muss man nicht vergessen,
dass Guipuzcoa nirgends auch nur eine Quadratmeile ganz flachen,
nicht von Bergen durchschnittenen Boden hat.-)
Alle grösseren Güterbesitzer verpachten ihre Ländereien.
Sie ziehen auf diese Weise nur. einen wenig bedeutenden F>trag
aus denselben, und bekommen meistentheils kaum die Hälfte des
wahren^) Gewinnes, aber sie verschaffen-) dem Lande dadurch
eine Menge wohlhabender und zufriedner Pächterfamilien. Auch
nähern sich diese Pachtungen einem wirklichen Eigenthums-
besitze. Sie gehen gev^^öhnlich von Vater zu Sohn, und blei-
ben 150 auch 200 Jahre in derselben Familie. Denn obgleich
der Gutsherr nach Gefallen den Pächter ändern kann, so würde
er es sich für eine Schande achten, es ohne die wichtigsten Gründe
zu thun. ***) Der Pächter bestreitet alle Arbeit und Unkosten, ge-
*) Neuere Staatskunde von Spanien. I, loi.'')
**) Dabei ist Guipuzcoa zu 60 Q Meilen gerechnet.
***) Dasselbe findet auch in mehreren Theilen Englands Statt. Man' vergleiche hier-
über Herrn D. Thaers Einleitung zur Kenntniss der Englischen Landwirthschaft. I, 22.
1) „Nachrichten" verbessert aus „Angaben".
2) Hier ist folgender Absatz gestrichen: „Einzelne Gegenden Guipuzcoas
machen jedoch in Rücksicht der Fruchtbarkeit eine ehrenvolle Ausnahme. Um
Azpeytia, Azcoytia, Onate und Mondragon wird oft das 30 und 36 Korn geerntet,
und der Fleiss des Landmanns findet sich hier auch durch die Ergiebigkeit des
Bodens belohnt."
*) „wahren"' verbessert aus „reinen".
*) „verschaffen" verbessert aus „erhalten".
^) Nach „loi." gestrichen : „Die Grössenangaben bei den Reisebeschreibern,
selbst bei dem sonst so genauen und zuverlässigen Bourgoing, sind zu imbestimmt>
als dass sich darauf fussen Hesse." Bourgoings M^erk erschien Paris i'jSg.
St. Sebastian. 59
Wohnlich aber verrichtet er die ganze sehr mühsame Bestellung
nur mit Hülfe seiner Familie und seiner Leute. Tagelöhner
werden selten genommen, in der Ernte oder wann sonst die Arbeit
drängt, helfen sich die verschiedenen Hauswirthe unter einander,
und geben sich gegenseitig das Essen. Hat der Pächter keine
Söhne, aber eine Tochter, so zeigt er dem Herrn an, mit wem
er sie zu verheirathen gedenkt. Dieser erkundigt sich ^) nach den
Umständen und der Aufführung des jungen Menschen und willigt
er in die Heirath, so ist es zugleich eine stillschweigende Er-
klärung, dass er das Gut auch dem künftigen Schwiegersohn
lassen will.
Für die Cultur des Landes dürfte zwar diese Einrichtung wohl
schwerlich die beste seyn.*) Die Pächter bestellen den Acker nach ihren
einmal hergebrachten Gewohnheiten, sie sind schwer zu Neuerungen
zu bewegen, und es kostet noch jetzt Mühe, sie dahin zu bringen,
Kartoffeln zu bauen, und Butter zu machen, und da die Be-
dingungen ihrer Pacht so wenig lästig sind, so nöthigt sie nichts,
auf grosse Verbesserungen zu denken. Auf der andern Seite
führen die reicheren Gutsbesitzer oft, wenn sie nicht im Dienste
der Krone stehen, ein zu müssiges Leben, und es gehn, ausser ihrem
Fleiss, noch die beträchtlichsten Capitalien für die grössere Aufnahme
des Ackerbaus verloren. Indess muss man auch auf der andern
Seite bedenken, dass ein kleines Gebirgsland nicht mit grossen
Staaten, wie z. B. Frankreich und England sind, verglichen werden
darf. Die Besitzungen sind von zu geringem Umfange und liegen
zu sehr zerstreut ; ein grosses System der Landwirthschaft Hesse sich
kaum einmal daselbst einführen. Auch kommt in einem Lande,
dessen Macht, Ansehn, ja -) dessen selbstständige Existenz nur sehr
mittelbar von den Erzeugnissen des Bodens und dem Gewinn
durch Handel und Gewerbe, sondern geradezu nur von dem
Charakter, dem Fleiss und dem Nationaleifer seiner Bewohner
abhängt, wie es in Biscaya so offenbar der Fall ist, alles darauf
an, da'ss, wo möglich, jeder Einzelne sich in einem Zustande unab-
*) Man sehe hierüber die oben erwähnte Thaersche Schrift a. a. O. Der einsichts-
volle Verfasser aber bemerkt auch sehr richtig, dass eben diese Einrichtung den Vor-
nehmen und Reichen einen grossen Einfluss auf das Landvolk verschafft, und dieser
Einfluss wird in Biscaya nie anders als auf eine wohlthätige Weise zur Verbreitung
aufgeklärter Grundsätze und nützlicher Kenntnisse angewandt.
1) Nach „sich" gestrichen: „dann".
2) Nach ,Ja" gestrichen: „selbst".
(5o Die Vasken.
hängiger Wohlhabenheit befinde. In diesen Fällen, wo, wie hier,
die Resultate des Gewinns für den Nationalreichthum immer nur
unbedeutend seyn könnten, der Charakter des Volks aber eine
schon jetzt der höchsten Achtung würdige Selbstständigkeit zeigt,
ist es nothwendig die Grundsätze der höheren Staatswirthschaft den
auf diesen letzteren berechneten Maximen wenigstens so lange
unterzuordnen, bis man beide ohne Nachtheil vereinigen kann.
Denn nur wenn jene Resultate gross genug sind einen so lebendigen
Umschwung aller menschlichen Kräfte hervorzubringen, dass da-
durch auf einmal alle Zwecke des Strebens erweitert und alle
Mittel vervielfacht werden, führen sie eine Nation auch auf ihrer
intellectuellen und moralischen Bahn weiter fort. In Biscaya hin-
gegen übt gerade die jetzige^) Verfassung einen eben so glücklichen
Eintluss auf die Bildung und die Sitten aus, als sie ein ehrenvolles
Zeugniss für den Charakter des^ Volks, die massigen und billigen
Gesinnungen der reicheren und die Treue und Arbeitsamkeit
der geringeren Classe ablegt. Bei der Gemeinschaft in der beide
dort beständig mit einander leben, können immer Verbesserungen,
wenn gleich langsam und nach und nach, eingeführt werden, und
in der That ist dies wirklich der Fall.
Ich hielt mich nicht lange genug in St. Sebastian auf, um
auch nur alle vorzüglicheren Spatziergänge der Stadt zu besuchen.
Allein auf einem an einem schönen Frühlingsabend, an den Ufern
der Urmea *) hin, des kleinen Flusses, der sich an der Ostseite des
Castells ins Meer ergiesst, gegen Ernani zu fand ich den ganzen
lieblichen Charakter Biscayischer Gegenden, dessen ich mich noch
so lebhaft von meiner ersten Reise nach Spanien her erinnerte, in
der reizendsten Abwechslung mahlerischer Naturmassen wieder.
Zarauz und Guetaria.
Die Berge von Igueldo über die der Weg hinter dem Leucht-
thurm von Monte frio hin von St. Sebastian nach Orio führt, gleichen
dem wüsten Rücken des Jaizquibels. Nur an wenigen Stellen
trafen wir auf der Höhe Ackerland und Gebüsch an, meistentheils
bloss Heide, auf der einige Heerden weideten. Allein landeinwärts
überschauten wir waldigte Hügel und sorgfältig angebaute Thäler.
und dieses Gemisch von wildem Ansehn, und fleissiger Cultur
*) kleines Wasser, eau mince, von Ura, Wasser, und mea. fein, dünn.
^) Jetzige" verbessert aus „eben beschriebtie''.
Zarauz und Guetaria. Qj
gehört nicht zu den kleinsten Reizen Biscayas. ') Von der Höhe
auf der wir waren, konnten wir deutlich den Charakter dieser
Gegend erkennen. Zwischen den höchsten Bergen, die den Horizont
umschliessen und grösstentheils zu Navarra gehören, und den minder
hohen, die, wie ein Wall, den Rücken des Meeres bilden, gehen
lauter queer laufende höhere oder niedrigere Bergreihen hin, und
lassen tiefe Thäler zwischen sich, gleich mächtigen von der Zeit
eingegrabenen Furchen, aber nun unter den Händen der Cultur mit
Ackerland, Wiesen und reizenden Gebüschen geschmückt. Solche
Thäler bildend strömen -j längs der Küste von Guipuzcoa fünf
vorzüglichere Flüsse, ^) aus den wasserscheidenden GränzGebirgen
Guipuzcoas, Alavas und Navarras ^) herkommend, dem Meere zu,
und theilen das Land in eben so viel natürliche Abschnitte. An
ihren Mündungen liegen kleine Häfen. ^) Wir hatten jetzt den
Fluss von Pasages und die Urmea hinter uns gelassen. Wir
gingen nunmehr über den Orio, und hatten noch die Urola und
Deba vor uns.
Auf dem einsamen Berggipfel fanden wir nichts als eine Kirche
mit vielen rund herum aufgerichteten Kreuzen. Auch begeg-
neten wir nur einem einzigen Franciscanermönch, einem bejahrten
Manne mit stark gezeichneten, bedeutenden Gesichtszügen, denen
man es ansah, dass die Hand der Zeit und der Erfahrung sie zu
diesen sprechenden Formen ausgearbeitet hatte.
Auf den fruchtbaren Ufern des Orio ruhte unser von der
wüsten Bergheide ermüdeter Blick angenehm aus. Wir bewun-
derten von neuem ^) den Fleiss der Biscayer im Anbau ihres
Landes. Mit der Sorgfalt, mit der man bei uns Blumen pflanzt,
bestellt man hier das Feld zu Weizen und Mais.
Orio ist ein schlechtgebauter, unbedeutender Flecken von
etwa loo Familien. Allein auch in den kleinsten dieser Biscay-
ischen Orte findet man immer eine gewisse Reinlichkeit und Zier-
lichkeit, und in jedem wenigstens einige grössere zum Theil pracht-
^) „Biscayas" verbessert aus „der Biscayischen Gegenden".
2) „bildend strömen" verbessert aus „durchbrechend ergiessen sich".
^) „Flüsse" verbessert aus „Ströme".
*) „Gränzgebirgen — Navarras" verbessei't aus „Gebirgen, welche die Gränze
zwischen Guipuzcoa einerseits, imd Alava und Navarra andrerseits bilden".
^) „ihren — Häfen" verbessert aus „der Mündung eines jeden liegt ein
kleiner Hafen".
®) „Wir — neuem" verbessert aus „Man wird nicht müde . ... zu be-
wundern."
ß2 Die Vasken.
voll angelegte ^) Gebäude. Immer zeichnet sich die Kirche^
das Rathhaus und was in Biscaya nie fehlt, der Ballplatz aus,
der gewöhnlich mit einer Mauer umgeben, und mit steinernen
Sitzen versehen ist. Die Kosten zu diesen Gebäuden werden,
wenn nicht begüterte Privatleute zur Verschönerung ihres Orts
grosse Summen dazu hergeben, aus den Einkünften der Gemein-
güter {Propios) bestritten.
Ueber den Thüren vieler Häuser in Orio bemerkten wir
Wappen, meistentheils in grossen von Adlern, Löwen, wilden
Männern gehaltenen Schilden in Stein gehauen, und erkannten
daran die*) casas solariegas (Stammhäuser) der Familien, die sie
bewohnten. Solche Stammsitze findet man auch häufig auf dem
Lande in den Dörfern. Der Stolz eines hidalgo -) de Aldea (Land-
junkers) wird oft in den^) komischen und satyrischen Schriften
der Spanier verspottet. Man schildert ihn „wie er auf dem trau-
rigen Marktplatz seines armseligen Orts gravitätisch herumgeht,
eingehüllt in seinen schlechten Mantel, das Wappen über der Thür
eines halb eingefallenen Hauses betrachtet, und Gott und der Vor-
sehung pathetisch dafür dankt, dass er ihn als Don N. N.**) von
N. N. gebohren werden Hess.*) Nie würde er," heisst es in einer
*) Solar oder casa solariega von dem lateinischen soliun. Diese Stammsitze
sind sehr wichtig, weil sie, selbst wenn kein Haus mehr darauf stände, zum Beweise
des ältesten Adels dienen.
**) Die Spanier haben für das, was wir durch N. N. ausdrücken (S. Adelungs
Wörterbuch. III. 355.), einen eignen Namen: Fulano, hier z. B. Don Fulano de Tal.^)
Nach D. Thomas Antonio Sanchez [Coleccion de Poesias Castellanas anteriores al
siglo I^. II, 513.) kommt dies Wort von den Arabern her, die dafür Falan sagen,
und dies aus dem Hebraeischen Pheloni genommen haben sollen. Die Spanier setzen
aber, wenn sie von zwei Namenlosen reden wollen, noch zutano hinzu, und dies er-
klärt Sanchez nicht. Zut heisst auf Vaskisch aufrecht [debout] und daher vielleicht
Zutano, irgend ein Aufrechtstehender, ein Jemand. Wäre Fulano vielleicht nicht Ara-
bischen Ursprungs, so liesse es sich von fidlare, fouler (im heutigen Spanisch hollar)
^) „prachtvoll angelegte" verbessert aus „prächtige".
^) „eines hidalgo" verbessert aus „der hidalgos .... die sie bewohnen".
*) „oft in den" verbessert aus „fast in allen".
*) „dass — Hess" verbessert aus „ihn zu ... . gemacht zu haben".
^) Nach „Tal" gestrichen: „Ich erinnere mich nicht, etwas über, die Ab-
stammung dieses Worts gelesen zu haben. Sollte es aber nicht desselben Ursprungs
mit dem Französischen Foule seyn, und mit dem alten Eigennamen Foulque (s.
Menage h. v. ) zusammenhängen, den man für gleichbedeutend mit Publius hält?
Will man von zwei solchen Namenlosen reden, so sagt man fulano y zutano, und
die Abstammung des letzteren Worts möchte noch schwieriger seyn."
Zarauz und Guetaria.
63
solchen Schilderung weiter , „den Hut vor dem Fremden ab-
nehmen, der eben ins Wirthshaus hineinfährt, und wäre es auch
der Gouverneur der Provinz oder der Präsident ihres ersten Ge-
richtshofs. Alles wozu er sich vielleicht herablässt, ist zu fragen,
ob der Fremde aus einem Stammsitz ist den das Castilianische
Recht anerkennt? welchen Wappenschild er trägt? und ob er be-
kannte Verwandte in der Nachbarschaft hat? Denn", doch diese
Lächerlichkeit wird vorzüglich dem Stadtadel Schuld gegeben,
„von wie erlauchtem Geschlecht auch der Fremde seyn möchte,
so bleibt es immer ein unverzeihlicher Makel an ihm, dass er nicht
in dem Orte gebohren ist, durch den er zufällig durchreist, da es
Adel, wie dort, nirgends mehr im Königreich giebt."*) Die Ori-
ginale zu dieser Schilderung, wenn es ihrer noch, wie ich nicht
glaube, in irgend einem versteckten Winkel Spaniens geben sollte,
sind mir nirgend aufgestossen , obgleich ich es mir bei meiner
Reise zum Zweck gemacht hatte, gerade diejenigen Classen der
Nation aufzusuchen, die am wenigsten durch Umgang mit Aus-
ländern^) ihre Sitten verändert haben. Nie^) aber wird man eine
stolze Verachtung der Fremden in dem gastfreien Biscaya antreffen.
Mit herzlicher und dankbarer Freude werde ich mich immer er-
innern, wie freundschaftlich ich bisweilen,^) ohne alle Empfehlungen,
in diesen Landsitzen aufgenommen wurde, wo ich manchmal
mehrere Tage mit der Familie verlebte, und mit welcher zuvor-
kommenden Güte sie mich mit allen Merkwürdigkeiten des Landes
bekannt machten. Die Bauart dieser Landhäuser ist gewöhnlich sehr
einfach, aber in einer gewissen soliden Pracht. Sie sind meist vier-
eckt, ganz von Quadersteinen aufgeführt, und mit vier Thürmchen
auf den Ecken versehen. Inwendig vermisst man freilich *) das, was
man in Frankreich und bei uns schönes Ameublement nennt. Auch
in reichen wird man oft bloss Strohstühle und die weisse Wand,
ableiten, irgend ein Auftretender, und so drückten beide Worte analoge Begriffe aus,
welche die Volkssprache, wie oft,") in einen Reim verbunden hätte. Im Romanischen
fular, walken.
*) Cartas Marntecas del Coronet D. Joseph Cadahalso. (Maroccanische
Briefe von Obrist cet.) 1796. S. 99.
') „Ausländern" verbessert aus „Fremden".
^) „Nie" verbessert aus „Am wenigsten".
^) „bisweilen" verbessert aus „oft".
*) „vermisst man freilich" verbessert aus „darf man meistentheils . . . nicht
suchen".
^) „oft" verbessert aus „gewöhnlich".
Qa Die Vasken.
nur mit einem hohen Tapetenlambri, antreffen, aber sehr grosse
Reinlichkeit, feine Esteras*) (Fussteppiche) i) und sehr oft schöne
Gemähide von Spanischen 2) und ausländischen Meistern. Ebenso
vergebens^) würde man Luxus in der Tracht der Bewohner
suchen. In allen Provinzen Spaniens, vorzüglich aber in Biscaya,
herrscht sehr viel stiller und einfacher Bürgersinn, und selbst in
vornehmen Häusern wird man die Frau des Hauses mehr an der
Schaar der sich um sie versammelnden Kinder, als an ihrem An-
zug, erkennen.
Zarauz ist ein kleiner, nur etwa von 1500. Seelen bewohnter
Ort, der aber eine grosse Pfarrkirche und ein neues, mit einem
hohen Säulenportal versehenes Stadthaus hat. Er lehnt sich hinten
an den Berg Sta Barbara, dessen hohe und schroffe, aber oben
mit Gebüsch überwachsene Felswand die Aussicht vom Wege
von Orio her romantisch begränzt.
Als wir die Höhe dieses Berges erstiegen hatten, der in einer
sehr kleinen Entfernung Zarauz von Guetaria trennt, übersahen
wir den grossesten Theil des Biscayischen Meerbusens; die blaue
Flut schimmerte durch das grüne Laub der Weingärten, welche
die Abhänge und Vorhügel des Berges bedecken, und zu unsern
Füssen lagen die mahlerischen Felsen Guetarias.
Guetaria ist unter allen Orten, die ich in diesem Theil
Spaniens antraf,*) das lebendigste Beispiel des Biscayischen Patrio-
tismus.^) Der Ort war ursprünglich, wie noch jetzt die alten,
schlechtgebauten Häuser zeigen,^) ein unansehnlicher Fischerhafen.
Jetzt zählt er mehrere grosse, ganz aus Steinen aufgeführte Häu-
ser, und ist mit steinernen Quais, prächtig angelegten Brunnen,
und einer Bildsäule eines Seehelden aus seiner Mitte verziert.
*) Der Name dieser von Stroh, oder gewöhnlicher von Spartum geflochtenen
Fussmatten ist auch Vaskischen Ursprungs. Estatu heisst zusammenziehn, einengen,
davon kommt das adverbium estera, gedrängt, und natürlich sind diese Matten sehr
fest ineinander geflochten. Man hat sie von doppelter Art, glatte in der ganzen Stube
zum Gehen, zottige [Felpado' s) einzeln zur Wärme unter die Füsse zu legen.
*) „Fiissteppiche" verbessert aus „Strohmatten''.
^) „Spanischen" verbessert aus „vaterlän[dischen]".
') „vergebens" verbessert aus „wenig".
*) „diesem — antraf verbessert aus „Biscaya sah".
^) „des Biscayischen Patriotismus" verbessert aus „der Liebe der Biscayer zu
ihren Geburtsörtern".
^) „die .... zeigen" verbessert aus „man . ... an den .... Häusern sieht".
Zarauz und Guetaria.
Ö5
Alles dies ist das Werk einiger in Amerika ^) reich gewordener
I'rivatpersonen die man hier Indimios zu. nennen pflegt.
Guipuzcoa ist nemlich zu bevölkert, als dass nicht jährlich
ein ansehnlicher Theil seiner Bewohner sein Unterkommen aus-
wärts suchen müsste. Da die Biscayer ueberhaupt zur Arbeitsamkeit
und Ordnung gewöhnt sind, und auch grösstentheils eine sehr gute
Hand schreiben,*) so werden sie durch ganz Spanien in Kauf-
mannshäusern gesucht, und auch in die Königlichen Bureaux gern
aufgenommen. Keine andre Provinz zählt wohl verhältnissmässig
so viele Personen aus ihrer Mitte in niedrigeren und höheren
Staatsbedienungen. Ein andrer Theil geht nach America, und
viele endlich arbeiten in dem übrigen Spanien als Handwerker
oder Fabrikanten.
Merkwürdig ist es nun, welche warme und feste Anhänglichkeit
alle diese Personen aus so verschiedenen Classen und mit so ver-
schiedenen Beschäftigungen zu ihrem Vaterlande -) behalten. Wo
sie demselben in ihrem Wirkungskreise nützlich seyn können,
da ergreifen sie nicht nur die Gelegenheit dazu mit Begierde,
sondern halten auch das, was sie in dieser Absicht durchsetzen,^)
für das Grosseste und Ehrenvollste. Nichts schmeichelt ihrem Stolze
so sehr, als die Erinnerung an ihre Biscayische Abstammung, und
*) Dieser gewiss nicht unwichtige Vorzug ist ganz Spanien, mehr, als einem an-
dern Lande, in Spanien aber Biscaya vorzüglich eigen. Es wird in den Schulen auf
das Schönschreiben eine besondre Aufmerksamkeit gewandt; man hat ausführliche
gedruckte Theorien darüber; und durch alle Provinzen bemerkte ich eine grosse Gleich-
förmigkeit der Hand. Den Grund zu der verbesserten Schönschreibekunst legte ein
gewisser Palomares, nach dessen Vorschriften sich fast alle Schreibmeister nach ihm
gebildet haben. Nur giebt die, soviel ich bemerkte, fast durchgängige Methode, die
Kinder in einem ordentlichen Netz von Bleistiftlinien schreiben zu lassen, durch das
der Buchstabe nach allen Seiten bestimmt wird, der Hand zu viel Steifigkeit. Allein
in neueren Vorschriften, als die von Palomares, hat die Schrift eine mehr abgerundete
Gestalt erhalten. — Die Kunst, Urkunden sauber und täuschend ähnlich abzuschreiben,
oder vielmehr mit mönchartiger Genauigkeit abzumahlen, hat wohl niemand je so weit
gebracht , als der eben genaimte Palomares. Denn ausser ganzen FolioBänden von
Urkunden, die er, unter Aufsicht des P. Marcos Andres Burris, abschrieb, als dieser auf
Befehl des Königs aus dem Archiv von Toledo die zur Spanischen Kirchcngeschichte
dienlichen Documente auszog, und die in der Königlichen Bibliothek von Madrid auf-
bewahrt werden, sähe ich noch in mehreren Privatßibliotheken *) von seiner Hand ab-
geschriebene ungedruckte Manuscripte.
^) „Amerika" verbessert aus „Indien".
2) „zu ihrem Vaterlande" verbessert aus „an ihre Heimath".
') Nach „durchsetzen" gestrichen : „können".
*) Nach „Bibliotheken" gestrichen: „ganze Bände".
W. V. Humboldt. Werke. XIU. 5
ßß Die Vasken.
noch neuerlich sah man einen Minister, dessen aufgeklärter
Vaterlandsliebe Biscaya noch mehr Vortheile gedankt haben würde,
wenn er seinen Posten hätte länger behaupten können, an der
Spitze aller Geschäfte, in der höchsten Gunst des Königs, und
mit den ersten Ehrenstellen bekleidet, einen hartnäckigen Rechts-
streit um ein halbes Haus in der Provinz Alava führen, nur
um beweisen zu können, dass er angesessener Bürger derselben
sey und aus ihr abstamme. Wo sie im Auslande zusammentreffen,
halten sie, auch ohne weitere Bekanntschaft, so fest und unver-
brüchlich an einander, dass es oft die Eifersucht der übrigen
Spanier erregt, und man die Vaskischen Provinzen und Navarra
auch wohl scherzweise die Vereinigten Provinzen Spaniens zu
nennen*) pflegt.
Nur selten erstirbt in ihnen die Sehnsucht, in ihre Heimath
zurückzukehren. Wenn sie auch 20 und 30 Jahre in Amerika
zugebracht haben, kommen sie'doch gewöhnlich in ihren Geburts-
ort zurück, und wenden dann immer einen Theil ihres erworbenen
Vermögens zur Verschönerung desselben an. Durch ganz Biscaya
findet man Spuren dieses patriotischen Verschönerungseifers,
besonders viele aber soll der Flecken Elorrio aufweisen, durch
den mich mein Weg gerade nicht führte. Die Liebe zu den
Nationalgewohnheiten und Vergnügungen ist so stark, dass von
den vielen Zimmerleuten z. B. welche in der Fremde arbeiten,
nur wenige versäumen, auch aus einer Entfernung von 20 und
25 Meilen am Weihnachtsabend in ihren Geburtsort zurückzu-
kommen, nur um mit ihrer Frau, ihren Kindern und Freunden
zu Abend zu essen, und einen Theil der Nacht den Ort mit
Musik zu durchziehn.
Der Indiano, dessen Herr Fischer in seiner Reise gedenkt,^)
D. Francisco Echabe , lebte , als wir Guetaria besuchten , nicht
mehr. Jetzt hatte sich ein andrer, D. Manuel Agote, das Verdienst
erworben das Andenken des berühmten Elcano durch eine Bild-
säule zu verewigen.
Juan Sebastian Elcano begleitete Magellan auf seiner Weltum-
seglung und schiffte im September 1519. mit ihm, als Steuermann
des 4ten Schiffes Concepcion, von Sevilla ab. Die Spanier und
Ausländer pflegen ihn gewöhnlich Cano oder el Cano zu nennen.
Allein auf der Inschrift der Bildsäule heisst er Elcano, nur dies,
*) las Provincias unidas de Espana. Carlas Marruecas. p. 70.
') Vgl. seine Reise von Amsterdam über Madrid nach Cadiz und Genua ^ S. 76'.
Zarauz und Guetaria. ß-j
nicht Cano, ist ein eigentlich Vaskischer Name, und häufig wird, wie
ich schon oben bemerkt habe, die Anfangssilbe Vaskischer Namen zum
Spanischen und Französischen Artikel verdreht. Als nach Magellans
Ermordung auf der Insel Sebu im April, 1 52 1 . einer seiner Nachfolger
gleichfalls umkam, ein andrer aber mit einem Schiff den Rückweg
über Panama wählte, erhielt Elcano das Commando, und kehrte mit
dem einzigen noch übrigen Schiffe Vitoria, jedoch nur mit 18 der zu-
gleich abgesegelten^) Seeleute, den einzigen, die von 237*) übrig-
geblieben waren, am 6.**) September 1522. nach Sevilla zurück. Er
war also der erste, welcher die Erde wirklich umschifft hatte, und
Carl 5. gab ihm zum Wappen eine Erdkugel mit der bekannten
Inschrift: du hast mich zuerst umfahren (Primus nie cü-ciimdedisti).
Die Vitoria wurde zu Sevilla, als ein heiliges Ueberbleibsel dieser
Fahrt aufgehoben, bis sie vor Alter in Trümmern fiel. Elcano
unternahm eine zweite Reise in die Südsee auf einer kleinen Flotte
von 7 Schiffen, die ein Maltheser-Ritter, Jofre de Loaysa anführte.
Als dieser auf dem Wege starb, bekam er abermals das Com-
mando, behielt es aber nur vier Tage lang und starb selbst am
4. August 1526. Das Haus in dem er gebohren seyn soll, wird
noch in Guetaria gezeigt. Es ist gelb angestrichen und liegt dicht
am Thor beim Hereinkommen von Zarauz.***)
Ebendaselbst steht auf einem viereckten Platz seine Bildsäule.
Sie ist aus Sandstein, zwar in Madrid gemacht, aber von sehr
mittelmässiger i\rbeit, soll 22000 reales de vellon (gegen 1500 Thaler
unsres Geldes) gekostet haben, und hat auf drei Seiten des Fuss-
gestells eine lateinische, spanische, und Vaskische Inschrift.
*) Anton Pigaletta'sBeschr. d. v. Magellan unternommenen ersten Reise um die Welt.
Aus dem Französischen übers, v. Jacobs u. Kries. Gotha bei Perthes. l8oi. S. XLVIII.
**) So Pigafetta. S. 236. Nach andern am 7. oder 8.
***) Ungemein sonderbar ist es, dass Pigafetta mit keinem Worte Elcanos gedenkt,
ja nicht ein einzigesmal nur seinen Namen nennt, da er doch der übrigen Schiffsbefehls-
haber, ja an mehr als einer Stelle der Steuerleute namentlich erwähnt. Der Grund
davon kann fast nur in einer Privatfeindschaft liegen, die zwischen beiden obgewaltet
haben muss. Denn als Carvajo, der zweite Oberbefehlshaber nach Magellans Tode,
mit dem Schiff Trinidad auf Tadore zurückbleibt, sagt Pigafetta gar nicht, wer die
allein zurücksegelnde Victoria commandirte, sondern fährt in seiner Erzählung immer
in der 2. pers. plur. wir schifften, thaten, unterhandelten u. s. f. fort, so dass er offen-
bar absichtlich Elcanos Namen verschweigt. — Bei Gelegenheit der Durchfahrt durch
die Magellanische Strasse nennt er als Steuermann der Conception den Juan Serano.
/. c. S. 50. Vielleicht hatte Elcano damals einen andern Posten auf diesem oder einem
andern Schiffe erhalten.
^) „ah gesegelten'' verbessert aus „ausgeschifften".
5*
gg Die Vasken.
Wo der Nationalgeist eine Folge des Volksgefühls ist, da
beschränkt er sich zunächst nur auf den Kreis, welcher den
Menschen unmittelbar umgiebt; ja er zeichnet sich alsdann immer
zugleich durch ein Umfassen des Verwandten und ein Entfernen
von dem^) Fremden aus; wie in jeder Naturkraft, kommt neben
der Liebe auch Abneigung in ihm hervor ;2) und jeder anziehende
Pol kennt seinen abstossenden. Nur der Vernunft ist es gegeben,
in dem Höchsten auf einmal alles darunter Begriffene zu um-
schliessen; nur dem idealischen Gefühl,'^) aus bloss gleichartigen
Elementen doch belebende und befruchtende Wärme zu erzeugen.
Die gewöhnliche Empfindung bedarf der Reibung durch ver-
schiedenartige Stoffe, und selbst der Hass des Hassenswürdigsten
unter allem, des Moralisch Bösen, ist, als Hass, stärker in der
gemeinen, als in einer erhabenen Natur.
Diese Bemerkung hatte icl;i oft in Biscaya zu machen Gelegen-
heit. So wie ich das Innere des Landes durchreiste,'') und mit
den Sitten desselben vertrauter ward, kam mir das ganze Ländchen
in eine Menge von kleinen Kreisen zerschnitten vor, deren ab-
sondernde Grenzen sich manchmal grell zeichneten, aber immer
wieder in grösseren Kreisen verschwanden,^) und ich fand in der
gegenseitigen Ein-**) und Rückwirkung dieser verschiedenen Massen,
zum Theil auch in politischer, vorzüglich aber in sittlicher Hinsicht,
ein so natürliches, so durch sein eignes Schwanken ins Gleich-
gewicht gekommenes Verhältniss, dass ich erst da lebendig erkannte,'^)
wie ohne eine solche, immer rege Wechselwirkung kein wahrer
Volkscharakter möglich ist, ohne einen solchen Volkscharakter
aber ein von der Natur so wenig, und nur durch seine Lage am
Meer, begünstigtes Land, allein durch die Kräfte seiner Bewohner,
nie zu diesem Grade der Blüthe, des durchgängigen Wohlstandes
und der Aufklärung hätte gelangen können.
Es ist nichtzu läugnen, dass die Liebe und Anhänglichkeit der Bis-
cayer an ihr Geburtsland und ihren Geburtsort etwas Ausschliessendes
') „Entfernen von dem" verbessert aus „Abstossen des".
2) „kommt — hervor" verbessert aus „ist Liebe und auch immer zugleich
Abneigung in ihm verbunden".
2) „nur — Gefühl" verbessert aus „und".
*■) „durchreiste" verbessert aus „in .... kam".
^) „verschwanden" verbessert aus „sich .... verloren^^.
*) „gegenseitigen Ein-" verbessert aus ,.Hin-".
'') „erkannte" verbessert aus „einsah".
Zarauz und Guetaria. ßn
hat. Zwischen allen benachbarten Orten herrscht eine gewisse Eifer-
sucht, sogar im Auslande giebt man den Biscayern — ich weiss
nicht, ob mit Wahrheit? — Schuld, ihre Liebe zu ihren Lands-
leuten doch, der allgemeinen Vereinigung ungeachtet, nach den Ent-
fernungen ihrer gegenseitigen Geburtsörter zu nuanciren, und bis in
die öffentlichen Vergnügungenhinein erstrecken sich kleineNeckereien
benachbarter Ortschaften. Man kann aber^) mit Wahrheit sagen,
dass sie auch da ihr Ende erreichen. ^) Nie habe ich ein Beispiel
anführen hören, ^) wo diese kleine, unbedeutende Eifersucht nicht
augenblicklich vor dem allgemeinen Interesse geschwiegen hätte;
dagegen habe ich mehr als einmal bemerkt, wie sie zu einem
nützlichen und anspornenden Wetteifer führt.
Das Ballspiel bietet die häufigste Gelegenheit dar, dieselbe in
Bewegung zu setzen.*) Es ist die Hauptlustbarkeit der Biscayer.
Nicht bloss jeder Ort hat, wie schon oben bemerkt worden, seinen
eignen, mehr oder minder kostbar angelegten Ballplatz, sondern
jeder nimmt auch an dem Spiele Theil; wie überhaupt in
Biscaya, so aber besonders beim Ballspiel, gilt kein Unterschied
des Standes, und des Sonntags ist ein grosser Theil des Orts
beiderlei Geschlechts, den Alcalden und Geistlichen nicht aus-
genommen, dabei gegenwärtig, sieht den Spielern zu und begleitet
sie mit sichtbarem ^) Interesse mit seinem Beifall oder seinem Tadel.
Ganze Ortschaften fodern ^) einander zu feierlichen Parthien
heraus. ') Unter den Biscayischen Provinzen sollen die Guipuzcoaner
die besten Spieler seyn. Manchmal mischt sich auch noch ein
höheres Nationalinteresse ein. So haben wenigstens ehemals die
Navarrer (die gleichfals Vaskisch reden) die Franzosen und diese
jene herausgefodert, und dann ist die Theilnahme in der ganzen
Gegend allgemein. Doch räumen mehrentheils die Spanier selbst
den Franzosen den Vorzug^) ein. Bei solchen Ausforderungen
schweigt alsdann die vaterländische Muse nicht. Dichter treten
') Nach „aber'^ gestrichen: „auch".
^) „auch — erreichen" verbessert aus „sich auch nicht über sie hinaus er-
strecken".
*) „habe — hören" verbessert aus „ist mir ein Beispiel vorgekommen".
*) „dieselbe — setzen" verbessert aus „die Eifersucht eines Orts gegen den
andern zu wecken".
■*) „sichtbarem^'' verbessert aus „lebhaßem",
•) Nach „fodern" gestrichen: „nun".
') „heraus" verbessert aus „auf".
*) „Vorzug" verbessert aus „Preis".
70
Die Vasken.
in der Nationalsprache auf, verspotten den besiegten Gegner, oder
beschuldigen ihn schon im Voraus der Verwegenheit, sich an so
geübte Streiter zu wagen. Ein solches Lied, auf das ich einmal
zufällig stiess, bei Gelegenheit einer Ausforderung zwischen Mar-
quina und Motrico, beginnt z. B. mit folgender Strophe :
Ausgefordert habet Ihr,
Und zu was ? o, der Vermessenheit 1
Zu des Ballspiels edlem Streit
Ganz Marquina hierl
Dieser Ausfordrungen Trutz,
Ha! Motriker, zeug' es mir!
Ob ihn nicht mit Siegesflug
Stets Marquina niederschlug?
Eine andre Veranlassung zur wetteifernden Eifersucht, manch-
mal auch zu wirklichen Streitigkeiten geben die ländischen Feste, wenn
ein Dorf das andre, oder eine Stadt ihre um sie herum liegenden
Landbewohner bei einigen Schläuchen Wein zum Tanze einladet.^)
Es geschieht bei solchen Gelegenheiten wohl, dass der eine oder
andre seine Ehre durch die Verletzung irgend einer eingeführten
Höflichkeitssitte beleidigt glaubt, und dann machen alle jungen
Leute des Orts die Beleidigung zu der ihrigen. ^) Man fodert
sich ^) heraus, es erfolgen Schlägereien und selten vergeht ein
Jahr, ^) ohne dass nicht einer auf diese Weise ^) getödtet oder
schwer verwundet wird. Die wahre Nationalwaffe des Biscayers
ist sein langer und dicker Gebirgsstock, ohne den er selten oder
nie geht. Wenn sich die beleidigten Theile begegnen, fodern sie
einander mit dem Losungsworte") Aiip/ das auf eine ausdrucks-
volle Weise ein plötzliches Erheben, ein Zusammennehmen der
*) Daher das Zeitwort Aupatatii. Beide Ausdrücke scheinen vorzüglich dem
Vizcayischen Dialecte eigen. Die ganze Sitte überhaupt kann natürlich nur dem am
meisten gebirgigten Theil der Nation angehören.
^) Dieser Satz hiess ursprünglich : „Ein andrer Anlass zur feierlichen Ver-
einigung mehrerer Ortschaften ist der Tanz. Ein Dorf giebt dem andern, oder
eine Stadt den um sie herum liegenden Landbewohnern einen oder zwei Schläuche
Weins, und dabei werden die Nationaltänze, von denen ich bald einige Worte
sagen werde, getanzt."
^) „machen — ihrigen" verbessert aus „pßegt wohl der grösste Theil der
jungen Mannschaft des .... ihrigen zu machen."
^) Nach „sich" gestrichen: „alsdann".
*) „vergeht ein Jahr" verbessert aus „vergehen ein Paar Jahre".
^) „nicht — Weise" verbessert aus „in einer Gegend einer bei solchen
Gelegenheiten".
Zarauz und Guetaria.
71
Kräfte bezeichnet, heraus. Stutzen sie vor einander und zögern
sich anzugreifen, so heisst es: Biderdia! (Mitten in den Wegl)
Alsdann beginnt das Gefecht. Der Knittel wird mit beiden Händen
geführt, und diese Art zu fechten Icennt so gut ihre Regeln, als
die unsrige. Der geschickte Kämpfer weiss schnell den Hieb des
Gegners abzuhalten, und gleich darauf den seinigen beizubringen.
Die Paraden geschehen je nachdem der Hieb geführt wird, entweder
horizontal vor dem Gesicht, oder zu beiden Seiten nach unten zu.
Gelingt es nicht mit dem Hauen, so dient das Ende des Stocks
auch zum Stich. Wird einer beider Theile zu Boden gestreckt, so
stellen sich seine Partheigänger vor ihn, bedecken ihn mit ihren
Stöcken, wie Homers Helden ihre gefallenen Krieger mit ihren
Lanzen und Schilden, und suchen ihn, kämpfend und weichend, dem
Gefecht zu entziehn. In einem reizbaren und muthigen Bergvolk
Jedem Ausbruch der Leidenschaften zuvorkommen zu wollen, wäre
unmöglich, und das von Zeit zu Zeit daraus entstehende Unglück
ist immer ein geringerer Nachtheil, als wenn eine ängstliche Polizei
den frohen und überschäumenden Muth des Volks zu ersticken
versuchte, ^j Wenigstens ist der lange Gebirgsstock eine ofne
und redliche Art der Waffen, und zeugt immer für den Muth und
die Geradheit eines Volks. -)
Wunderbar ist es, dass diese LocalEifersucht , wie man sie
nennen könnte, auch auf die Sprache einen sehr grossen Einfiuss
ausübt. Dass der Vaske in dem Grade stärker an seiner Sprache
hängt, in dem sie ungerechter verfolgt wird, dass er sich freut, wenn
der Fremde an ihr Theilnahme zeigt, und sich Mühe giebt, selbst
einige Worte zu radbrechen, dass er ihm alle Eigenheiten und Sonder-
barkeiten derselben zu erklären und besonders das Geheimniss der
in den meisten Vaskischen Wörtern liegenden Bedeutungen etymo-
logisch aufzuschliessen sucht, ist sehr natürlich. Aber auffallender
ist der wetteifernde Streit, wo das Vaskische am besten und reinsten ^)
gesprochen werde? Marquina in Guipuzcoa und Durango in
Vizcaya behaupten darin unstreitig den Vorzug.*) Beide mitten
*) Wie der Verfasser der neueren Staatskunde von Spanien I, 102. darauf kommt
in diesem Betracht Bilbao und Ordufia zu nennen, weiss ich nicht. Von Bilbao ist es
^) „zu ersticken versuchte" verbessert aus „ersticken wollte".
^) Nach „Volks" gestrichen: „wenn es sich solcher freier und nicht heimlicher
Dolche und Waffen bedient."
^) „reinsten" verbessert aus „richtig [sten]".
72
Die Vasken.
im Lande, nah an einander gelegen, nur durch das Gebirge Oiz von
einander geschieden, beide ansehnlich bevölkert, wohlhabend mehr
durch Ackerbau und Kunstfleiss, als durch Handel, und daher von
Fremden sparsamer besucht, beide endlich von Gebirgseinwohnern
umgeben, die in ihren zerstreut gelegenen, abgeschiedenen Woh-
nungen das älteste, dem Städter manchmal kaum noch verständliche *)
Vaskisch rein und unverändert aufbehalten haben, sind von der Ver-
mischung ihrer Mundart mit Castilianischen Wörtern und Redensarten
am meisten verschont geblieben. Beide geniessen überdiess jetzt des
Vorzugs, Marquina in D. Juan de Moguel, Durango in D. Pablo
de Astarloa, zwei so gelehrte und gründliche ^) Sprachforscher zu
besitzen, dass, wenn auch der letztere den Bau und die Natur
seiner Sprache tiefer erforscht hat, doch selbst der Kenner ungern
über sie ein entscheidendes Urtheil fällen wird. Der streitige
Punkt aber ist nun zu wissen, , welcher von beiden Orten dem
andern den Rang abläuft? und hierüber hörte ich oft mit Hart-
näckigkeit und Wärme streiten.
Noch sonderbarer und die Erlernung der Sprache sehr er-
schwerend ist folgende Erscheinung. Die Vaskische Sprache hat,
wie jede ursprüngliche, reiche und ehemals in einer ungleich
grösseren Ausdehnung gesprochene, eine Menge gleichbedeutender
Wörter. Zaldia und Zamaria heissen Pferd, erhia und atza Finger,
goragoa und arbasoa der Urältervater u. s. f. Von diesen Wörtern
hat die Mundart der verschiedenen Gegenden^) das eine aufge-
nommen, das andre ist unbekannt, oder doch nicht üblich. Die
allgemein bekannt,') dass man daselbst vorzüglich schlecht Vaskisch spricht, und in
einem Grenzorte, wie ürdufia, darf man schwerlich einen reinen Dialect suchen. —
Es ist vermuthlich mit dieser Behauptung, wie mit der, dass „die Bispayischc Sprache
von dem Basquischen im französischen Navarra" nun vollends ganz verschieden sey.
I, 302.
*) Von der Wahrheit dieser Behauptung zeugt folgende Anekdote. Ein junger
Gebirgshirt beichtete bei einem Stadtgeistlichen ein Verbrechen begangen zu haben,
das er Biganderia nannte. Der verlegene Pfarrer, der das Wort nicht verstand, und
durch Fragen nichts herausbringen konnte, ertheilte dem Menschen die Absolution.
Nachher fand er, durch Nachsuchen, dass der Ausdruck aus den drei Wörtern: bigaya,
junge Kuh, atldrea, Frau, und eria, Krankheit, Laster, zusammengesetzt ist, und also
eine unglückliche Verirrung anzeigt, die bei einsamen Hirten vielleicht weniger streng
beurtheilt werden darf, aber in Biscaya doch fast beispiellos selten ist.
^) „gründliche" verbessert aus „tiefe".
^) Nach „Gegenden" gestrichen: „bald".
'} „allgemein bekannt" verbessert aus „ausgemacht".
Zarauz und Guelaria.
73
Rivalität der kleinen Ortschaften macht nun, wie mich einsichts-
volle Beobachter versicherten, dass man sich an einem Ort nicht
gern der Ausdrücke bedienen will, welche dem benachbarten
eigenthümlich sind, obgleich Eigennamen zeigen, dass dieselben
ehemals von allgemeinerem Gebrauche waren. In Durango sagt
man 2. B. um den Begriff des Einsammelns auszudrücken batu,
in Guipuzcoa hilda. Doch sind die Namen mehrerer dortiger
LandHäuser aus dem ersteren Wort zusammengesetzt. Nicht
selten findet man daher solche einzelne Localausdrücke^) eher
in entfernten, als in nahgelegenen Orten wieder. Der allgemeinen
Verständlichkeit der Sprache kann dies keinen Eintrag thun, da
es immer nur eine kleine Anzahl von Ausdrücken betrift. Aber
es erschwert das Aufsuchen des vollständigen Sprachvorrathes
und bezeichnet den allgemeinen Hang jedes Volkscharakters, sich
immer erst in kleineren Massen von einander abzuscheiden, ehe
man sich zu grösseren verbindet.
Von derselben regen Eifersucht, welche sogleich erwacht, als
ein Ort sich eines Vorzugs vor seinen Nachbarn anzumassen ver-
sucht, führte uns der Zufall ein nicht uninteressantes Beispiel auf
unserm Wege von Zumaya nach Deba zu. Wir begegneten zwei
Frauenspersonen, einer älteren und einer jüngeren, ihrer Nichte,
die nach dem benachbarten Dorfe giengen. Die Tante hatte ge-
lobt die Jungfrau in Itziar zu besuchen, und die Nichte, ein
rasches, junges und sehr hübsches Mädchen, begleitete sie. Auf
unsre Bitte, uns einige Zortzicos — so nennt man, von zorzi^
acht, die achtzeiligen Vaskischen Nationallieder — vorzusingen
und zu erklären, that sie es. Ich schrieb einen, so gut ich ihr
folgen konnte, nach, 2) und ob sie gleich anfangs sich zu singen
weigerte, drang sie mir, als mich die vielen Strophen ermüdeten,
doch noch die letzte, als vorzüglich hübsch, auf. Die Poesie des
Liedes bedeutete, wie man leicht denken kann, nicht viel, aber
der Inhalt belustigte uns sehr. Zarauz und Guetaria, erzählte sie
uns, stritten um die Ehre, Elcano's Geburtsort zu seyn. In Za-
rauz gebe es noch Personen dieses Namens, in Guetaria nicht.
Auf diesen schwachen Beweisgrund hin hätte nun ein gemeiner
Seemann in Zarauz, der, wie sie sagte, weder schreiben konnte,
noch Castilianisch wusste, dies Lied gemacht, indem er zugleich
') „Localausdrücke" verbessert aus „Provincialismen".
*) „nach" verbessert aus „auf.
74
Die Vasken.
die Ehre seines Geburtsortes rettete ^) und den armen Indtafto
in Guetaria nicht wenig mitnahm, und als bald darauf einige Zu-
mayer (Zumaya liegt dicht bei Guetaria) nach Guetaria zu Schiffe
fuhren, sangen sie das Lied. Man wollte es ihnen untersagen,
und bedrohte sie mit Strafen, aber unsre entschlossne Heldin,
die dabei war, fertigte die Drohungen ganz kurz mit der Antwort
ab : un cantar es para cantar (ein Gesang ist zum Singen gemacht).
Elcano's Bildsäule ist nicht das einzige Denkmal des Seeruhms
der Biscayer, das uns Guetaria darbot. In mehreren Gärten sahen
wir die Weinreben durch grosse Wallfischknochen unterstützt.
Es vergeht nemlich nicht leicht ein Jahr, in dem sich nicht einige
Wallfische in den Busen von Biscaya verirren ; und ^) nur wenige
Wochen vor unsrer Ankunft hatte man einen bei Zarauz ge-
fangen. Sie pflegen auf 36 Ellen lang und 8 hoch zu seyn.
Es scheint ausgemacht, dass Europa diesen ganzen Fang
ueberhaupt dem Muth und der Geschicklichkeit der Vasken dankt,
und vorzüglich schreibt man denselben zuerst Bayonnischen Schiftern
zu. Sie bemerkten, dass die Wallfische, welche sie jährlich an
ihrer Küste fiengen, regelmässig zu bestimmten Zeiten erschienen,
und wieder verschwanden, versuchten, ihnen nachzufahren, als
sie die südlicheren Gewässer verliessen, und wurden so allmählig
bis nach Grönland und Island hingelockt. Sie rüsteten ehemals
kleine Flotten von 50 bis 60 Fischerschiffen dahin aus,*) und
hatten sich so sehr die Zuneigung ^) der Isländer zu verschaffen
gewusst, dass diese sie vorzugsweise begünstigten. Sie trieben
ihren Fang nach und nach, so wie er in einer weniger ergiebig
zu werden anfing, in mehreren Gegenden, zuerst um Grönland
*) Man vergleiche über diese ganze Materie den Artikel Peche de Baieine in
der grossen Encyclopädie, und die von Beruard de Reste aus dem Holländischen ins
Französische übersetzte histoire des peches , des decouvertes et des etablissetnens
des Hollandais dans les iners du Nord. T. I. p. XXII. und ferner p. 2. 4. 13. 17.
132. sq. — Diese, als die neueste unter den mir über diese Materie bekannten Schriften
giebt die Anzahl der Schiffe so, wie ich sie bestimmt habe, an. In der Encyclopedie
ist nur von 30, jedes zu 250 Tonnen und 50 Mann die Rede, und ebensoviel nimmt
Sprengel (Geschichte der Europaeer in Nordamerika. Th. I. S. 35.) für die Mitte des
16. Jahrhunderts an.
^) „die — rettete" verbessert aus „Zarauz die Ehre, diesen Helden erzeugt
zu haben, zueignete".
^) Nach „und" gestrichen: „dort gefangen werden".
^) „Zuneigung" verbessert aus „Gunst".
Zarauz und Guetaria.
75
und Island herum, hernach gegen Finnland zu, und endlich in
der Strasse Davis.
Allein nicht lange konnten sie sich in dem Alleinbesitz des-
selben erhalten; sie wurden sogar von den Holländern eine Zeit-
lang gänzlich aus den Nordischen Gewässern verdrängt. Die
Holländer stellten ihre erste Unternehmung dahin im Jahr 1612.
an, doch konnten sie so wenig der Basquen dabei entrathen, dass
sie vielmehr immer mehrere derselben in ihre Dienste zu nehmen
suchten. Sie machten einen beträchtlichen Theil ihrer Schiffs-
mannschaft aus, und wurden vorzüglich als Harpounierer ge-
braucht. Während des Fanges hatten sie eine uneingeschränkte
Macht über die Schiffe, und selbst der Capitaine musste ihnen
gehorchen. Erst als sich andre Nationen bei dieser Fischerei zu
den Holländern gesellten,^) fanden sich auch die Basquen wieder
bei derselben ein. Die um Spitzbergen herum liegenden Meer-
busen wurden nun förmlich vertheilt, die Engländer nahmen die
südlichsten weg, auf sie folgten die Holländer, und die nördlichsten,
bei dem^) rothen Busen, fielen den Basquen und Spaniern zu,
da wo noch jetzt das Biscayische Vorgebirge bekannt ist. In
neueren Zeiten haben die Vasken den Wallfischfang für den Stock-
fischfang aufgegeben, allein immer bleibt ihnen der Ruhm Europa
mit einer der nützlichsten, aber auch gefahrvollsten Fischereien
bekannt gemacht, und ihren Namen an eine der nördlichsten
Spitzen des Erdbodens ■') verpflanzt zu haben.
Auch die meisten einzelnen Verrichtungen bei dem Fang und
der Benutzung der Wallfische sind Vaskische Erfindungen. Eine
der wichtigsten, die Bereitung des Thrans auf den Schiffen selbst
und in offener See, bei dem er weit besser geräth, als wenn
man, wie vorher die Holländer thaten, das Fett erst in Tonnen
schlägt und liegen lässt, bis man ans Land kommt, gehört einem
Bürger von Ciboure Franz Soupite zu. Er gab zu diesem Behuf
einen Ofen an, der auf dem zweiten Verdeck von Ziegelsteinen
gebaut wird, und auf den man den Kessel setzt. Daneben hält
man zu Verhütung der Feuersgefahr mit Wasser angefüllte Fässer
in Bereitschaft.
Zweifelhafter, als die erste Entdeckung des Wallfischfanges,
^) „sich — gesellten" verbessen aus „die Holländer genöthigt waren, diesen
Zweig ihrer Fischerei mit andern Nationen zu theilen".
^) „bei dem" verbessert aus „um den".
*) „des Erdbodens" verbessert aus „Europens".
76
Die Vasken.
ist es, ob die Verfolgung dieser Bewohner des Eispols die Basquen,
noch vor Columbus Seefahrt, nach Neufundland und Canada ^)
führte. Die Landeseingebohrnen behaupten es, ja sie bringen
diese Entdeckung mit der von Columbus in noch näheren Zu-
sammenhang. Basquen, sagen sie, hatten sich, wohl schon loo Jahre
vor ihm in Neufundland niedergelassen; ihre Nachkommen aber
waren genöthigt worden, weil sie das Clima nicht länger vertragen
konnten, wieder zurückzukehren. Krank am Scorbut und ausser
Stande weiter zu segeln, landeten sie an einer der Canarischen
Inseln gerade zu der Zeit, als Columbus auf seiner Entdeckungs-
reise ebendaselbst ankam. Sie gaben ihm Nachricht von ihrer
Fahrt und dem Lande, das sie bewohnt hatten, und veranlassten
dadurch die wahre Entdeckung Americas. Aber da sie, noch ehe
sie ihr Vaterland erreichten, am Scorbut hinstarben, so blieb ihm
allein der Ruhm, und das Gefücht ihrer Fahrt verdunkelte sich.
Es dürfte schwer halten, einen kritisch genauen historischen Be-
weis hierüber zu führen; allein ein Basquischer Seemann Derazu
soll einen interessanten handschriftlichen Aufsatz darüber nach
mündlichen Ueberlieferungen verfertigt haben, und auf diesen
bezieht sich Garat, wenn er einmal gelegentlich im Französischen
Mercur den Beweis verspricht, dass Amerika eigentlich zuerst
durch Basquen entdeckt worden sey.*)
*) Man vergleiche eine Abhandlung sifr la decouverte de l'Amerique addressee
au docteur Franklin in den Memoires de la societe philosophique d'Atnerique.
(Ein Auszug davon ist im Moniteur. 3. Brum. an 13. 25. Oct. 1804. nr. 33.) Diese
Abhandlung gründet sich auf eine Stelle in Garcilasso de la Vega Peruanischer Geschichte,
in der es heisst dass Columbus, nachdem er von der Existenz eines andern Welttheils
durch Alonzo Sanchez de Huelva, qui faisant route pour les Canaries avoit ete
pousse aux Antilles par un coiip de vent, unterrichtet worden sey, avoit surtout
tire grand parti des injormations d'un celebre Geographe nomme Martin Behenira.
Diesen Namen versteht der Verfasser dieses Aufsatzes von Martin Behaim, Les sillabes
ira, setzt er hinzu, doivent etre dues ä une circonstance particuliere ; cette circon-
stance je la trouve dans la confiance dont il a ete honore par Jean 2. roi de
Portugal. (Wie hängen die Silben ira und dies Vertrauen zusammen? Behenira kann
sehr füglich ein Vaskischer Name seyn.) Indess scheint die Angabe, Columbus habe
auf den Canarischen Inseln Nachrichten eingezogen, sich auf eine Stelle in Riccioli's
geographie reformee, livre III. p. 90. zu beziehen. Christophe Colomb, heisst es
da, pensa ä entreprendre une navigation aux Indes Occidentales sur une indication
qu'il reg'it ä Madere oü il s'occupoit ä faire des cartes de geographie. Cette
indication lui fut donnee par Martin Bohem, ou selon les Espagnols par Alphonse
^) „Canada" verbessert aus „den nördlichsten Gegenden von Amerika".
Zarauz und Guetaria.
77
Die Lage von Guetaria ist hinlänglich aus Herrn Fischers
Reise durch Spanien bekannt.^) Wir wohnten in demselben
Hause des Wundarztes, in dem er sich einige Tage lang aufhielt,
und fanden die von ihm sehr umständlich beschriebne kleine
Büchersammlung noch in demselben Zustand. In der Kirche,
die einen hohen abentheuerlich verzierten Thurm hat, ist das
Schnitzwerk im Chore berühmt. In dieser Art von Arbeiten
herrscht in den grösseren und älteren katholischen Kirchen ein
gewisser Muthwille der Künstlerlaune, und wenn man überall in
dem ganzen Gebäude nur ernsthafte und religiöse ^) Vorstellungen
erblickt, so treibt innerhalb der Gitter des Chors auf den bunten
Verzierungen der Chorsessel die Einbildungskraft ihr freies Spiel,
ohne sich an die Bestimmung und Heiligkeit des Ortes zu kehren.
In Burgos lehnt sich der Erzbischof auf seinem Chorstuhl an eine
Europa an, welche Jupiter als Stier entführt, und in Auch erinnre
ich mich einen Pfaffen gesehen zu haben, den zwei Affen in ihrer
Mitte zwischen sich fest binden. Auch hier waren die mannig-
faltigsten Arabesken- und Capricciofiguren, Reuter auf vielfach in
einander verschlungenen Ungeheuern, Centauren, Löwenjagden
u. s. f. Doch kommt die Feinheit der Arbeit bei weitem nicht
der in der Cathedrale von Auch gleich. Reicher, freier und zier-
licher^) von Erfindung, und feiner und bestimmter in der Aus-
führung aber, als das Schnitzwerk im Chor dieser letzteren Kirche,
lässt sich auch schlechterdings nichts denken. Glücklicherweise
hat dies merkwürdige Gebäude durch die Zerstörungen der
Revolution, die sich überhaupt im südwestlichen Theile Frank-
reichs schonender als in den nördlichen Provinzen gegen den
Gottesdienst gezeigt hat, nichts gelitten, und es ist nur zu bedauern,
dass es seltner von Künstlern besucht wird. Ausser den Raphael-
schen Logen weiss ich in der Arabeskengattung nichts hiermit
an Geschmack und Grazie zu vergleichen, als die Verzierungen
einer Handschrift des Quinctilian in dem vom Herzog Ferdinand
Sanchez de Huelva pilote qui avoit rencontre par hasard l'isle qui depuis a ete
appelee la Doiyiinique. Auch Mariana (/. XXVI. c. 3.) erzählt : qu'un certain batimetit
allant en Afrique avoit ete jetie par un coup de vetit sur de certaines terres
inconnues et que les matelots, apres leur retour ä Madere, avoient communique
ä Christophe Colomb les circonstances de leur navigation.
1) Vgl. dort S. 13. 74.
'') „religiöse" verbessert aus „heilifge]".
*) „iierlic r" verbessert aus „zarter".
78
Die Vasken.
von Calabrien*) gestifteten Kloster S. Miguel de los Reyes bei
Valencia. Unter 224 sehr schön geschriebenen und reich ver-
zierten lateinischen Handschriften der Bibliothek dieses Klosters
zeichnet sich diese vor allen andern aus, und wenn diese Hand-
schriften, wegen ihres geringen Alters,^) auch in philologischer
Rücksicht nicht gerade erheblich sind, so verdienen sie in künst-
lerischer Aufmerksamkeit, vorzüglich da diese Verzierungen über
Rafaels Zeitalter hinauszugehen scheinen.
Die Aussicht von der durch einen schmalen Damm mit dem
Lande verbundenen Insel S. Anton ist die weiteste und freieste,
die man an dieser Küste findet. Bisher war sie immer der letzte
Punkt gewesen, den unser Auge an der Küste erreicht hatte.
Jetzt sahen wir von ihr aus das Vorgebirge Machichaco, und über-
blickten so auf einmal den ganzen Biscayischen Meerbusen von
Bermeo bis S. Sebastian. Denn, das Vorgebirge Machichaco, die
Insel S. Anton und das Vorgebirge dcl Higuer sind die drei am
meisten ins Meer vorgehenden Punkte dieser Küste, zwischen welchen
das Land zwei flache Einbiegungen macht. Die Insel besteht übrigens
aus zwei durch ein Thal geschiedenen Höhen, von denen die
hinterste und höchste ein blosser Haufe auf einander gethürmter
KHppen ist, zu dem man durch einen schmalen an ungeheuren
Abgründen hinlaufenden Fusssteig gelangt. Auf dem vordersten
Gipfel ist bloss ein Wachthurm, auf dem hintersten eine Ein-
siedelei. Solche Einsiedeleien giebt es viele in Spanien, doch
werden sie nicht immer von Einsiedlern, sondern oft von Ackers-
leuten bewohnt. Die Insel ist theils Weideplatz, theils Ackerland.
An den schroffen Abhängen klimmen Kühe herum, und zu den
Ackerstücken trugen Männer und Weiber Körbe voll Mist auf dem
Kopf den unendlich beschwerlichen, zum Theil niit Stufen im
Felsen gehauenen Weg hinauf.
*) Dieser Herzog von Calabrien war ursprünglich ein Aragonischer Prinz und
ein Sohn Friedrichs von Aragonien, Königs von Neapel. Er war 1488. in Apulien
gebohren. Als sein Vater durch Ferdinand den Katholischen und Ludwig 12. sein
Königreich verloren hatte, vertheidigte er sich eine Zeitlang in Tarent, musste sich
aber dem sogenannten Gran Capitan, Gonzalo Fernandez von Cordova ergeben und
wurde in Spanien in Xativa, jetzt S. Phelipe, 10. Jahre lang gefangen gehalten. Endlich
schenkte ihm Carl 5. die Freiheit wieder, verheirathete ihn mit D. Ursula Germana,
Wittwe Ferdinand des Katholischen, und machte ihn zum Vicekönig von Valencia.
Hier residirte er mit allem Glanz der Königlichen Würde, und das Kloster erhielt
daher seinen Namen.
^) „ihres geringen Alters" verbessert aus „ihrer Neuheit".
Zumaya, Deba, Motrico, Ondarroa und Marquina. ^q
Zumaya, Deba, Motrico, Ondarroa und Marquina.
^) Diese Tagereise — denn da wir früh von Guetaria aus-
geritten waren, so erreichten wir Marquina noch an demselben
Abend — gewährte uns eine ungemein reizende Abwechslung
verschiedener Gegenden. Erst die freundliche Lage des Hafens
von Zumaya. Die Urola strömt aus einem lieblich bewachsenen
Thale, mit dem sich an ihren Ufern ein andres vereinigt, hervor
und ergiesst sich zwischen Felsen ins Meer; der Blick, der ihren
Lauf landeinwärts verfolgt, wird durch eine hohe Gebirgsmauer
begränzt ; und hinter dem kleinen am Abhänge liegenden Flecken
erheben sich steile aber angebaute Berge. Dann der einsame
Gebirgsweg nach Deba bei Itziar vorbei. Von zwei Bergreihen
eingeschlossen, und von wunderbar gestalteten Klippen umgeben,
glaubt man sich mitten in die Alpen oder Pyrenaeen versetzt,
aber die öde Wildheit der Gegend mildert der Anblick der an-
muthigen Aecker und Gärten, mit welchen der Fleiss der Bewohner
auch die steilsten Gipfel umkränzt hat. Darauf die unbegränzte
Aussicht aufs -) Meer zwischen Motrico und Ondarroa. Eine
schmale, aber gut angelegte Chaussee verbindet diese beiden kleinen
Häfen, immer am Abhänge der Berge über dem Meer hinlaufend.
Ondarroa erhält durch seine, in einem hohen Bogen über den
Fluss gehende Brücke und seine alterthümliche ^) Kirche ein
romantisches Ansehn. Alle Kirchen dieser kleinen Seestädte sind
in länglichten Vierecken, ohne eigentliche Thürme, aber mit
mehreren thurmartigen Ausbauen auf den Seiten, und mit unge-
heuer dicken Mauern, Strebepfeilern und Gewölben, gleich Festungs-
werken, aufgeführt. Diese aber zeichnet sich durch ihre Grösse,
ihr Alter und den Gothischen Schmuck aus, mit dem sie sehr
reich verziert ist. Endlich von der Küste abwärts das wunder-
schöne Thal des Dorfs Berriatua, das an den Ufern eines kleinen
Baches hin bis Marquina führt. Mitten unter dem mannigfaltigen
Grün von Aeckern, Wiesen und Gärten, von freundlich bebauten
Hügeln und finstrem Gebirgsw^ald umschlossen hat Berriatua ein
1) Vor „Diese" ist folgender Absatz gestrichen : „Alle diese Orte, Marquina
allein ausgenommen, das mitten im Lande liegt, sind kleine Seehäfen, in sehr
geringer Entfernung von einander. Der Weg läuft zwar meistentheils am Meere
hin, allein . . . ."
*) „aufs" verbessert aus „auf die unendliche".
') „alterthümliche" verbessert aus „altväterliche".
§0 Die Vasken.
wild-ländliches Ansehn. Das Thal ist wahres Gebirgsthal; aus
dem Gebüsch drängen sich nackte Felsecken vor, zur Seite rauscht
in der Tiefe der kleine aber reissende Waldstrom, und durch das
Grün der Bäume blicken die schwarzen Schlackenhaufen der
Eisenhämmer durch, die er treibt. Von Zeit zu Zeit stiessen wir
auf Stammhäuser grosser Familien, deren einfache Bauart aber
weder unsern neueren, noch älteren Schlössern^) gleicht, und
die nur an ihrer Grösse und dem über der Thür eingehauenen
Wappen kenntlich sind.
Von Ondarroa an befanden wir uns im eigentlichen Vizcaya.
In Marquina, einem bloss Ackerbau treibenden Flecken, sahen
wir uns auf einmal mitten in das Land und in acht Vizcayische
Sitten versetzt. Ein Zufall veranlasste uns ein Paar Tage dort
zu bleiben, und ich durchstrich oft die Felder und suchte mich
mit den Ackerleuten zu verständigen. Auch gelang es mir so
ziemlich, weniger durch meine Kenntniss der Sprache, als durch
ihre unermüdliche Geduld, mit der sie mir, mit dem sichtbarsten
Ausdruck der Freude, dass ich mich um ihre Sprache und Sitten
bekümmerte, immer zugleich durch Zeigen und Nennen der
Gegenstände, von denen ich sprach, zu Hülfe kamen.
Die grosse Schwierigkeit, welche der Ackerbau in Biscaya zu
tiberwinden hat, ist die Härte und Strenge des Bodens. Sie durch-
pflügen ihn daher nicht nur mehreremale nach einander, sondern
bedienen sich auch dazu einiger ganz eigener Werkzeuge. Das
eigenthümlichste unter denselben ist die laya. Sie besteht aus
einer langen und spitzigen zweizackigen Gabel mit einem kurzen
Stiel, der aber nicht in der Mitte, sondern an dem einen Ende
befestigt ist.^) Jeder Arbeiter hat zwei solche Gabeln in der Hand,
sticht sie ^) horizontal in die Erde ein, drückt sie, mit einem, oder
auch wohl mit beiden Füssen zugleich darauf tretend, noch tiefer
ein, und reisst dann, den Stiel nach sich zu niederdrückend, ein
ganzes grosses Rasenstück auf einmal los und wendet es herum.
Diese schon durch das stete Bücken äusserst beschwerliche Arbeit
wird immer, wie bei uns das Graben, zugleich von mehreren ver-
richtet, und daher kommt das in die Spanische Sprache über-
*) "Nach „Schlössern" gestrichen: „Es sind grosse viereckte Gebäude von
sehr einfacher Bauart, allenfalls nur mit einer kleinen T[hür]."
^) „befestigt ist" verbessert aus „sitzt".
*) Nach „sie" gestrichen: „mit aller".
Zumaya, Deba, Motrico, Ondarroa und Marquina. 8l
gegangene Sprichwort:^) son de una misma laya*) sie sind eines
Gelichters.
Unser einzahniger Pflug**) wird in dieser Gegend selten oder
gar nicht gebraucht, allenfalls nur eine einzelne Furche zu ziehen,
die Arbeiter mit der laya zu leiten. Dagegen sind mehrere Arten
vielzahniger***) Pflüge üblich, von denen einige unsern Eggen
gleichen. Die nabasaia f) hat vier lange nach vorn zu hakenförmig
gekrümmte Eisen, die an einem Queerholz befestigt sind, auf dem
unmittelbar, und ohne Räder, die Deichsel aufliegt, und welche
die Erde sehr tief aufwühlen, zumal wenn der Pflügende sich
nicht begnügt, hinten an den beiden dazu bestimmten gekrümmten
Hölzern mit den Händen aufzudrücken, sondern noch Steine an-
hängt. Die Btirdmarca-\-\) ist auf gleiche Weise gebaut, hat aber^)
hinter dem vierzahnigen Queerholz noch ein kleineres mit zwei
Zähnen in den Zwischenräumen der vorderen, und die Zähne
gehen gerade hinunter. Unsrer Ege am nächsten kommt die vier-
eckte area,-\^j) die gewöhnlich vier mit einander verbundene Balken,
*) Vivian en la misma casa dos o tres damas de la misma laya cet. Aventuras
de Gil Blas de Santiüana. I, 321. Die in den gewöhnlichen Spanischen Wörter-
büchern angegebene Bedeutung dieses Worts : Art, Beschaffenheit, ist daher bloss
metaphorisch und abgeleitet.
**) Goldea.
***) So heisst der Pflug nach Larramendi (ich habe dies Wort gerade nie gehört)
bostortza, Fünfzahn.
f) Vom Glätten des urbargemachten Bodens, vielleicht auch vom Einschneiden.
Nauada oder Naiia, das auch ins Spanische übergegangen ist, bedeutet eine Ebne,
Fläche. Daher hat z. B. die berühmte Schlacht in den Ebnen von Tolosa, wo im
Anfange des 13. Saeculum die Mauren in Andalusien geschlagen wurden, la batalla de
las naiias, ihren Namen, und ebenso Nauarra, als die Ebne am Fuss der Pyrenaeen.
Von der Idee des Glatten geht die der Schärfe aus. Denn nauala heisst ein Messer,
und damit hängt vielleicht das Spanische navaja, und vielleicht sogar novacula zu-
sammen.
ff) Von Burdina, Eisen, und area, Pflug oder Egge, da beide Instrumente ein-
ander hier sehr nahe kommen.
fff) Die Idee des Ackerns wird bekanntermassen in einer grossen Menge von
Sprachen durch Wörter bezeichnet, die von der Silbe ar abgeleitet sind. Man ver-
gleiche nur z. B. Adelung v. Aeren. Zu den von ihm angeführten Beispielen könnte
man aber noch viele hinzufügen z. B. das Vaskische areatu, das BasBretonsche ara
(Pelletier v. arer), das Kymrische am (Owen h. v.), das Gailische aradh (Mac Far-
lan h. V.), das Irländische araim. Die dabei zum Grunde liegende Vorstellung scheint
mir die des geraden und langen (furchenartigen) an einander Reihens zu seyn. Denn
^) „Sprichwort" verbessert aus „ Volkssprich[\vortf'.
^) Nach „aber" gestrichen: „perpendicular hinuntergehende Eisen".
W. V. Humboldt, Werke. Xm. 6
§2 Die Vasken.
jeden zu sechs starken eisernen Nägeln hat. Nur sind die Balken
schief gelegt, so dass sie vorn enger zusammenstehen, als hinten,
oben ist ein Spriegel angebracht, bei dem der Ackernde, w^ie er
es nöthig findet, bald aufdrücken, bald heben kann, und weil diese
Ege zugleich zum Zermalmen dient, so wird sie oft noch mit
Steinen beschwert.
Die Erdschollen, die noch nach diesen Arbeiten nicht ganz
zerlockert zurückbleiben, werden mit einer Art Schlägel, mazuha*)
noch zulezt einzeln zermalmt.
Da die Besitzungen nur klein sind, so beschäftigt ihre Be-
stellung, trotz der vielfachen Arbeit, den Landmann doch nur eine
Zeit des Jahres hindurch. In der übrigen treiben viele ein Hand-
werk, und mehrere zerstreuen sich, als Zimmerleute in der um-
liegenden Gegend. Obgleich die Biscayischen Landleute nicht
reich genannt werden können,^ so leben sie doch meistentheils
sehr gut. Wie sie mir selbst in Marquina sagten, essen sie alle
Mittage Fleisch, trinken Abends immer Wein und auch ihr Früh-
stück ist reichlich. Ich wohnte einmal einem solchen Familien-
frühstück bei. Der Herr, seine beiden Söhne, der Knecht und
ein Tagelöhner sassen auf ihrem Acker um eine Schüssel mit
geschnittnem und in Fett gebratnem Brote herum; dazu hatten
sie Eierkuchen, und gutes Weizenbrot, da das Maisbrot eine
schlechtere und armseligere Kost ist. Die Frau stand hinter ihnen
ausserdem, dass der Laut der Silbe die Einbildungskraft hierauf führt, so liegt in den
meisten metaphorischen Ableitungen dieser Wortfamilie in mehr als Einer Sprache
noch der Begriff der Ordnung, des Zusammenpassens, und im Vaskischen besonders
deutet fast dasselbe Wort, aria, auch einen Faden, also eine feine und schmale Länge,
und aräua, die Regel, d. i. die gerade Richtschnur an. Auch ist nicht zu übersehen,
dass das Griechische sl^/eip, an einander reihen, das Lateinische serere, und das Vas-
kische ercindu, säen, damit verwandt sind, und auch das in Reihen an einander Legen
bedeuten. Die Vorstellung der Furche kann hernach auf die der Arbeit, der Stärke,
des Einschneidens, Aufiockerns, wodurch das Wort auf die Erde, das Auflockerbare,
übertragen wird, der Fruchtbarkeit übergehn. Wenn man die Folge dieser Abstam-
mung bedenkt, so erstaunt man darüber, welch ein kräftiger und edler Begriff in dem
Griechischen äQSTrj zusammengedrängt ist, das, unmittelbar verwandt mit äoovQa, das
Gemüth mit einem lockern Boden vergleicht, den die Bearbeitung zu allerlei Erzeugung
fruchtbar macht.') Auch in unsrer Redensart von guter Art seyn, liegt weit mehr
als wir jetzt fühlen, da wir nun unter Art nur eine logische Species, und nicht ein Natur-
geschlecht denken.
*) oder mazua. Das b gehört nur dem Vizcayischen Dialect an.
') „das — macht" verbessert aus „die bildsame Kraft des Gemüths frucht-
bar gemacht durch die starke Bearbeitung des Willens".
Zumaya, Deba, Motrico, Ondarroa und Marquina. go
und sah nur zu, weil sie schon zu Hause gegessen hatte. Nach
dem Essen spannte der Tagelöhner seine Ochsen an den Vier-
hakenpflug, und die Frau säete Mais dahinter ein. Die Tagelöhner
halten sich nemlich hier zuweilen selbst ihre Ochsen, da sie auch
eignen Acker haben. Mit diesen arbeitend, bekamen sie hier
ausser dem Frühstück, und Brot und Wein zu Abend lo reale
den Tag, 15 Groschen in Golde, ohne Ochsen die Hälfte. Eine
Frau bekam die ganze Kost und i real, i Groschen 6 Pfennig in
Golde, so dass der Taglohn im Verhältniss zum Lande sehr theuer
ist. Sehr sorgfältig erkundigten sich diese Landleute nach der
Nähe des Friedens ; er hat das unmittelbare Interesse für sie, dass
sie dann die Fische, deren sie zu ihren Fasten bedürfen, in
grösserer Menge und wohlfeiler erhahen können.
Tief im Lande, wie hier und in einem Flecken, der ganz von
Ackerbau lebend, sich nur durch seine Grösse und seinen Wohl-
stand von den gewöhnlichen Dörfern unterscheidet, sieht der
Fremde, und in Vergleichung mit andern Ländern in der That
nicht ohne Verwunderung mit welcher vollkommenen Gleichheit,
vorzüglich in diesem Theile Biscayas, der Vornehme und Geringe,
Arme und Reiche mit einander umgehen Mehr als einmal be-
gegnete es uns, dass man uns in einer Gruppe von Leuten, die
alle gleich und ganz gewöhnlich gekleidet waren, einen von einer
sehr bekannten Familie, oder der einen Titel in Castilien hatte,
zeigte. Wie nützlich aber der Aufenthalt der Reicheren, die auf
den ersten Anblick nur ein bloss müssiges und geschäftsloses
Leben zw führen scheinen, unter ihren Mitbürgern ist, zeigt die
auch unter dem Volk verbreitete Aufklärung.
So z. B. ist, besonders um Marquina, die Einimpfung der
Blattern so gewöhnlich , dass auch einzelne Hausbewohner im
Gebirge sie selbst an ihren Kindern verrichten. Die Verbreitung
derselben ^) verdankt man vorzüglich dem rastlosen Eifer des
Vaters des damaligen GeneralDeputirten von Vizcaya D. Josef
Maria Murga's, einem' aufgeklärten und edeln Manne, der schon
dadurch und durch die Bildung, die er seinem durch \'ielfache
Kenntnisse und geschickte Geschäftsführung ausgezeichneten Sohne,
grösstentheils allein unter seiner eignen Aufsicht gegeben hat, hin-
länglich beweist, wie wohlthätig ein scheinbar kleiner, still aus-
gefüllter Wirkungskreis einem Lande und einer Nation werden
*) „derselben" verbessert aus „dieser wohlthätigen Erfindung'^.
6*
84
Die Vasken.
kann. Neuerlich hat man auch die Schutzblattern zu versuchen
angefangen. Herr D. Lope de Mazarredo in Bilbao, Neffe des
bekannten Admirals, hat eine der besten in Paris darüber er-
schienenen Schriften übersetzt und seine Tochter zuerst einimpfen*)
lassen. Ihm sind andre in Bilbao und andern Orten z. B. in Azpeitia
gefolgt.
Zwar ginge man zu weit, wenn man behaupten wollte, dass
aller Adelstolz aus Vizcaya verbannt sey. Man muss vielmehr
gestehn, dass unter einem gewissen Theil der Nation noch ein
ziemlich sichtbarer und sogar vielfacher herrscht. Jeder Vizca3^er
ist durch seine Geburt adlich, und muss auch in andern Provinzen
des Königreichs dafür erkannt werden. Er hat darüber keinen
andern Beweis zu führen, als dass sein Vater und Grossvater
wirklich, seine übrigen Vorfahren aber dem Gerücht nach aus
Vizcaya herstammten.**) Reichthum und Armuth, ja selbst die
Lebensart und Handthierung machen hierin keinen Unterschied.
Nur einige Handwerke, z. B. das der Schlächter, das auch meisten-
theils durch Ausländer ausgeübt wird,^) sind davon ausgenommen.
Auf den Volksversammlungen in Vizcaya gilt kein andrer als
dieser Adel, wer einen Grafen, Marques oder selbst Herzogstitel
in Castilien oder andern Provinzen besitzt, legt ihn alsdann ab,
und nimmt seinen Vaskischen Namen an. Daher haben viele
Familien doppelte Namen, und da einer derselben dem Titel, der
andre der Familie angehört, der Titel aber, streng genommen,
nur Einem, dem Erstgebohrenen zukommen kann, so führt manch-
mal der Sohn einen andern, als sein Vater. So z. B. heisst der
Sohn des Marques de Narros, einer sehr bekannten Familie, so
lange sein Vater lebt, nur Eguia. Alle ächte Vizcayer sind also
vollkommen gleich, alle sind von Adel und es giebt unter ihnen
keinen niedrigeren, oder höheren. Der erste Punkt des Stolzes
ist das allgemeine Vorrecht der Provinz. Da sich die alten Landes-
eingebohrnen bei dem Einfall der Mauren in diese Gebirge zurück-
zogen, so halten sie ihren Adel für vorzüglicher, als den des
übrigen Königreichs. Hierüber müssen sie oft die Spöttereien
comischer Schriftsteller leiden, und wer erinnert sich nicht des
*) Man sagt, wie es scheint, in Spanien allgemeiner invacunar als vacunar.
Auch ist jenes der Sprache angemessener.
**) Fueros de Vizcaya. ley i6. p. 24.
1) „Handwerke — wird" verbessert aus „Handwerker, z. B. Schlächter,
die .... Ausländer sind''.
Zumaya, Deba, Motrico, Ondarroa und Marquina. gc
Escudero Vtzcayno im Don Quixote und des D. Rodrigo de Mondragon
im Gil Blas ? Im Lande selbst hält sich der Landmann vornehmer,
als den Städter, und ausserdem entstehen nun noch einzelne
Nuancen durch die Gunstbezeugungen der Könige, die einigen
Titel, andern das Recht dieses oder jenes Wappen zu tragen u. s. w.
verliehen haben. Daher sieht man über den Thüren die Wappen,
oder auch nur einen leeren viereckten Wappenschild eingehauen,
ja manchmal die gemahlten Wappen in den Stuben aufgehängt.
Selten indess wird einer unverständig genug seyn, sich darum
über seine Mitbürger emporheben zu wollen, und niemals wenig-
stens entspricht diesen Anmaassungen ^) der einen die Unter-
würfigkeit der andern. Selbst in den gewöhnlichen Höflichkeits-
bezeugungen ist der Vaske freier und ungezwungner, als seine
Nachbarn. Nur in den Spanischen, nicht in den Französischen
Provinzen, und auch dort nur in neueren Zeiten ist die unnatür-
liche Anrede in der 3ten Person, berori für das Spanische usted^
Ew. Gnaden, üblich. Der gewöhnliche ^) Gruss des Vasken, auch
gegen Vornehmere, vorzüglich auf dem Lande und im Gebirge
ist: Agur adisguidea! (Guten Tag, Freund) mit einem treuherzigen
Händeschütteln verbunden. Dieses Wort Agur! ist in die ver-
trauliche Sprache der Spanier übergegangen; man muss aber ge-
stehen, dass, vorzüglich mit einem etwas brummenden Tone aus-
gesprochen, es kein sonderlich freundlicher, noch feiner Gruss
ist. Ursprünglich scheint es mir von der Handlung des Ver-
neigens herzukommen; a ist nur ein Vorschlagslaut, und die
Stammsilbe gur entspricht im Vaskischen dem Lateinischen curuus,
krumm.*) Trotz dieses gleichen und vertraulichen Umganges
aber, ist das Ansehn eines in seinem Orte geachteten Mannes und
sein Einfluss auf das Volk sehr gross. Sein Ausspruch allein ist
oft hinreichend, Streitigkeiten '^) oder Schlägereien, die z. B. des
Sonntags auf dem Marktplatz entstehen, zu hemmen; man hat
gesehen, dass er, auch ohne gesetzliches Recht zu befehlen zu
haben, den Ruhestörern ins Gefängniss zu gehen gebot, und sie
*) Agurtu, grüssen ; aguretasuna, das Alter ; aguretu, alt werden ; giir-pilla,
glir-cila, das Rad; in-guriuin, rund herum; gurtu , verehren. Nach der Ver-
gleichung dieser Worte scheint gur zuerst Krümme und Rundung anzuzeigen, und dann
bildlich auf Verehrung und das gebückt gehende Alter übertragen zu seyn.
') „Anmaassungen" verbessert aus „Foderungen".
*) „gewöhnliche" verbessert aus „dem Lande eigenthümliche".
*) „Streitigkeiten" verbessen aus „Zänkereien".
85 Die Vasken.
ihm gehorchten; und bei Volksunruhen/) wie z. B. 1720. als die
Regierung Douanen in Biscaya anlegen wollte, an der Küste ent-
standen, hat dieser Einfluss sehr wohlthätig gewirkt. Mehr also
als irgendwo anders kann man hier sagen, dass ein solcher Mann :
lenket mit Worten den Sinn und der Tobenden Herzen besänftigt.^)
Es scheint wunderbar, dass ein Recht, das man gewohnt ist
als ein Vorrecht vor andern anzusehn, allen Bewohnern einer
Provinz ohne Unterschied zukommen soll.^) Innerhalb der Grenzen
derselben kann es natürlicherweise ganz und gar keine Privilegien,
sondern nur die Herstellung der natürlichen Gleichheit bewirken,
und so ist es auch vollkommen in Biscaya; es wird nur da Vor-
recht, wo die Provinz mit andern Provinzen in Verhältniss kommt.
In dieser Rücksicht aber kann das Privilegium Vizcayas wiederum
keine drückenden Folgen für die Nation ausüben, da die Bis-
cayischen Provinzen ohnehin ihr eignes Contributions- und Re-
crutirungssystem haben. Die Verfassung des Adels ist in Spanien
durchaus von der in andern Ländern verschieden, und daher
macht sich der Fremde gewöhnlich unrichtige Begriffe davon.
Da man weiss, dass der Adel sehr zahlreich ist, so denkt man
sich die übrige Nation schmachtend unter diesem Druck, und aus
dem gleichen Grunde hält man wieder die Adelsprobe so leicht,
dass es eine gewöhnliche Sage ist, dass jeder in Spanien adlich
ist, der nur nicht von Mauren oder Juden abstammt. Beides ist
grundfalsch.
In keinem Lande sind die gesetzlichen Vorrechte des Adels
so gering, als in Spanien. Befreiung von einer gewissen, nicht
beträchtlichen Abgabe, die unter dem Namen der pecJios begriffen
ist, von Einquartirung (ausser in dem Fall, wo die Königliche
Familie einen Ort besucht, in dem selbst die Geistlichen nicht
ausgenommen sind) und von dem gezwungenen Soldatendienst
sind die eigentlich vortheilhaften Vorzüge, welche die hidalgos,
Edelleute, von dem estado gejieral oder comim {tiers-etät, Bürger-
stand) und den hombres llanos (gleichsam ebne, schlichte Menschen)
unterscheiden. Von Aemtern giebt es zwar einige wenig be-
deutende in den Magistraten, die nur mit Adlichen besetzt werden
können, aber die einträglichsten und höchsten Staatsämter hängen
^) Nach „Volksunnthen" gestrichen: „vorzüglich".
^) Vergils Aeneis i, i^j.
^) „zukommen soll" verbessert aus „ertheilt sey".
Zumaya, Deba, Motrico, Ondarroa und Marquina. ^n
allein von der Gunst des Königs ab, und eine Menge von Bei-
spielen haben bis in die neuesten Zeiten hin gezeigt, dass dabei
auf Geburt wenig, oder gar keine Rücksicht genommen wird.
Selbst die Steuerfreiheit kann nicht ausschliessendes Vorrecht des
Adels genannt werden, denn es giebt ganze Gemeinen, welche sie
besitzen und in denen der Unterschied des Adels und Bürger-
standes nur durch jene Municipalämter begründet wird. Alle
übrigen Privilegien sind blosse Ehrenvorrechte z. B. dass der
Edelmann, wenn er zum Zeugen aufgefodert wird, nur in seinem
Hause vernommen werden kann, dass er wegen Schulden nicht
verhaftet werden darf, wovon es jedoch viele einzelne Ausnahmen
giebt, dass er von der Folter frei ist, dass er nur in ein besondres
Gefängniss gebracht werden kann, nicht mit dem Strange vom
Leben zum Tode gebracht werden darf u. s. f.
Diese Vorrechte besitzt jeder, welcher nur überhaupt adlich
ist, und in diesem Verstände kann mit der strengsten Wahrheit
behauptet werden, dass alle Vizcayer, ohne Unterschied der Fa-
milien oder des Reichthums, Edelleute sind. Alle Bürgerlichen
werden in den Orten, die sie bewohnen, auf eine Liste der steuer-
baren Einwohner {empadronados) geschrieben, und dies, auf dieser
Liste eingeschrieben zu seyn, oder nicht, giebt den bestimmtesten
Charakter des Adels und Nichtadels ab. Um sich von der Ein-
schreibung in diese Liste zu befreien, muss man einen Titel auf-
weisen, und daher entstehen zwischen denen, die sich von den
Steuern befreien wollen, und den Gemeinen, deren Last dadurch
vergrössert wird, oder auch dem Fiscal, die Adelsprocesse,^) deren
Ausgang, wenn er demjenigen, welcher seine Immunität behauptet,
günstig ist, ihn mit einer sogenannten Executoria*) versieht, die
daher die Stelle unsrer Adelsbriefe vertritt, aber nicht ein Docu-
*) Von dieser ist kei den komischen Dichtern häufig die Rede. So in dem lau-
nigten Gespräch zwischen dem Junker D. Mendo der mit magern Pferden und aus-
gehungerten Windhunden in ein Dorf kommt, wo eben Soldaten einquartirt werden,
und seinem Reitknecht Nuno in Calderons Alcalde de Zalamea.
Nuüo. Und wundert Euch^) nur nicht darüber.
Wisst Ihr,*) warum sie nie Soldaten
in Edelleutenhäuser einquartiren ?
Wisst Ihr es, Herr, warum?
Mendo. Nun und warum?
') Nach „Adelsprocesse" gestrichen: „die gewöhnlich vor den Kanzlei[en]".
*) „wundert Euch" verbessert aus „wundre Dich''.
') „Wisst Ihr'' verbessert aus „Weisst Du".
88 Die Vasken.
ment ist, das den Adel ertheilt, sondern eins, das den anders-
woher empfangenen und bewiesenen nur bescheinigt. Hieraus
nun entsteht eine doppelte Art des Adels, deren Unterschied aber
nicht die mindesten gesetzlichen Folgen hat, nemlich der Adel
von bekannten Stammhäusern, und der Adel durch richterlichen
Ausspruch, hijosdalgo de solar conocido und hijosdalgo de executoria.
Der richterliche Ausspruch selbst, die Executoria, kann sich auf
einen doppelten Beweis gründen, indem derjenige, welcher sie
nachsucht, entweder zeigt, dass er in gerader männlicher Linie
von einem bekannten Hause abstammt, oder indem er nur die
SteuerFreiheit seiner Vorfahren seit undenklicher Zeit her dar-
thut. Nur die erste Art des Beweises giebt ihm ein ewiges und
unverjährbares Recht, da er bei der letzteren hingegen sein Vor-
recht wieder verlieren kann, wenn er oder seine Nachkommen
aus Nachlässigkeit zulassen, dass -sie wieder der Liste der steuer-
baren Bürger einverleibt werden. Endlich wird durch die Exe-
cutoria auch manchmal nicht das Eigenthum der Adelsvorrechte
ertheilt, sondern der Nachsuchende nur in dem Besitzstand der-
selben geschützt, wenn er nemlich die Steuerfreiheit seines Ge-
schlechts nicht seit undenklichen Zeiten, sondern nur 20 Jahre
hindurch, nachweist. Manchmal wird auch der Beweis nur durch
den dargethanen Besitz adlicher Magistratsstellen geführt; alsdann
aber erstreckt sich auch das erstrittene Recht nur auf die Freiheit,
solche ferner zu bekleiden. Ueber den Begriff eines altadlichen
Stammhauses sind die Spanischen Rechtsgelehrten sehr uneinig.
Einige wollen als solche bloss diejenigen gelten lassen, die sich in
den Gebirgen Leons, Burgos, Vizcaya, Asturien, Galicien, Navarra
und Catalonien befinden. Allein diese Einschränkung ist unrichtig,
und es gilt vielmehr jedes Haus oder selbst jeder Plaz eines
Hauses für altadlich, von dem es in der Provinz, in der es liegt,
Nuiio. Damit sie nicht vor Hunger sterben.
Mendo.') Sanft möge meines Vaters Seele,
des wackern Herrn, Gott liab' ihn selig, ruhn 1
der eine grosse ^) Executoria
im Tod mir hinterliess,
mit Blau und Golde bunt bemahlt,
zum ewgen Vorrecht meines Stamms.')
') Nach „Mendo" gestrichen: „Wohl".
*) Nach „grosse" gestrichen: „feste".
^) Eine prosaische Übersetzung der ganzen Szene sandte Humboldt an Goethe
als Beilage seines Briefes vom i8. — 26. August i'jgg.
Zumaya, Deba, Motrico, Ondarroa und Marquina. 8q
notorisch ist, dass es einem altadlichen Geschlechte zugehört hat.
Dieser Beweis läuft daher ganz und gar auf den der Notorietät des
Geschlechts und der geraden männlichen Abstammung von dem-
selben hinaus. Gewöhnlich nun tragen die Familien den Namen
dieser Stammhäuser wie z. B. die Mendozas, Velascos, Guzmane,
Sotomayores u. s. f. Da nach der Vertreibung der Mauren diese
grossen Geschlechter neue Stammsitze durch ganz Spanien er-
hielten, so theilte sich iedes wieder in verschiedene, nach diesen
benannte Zweige. Einige Familien tragen nun zwar andre, nicht
von Stammhäusern herkommende, sondern ihnen bei besondern
Gelegenheiten gegebene Namen, wie die Girone, Gerdas, Coellos
u. s. f., sie besassen aber ehemals gleichfalls ihre Stammsitze,
deren Namen nur über diesen Gelegenheitsnamen vergessen wor-
den sind, so dass die Regel, dass jeder notorisch alte Adel auch
von einem Stammsitz herrührt und daher den Namen führt, da-
durch keine Ausnahme leidet. Diese Gelegenheitsnamen werden
im Gegensatz der Stammnamen {nombres de appellido) nombres de
Alcana genannt, und unterscheiden sich oft, obgleich nicht immer,
dadurch von jenen, dass man zu ihnen nicht, wie zu den andern
die Praeposition de hinzuzufügen pflegt. So sagt man Hernando
Gortes, aber Hurtado de Mendoza. Sie rühren gewöhnlich von
einzelnen Vorfällen her, wie z. B. der der Figueroas von der
Sage, dass zwei Brüder dieses Geschlechts einem König von Cör-
dova bei einem Feigenbaum {higuera^ altspanisch ^^z^^;-«?) 12 christ-
liche Jungfrauen abnahmen, die er zum Tribut erhalten hatte.
Der einmal erhaltene Adel, der sich auch bisweilen auf einen
eigentlichen vom König ertheilten Adelsbrief*) gründet, erbt sich
ohne Unterbrechung auf die Nachkommenschaft fort, und selbst
die Ausübung bürgerlicher Handthierungen thut seinen Vorrechten
keinen Eintrag.**)
*) hidalgos de priiiilegio.
**j Der sonst so genaue und trefliche Bourgoing, tableau de V Espagne moderne,
I, 167. behauptet das Gegentheil. Allein man sehe Bernabe Moreno de Vargos dis-
ciirsos de la nobleza de Espana. Madrid. 1795. 4. p. 105. wo deutlich gezeigt wird
dass alle deshalb vorhandne Gesetze nicht auf den Adel überhaupt, sondern nur auf
die Ritterinstitute gehen. In demselben Artikel Bourgoings giebt es mehrere Unrichtig-
keiten. Er stellt immer den Asturischen Adel dem Biscayischen zur Seite, der ganz
andrer Art ist, da Asturien kein solches allgemeines Priuilegium, als Vizcaya kennt,
er verwechselt die gesetzlichen und gesellschaftlichen Vorrechte des Adels und be-
hauptet dass Philipp 2. die Biscayer geadelt habe, da die Biscayer nie zugeben würden,
dass sie ihr Priuilegium der Gunstbezeugung eines Königes verdankten, und ihr Juero,
QQ Die Vasken.
Diess ist die gesetzliche Verfassung des Adels in Spanien.*)
Nach dieser giebt es also in der That Provinzen, die durchaus
adlich sind. Sie kennt keinen andern Unterschied unter dem
Adel als die 3 auch nur durch Rangvorrechte unterschiedenen
Classen der Granden, Tihdos und der blossen hidalguia, und fordert
nie eine eigentliche Ahnenprobe, als nur bei den eigentlichen
Ritterorden. Bei diesen aber ist sie zum Theil so streng, dass
eigne Abgeordnete des Ordens auf Kosten dessen, der die Auf-
nahme nachsucht, an seinen Geburtsort gesandt werden, um an
Ort und Stelle die Güte seiner Probe zu untersuchen.
Ganz anders muss es natürlich im gesellschaftlichen Leben
seyn. Hier treten von selbst alle die Abstufungen ein, welche das
höhere oder geringere Alter des Geschlechts, der mehr oder min-
der bekannte Name, die besessenen Ehrenstellen, und die Grösse
der Besitzungen machen, und in diesem Verstände ganze Provinzen
adlich nennen zu wollen, würde allerdings lächerlich seyn. Auf
keine Weise aber muss man sich diese Unterschiede so gross
vorstellen, als sie in Frankreich waren und in Deutschland noch
jetzt zum Theil sind. Die Gesellschaft ist durchaus gemischter,
da weder die Regierung bei Besetzung der Stellen ') auf diesen
Classenunterschied sieht, noch sonst der Adel bedeutende Vorzüge
geniesst. Die Geistlichkeit, in der selbst ein Erzbischof oft aus
ganz niedrigem Stande ist, trägt von ihrer Seite -) zu dieser Gleich-
heit bei, und sehr viel thut es schon, dass nicht, wie wenigstens
im nördlichen Deutschland durchaus der Fall ist, ein bestimmter
Namenszusatz die Gesellschaft in zwei ganz verschiedene Classen
zerschneidet, sondern die verschiedenen Nuancen mehr in einander
übergehen, und weniger bestimmt erkannt werden können.
Eine sonderbare Gewohnheit ist es, dass in Spanien eine
Wittwe, die einen erlauchten Titel hat, denselben ihrem zweiten
Manne mittheilt. So erhält z. B. ein Lieutenant, der eine Generals-
jn dem ihr Adelsvorrecht anerkannt ist, schon von Carl 5. 1526. bestätigt v/orden ist.
Philipp 2. that daher nicht mehr, als dasselbe, wie alle folgende Könige, zu bestätigen.
*) Ein Paar jetzt fast nur als Antiquitäten zu betrachtende Classen des Adels,
wie die Caballeros pardos in Leon, die nur gewisser Freiheiten geniessen, ohne eigent-
lich zum Adel zu gehören, und die Caballeros qiiantiosos an der Gränze von Anda-
lusien, die, weil sie ein gewisses Quantum von Ländereien besassen, Waffen und Pferde
zu halten verbunden waren, um gegen die Mauren bereit zu seyn, habe ich mit Fleiss
übergangen.
^) Nach „Stellen" gestrichen: „noch der Hof\
^) „von ihrer Seite" verbessert aus „gleichfalls".
Vitoria.
91
wittwe heirathet, den Titel Excellenz. ^) Heirathet hingegen eine
bloss Adliche einen Bürgerlichen, so verliert sie ihren Adel, er-
hält ihn aber mit dem Tode des Mannes wieder. In alten Zeiten
jedoch musste sie sich, um dieses Vorrechts zu geniessen, einer
lächerlichen und unanständigen Cerimonie unterziehen. Sie musste
einen Saumsattel auf ihre Schultern nehmen, zum Grabe ihres
verstorbenen Alannes gehen, drei Schläge mit dem Sattel auf
dasselbe thun, und ihn dann mit den Worten: „Niedriger, nimm
deine Niedrigkeit von mir wieder; ich ziehe mich mit meinem
Adel von dir zurück"*) darauf liegen lassen.
Ehe ich Marquina verlasse muss ich noch eines sonderbaren
Naturspiels erwähnen. An einem Ort, den man Arrechinaga
nennt, liegen drei sehr grosse Felsstücke — das Ganze mag wohl
40 — 50 Fuss hoch seyn — zwei auf ihre schmale Seite aufgestützt,
und oben ungeheuer breit, in einiger Entfernung von einander,
und ein drittes sehr grosses und schweres oben auf ihnen ruhend,
so dass sie mit jedem Augenblick den Umsturz zu drohen, und
sich nur durch ihr Gleichgewicht zu halten scheinen. Ehemals
konnte man unter dem obersten weggehn; weil man aber die
Sache für ein Wunder ausgab, so hat man einen Altar in die
Mitte und eine Capelle, de S. Miguel, darüber gebaut. Ja man
hat die Kühnheit gehabt, weil vor dem Altar nur zwei Diaconen
stehn konnten, aus dem einen Felsen ein grosses Stück heraus-
zusprengen, um Platz für einen dritten zu schaffen. Auch das
Volk schlägt noch beständig Stücke ab, denen es eine wunder-
thätige und heilende &aft beilegt.
Vitoria.
Der Weg von Marquina bis Vitoria, der von Elgoybar über
Plasencia, wo es ^) Gewehrfabriken giebt, bis Mondragon an der
Deba hinläuft, bietet bei weitem weniger schöne Gegenden, als
die Küste, und nichts merkwürdiges, als die Erziehungsanstalt von
Bergara dar.
Es ist bekannt, dass sie ehemals an Proust (der hernach nach
Segovia versetzt wurde, und jetzt eine Lehrstelle in Madrid be-
kleidet), Chabanon und andern berühmte Lehrer besass; durch
*) Die oben angeführten Discursos cet. p. 27. die nebst Salazar de Mendoza's
Origen de las dignidades seglares die ausführlichsten Werke über diese Materie sind.
^) Neben diesen beiden Sätzen steht am Rande: „falsch".
^) Nach „es" gestrichen: „mehrere".
92
Die Vasken.
den letzten Krieg mit Frankreich war sie gänzlich aufgelöst worden,
und man arbeitete erst jetzt wieder an ihrer Wiederherstellung.
Der Stifter derselben war der Grat von Penaflorida, der Ur-
heber der patriotischen Gesellschaften. Bei Gelegenheit eines Festes,
das dem Schutzheiligen von Bergara zu Ehren gefeiert wurde, ver-
sammelten sich die bedeutendsten Männer der Gegend an diesem Ort ;
aber der Patriotismus dieses Mannes machte eine leere und unbedeu-
tende Feierlichkeit zu einer der wichtigsten Wohlthaten für Spanien.
Denn er gab damals den ersten Gedanken zu jenen hernach so
nützlich gewordnen Gesellschaften und fügte bald nachher den Plan
einer Erziehungsanstalt hinzu. Sein thätiger Eifer erstreckte sich
auch auf seine vaterländische Sprache. Er beschützte sie auf alle Weise,
machte den Entwurf zu einem neuen Wörterbuch, und dichtete
selber in ihr. So verfertigte er z. B. zum Behuf jener Feierlichkeit
eine Vaskische Oper und übersetzte den Maredial ferranf^)
aus dem Französischen. Seine Familie ist acht Vaskisch, ihr
Stammhaus, Munibe, befindet sich in Marquina. Wir bewohnten
es, während unsres Aufenthalts daselbst, auf die gütige Erlaubniss
seines Sohns, des jetzigen Besitzers, der sich in S. Sebastian aufhält.
Die Provinz Alava, in die wir hinter Salenas traten, war die-
jenige, welche ich am wenigsten zum Gegenstand meiner Unter-
suchungen machte. Als Gränzprovinz gegen Castilien zu, und auch
vielleicht weil sie, nur in einigen Theilen gebirgig, meistentheils
ganz aus Ebne^) besteht, hat sie am wenigsten Vaskische Eigen-
thümlichkeit erhalten. In vielen ihrer Districte, namentlich in
Vitoria, spricht man nicht einmal mehr Vaskisch. Ich kann daher
hier nur allgemeine Nachrichten über die Beschaffenheit und Ver-
fassung der ganzen Provinz geben, von einzelnen Orten aber nur
einzelne Worte über Vitoria hinzufügen.
Die Provinz Alava hat von Mitternacht gegen Mittag etwa i6,
von Morgen gegen Abend 14 Spanische leguas an Ausdehnung.
Innerhalb derselben liegt aber die zu Castilien gehörende, 3 leguas
breite und 4 lange Grafschaft Trevino und ein Paar andere kleine
Stücke in derselben Gegend.
Obgleich die Provinz grossentheils eben ist, so durchstreichen
dieselbe doch 3 Gebirgsketten von Morgen gegen Abend, nördlich
das Gebirge de S. Adrian in dem der Fels Gorbea die höchste
') Philidors Oper „Le marechal ferrant" war Paris i']6i erschienen.
^) „Ebne" verbessert ans „Ebnen".
Vitoria.
93
Spitze des Landes ist; ohngefähr in der Mitte des Ländchens, an
der Nordgränze von Trevino eine zweite; und endlich nah an
der Rioja die dritte, das Gebirge von Tolono.
Die Flüsse, welche Alava bewässern, ergiessen sich, einige
wenige nach dem Meer zugehende auf der Gränze mit Vizcaya
ausgenommen, in den Ebro. Der Zadorra, den man auf dem Wege
von Vitoria nach Madrid lange zur Seite behält, ist der grosseste
unter denselben.
Alava ist nur theilweise fruchtbar zu nennen. Man baut darin
vorzüglich Weizen, Rocken, Gerste, Haber, Mais, sehr viele Garten-
gewächse und vorzüglich eine grosse Menge grosser Bohnen. Die
Provinz versorgt zum Theil das benachbarte Guipuzcoa mit Ge-
treide und im Jahr 1789. z. B. verhielten sich nach den Zehnt-
registern ihre Ernten folgendergestalt:
Weizen — — \(^o^i\(^ fanegas von Castilien.
Gerste
- 150^3^^
Haber
- 76,908
Mais
- 34,927
Rocken
- 21,733
Die Castilianische Fanega wird zu 90 Pfunden gerechnet, und
wenn man, wie bei Gelegenheit der neuen Französischen Maasse
geschehen ist, zur Einheit der Inhaltsmaasse den zehnten Theil des
Cubikmeters annimmt, so gehen in einem Decimalbruch ausge-
druckt 55,501 solcher Einheiten auf di\^ fanega.
Die Weinernte betrug 829363 Cantaras (Kannen) von Casti-
lien deren jede aus 16,133 jener Einheiten {litren) besteht.^)
Auch Oel wird in der Provinz gebaut, aber nur wenig, und
bloss in dem ihr von der Rioja zustehenden Antheil fla Rioja Alavesa).
Der Ertrag der Ernten in Alava könnte ungleich beträchtlicher
seyn, wenn nicht dem Anbau des Landes Mangel an Händen und
daher auch an Düngungsmitteln im Wege stände, und wenn es
möglich wäre, den Acker so sorgfältig, als dort, zu bestellen, und
wie dort künstliche Düngungsmittel, Kalk, Farrenkraut u. s. w. zu
gebrauchen. Bei der im Verhältniss des Flächeninhalts sehr geringen
Bevölkerung aber müssen sehr viele Gemeinen ein Drittheil ihrer
Ländereien unbestellt liegen lassen.
Die Volkszählung, welche der Graf von Floridabianca 1786.
anstellen liess, giebt der ganzen Provinz nur 70710 Einwohner,
•') „deren — besteht" verbessert aus „auf deren .... gehen".
94
Die Vasken.
von denen 35072 Männer, 35638 Weiber waren. Unter diesen
waren 39685 unverheirathet, 26854 verheirathet, 41 71 verwittwet. In
den Jahren 1793. 1794- suchte Herr D. Lorenzo Prestamero, ein
verdienstvoller Gelehrter in Vitoria, der ausserordentlich genaue
Nachrichten über seine Provinz gesammelt und für die von der
Academie der Geschichte in Madrid entworfene Beschreibung aller
Spanischen Provinzen den Artikel Alava ausgearbeitet hat, sich
genauere Angaben über die Volkszahl von Alava zu verschaffen»
Das Resultat seiner Bemühungen war, dass er in den 6 Districten,
in welche , unter den Namen der Qiiadrülas^ *) Alava vertheilt ist,
und die wiederum zusammen aus 52 Hermandades bestehen, 440 Ort-
schaften, und 15396 Familienväter {vecmos) fand. Die Zahl der Geist-
lichen beliefsich auf 140 1. worunter 425 Ordensgeistliche, 239 Mönche
und 186 Nonnen waren. Rechnet man hier auf jede Familie 5 Men-
schen, so kommt die Zahl von 76980 Seelen heraus. Vergleicht man
aber ein anderes Mittel, dessen man sich in Spanien ^) zur Bestim-
mung der Volkszahl zu bedienen pflegt, so scheint auch diese Be-
rechnung noch zu gering. Jeder ^) der nur über 7 Jahre alt ist, löst
nemlich jährlich eine sogenannte Bula de Cruzada, von welcher die
Erlaubniss Milchspeisen in der Fastenzeit zu essen abhängt.**) Solcher
Bullen wurden nun in dem gedachten Jahr 67553 ^^^ Alava gelöst^
und wenn man dazu die Kinder unter 7 Jahren nach den gewöhnlich
angenommenen Verhältnissen rechnet, würde sich die Volkszahl reich-
lich auf 80000 Menschen belaufen. Hält man den jetzigen Zustand
der Bevölkerung gegen den voriger Zeiten, ^) so hat dieselbe seit dem
*) Die genauere Angabe
ist folgende:
Die Quadrille von
Hermandades.
Ortschaften.
Vecinos.
I. Vitoria hat
17-
76.
'3114.
2. Salvatierra
6.
71-
2061.
3. Ayala
5-
60.
2705.
4. Laguardia
7-
57.
3790.
5. Mendozd
'12.
84.
1942.
6. Zuya
5-
92.
1784.
52
440. 15396.
**) Den Zweck und die Geschichte dieser Bulle findet man ausführlich in Bour»
going. II, 19 — 21.
') „Spanien" verbessert aus „Katholischen Ländern wohl".
^) Nach „Jeder" gestrichen: „Mensch".
*) „Hält — Zeiten" verbessert aus „ Vergleicht .... mit dem voriger Jahr-
hunderte".
Vitoria.
95
Anfange des lö^en Jahrhunderts nicht beträchtUch ^) zugenommen.
1527. nemlich zählte man 14052 vecinos^ wobei aber das Thal von
Orozco mitgezählt war. 1583. waren 13469; 1627. 14000 vecinos.
In den fünf darauf folgenden Jahren aber wüteten so fürchterliche
Seuchen, dass man bei einer abermals 1632. angestellten Zählung
nicht mehr als 8500 vecinos fand. 1683. war indess diese Zahl
wieder bis zu 10945. gestiegen.*)
Wenn eine menschenleere Provinz unmittelbar an eine über-
mässig bevölkerte anstösst, so scheint es leicht, dem Bedürfniss
der einen durch die andre abzuhelfen. Guipuzcoa hat, wie schon
oben bemerkt worden ist, eine so beträchtliche Volksmenge, dass
jährlich Auswanderungen nach dem übrigen Spanien und nach
America geschehen. Es könnte vielleicht 40000 seiner Bewohner
entbehren, ohne dass die Lücke darum sehr sichtbar se3^n würde.
Alava würde für seinen Ackerbau schon beträchtlich gewinnen,
wenn es nur in einigen Jahren einen Zuwachs von 10—12000
neuen Anbauern erhielte, und reichte Guipuzcoa nicht zu, dieselben
zu verschaffen, so hat auch Vizcaya mehr Bewohner,^) als es
durch seine eignen Kräfte ernähren kann. Der Vortheil würde
sogar auf beide Provinzen zurückfallen, da sie alsdann mehr
Getreide aus Alava bekommen könnten, und sich nicht deshalb
an entferntere Gegenden zu wenden brauchten. Ueberhaupt aber
wird ^) bei der Nähe beider Ländchen, der Gleichheit der Sprache,
Vorrechte und Sitten keine Verpflanzung so leicht mehr durch
die Natur der Umstände begünstigt. Desto befremdender ist es,
dass nun gerade hier die politische Verfassung Schwierigkeiten
entgegensetzt, welche alle Bemühungen patriotisch gesinnter Staats-
männer bisher nicht zu heben im Stand gewesen sind.*) Wer
aus den nördlichen Biscayischen Provinzen nach Alava überziehen
wollte, würde es natürlich nur unter der Bedingung thun, dass er
in seinem neuen Wohnort dieselben Vorrechte beibehielte, welcher
er in seinem Geburtslande genoss. Dazu aber müsste er seinen
Adel beweisen, weil sonst (da es in Alava, neben dem Adel, auch
*) D. Joaquin Josef de Landazuri y Romarate Mist, civil de Alava. Vitoria.
1798. 4. I, 115. 116.
^) „nicht beträchtlich" verbessert aus „nur wenig".
^) „hat — Bewohner" verbessert aus „befindet sich Vizcaya gleichfalls in dem
Fall, mehr Bewohner zu haben".
^) Nach „wird" gestrichen: „wohl auch ausserdem".
*■) „welche — sind" verbessert aus „die der Fremde auf den ersten Anblick
nicht einmal zu ahnden im Stande ist."
96
Die Vasken.
einen, den Rechten nach, davon abgesonderten Bürgerstand giebt)
dieser sich der Ansiedlung des neuen AnkömmUngs widersetzen,
oder ihn zur Leistung bürgerlicher Pflichten verbinden v^ürde.
Ein solcher Beweis wäre nun bei der Nähe der Oerter, und der
Kenntniss, die man im Lande selbst natürlich von allen Familien
hat, überaus leicht zu führen. Allein unseligerweise verlangt die
Spanische Verfassung, dass alle Adelsprocesse vor einer der beiden
grossen Kanzleien*) ausgemacht werden, und so muss jede Sache
dieser Art nach Valladolid gehen, wo sie Jahrelang dauert, und
grosse Kosten verursacht. Auch unter den neueren aufgeklärten
Regierungen ist es noch nicht gelungen, dies Hinderniss aus dem
Wege zu räumen, ob man gleich ganz kürzlich, unter Urquijos
Ministerium, einen Schritt vorwärts gethan hat. Bis dahin musste
nemlich derselbe Adelsbeweis auch dann in Valladolid geführt werden,
wann ein Bewohner von Alavä selbst nur aus einer Hermandad
in die andre ziehen wollte. Dies aber war ein blosser Misbrauch ;
es war in den alten Vorrechten der Provinz gegründet, in diesem
Fall die Adelsprobe vor einer Commission von Eingebohrnen zu
machen, und dies Recht ist der Provinz zurückgegeben worden.
So unglaublich es scheint, dass übel verstandene Politik oder
Anhänglichkeit an hergebrachte Gewohnheiten unübersteiglichere
Scheidewände zwischen benachbarte Provinzen setze, als die Natur
selbst durch die unwegsamsten^) Gebirge zu thun vermöchte;
so sind dies doch bei weitem nicht die einzigen Hindernisse, welche
der besseren Landescultur in Alava entgegenstehn. Ein andres
gleich grosses sind die Mayorate oder Substitutionen (Mayorazgos
o vmculos). In keinem Lande leidet der Ackerbau wohl gleich-
*) Es giebt zwei höchste Gerichtshöfe [audiencias oder chancilterias) in Spanien,
eine in Valladolid und eine in Granada. Navarra und Gallicien haben zwar auch ihre
eignen Audiencias, ihre Gerichtsbarkeit erstreckt sich aber nur über ihre Provinz, und
von der Gallicischen wird in einigen Fällen nach Valladolid appellirt. Die Stiftung
der Kanzlei zu Valladolid wird gewöhnlich in das Jahr 1442. in die Regierung Johanns 2.
gesetzt. Da man aber schon 1388. diesen Gerichtshof in Segovia findet, so scheint
er in jenem Jahr nur nach Valladolid verlegt worden zu seyn. Unter Ferdinand dem
Katholischen wurde er nach Salamanca, darauf nach Medina del Campo und Burgos
versetzt, kam aber 1601. als der Hof seine Residenz in Madrid aufschlug, nach Valla-
dolid zurück. Die Kanzlei zu Granada wurde 1494. von Ferdinand dem Katholischen
in Ciudad Real gestiftet, nach der Eroberung von Granada aber, 1505. dorthin verlegt.
Em. de Franckenau sacra Themidis Hispanae. ed. 2. novis accessionibas locu-
pletata a Francisco Cerdano et Rico. Matriti. 1780. 8. Sect. XIII. p. 336 — 350.
') „unwegsamsten'' verbessert aus „grossesten".
Vitoria, 97
viel durch diesen Ueberrest des Feudalsystems, als in Spanien.
Denn nicht allein, dass Jeder, ohne Unterschied des Standes, er
sey adlich oder bürgerlich, Mayorate gründen kann, so steht es
ihm auch noch frei, irgend einen seiner Söhne ausser dem Pflicht-
theil mit dem Fünftheil seines Vermögens zu begünstigen, und
diesen grösseren Erbtheil in ein Mayorat (mayorazgo por via de
mejora) zu ven^-andeln. Diese gesetzliche Freiheit wird von der
Nation, die, vermuthlich aus Anhänglichkeit an die Fortdauer der
Geschlechter, eine unbegreifliche Neigung zu diesen Instituten
hat, auf das reichlichste benutzt und so nennt Jovellanos mit
Recht die Mayorate „einen unabsehbaren Abgrund, in welchen
das Grundeigenthum von Tage zu Tage tiefer hinabsinkt."*) Die
ältesten Ma^^orate steigen nicht über das 14. Jahrhundert hinauf;
und ihr eigentliches Emporkommen danken sie erst dem Reichstag
zu .Toro im Anfang des 18^. Von dieser Zeit an aber entstand
die Sucht der Nation, sie unter allen Umständen, bei grossem
oder kleinem Vermögen, bei beerbtem oder unbeerbtem Hinsterben,
im Bürger- oder Adelstande zn errichten, die man mit Recht
eine wahre Wuth nennen kann, und die nun auch in der Gesetz-
gebung weder Zügel noch Gränze mehr fand. Dieser Reichstag
war überhaupt, wie alle gestehen, die mehr Politiker als Rechts-
gelehrte sind, der Spanischen Gesetzgebung äusserst verderblich.
Er wurde 1505. in Toro, einer Stadt des Königreichs Leon am
Duero, gehalten, und war eigentlich bestimmt, nach dem Tode
Isabellas, ihre Tochter die Königin Johanna zur Königin und
Ferdinand den Katholischen zum Regenten zu erklären. Diese
Johanna, die unglückliche Mutter Carls 5., wurde nachher wahn-
sinnig und ich sähe noch im Ober-Theil der Alhambra (des ehe-
maligen Maurenpallasts) in Granada die Zimmer und mit Drath-
gittern verschlossnen Gallerien, in denen man sie in ihren letzten
Lebensjahren bewachte. Man benutzte aber diese Versammlung
der Stände ^) zugleich, um eine Sammlung von Gesetzen zu publi-
*) esta^) sima inondable, donde la propriedad territorial va cayendoy sepul-
tandose de dia en dia. Seia Informe en el Expediente de ley agraria, p. 65. nt.
Ebendaselbst findet man wohl den beredtesten Angriff auf diese verderbliche Einrichtung,
in der er nur noch zu sehr dem Adel das Wort redet. Die gesetzlichen Vorschriften über
die Mayorate sind sehr gut und kurz in den Instituciones del derecho civil de Castilla
zusammengestellt, welche D. Ignacio Jordan de Asso y del Rio und D. Miguel de
Manuel y Rodriguez 1792. in Madrid in 4. herausgegeben haben, p. 135 — 148.
^) „diese — Stände" verbessert aus „diesen Reichstag".
2) „esta" verbessert aus ,,uQa''.
W. V. Humboldt, Werke. Xm. 7
98
Die Vasken.
ciren , welche Ferdinand und Isabella schon früher hatten aus-
arbeiten lassen, und die unter dem Namen der Gesetze von Toro
bekannt sind. Seit dem Emporkommen des Römischen Rechts,
hatten die Lehrer desselben die Spanischen ') Gerichtshöfe mit
einer Menge, der Verfassung und den Verhältnissen des Landes
entgegenlaufender Meinungen überschwemmt. Die Gesetze von
Toro sollten der daraus entstehenden Ungewissheit abhelfen.
Allein statt das alte vaterländische Recht zurückzuführen, heiligten
sie vielmehr jene neu eingedrungenen Meynungen, und da sie in
der Rangordnung der Spanischen Gesetze nunmehr den ersten
Platz erhielten,*) mussten die weisen, durchaus auf einheimischem
Boden entstandenen Gesetze Alfons des Weisen**) bis auf die
letzte Stelle zurückweichen. Durch die Gesetze von Toro nun
erhielten auch die Mayorate erst ihre eigentliche Gestalt. Sie
schaden dem Ackerbau von mehr als einer Seite. Sie verschliessen
gänzlich den Weg zu der Erbverpachtung, als der Veräusserung
eines Theils des Eigenthums, die in vielen Provinzen würde mit
Nutzen eingeführt werden können; sie machen, dass selbst das
Recht des Zeitpächters immer mit dem Tode des jedesmaligen
Mayoratsbesitzers aufhört, und bringen daher eine Ungewissheit
in die Dauer der Pachtungen, welche auf Verbesserungen der
Güter zu denken verbietet; ja sie schrecken sogar den wahren
Eigenthümer selbst davon ab, weil es weder ihm, noch seinen
Erben erlaubt ist, für dieselben, wenn das Mayorat in andere
Hände kommt, Ersatz zu fordern, obgleich die Ausdehnung,
die man dieser Bestimmung gegeben hat, mehr ein Werk der
Rechtsgelehrten ist, als sie durch das Gesetz selbst begründet
wird. Allein den grossesten Schaden bewirken sie durch die
*) Sacra Themidis Hispaniae. p. 46.
**) La ley de las siete partidas von den 7 Abschnitten, in welche dies Gesetzbuch
abgetheilt ist. Dies merkwürdige Werk ist wohl das vollständigste und methodischste
Gesetzbuch, dessen sich irgend eine neuere Nation in so frühen Zeiten in ihrer Mutter-
sprache zu rühmen hat. Es enthält zugleich moralisch-philosophische Stücke z. B. eins
über die Pflichten der Könige, und ist in einer so edeln, fliessenden und reinen
Schreibart abgefasst, dass es noch jetzt eine Hauptquelle bei dem Studium der älteren
Spanischen Sprache bleibt. Es wurde schon unter Ferdinand dem Heiligen angefangen,
aber von Alfons lo. 1258. beendigt, und erhielt erst unter Alfons II. eigentliche
Gesetzeskraft. Es enthält allerdings schon viele Spuren des Römischen Rechts, aber
hauptsächlich liegen ihm die alten Gesetze des Königreichs und die Gewohnheitsrechte
der Nation zum Grunde.
^) „Spanischen" verbessert aus „vaterländischen^'.
Vitoria.
99
Schwierigkeiten, welche sie den Veräusserungen von Grundstücken
entgegensetzen, wodurch sie es so gut, als unmöglich machen,
den Umfang und die Grenzen derselben, nach den wechselnden
Verhältnissen der Provinzen, Zeiten und Besitzer, zu verändern.
Die unmittelbare Folge davon ist die, dass Spanien unglaublich
weniger Grundeigenthümer hat, als ein andres Land von gleichem
Umfang und verhältnissmässiger Bevölkerung; dass die grossen
Landbesitzer meistentheils, weil sie weder ihre ungeheuren Herr-
schaften gut verwalten, noch sich durch stückweise Veräusserung
helfen können, mit grossen Schulden belastet sind; die grossen
Geldbesitzer dagegen nur noch im Handel ein Mittel finden, ihr
Vermögen geltend zu machen; dass das Grundeigenthum sich
viel zu sehr in den Händen der Grossen und Vornehmen (um
nicht einmal von Kirchen, Capiteln und Klöstern zu reden) und
viel zu wenig in denen der Mittelclasse befindet, die weit mehr
Fähigkeit und Neigung besitzen würde, es zu benutzen ; und dass
folghch dadurch dem Ackerbau die beträchtlichsten Capitalien und
die betriebsamsten Köpfe, der Nation aber der Wohlstand und
die Genugthuung entzogen werden, welche aus der eigenen Be-
wirthschaftung und Verbesserung ansehnlicher aber übersehbarer
Landbesitzungen entsteht. In keinem andern Lande Hegt soviel
baares Geld müssig und ausser dem nothwendigen Umlauf, als
in Spanien. Nicht bloss Bewohner von Landstädten, vorzüglich
Viehhändler, halten unverhältnissmässig grosse Summen in ihren
Kisten verschlossen, sondern es Hessen sich ähnliche Beispiele
von Männern anführen, welche sich der Handlung widmeten, und
zu den speculativsten Köpfen ihrer Nation in dieser Rücksicht
gehörten. In neuern Zeiten hat man zwar dem unmässigen
Stiften von Mayoraten Einhalt zu thun gesucht. Im Jahr 1789.
hat man denen durch Begünstigung eines Sohns (por via de mejora)
Gränzen gesetzt. Noch neuerlicher — und dies ist wohl die
einzige heilsame Wirkung, welche die oft erwähnte Schrift des
Ex-Ministers Jovellanos hervorgebracht hat — ist die Errichtung
aller Mayorate mit einer Abgabe, wenn ich mich nicht irre, von
15. p. c. belastet worden, und der König hat angefangen, den
Granden zu erlauben, einzelne Stücke*) der schon bestehenden
*) Solche dem Mayoratsrecbt unterworfenen Stücke heissen jincas vinculadas.
Finca, ein Grundstück auf das sich Zinsen versichern lassen, kommt von fincar, im
jetzigen Spanisch hincar, uud hiess ursprünglich soviel als bleiben. Daher wohnen.
7*
jQO Die Vasken.
zur Tilgung ihrer Schulden zu verkaufen. Allein dies sind immer
nur partielle Masregeln, und auch die Erhaltung dieser könig-
lichen Erlaubniss, wegen der man sich an den hohen Rath von
Castilien wenden muss, führt grosse Weitläuftigkeiten mit sich.
In Alava ist nun zwar nicht der Fall, dass die Besitzungen, wie
in Andalusien und andern Provinzen des Reichs, zu gross wären.
Sie sind vielmehr im Gegentheil zu klein und zu sehr zerstreut.
Auf vielen ist es nicht möglich, eigene Vorwerke anzulegen,
oder auch nur ein eignes Haus darauf zu bauen, und sie können
alsdann von entfernten Dörfern aus nur unvollkommen bestellt
werden. Es wäre daher zur Aufnahme des Ackerbaues unum-
gänglich nothwendig, dass man, ohne Recurs an den Rath von
Castilien, völlige Freiheit hätte, diese Ländereien zu vertauschen
oder zu veräussern, damit alle Besitzer sich gehörig arrondiren
und ihre Grundstücke von dem Mittelpunkt derselben aus be-
wirthschaften könnten.
Kämen die Gesetze der Provinz auf diese Weise zu Hülfe
sich von ihren Nachbarn her eine, ihrem Umfang angemessene
Bevölkerung zu verschaffen, und ihr Grundeigenthum bequemer
und gleichmässiger zu vertheilen, so bliebe ihr zu ihrem Wohl-
stande nichts weiter zu wünschen übrig, als dass der König von
Spanien überhaupt Bisca3'^a weniger als ein seiner Krone fremdes
Land ansähe. Denn in der That ist es auffallend, dass Biscayische
Fabricate so gut Abgaben zahlen, wann sie nach Castilien, als
wann sie ins Ausland gehen, und dass man von Castilien nach
Alava, ebensowenig als von Catalonien nach Frankreich, ohne
besondre Erlaubniss, welche man guia zu nennen pflegt, mehr als
2000 reales de vellon (123. Thaler 18. Groschen, den Friedrichsd'or
zu 5 Thaler gerechnet) einbringen kann. Wer daher in Alava
wohnt, und zugleich, wie so häufig der Fall ist, Güter in Castilien
besitzt, muss entweder 5. p. c. seiner Einkünfte, wenn er sie baar
einbringt, verlieren, oder sie heimlich ^) ins Land schaffen, oder
sich durch Wechsel helfen, was aber hier nicht immer gleich
leicht und wohlfeil ist.
So in der mittleren Latinität: finchare. S. Du Fresne h. v. und in dem alten Spanischen
Heldengedicht auf den Cid : ßncanza, Aufenthalt. Qiie sopiesen qiie mio Cid
alli avie fincanza. Sanchez Coleccion de Poesias Castellanas anteriores al siglo
XV. T. I. p. 251. V. 571. Hiervon endlich Grundstück. — Vielleicht kommt das
Wort von finire her.
M „heimlich'^ verbessert aus „Contrebande".
Vitoria, 10 1
Es fehlt nicht in Alava und namentlich in Mtoria an ein-
sichtsvollen und patriotisch gesinnten Männern, welche, nachdem
sie an der Spitze der Geschäfte gestanden haben, die Bedürfnisse
ihrer Provinz genau genug kennen, um mit dem thätigsten Eifer
an Verbesserungen in den gedachten Punkten zu arbeiten, und
sie würden sich noch weniger von der Betriebsamkeit und dem
Fleiss ihrer Mitbürger bei Benutzung dieser \^ortheile, wenn sie
einmal erhalten wären, verlassen sehen. Es kommt daher nur
darauf an, dass ein einsichtsvoller und aufgeklärter Minister zu
diesen Entwürfen die Hand biete, und sie bei Hofe unterstütze.
Für das wahre Interesse ^} der Krone könnte ihre Ausführung
nie anders als wohlthätig wirken. Denn der wohlverstandne Vor-
theil des übrigen Spaniens ^) kann mit dem Vortheil der Bis-
cayischen Provinzen, der \^orrechte und Freiheiten derselben un-
geachtet, niemals im Widerspruch stehen.
Das Staatsrecht von Alava gründet sich auf die Urkunde der
freiwilligen Uebergabe (la voliintaria entrega) durch welche sich
die Provinz 1332. dem König Alphons 11. von Castilien auf ewige
Zeiten unterwarf. Bis zu dieser Zeit war sie frei, und wählte
sich ihre Anführer aus eignem unabhängigen Souverainitätsrecht ;
von derselben an bis auf den heutigen Tag beruht ihr ^"erhältniss
zu Castilien auf einem bestimmten, geschriebenen, von allen
Königen Spaniens bestätigten Vertrag.
Der Name Alava kommt in Schriftstellern zuerst im 8. Jahr-
hundert bei dem Bischof von Salamanca, Sebastian*) vor. Um
diese Zeit, gleich nach dem Einfall der Mauren, ging, ohne dass
sich die Ursachen davon angeben lassen, eine gänzliche Ver-
änderung in den Ländernamen dieser Ecke Spaniens vor. Bis
dahin hatten die Cantabrer (unter denen die kleineren Völker-
schaften der Antrigoner, Carister u. s. f. begriffen wurden) und
Varduler die Küste bis an die Gränzen Aquitaniens besessen.**)
Nunmehr erscheinen auf einmal Vizcaya, Alava, und Ipuzcua fast
durchaus in ihren heutigen Gränzen; Vardulien oder Bardulien
*) Er lebte im 9. Jahrhundert, umfasste aber in seiner Chronik die Geschichte
Alphonsus I. von Leon vom Jahr 738. bis 757. Nach Astarloa [Apol. 229.) bedeutet er
weite Ebne.
**) So Pomponius Mela: tractinn Cantabri et Vardiüi tenent, und Idacius, da er
beim Jahr 456. von den Herulern sagt: qui ad sedes proprias redeuntes Cantabriaruvi
et Varduliarum loca maritima crudelissime depraedati sunt.
^) „Für — Interesse" verbessert aus „Dem wahren Vortheil".
^) „des übrigen Spaniens" verbessert aus „Casti[liens]".
J02 ^i^ Vasken.
tritt an die mittäglichen Ufer des Ebro nach dem heutigen Alt-
Castilien, und ein wenig an. die mitternächthchen, über den Be-
ronen, zurück, und der Name Cantabriens verschwindet an der
Küste und erhält sich nur noch in dem kleinen District der alten
Beroner, im heutigen Rioja, von wo sich die Könige von Navarra
Könige von Cantabrien nannten , und wo sich noch bis jetzt,
Logrono gegenüber, an der andern Seite des Flusses das Can-
tabrische Gebirge [cerro de Cmitahria) erhalten hat.*)
Obgleich Alava durch seine Ebnen am meisten unter allen
Biscayischen Provinzen feindlichen Einfällen ausgesetzt ist, so er-
hielt es sich dennoch frei von der Maurischen Herrschaft. Sich
damals weiter, als jetzt, gegen Mittag ausdehnend, schützte es
seine Grenzen gegen diesen neuen furchtbaren Feind durch drei
kleine Castelle, von denen man noch jetzt auf der Strasse nach
Madrid eines, Pancorbo (eigentlich Poncorvo, Pontecurbum,
krumme Brücke) am Ende eines langen sehr schmalen Defiles
sieht. Jeder, der diesen Weg gemacht hat, erinnert sich gewiss
der schroffen, kahlen, abentheuerlich gestalteten Felsen, deren gro-
teske Figuren man in der Ebne dicht hinter Miranda del Ebro
im Auge hat; an der jetzt so unbedeutenden Schutzwehr dieses
Castells **) scheiterte die Maurische Macht zweimal, 882. und 883.,
das erstemal nach einem dreitägigen Gefecht.***) Nur ein einziger
Streifzug in Alava zwanzig Jahre früher, 861. scheint ihnen besser
gelungen zu seyn.f)
*) Vgl. hierüber des P. Manuel Risco Castilla y el mas famoso Castellano.
Madrid, bei Blas Roman. 1792. 4. p. 2 — 4. — Dies Werk enthält eine ausführliche
Abhandlung über den Namen, die Lage und Geschichte Castiliens, und den Abdruck
einer Chronik des bekannten Cid, welche Risco unter den Handschriften des Klosters
S. Isidro in Leon fand, und welche die Geschichte des tapfern Rodrigo Diaz, auf eine,
wie es scheint, völlig authentische Weise, und frei von allen abentheuerlichen und fabel-
haften Erzählungen giebt, mit welchen die älteren Chroniken, das Heldengedicht auf den
Cid in Sanchez Coleccion depoesias anteriores al siglo 15. und der Romancero del Cid
frecopilado por Juan de Escobar. Cadiz. 1702.) das Leben des Helden so reichlich
ausgeschmückt hatten. Schon in dieser Hinsicht verdiente dies Werk wenigstens auszugs-
weise ') übersetzt zu werden.
**) Im letzten Kriege mit Frankreich erbauten die Spanier in eben diesen Bergen
ein neues Castell gegen die Franzosen.
***) Landazuri. II, 21. Risco's Fortsetzung der Espafia sagrada. XXXIll, 224.
t) D. Juan Francisco de Masdeu hist. critica de Espaüa y de la cidtitra Es-
panola. XII, 147. — Ein überaus weitläuftiges Werk, in dem man aber noch sehr vieles,
besonders gesunde Kritik und vorurtheilfreie philosophische Geschichtsansicht vermisst.
') I^ach „auszugsweise" gestrichen: „in unsre Sprache".
Vitoria. 103
Durchaus falsch ^) ist es daher, wenn einige den Xamen Alava
aus dem Arabischen herleiten wollen. P> ist vielmehr rein Vaskisch,
und Herr Astarloa leitet ihn, da die Einheimischen der Provinz
ihn Araba aussprechen, von ara, aria, Fläche, ab so dass er ein
ausgedehntes grosses Thal anzeigt. Die in den alten Schriftstellern
vorkommende Stadt Alaba oder Alba*) führt demnach gleichfalls
einen rein Vaskischen Namen.^) Es ging nemlich ehemals ein
Theil der Römischen Strasse von Astorga (Asturica) nach Bor-
deaux durch diese Provinz. Daher "lassen sich noch jetzt eine
Menge von Inschriften und Meilensteinen^;) auffinden, und die
Kirche von S. Roman (einem Dorfe in der Hermandad de S. Millan,
nicht weit von Salvatierra) besteht, um nur dies eine Beispiel an-
zuführen, grossentheils aus Inschriftssteinen, von denen jedoch die
meisten nicht mehr zu entziffern sind. Wo diese Strasse an der
Morgenseite in Alava eintritt, ist sie durch eine Inschrift Kaiser
Aulus**) Constantius Chlorus, wo sie dieselbe an der Abendseite
wieder verlässt, durch eine andre Constantins bezeichnet, und auch
in der Mitte ihres Laufs lassen sich viele Spuren derselben auf-
finden. D. Lorenzo Prestamero hat dieselben mit dem mühsamsten
Fleisse auf mehreren deshalb angestellten Reisen so vollständig
als möghch aufgesucht, und danach die Richtung der ganzen
Strasse bestimmt. Von Briviesca über Pancor^'o herkommend tritt
sie bei Puentelarra in die Provinz ein, nähert sich bei Arce dem
Fluss Zadorra, steigt dann fast ganz in der Richtung des heutigen
Weges von Vitoria nach Miranda gegen die erstere Stadt auf,
schlägt sich aber, ehe sie dieselbe erreicht, abendlich gegen Salva-
tierra, und läuft durch das Thal Araquil in Navarra auf Pampe-
lona zu. Alba, das eine Station {maiisio] derselben war, muss,
diesen Untersuchungen zufolge, nahe bei Salvatierra gelegen
haben.***)*)
*) Plinius. III, 4. [Ei. Hard. I, 143, 8.) Ptolem. II, 6. p. 46. hin. Anton. (?)
**) Ueber den Vornamen Aulus s. Gruter. p. 119. (:J
***) Mannert, Geogr. d. Gr. u. Rom. I, 354. hält es, wie es jetzt scheint, fälsch-
^) „Durchaus falsch" verbessert aus „ Ueberaus irrig''.
^) Diese beiden Sätze Messen ursprünglich: „Weniger unwahrscheinlich ist
die Meyniing derer, welche den Ursprung desselben auf die, in den alten Schriß-
stellern vorkommende Stadt Alaba oder Alba zurückführen.^'
*) Nach „Meilensteinen" gestrichen : „vorzüglich /n der".
*) Nach „haben" gestrichen: „Immer bleibt es nun aber zweifelhaß, ob der
Name Alba Vaskischen oder Römischen Ursprungs war; doch ist das erstere
wahrscheinlicher, da man ihn auch Alaba geschrieben findet. Dass Alaba ein
104 ^'e Vasken.
In der Richtung dieser Strasse, nahe bei Comunion am Ebro
fand man auch vor wenigen Jahren beim Nachgraben auf einem
Ackerstück Ueberreste eines Römischen Hauses, mit mehreren
zierlich und geschmackvoll gearbeiteten Fussböden von Mosaik.
Auf zwei derselben waren Figuren, auf dem einen die vier Jahrs-
zeiten in der Gestalt weiblicher Figuren mit ihren Attributen, auf
dem andern Diana, wie sie, ihren Bogen in der Linken, mit der
Rechten einen Pfeil aus ihrem Köcher nimmt, und eine Hindin
ihr folgt. D. Lorenzo Prestamero liess beide abzeichnen und
schickte die Zeichnungen der Academie der Geschichte in
Madrid.
Alava wurde in den ältesten Zeiten, vor seiner Vereinigung
mit Castilien, zwar von Grafen beherrscht. Der erste, dessen die
Geschichte Erwähnung thut, ist Eylon um das Jahr 866. der sich
gegen Alphonsus 3. von Leon auflehnte und von diesem besiegt
und gefangen genommen wurde. Auch war es von 947. an bis
1200. wo sich alle Biscayischen Provinzen zu Castilien schlugen,
nur mit wenigen Unterbrechungen mit dem Königreich Navarra
vereint. Nichts destoweniger aber erhielt es sich, auch während
dieser Zeit, fortdauernd in einem Zustand unabhängiger Freiheit,
lieh 1) für Estella in Navarra. — Für diejenigen, welche sich für die alte Geographie
interessiren, setze ich die mansionen der alten Strasse nach dem Itinerarium, und
die heutigen Orte, in deren Richtung Herr Prestamero ihre Spuren fand, zur Verglei-
chung her. Die alten Mansionen waren: Vindeleia (in der Nähe des heutigen Sta
Maria de Rivarredonda), Deobriga, Veleia, Suissatium, TuUonium, Alba, Araceli, Alan-
tona, Pompelo. Die heutigen Orte sind: Puentelarra, Comunion, Bayas, Arce, Esta-
villo, Burgueta, Puebla de Arganzou, Yruiia, Margarita, Lermanda, Zuazo, Armentia,
Arcaya, Ariarza, Argandofia, Gazeta, Alegria, Gaceo, Salvatierra, S. Roman, Ylarduya
und Eginoa.
acht Vaskisches Wort ist, kann nicht bestritten werden; nur muss man sich nicht
auf die Erklärung der Bedeutung einlassen, sonst verfällt man, wie Larramendi"^)
und andre in Lächerlichkeiten, man mag nun an das eine oder andre der beiden
hieher gehörigen Vaskischen Wörter, an Alaba, die Tochter, oder Araua, die Regel,
die Uebereinstimmung, denken. Genug dass der Name des Ländchens einhei-
misch ist, schon zu den Zeiten der Römer einer Stadt, und seit dem 8. Jahrhimdert,
wo auf einmal alt-einheiynische Namen neu hervorkamen, der Provinz angehörte."
^) „wie — fälschlich" verbessert aus „offenbar mit weniger Grund".
^) Hier ist folgende Anmerkung gestrichen: „Diccion. tril. /. p. LXXIIL
Dass man, wie er an dieser Stelle behauptet, im Vaskischen die Provinz Araua
nenne, muss wenigstens nicht allgemein seyn. In Axular's gueroco guero p. /y.
finde ich Alaba— herrian, im Lande von Alaba, und so hörte ich auch selbst immer sagen."
Vitoria. IO5
und übte die Rechte seiner Souverainität durch eine eigne ^"olks-
versammlung aus. Alljähriich kamen nemhch der Adel, die Ackers-
leute {los fijos-dalgo y labradores de Alava) und die Geistlichen
der Provinz, zu denen auch der Bischof von Calahorra gerechnet
wurde, in dem Felde von Arriaga (Steinplatz) unfern von Mtoria
zusammen, und diese Versammlung hatte, wie man aus mehreren
Urkunden sieht, unter dem Namen der Brüderschaft des Feldes
von Arriaga {la cofradia del campo de Arriaga) alle Majestätsrechte
in ihren Händen, schloss gültige Verträge, veräusserte Flecken
und Ländereien, und übertrug zuletzt, indem sie sich selbst feier-
lich auflöste, 1332. die Oberherrschaft dem Könige von Castilien.
Die Zeit, in welcher diese Brüderschaft ihren Anfang nahm, lässt
sich nicht mit Gewissheit bestimmen; einige Schriftsteller beziehen
sich zwar auf eine Urkunde vom Jahr looo. deren Unächtheit
aber erwiesen ist. Ueber den Ort ihrer Zusammenkunft streitet
man; einige geben dafür ein Feld bei Arriaga an, das man el
campo de la Aqua nennt, weil der Versammlungsplatz in jener
unächten Urkunde Ocoa genannt wird; andre ein anderes, nicht
weit davon. Beide sind jetzt kahl ; ^) vermuthlich aber waren sie
ehemals mit Bäumen bewachsen. Denn es scheint die Gewohn-
heit der ^'askischen Völkerschaften gewesen zu seyn , sich in
Eichengehölzen und unter Bäumen zu versammeln. Eine noch
ungedruckte Vaskische Urkunde, von der ich nachher weitläuftiger
reden werde, die zwar an sich schwerlich acht seyn dürfte, aber
doch in Rücksicht der darin vorkommenden Gebräuche ein gül-
tiges Zeugniss ablegen kann, fängt gleich damit an: in dem Eichen-
wald vor der Kirche*) u. s. f. und in der Versammlung des
eigentlichen Vizcayas unter dem Baum von Guernica hat sich
diese Sitte noch bis auf den heutigen Tag erhalten. Merkwürdig
ist es, dass auch die Frauen von der Brüderschaft von Arriaga
nicht ausgeschlossen waren; doch gehörten vermuthlich nur die-
jenigen dazu, welche unverheirathet , oder als Wittwen eigene
Ländereien besassen. Dagegen machten die Städte keinen Theil
der freien A^erfassung Alavas aus. Durch Privilegien der Könige
gegründet, erhielten sie Gouverneurs von denselben, und so blieben
*) En la robledad que estä cet. Vaskisch : Andramendico jauregin aurecco
arestian Eleaiaun aiirrian cet. Vor dem Andramendischen Herrscherhause, im Eichen-
wald vor der Kirche cet.
') Nach „kahl" gestrichen: „und ohne Bäume. Immer aber".
jo5 Di^ Vasken,
vor und nach 1200. z. B. Vitoria und Trevino immer abgesondert.*)
In den jährlichen Versammlungen ernannte ^) die Cofradia die 4
Alcalden welche das Jahr hindurch die Richter des Landes waren,
und von denen der eine den Namen eines Oberrichters, justicia
mayor, führte. In ausserordentlichen wählten sie vorzüglich ihre
Grafen oder Kriegsoberhäupter, und verfuhren dabei mit voll-
kommener Freiheit. Denn, nach dem Ausdruck der Chronik
Alphonsus II.,**) war Alava „immer eine abgesonderte Herrschaft,
und diese so, wie sie der Adel und die einheimischen Ackersleute
des Landes Alava sich nehmen wollten; manchmal aber nahmen
sie einen der Söhne der Könige, manchmal den Herrn von Viz-
caya, manchmal den von Lara, manchmal den de los Cameros (?)."
Bisweilen führten diese Grafen den Titel der Merinos mayores***)
Konnte die Cofradia eine Angelegenheit nicht schnell ganz be-
endigen, so übertrug sie dieselbe einem Ausschuss und dieser
unterhandelte dann, wie es in mehreren Urkunden heisst, {con
consejo y otor^amiento) auf Rath und Uebertragung der Brüder-
schaft.
*) Landazuri. I, 2o8. 209.
**) Cronica de D. Alfonso el Onceno. 2. ed. por D. Fi-anciso Cerda y Rico.
Parte l. Madrid, bei Sancha. 1787. 4. Kap. loo. S. 177. Sie gehört zu der, in diesem
Verlage herausgekommenen, mit grossem Aufwand gedruckten Sammlung Spanischer
Chroniken.
***) Merino (gleichsam Mayorino) will, nach der Erklärung, welche das Ge-
setz de la Partida davon [Part. 2. tit. 9. /. 23.?) giebt, soviel sagen, als ein Mann,
welcher das Vorrecht hat [ha mayoria) in einer Stadt oder einem Lande Recht zu
sprechen. Von Merino konxmt Merindad her, ein Name, den mehrere Districte in
Spanien führen, wie z. B. la ?nerindad de Durango u. s. w. Die Einsetzung der
Merinos niayores wird Ferdinand 3. dem Heiligen (regierte von 1217^ — 1252.) zu-
geschrieben. — Es ist bekannt, dass auch die Spanischen Wanderschafe, vi er in 0$ ge-
nannt werden. Vielleicht ist ihnen dieser Name als solchen, die gesetzlicher Vorrechte
geniessen, oder unter einem Alcalde mayore stehen, gegeben worden. Wenigstens
ist dies wahrscheinlicher als die Meynung '^) des P. Sarmiento, der merino aus marino
entstanden glaubt, und dabei an die Transporte von Schafen denkt, welche man •'') in
alten Zeiten aus England nach Spanien kommen Hess. Dass man aber übrigens wirk-
lich ehemals die Spanische Race durch Englische Schafe zu verbessern suchte, ist ge-
wiss. Denn der Baccalaureus Fernan Gomez de Cibdareal erzählt ausdrücklich in
seinem Briefe an Fernand Alvarez, Herrn von Valdecorneja, vom Jahr 1437. dass Al-
phonsus II. (der eigentliche Stifter der Königlichen Heerde, Cabana Real) einen
Richter der Mesta eingesetzt habe, als man zum erstenmal Schafe in Frachtschiffen
^) „ernannte" verbessert aus „wählte".
^) ,,MeyTiung" verbessert aus „Ableitung".
*) Nach „man" gestrichen: „schon".
Vitoria.
107
Bekanntermassen eroberte König Alphonsus 8. Vitoria 1200.
von König Sancho von Navarra, und um eben diese Zeit ver-
einigte sich auch die Provinz Alava, zugleich mit Guipuzcoa und
Vizcaya, mit Castilien. Es scheint daher wunderbar, warum 132
Jahre nachher eine zweite Uebergabe erfolgte ? Auch haben einige
Schriftsteller behauptet, Alava sey schon vom Jahr 1200.^) an als
eine unterwürfige, und zwar eroberte Provinz von Castilien be-
handelt worden. Das Gegentheil ist aber aus der Geschichte
durchaus klar. Die Uebergabe des Jahrs 1332. war vollkommen
frei und ungezwungen. Dies bekennt Alphonsus 11. selbst in
seiner, der Brüderschaft von Arriaga ertheilten,-) in dem Landes-
archiv noch in der Urschrift vorhandenen Urkunde. „Die Edel-
leute, Geistlichen und übrigen, wer sie auch seyn mögen, Yer-
brüderten von Alava, heisst es darin, haben uns das Land Alava
übergeben [otorgaron)^ dass wir die Herrschaft darin haben sollen,
und es königlich sey, und haben es der Krone unsrer Königreiche
für uns und unsre Nachkommen in Castilien und in Leon ein-
verleibt" ; ^) eine Sprache die man unmöglich von einer, schon
mehr als 100 Jahre früher durch Eroberung zugefallenen Provinz
verstehen kann.*) Dasjenige Recht, was die Könige von Castilien
also schon vorher und seit der Eroberung Mtorias über Alava
ausübten, war ihnen freiwillig von der Provinz eingeräumt worden,
und der Unterschied dieser Einräumung und der letzten Ueber-
gabe war der, dass jene nur immer auf eine Zeitlang, diese für
immer, jene nur auftragsweise, diese mit völliger Begebung des
eigenen Rechts geschah. Denn vor 1332. bestand die Cofradie
noch immer neben den Königen, und wie geschieden ihre Macht
war, zeigen die unter ihnen geschlossenen Verträge. Der König
besass, wie schon oben gesagt ist, die Städte Vitoria, Trevirio und
seit 1256. auch das von Alphonsus 10. dem Weisen gegründete
Salvatierra mit völliger Obergewalt und Hess sie durch seine Be-
fehlshaber regieren. Rund herum war das Gebiet der Provinz.
von England nach Spanien gebracht. Der Versuch scheint also in dieser Zeit öfter
wiederholt worden zu seyn. Cetiton epistolario del Bachiller Fernan Gomez de Cib-
dareal y generaciones y semblanzas del noble caballero Fernan Perez de Guzman.
Madrid. 1790. bei Ibarra. 8. ep. 73. p. 174.
') „schon — 1200'' verbessert aus „von dieser Zeit".
*) „ertheilten" verbessert aus „ausgejertigten".
*) Nach „einverleibt" gestrichen: „er lässt sich übrigens bestimmte Bedin-
gungen bei der Ueberlieferung gefallen".
*) „voti — kann" verbessert aus „gegen eine .... führt''.
Io8 Die Vasken.
Um das Gebiet der Städte zu vergrössern, suchten die Könige
Besitzungen in der Nähe durch Tausch oder Kauf zu erhalten.
Die Brüderschaft der Provinz sah dies ungern und setzte sich
dagegen. Endlich aber trat sie dem König eine Anzahl von Dorf-
schaften vermittelst einer am i8. August 1258. ausgefertigten Ur-
kunde feierlich ab, in welcher es ausdrücklich heisst: Wir Ver-
brüderte geben Euch, unserm Herrn und Könige u. s. f. und auch
nachher, jedoch immer vor 1332. kommen ein Paar ähnlicher
Urkunden vor. Hieraus zeigt sich nun ganz deutlich, dass die
wahre Oberherrschaft und das OberEigenthum des Landes auch
nach 1200. immer bei der Brüderschaft der Provinz blieb, und
die Könige nur eine auftragsweise erhaltene und beschränkte
Herrschaft ausübten. Mit dem Jahre 1332. hörte nun aber dies
doppelte Verhältniss gänzlich auf; die Cofradie ging auseinander,
die Provinz wurde auf immer der Krone von Castilien einverleibt,
und der König wurde der einzige Herr derselben, nur unter den
von ihm selbst genehmigten Bedingungen.*)
Alphonsus II. befand sich gerade in Burgos, als er die Ein-
ladung der Brüderschaft von Arriaga erhielt, die Herrschaft des
Landes anzunehmen. Er begab sich deshalb nach Vitoria und
von da in die Versammlung auf dem Felde bei Arriaga, und hier
wurde die Uebereinkunft zwischen beiden Theilen feierlich ge-
schlossen. Die vorzüglichsten Rechte, welche die Provinz sich
durch diesen Vertrag sicherte, betreffen die persönliche Freiheit.
Der König soll das Land, weder im Ganzen, noch einen Theil
desselben, niemals, an wen es auch sey, veräussern können, son-
*) Die oben angeführte neue Ausgabe der Chronik Alphonsus 1 1. enthält an der oben-
angeführten Stelle den Ausdruck : seit Alava erobert und den Navarrern abgenommen
war. Acaesciö que antiguamiente desque fiie conquista la tierra de 'Alava et tornada
ä los Navarros, siempre ovo senorio apartado. Allein in den früheren Ausgaben
von 1551. in Valladolid und 1595. in Toledo heisst es desqiie fiie conquista la tierra
de los Navarros, la tierra de Alava era cet. so dass Navarra, nicht Alava als er-
obert angegeben wird. Wäre der Text in der neuen Ausgabe auch richtig, so muss
man wohl die Eroberung nicht streng verstehn, da sich der Verfasser der Chronik
sonst in dem, was er gerade an der nemlichen Stelle von der Freiheit Alavas behauptet,
selbst widersprechen würde. Allein auch die Aechtheit der Lesart ist grossem Zweifel unter-
worfen. Die neue Ausgabe ist nach einer Handschrift des Escurials abgedruckt, welcher
der Herausgeber bloss darum den Vorzug gab, weil sie sehr schön auf Pergament ge-
schrieben ist, und er sie deswegen für dasjenige Exemplar hielt, was der Sohn Alphonsus II.
König Heinrich 2. den Worten der Chronik nach ') „in seinen sehr geehrten, sehr
königlichen, sehr reichen, sehr herrlichen und sehr edlen Schatz" bringen Hess.
^) „den — nach" verbessert aus „wie es in dem Eingange der Chronik heisst".
Vitoria.
109
dem es soll auf ewig der Krone Castilien einverleibt bleiben. Er
soll den Einwohnern keinerlei Abgaben oder Steuern auferlegen,^)
sondern dieselben bleiben davon frei, wie sie bis dahin gewesen
waren, und ihm werden nur gewisse Rechte von denjenigen An-
bauern [colonos] vorbehalten, die nicht freie -) Eigenthümer sind,
sondern Kirchen oder Edelleuten gehören und die man Collazos
nennt. Er darf nur Eingebohrne des Landes zu Alcalden oder
zu Oberrichtern {Merino) ernennen, und der Oberrichter darf keinen
Alaver hinrichten, oder verhaften lassen, ohne vorhergegangne
Anklage und darauf erfolgtes Urtheil eines Alcalden. Ausser diesen
Hauptpunkten enthält die Uebergabeacte noch mehrere andre, die
aber vorzüglich nur das A'erhältniss jener Collazos zu den Edel-
leuten und zum König, das Hütungsrecht, das Verbot, neue Eisen-
hämmer anzulegen, wodurch die Waldungen verwüstet werden
könnten, und besondre Freiheiten einiger einzelnen Oerter der
Provinz betreffen.*) Diese Rechte und Freiheiten der Provinz
beschworen und bestätigten hernach alle nachfolgende Könige
Spaniens, und als die Königin Isabella 1483. nach Vitoria kam,
Hessen die Magistratspersonen der Provinz und der Stadt, die ihr
vor dem Thore von Arriaga entgegengingen, die Thore solange ver-
schliessen, bis sie diese Bestätigung vollbracht und mit einem Eide
bekräftigt hatte. Erst dann hielt sie ihren Einzug durch das wieder
geöfnete Thor.
Gleich nach der ^"ereinigung Alavas mit Castilien, ist in der
Geschichte der Verfassung der Provinz eine Lücke, die erst mit
der Einrichtung der Hermandaden aufhört. Man weiss nur, dass
die Rechtspflege in den Händen des oberen und der ihm unter-
geordneten Merinos und der Alcalden war; aber welche Art der
Verwaltung sie unter sich eingeführt hatten, und welche allgemeine
Versammlungen an die Stelle derer von Arriaga traten? darüber
giebt die Geschichte keine Auskunft. König Johann 2. (regierte
von 1407 — 1454.) richtete zuerst die Hermandaden in Alava ein,
oder gab ihnen wenigstens, da einzelne schon vorher im Lande
vorhanden waren, eine allgemeine und regelmässige Verfassung.
Diese Brüderschaften, wie man sie von Wort zu Wort**) über-
*) Den ganzen Inhalt der Urkunde vergleiche man in Landazuri. II, Ii6.
'<*) von hermano (germanus) Bruder.
^) I^ach „auferlegen" gestrichen: „können".
^) „freie" verbessert aus „unabhängige".
HO
Die Vasken.
setzen muss, danken^) ihren Ursprung dem König Ferdinand 3.
dem Heiligen, sie waren eigentlich bestimmt, die öffentliche Landes-
polizei zu erhalten, und die grosse Menge der Unordnungen,
welche, vorzüglich im 1 5. Jahrhundert, bei Gelegenheit einer Menge
von ßefehdungen einzelner Partheien in Biscaya vorfielen, gaben
die unmittelbare Veranlassung zu ihrer Einführung in Alava. Ihre
Gesetze enthalten eine Menge von Bestimmungen, wie sie Verbrecher
verfolgen, sich gegenseitig zur Hülfe aufrufen, und im Fall einer
Vernachlässigung ihrer Pflicht den Beeinträchtigten zur Schadens-
ersetzung verpflichtet seyn sollen, und ihre Gerichtsbarkeit ist auf
eine gewisse Anzahl von Verbrechen, zur Bestimmung der gegen-
seitigen Rechte ihrer und der gewöhnlichen Ortsalcalden beschränkt.
Diese Verbrechen sind vorzüglich solche, welche einen Charakter
der Störung der öffentlichen Ruhe an sich tragen, wie Mord, Strassen-
raub, Brand, gewaltthätiger Einbruch, Verwüstung von Saatfeldern
u. s. f. *) Die Verordnungen, welche Johann -i. für die Herman-
dad von Alava erliess, wurden nachher noch zweimal verändert,
und die noch jetzt im Lande geltenden rühren von Heinrich 4.
vom Jahr 1463. her. In der Einrichtung der Hermandaden nun
liegt der Keim der jetzigen Verfassung Alavas. Die ganze Provinz
ist in 52 derselben abgetheilt; diese beschicken die allgemeine
Landesversammlung, und diese besitzt den ganzen Umfang obrig-
keitlicher Gewalt. Diese Versammlungen nahmen zugleich mit
den Hermandaden ihren Anfang; in Heinrichs 4. Verordnung
werden zwei derselben jährlich festgesetzt, und seit 1512. sind ihre
Beschlüsse {Acuerdos) in ununterbrochner Folge vorhanden. Die
eine wird jetzt vom 4 — 8 Mai, die andre vom 18 — 25. November
gehalten, die letztere in Vitoria, die erstre in demjenigen Ort,
den man jedesmal vorher in der Novemberzusammenkunft be-
stimmt hat. Nicht alle Hermandaden aber schicken ihre Depu-
tirten dazu. Die 1 7, welche die Quadrifle von Vitoria ausmachen,
unterlassen es schon seit geraumer Zeit und die Stadt, die gleich-
sam ihre Stefle vertritt, hat dennoch darum nicht mehr als eine
Stimme.**) Da diese Zusammenkünfte nur wenige Tage dauern,
so muss die obrigkeitliche Gewalt in den Zwischenzeiten durch
einzelne Magistratspersohen ausgeübt werden. Dazu nun waren
*) Landazuri. I, 239 — 267.
**) Ebendas. I, 291 — 300.
^) liach „danken" gestrichen: „eigentlich''.
Vitoria. I 1 1
von Errichtung der Hermandaden an bis gegen das Ende des
15 Jahrhunderts zwei Commissarien bestimmt gewesen, von denen
der eine aus \'itoria oder einer der übrigen Städte {la ciudad y
las villas\ der andre aus der übrigen Provinz {las Herras esparsas
de la hermandad) gewählt ward.*) ^ ) Ohngefähr aber vom Jahre 1476.
an ging die Gewalt, die in ihren Händen ruhte, auf die noch letzt
bestehende Würde des GeneralDeputirten über, obgleich jene sich,
nur mit eingeschränkterem Ansehen, neben ihm forterhalten haben.
Der letztere war ursprünglich nur der vollziehende Richter der
vor die Hermandad gehörigen Rechtsfälle {iiiez executor de los
casos de Hermandad)^ seine Würde war anfangs lebenslänglich,
allein seit 1533. ist sie ^j auf 3 Jahre beschränkt. Ervereinigt die
ganze vollziehende Regierungsgewalt in sich, hat den Vorsitz in
den Versammlungen der Provinz und schlägt denselben die Gegen-
stände zur Berathschlagung vor ; doch kann er nicht hindern, dass
andre Mitglieder dies gleichfalls thun, und hat selbst keine Stimme.
Ueberhaupt vertritt er nur die Provinz in den Zwischenzeiten
ihrer Versammlungen, und während derselben hört daher seine
Gewalt in allen politischen und oekonomischen Angelegenheiten
des Landes gänzlich auf. Wann der GeneralDeputirte es nöthig
hält, ruft er eine besondre A'ersammlung, gleichsam einen engeren
Ausschuss, der aus zwei Commissarien und vier zu diesem Behuf
in der jedesmaligen Landesversammlung im November im Voraus
gewählten Deputirten besteht, zusammen; und wenn diese die
Angelegenheit, wovon die Rede ist, sich nicht allein zu entscheiden
getrauen , so berufen sie wieder eine allgemeine Versammlung.
Diese unmittelbar zu veranstalten, ist dem Deputirten nur bei
Kriegsangelegenheiten erlaubt. In allen ausserordentlichen Zu-
sammenkünften dieser Art dürfen keine anderen Punkte zur Be-
rathschlagung vorgelegt werden, als die in dem Berufungsschreiben
erwähnt sind.**) Der General-Deputirte wird durch sechs besonders
dazu beauftragte Personen gewählt, von denen drei aus der Pro-
vinz in der Novemberv^ersammlung gewählt werden; die andern
drei aber der GeneralProcurator und die beiden Regidoren von
Vitoria sind. Es darf ferner dazu nie ein andrer als ein Einwohner
*) Landazuri. I, 295.
**) Ebendas, I, 268—278.
') „ward^- verbessert aus „werden musste".
*) Nach „sie" gestrichen „nur".
j j2 Di^ Vasken.
von Vitoria genommen werden.^) Dies gedoppelte Vorrecht der
Stadt schreibt sich aus einem, zwischen ihr und der Provinz 1 534.
geschlossenen Vertrag her, welcher langen, hierüber zwischen
beiden geführten Streitigkeiten ein Ende machte. Die Stadt
gründet ihr Vorrecht vorzüglich darauf, dass, da 1498. die Würde
eines vollziehenden Richters der Hermandad abgeschafft wurde,
sie sich bei dem Könige das Recht auswirkte, einen General-
Deputirten aus ihrem Mittel zu haben, und denselben deshalb
gleichsam als ihr zugehörend ansieht. Von der Provinz aber wird
dies Vorrecht bestritten. Mehrere Hermandaden erklärten sich
gleich gegen den gedachten Vergleich, und noch jetzt wird immer
förmlich dagegen protestirt.*)
Der Adel übertrift den Bürgerstand in Alava bei weitem an
Anzahl. Einige Hermandaden sind durchaus adlich. Seine Vor-
rechte sind wenig bedeutend, lir zahlt gleichfalls Abgaben,^) von
denen selbst die Geistlichen nicht ausgenommen sind. Bisweilen
ist ein Adlicher sogar Pächter eines Bürgerlichen. Auch stehen
diese letzteren den ersteren in politischer Hinsicht ^) nicht nach.
Sie wählen ebensogut die Deputirten zu den Generalversamm-
lungen mit, und können selbst zu denselben gewählt werden.
Nur wechselt in einigen Hermandaden die Wahl zwischen dem
einen und dem andern Stande ab, und in andern muss von zwei
Deputirten der eine bürgerlich, der andre adlich seyn.
*)In alten Zeiten wurde die Herrschaft über Alava für sehr
einträglich gehalten. „Wem die Alaver," sagt der Verfasser der
Chronik^) Alphonsus 11., „die Herrschaft ihres Landes übertragen,
dem geben sie sehr reichliche Abgaben;**) ausser den gesetzlichen
Steuern, noch den semoyo und Märzochsen." Semoyo wird nem-
lich eine gewisse Quantität Weizen genannt, welche die im Lande
befindlichen Grundherren von ihren Vasallen für jedes Joch Ochsen
bekommen. Nach jetztigen Verhältnissen aber*^) zieht der König
nicht sehr ") beträchtliche Einkünfte aus der Provinz. Die soge-
*) Landazuri. I, 283—287. II, 137 — 177.
**) Kap. 100. dabanle servicio muy granado.
') Dieser Satz hiess urspi-ünglich: „Er muss Jerner allemal selbst .... seyn,'^
^) „gleichfalls Abgaben'' verbessert aus „so gut Abgaben, als der Bürgerstand".
^) Nach „Hinsicht" gestrichen : „ganz und gar".
*) Vor „In" gestrichen: „Schon".
^) „der Verjasser der Chronik" verbessert aus „ schon der Chronikenschreiber".
*) „Nach — aber" verbessert aus „Auch jetzt".
') „nicht sehr" verbessert aus „Jioch".
^ Vitoria. I ^«»
nannten freiwilligen Geschenke machen nur ein verhaltnissmässig
geringes Quantum^) aus. In einer Durchschnittssumme von 48 Jahren
betrugen sie 43750 reales de vellon (2734 Thaler Friedrichsd'or) *)
auf das Jahr. Alle Summen, welche die Provinz als Rechte der ^)
Krone zahlt, werden sich in folgender Zusammenstellung am besten
übersehen lassen.
I., Freiwillige Geschenke in einer Durch-
schnittssumme 43w 50 feal. de vell.
2., Alcavala. (Bourgoing. II, 16.) 116,738
Sie ist meistentheils durch ganz Alava
auf eine bestimmte Summe gesetzt. In
Vitoria wird sie bloss vom ^^erkauf un-
beweglicher Güter bezahlt, und zwar
giebt der Einheimische 5, der Ausländer
^ p. c.
3., Herrschaftsrechte ^) und Dienstgeld
{Derechos de Sehorio y Servicios) 20,124
4., Ein grosser Theil der beiden zuletzt
genannten Abgaben ist an Ortschaften
oder Hermandaden veräussert. Der Be-
trag dieser veräusserten Steuern beläuft
sich auf 741,495. real. 11 mfs. Rechnet
man dies Capital zu 5 /. c. so giebt es
ein Einkommen von 37^074
5., Ein andrer Theil der Alcavalen ist vom
König an Grosse des Reichs verkauft
oder abgetreten. Für diese zahlt die
Provinz 25,987
*) Die einzelnen Summen in den verschiedenen Jahren waren :
1744. 240000. r. d. V.
l'Jit']. 240000.
1761. 660000. die vorzüglich zur Wiederherstellung des Regiments
von Cantabrien dienten, das in sehr schlechtem Zu-
stande aus America kam.
1765. 480000. wegen der Verheirathung des damaligen Prinzen von
Asturien.
1780. 480 oco.
2,1 OD 000 realdevell.
*j „ein — Quantum" verbessert aus „den geringsten Theil".
^) „Rechte der" verbessert aus „Abgaben an die".
') „Herrschafisrechte" verbessert aus „Herrenrechte".
W. V. Humboldt, Werke. Xm.
j j^ Die Vasken.
6., Für auf gleiche Weise veräusserte De-
rechos de Sehorio MViA.Sermcios I9?9i2 reales.
7., Kammerstrafen, können im Durch-
schnitt angeschlagen werden zu 4,000
8., Abgaben von der Geistlichkeit, und
zwar:
a., Suhsiduo 22,415 r.
Diese Abgabe gestand
Pius 5. Philipp 2. zum
Behuf des Kriegs gegen
die Ungläubigen zu.
b.,- Escusado, oder das Recht,
den besten Zehnten der
Pfarrei für sich herauszu-
nehmen. (Bourgoing. II,
22.) für 400 Häuser in
Alava. Rechnet man jedes
zu 50 pesos (den peso zu
15. r.) so beträgt diese
Abgabe 300,000 r.
322,415
9., Ausserordentliche Ausgaben, als z. B.
Kosten bei Regierungsveränderungen,
Königlichen Leichenbegängnissen, Ge-
burten Königlicher Prinzen, ferner beim
Durchmarsch von Truppen, Beloh-
nungen derer, die Schleichhändler ge-
fangen einbringen u. s. f. Alle diese
verschiedenen Unkosten können, mehr
oder weniger, im Jahr gerechnet wer-
den auf 25,000 .
Summe 615000 real.
(38437 V2 Thaler Friedrichs d'or.)
Ausser diesen direkten Abgaben zieht der König nun noch
andre indirekte aus dem Lande, die man aber kaum einmal mit
dem Namen der Abgaben belegen kann, da es von der Provinz
selbst abhängt, ob sie die Artikel, deren Consumtion mit diesen
Rechten belastet ist, aus Castilien oder anderswoher nehmen will.
Die Bullen allein, deren Ertrag gleichfalls in den Königlichen
Vitoria.
115
Schatz kommt,*) ^) müssen hiervon ausgenommen werden, und ge-
hören, obgleich in Rücksicht der Menge von dem Lande abhängig,
zu denjenigen x\usgaben, welche nothwendig der Krone zufliessen
müssen.
Im Jahr 1787. wurden aus der Provinz Alava 84400 Bullen
zu Dispensationen aller Art gelöst, und diese brachten zu ver-
schiedenen Preisen dem königlichen Schatz ein Einkommen von
209,676. reales. (13104% Thaler Friedrichsd'or.) Merk-
würdig ist es, dass unter dieser Anzahl 157 11. waren, mit welchen
die Frömmigkeit der Alaver Verstorbene, noch nach ihrem Tode
versorgte.
Die hauptsächlichsten Consumtionsartikel , für welche Geld
aus Alava nach Castilien geht, sind folgende:
I., Salz. Die Biscayischen Provinzen kön-
nen ihr Salz, woher sie wollen, nehmen.
Alava aber hat, mit Ausschluss einiger
wenigen Hermandaden, mit dem König
einen Vertrag gemacht, seinen Bedarf
aus den Salzwerken von Anana zu
kaufen, und vermöge dieses Vertrags
ist der Preis von 1 1 . reales für die
fanega (S. S. 93.) festgesetzt. Die Pro-
vinz verbraucht ohngefähr ^000/anegas,
welches demnach beträgt 88,000 reales.
Weil aber Anana weiter entfernt ist.
so kaufen die Alaver auch noch aus
Salinillas um den höheren Preis von
17. reales etwa jährlich für
Die Salzwerke von Anana und Salinil-
las bringen jährlich etwa '^1^00 fanegas
Salz, welche dem König, die Bereitungs-
und Verwaltungskosten abgerechnet,
1,061,734. reales eintragen.
Chocolade. Nach einer genauen Be-
rechnung verbraucht Alava jährlich die
ungeheure, nur aus dem allgemein ver-
breiteten und häufigen Gebrauch dieses
1,360
*) Bourgoing. II, 19 — 21.
*) „kommV verbessert aus „ßiesst".
8*
llß Die Vasken.
Getränks begreifliche Summe von 200000
Pfund Cacao. Nun bekommt der König
von jedem Pfund i real, weniger einen
J^/ßZ'^fl'?, folglich beträgt diese Abgabe 194,117. reales.
3., Zucker. Der Bedarf, der aus den Staa-
ten des Königs genommen v^ird, beträgt
1 00000 Pfund ungefähr, davon machen
16. reales für jeden Centner, w^elche die
Krone empfängt 16,000. ,
4., Oel. Die Provinz verbraucht aus An-
dalusien und Castilien 25000. Cantaras
(S. S. 93.), jede zu 35 reales beträgt
875000 reales, wovon der König, nach
dem letzten Tarif, 4 p. c. empfängt,
welches, mit einer andern kleinen Ab-
gabe für das Einmessen {de fiel medidor)
von 4 mvs auf die Cantara,vci3S^'i 37,941.
5., Weine, Seife u. s. f. lassen sich nach
der gleichen Berechnung ungefähr an-
schlagen zu 35?ooo-
6., Die Summe, welche die Königlichen
Posten durch die Provinz Alava ge-
winnen, kann gerechnet werden auf 162,000.
534,418. reales.
(3340 1 . Thaler Friedrichsd'or.)
Nach diesen, im Lande selbst gesammelten Angaben empfängt
die Krone in allem, unbedeutende Artikel nicht mitgerechnet:
I., an directen Abgaben . 615,000.' reales.
2., an Abgaben für gelöste Bullen 209,676.
3., an indjrecten Abgaben 534,418.
zusammen . I53595O94. reales.
(84,943. Thaler Friedrichsd'or.)
Vitoria, die Hauptstadt der Provinz Alava, trägt durchaus das
Ansehn einer durch Handel und Industriefleiss blühenden Pro-
vinzstadt an sich. Ueberall erblickt man Leben und Wohlstand,
und bemerkt viele grosse neu aufgeführte Gebäude, unter welchen
sich der erst 1791. fertig gewordene Marktplatz auszeichnet. Er
ist viereckt, ganz aus Stein aufgeführt, und besteht aus 34 Häusern,
Vitoria.
117
unter welchen das Rathhaus der Stadt {la casa consistorial) das
grosseste ist. Der Baumeister hat sich übrigens in nichts von
der gewöhnlichen Bauart der Spanischen Marktplätze entfernt.
Auch hier läuft unten ein ofner Bogengang herum, und jedes
Fenster hat seinen eisernen Balcon, eine Einrichtung die insofern
bequem ist, als in den Städten, welche kein eignes Amphitheater
für die Stiergefechte haben, diese auf dem Markte gehalten werden.
An den äussern Seiten umgeben denselben vier breite Strassen,
so dass jedes Haus dadurch einen zweiten, nicht durch das Markt-
getümmel gehinderten Eingang erhält.
Ihr Emporkommen verdankt die Stadt dem Könige Sancho
dem Weisen von Navarra. Als dieser, nach vielen Gränzstreitig-
keiten mit dem Könige von Castilien Alphonsus dem Edlen, dem
8.,^) sich endlich mit demselben dahin vereinigte, dass der Fluss
Zadorra die östliche Gränze seiner Besitzungen wurde, umgab er,
um dieser Gränze mehr Festigkeit zu verschaffen, den unbedeuten-
den Ort Gasteiz mit Mauern, vergrösserte ihn durch neu dahin-
geführte Einwohner, befestigte ihn, nach damaliger Sitte, mit
Thürmen, und legte ihm den Namen Victoria bei. Dies geschah
im Jahr 1181. Seitdem gerieth Armentia, das bis dahin der Sitz
der Bischöfe gewesen war, jetzt aber nur noch aus wenigen
Häusern besteht, in Verfall, und Vitoria erhob sich, durch die,
ihm von Sancho und den nachfolgenden Königen verliehenen
Vorrechte, zur Hauptstadt der Provinz Alava. Noch jetzt sieht
man an der Mitternachtsseite der Collegiatkirche einen Thurm
und ein beträchtliches Mauerstück des Castells, das Sancho hier
anlegte.
Den Behauptungen der Biscayer zufolge, ist der Name der
Stadt Vaskischen Ursprungs ; sie leiten ihn von dem Wort bitorea,
vonrefHch, hervorstechend, ab. Allein in der Zeit, in der Sancho
die Stadt gründete, ist es wahrscheinlicher, dass er derselben einen
lateinischen gab; vermuthlich suchte er sogar dieselbe durch die
Verwandlung ihres unbedeutenden Namens in der Landessprache
in einen gelehrteren-^) lateinischen noch mehr zu adeln.*) Viel-
*) In Sanchos Gründungsurkunde bei Moret in dessen investigaciones historicas
de las antigüedades de Navarra, p. 669. heisst die Stadt ausdrücklich Victoria. Vobis
Omnibus populatoribus meis de noua Victoria — — und weiterhin : in praefata
villa, cid nomen nouum imposui, scilicet Victoria, qiiae antea vocabatur Gasteiz.
^) „&" verbessert aus „j. {nach andern dem 8.)".
^) „gelehrteren" verbessert aus „vornehmeren''.
j jg Die Vasken.
leicht glaubte man auch, dass an derselben Stelle ehemals eine
ältere gleichnamige Stadt gestanden habe.*)
Der Reisende wird die Zeit, welche er sich ohnehin wegen
der Durchsuchung seines Gepäcks in Vitoria aufhalten muss, gern
dazu anwenden, einige Gemälde in Kirchen und Privatsammlungen,
deren es hier mehrere giebt, zu besehen. Unter denselben zog
meine Aufmerksamkeit am meisten eine Titianische Magdalena
im Hause des Marques de Alameda auf sich. Die Figur ist in
Lebensgrösse, stehend und ganz bekleidet. Ihr Kopf ist gegen
die rechte Seite gewandt, und die Haare fallen ihr über die Schulter
auf den Busen herab. Die Schönheit dieses Gemäldes besteht
vorzüglich in der hohen Würde, welche der Mahler der Gestalt
und der Physiognomie, mitten in dem Ausdruck der Reue, zu er-
halten gewusst hat. Frei von der kleinlichen Absicht, dem ver-
führerischen Bilde weiblicher Schönheit durch das Bekenntniss der
Schuld nur einen noch höheren Reiz zu leihen — wodurch man
eine der edelsten Darstellungen der neueren Kunst so oft zu
einer der gemeinsten herabgewürdigt sieht — hat Titian vielmehr
seinen Gegenstand durchaus erhaben behandelt. Die Magdalena,
die er uns darstellt, entkleidet sich nicht eines Schmucks, der an
ihren Vergehungen keinen Theil hat ; sie hebt nicht, mit schwachen
und furchtsamen Thränen, flehende Augen zum Himmel empor;
ihre Hand fasst an ihr Herz, ihr Blick ist in sich gekehrt, zwar
scheu und gespannt, aber trocken und starr auf Einen Fleck gerichtet.
Sie bebt nicht vor einem fremden strafenden Richter, sie erkennt
mit Entsetzen den unerbittlichen, misbilligenden in sich selbst.
Sie giebt die Würde der Menschheit nicht in reuiger Zerknirschung
auf, sie fühlt vielmehr ihr Zurückkehren, und ist dadurch betroffen,
aber gestärkt.
Reich an guten Stücken aus mehreren Schulen ist die Ge-
mäldesammlung des Marques de Montehermoso, eines der kennt-
nissvollsten und patriotisch gesinntesten Männer, die ich unter den
Grossen in Spanien antraf.
Durango.
Ich sehnte mich, Vitoria, das ich schon von meiner ersten Reise
her genauer kannte, zu verlassen, und mich wieder in die einsamen
*) Oihenart p. 22. setzt hieher das vom Gothischen König Leovigild (regierte von
[568 — 586]) gebaute Victoriacum, das Sancho nur wiederhergestellt habe.
Durango. I ig
Thäler Vizcayas zu versenken. Wir setzten nach einem zwei-
tägigen Aufentiialt unsre Reise gegen Durango zu weiter fort.
Bis Ochandiano, dem Gränzorte Vizcayas, ist die Gegend
flach und unbedeutend. Von dort an aber fängt sie an waldreicher
und gebirgigter zu werden, und bei S. Antonio de Urquiola (einem
Meierhof bei dem eine Ermita ist) erscheint ^) sie in höchstem
Grade romantisch. Eine finstere Felswand zieht sich von Morgen
gegen Abend queer vor den Weg hin. Aber in drei prächtige
Massen (Ambota, Uncilla, und Sta Lucia) geschieden, stürzen sich
zwischen ihnen enge -) Thäler nach der Meeresseite zu hinab.
Durch die lange nackte Felswand zur Rechten, die durch unzählige
Furchen in wilde Zacken zerrissen ist, jagten weisse^) Nebelstreifen;
in der Mitte erhob sich, klar und frei, eine einzeln stehende
Pyramide an deren Fuss sich zwei fruchtbare Ebenen lieblich
hinabschlängelten, und auf dem rund gewölbten Haupte des Felsens
zur Linken ruhte noch ein dickes Gewölk. Wie mannigfaltig aber
gestalteten sich erst die Ansichten beim Heruntersteigen, wo der
Weg, anmuthig mit Bäumen bepflanzt, zwischen den Felsen hinab-
führt.*) Von allen Seiten sieht man üppige Vegetation mit nakten
und schroffen Klippen in lieblichem Contrast. Bald hängt ein
finstrer Wald von der steilen Höhe herab ; bald ist in eine flachere Fels-
ecke ein Gärtchen angebaut, dem der Fels selbst zur stützenden Mauer
dient, und zur Linken blicken über dem Gebüsch die Reste einer
alten Burg herüber. Am Fusse dieser Berge liegt Manaria, das lieb-
lichste Dörfchen, das ich in Vizcaya sah. Um die Kirche, als den
Mittelpunkt und den Zweck ihrer Vereinigung, herum dichter zu
sammen stehend, verlieren sich, weiter abwärts weitläuftiger zer-
streut, die Häuser, von Kastanien- und Wallnussbäumen umschattet,
unter grossen,^) von Epheu umrankten Eichen; und ein grüner
Anger führt zur Seite zu dem Port dieses Gebirges und ladet die Ein-
bildungskraft zu neuen Aussichten in ein andres gleich roman-
tisches Thal ein. Durch die herumliegenden Berge, wie durch eine
schützende Mauer, gegen Kälte und Wind gesichert, gedeihen hier
Feigen- und Maulbeerbäume, die einige tausend Schritte davon,
^) „erscheint" verbessen aus „wird".
*) „enge" verbessert aus „fruchtbare".
*) „weisse" verbessert aus „finstere".
*) „hinabführt" verbessert aus „hinabsteigt'
*) „grossen'^ verbessert aus „schattigeti".
I20
Die Vasken.
auf der Höhe, in Ochandiano, *) das seinem rauheren Clima seinen
Namen dankt, und im ganzen übrigen Alava nicht mehr fortkommen.
Der Weg von Mafiaria nach Durango hat nicht mehr so über-
raschende, aber viele gleich anmuthige und liebliche Stellen. Allein
so mannigfaltig eine Gebirgsgegend in der Natur ist, so einförmig
wird ihre immer wiederkehrende Schilderung, und vielleicht hat
mich der Reiz, mir Bilder zurückzurufen, die sich meiner Phan-
tasie ^) fest und lebhaft eingeprägt hatten, schon zu weit geführt.
Eine Reise durch ein kleines , abgeschieden lebendes Ackervolk
kann in der Beschreibung kein grosses Interesse gewähren, und
schon zu lange habe ich den Leser in diesen einsamen Thälern,
bei Gegenständen ^) verweilt, die, ohne Reichthum und Abwechs-
lung,^) nur durch die reine Individualität ihrer Züge anzuziehen
vermögen. Ich eile jetzt, ihn mit beschleunigten Schritten durch
den übrigen Theil meiner Wanderung zu führen ; es ist mir genug
das Bild dieses kleinen aber merkwürdigen Volkes nur mit festen Um-
rissen ihm in die Seele zu heften; ausmahlen kann es nur der,
welcher, diese Blätter in der Hand, das Land selbst durchreist.*)
Nur um jenen Zweck zu erreichen, sey es mir erlaubt, noch an
einigen Punkten stehen zu bleiben, wo sich gerade ganz vorzüg-
lich charakteristische Züge darbieten.
Ein solcher Punkt sind die zerstreuten Wohnungen der Land-
leute in dem Thal von Durango, wo die Alt-Biscayische Sitten-
einfachheit sich noch reiner erhalten hat.^) Wie ich in der Folge ^)
deutlicher werde zeigen können, besteht der Kern der Vaskischen
Nation eigentlich in den Ackersleuten, die zerstreut und einzeln,
oft tief im Gebirge, wohnen. Die Städte sind ein fremder und
späterer Zusatz; auch wer sie bewohnt, geniesst seiner liebsten
Vorrechte nur dadurch, dass sein Haus zu diesem öder jenem
Dorfe gehört. Den Ausdruck des Stolzes, den diese Ueberzeugung
einflösst, und des trotzigen Muths, den eine rauhe und arbeitvolle
Lebensart hervorbringt, im Gesicht kommen die Landleute an
*) von Otza (Vizcayisch Ocha), Kälte, und andia, gross.
') „Phantasie" verbessert aus „Einbildungskraft".
'■*) „Gegenständen" verbessert aus „Bildern". '
*) Nach „Abwechslung" gestrichen: „der Gegenstände".
*) „durchreist" verbessert aus „durchwan[dertj".
^) „sich — hat" verbessert aus „noch weniger durch fremden Zusatz ver-
unstaltet ist".
®) Nach „Folge" gestrichen: „noch".
Durango. 121
Sonn- und Festtagen zur Stadt, und wenn man sie dann, mit
über einander geschlagenen Armen, auf ihren langen Stab gelehnt
vor der Kirche stehen sieht, erkennt man auf den ersten Blick,
dass sie die wahren Herren und Häupter ^) des Landes sind. Mehr
als irgendwo, hat man sich in Vizcaya noch bis auf den heutigen
Tag gegen das Uebergewicht der Städte zu bewahren gewusst;
aber was noch bei weitem merkwürdiger ist, ausser ihren Mauern
befindet sich das Recht der eigentlichen Obergewalt nicht in den
Händen einer einzelnen abgesonderten Classe, sondern ruht auf
der Nation selbst und grösstentheils auf dem ackerbauenden Theile
derselben. Keine Art der Feudalverfassung hat sich in diesen
glücklichen Winkel Europas eingeschlichen. Mit diesen Begriffen
muss man in die Caserios eintreten, wenn man ihre ganze
schöne Eigenthümlichkeit, das Leben und den Charakter ihrer
Bewohner vollkommen begreifen will.
Denn, wie vermuthlich in den frühesten Zeiten seiner Be-
völkerung, ist Biscaya in seinem Innern noch jetzt einzeln und
zerstreut bewohnt, die verschiedenen Ackerhöfe {Caserios) liegen
einsam oft in beträchtlichen Entfernungen von einander, ihre Be-
wohner bilden nur dadurch eine Gemeine, dass sie zu derselben
Kirche gehören, und nur um diese herum sieht man eine Anzahl
von Häusern dorfartig zusammengebaut. Auch werden die Bis-
cayischen Dörfer nur Ante-iglesias , Plätze vor den Kirchen ge-
nannt, ein im übrigen Spanien nicht üblicher Name. In diesen
abgesonderten Wohnungen nährt der Vaske den Geist der Frei-
heit und Unabhängigkeit, der ihn auszeichnet, in ihnen von nichts
Fremdartigem umgeben, hängt er mit leidenschaftlicher Liebe an
den Eigenthümlichkeiten seiner Lebensart, seiner Nation und
seiner Sprache; das kleine Feld, dem er mit Mühe die Nahrung
seiner Familie abgewinnt, bildet die Stärke, das Gebirg, das er
bewohnt, die Behendigkeit seiner Glieder aus, und so gewinnt
sein Wuchs und seine Physionomie das Gepräge der Kraft und
des Muths an dem man ihn auf den ersten Anblick erkennt.
Nirgends fiel mir das so sehr als in Durango auf, da ich, am
Morgen nach meiner Ankunft, den Markt besuchte, und dort die
hereingekommenen Landleute versammelt antraf.
Schon ihre Tracht ist ganz eigenthümlich, und contrastiert
sehr vortheilhaft mit der mehr Castilianischen der Städter.^) Schon
1) „wahren — Häupter" verbessert aus „Gebieter und wahren Berather".
*) „der mehr — Städter" verbessert aus „dem schmutzigen Mantel und Haar-
J22 ^^^ Vasken.
Campomanes *) erklärt sich, und mit Recht, sehr kräftig gegen
die beiden am meisten charakteristischen Stücke der Spanischen
Kleidung, den Mantel und das Haarnetz. Der erstere hindert bei
der Arbeit, und befördert die Trägheit; auch ist es bemerkens-
werth, dass die Bewohner der fleissigeren Provinzen, der rüstige
Catalonier und der fast maurisch gekleidete Valenzianer ihn weit
weniger brauchen. Das Haarnetz {la Cofia) bringt Unreinlichkeit
und Ausschläge hervor, aus welchen oft Augenkrankheiten ent-
stehen. Der ächte Vizcayer hat seine ganz eigene Kleidung. Statt
der Schuhe trägt er Stierlederne Sohlen, die nur einen kleinen
umgebogenen Rand haben und ^) mit Bindfaden zugebunden sind,
die aharcas deren schon in den ältesten Zeiten^) Erwähnung
geschieht.**) Sie sind zum Klettern im Gebirge bequemer, als
Schuhe, und Sancho, König von Navarra, bediente sich ihrer im
10. Jahrhundert für sich und sein Heer um bei tiefem Schnee
über die Pyrenaeen zu gehen, wodurch er den Beinamen Abarca
erhielt.***) Strümpfe sind unter dem Vizcayischen Landvolk nur
erst seit kurzem und meistentheils bei den Weibern üblich. Die
Männer wickeln wollene, gewöhnlich mit schmalen schwarzen
Streifen versehene Tücher um die Beine, die mit den Bindfaden
der Abarca festgebunden werden. Die Farbe der Hosen ist
meistentheils schwarz, und die Weste roth. Um die Weste wird
eine Binde (Spanisch faxa)^) getragen. Die Stelle des Mantels
oder Rocks vertritt die Longarina, eine weite ^) Jacke mit langen
Schössen und Aermeln. Wer sie noch nach altem Brauch trägt,
hat die Aermel nur an der Jacke mit Bändern oder Knöpfen be-
festigt, um sie, wenn es nöthig ist, losmachen und hoch hinten
*) Seinem allgemeinen Systeme, die Mauren zu Urhebern fast aller üblen Gewohn-
heiten in Spanien zu machen, getreu, leitet er auch von ihnen den beständigen Ge-
brauch des Mantels her. Er gesteht aber selbst, dass die Spanier denselben noch viel
unbequemer und den körperlichen Bewegungen hinderlicher gemacht haben. Discur-
sos sobre la educacion populär de los artesanos. p. 122.
**) Vgl. Du Gange Glossar, v. abarca.
***) Die Abarcas des Südlichen Spaniens sind die Alpargates in Valencia und
Catalonien, aus Stricken von Spartum zusammengesetzte Sohlen.
f ) von fascia.
netz Castiliens, wie sie bei den meisten Städtern auch in Vizcaya üblich sind.
Der ächte Vizcayer kennt den Mantel . . . ."
^) Nach „und" gestrichen: „oben über den Fuss".
^) „in — Zeiten" verbessert aus „bei Schrift[stellern] in dem 10. Jahrhundert".
*) „weite" verbessert aus „lange".
Durango. I23
überwerfen zu können, und so freier bei der Arbeit zu seyn.
Die Longarina ist gewöhnlich dunkelbraun oder schwarz. Den
Kopf deckt eine schwarze, spitzige, helmartige Mütze, vorn mit
einem dreieckigen Aufschlag von schwarzem Sammet. In der
Hand halten sie einen langen Stock, manchmal auch unter der
Jacke einen kurzen, besonders nach unten zu dicken Knittel,
Cachiporra genannt — eine Art Dolch für sie, da, wie ich weiter
oben sagte, jener lange Stock bei ihnen die Stelle des Degens
vertritt. In diesem Anzug sieht man sie nach der Kirche auf den
Märkten der Städte, wo wahre kleine Volksversammlungen sind,
da die Gebirgsbewohner, um. in der Woche keine Zeit zu ver-
lieren, ihren kleinen Einkauf am Sonntag besorgen, von allen
Altern stehen, bald einzeln und ruhig mit unter die Schultern
gesetztem Stock und übergeschlagenen Beinen, bald in Haufen in
lebhaftem Gespräch, meistentheils in mahlerischen Stellungen und
Gebehrden, da die natürlichen Bewegungen eines A'^olks von freiem
Sinn und ausgearbeitetem Körper immer schon durch sich selbst
der Kunst günstig^) sind.
Der Anblick dieser kräftigen und frohgesinnten Menschen
lud mich ein, sie in ihren Wohnungen aufzusuchen, und fast
jeden Nachmittag machte ich einen Spaziergang nach einem der
nah gelegenen Ackerhöfe. Durango liegt in einer fruchtbaren
Ebne, und nach welcher Seite man sich hinwenden mag, öfnen
sich lieblich geschlängelte Fusssteige durch frische dichtverwachsne
Eichengehölze, von denen viele mit lebendigen Hecken umzäunt
sind. Reichlich durchrieselt von kleinen Bächen bieten sie das
schönste Gras und den würzigsten Blumengeruch dar; überall
drängt sich die Vegetation in froher Ueppigkeit, und Brücken,
Baumstämme und Zäune sind von dem dichtesten Epheu über-
rankt. Man glaubt sich in den kleinen Gehölzen zu verlieren; so
dick scheinen sie beim ersten Anblick. Auf einmal sieht man
Licht ; man tritt heraus und ein lachendes Saatfeld liegt da, wieder
rings von kleinen Waldungen umschlossen, durch die man wieder
ländliche Wohnungen durchschimmern sieht. Erreicht man dann
einen solchen freieren Platz gerade beim Sinken des Tages, so
geniesst man des herrlichsten Schauspiels; auf den Gipfeln der
hohen südwärts gelegenen Gebirge ruhen dichte Wolkenmassen,
gegen Norden schneidet sich die mildere Gebirgsreihe in freund-
^) „günstig" verbessert aus „vortheilhaft".
12,A ^^^ Vasken.
lieber Klarheit vom heitern Himmel, und aus den niederen Oef-
nungen in Nordwesten gegen das Meer zu flutet purpurschimmern-
des Abendroth her.
Ich besuchte eines Nachmittags einen Meierhof auf den Bergen,
die nach Manaria zu liegen. Die Häuser sind, mit wenigen Ver-
schiedenheiten, alle auf dieselbe Weise gebaut, gewöhnlich von
zwei Stockwerken, halb aus Holz, halb aus Steinen, mit flach
ablaufenden Dächern, ohne Schornsteine. Beim Eintritt ist eine
freie Vorlaube,^) in der Mitte auf eine hölzerne oder steinerne
Säule gestützt, und zu beiden Seiten stehen zwei stämmige Wein-
stöcke, die ihre dichtbelaubten Ranken in der Mitte des Hauses
"brüderlich in einander verschlingen. Manchmal ist auch einer
mächtig genug, allein das ganze Haus zu umschatten. In der
Vorlaube '^) lagen die Wagen und Ackergeräthschaften, und unter
einer bejahrten Eiche waren Blätter zu künftigem Dünger auf-
gehäuft. Als Versammlungsort der Famflie, in den wenigen, von
FeldArbeit freien Stunden, dient die Küche. Die kleinen Kammern
daran werden nur zum Schlafen, und zu einigen häuslichen Ge-
schäften, z. B. zum Leinweben gebraucht. Oben sind Böden, und
unmittelbar an der Küche der Stall.
Das Haus wurde von einer Wlttwe mit ihren Kindern be-
wohnt. Der schon erwachsene Sohn kam mit dem Gespann von
der Arbeit zurück. Lange hörten wir das knarrende Pfeifen des ^)
Wagens, ehe die Ochsen sich mühsam auf dem geschlängelten
Pfade den Berg hinaufwanden. Wie er ankam versammelten sich
seine jüngeren Brüder um ihn, und halfen ihm ausspannen, die
oben rund mit einem Korbe umgebene Karre in die Vorlaube*)
schieben, und die Ochsen in den Stall lassen. Kaum waren sie
darin, so streckten sie treuherzig ihre Köpfe in die ■ Küche und
forderten den Lohn des sauern Tagwerks. Denn der treue Ge-
fährte der Arbeit ist hier nicht vom traulichen Familienkreise
ausgeschlossen. Die Krippe ist in der Küche an der Wand,
welche sie vom Stall absondert, angebracht, und in der Wand
sind zwei Oefnungen durch welche die Thiere den Hals stecken.
So wird Unreinlichkeit vermieden und der Landmann hat doch
immer die beiden wichtigsten Stücke seiner Wirthschaft unter
^) „eine freie Vorlaube" verbessert aus „ein freier Vorßiir".
") „In der Vorlaube" verbessert aus „Im Vorßur".
^) Nach „des'' gestrichen: „kleinen".
*) „die Vorlaube" verbessert aus „den Vorflur".
Durango. 12^
unmittelbarer Aufsicht. Auch kann er niemand verhehlen, wie er
sie hält, der Nachbar und der Fremde, die ihn besuchen, haben
sie beständig vor Augen und bekommen dadurch einen untrüg-
lichen Begriff seiner Wirthschaftlichkeit oder Nachlässigkeit. Daher
wird, so oft von der Arbeitsamkeit, der Rechtlichkeit, oder der
Wohlhabenheit eines Landmanns die Rede ist, nie seiner Rinder
und ihrer Stärke und Schönheit vergessen.^)
Pferde sieht man selten in Biscaya da Gebirgsgegenden ihrem
Gebrauch nicht bequem sind. Auch scheint das Pferd mehr für
die beiden Endpunkte der menschlichen Gesellschaft, das Nomaden-
und das hoch civilisirte Leben, als für den Uebergang aus dem
einen in das andre, den Ackerbau geschaffen. Diesem eignet sich
besser die ausdauernde Stärke, der schwerw^andelnde, aber kräftige
Gang, und der arbeitselige, geduldige Sinn des Stieres. Immer
unverdrossen ganze Tage hindurch dasselbe Ackerstück umgehend,
um mit saurer Arbeit Furche an Furche mühsam in den festen
Boden zu schneiden, und am Abend zufrieden mit massiger und
geringer Nahrung schickt er sich besser zu den gewiss aber lang-
sam heranreifenden Hofnungen des Landmanns, in ein Leben,
dessen Kreis mit jedem Herbste geschlossen ist, um mit jedem
Frühling neu zu beginnen.
Beim Herabsteigen vom Berg begegneten uns die Töchter
des Hauses, mit schweren Säcken auf dem Kopf, in denen sie
Mehl aus der Mühle trugen. Es war schon spät; der Abendstern
funkelte hell, und von den entgegengesetzten Bergen schienen^)
Feuer von Gesträuch herüber, das man verbrannte, um den Boden
zur künftigen Bearbeitung aufzulockern.
In einem andern dieser Meierhöfe war schon mehr Wohl-
stand anzutreffen. In der Küche lag ein grosses Ciderfass, die
Kammern waren reinlicher, die Betten künstlich geschnitzt, und
unter jedem eine feine Strohdecke zur Bequemlichkeit des Ein
und Aussteigens. Ein gesprächiger Alter zeigte uns alles Einzelne
^) Diese beiden Sätze Messen ursprünglich: „Diese Sitte hat aber auch
noch einen andern, gleich flicht unbedeutenden Nutzen. Da der Arbeitsstier so
unzertrennlich von der Familie ist, so giebt der erste Eintritt ins Haus einen
deutlichen Begriff" von der Wirthschaft seiner Bewohner. Wer des Stieres nicht
pß^gt, den er in Jedem Augenblick vor Augen hat, dessen Feld ist gewiss nach-
lässig bestellt, dessen innres Hauswesen unordentlich, und es ist daher ein eigner
Stolz des Vizcayischen Landmanns dem Nachbar und dem Fremden, der ihn
besucht, sein Gespann in seiner ganzen Stärke und Schönheit zu zeigen."
*) „schienen" verbessert aus „leuchteten".
J26 Die Vasken,
darin, vorzüglich hielt er sich mit Wohlgefallen bei den Kleidungs-
stücken auf, welche der fleissige Hauswirth fast alle selbst macht.
Vor allem wurden hier die Abarcas, als das eigenthümlichste Stück
nicht vergessen. Es lag in der Ecke ein eben halb dazu zuberei-
tetes Rindsleder. Die Haut wird bloss aufgespannt, getrocknet,
mit etwas Salz und Asche eingerieben, und dann in länglichte
Streifen geschnitten. Auf diese zeichnet man nach einer hölzernen
Form die einzelnen Abarcas ab, und sobald diese ausgeschnitten
sind, ist die Arbeit auch so gut als fertig. Denn nun werden
nur auf den Seiten die Haare ein wenig abgekratzt (die eigentlich
rauhe Seite bleibt, als Sohle, dem Boden zugekehrt) und Löcher
eingeschlagen, durch die man die Bindfäden zieht, womit man die
Abarca beim Anziehen um die wollenen statt der Strümpfe dienen-
den Tücher ^) befestigt.
Bei den grösseren Höfen findet man noch zwei andre Gebäude,
das Korn- und das Viehhaus.
Das erstere, Garaija*) hat, nach der eigentlichen Landessitte
gebaut, eine wunderbare Gestalt. Auf vier grossen Steinen stehen
vier steinerne abgestumpfte Pyramiden. Auf jeder liegt ein runder
behauener Stein, wie ein Mühlstein, und auf diesen ruht ein vier-
ecktes hölzernes Häuschen, unsern freistehenden Taubenschlägen
ähnlich. Um dasselbe herum ist eine Art Gang in welchem
Bienenkörbe stehn. Vorn geht eine steinerne Treppe daran
hinauf, der aber oben eine Stufe fehlt, so dass man da einen
doppelt grossen Schritt machen muss. Seitdem aber die Mäuse
und Ratten, auf welche diese ganze Bauart berechnet ist, nicht
mehr die gefährlichsten Feinde der Kornböden sind, ist diese
Gattung derselben sehr abgekommen, und wir hatten auf einem
langen Spaziergange Mühe, nur einen einzigen anzutrieffen.
Das Viehhaus, Abelechea^*) ist ein offener Schuppen unter dem
sich das Vieh versammelt und gefütten wird.
Es gewährt ein eignes, belohnendes Vergnügen die Details
dieser kleinen Wirthschaft zu durchgehen. Die Unabhängigkeit,
der Wohlstand und die Frohmüthigkeit der Bewohner dieser
Stätten zeigt, dass nicht Noth oder Unterdrückung sie zu dieser
Lebensweise zwingt, sondern eigne Wahl und Gewohnheit dazu
einladet. Die Phantasie gefällt sich in dieser Beschränkung, weil
*) Von Garaitli, steigen, Hochort.
**) von Aberea, Vieh, und echea, Haus.
^) „Tücher'' verbessert aus „Decken'^
Durango. I27
sie in dieselbe, in einer Art willkührlicher Täuschung, alle Fe-
derungen, alles Streben hinüberträgt, dem sich der Geist in seinen
freiesten und kühnsten Aufschwüngen überlässt, und dadurch den
Schranken selbst eine Bedeutung giebt, die für den, welcher na-
türlich in ihnen lebt, nicht vorhanden ist. Es ist eine reine und
edle Form mehr, an der sich der Mensch versucht, und man
würde sich irren, wenn man den Reiz, den die Beobachtung ein-
facher Lebensweisen, selbst roher und uncultivirter Völker mit
sich führt, nur dem Ueberdruss an übermässiger Civilisation, und
also einer bloss sentimentalen, durch Contrast starken Empfindung
zuschreiben wollte. Wo der Mensch, ausgebildet oder roh, rein
an Sitten, oder wie er von den ersten Momenten seiner Existenz
an ist, mehr oder weniger verdorben, nur in seiner Geistigkeit
und der sittlichen Freiheit vom augenblicklichen Eindruck, wo er
so, als Naturwesen erscheint, da gewährt er den erhabensten und
den beruhigendsten Anblick. Wenn man ein wildes Volk sich
eine Sprache bilden sieht, die den ganzen Umfang menschlicher
Gefühle ausdrückt, und das Gepräge planmässiger Ordnung^) an
sich trägt, ohne irgend eine der Stufen zu entdecken, auf welchen
es dazu gekommen ist, oder vielmehr indem man deutlich fühlt,
dass keine solche Stufe da war, dass das Wunderwerk aus dem
Nichts und auf Einmal entstand; wenn man die Elemente der
höchsten und feinsten Empfindungen da antrift, wo der Charakter
sich, ohne alle Bearbeitung, seinen ursprünglichen Regungen über-
lässt; dann erst gewinnt man Vertrauen zu der Menschheit und
der Natur, und glaubt die Grundkräfte beider in irgend einer
noch unbekannten Tiefe verwandt. In der letzten geistigen Ver-
feinerung zu der nur in Zeiten hoher Cultur der Einzelne ge-
langt, scheint der Mensch ein einsamer Fremdling in der Natur
der sich mit überkühnem Streben von ihren gewöhnlichen Bahnen
entfernt.-)
Noch wichtiger und interessanter aber erscheinen diese zer-
streuten ländlichen Wohnungen, wenn man ihren Einfluss auf
das Land und den Volkscharakter bedenkt. Es ist unläugbar,
dass Biscaya Vorzüge vor den übrigen Spanischen Provinzen hat,
dass die Biscayer allen andern Spaniern in Betriebsamkeit, Fleiss
und Geschicklichkeit auf das mindeste gleich sind, und dass an
^) „Ordnung" verbessert aus „Regelmässigkeh".
^) Nach „entfernt" gestrichen : „und fürchtet und fühlt nur zu oft ihre ahn-
dende Rache".
128
Die Vasken.
Volksaufklärung, an wahrem Patriotismus und achtem National-
stolz keine Provinz sich den Biscayischen gleich stellen darf. In
wie manchen anderen Umständen dies auch zugleich mit liegt,
so trägt doch die jetzt beschriebene Vertheilung des Landes, und
die Lebensart des ackerbauenden Theils der Nation gewiss das
Meiste dazu bei. Der Mensch muss nicht bloss ein Eigenthum
haben; er muss es auch abgesondert und, wo möghch, einsam
und der Natur nahe, bewohnen, wenn sich ein gewisses Gefühl
von Selbstständigkeit und Kraft in ihm entwickeln soll. Dass das
Landvolk, wie es in so vielen Provinzen Spaniens der Fall ist,
nicht in Dörfern, sondern in Städten und Flecken zusammenwohnt,
ist gewiss auch für den Charakter nachtheilig. Nur wo der Be-
sitzer seine Besitzung immer vor Augen hat, wird er ganz eins
mit ihr; auch ist in Städten imrner mehr Unreinlichkeit, Dürftig-
keit und Müssiggang, und diese beiden letzteren vorzüglich sind
weniger beschämend, da sich der einzelne unter der Menge ver-
Hert. Wer Frankreich, Spanien und Italien durchreist hat, wird
mit Verwunderung bemerkt haben, dass, in den meisten Gegenden
dieser Länder, das Landvolk gar nicht eine so durch Wohnung,
Kleidung und Sitten abgeschiedene Classe als in Deutschland aus-
macht, und wer den Ursachen und den Folgen dieser Erscheinung
nachdenkt, der wird finden, dass der Nachtheil davon nicht bloss
unmittelbar in dem Volkscharakter, sondern selbst in der ge-
bildetsten Gesellschaft der Nation, in der Sprache und der Litteratur
fühlbar ist.
Da ich gerade einen Sonntag in Durango war, versäumte ich
nicht den Tanzplatz zu besuchen, auf dem man sich in kleineren,
mitten im Lande liegenden Orten zahlreicher und mit mehr An-
theil versammelt, als in grösseren Städten, in denen die Liebe zu
den vaterländischen Sitten schon erkaltet ist. Der Tanz trägt in
Biscaya noch ganz den Charakter einer Volkslustbarkeit an sich.
Man tanzt öffentlich auf dem Markt, ohne Unterschied des Standes,
an allen Sonn- und Festtagen, auf Kosten der ganzen Gemeine
und unter öffentlicher Aufsicht, und verschiedene Orte unter-
scheiden sich ebensowohl durch verschiedene Tänze die nur
diesem oder jenem ausschliessend angehören, als durch Ver-
fassung und Dialect. Gleich nach dem NachmittagsGottesdienst
ging der Tamborilero auf dem Markte spielend herum. Er hat
eine kleine länglichte Trommel an einem Bande vorn über den
Schultern hängen, und im Munde eine kleine Flöte mit nicht
Durango. 12g
mehr als drei Oefnungen. Die Trommel hat keine Schellen und
ist also durchaus verschieden vom sogenannten Tambour des Bas-
ques, das überhaupt mit Unrecht seinen Namen führt, da es auf
keinerlei Weise mit der Nationalmusik und dem Nationaltanz der
Vasken zusammenhängt. Der Tamborilero spielt nun Flöte und
Trommel zugleich. Die Flöte, die gerade aus dem Munde
herunter hängt, regiert ^) er mit der linken Hand ; mit der Rechten
schlägt er die Trommel mit Einem Schlegel. Er w^rd von der
Gemeine unterhalten und besoldet, da der sonntägliche Tanz,
ebensowohl als irgend etwas andres, ein Stück der NationalVer-
fassung ausmacht. Lange aber blieb das Tamboril einsam auf
dem Platz und diente nur den Kindern zur Belustigung. Die
Erwachsnen waren noch beim Ballspielen versammelt. Denn
diess Spiel hat für die Biscayer einen alles überwiegenden Reiz,
und lange mussten die auf dem Tanzplatz schon ungeduldig ver-
sammelten Mädchen warten, ehe die Tänzer erschienen. Der
Tanz, der gewöhnlich des Sonntags getanzt wird, heisst carrica-
dantza.*) Nachdem ein alter Alguazil, mit schmutzigem Mantel
und einem grossen Stock, den Platz von Kindern und andern
Zuschauern gereinigt hatte, fassten sich 12 bis 15 junge Leute bei
der Hand, und zogen in einer Art Marsch, den Tamborilero an
ihrer Spitze, ein Paarmal um den Platz herum. Nur der Vor-
tänzer machte eigentliche Pas, die aber^) nichts Eigenthümliches
hatten, die übrigen folgten ihm bloss gehend. Nach einigen Um-
gängen trat ein Tänzer aus der Reihe, holte ein Mädchen und
gab sie dem Vortänzer. Dieser empfing sie mit einigen Compli-
menten und nun begann ein neuer Umgang. •'^) Das Mädchen
darf die Aufforderung, und wäre sie die vornehmste, auch dem
geringsten nicht abschlagen; je mehr aber, auch in Biscaya, die
Stände sich gesellschaftlich absondern und die alten Sitten ein-
schlafen, desto mehr bleibt jetzt dieser Tanz nur den niederen
\^olksclassen überlassen. Bei dem Empfange der ersten Tänzerin
findet manchmal ein eigner Tanz zwischen ihr und dem Vor-
*) Tanz auf ofner Strasse. Das Wort dantza muss man nicht zu voreilig für
bloss aus dem Französischen aufgenommen halten. In sehr vielen Sprachen wird
dieser Begriff durch diesen Laut bezeichnet, der vermuthlich eine Onomatopoeie von dem
Auftreten der Füsse (dan, dan) ist. Auch im Galischen ist damhsair, ein Tänzer,
im BasBretonschen : dansa, im Irländischen yun donnsy, tanzen.
^) „regiert" verbessert aus „spielt".
^) ISach „aber" gestrichen: „soviel ich wenigstens sah^'.
*) In diesen drei Sätzen sind alle Präterita aus Präsentien verbessert.
\V. V. Humboldt, Werke. Xm. 9
130
Die Vasken.
tänzer Statt, der Chipiritaina*) genannt wird, und in Touren be-
steht, die beide allein mit einander machen. Nach einigen neuen
Umgängen wurde eine zweite Tänzerin geholt, welche dem letzten
in der Reihe zu Theil wird. Sobald diese zwei Ehrenplätze, um
die oft blutige Händel zwischen ganzen Ortschaften entstehen,
vergeben sind, so hört alles Feierliche des Tanzes auf, und aus-
gelassene Lustigkeit tritt an die Stelle. Jeder läuft aus allen
Kräften und holt sich nach Gefallen ein Mädchen; es bildet sich
nun wieder eben solche Reihe, als vorher, aber nun ist alles in
Bewegung, alles springt, schwingt und zerrt sich hin und her,
und Tänzer und Tänzerinnen suchen sich auf die unsanfteste
Weise dos a dos gegeneinander zu stossen. Diese sogenannten
Culadas — ein ganz eigenthümliches Stück dieses Basquischen
Tanzes — spielen dann eine Hauptrolle, und es ist gut, dass die
Tänzerinnen gewöhnlich nicht sehr zarter Natur sind, sonst
müssten sie, von ihren beiden Nebentänzern ohne Schonung bald
gezerrt, bald angerannt, nicht wenig leiden.^) Während dieses
Theils des Tanzes werden Zorfzico's gespielt, deren Tact sich
eigen zu demselben schickt.
Ihm folgen Fandangos. Die Reihe trennt sich, jeder Tänzer
stellt sich allein seiner Tänzerin gegenüber, und beginnt den Fan-
dango. Bis hieher war der Tanz ächte Volkslust, ein ausgelassenes
Laufen, Springen, Zerren und Stossen, nur durch den Takt der
Musik in einiger Regelmässigkeit erhalten, aber es war nirgends
etwas die Sitten Beleidigendes. Der Fandango hat hier, wie
überall mehr oder weniger seinen eigenthümlichen ^) Charakter.
Doch muss man wissen, dass er es seyn soll, um ihn hier wieder-
zuerkennen.
Man streitet, ob der Fandango, so wie ihn einige wirklich
aus der Mancha herleiten, ein ursprünglich Spanischer, oder ein
Amerikanischer Tanz sey, und vermuthlich sind beide Behaup-
tungen zugleich wahr. An sich (denn man muss den wahren
Fandango nicht mit demjenigen verwechseln, den man auf dem
Madrider und andern Theatern sieht, und ihn noch weniger nach
*) Tipia, Chipia, chiquia, heisst klein. Inwiefern aber dieser Tanz von diesem
Wort seinen Namen erbalten hat, kann ich nicht bestimmen, da ich nie Gelegenheit
hatte, den Tanz selbst zu sehen.
') „sonst — leiden" verbessert aus „da sie auf keine Weise schonend be-
handelt werden".
^) „eigenthümlichen" verbessert aus „schlüpfrigen".
Durango. jo|
den immer übertriebenen Schilderungen der Reisebeschreiber ^)
beurtheilen) ist er ein einfacher, dem natürlichen Ausbruche der
Lustigkeit so durchaus -) angemessener Tanz, dass es lächerlich
seyn würde, seinen Ursprung von jenseits des Oceans herzuholen.
Die besondren Modificationen aber, die er nachher, und besonders
im südlichen Spanien annimmt, sind wohl unläugbar aus Amerika
herübergekommen. Wenigstens versichern alle, die dort waren,
dass man auf den Inseln und in den SpanischAmerikanischen
Besitzungen dieselben Tänze, nur vollständiger, mannigfaltiger
und bei weitem wollüstiger und schlüpfriger wiederfindet. Die
ganz eigne und charakteristische Beweglichkeit bei der Regung
der Hüften wird, wie mir Augenzeugen versicherten, in den Inseln
schon bei ganz kleinen Mädchen, mit einem vor sie gestellten
Spiegel geübt, und der ganze Charakter der Wollust, der in diesen
Tänzen herrscht, zeigt seinen Ursprung. Denn er hat nicht Nor-
dische Rohheit,") sondern das sichtbare Gepräge des Einflusses
eines Climas, das, indem es die Stärke der Leidenschaft entflammt,
die Kräfte*) entnervt, der ganze Körper scheint sich in lauter
Gelenke aufzulösen, aber ist Eine, und von Einem Gefühl, dem die
ganze Seele zu erliegen scheint, beseelte Regung. Sein Wesen
selbst besteht in schlüpfriger Wollust, die Hauptsache bei ihm
sind nicht sowohl die Verschlingungen der Touren und die Pas,
als die Stellungen und Wendungen des Körpers. Das gewaltsame
Bewegen der Arme, besonders in den Schultern, das Aufstampfen
der Füsse, das ewige Regen des Rückens und der Hüften, andrer
Bewegungen nicht zu gedenken, an die sich jeder Augenzeuge
erinnern wird, alles drückt die Gegenwart der heftigsten Begierde
aus, und dies macht, dass dieser Tanz, unpartheiisch beurtheilt, weder
edel noch graziös, sondern in seiner anständigeren Behandlung ein-
förmig, in seiner Aechtheit nur der Sonderbarkeit wegen interessant
ist. Indess reisst sein Feuer immer auch den Zuschauer mit hin, und
bei den Spaniern bringt, wie ich oft mit Verwunderung gesehen habe,
der erste Schlag der Castanuelen eine wahre Begeisterung hervor;
Männer und Frauen, jung und alt, alles begleitet den Takt mit
^) „Schilderungen der Reisebeschreiber''' verbessert aus „Beschreibungen der
Reisenden".
^) „durchaus" verbessert aus ,.natiirlich".
^} „nicht Nordische Rohheit" verbessert aus „weder Nordische Rohheit, noch
Maurisches Feuer".
*) ,,die Kräfte" verbessert aus „den Körper".
9*
132
Die Vasken.
Minen und Bewegungen. Meister in dieser Gattung des Tanzes
sind die Zigeuner {Guanos) in Andalusien und dem Königreich
Granada, einige, die ich dort sah, waren wirkliche Ideale bloss
dem sinnlichen Genuss unterliegender Naturen.^) Auch treiben
immer mehrere unter ihnen, wie die Phäaken an Alkinoos Hofe,
nichts als Tanz und Belustigung. Aller Arbeit und Mühe feind,
scheint sich ihr Körper, ohne alle nahrhafte Speise (da sie meist
nur hitzige Getränke und Kuchen geniessen), nur durch sein eignes
Feuer zu erhalten. Dabei sind sie weich, gutmüthig und selbst
zart; Naturmenschen, die sich, ohne andre Betrachtung, dem Ein-
fluss eines entnervenden Climas überlassen.
Ganz und gar entblösst^) von diesem Charakter weichlicher
Wollust, ist der Fandango in Biscaya der rohe, ich möchte sagen,
ursprüngliche Naturtanz, wohl auch unanständig und obscön
(obgleich nicht allgemein, und seinem Wesen nach, sondern nur
bei einem oder dem andern Tänzer) aber nie schlüpfrig. Auch
kennt man in Biscaya seine verschiednen Abarten nicht, und Vo-
lero, Zorongo, Zapateado u. s. w. sind hier unbekannte ^) Namen,
ja er selbst ist wahrscheinlich ein fremder Zusatz, so wie der
Englische Contretanz, welcher die sonntägliche Fröhlichkeit be-
schliesst. Die ächten Nationaltänze Biscayas tragen alle einen
höheren und edleren Charakter, den der Volkslustbarkeit an sich,
und zeichnen sich vielmehr durch Anstand und Würde aus, und
noch mehr war dies in vorigen Zeiten der Fall, wo sich der vor-
nehme Theil der Nation noch weniger, als jetzt, von dem Volke
und den vaterländischen Sitten absonderte, wo die Obrigkeiten
dem Tanz mehr ihre besondre Aufmerksamkeit widmeten, oder
die Geistlichen entweder minder dagegen sprachen, oder ihr Eifern
weniger geachtet^) wurde. Als besonders gravitätisch führt man
einen Tanz an, der mit einem Rund anfing, in dem Tänzer und
Tänzerinnen sich an Schnupftüchern festhalten. Damals war auch
der Tanz künstlicher und die Pas waren genau nach der Melodie
und der Versstructur des Zortzüo's berechnet.
Bei der ebenbeschriebenen Carricadantza ist mehr die öffent-
liche Autorität unter der sie getanzt wird, als der Tanz selbst
^) Nach „Naturen" gestrichen: „und die Wollust war dergestalt in ihre
Natur übergegangen, dass sie dadurch. . . ."
^) „entblösst" verbessert aus „entfernt".
^) Nach „unbekannte" gestrichen : „oder nur von der Fremde hereingebrachte'^
*) „geachtet'^ verbessert aus „gehört".
Durango. joq
merkwürdig. Allein die ausschliessend Vaskischen Nationaltänze,
die vermuthlich eines älteren Ursprungs sind, gleichen mehr unsern
Ballets, sie sind Vorstellungen von Handlungen, oder gleichsam
gesellschaftliche Spiele. Fast jeder Ort hat in dieser Art einen
ihm eigenthümlichen, der aber gewöhnlich, wie eine Art öffent-
lichen Aufzugs nur beim Frohnleichnamfest, oder am Johannistag,
oder am Namenstag des Schutzpatrons des Orts getanzt wird.
So ist in Ernani die Acheridmitza, der Fuchstanz üblich. Alle
Tänzer hocken sich, jeder zwei kurze dicke Knittel in der Hand,
in einer Reihe hintereinander nieder und der Hintermann hält
immer den vor ihm sitzenden beim Fuss. Einer allein steht und
hält einen Feuerbrand im Munde. Mit diesem sucht er die andern
zu küssen, und sie müssen ihn sich abwehren, ohne in ihrer be-
schwerlichen Lage das Gleichgewicht zu verlieren. Auf dieses
Spiel folgt hernach eine Belustigung mit einem jungen Stier. Ein
Theil der jungen Leute ^) geht in den Stall und reizt ihn hinaus-
zugehn. Der andre wehrt ihm den Ausgang. Ist das Thier
endlich durch sie hinweg herausgesprungen, wird es geneckt und
gejagt. Dies Vergnügen am Hetzen der Stiere ist durch ganz
Spanien allgemein.^) Ein alter Mann auf einem Caserio bei Du-
rango, der mir seinen Ochsen zeigte, freute sich kindisch, da der
Ochse auf seine Hand stiess als er ihn neckte, darauf, wie wild
der bei der nächsten novülada (Stierhetze) seyn würde, und jedes-
mal ehe ein Stier geschlachtet wird, dient er erst der Stadt zum
Vergnügen. Man lässt ihn auf einem freien Platz an einem langen
Strick herumlaufen, und neckt ihn mit Mänteln, Mützen und
Schnupftüchern, oder zieht ihn bald hier, bald dort bei dem Strick,
der meistentheils schlaff auf der Erde liegt. Dazu spielt der Tam-
borilero, der beständige Begleiter jeder Volkslustbarkeit, und wenn
der Stier müde zu werden anfängt, reizt man ihn mit Hunden.
Einige Alcalden untersagen jedoch das Spiel, denn wirklich sind,
so oft es vorgenommen wird, die meisten Werkstätte leer, und
ich selbst sah wohl 50 bis 100 Menschen einem solchen Stier nach-
laufen.
Ein andrer in Azcoitia üblicher Tanz {Toalladantzd) besteht
in einem Wettlauf. Die Laufenden halten aber je zwei und zwei
ein langes Band an beiden Händen fest und laufen so neben
') yji<f^gen Leute" verbessert aus „Tänzer".
^) Nach „allgemein" gestrichen: „Ehe ein Ochse geschlachtet wird, hetzen
ihn die Jungens an einem Strick mit Hunden um oder selbst in der Stadt."
j oA Die Vasken.
einander. Das Paar das von hinten dem andern zuvorlaufen will,
wirft sein Band über das vordere weg, und daraus entstehen,
wenn sich einer oder der andre in dem Bande verwickelt, viele
komische Scenen, manchmal aber auch, wenn das Band sich um
einen der Laufenden schlingt und er fortgeschleift wird, Ver-
letzungen und Unglücksfälle. Die meisten dieser Tänze haben
ihre eigne nur für sie bestimmte Musik.
Noch gefährlicher, aber acht vaterländisch ist der Knütteltanz,
Troklua. Acht junge Bursche machen, jeder einen dicken und
langen Strick in der Hand, allerlei Tanztouren, indem sie mit den
Knütteln gegeneinander schlagen. Alle Schläge geschehen nach
dem Tact, und mit grosser Praecision, und indem der eine schlägt,
parirt der andre, indem er den Stock, bald unten, bald oben, mit
beiden Händen horizontal vorhält. . Da die Tanzenden sehr heftig
zuschlagen, so brechen manchmal die Knüttel beim Pariren und
dann entstehen wohl Verwundungen, sonst nicht, da sie eine
grosse Geschicklichkeit im Treffeh und Abwehren besitzen.
Friedlicher, wie das Geschäft, das er nachahmt, ist der Hacken-
tanz, jorraidantza. Die Tanzenden haben ^) Hacken in der Hand,
und thun erst als ob sie den Boden nach dem Takt umhackten,
dann heben sie die Hacken in die Höhe und machen ^) verschiedene
Schwingungen damit.
Es würde unnütz seyn, noch mehrere dieser Tänze, deren
Charakter hinlänglich aus den obengenannten erhellt, anzuführen.
Ich verweile nur noch einen Augenblick bei zweien, die mir darum
merkwürdig scheinen, weil sie vielleicht uralte Ueberreste der
ursprünglichen Sitten sind; es sind dies die Espatadantza und die
Dantzariadantza.
Tmv Espatadantza, Degentanz, gehören 30 — 40 junge Leute.
Alle sind im Hemde, mit einem Scapulier um den Hals, und
halten dergestalt wechselseitig Degen in den beiden Händen, dass
der eine die Spitze, der andre das Gefäss anfasst. Der Anführer
vereinigt in seinen beiden Händen die Spitzen von vier Degen;
diejenigen welche von diesen die Gefässe halten, fassen zugleich
wieder andre Spitzen und so wird die Linie nach hinten zu immer
breiter.^) Auf diese Weise ziehen sie in verschiedenen von Musik
begleiteten Touren und Wendungen durch die Strassen des Orts
^) Nach „haben" und „machen" gestrichen: „alle"
^) „breiter" verbessert aus „länger"'.
Durango. 1^^
nach der Kirche. Dort angekommen, treten 5 bis 6 der geschick-
testen, jeder mit zwei Degen vor den Hochaltar, verrichten jeder
ihre Kniebeugung, und machen dann solche Bewegungen und
Verzerrungen mit dem Körper und den beiden Degen, dass man
glauben sollte, sie verwundeten und durchstächen sich in jedem
Augenblick. Dabei sehen sie immer von Zeit zu Zeit auf den
Altar und knieen dabei nieder.
Mit diesem in Guipuzcoa üblichen Tanze, den ich aber nicht
selbst zu sehen Gelegenheit hatte, möchte ich den zweiten, der
jetzt Durango angehört, in Verbindung setzen, und den man besser
einen Schildtanz nennen würde. Er wird jetzt nur noch von
Kindern getanzt und macht eine der Feierlichkeiten beim Frohn-
leichnamsfest aus. Acht Knaben stehen in 4 Paaren hinter ein-
ander, und einer, welcher der König heisst, mit einer Fahne in
der Mitte. Dieser beginnt den Tanz, macht erst Schwingungen
mit seiner Fahne, und bedeckt damit die Tänzer, dann tanzen
diese und verändern unter einander zu verschiedenen Malen die
Plätze. Hierauf wechseln Einzelntänze mit allgemeinen ab, und
zwar werden die ersteren erst von einem allein, dann von zweien,
dann von dreien, und endlich von vieren so getanzt, dass der
Tanz jedesmal die ganze Reihe durchgeht und alle einzeln daran
kommen. Ist dies vollendet, so empfängt jeder eine runde me-
tallne, schildförmige Scheibe mit einem eisernen Griff daran; die
Knaben theilen sich in zwei Haufen, und schlagen unter bestän-
digem Verändern ihrer gegenwärtigen Plätze diese Scheiben in
einem regelmässigen Takt, bei dem immer auf einen leisen ein
lauter Schlag folgt, an einander. Wann dies eine Zeitlang ge-
währt hat ordnen sich alle in Einer Reihe hintereinander; der
vorderste tanzt allein, und geht, indem er ein Rad nach dem
andern schlägt, den hintersten Platz einzunehmen; dasselbe machen
ihm alle 1) nach. Nachdem darauf wieder alle zusammen tanzen,
folgt die Schlussscene. Zwei treten heran, und heben den kleinsten
von allen auf ihren ausgestreckten ^j und dicht zusammen gehalt-
nen Händen so in die Höhe, dass er der Länge nach auf ihren
äussersten Fingerspitzen ruht.^) Indem er nun still da liegt, und
nur mit den Füssen nach dem Takt zittert, tanzen die andern um
ihn herum.
') Nach „alle" gestrichen: „nach einander".
^) Nach „ausgestreckten" gestrichen: „Armen".
^) „ruht" verbessert aus „liegt''.
136
Die Vasken.
So verunstaltet der Tanz dieser kleinen Kureten auch jetzt
ist, so blickt daraus doch noch die Darstellung einer kriegerischen
Scene hervor, es sey nun dass das Ende die Bestattung eines
Gefallenen, oder das Emporheben des Siegers bedeuten solle.
Vielleicht also gehörte er damals zu dem jetzt noch mehr aus-
gearteten Degentanz. Wenigstens ist es nicht ungewöhnlich Spiele
und Feierlichkeiten des Heidenthums in das Christenthum über-
gehen zu sehen, und wie die vaterländischen Vornamen in Biscaya
den christlichen Heiligen gewichen sind, so sind auch vielleicht
diese ehemals kriegerischen Tänze nun zu kirchlichen (]ärimonien
geworden, oder wenigstens mit ihnen in Verbindung getreten.
Darauf, dass es nicht in Biscaya eigentlich volksmässig ist,
dass Dinge, die anderwärts (wie Tanz und Vergnügungen) der
Privatneigung eines jeden überlassen bleiben, dort gewissermassen
Theile der Verfassung werden, unter öffentlicher Aufsicht stehen,
und eine feste durch das Herkommen überlieferte, acht vaterlän-
dische, und noch dazu nach dem Geburtsort eines jeden ver-
schiedene Form haben, beruhet offenbar grossentheils das, was
man am Charakter des Biscayers, vorzugsweise vor andern Na-
tionen, rühmt. Es befestigt die Bande, die ihn an sein Land und
seine Mitbürger knüpfen, und im wohlthätigen Einfluss auf die
Stärke und die biedre Rechtlichkeit des Charakters kann nichts
die Festigkeit dieser Bande ersetzen. Selbst die höchste Cultur^)
tritt nur unvollkommen an ihre Stelle und kann an sich auch nie
auf alle Glieder einer Nation übergehen, da hingegen Vaterlands-
liebe und Nationalehrgeiz im Bettler und in den Ersten des Volks
nur verschiedene Gestalten annehmen. Zwar ist es natürlich, dass,
mit dem zunehmenden Verkehr mit dem Auslande, diese Einrich-
tungen immer mehr in Vergessenheit gerathen; es ist indess zu
bedauren, dass die Obrigkeit^) selbst nicht mehr über ihrer Er-
haltung wacht. Allein immerfort schläft eine öffentliche Sitte nach
der andern ein.
So gab es ehemals eine jetzt abgekommene für die Unbe-
scholtenheit ^) der Sitten sehr wohlthätige Feierlichkeit in Durango
am Tage der Heiligen Maria de Ulibarri *) und der Heiligen Anna.
Man pflegt an diesen Tagen Geschenke (meistentheils ein kleines
*) Neustadt, Ulia für Uria, Stadt, und barri oder berri, neu.
^) „Lidtur" verbessert aus „Aiisbild[iing]".
*) „ObrigkeiV verbessert aus „Regierung" .
*) „Unbescholtenheit" verbessert aus „ReinheiV.
Durango.
137
Stück Geld, oft nur ein Ochavo) in den Kirchen darzubringen.
Männer und Frauen thaten dies ohne weitere Caerimonie. Allein
die unverheiratheten Mädchen versammelten sich in ihrem Sonn-
tagsstaat strassenweis. Jede Strasse wurde von der ältesten an-
geführt, und zog den Tamborilero an ihrer Spitze zur Kirchthür.
Dort wurde der Zug von zwei Geistlichen teieriich empfangen,
und unter dem Spiele des Tamborils und der Pfeife in die Kirche
geführt, auch hernach eben so wieder hinaus begleitet. Da es
das unterscheidende Merkmal der VolksTracht der Mädchen und
der verheiratheten Frauen ist, dass die ersteren in blossem Haar,
die letzteren mit Mützen gehen, so erschienen alle Mädchen bei
diesem Aufzug in blossem Kopf, und gingen auch so in die
Kirche, was sonst durchaus ungewöhnlich ist, so dass selbst die
Aldeana (Bäuerin), wenn sie über Feld zur Stadt nach der Kirche
geht, immer ein zusammengelegtes weisses Tuch auf dem Kopf
trägt das ihr in der Kirche zum Schleier dienen soll, und dass
durch ganz Spanien eine Fremde, die ohne Schleier in eine Kirche
träte, sogleich herausgewiesen wird. Hatte nun ein Mädchen des
Orts das Unglück gehabt Mutter zu werden, und dadurch das
Recht in blossen Haaren zu gehn verloren; so litten die übrigen
sie nicht mehr in ihrem Zuge, und weil sie streng darüber
wachten , und niemand sich , unter welchem Vorwand es seyn
mochte, von der Feierlichkeit ausschliessen durfte, so wurde die-
selbe dadurch zu einer eigentlichen Sittenmusterung. Jetzt wird
auch der Unterschied in der Tracht häufig vernachlässigt. Ueber-
haupt aber bleibt es merkwürdig, dass Ausschweifungen unver-
heiratheter Personen, wenn sie auch nicht häufig sind, doch in
Biscaya wohl öfter als in Castilien vorfallen, eheliche Untreue aber
im Volk fast niemals angetroffen wird. Auch finden gefallene
Mädchen ohne Schwierigkeit, ja manchmal leichter, als andre,
einen Mann.
An demselben Tage der Heiligen Anna, und an dem von
Santiago geschah auch ehemals ein regelmässiger Umgang der
ganzen Obrigkeit durch alle Strassen, bei dem sich jeder Bürger
mit seinem Gewehr in der Hausthür zeigen musste. Auch dies
ist sehr in ^>rgessenheit gekommen. Doch sind noch jetzt alle
Biscayer verbunden, sich bei einem feindlichen Angriff verbunden
in Masse zu stellen; nur hat man im letzten Kriege gesehen, wie
wenig eine so zusammengebrachte Mannschaft gebraucht werden
kann, und wenn es in irgend einem Punkt gut wäre, dass die
138
Die Vasken.
Biscayer gegen die Regierung von ihren Freiheiten und Rechten
etwas nachliessen, so wäre es in Einführung einer ordentlichen
und regelmässigen Truppenwerbung.
Der Flecken Durango, der jetzt nur etwa fünftehalbhundert
Familien zählt, war ehemals ein durch seine Degenfabriken wohl-
habender und angesehener Ort. Davon zeugen die Unruhen,
welche mehreremale in vorigen Zeiten bei der Alcaldenwahl vor-
gingen, und die oft, da der Partheigeist den höchsten Grad er-
reichte, einen blutigen Ausgang nahmen. Um dies ferner zu ver-
hüten, hat man die Wahl mit einer Menge von Umschweifen und
Gärimonien umgeben, und lässt sie durch so viele verschiedene
Hände gehen, dass die Verfassung der kleinen Republik Durango
zu den verwickeltesten gehört, die ich kenne. Doch bringt die
Alcaldenwürde nichts ein und dauert nur ein Jahr. Man kann
daher hier, wie bei Ariosts Rittern sagen:
Nicht Schätze zu besitzen gilt es hier, noch Land.
Sie streiten nur, wer Durindanen soll entsagen,
wen Bajard durchs Gewühl der Schlachten tragen.^)
Die Versorgung der Stadt mit Brod, Wein, Fleisch, Oel u. s. f.
ist in den Händen von 5 Regidoren, und das Volk hat eine be-
sondre Sorge getragen, dass sie ihr Amt gehörig verwalten. Denn
es werden nicht nur ihnen wieder zwei Aufseher gesetzt, sondern
auch ein dritter der wieder diese beiden controlliren muss. Auch
wählt das Volk diese drei Magistratspersonen, die sein nächstes
Interesse betreffen, unmittelbarer, und nur durch die Vermittlung
von 25 von ihm selbst ernannten Wählern. Die Versorgung ge-
schieht übrigens, wie fast durch ganz Spanien, durch Abastos, d. h.
durch Personen die es übernehmen, das Erforderliche in gehöriger
Güte für einen festgesetzten Preis zu liefern, und das Recht dazu
in einer öffentlichen Versteigerung durch das niedrigste Gebot
erlangen. Doch kann jeder Bürger auch seinen Bedarf, wo er
will, einkaufen, und selbst der Verkauf des Landwirths ist frei;
nur findet der letztere freilich nicht leicht andere Käufer.
*) Am Rande steht noch folgende gestrichene Fassung der Verse.
„Nicht Schätze gilt der Kampf; nur dass
der minder Tapfre Durindanen soll entsagen,
den Sieger Bajards stolzer Rücken tragen.^'
— Die Stelle findet sich im Orlando furioso jj, ']8, 6.
Bilbao.
Bilbao.
139
Der Weg von Durango dahin besitzt alle Naturreize, die
diesem Lande eigenthümlich sind ; er ist abwechselnd und gebirgig,
allein weniger rauh, als der zwischen Marquina und Beriatua dem
er indess auch an mahlerischer Schönheit weichen muss. Ohne
bei den einzelnen Stellen zu verweilen, bemerke ich nur, dass
man, um die Schönheit der Gegend ganz zu geniessen, bei Zor-
noza von der gewöhnlichen Strasse abweichen, und bei der Eisen-
hütte von Astapa vorbei über Lemona gehen muss. Die Schön-
heit dieses Weges, auf dem man fast ununterbrochen an den Ufern
eines klaren, aber von reizenden Gebüschen dunkelbeschatteten
Baches hinreitet, ist eine mehr als hinreichende Entschädigung
für den kleinen Umweg, den man macht. Von einem Berge,
nicht weit von Bilbao, schaut man in ein neues Land. Die Stadt
liegt von schönbekränzten Bergen und Hügeln eingeschlossen da,
und ihre weissen freundlichen Häuser schimmern durch das Grün
der Bäume. Hinter ihr übersieht man fast den ganzen Weg bis
zum Meer, und der schöne Pico de Zarantes, auf dessen regel-
mässiger PyramidenGestalt das Auge so gern ruht, und den man
hernach immer im Gesichte behält, erscheint hier zuerst.
Obgleich Bilbao bei weitem die ansehnlichste und blühendste,
in vieler Rücksicht auch die reizendste Stadt Biscayas ist, so werde
ich doch nur wenige Worte von ihr zu sagen haben. Denn theils
haben andre Reisebeschreiber schon ausführlicher von ihr geredet,
theils ist sie in Absicht meines Endzwecks gerade die unmerk-
würdigste von allen. Denn der beständige Verkehr mit Fremden
hat die vaterländischen Sitten verdrängt, die man nur auf dem
Lande und im Gebirge aufsuchen darf, und selbst die Sprache ist
in hohem Grade unrein, und mit Castilianischem vermischt.
Die reizenden Ufer des Ibaizabal,*) die mit ihren mahlerisch
bewachsnen Hügeln dem schönsten und mannigfaltigsten Eng-
lischen Garten gleichen, wird man lieber selbst besuchen als be-
schrieben lesen, und wer auch nur einige Tage hier bleibt, wird
gern die Höhen von Altaniera besuchen, um von da auf einmal
die reizendste Landschaft, das fernschimmernde Meer, und den
Zarantes mit den andern gleich pyramidenförmigen ihn umgeben-
*) Ibaya, Fluss, zabala, breit. Er führt diesen Namen erst nach seiner Ver-
einigung mit dem Nervion.
j^Q Die Vasken.
den Bergspitzen zu übersehen; oder sich in das Thal an der
gegenüber liegenden Seite des Flusses versenken und seinem
schnell rollenden Strom bis an den rauschenden Sturz über das
Wehr der neuen Bäckerei {Panaderia) entgegengehn, und auf dem
Rückwege nicht das schöne Eichengehölz vor der Kirche des
wunderthätigen Marienbildes in Begona vergessen. Schon vom
Arenal, dem Spatzierplatz der Stadt am Fluss, der mit schattigen
Lindenalleen bepflanzt ist, geniesst man einer reizenden ländlichen
Aussicht auf die gegenüber liegenden Ufer des Flusses.
Wenn man auch in Bilbao nicht unmittelbar Biscayische
Sitten gewahr wird, so empfindet man doch vielleicht in keiner
Stadt so sehr die wohlthätigen Folgen des Biscayischen National-
geistes. Denn nur in äusserst wenigen Städten Spaniens wird
man so viele, nützliche und kostbare auf das Gemeinwohl be-
rechnete Anstalten antreffen, und in wenigen wird der Reisende
so viele von aufgeklärtem patriotischem Verbesserungsgeiste be-
seelte Männer finden. In Absicht der Reinlichkeit und Schönheit
des Pflasters lässt sich in Spanien nur Cadiz mit Bilbao ver-
gleichen. Die Veranstaltung, die Stadt beständjg mit gutem
Wasser zu versorgen, verdient eigen bemerkt zu werden. Ein
grosser Behälter bei S. Juan el antiguo dient zugleich alle nicht
zum Trinken bestimmte Brunnen in der Stadt, deren mehrere
beständig fliessen, zu versorgen, alle unterirrdische Canäle zu rei-
nigen, und alle Strassen im Sommer zu Dämpfung des Staubes
zu bewässern. Das Trinkwasser wird aus einer beträchtlichen
Entfernung von den Bergen an der andern Seite des Flusses in
eisernen Röhren in die Stadt geleitet, die unweit der Panaderia
durch den Fluss selbst durchgehen. Von öffentlichen Anstalten
verdienen die Casa de Misericordia und das Hospital Erwähnung.
In der ersteren wurden, als ich dort war, etwa 90 Männer und
Weiber unterhalten, von denen die, welche noch Kräfte genug
hatten, zum Vortheil des Hauses arbeiteten. Die Männer machen
Leinwand und Band, auch eine Art Fayence ; die Weiber spinnen.
Junge Bursche werden auch durch das Haus zu allerlei Hand-
werkern, nach eigner Wahl, in die Lehre gegeben. Da das Haus
einen Theil seiner Einkünfte aus einer Abgabe zieht, welche jedes
einkommende Schiff bezahlen muss, so hatte es, während des
Krieges, sehr gelitten. Man versuchte gerade, als ich da war,
Rumfordsche Suppen zur Beköstigung der Armen einzuführen.
Das Gebäude ist das ehemalige JesuiterCollegium. Das Hospital
Bilbao. lAl
schien sich mir durch seine Reinlichkeit sehr vortheilhaft auszu-
zeichnen. Andre öffenüiche Gebäude sind die Fleischbank (Car-
7iiccria)\ das Schlachthaus {el Matadcro)^ das in der That für ein
Muster von Gebäuden dieser Art sowohl zur Erhaltung der Rein-
lichkeit, als zu Abwendung aller möglichen Gefahr, angesehen
werden kann; die Kornhalle im ehemaligen Theater; das Rathhaus
und das sogenannte Consulat; das neugebaute Theater, das etwa
900 — [000 Menschen fasst, und das vor der Stadt gelegene allge-
meine Mehl- und Backhaus. Denn da die Stadt mehreremale
durch Theurungen beträchtlich gelitten hatte, so entschloss sie sich,
auf ihre Kosten Brod backen ^) zu lassen , ohne doch darum
übrigens die -) Freiheit des Korn- und Brodverkaufs zu be-
schränken. Allein das Haus ist zu kostbar und gross angelegt.
Denn da ausser demselben der Handel mit Mehl und Brod fort-
geht, so wurden zur Zeit meines Daseyns nur etwa 5000 Pfund
täglich gebacken.
Von der Volksmenge in Bilbao konnte ich keine spätere ge-
naue Notiz bekommen, als vom Jahr 1797. Nach dieser, die ich
aus den Stadtarchiven entnahm, betrug dieselbe 10953 Menschen,
welche 781 Häuser bewohnten. Unter diesen waren 4684 Männer,
und 6269 Frauen; nemlich 2365 unverheirathete Männer und 3352
unverheirathete Mädchen; 1923. verheirathete Männer und 1940
Frauen; 194 Wittwer und 777 Wittwen. Mönche fanden sich 39,
Nonnen 61, geistliche Personen (zu denen aber viele gerechnet
werden, die nur bei den Kirchen angestellt sind und heirathen
können) 132. Da diese Bevölkerung im \'erhältniss mit der Menge
der Lebensmittel, welche die umliegende Gegend hervorbringt,
sehr gross ist; so darf niemand, weder ein Maulthiertreiber, noch
ein Fuhrmann, Waaren zu Lande von Bilbao holen, ohne nicht
dagegen auch wieder zu gleicher Zeit der Stadt Produkte zu-
zuführen.
In einer dicht bei Bilbao gelegenen Ante-Iglesia sah ich eine
sogenannte Romeria oder Dorffest, wozu ich bisher noch keine
Gelegenheit gehabt hatte. Der Tanzplatz war vor dem Gemeinde-
hause, das der Kirche gegenüber stand. An einer Ecke desselben
sass auf einem roth sammtenen, mit dem in Silber gestickten
Wappen gezierten Canape der Fiel (Richter, Schöppe) des Orts
^) Nach „backen" gestrichen: „und kaufen".
*) Nach „die" gestrichen: „natürliche".
jj^o r^is Vasken.
mit einem langen Stabe, mit dem er selbst sich etwa vor-
drängende Knaben zurückwies. Vor ihm waren zwei Piken in
die Erde gesteckt und aus den Fenstern der Kirche hiengen zwei
roth und weisse Fahnen heraus. Eine unglaubliche Menge von
Menschen war aus Bilbao herbeigeströmt und das angenehmste
Schauspiel war, diese unter den schattigen Bäumen, in den mannig-
faltigsten Gruppen, theils gelagert, theils herumgehend, theils tan-
zend zu erbhcken. Erfrischungen, Garküchen, Spiele allerlei Art;
nichts fehlte, selbst ein Guckkasten mit der Geschichte des ver-
lohrenen Sohns nicht. Frauen und Männer giengen meistentheils
gesondert, die Frauen fast alle in der Basquiha und Mamille, und
die aus dem Volk mit ihren nichts weniger, als reizenden, un-
geheuer dicken schwarzen Haarflechten, die ihnen oft bis über
die Hüften hinab reichen. Der T^nz war, wie gewöhnlich; aber
die Fröhlichkeit allgemein und ausgelassen. Die Dauer dieser
Lustbarkeiten bestimmt der Fiel nach seinem Gefallen, meisten-
theils lässt er sie nicht über 8, 8V2 Uhr Abends hinaus währen.
Die Häuser in Bilbao sind nicht so gross und prachtvoll ge-
baut, als in andern noch ansehnlicheren Handelsstädten Spaniens ;
doch machen einige, deren unteres Stockwerk ganz von Marmor
ausgeführt ist, hiervon eine Ausnahme. Wunderbar sieht der
Marktplatz {la plaza) aus. Er liegt am Fluss und gewinnt vor-
züglich durch die gothisch gebaute Kirche und das mit Vergol-
dungen überladene Rathhaus ein sonderbares Ansehn. Von dem-
selben aus führen zwei Brücken über den Fluss, eine steinerne
an der Kirche, und eine hölzerne mit einem sehr kühnen Bogen,
die an der Stelle einer steinernen welche in einer Ueberschwem-
mung weggerissen wurde, gebaut ^) ist. Sie führt zu einem mit
Bäumen umwachsnen Kloster, und gleich an der andern Seite des
Flusses erhebt sich ein grosser, lieblich geformter Berg.
Wann Stiergefechte gehalten werden, geschieht es auf diesem
Platz, und dann lagert sich ein grosser Theil des Volks auf jenen
Berg, wie auf ein grosses Amphitheater. Gewöhnlich hält man
indess nur sogenannte novüladas, bei denen der Stier nicht um-
kommt ; die wahren Stiergefechte sind zu theuer. Bei den letzten
die man 1799. gab, kostete die Anschaffung von 36 Stieren (die
in 3 Tagen getödtet wurden) zu 5 Unzen (115. Thaler) jeder
57600 reale (4168. Thaler), die Errichtung des Amphitheaters
„gebaut^' verbessert aus „aufgeführt''
Bilbao.
143
30000 reale (2170 Thaler) und der Torero (Stierkämpfer) Romero,
welcher dazu von Madrid verschrieben wurde, bekam mit seinen
8 bis 9 Leuten allein 90000 reale (6512 Thaler). So kam die
ganze Ausgabe auf ungefähr 13000 Thaler zu stehen. Dieser
Romero, dessen äusserst charakteristisches Bild von Goya ich
mich in Madrid gesehn zu haben erinnere, soll bloss aus seinen
nach und nach von seinem Erwerbe gekauften Grundstücken
60 — 'joooo Reale (4.^00 — 5000 Thaler) jährlicher Einkünfte besitzen;
jetzt da Pepeillo umgekommen ist, bleibt er unstreitig allein von
berühmten Stierfechtern übrig.
Der Tod Pepeillo's wurde gerade, als ich dort war, in Bilbao
bekannt. Er starb in Madrid auf dem Kampfplatz in seinem
Beruf, und erhielt auch im Tode seinen Ruhm. Denn indem ihm
der Stier sein Hörn so durch den Leib bohrte, dass es bei der
Schulter hinten wieder hervor kam, versetzte auch er ihm den
tödtlichen Streich, und beide sanken zugleich nieder. Das Spiel
ging, wie gewöhnlich fort, aber der Gefallene wurde mit vieler
Pracht zur Erde bestattet. Vor ihm war auf ähnliche Weise Can-
dido umgekommen, der berühmteste aller Toreros und der, nach
Pepeillos eignem Geständniss, der Kunst des Stierfechtens zuerst
Sicherheit und Schönheit gab. Er glitt auf einer Melonenschale
aus, die ein Zuschauer auf den Platz geworfen hatte, und wurde
vom Stier getödtet, ohne sich an ihm rächen zu können.
Pepeillo, eigentlich Joseph Delgado"") genannt, ist wohl der
einzige, welcher über die Tauromachie oder das Stierfechten ge-
schrieben, und diese Kunst in ein förmliches System gebracht
hat. Da seine kleine in Cadiz erschienene ^) Schrift**) vermuthlich
in Deutschland kaum nur dem Namen nach bekannt-} ist, und
sie doch in mehr als Einer Rücksicht merkwürdig bleibt, so sey
es mir erlaubt, wenn es auch gleich hier nicht unmittelbar der
Ort scheint, einige Augenblicke dabei zu verweilen, und meinen
*) Pepe ist die bekannte Spanische Abkürzung von Joseph , und Illo ist ein
Beiname.
**) La Tauromaquia 0 arte de torear. Obra utilissima para los toreros de
profesion, para los aficionados, y toda dase de sayetos qiie gustan de Toros.
Sil aiitor Josef Delgado (alias) Illo. Con licencia. En Cadiz. Por D. Manuel
Ximenes Carreno. Calle aucha. ano de i'jgö. 4. 58. S.
^) „erschienene" verbessert aus „gedruckte".
*) „in — bekannt verbessert aus „nur in den Händen Weniger im Auslände'^
TAA Die Vasken.
Lesern einen kurzen Begriff von ihr und der Kunst von der sie
handelt, zu geben.
Nach dem Titelblatt ist er selbst vorgestellt, wie er den Degen
in der Hand hält, und der eben getödtete Stier zu seinen Füssen
liegt, mit der Unterschrift: der Sevillanische Fechter (el diestro
Sevülanö).
In der Vorrede des Werkchens, das er zugleich für die Leute
vom Handwerk, die Dilettanten, und alle, die an Stieren Geschmack
finden, bestimmt, verbreitet er sich über die Nützlichkeit und
Nothwendigkeit seines Unternehmens. „In einem Zeitalter," schreibt
er, „das so erleuchtet ^) ist, dass selbst die Castanuelen ihren Schrift-
steller finden, hat niemand über die Kunst des Stierfechtens ge-
schrieben, und schon dies hat mich angefeuert, dass ich der erste
bin, der seine tauromathischen Gedanken {siis pensaviienios y
ideas Tauromaticas) ans Licht giebt. Vielleicht schwieg man aber nur
von dieser Kunst, weil sich von ihr nur aus Erfahrung, nicht auf
blosse Speculation hin {por la especulatioii) reden lässt.. Ich, fährt
er weiter fort, kann, Gott sey es gedankt! die Füsse etwas fester
aufsetzen, und mich, es sey nun wie es sey, für einen Meister
ausgeben." Er nennt sein Werk nützlich, weil die Liebe zum
Stierfechten allgemein sey; weil sie die Spanische Nation vor allen
andern auszeichne, und ihre erlauchtesten und berühmtesten Arme
sich darin hervorgethan -) hätten; endlich weil der Zusammenfluss
einer Menge schöner und angenehmer Gegenstände und der An-
blick der Gefahr und der Glücksfälle die Stiergefechte für alle zu
einem reizenden Schauspiel machten.
Jeden dieser drei Punkte führt er einzeln aus. Vornehme und
geringe Frauen, sagt er, sprechen von unsern Gefechten, und
fehlen nie in unsern Plätzen, Cirquen, und Amphitheatern. Eine
schlechte Kuh, die man am Strick durch die Stadt führt, macht,
dass jeder seine Beschäftigungen verlässt, und ihr nachläuft, sie
zu sehn oder zu necken. Kurz ^) man kann behaupten, dass der
Geschmack an *) den Stieren dem Menschen angebohren ist, vor-
züglich (wenigstens, hätte er sagen sollen) in Spanien.
Darauf geht er die Geschichte durch und versichert die Kunst
des Stierfechtens blühe so lange in Spanien, als es Stiere darin
^) „erleuchtet" verbessert aus „ausgebildet".
^) „hervorgethan" verbessert aus „tapfer bewiesen".
*) Nach „Kurz" gestrichen: „so beschliesst er diesen Punkt".
*) „der Geschjnack an'^ verbessert aus „die Liebe zu".
Bilbao.
145
gebe. Unter den Helden, die sich darin hen^orgethan, steht bei
ihm der Nationalheld Spaniens der Cid Campeador an der Spitze
und auf ihn folgen Carl 5., Philipp 4., Sebastian von Portugall,
Pizarro, der Entdecker Perus, und andre mehr. Noch jetzt, sagt
er, gehört es zu den edlen Ritterübungen, zu Pferde oder zu Fuss
mit Stieren kämpfen zu können.
Heutiges Tages dürfte dies wohl nicht mehr ganz wahr seyn.
Doch erinnere ich mich einen nicht alten vornehmen Mann in
Spanien gekannt zu haben, der als Student bei einem Stiergefechte
in Salamanca einen Stier erlegt hatte. Was die älteren Zeiten
betrift, so besinne ich mich nicht, weder in den Romanzen des
Cid, noch in den Maurischen, noch in den Gedichten des Can-
cionero general^^) in dem einige gerade alle Stücke, die zu einem
vollkommenen Ritter gehören, aus einander setzen, der Stier-
gefechte erwähnt gefunden zu haben. Auch konnten sie, solange
die Turniere dauerten, schwerlich in grossem Ansehen stehn.
Auch die Einwürfe gegen die Stiergefechte übergeht er nicht,
besonders lächedich findet er es, sie darum verdammen zu wollen,
weil hie und da ein Fechter dabei das Leben verliere. Mit mehre-
ren andern körperlichen Uebungen sey Gefahr verbunden, und
grössere ; höchstens werde jedesmal ^) am Ende eines Jahres ein
Mensch in Stiergefechten umgekommen oder verwundet wor-
den seyn,
Zuletzt geht er kurz die Geschichte seiner Kunst durch. Im
Anfange des 18. Jahrhunderts sey das Fechten zu Fuss noch sehr
unvollkommen bekannt gewesen. Joseph Candido habe zuerst
die verschiedenen Arten des Angriffs und das Verhalten dabei
richtiger bestimmt, und seine Grundsätze seyen hernach von
Joachim Rodriguez, auch Costillares genannt, Pedro Romero,
Johann Conde und ihn selbst mehr ausgebildet und erweitert
worden. Jetzt habe die Kunst ihren höchsten Gipfel erreicht, und
es fehle nichts, als nur ihre Regeln bekannt zu machen, um auch
die Zuschauer in Stand zu setzen, besser mit denselben bekannt,
ein richtigeres Urtheil über das Verdienst der Kämpfer zu fällen.
In der kleinen Theorie selbst, die es nicht uninteressant ist, flüch-
tig zu durchlaufen, handelt der Verfasser ^) besonders den Kampf zu
Fuss und zu Pferde ab. In dem ersteren, den er allein ausübte,
*) Der Ende des /j. Jahrhunderts zuerst gedruckten Volksliedersammlung.
*) Jedesmal" verbessert aus „in einer Stadt".
^) „der Verfasser" verbessert aus „Pep[eillo]".
\V. V. Humboldt, Werke. Xm. lO
146
Die Vasken.
ist er ganz zu Hause, zählt die einzelnen Fälle auf,*) und führt
zuletzt alle '^) methodisch auf einfache Grundsätze zurück. Alles
kommt nemlich nur darauf an, dass der Stier gerade, und ohne
abzuweichen, auf den Mantel zulaufe, den ihm der Kämpfer vor-
hält, und dass er vor demselben, in der Absicht einen Stoss zu
vollführen, den Kopf bücke, um den Todesstreich im Genick zu
empfangen. Die Gefahren entstehen, v^ann der Stier entweder
aus Furcht unsicher hin und her läuft, oder müde, ehe er den
Mantel erreicht, stehn bleibt, und den Kämpfer ungewiss macht,
oder den Betrug merkt, und sich statt auf den Mantel zu achten
auf den Kämpfer selbst wirft, oder gar, der gefährlichste Fall,
indem er dies thut, den Kopf hebt, und den Kämpfer entwafnet,
indem er ihm das Genick entzieht. Alle diese Fälle werden be-
sonders durchgegangen. Allein obgleich die Lehre mit dem pomp-
haften Grundsatze anfängt, dass' jede Art des Angriffs ihre festen,
nie irrenden Regeln habe, so gesteht doch Pepeillo selbst, dass
die Hauptsache sey, den Stier mit kaltem Blut auf sich zukommen
zu sehen, und dass selbst gute Kämpfer manchmal aus Furcht
fehlten, und so kommen doch Fälle vor, wo, gleichfalls nach
seinem eignen Geständniss, nichts übrig bleibt, als dem Stier den
Mantel auf die Augen zu werfen, und sich durch die Flucht zu
retten, wie man kann. Da alles darauf ankommt, dass der Stier
gerade auf den Mantel zuläuft, so bittet er seine Leser "') inständig,
während der Stiergefechte, wenigstens dann, wann der Moment
des Todesstosses komme, Stillschweigen und eine tiefe Ruhe zu
beobachten, um die Aufmerksamkeit des Stiers nicht abzulenken,
und so sieht man bei jeder Zeile, wie unsicher die Kunst und wie
gross die Gefahr ist.
Es versteht sich, dass ein so beliebtes, so lang,' und immer
von einer eignen Gattung Menschen geübtes Handwerk seine
eigene, dem Uneingeweihten unverständliche Sprache habe, und
Pepeillo hat seinem Werk ein eignes kleines Wörterbuch an-
gehängt. Merkwürdig ist es zu sehen, wieviele Beiwörter der
Stier nach seinen verschiedenen CharakterEigenschaften erhält.
Er ist bald arglos, claro, sencillo, franco, boyante, wenn er gerade
auf den vorgehaltenen Betrug zuläuft, bald klug, de sentido, wenn
er sich an den Kämpfer hält, und ihn verfolgt, oder wild, revol--
*) „zählt .... auf^ verbessert ans „sondert .... ab".
^) Nach „alle" gestrichen: „vollkomtnen".
') „seine Leser" verbessert aus „die Zus[chaiier]".
Sommorostro. lA"!
toso, wenn er den Mantel zwar fasst, aber sich mit demselben
umdreht, die belustigendste und häufigste Art von allen, oder
furchtsam, abanto, temeroso, oder tückisch, brabiicon, wenn er an-
fangs geduldig herauskommt, aber nachher angreift, u. s. f.
König Carl 3. erlaubte die Stiergefechte nur bloss noch in
Madrid und Cadiz. Wäre man bei diesem S3'steme geblieben, so
würden dieselben, vorzüglich, da Romero jetzt der einzige noch
berühmte Kämpfer ist, nach und nach von selbst aufgehört haben.
Allerdings ist es nicht zu läugnen, dass der Muth, mit welchem
ein einzelner Mensch sich wehrlos oder bloss mit einem Degen
bewafnet einem wütenden Stier gegenüber stellt, die mahlerischen
Stellungen zwei der edelsten und schönsten Geschöpfe, des Stiers
und des Pferdes, und die auf einem grossen x\.mphitheater unter
freiem Himmel dicht gedrängte Menschenmasse immer ein anziehen-
des Schauspiel gewähren, auch sind die Stiergefechte in unsern Zeiten
das einzige noch übrige, an welchem eine ganze Volksmasse gleichen
i\ntheil nimmt, und wo sie frei und unmittelbar ihren Tadel und ihren
Beifall ausdrückt. Allein dies ist auch alles, was sich zu ihrem
Vortheil sagen lässt, ihre schädlichen Folgen sind in die Augen
fallend, und es lässt sich nicht einmal behaupten, dass sie Muth
und Tapferkeit in der Nation unterhalten.^) Gerade in seinen
weichlichsten, entnen^testen Zeiten hatte Rom die blutigsten und
gefahrvollsten Fechterspiele. Ebensowenig aber, glaube ich, kann
man die Nation barbarisch nennen , die an diesen gefahrvollen
Kämpfen Vergnügen findet. Die menschlichen Empfindungen
isoliren sich sehr häufig nur auf einzelne Gegenstände, und wenn
bei den Stiergefechten das ^) Gefühl der Menschlichkeit und des
Mitleids dem leidenschaftlichen Feuer weicht, zu welchem der
Kampf hinreisst; so kann man darum nicht behaupten, dass das-
selbe überhaupt, und auch für andre Gegenstände abgestumpft se}^
Sommoro stro.
Ich eilte, nach einem kurzen Aufenthalt in Bilbao, wieder
dem Meere zu, um noch den Ueberrest der Küste von Portugalete
bis Ondarroa zu besuchen, und so meine Wanderung um dies
ganze liebliche Ländchen herum zu vollenden.
Auf dem Wege von Bilbao nach dem Sommorostro darf der
') Nach „unterhalten^' gestrichen : „da Griechenland und man darf sich nur".
^) Nach „das" gestrichen: „sanße".
10*
148
Die Vasken.
Desierto nicht vergessen werden. Diese kleine Halbinsel, welche
der Ibaizabal da bildet, wo der Galindo, ein kleiner Gebirgsbach,
sich in ihn ergiesst, ist einer der reizendsten Punkte in ganz Spa-
nien, da man von demselben auf einmal die Gegend von Bilbao,
das Meer mit seinen Pyramidenbergen, und den Sommorostro
übersieht. Der Weg von Bilbao dahin geht an der rechten Seite
des Flusses durch Olabiaga, den eigentlichen Hafen Bilbaos. Zur
rechten hat man meistentheils mahlerische und hohe Felsen; am
entgegengesetzten Ufer eine liebliche reich bebaute und bepflanzte
Gegend. Ein alter viereckter Thurm der an dieser Seite gerade
da, wo bei dem Flecken Luchana ein kleiner Fluss sich mit dem
Ibaizabal vereinigt, steht, erinnert an das Feudalsystem der vorigen
Jahrhunderte. Denn dieser Thurm hatte ehemals das Recht den
Fluss zu sperren, und einen Zoll von den vorbeil<ommenden
Schiffern zu nehmen. Hinter Luchana liegen in einem anmuthigen
Thal die ländlichen Wohnungen von Baracaldo zerstreut, und von
Gebüschen umwachsen. Der Desierto hängt auf dieser Seite mit
dem festen Lande zusammen, und von Bilbao kommend muss
man sich nach demselben hin über den Fluss setzen lassen. Gegen
diese Seite ist auch die schönste Aussicht, obgleich man unge-
hindert die ganze Gegend von einem Berge überschaut, der gerade
da steht, wo beide Flüsse zusammenkommen, und auf dem das
Kloster gebaut ist.
Denn auch diesen in der That himmlischen Platz hat sich,
wie so viele andre im südlichen Europa, die fromme Andacht
geweiht, und i6 Carmelitermönche führen hier ein einsames Leben.
Ihr ganzer Bezirk ist von einer hohen Mauer umgeben, da kein
weibliches Geschöpf ihn betreten darf und nur in einer Kapelle
vor dem Kloster allgemeiner Gottesdienst gehalten wird, zu
welchem das Volk aus der benachbarten Gegend haufenweis her-
beiströmt. Wer die Ruhe des Gewissens und die Heiterkeit der
Seele im Gewühle der Welt verloren hätte, könnte sie hier wieder-
finden, in dem schattigen Eichengehölz, das den ganzen Berg um-
giebt, auf der fruchtbaren vega (Ebne) welche der Fleiss der
Mönche den Meereswellen, die bis hierher in den Fluss eindringen,
abgewonnen, und nun durch Dämme und Mauern so befestigt
hat, dass, wo aussen seine Flut andonnert, inwendig reich mit
Trauben behangene Weingelände stehen. Auf eine Zeitlang, wie
bisweilen mit jungen Leuten geschieht, hieher verbannt zu werden,
muss in der That eine sanfte Strafe seyn.
Sommorostro.
149
In dem Gehölz sind vier kleine Einsiedeleien. Doch giebt es
keine eigentlichen Einsiedler hier. Nur die Mönche, welche die
Fastenzeit in ungestörterer Andacht zuzubringen Lust haben,
schliessen sich hier auf so lange ein, und verlassen dann die Ein-
siedelei nur, um sich Holz aus dem Walde zu holen. Diese Be-
gierde, mitten in der tiefsten Einsamkeit eine noch tiefere zu
suchen, scheint sonderbar genug; allein nie mag die Sehnsucht
danach grösser seyn, als wo man verurtheilt ist, in enger und
unaufhörlicher Gemeinschaft mit denselben Menschen zu leben.
Um das Kloster herum stehen Cypressen, Aloen, und ein
Paar Dattelpalmen, liebliche Fremdlinge, die ich mit grosser
Freude nach langer Zeit wiedersah. Denn eigentlich kennt das
nördliche Spanien diese Gewächse nicht, und selbst Orangen
kommen nur an einigen wenigen Orten, wo eine besondre Lage
sie begünstigt, fort. Orangen und Citronenwälder, Aloenhecken,
Palmen und stämmige Cactusbäume fangen erst gegen Cordova
zu an, jenseits der Sierra Morena, wo kein Schnee mehr zu sehen
ist. Darum erzählt ein Maurisches Mährchen, dass König Ben
Aceit von Sevilla seiner Frau, die eine Castilische Prinzessin war,
das Gebirge mit Mandelbäumen bepflanzen Hess, um ihr, die sich
nach dem Schnee ihrer rauheren, aber geliebteren Heimath sehnte,
durch die weisse Blüthendecke eine angenehme Täuschung zu
gewähren.*) Sonderbar ist es dass gerade an der nördlichsten
Küste Spaniens bei Santona, zwischen Bilbao und Sant Ander,
im Schutz eines kleinen Hügels eine Menge Citronen- und Orangen-
bäume gedeihen, deren Früchte man in Bilbao verkauft. Dass
indess Vizcaya sonst kein rauhes Land zu nennen ist, beweist
sein Chacoli, ein, wenn er sorgfältig bereitet ist, treflicher Wein,
der gewissermassen zwischen dem Champagner und Mosler Wein
in der Mitte steht.
Beim Hinaufreiten auf den Sommorostro stieg ich bei einer
kleinen Mühle ab, deren es im ganzen Lande viele giebt. Um
sich einen Begriif von allen Gattungen menschlicher Existenz zu
machen, musste man diese Hütte besuchen. Auf freiem Felde
war hier in vier engen Mauern, unter einem überall durchlöcher-
ten Dache, statt der Thür eine weite Oefnung, zugleich die Schlaf-
*) El Conde Lucanor, compuesto por el ecelentissimo principe D. Juan Manuel
hijo del Infante D. Manuel y nieto del Sancto Rey D. Fernando (um das Jahr
l33°-)i ^'"^ wahres Exempelbuch , aber voll naiver und zarter Erzählungen, und ge-
diegener Lebensweisheit.
jj-Q Die Vasken.
und Wohnstube einer ganzen Familie, der Stall der Ziegen und
Maulthiere und ein doppelter Mühlengang. Gleich beim Herein-
treten stiess man auf die Feuerstätte, ihr gegenüber stand der
Backtrog und ein Schrank mit einigem alten Geräth. Daneben
war der Stall, weiter links ging ') einer der beiden Mühlsteine,
neben ihm führten einige Stufen zu dem ganz freistehenden Ehe-
bett und der Schlafstelle der Kinder hinauf, neben dieser der
andere Mühlstein, und über dem Stall eine Art Gerüst auf Stangen,
das zum Boden diente. Und in dieser Wohnung bringen Menschen
ihr Leben zu, werden gebohren und sterben darin!
Wenn man hört, dass der Sommorostro für den Berg ge-
halten wird, der sich, nach Plinius*) Schilderung, an der Küste
Cantabriens, da wo sie der Ocean anspült, in jäher Steile erhebt,
und durchaus aus Eisen besteht, so erwartet man einen Pic, wie
der Zarantes oder der ihm gegenüberliegende Pico de Munatones
ist, zu sehen. Allein der Sommorostro ist nicht einmal ein ein-
zelner Berg, sondern eine Reihe von Bergen, unter denen sich
kein einziger Gipfel eigentlich heraushebt. Zwischen ihnen ist
ein Thal, das eigentlich den Namen führt, und am Ende desselben
ein Dorf, S. Juan de Sommorostro. Bloss darin also trift er mit
der Beschreibung des Römischen Naturforschers überein, dass er
so eisenhaltig ist, dass der Eisenstein an mehr als einer Stelle
unmittelbar unter der Dammerde liegt. Die richtigere Meynung
geht daher dahin, dass Plinius nicht diesen Berg, sondern einen
an derselben Küste, aber weiterhin bei S. Ander, die Cabarga,
gemeynt habe,**) auf den seine Beschreibung besser passen soll,
den ich aber nicht selbst sah. Der Zarantes und Munatones ent-
halten keinen Eisenstein.
So gelegen und weder als Ackerland bebaut, noch mit Ge-
büsch bewachsen, ist der Sommorostro nicht zu den reizenden
Gegenden zu rechnen. Seine finstren und öden Höhen, auf denen
das Auge nur die röthlich schimmernden Fusssteige der Bergleute
und Maulthiertreiber unterscheidet, dienen, schon vom Desierto
aus gesehen, nur zum Gegenbilde gegen die schön angebaute und
liebliche Ebne von Barracaldo und Luchana.
*) L. 34, c. 43. Metallorurn omnium vena ferri largissima est. Cantabriae
maritimae parte, quam Oceanus alluit, mons praerupte altus, incredibile dictu, totus
ex ea materia est. Vgl. noch L. 4. c. 34.
**) Florez Espana sagrada. 7. 24. Discurso preliminare. p. 17.
V »g^^g" verbessert aus „klapperte".
Sommorostro . 1 1 1
Dennoch sind auch auf den kahlen Höhen des Sommorostro
gute Weideplätze, aber überall sind Spuren in verschiedenen Zeiten
angelegter Gruben und der ganze Berg ist umwühlt. Die meisten
Gruben befinden sich auf einer Ebene, die man Triana nennt;
einzelne Theile haben wieder einzelne Namen, so heissen die
Königlichen Gruben Minas de Janizuela. Mitten in diesen hat
der Aufseher derselben, Herr Pensei aus dem Baireuthischen, seine
einsame Wohnung in einem kleinen Kessel von Felsen auf der
Höhe selbst. Doch wird er für die Einsamkeit durch eine reizende
Aussicht aus dem oberen Stock auf die Ebne, einen Theil des
Meers und einige groteske Felsgruppen in der Nähe entschädigt.
Diese Königlichen Gruben existiren erst seit dem Jahr 1792. und
sind bestimmt, das nöthige Eisen für die Stückgiesserei bei St. Ander
zu liefern. Da dieselbe auf einige Jahre versorgt war, so wurde,
als ich dort war, gar nicht gebaut.
Den übrigen Bergbau ist es, seiner Sonderbarkeit wegen, der
Mühe werth, hier zu besehen. Dem Vizcayischen Recht nach,
kann jeder eingebohrene Vizcayer graben, nur muss er 10 Fuss
weit von der Grube des andern entfernt bleiben. Gräbt einer
unter dem andern, und kommt dem oberen vor, so muss der
obere weichen. Lässt einer seine Grube ein Jahr lang unbenutzt,
so macht er sie dadurch zur herrenlosen Sache.
So angemessen diese Gesetze den Grundsätzen der einfachen
Verfassung dieses Ländchens sind, in der alles nur auf persönliche
Freiheit berechnet scheint, so schädlich sind sie dem Bergbau.
Auch kann man mit Sicherheit behaupten, dass nirgends eine
reichere Grube schlechter gebaut wird. Da keiner gewiss ist, ob
nicht mit jedem Augenblick ein andrer ihm in den Weg kommt
und seine Mühe vereitelt, so wagt keiner, beträchtliche Kosten
aufzuwenden. Auch läuft dieser ganze Bergbau nur darauf hinaus,
mit so wenigen Kosten als möglich soviel Eisenstein zu gevv^innen,
dass der Arbeiter daraus einen massigen Taglohn zieht.
Weniger kunstmässig, als hier, kann der Bergbau nirgend be-
ti:--ben werden. Ackersleute, die schlechterdings keinen Begriff
von besitzen, und nie etwas ausser ihrem Berge gesehen haben,
:e so wenig zünftige Bergleute zu nennen sind, dass sie sich
licht einmal durch eine eigene Kleidung unterscheiden, wühlen
die Erde aufs Gerathewohl um, machen ein Loch, hauen den
Eisenstein, den sie unter ihren Händen finden, mit der Picke aus,
und wenn sie eine Zeitlang gearbeitet haben, und die Grube eine
152
Die Vasken.
ihnen unbequeme Tiefe bekommt, oder die Wasser zu mächtig
werden, so verlassen sie den Ort, und machen ein neues Loch,
gleich ungeschickt, als das vorige. An die Anlegung ordentlicher
Schachte mit Fahrten, oder nur an sorgfältig abgebaute Stollen
ist nicht zu denken ; und die einzige Maschine, welche in Uebung
gesetzt wird, ist eine elende Pumpe. Zum Herausbringen des
Eisensteins bedient man sich, so unglaublich es scheint, der Ochsen,
die mit einer Schleife, auf der ein Korb steht {rasti'o\ in die
Grube, zum Bewundern ihrer Geduld, Kraft und Geschicklichkeit,
oft sehr steil ein und ausfahren. Wo es zu steil reichen sich
mehrere Menschen in Handkörben den Eisenstein zu. Der heraus-
gebrachte Eisenstein wird auf einen ebnen Platz {rastrerd) vor der
Grube geworfen, und da sondern Männer oder auch Frauen mit
einer Harke die. groben von den feinen Stücken ab. Die groben
werden auf Karren oder Maulthieren an die kleinen Bäche ge-
bracht, wo man sie in Schiffe ladet und zu Wasser verführt; die
kleinen versendet man zu Lande mit Maulthieren.
Es würde leicht seyn durch einen unterhalb angelegten Stollen
dem Wasser im Berg einen natürlichen Abzug zu verschaffen,
um dann von oben ungestört in die Tiefe gehen zu können.
Allein da die Arbeiter hier jede Unternehmung scheuen, die nicht
unmittelbar Gewinn mit sich bringt, so fangen sie immer von
oben zu bauen an, und gehen schräg in die Erde hinein. Da sie
eben so wenig Sorgfalt tragen, die gemachten Gänge durch Stützen
zu sichern, so stürzt das Erdreich oft ein, und es kommen viele
Arbeiter um. Herr Pensei selbst hat Gelegenheit gehabt, mehrere-
male solche Unglückliche zu retten, und noch vor kurzem war es
ihm gelungen zehen auf einmal zu befreien.
Den wahren Vortheil bei diesem Zweige der Vizcayischen
Industrie trägt, wie so oft bei allen Fabricationen, der Kaufmann
davon, der Mittelsmann zwischen dem Bergbauer und der Eisen-
hütte. Selten bekommt der erstere mehr als 45 Piaster für eine
Kahnladung {Barcadd) von 225 Centnern, den Centner zu 100 Pfund
gerechnet. Nun aber kostet der Transport etwa 30, das Heraus-
fördern einer solchen Quantität aus der Grube 12 — 15 Piaster und
so bleibt für den Bergmann meistentheils nur ein sauer verdienter
Taglohn übrig. Oft sind die Arbeiter, deren sich mehrere zu-
sammen thun, selbst die Inhaber der Gruben. Wird auf Tagelohn
gearbeitet, so erhält der Mann 5 realen. (8 Groschen 8 Pfennig
Preussisch Courant).
Sommorostro.
153
Nach einem ziemlich genauen Ueberschlage kann man rechnen,
dass jährlich ungefähr 900000 Centner*) (zu 100 Pfund) Eisenstein
eingeschifft werden; da der feinere zu Lande versendete nicht so
leicht zu überschlagen ist. Diese Quantitaet wird etwa von 230
Arbeitern gefördert, und eine nicht viel geringere Anzahl ist bei
dem Transporte geschäftig, wozu man aber auch Kinder braucht,
da ich Mädchen von 7 — 10 Jahren ganz allein^) Maulthiere aus
dem Berg an die Schiffe führen sah. Der Bergbau wird aber
nur 6 Monate hindurch , vom Mai bis October betrieben, und
rechnet man die in diese Zeit fallenden Sonn- und Festtage ab,
so bleiben ungefähr 140 [Tage] zur Arbeit übrig. Für jeden
Centner (nemlich nach dortiger Rechnung, also von 150 f/) Eisen-
stein, der aus der Provinz hinausgeht (es sey denn dass es für
Königliche Rechnung sey), wird der Regierung derselben eine Ab-
gabe {recarg-o) xon 2^ mar avecizs (1^/4 Groschen) gezahlt. Während
des Krieges mangelte es an Absatz nach Guipuzcoa und den
Bergen von Sant Ander und die Preise waren geringer, weil die
Schiffarth von allen Seiten gehemmt war.
Es giebt übrigens hier eine doppelte Art des Eisensteins,
weissen der etwa 80 p. c, und schwarzen, der nur 40 p. c. Aus-
beute giebt. Man weigert sich aber in Biscaya den ersteren zu
verarbeiten, weil man ihn für minder gut hält.
Der herausgeförderte Eisenstein wird hier mit einem acht
lateinischen Ausdruck**) gewöhnlich vena genannt.
Auf dem Sommorostro ist der alte Stammsitz {Solar) des in der
Spanischen Geschichte berühmten Geschlechts der Salazare, die
stärkste und festeste Burg, oder, wie man im Mittelalter, wo
Biscaya in verschiedene Partheien zerrissen war, sagte, casa de
bando, von der es jetzt noch in dem Lande Ueberreste giebt.
Jetzt gehört sie der Familie der Mazarredo, in welche, wie ich
schon oben zu bemerken Gelegenheit hatte, ^) die letzte Erbtochter
der Salazare heirathete. Hier lebte im 15. Jahrhunderte Lope
Garcia de Salazar, der nicht weniger als 125 Kinder, 120 natür-
liche und 5 eheliche zeugte. Seine Geschichte, die aber nicht
*) Liesse ein ungefährer Ueberschlag eine genaue Rechnung zu, so müsste man
zu dieser Summe noch, um unser Berlinisches Gewicht zu haben, 4^'ie p- C. zurechnen,
da das Pfund in Bilbao um so viel schwerer als das Berlinische ist.
**) Plin. /. 33. c. 40. Romam perfertur vena signata.
') Nach „allein" gestrichen: „einige'^.
2) Vgl. oben S. 48.
»64
Die Vasken.
gedruckt ist, schrieb sein Sohn, der aber das Unglück hatte in
Streitigkeiten mit seinem jüngeren Sohn zu gerathen und darin
erst die Freiheit und dann das Leben einzubüssen. Denn da er
ein Majorat zum Vortheil seines Erstgebohrnen gemacht hatte, so
wollte der jüngere dies an sich reissen, bemächtigte sich des Vaters
und sperrte ihn in einen Thurm des Schlosses ein, in dem er aus
Kummer und Verdruss starb.
Portugalete, Plencia, Bermeo und Mundaca.
Ich durchreiste diesen Theil der Küste, der mir, da ich ein-
mal mit den Sitten des Landes bekannt war, weniger interessante
Gegenstände darbot, schneller, und werde daher auch meine Leser
nur kurz darin zu verweilen brauchen.
Der Ibaizabal ergiesst sich 'bei Santursa, jenseits Portugalete
ins Meer, das dort eine grosse, mahlerische Bucht bildet. Bei
Santursa ist die den Schiffen oft gefährliche Barre, und gegenüber
ein Dorf Algorta. Die Bai wird auf der Seite von Santursa durch
die Berge Cerrantes und Munatones begränzt, gegenüber besteht
die Küste aus einer Reihe weisser und schroffer Kalkfelsen, die
sich in die Spitze von Galia {la punta dt Galid) endigen.
Der Fluss hat auf beiden Seiten gut unterhaltene steinerne
Quais.
Portugalete ist ein kleiner,^) ziemlich schlecht gebauter Ort.
Er nährt sich grösstentheils durch das Ein- und Ausbringen der
ankommenden und abgehenden Schiffe. Derjenige Lothsmann,
welcher einem Schiffe, das sich in Gefahr befindet, zuerst zu Hülfe
kommt, erhält eine doppelte Praemie. Daher eilen sie oft zu sehr
über die Barre, und verunglücken häufig dort.
Als ich mich bei Portugalete über den Ibaizabal nahe bei
seinem Ausfluss gegen Abend übersetzen Hess, um nach Plencia
zu gehen, war das Meer gerade sehr stürmisch. Seine Höhe war
durchaus schwarz, aber fleckweise spielte weisser Schaum auf den
finstern Wellen, und dazwischen schimmerten die weissen Segel
der Fischernachen.
Der Weg nach Plencia geht durch Algorta, erst im Ufersande
des Meers, nachher durch das Land hin. Die Berge von Umbe
{las penas de Ujube)^ eine Reihe Felsen mit vielen Einschnitten
1) Nach „kleiner" gestrichen: „aber".
Portugalete, Plencia, Bermeo und Mundaca. jcC
und schroffen Kanten mitten im Lande, waren das Einzige, was
mir auf diesem Wege auffiel. Doch sah ich hinter mir am Meer
ausser dem Monte Candina, der schon vom Sommorostro aus ins
Gesicht tritt, noch die Berge von Santona, die wie ein grosses
Vorgebirge hervorstehen,^) und mir die w^eitere Aussicht westwärts
begränzten.
Plencia ist klein, hat aber vielleicht mehr als irgend eine
andre Stadt dieser Gegend ein reinliches, freundliches Ansehn.
Besonders gut nimmt es sich von der Höhe davor aus. Ueber den
Fluss gleiches Namens der sich bei der Stadt mit dem Meere ver-
mischt, geht eine Brücke.
Auf dem Wege zwischen Plencia und Bermeo muss man
zwei hohe Bergreihen übersteigen, die von Lemonis und die von
Bakin, zwischen denen bei Bakin in einem Thal ein kleiner Bach
ins Meer geht. Kaum in ganz Spanien giebt es einen beschwer-
licheren ^) und öderen Weg ; lauter kahle Bergrücken, ohne Häuser,
Bäume und Aecker, bloss zur Weide tauglich. Nur wo sich der
einsame Fusssteig hie und da in ein kleines Thal hinabschlängelt,
findet man wieder die bekannten mit Bäumen und Rebengeländern
umgebenen ^) ländlichen Wohnungen.
Das Meer, das man von der Höhe immerfort übersieht, war
den Tag, als ich diesen Weg machte, zauberisch schön. Es war
gerade ein Maitag mit Nebel und abwechselnden Regenschauern,
zwischen denen häufige Sonnenblicke die magischsten Beleuch-
tungen hen^orbrachten. Bald waren alle Spitzen der Berge un-
beweglich in dichte Schleier gehüllt, bald jagte der Nebel dem
Meer zu und drohte mich mit seinen feuchten Wolken zu umgeben.
Dann war auf einmal die Tiefe des Meers und der Thäler dunkel
und die Spitzen der Vorgebirge streckten ihre Häupter, wie glän-
zende Inseln hervor. Dann stieg der Nebel wieder, und der Himmel
war mit schweren und finstren Regenwolken behangen, die ihre
welligen Spitzen gegen das Meer zu herabsenkten.^)
Auf der Hälfte des Weges ungefähr bei Bakin ist das Vor-
gebirge S. Juan mit einer kleinen Insel gleiches Namens davor,
auf der, wie mir mein Führer sagte, ein Einsiedler wohnen soll.
Zwischen Bakin und Bermeo liegt das Vorgebirge Machichaco,
') „hervorstehen" verbessert aus „hervortreten".
*) „beschwerlicheren" verbessert aus „einsameren".
*) „umgebenen" verbessert aus „umpflanzten".
*) „her absenkten" verbessert aus „herabsandten".
156
Die Vasken.
welches die flache Einbiegung, welche das Meer gegen Portugalete
zu macht, auf der Ost- so wie das von Santona auf der Westseite
begränzt. Denn die Berge von Santona, das Cabo Machichaco,
die Insel S. Anton vor Guetaria und das Cado del Higuer sind die
vier am meisten hervortretenden Punkte, welche die Aussicht des
ganzen Biscayischen Golfs beherrschen, und denselben wieder in
drei kleinere flache Busen abtheilen.
Gerade vor Bermeo hatte ich das Glück eines heitern Sonnen-
blicks zu geniessen. Die uralte Stadt mit ihren schwarzen wellen-
bespülten Thürmen, den mahlerischen Klippenufern ihrer kleinen
Bucht, und den freundlich bebauten Aeckern um den Fluss
herum, der sich hier ins Meer ergiesst, lag klar und hell vor mir,
der SonnenGlanz, der die Landschaft überstralte, ward ^) durch
den Schatten der finstern Regenwolken erhöht, welche den west-
lichen Theil des Himmels bedeckten, ganz in der Ferne regnete
es, und ein herrlicher Regenbogen spannte seine glänzenden
Farben über das Meer aus.
Nirgends übersieht man diese Gegend besser, als von dem
Wege von Bermeo nach Mundaca, der reizend und kurz wie ein
blosser Spaziergang ist. Da er, immer zwischen Ackerfeldern und
Weinbergen, bald höher, bald tiefer hinläuft, so übersieht man
sowohl die grössere Bucht, an welcher Bermeo und Mundaca
liegen, als die kleinere, welche diese wieder, die überall umgränzt -)
von mit Gebüsch bewachsnen '^) Felsen und kleinen Vorgebirgen,
bei Bermeo bildet, in den mannigfaltigsten Aussichten, und ge-
niesst bald des vollen Anblicks des Meers, bald sieht man es
nur durch eine kleine Oefnung des Felsenufers durchschimmern.
Vor der Bucht von Bermeo liegt eine kleine Insel Izaro vor.
Auf derselben stand ehemals ein von der Königin Isabella 1500.
gestiftetes Franciscanerkloster, das aber nachher, zu grösserer Be-
quemlichkeit, nach Bermeo verlegt ward.
Bei Gelegenheit dieses Klosters erzählte mir mein sehr ge-
schwätziger Maulthierführer ein Bermeosches Mährchen, das diese
Insel betrift. Ein Mönch auf derselben habe eine Geliebte in
Bermeo gehabt, und sey, da die Insel nicht sehr entfernt vom
Ufer liegt, immer des Nachts zu ihr herübergeschwommen.
Zu diesem nächtlichen Uebergange habe sie ihm aus ihrem Fenster
') 'Nach ,,ward" gestrichen: „noch".
^) „umgränzt" verbessert aus „umgeben".
^) „bewachsnen" verbessert aus „umwachsnen" .
Portugalete, Plencia, Bermeo und Mundaca. I ty
eine Fackel entgegengehalten. Einmal aber habe der Teufel die
Fackel an einem andern, sehr weit entlegnen Orte der Küste er-
scheinen lassen, und der betrogene Mönch sey ertrunken.
Da mir die Aehnlichkeit dieses Mährchens mit der Geschichte
Hero's und Leanders auffiel, erkundigte ich mich, ob es mehrere ähn-
liche Erzählungen gebe, und erfuhr, dass viele Griechische Fabeln
sich mit geringen Veränderungen in Biscayischen Erzählungen
wiederfinden. Man führte mir die Geschichte des Polyphems an,
der wegen seiner Gefrässigkeit Gargantua*) heisst, die Arbeiten
des Hercules und namentlich die Fabel der Dejanira, die dem
Chomin sendo **) dem starken Dominicus beigelegt werden, die Ge-
schichte des goldnen Vliesses, die in eine Schäfergeschichte umge-
wandelt ist, u. a. m.
Kein Volk treibt die Liebhaberei zu Mährchen vielleicht so
weit, als die Biscayer. Auch gehen eine grosse Menge derselben
im Volk herum, und es giebt sogar verschiedene Glassen der-
selben. Eine solche sind die der Kobolte, de los dziendes.***) Zu diesen
gehört z. B. ein sehr bekanntes : Smtton hüdurhayena, Antonius ohne
Furcht. Eine andre Classe sind die der Unmöglichkeiten, de los
impossibles^ wie z.B. die Lebensgeschichte des Lngebohrenen u.s.f.
Mit grossem Vergnügen würde ich über diese Volksmährchen ge-
nauere Nachrichten eingezogen haben. Allein da sie nur im Munde
des Volks existiren, so würde eine vollkommene Geläufigkeit im Ver-
stehen des Vaskischen und ein noch längerer Aufenthalt nöthig
seyn, sie aus dieser Quelle aufzusammlen. Männer aber, die nicht
zum Volke gehören, kennen sie theils nicht, theils verachten sie es,
sich damit zu beschäftigen. Auch versicherten mir einige, dass der
Reiz dieser Erzählungen so innig mit der Sprache verbunden sey,
dass sie im Castilianischen alle Grazie verlören, und in der That
ist das mit aller ^^olkspoesie, zu welcher die Mährchen doch auch
gewissermassen gehören, da dieselbe immer der natürlichste und
eigenthümlichste Ausdruck der nationellen Phantasie ist, der Fall.
*) der Verschlinger, von garganta, der Schlund.
**) Chomin, die Vaskische Veränderung des Namens Dominicus, sendoa, der
Starke.
***) Duende von Duerio, Dominus, Herr, ist eigentlich ein Hausgeist. Denn
Duendo heisst zum Hause gehörig, zahm. Auch Vaskisch heisst ein solcher Geist
(wenn nemlich die Wörter naspechci, icecJia bei Larramendi nicht bloss von ihm ge-
schmiedet sind) ein Hausverwirrer, Hausschreck. Dies giebt vielleicht der Herleitung
des Worts Kobolt von Kobel, dem Oberdeutschen Haus, vor den anderen gelehrteren
den Vorzug.
158
Die Vasken.
Ob in der Aehnlichkeit einiger Vaskischen Erzählungen mit
Griechischen Fabeln halbverschwundene Spuren alter gemein-
schaftlicher Abstammung gesucht werden müssen, daran möchte
ich zweifeln. Mir scheint diese Aehnlichkeit, wie unstreitig oft
auch die zvv^ischen für verwandt gehaltenen Sprachen, vielmehr ^)
von selbst zu entstehen. Das Feld, auf welchem die Mährchen
erfindende Phantasie herumschwärmt , muss ^) eigentlich überall
dasselbe seyn, weil die Phantasie und die menschlichen Leiden-
schaften es sind, und weil auch einzelne Localitaeten, auf welche
sich gewisse Fabeln (wie z. B. die Geschichte Heros und Leanders)
beziehen, überall wiederkehren. Die Eigenthümlichkeit des National-
charakters macht nur, dass das eine Volk anhaltender an einer,
das andre an einer andern Stelle dieses Feldes verweilt, und die
regellose Mannigfaltigkeit der Einbildungskraft reiht die möglichen
Combinationen immer anders urtd anders zusammen. Gewiss wäre
es interessant in dieser Rücksicht einmal mit prüfendem Blick das
ganze bekannte Fabelreich zu durchlaufen, und wenn gleich nur
mit sehr schwankenden Umrissen den Cyclus anzudeuten, welchen
die Einbildungskraft darin durchwandert; in demselben aber wieder
die eigenthümlichen Gebiete einzelner Zeiten und Nationen abzu-
stecken. Denn offenbar bilden z. B. die Griechische Fabel, die
morgenländischen Erzählungen , und die Ritterabentheuer des
westlichen Europas eigene aber grosse Classen, in denen man
wieder feinere Nuancen unterscheiden kann.
Mundaca liegt an der Mündung des Flusses, der von Guernica
herkommt, und ist eine Antciglesia. Sie ist die erste, deren De-
putirten in der Versammlung der Stände Vizcayas aufgerufen
werden. Dies gründet sich aber bloss auf ein uraltes Herkommen.
Denn sonst gilt in diesen Versammlungen kein Rang, der Aufruf
geschieht nur pünktlich einmal wie das andre.
Guernica.
Ein lieblicher Weg führt landeinwärts an dem Fluss hin zu
diesem Städtchen, das nur etwa aus loo Familien besteht, aber gut
und reinlich gebaut ist. Zuerst kommt man durch eine bergigte
und waldreiche Gegend, die sich aber gegen Guernica zu in eine
^) „vielmehr" verbessert aus „ganz natürlich und"'.
^) Nach „muss^' gestrichen: „grossentheils".
Guernica.
159
schönbebaute Ebne öfnet. Der Fluss ist wenigstens hinreichend
gross, um mit Getreide und Eisenerde beladene Kähne bis an die
Stadt zu bringen. In der Zeit, in der ich in Guernica war, über-
zeugte ich mich nur zu sehr, dass er manchmal ein sogar seinen
Ufern gefährliches Anschwellen') erreichen kann. Er über-
schwemmte in einer einzigen Nacht die ganze Gegend so fürchter-
lich, dass das Wasser 7 bis 8 Schuh hoch -) über der Brücke
stand, und die Communication mit allen benachbarten Orten auf
einmal abgeschnitten war. Hier drei Tage lang in einer elenden
Herberge^) eingeschlossen,*) war meine Lage nichts weniger als
angenehm. Zwar fand ich glücklicherweise einen Don Quixote,
der selten in einem Spanischen Wirthshause fehlt; allein da mir
eine ganz dunkle Kammer zur Wohnung angewiesen war, so
bheb mir zum Lesen kein anderes Zimmer, als das meines Winhes
übrig, und selbst aus diesem wurde ich jeden Nachmittag, wann
er seine nicht kurze Mittagsruh halten wollte, auf eine zwar
sehr höfliche, aber darum nicht minder dringende Weise in die
Küche verwiesen. Ich benutzte indess diesen Aufenthalt, um mich ge-
nauer mit der Vizcavischen Verfassung bekannt zu machen, die
in Guernica ihren eigentlichen Sitz und Mittelpunkt hat, da alle
öffentliche A^erhandlungen immer mit den Worten : so el arbol de
Guernica, unter dem Baum von Guernica, anheben.^)
Denn so wie sich, wie ich oben bemerkt habe, die Gemeinen
von Alava, bis zu ihrer freiwilligen Autlösung, auf dem Felde von
Arriaga versammelten, so versammeln sich noch bis auf den heutigen
Tag die Deputirten von Mzca3'a unter dem Baum von Guernica,
und wenn sie auch jetzt nicht mehr dort, sondern in der dabei
erbauten Kapelle ihre Berathschlagungen halten, so übergeben sie
doch hier unter freiem Himmel ihre Vollmachten, und fangen
allemal unter dem Baume selbst die Feierlichkeit an. An diesen
dürfte die Einbildungskraft ^) nun freilich wohl andre Federungen
^) „ein .... gefährliches Anschwellen" verbessert aus „eine .... gefährliche
Grösse".
^) „7 — hoch" verbessert aus „über Mannshöhe".
') „elenden Herberge" verbessert aus „dunkeln Kammer und der Küche
eines elenden Wirthshauses".
*) Nach „eingeschlossen" gestrichen: ,,m dem mir keine andre Zuflucht
blieb, als".
*) „anheben" verbessert aus „anfangen".
*) Nach „Einbildungskraft" gestrichen: „der Reisenden".
j(3o I-^'^ Vasken.
machen, als sie beim wirklichen Anblick erfüllt findet. Man wünschte
eine durch ihr Alter ehrwürdige, laubreiche ^) Eiche auf einem
schönen freien, ländlichen Platze zu sehen, um sich lebhafter jene
Zeiten zurückrufen zu können, in welchen die Angelegenheiten
einer Nation einfacher, als jetzt kaum die einer Familie entschieden
wurden. Allein man findet eine zwar ziemlich grosse, aber nichts
weniger als mahlerische Steineiche, mit einem vom Winde ge-
wundenen aufgeborstenen Stamm, und einigen vertrockneten Aesten,
ein Bild, wenn man will, der \''erfassung, die auch manchen Stürmen
getrotzt, allein auch manchen unterlegen hat, und in mehr als
einem Stück von ihrer ursprünglichen Form ausgeartet ist. Neben
den eigentlichen Baum sind einige jüngere gepflanzt, um jenen,
wenn er ausgehen sollte, sogleich zu ersetzen. Keiner von allen
steht frei, sondern vor ihnen ist eine Art steinerner Schranken
und Bühne gebaut, zu der man einige Stufen in die Höhe steigt.
Hier sitzen zur Zeit der Versammlungen die Personen, welche
die^) Regierung der Provinz ausmachen, auf einer Bank mit
sieben, durch steinerne Zwischenlehnen abgesonderten Plätzen.
Den mittelsten nimmt der Corregidor ein, und auf ihn folgen zu
beiden Seiten die beiden General-Deputirten, Syndici und Secretaire.
An der hohen steinernen Hinterlehne der Sitze sieht man in der
Mitte das Castilische, und an beiden Seiten zweimal das Vizcayische
Wappen, zwei laufende Wölfe mit einem mit Laub bewachsenen
Kreuze hinter ihnen. Zu den Seiten und vorn ist dieser Sitz von
niedrigeren gleichfalls steinernen Brustwehren umgeben, und vorn,
dem Sitz des Corregidors gegenüber, ist die Oefnung freigelassen.
Vor dem Sitz ist ein mit Quadersteinen gepflasterter länglicht
viereckter Platz, auf dem vier Säulen stehen. Diese trugen ehemals
ein Dach, unter dem man vor Erbauung der Kap.elle die Berath-
schlagungen hielt.
Ferdinand der Katholische beschwor an dieser Stelle die
Freiheiten und Rechte Vizcayas, und man sieht diese Feierlichkeit
noch über dem einen Eingange der Capelle abgebildet. Der
König sitzt auf dem Platz den jetzt der Corregidor einnimmt.
Seine Gemahhn, Isabella, befindet sich unter den Frauen herum. ^)
') „laubreiche'^ verbessert aus „aestereiche".
^) Nach „die" gestrichen: „eigent[liche]".
') Nach Jierurn" gestrichen: „Seit jener Zeit ist kein König mehr zu dieser
Feierlichkeit in Person erschienen, obgleich die eidliche Bestärkung der Privilegien
noch immer Statt findet."
Guemica. 1^1
Die Kapelle, oder, wie sie eigentlich heisst, la Iglesia juradera
de S. Maria la aniigua ist dicht daneben gebaut, und ist ein läng-
lichter Saal, der auf seinen Sitzen, die sich, einfach aus Holz ge-
schnitzt, in drei Reihen über einander erheben, etwa 300 Menschen
hält, mit zwei Eingängen, einem an der schmalen Seite, dem Altar
gegenüber, und einem am Ende der einen langen, zur rechten
Seite des Altars. Der Saal ist mit rothen Steinen gepflastert, oben
sieht man die Sparren des Dachs, und statt aller Verzierungen
dienen ihm die sehr mittelmässig gemahlten Abbildungen der
ehemaligen unabhängigen Herren Vizcayas. Nur zwei unter diesen
fielen mir besonders auf: liiigo Esquerra und sein Sohn daneben.
Der \"ater ist in einer zornigen Stellung, und in völliger Rüstung,
als wolle er fechten, der Sohn barfuss, im Hemde und mit einer
Lanze ohne Spitze. Die Geschichte erzählt nemlich, der Vater
habe den Sohn zum Kampf herausgefodert, der Sohn habe sich
zum Beweise seiner Unschuld auf diese wehrlose Weise gestellt,
und dennoch den Vater getödtet. Bei den Versammlungen sitzen
die Deputirten auf den Bänken des Saals, für die Regierung stellt
man einen langen Tisch mit Stühlen vor den Altar, die Thüren
bleiben offen und der Saal ist mit Zuhörern angefüllt. Diese sitzen
ohne Unterschied unter den Deputirten selbst; nur die Frauen
haben ihren Platz immer zunächst an der Thür. Bloss die De-
putirten von Mundaca nehmen gewöhnlich, doch ohne ein be-
sondres Recht dazu zu besitzen, als die zuerst gerufenen, den
obersten Platz ein. Die Deputirten haben kein besondres Costüm
und man sieht die alte ländliche Nationaltracht mit unsrer gewöhn-
lichen städtischen in buntem Gemisch neben einander.
In der Sacristei der Kapelle ist das Archiv der Provinz. Die
ältesten Acten, welche Landesversammlungen betreffen, gehen
nicht über das 15. Jahrhundert hinaus.
Da schon der edle Vizcayer ein Stadtbewohner zu seyn ver-
schmäht,^) so wird man sich wundern, den Baum von Guernica,
gleichsam den bildlichen Repräsentanten der ganzen Verfassung
in einer Stadt anzutreffen. Allein der Ort, wo er steht, gehört
zu dem Dorf (der Ankiglesia) Luno das gegenüber auf einem
Berge Hegt; nur weil derselbe in alten Zeiten eine Art Quartier
oder Vorstadt {barriada) von Luno war, und Guernica hiess, so
') „ein — verschmäht" verbessert aus „einen Stolz darin setzt, kein .
W. V. Humboldt, Werke. XIH. I^
jg2 I- Die Vasken.
führte auch der Baum, schon vor der Erbauung des jetzigen
Fleckens, denselben Namen.
Vizcaya war ursprünglich und ist grossentheils noch jetzt ein
wahrer Freistaat von Landeigenthümern. So wie es in Deutsch-
land und Frankreich eine feudale Ritterverfassung gab, so bestand
hier eine freie Bauernverfassung; jeder Hausvater war Bürger
und jeder frei, denn jeder nahm (wie auch noch heutiges Tages)
an der Wahl der Deputirten Theil, welche die allgemeinen Landes-
angelegenheiten besorgten. Nur der Städter und Handwerker
hatte überall das Schicksal von dem herrschenden Theil der Na-
tion ausgeschlossen zu werden, und wie bei uns der kampfrüstige
Ritter, so verdrängte ihn hier der auf seine einsame und unab-
hängige Gebirgswohnung stolze Landmann. Das Zusammenleben
in geschlossenen Mauern und ,die Beschäftigung mit sitzenden
Arbeiten brachten einen Geist der Abhängigkeit hervor, der beiden
gleich verhasst war. Den ächten Freiheitssinn des Vizcayischen
Landmanns beweist schon sein einsames und zerstreutes Wohnen.
Weder durch die Furcht vor feindlichen Anfällen, wie im übrigen
Spanien (wo die beständigen Streifzüge ^) der Mauren bei denen
man der festen Plätze bedurfte, augenblickhch Güter und Heerden
in dieselben zu retten, die Anlegung otner Dörfer fast unmöglich
machte), noch durch den Willen eines Herrn, dem er zu dienen
verbunden war, mit vielen in einen Haufen zusammengedrängt,
wählte er seine Wohnung am liebsten da, wo er am freiesten und
ungehindertsten schalten könnte.
Ursprünglich beruhte auch die ganze Verfassung ausschliessend
auf den Bewohnern des flachen Landes {los moradores de la Tierra-
Llana\ "") sie machten eine abgesonderte Parthei im Gegensatz mit
den Städten aus, die Ante-iglesias allein schickten Deputirte zur
Landesversammlung {Junta\ wann eine Stadt einem aus ihrer
Mitte eine Beleidigung zugefügt hatte, übernahmen sogar gesetzlich*)
alle gemeinschaftlich seine Vertheidigung , und seine väterliche
Wohnung auf dem Lande mit einer städtischen zu vertauschen
war als eine unedle, erniedrigende Handlung angesehen. Erst
im vorigen Jahrhunderte ist die Vereinigung der Ante-iglesias
und villas geschehen, und erst seitdem geniessen die letzteren
♦) Fueros de Vizcaya. Tit. 30. /. i. p. 167.
*) „Streifzüge" verbessert ans „Einfälle".
^) Nach „TieiTa.-L\a.na." gestrichen : „die sich vorzugsweise Vizcay er nannten".
Guernica.
163
gleiche Rechte mit den ersteren, und beschicken, wie sie, die Ver-
sammlung.^)
Die Verfassung Vizcayas ist nicht so regelmässig, und mit
mehr Ausnahmen überladen, als die von Guipuzcoa. Schon die
Art, wie die Provinz in der Junta repraesentirt wird, ist sonder-
bar. Denn jeder Ort, er schicke einen oder mehrere Deputirte,
er sey gross oder klein, hat nur Eine Stimme. Dabei besitzen
nicht alle Theile der Provinz gleiche Rechte. Die Städte sind erst
spät in die Verfassung aufgenommen worden. Die sogenannten
Eiicartaciones , Districte jenseits des Ibayzabals, in denen nicht
mehr Vaskisch gesprochen wird, beschicken zwar die Versamm-
lung, haben aber weder active, noch passive Stimmen, können
weder zu GeneralDeputirten wählen, noch gewählt werden. Doch
hat man neuerlich sechs derselben mit den übrigen Merindaden
der Provinz vereinigt, die andern weigern sich noch dessen, weil
sie alsdann zu gleichen Theilen die Ausgaben der -) Provinz mit
bestreiten müssen, zu denen sie jetzt nur eine bestimmte und
kleine Summe beitragen. Die Merindad Durango ist erst seit dem
Jahre 1631. Vizcaya einverleibt worden. Indem sie damals für
eine gewisse Anzahl von Feuerstellen an den allgemeinen Ab-
gaben Theil zu nehmen versprach, erhielt sie das Recht zwei
Stimmen auf der Junta auszuüben. •') Da sie aber aus 1 1 Ante-
iglesias besteht, so benutzte sie die \'^eranlassung, dass man sie für
eine grössere Anzahl von Feuerstellen beisteuern Hess, um mehr
Stimmen^) zu verlangen, und erhielt 1740. fünf. Im Jahr 1800.
kehrte sie mit einer neuen Foderung zurück, und wollte nun für
jede ihrer Ante-iglesistx\ eine Stimme besitzen, um völlig den übrigen
Ortschaften der Provinz gleichgestellt zu werden. Sie berief sich
dabei auf die Lasten, die sie während des letzten Krieges getragen,
auf den thätigen Antheil, den ihre ganze waffenfähige Mannschaft
an der allgemeinen Landesvertheidigung genommen, und auf ein
Project, die Anzahl ihrer steuerbaren Feuerstellen aufs neue höher
zu bestimmen. Die Sache aber wurde nicht entschieden, sondern
einer Commission zum Vortrag in der nächsten Versammlung über-
^) Hier ist folgender Absatz gestrichen: „Die Anzahl der Stimmen, welche
jeder Ort auf der Junta ausübt, richtet sich weder . . . ."
^) Nach „der" gestrichen: „ganzen".
*) „Stimmen — auszuüben" verbessert aus „Deputirte zur Junta zu senden".
*) ,^timmen" verbessert aus „Deputirten".
II*
164
I. Die Vasken.
geben. *) Die Zahl aller Stimmen auf der Junta^ die aber, wie man
sieht, von Zeit zu Zeit zugenommen hat, und noch zunehmen kann,
belief sich im Jahr 1800. auf 107. Wenn zwei Deputirten des-
selben Orts uneinig sind, so verliert, da die Stimme nicht getheilt
werden kann, der Ort für diesmal sein Stimmrecht.**)
Die Generalversammlung geschieht alle zwei Jahre, im
Junius oder Julius. Die Menge von Menschen, die bei der Klein-
heit des Landes und dem vaterländischen Interesse, das alle an
diesen Berathschlagungen nehmen, dazu zusammenströmen, giebt
dem kleinen') Guernica in dieser Zeit^) das Ansehen einer der
lebhaftesten und bevölkertsten Orte. Der Zweck der Versammlungen
ist ein doppelter: die Anordnung der gemeinschaftlichen Landes-
angelegenheiten, und die Wahl der GeneralDeputirten, und andrer
zur Regierung gehörigen Personen.
Die Punkte über die berathschlagt werden soll, sind in dem
Zusammenberufungspatent (der Convocatoria) angegeben. Sie be-
treffen alles, was das Wohl der Provinz im Ganzen angeht, die
Foderungen freiwilliger Beisteuern, welche der König an sie macht,
die Innern Finanzangelegenheiten derselben, die Anstalten zur
öffentlichen Sicherheit, so wie alle, welche zur Landespolizei ge-
hören, die Besetzung einiger Stellen, über welche die Jimta ver-
fügt, die Getreideausfuhr und andre Handelsgegenstände, den
Zustand und die Unterhaltung der Geistlichkeit, endlich die
Ansprüche einzelner Gemeinen oder Individuen an die Provinz.
Die Berathschlagung über alle diese Gegenstände ist durchaus frei.
Nur hat sie die Unbequemlichkeit, dass, da jeder, ohne nur erst
das Wort zu fodern, von seinem Sitze herab spricht, oft mehr
Lärm und Verwirrung, als ruhige Discussion statt findet. Meisten-
theils werden auch die Sachen, nach unnützem Hin und Her-
sprechen, einer Commission übergeben, die sich alsdann in die
Sacristei verfügt, und ein Gutachten entwirft, über das hernach
durch Stimmenmehrheit entschieden wird.
Die Wahl der GeneralDeputirten, die ihr Amt von einer
Generalversammlung zur andern, folglich 2 Jahre hindurch be-
halten, ist der letzte Act der Jimta. Alle Orte der Provinz sind
*) Acuerdos de Juntas Generales del Senorio de Vizcaya celebrados en el
ano 1800. p. 68. 73. 83.
**) Ein Beispiel davon findet man am a. O. /?. 85.
') „giebt dem kleinen" verbessert aus „macht das kleine".
') Nach „ZeiV gestrichen: „zu einem der lebhaßesten und".
Guernica.
165
ZU diesem Behuf in zwei Partheien (Parcialiaades) ^ in die der
Ohacinos und die der Gamhrinos vertheilt — eine Eintheilung, die,
so wie die Namen selbst, aus den Zeiten herrührt, wo das ganze
Land in ewig mit einander in Streit begriffene Partheien zerfiel.
Jeder beider Theile wählt einen eignen Deputirten, und auf gleiche
Weise sind auch alle übrige Wahlen zwischen beide vertheilt, so
dass jede ihre selbstgewählten Magistratspersonen hat. Dieser
Unterschied bezieht sich indess bloss auf die W^ahl, und hat her-
nach nicht den mindesten weiteren Einfluss. Um diese nun vor-
zunehmen, werden die Namen aller stimmhabenden Orte einer
Parthei in eine Urne gethan, und durch einen Knaben drei heraus-
gezogen. Diese drei sind die eigentlichen Wahlorte, und sobald
sie bestimmt sind, hört der Antheil der Jtinta an der Wahl auf,
und dieselbe wird für geschlossen erklärt.
Am Nachmittag desselben Tages aber versammeln sich die
Deputirten der Wahlorte in der Capelle, bei verschlossenen
Thüren, schwören auf das Evangelium unpartheiisch und nach
Recht und Gewissen zu wählen, und schlagen nun jeder laut
ein Subject vor. Jeder Wahlort hat nemlich zwei Stimmen die
er entweder Einem oder zwei Subjecten ertheilen kann. Werden
gegen den Vorgeschlagenen Einwendungen vorgebracht, die man
gültig findet, so bleibt er zurück; sonst aber werden die xXamen
aller Vorgeschlagenen wieder in eine Urne gethan, und drei davon
herausgezogen. Der erste ist der wirkliche GeneralDeputirte
für die zwei nächsten Jahre, die beiden andern sind seine even-
tuellen Substituten.
Die Wahl der übrigen Magistratspersonen geschieht auf ähnliche
Weise, und ganz auf die gleiche die der andern Parthei. Die
Ohacinos wählen dem Herkommen nach zuerst.
Die GeneralDeputirten geniessen einen Gehalt, der aber so
unbeträchtlich ist, dass er diejenigen, die nicht gewöhnlich Bilbao
bewohnen, nicht einmal für die Kosten des Aufenthaltes daselbst,
den ihnen ihr Amt zur Pflicht macht, entschädigt. Nach Endigung
ihrer Würde heissen sie Väter der Provinz (Padres de Provincia)^
haben als solche Sitz in der Generalversammlung, können mit-
reden, jedoch nicht mitstimmen, und werden bei dem Zusammen-
kommen sogar zuerst aufgerufen. Auch braucht man sie häufig
zu Gommissionen. Kein Stand schliesst von der Würde eines
GeneralDeputirten aus, und in neueren Zeiten haben auch Kauf-
leute sie bekleidet.
ißß I. Die Vasken.
In der Zwischenzeit der Versammlungen besorgen sie gemein-
schaftlich und beide mit gleichem Recht die Angelegenheiten der
Provinz, und sie nebst den beiden Syndicis und dem Corregidor
machen die wahre Regierung (Gobierno) der Provinz aus. Den
Syndicis zur Seite steht ein ConsiiUador perpctuo ^ der einen
reichlichen Gehalt geniesst, ein Rechtsverständiger ist, und immer
sein Gutachten hinzufügen muss. Der Corregidor wird vom König
ernannt, und hat zwar eigentlich in den Berathschlagungen der
Regierung keine Stimme, giebt aber den Ausschlag, wann die
Stimmen getheilt sind.
Dadurch wird sein Einfluss sehr gross, und die Krone behält
durch ihn hinlängliche Mittel in Händen ihre Absichten durch-
zusetzen. Den Rechten der Provinz nach soll kein königliches
Edict ( Ceditla) gültig seyn, das 'gegen die einmal zugestandenen
Freiheiten läuft. Dies sagt das Vizcayische Recht ausdrücklich;
eine solche Verordnung soll mit Achtung aufgenommen, aber
nicht erfüllt werden, und der Richter der nach ihr spricht, soll,
wenn sie auch zwei und dreimal erneuert worden wäre, in Strafe
verfallen.*) Allein es wird nicht bestimmt, wem die Beurtheilung
der Verordnung zukommen soll. Ehemals übte die Provinz sie
aus; allein im 17. Jahrhundert schickte der Hof einen Alcalde de
Corte mit einer Commission nach Bilbao und änderte dies ab.
Jetzt kommt jede Verordnung an den Corregidor, dieser theilt sie
dem Syndicus mit, der sie alsdann mit seinem Gutachten, das sich
immer auf die Meynung des sich mit unterschreibenden Consta-
tador perpetiw stützt, zurückschickt. Nach diesem Gutachten ent-
scheidet nun der Corregidor, ob die Verordnung ungeachtet der
Einwendungen des Syndicus durchgehen, ob ihre Gültigkeit auf-
geschoben, oder ob sie ganz und gar zurückgenommen werden soll?
In den Generalversammlungen selbst herrscht jedoch eine fast
unbeschränkte Freiheit, und ein wahrer Geist der Unabhängigkeit,
und die Gegenwart des Corregidors hindert nicht, dass jeder frei
*) Fueros. Tit. i. /. 11. p. 20. Otrosi dixeron: que avian por fuero et ley
et franqueza et libertad, que qualquie?-a Carla 0 Provision Real, que el dicho
Senor de Vizcaya diere ö mandare dar, ö provar que sea 0 ser pueda, contra
las leyes et Fueros de Vizcaya, directe ö indirecte, que sea obedecida et no
cumplida. und an einer andern Stelle, Tit. 36. /. 3. p. 21g. y que aunque venga
proveido et mandado de su Alteza por su Cedula et Provision Real, primera, ni
seguenda, ni tercera jusion et mas, sea obedecida et non cumplida, como cosa
desaforada de la tierra.
Guernica. ißn
seine Meynung sagt. Manchmal entfernt er sich auch, und oft
wird Vaskisch gesprochen, das er nicht versteht. Er selbst lässt
sogar , bei allgemein interessirenden Verhandlungen , die Ein-
gaben manchmal in beiden Sprachen verlesen. Dieser Freiheit
der Aeusserungen keine Fesseln anzulegen, ist eine wohlver-
standene und heilsame Politik. Man beleidigt dadurch nicht den
Stolz der Nation, man unterhält in ihr die Meynung der alten
weniger beschränkten Unabhängigkeit, nährt den edleren und
höheren Charakter und den Patriotismus, der aus diesem Gefühle
entspringt, und verliert in den Resultaten nur wenig. Denn wann,
wie fast immer geschieht, der Gegenstand der Verhandlung vor
eine einzelne Commission kommt, gewinnt er oft eine ganz andre
Gestalt, als in der allgemeinen Berathschlagung.
Indess übt, wie man zur Ehre des Königs und seines Mi-
nisteriums gestehen muss, der Hof die Gewalt, die er natürlich in
Händen hat, immer nur mit weiser Mässigung aus. Noch in
diesem Augenblick geniesst Vizcaya der wesentlichsten Vorrechte ;
man bedenke nur das eine,^) dass es so wenig willkührlich be-
steuert werden kann, dass noch jetzt bisweilen die von der Krone
verlangten freiwilligen Geschenke abgelehnt werden. Auch könnte
die Spanische Regierung, man kann es nicht oft genug wieder-
holen, nie soviel durch Erweiterung ihrer Rechte auf Biscaya
gewinnen, als sie durch das Sinken des Patriotismus und des
Nationalgeistes verlieren würde, der eine unausbleibliche Folge
der Beschränkung der Biscayischen Freiheiten se3'^n würde. Klein
und nur kärglich von der Natur ausgestattet besitzt dies sonder-
bare Ländchen keinen andern Reichthum, als die Menge und die
Charakterstärke seiner Bewohner. Diese, zugleich muthig, unter-
nehmend und thätig, öfnen sich in dem Drange, den die zahl-
reiche Bevölkerung verbunden mit der Unzulänghchkeit der Er-
zeugnisse des Bodens hervorbringt, immer neue Bahnen zu
Reichthum und Glück, und wenden, was sie auf diesem Wege
erringen, zur Verbesserung und Verschönerung ihres Vaterlandes
an. Das Beispiel des Einen wird dem andern zum Sporn, und
so herrscht überall in den FamiHen Wohlstand und Bequemlich-
keit, in öffentlichen Anstalten Grösse und Pracht. Wird dieser
Gemeingeist, durch Beschneidung der politischen Freiheit, in seiner
*) „man — eine" verbessert ans „wie 7nan gleich sieht, wenn man nur
bedenkt".
jgg I. Die Vasken.
Wurzel angegriffen, nimmt man dem Biscayer den Gedanken dass
er für das Glück und den Namen eines eignen, abgesonderten,
mehr sich selbst überlassenen , und auf sich selbst beruhenden
Volkes arbeitet; so fällt alles dies auf einmal über den Haufen,
und die Provinz wird auf einmal zu einem Zustande der Armuth
und Nichtigkeit verdammt. Aus diesen Gründen vorzüglich, nicht
aber aus kleinlichen, oder eigennützigen LocalAbsichten wird der ^)
aufgeklärte und patriotisch gesinnte Biscayer auf die Vorrechte
seiner Nation stolz seyn, und darum verträgt sich das Behaupten
derselben sowohl mit der bei allen wahrhaft patriotischen Bis-
cayern grossen und lebhaften Anhänglichkeit an die Krone, die,^)
wenn ihr Bisca3^a mehr gelten soll, als ein unbedeutender Strich
von wenigen Quadratmeilen meist bergigten und unfruchtbaren
Bodens, kein anderes Mittel in Händen hat, als den Nationalgeist
des Volks durch weise Schonung' seiner Vorrechte zu unterhalten.
Die sämmtlichen Privilegien Vizcayas sind in den sogenannten
Fueros de Vizcaya*) gesammelt,^) die zugleich das eigentliche Ge-
setzbuch der Nation ausmachen. Am 5. April, 1526. nemlich
beschloss die General-Versammlung der Gemeinen unter dem
Baum von Guernica eine neue Durchsicht und Verbesserung ihres
Fueros vorzunehmen, weil dasselbe in mancher Hinsicht der Be-
richtigungen und Zusätze bedurfte. Sie wählten zu dieser Absicht
14. Deputirten, und trugen diesen die Anfertigung eines neuen
Fueros auf, das in 20 Tagen beendigt seyn sollte. Dies kam nun
auch in der That in dieser Zeit zu Stande, und wurde nach den
Vorschlägen der Deputirten, denen der Corregidor zugegeben war,
niedergeschrieben, so dass, da man die Form der einfachen Er-
zählung des Herganges beibehalten hat, jedes Gesetz mit den
Worten: „und wiederum sagten sie" {Oirosi dixeron) anfängt.
Darauf wurde es der Königin Isabella zur Bestätigung vorgelegt,
die es in Aranda den 14. October 1473. beschwor. Dieselbe eid-
liche Bestärkung muss jeder König wiederholen, und gleich das
*) Fueros, franqiiezas, libertades, Buenos usos, y costunibres del muy noble,
y muy leal, Senorio de Vizcaya, confirmados por el Key D. Philipe Quinto,
Nuestro Senor, y por los Senores Reyes sus Predecesores. Impresso en Bilbao :
por Antonio de Zafra. 271. Seiten folio.
^) Nach „der'' gestrichen: „eifrige".
*) Nach „die" gestrichen: „sich in Biscaya immer lebendig und gross ge-
zeigt hat, weil der wohlverstandene Vortheil der letzteren mit der Erhaltung".
^) „gesammelt'' verbessert aus „enthalten".
Guernica.
169
erste Gesetz des Fueros macht sie ihm, sobald er nur 14. Jahr
alt ist, unter Bedrohung der Aufkündigung alles Gehorsams, wenn
er sie nicht innerhalb eines Jahres vornimmt, zur Pflicht. Eigent-
lich muss der neue König selbst nach Vizcaya kommen, und die
Freiheiten der Nation an mehreren Orten, unter andern auch
unter dem Baum von Guernica beschwören. Allein seit Ferdi-
nand dem Katholischen ist kein König in Person erschienen. Ein
Hauptpunkt ^) dieses Schwurs ist das Versprechen, Vizcaya nie
wieder ganz, noch irgend einen Ort in demselben zu verkaufen,
zu verschenken, oder sonst zu veräussern, und in dem Eid Isa-
bellens wird es den Vizcayern sogar zum ^'erdienst angerechnet,
dass sie trotz der Veräusserungen, welche der mit den Krongütern
so freigebige König Heinrich 4. mit mehreren Vizcayischen Orten
vorgenommen, doch immer treu bei der Spanischen Krone
geblieben seyen.-j Ueberhaupt hat die einfache Sprache, in der
in jenen Zeiten die Könige geradezu die ihnen von Provinzen
geleisteten Dienste anerkannten, etwas sehr Rührendes. Ferdinand
der Katholische erwähnt in seinem Schwur alle Stände besonders,
vergisst selbst die Frauen und Mädchen nicht, und gesteht,
dass sie mehr gethan, als wozu ihre Vorrechte sie verbindlich
machten. *)
Nach diesem Gesetzbuche nun, von dem es ausdrücklich heisst,
dass es mehr nach Billigkeit und schlichtem Menschenver-
stände, als nach rechtlichen Spitzfindigkeiten verfasst sey,**) sollen
alle Streitigkeiten zwischen Mzcayern entschieden, und die andern
Gesetze des Königreichs nur subsidiarisch zu Hülfe genommen
werden, und dies geschieht auch in der That nicht nur im Lande
*) (El Rey) dixo : que jiiraba y juri, que por- quanto despues que Su Alteza
reyna, veyendo sus necessidades, y la giierra injusta que los Reyes de Francia
Y Portugal contra su Real persona y sus Reynos han movido, los Cavalleros y
Escuderos, y Hijos-Dalgo y Duenas y Donzellas, y Labradores y cada uno en
SU estado de los Vezinos y Moradores deste Condado y Encartaciones y Duran-
gueses, con gran amor y lealtad le avian, y han servido, y seguido, e sirven e
siguen, e poniendo sus personas, y caudales, y haziendas a todo reisgo y peligro,
como Buenos y leales, y sinalados Vassallos y con aquella obediencia y fidelidad
y lealtad que le son tenudos y obligados; y aun de mas, y allende de lo que sus
fueros y Privilegios les obligaban y apremiaban. Fueros. p. 230.
**) su fuero, el quäl es mas de alvedrio que de sotileza y rigor de derecho.
Fueros. tit. 36. /. 3. p. 218.
^) „Ein Hauptpunkt" verbessert aus „Eine Hauptclausel".
^) Bei diesem Satze steht am Rande ein Fragezeichen.
lyo
I. Die Vasken.
selbst, sondern auch in den höchsten Gerichtshöfen Spaniens,
wohin die Processe in letzter Instanz gelangen.
Die am meisten in diesen Gesetzen ins Licht gesetzte Frei-
heit der Vizcayer ist ihr angenommener Adel, weil auf diesem
wiederum mehrere der andern beruhen. Alle Vizcayer, heisst es,
sind Edelleute, von adlichem Geschlecht und reinem ßlut,*) und
wer von Juden und Mohren oder NeuBekehrten abstammt, kann
sich nicht in Vizcaya ankaufen, oder einheimisch machen. Daher
fremde Kaufleute, die sich in Bilbao häuslich niederlassen wollen,
Nachweisungen über ihr Geschlecht geben müssen und dabei oft
grosse Schwierigkeiten antreffen. Wenn dagegen ein Vizcayer in
eine andre Provinz Spaniens zieht, so ist es hinlänglich, dass er
seine Abkunft aus dieser Provinz darthut, um der gewöhnlichen,
aber, wie schon im Vorigen bemerkt worden ist,^) nicht sehr
bedeutenden adlichen Vorrechte zu geniessen.
Auf diesem allgemeinen Privilegium beruhen^) einige per-
sönliche Vorrechte der Vizcayer, wie z. B. dass keiner wegen
Schulden verhaftet werden kann**) dass, einige wenige Ver-
brechen***) ausgenom^men , gegen keinen die Folter, noch die
Androhung derselben Statt findet, f) und in Vizcaya liegende
Güter ^) eines Verbrechers niemals und in keinem Fall zum Besten
der Krone oder des Fiscus confiscirt werden können, sondern
immer den natürlichen Erben anheimfallen müssen.ff)
Noch wichtiger aber sind diejenigen Immunitäten, die eine*)
unmittelbarere Beziehung auf die ganze Nation haben; die Frei-
heit von Abgaben, die Freiheit des Handels, und der eigne Gerichts-
stand aller Vizcayer.
Von eigentlichen Abgaben zieht der König bloss' einige auf
gewissen Besitzungen von Alters her ruhende unbedeutende
*) todos los dichos Vizcaynos son hombres hijos-dalgo y de noble linaje
et limpia sangre. Fueros. tit. i. /. 13. j?. 20.
**) Fueros. tit. 16. /. 3. p. 95.
***) die Ausnahmen sind die Verbrechen der Ketzerei, der beleidigten Majestät,
des falschen Münzens, und der Sodomie. Ib. tit. 9. /. 9. p. 66.
t) /. c. und tit. I. /. 12. p. 20.
tt) Ib. tit. II. /. 2^. p. 88.
») Vgl. oben S. 86.
^) Nach „beruhen" gestrichen: „grösstentheils".
') „in — Güter" verbessert aus „das Vermögen".
*) Nach „eine" gestrichen: „noch".
Guernica.
171
Renten und Zinsen.*) Sonst erhält er bloss freiwillige Geschenke
und noch in den neuesten Zeiten sind, wie schon im Vorigen be-
merkt worden , ^) Beispiele vorhanden , dass man dieselben ab-
gelehnt hat.
Die Handelsfreiheit ist uneingeschränkt, und ihr allein ver-
dankt Mzcaya, dass es seine vortheilhafte Lage am Meer so
glücklich benutzen kann. Dieselbe erstreckt sich auch auf den
Ein- und Verkauf in den Dörfern und Städten im Innern des
Landes.**) Wollen jedoch zwei Drittheile einer Gemeine überein-
kommen, Brod, Fleisch, Wein u. s. w. nur von gewissen privi-
legirten Aufkäufern zu nehmen, so steht es bei ihnen, diese Ein-
richtung zu treffen.***)
In Absicht des Gerichtstandes kann kein Vizca^^er wegen
irgend eines Verbrechens (einige wenige ausgenommen) oder
irgend einer Schuld in erster Instanz vor ein Gericht ausserhalb
Vizcayas gezogen werden.f) Ja selbst wenn er sich in andern
Theilen Spaniens niedergelassen hat, hat er bloss den GrossRichter
Vizcayas in der Kanzlei von Valladolid als seinen gesetzmässigen
Richter anzuerkennen.ft)
Die ^^erpflichtung zur allgemeinen Bewafnung im Fall eines
Königlichen Aufrufs, die aber mehr als eine Immunität angesehen
werden kann , weil sie von der gezwungenen Theilnahme am
Kriegsdienst in Friedenszeiten befreit, trägt noch ganz den Charakter
der ehemaligen Zeiten an sich. Die ganze waffenfähige Mannschaft
ist dem König ohne Sold zu folgen verbunden. Allein diese Ver-
bindlichkeit geht nur bis an einen bestimmten, im Gesetzbuch
ausdrücklich genannten Ort (fasta el Arbol Malato qiie es en Luya-
ondo). Sollen sie in weiterer Entfernung Dienste thun, so muss
ihnen Sold gezahlt werden.yft)
Aehnliche Ueberbleibsel älterer Sitten finden sich auch in
andern Theilen des Gesetzbuchs. So haben z. B. wenn ein Mensch
von einem andern umgebracht ist, die Verwandten des Erschlagnen
nicht nur das Recht, einen ordentlichen Anklageprocess gegen den
*) Fueros. tit. i. /. ^. p. 15.
**) Ib. tit. I. /. 10. p. 20.
***) Ib. tit. 33- /• 4- p- 192.
t) Ib. tit. 7. /. 1—4- p- 47—51-
tt) Ib. tit. I. /. ig. p. 27.
t+t) Ib. tit. I. /. s- P- 16.
1) Vgl. oben S. lö-j.
1-^2 ^' ^i^ Vasken.
Mörder zu führen, sondern sie können ihm auch verzeihen und
ihn dadurch vor aller Strafe sichern; selbst wenn entferntere Ver-
v^andten die Sache v^eiter verfolgen wollten. Denn das Gesetz
bestimmt ausdrücklich, dass das Recht der Anklage und der
Verzeihung zunächst nur den Verwandten in auf- und absteigender
Linie, den Vaterbrüdern und ihren Söhnen, erst aber in Er-
mangelung dieser den entfernteren Verwandten zukommt.*)
In der Vertheilung seines Vermögens nach seinem Tode ist
der Hausvater unumschränkter Herr, und kann sein ganzes Ver-
mögen Einem unter seinen Söhnen und selbst unter seinen Töch-
tern ertheilen, und braucht die andern nur mit irgend einem
Stück Land, wie gering es sey, abzufinden. **) Wirklich wird auch
häufig von diesem Rechte Gebrauch gemacht, und die wohlthä-
tigen Folgen davon für das Land sind unverkennbar. Die Güter
werden nicht getheilt, der Ackerbau leidet nicht, und die aus-
geschlossenen Kinder sind genöthigt, sich durch eigne Betriebsam-
keit einen unabhängigen Unterhalt zu verschaffen.
Rückweg nach Bayonne über Lequeitio, Azcoitia,
Azpeitia, Ernani, Oyarzun und Irun.
Ich sah meine Reise durch das Spanische Vaskenland mit
Guernica als geendigt an, und eilte jetzt nur einen kurzen und
durch die Ueberschwemmung nicht zu sehr verwüsteten Rückweg
zu finden.
Zwischen Renteria und Guernica, die einander an beiden
Seiten des Flusses gegenüber liegen, war das Wasser, auch auf
der Brücke, noch zu hoch, um ohne Gefahr hinüberzureiten.
Ein grosser starker Mann, den man mir von Rentetia entgegen-
geschickt, musste noch bis an die Brust hineinwaten , und ein
Maulthier konnte von der schmalen Brücke, von der die Geländer
weggerissen waren, leicht abirren und hinunterfallen. Ich wählte
daher einen Umweg durch eine Gegend, wo sich das Wasser
früher verlaufen hatte.
Von Renteria bis Arteaga *** ) geht der Weg durch ein hübsches,
*) Fueros. tit. ii. /. 24. p. 87.
**) apartando con algim tanto de tierra, poco 0 mucho ä los otros hijos ö
hijas. Ib. tit. 20. /. 11. je. 116. tit. 21. /. 6. p. 125.
***) Eichenplatz von einem dabei befindlichen Gehölz von Eichen, encinas, Vaskisch
arteac.
Rückweg nach Bayonne über Lequeitio, Azcoitia, Azpeitia, Ernani, Oyarzun und Irun. 170
reichlich mit Häusern, Gebüschen, und Weingeländen besetztes
Land.
Hinter Arteaga gegen Ereno zu steigt man die Berge hinan,
welche schon die l[leine Ebene des ersteren Ort[s] rings umgeben.
Einen schauerlichen Anblick gewährt die Kirche von Ereno, auf
einer beträchtlichen Höhe, gross aus dunklen Quadersteinen,
einem öden und kahlen Felsen gegenüber, gebaut. Von Ereno
aus verliert man sich gleichsam in einem der grossesten und
malerischsten Gebirgswälder. Der Weg, einer der schönsten,
deren ich mich erinnere, geht immer über beträchtliche Höhen,
unter den Schatten von Eichen und Kastanien, von unglaublicher
Grösse und den wildesten und mannigfaltigsten Formen. In der
Tiefe sieht man auf die kleineren Berge hinab, die fast alle pyra-
midenförmig sind, und in die durch sie gebildeten kesseiförmigen
Thäler, aus deren Mitte sich gewöhnlich wieder ein spitziger Berg
erhebt. Aus dem Gebüsch blicken überall moosbewachsne Felsen her-
vor, herabgerollte, zum Theil von ungeheurer Grösse, liegen einzeln
da, und dazwischen sind, aber sehr sparsam, einige ländliche
Wohnungen, freie Weideplätze, und gut bestellte Ackerstücke ver-
streut. In der Ferne sieht man die Lage der beiden kleinen Häfen
Elanchove und Ea zwischen Mundaca und Lequeitio, der einzigen
an der Biscayischen Küste, die ich nicht besuchte. Vor dem
ersteren erscheint hier der sogenannte Banderenberg,*) der letztere
liegt in der Oefnung, welche dieser und der von Izpaster
zwischen sich lassen. Auf dem ganzen Wege fand ich Spuren
der Verheerung, welche die Ueberschwemmung angerichtet hatte;
weggerissene Saaten, ganz verschüttete Wege, an deren Wieder-
herstellung halbe Dorfschaften beschäftigt waren, Erdstücke, die
mit ihren Bäumen und Hecken herabgerollt waren , ertrunkene
Schlangen, Katzen und andre Thiere, welche die Flut aus ihren
Schlupfwinkeln vertrieben hatte. Dabei war der Himmel nach
dem Regen, der mehrere Tage angehalten, in Eine graue Wolke
gehüllt; nur im Abend glänzte eine matte und melancholische
Helle; die Luft war still und schwül, und kein Blättchen regte
sich in dem dichten Wald — ein feierliches Schweigen der Natur
nach einer grossen Verwüstung. Einige Minuten vor ihrem Unter-
gange trat die Sonne doch noch in röthliche Wolken verhüllt
*) von Bandera, Fahne, weil auf diesen Bergen die Signalfahnen der Häfen
aufgesteckt sind.
inA i- Die Vasken.
vor. ^) Ich ritt gerade die lange Höhe hinter Izpaster hinauf und
genoss, mich oft umsehend,, des romantischen Anblicks der amphi-
theatralisch von Bergen umschlossenen Ebne des Dorfs, und des
tiefen Waldthals zur Seite, in dem die Bäume aus dem zusammen-
gelaufenen Wasser hervorblickten. Vor mir lag die kahle Felsen-
höhe des Bergs, deren natürliche röthliche Farbe die scheidenden
Stralen der Sonne zu wahrem Purpur erhöhten. Als ich dem
Gipfel nah war, verschwand die Sonne; es fing an warm und
still zu regnen, und als ich die Höhe erstiegen hatte, sah' ich die
Fläche des Meers, bloss eine deutlich gezeichnete ^) Linie, die
das Grau der Wolken von dem Grau des Himmels schied; ein un-
beschreiblich schwermutherregender ^) Anblick ; so grosse, so stille, so
einförmige und so farblose Massen. Es war fast Nacht, als ich,
von den Bergen herabsteigend, in Lequeitio ankam.
Der Morgen , den ich dort zubrachte , gehört zu den ver-
gnügtesten, deren ich mich erinnere. War es der Contrast der
vorhergegangenen finstren Regentage mit der jetzt in aller ihrer
Lieblichkeit zurückkehrenden Sonne, oder entsprach der Gegen-
stand wirklich dem Eindruck, kurz Lequeitio schien mir das
freundhchste und lebhafteste Städtchen an dem ganzen Biscayischen
Golf. Die Aussicht von der sogenannten oberen Warte (atalaya
superior) am Fuss des Berges Otoyo*) ist gross und majestätisch.
Sie umfasst den Busen vom Vorgebirge Machichaco bis an das
del Higiier und ein Paar einzelne mahlerische Punkte, die sonst
nirgend recht ins Auge fallen, sind die Berge von Ea und Elan-
chove. Vor dem Hafen der Stadt,*) der eine schön umkränzte,
ostwärts durch das Vorgebirge Garaspio geschlossne Bucht bildet,
liegt die Insel S. Nicolas vor, auf der im letzten Kriege eine ehe-
mals darauf stehende Einsiedelei ^) einem Fort Platz mächen musste.
Ein Spatziergang hier am Morgen zeigt mit Einem Blick die
ganze Existenz des Örtchens, das mit Wahrheit eine Fischer-
republik genannt werden kann, da alles darin vom Fischfange
lebt, und was nur darauf Bezug hat nach gemeinschaftlicher Be-
rathung unternommen wird. Bei Tagesanbruch gehen zwei so-
*) Lindenberg von Ota, Linde, und oyana, Höhe.
') „trat .... vor" verbessert aus „erschien''.
^) „gezeichnete" verbessert aus „abgeschiedene".
^) „schwermutherregender" verbessert aus „wehmüthiger".
*) „der Stadt" verbessert aus „des Örtchens".
^) „Einsiedelei" verbessert aus „Hermita[ge]".
Rückweg nach Bayonne über Lequeitio, Azcoitia, Azpeitia, Ernani, Oyarzun und Irun. j^-
genannte Zeichengeber {Seheros) auf die kleine Warte dicht beim
Hafen (die obere grosse ist eine halbe Stunde weit entfernt) und
erkunden Wetter und Meer. Ist es stürmisch, so lassen sie keinen
Fischer hinaus. Giebt es Hofnung für den Tag, so versammeln
sie die Ruferinnen {imichachas llamadoras) — Mädchen, welche die
Fischer wecken müssen — berathschlagen noch einmal, und senden
dann die Mädchen, einige zwanzig an der Zahl, aus. Nun er-
schallt ein Rufen : levanta te e7i el nombre de Dios ! stehe auf im
Namen Gottes ! durch alle Gassen des Städtchens ; die Fischer
und ihre Gehülfen kommen zusammen, die Schiffsherren bereden
sich nun selbst unter einander, und die Mehrheit der Stimmen
entscheidet, ob ausgefahren werden soll oder nicht.
Dann ist es Zeit den Hafen zu besuchen, wo dann der Ver-
kauf der am vorigen Tage gefangenen Fische und das Auslaufen
zum neuen Fang alles in Bewegung setzt. Der Markt ist auf
den Kähnen selbst, und die aufkaufenden Mädchen laufen mit
Körben auf den Köpfen im niedrigen Wasser von einem Nachen
zum andern. Indess tragen die Männer die Netze in die Schiffe.
Die grossen {Traums) sind sehr theuer anzuschaffen, und der
Schiffsherr, dem sie gehören, lässt daher seinen Gehülfen nur die
Hälfte des Fanges und behält die andre für sich. Ist in den ^)
Fahrzeugen alles geordnet, so laufen sie aus, rudern mit frohem
Muth um die Wette, zwischen der Insel und dem Ufer, der Hof-
nung des Tages zu, und die kleinen Nachen schwanken mit un-
glaublicher Geschwindigkeit auf den Rücken der heranschwellenden
Wellen hin. Sobald sie hinter der Insel die Höhe erreicht haben,
zerstreuen sie sich in dem ganzen Busen, und nun vermischen
sich alle der ganzen Küste auf der freien, kein gesondertes Eigen-
thum kennenden Fläche des Meers. Doch gehen sie selten über
4 bis 5 Seemeilen weit in die ofne See, und jeder Ort kennt
leicht die seinigen wieder. In dem Augenblick , da ein Sturm
droht, wird ^j Rauch auf der Warte gemacht, und auf dies Zeichen
kehren augenblicklich alle entweder in ihren eignen Hafen, oder
in einen fremden, den ersten, den sie erreichen können, zurück.
So leben alle Küstenbewohner Biscayas durch das Element selbst,
das ihnen hauptsächlich ihre Nahrung gewährt, in täglichem und
ununterbrochenem \"erkehr mit einander.
Die Folgen der Ueberschwemmung, welche die gewöhnliche
•) Nach „den" gestrichen : „kleinen".
'^) Nach „wird" gestrichen: „ein".
176
I. Die Vasken.
Strasse verderbt^) hatte, nöthigten mich meinen Weg bis Motrico
über die höchsten Spitzen der Berge zu nehmen; ich wurde aber
für die Beschweriichkeit des Steigens durch die herrliche Aussicht
auf der einen Seite aufs Meer, auf der andern in die liebUchen
Thäler nach Barriatua und Marquina zu reichhch entschädigt.
Zwischen Motrico und Elgoibar war die Chaussee so zerstört,
dass Tages zuvor, als ich den Weg machte, dem Kloster von
Sasiola gegenüber, ein Maulthierführer mit vier Maulthieren in
die Deva, die der Regen zu einem reissenden Strome angeschwellt
hatte, ^) [gefallen undj ertrunken war.
Hinter Ondarroa war ich wieder in Guipuzcoa eingetreten,
und der Waldweg von Elgoibar bis Azcoitia ist milder und freund-
licher als die meisten Gegenden des rauheren Vizcayas. Nur der
Izarraiz, an dessen Seite ich lange Zeit hinritt, ist eine steile, öde ^)
und hohe Felswand, voll von Marmorbrüchen, aber an der steilen
Seite meistentheils ohne Vegetation. Azcoitia und Azpeitia sind
das lebendigste Bild des Biscayischen Wohlstandes. Nur eine
kleine Viertelstunde von einander entfernt und durch eine fort-
laufende steinerne Fussbank für Fussgänger an der Urola hin mit
einander verbunden, scheinen beide nur Einen Flecken auszu-
machen. Jeder beider Orte hat seine grosse, mit Pracht auf-
geführte Pfarrkirche, *) und die Bauart der Häuser, die Reinlichkeit
in den Strassen, die hübsch angelegten Spatzierplätze, alles zeugt
von dem reichlichen Auskommen ihrer Bewohner. Doch sind
beide nur kleine Ackerstädtchen, aber freilich in dem fruchtbarsten
Theile Guipuzcoas.
Auch hier klagt man über die Schädlichkeit der Gemeingüter,
die vorzüglich den Waldungen nachtheilig sind. Man verkauft zu
schnell, wann ein Geldbedürfniss bei der Gemeine eintritt, man
lässt durch unordentliche Wirthschaft und Mangel an Aufsicht
umkommen und wegstehlen, und pflanzt nicht hinlänglich nach.
Patriotisch gesinnte Männer haben Vorschläge gegen diese Mis-
bräuche gemacht, allein bis jetzt ohne den erwünschten Erfolg.^)
Zwischen Azcoitia und Azpeitia liegt auf einer Ebne, in der
') „verderbt" verbessert aus „verdorben".
*) „der — hatte" verbessert aus „zu einem .... geworden war".
^) „öde" verbessert aus „lange".
*) „Pfarrkirche" verbessert aus „Haup[tkirche]^'.
"*) „allein — Erfolg" verbessert aus „haben aber bis jetzt nicht durchdringen
können".
Rückweg nach Bayonne über Lequeitio, Azcoitia, Azpcitia, Ernani, Oyarzun und Irun. i-jn
es einer schönen Aussicht auf die Felswand des Izarraiz und die
fruchtbaren Ufer der Urola geniesst, das ehemalige JesuiterColle-
gium S. Ignazio de Loyala, ein wegen seiner Pracht im ganzen
Spanien berühmtes Gebäude. Die Pracht sey ihm dann auch
nicht streitig gemacht, vielmehr wird jeder Reisende mit Ver-
gnügen das herrliche Farbenspiel des so reichlich verschwendeten
einheimischen Marmors aus den benachbarten Brüchen des Izarraiz
bewundern. Desto mehr aber wird er zugleich Geschmack und
edeln Stil in der Bauart vermissen. Die Verhältnisse haben nichts
Einfaches und Grosses, am besten wäre vielleicht noch die Kuppel,
allein auch sie ist, so wie das Ganze, mit Schnörkeln und Ver-
zierungen überladen. Ueberdiess ist das Gebäude bei weitem noch
nicht fertig. Seit der ^>rtreibung der Jesuiten welche dieser An-
stalt eine grosse Ausdehnung und Wichtigkeit geben wollten, da
meistentheils die alten dahin kamen, ihr Leben dort zu beschliessen,
ist keine Hand daran gelegt worden, und alles steht und liegt
noch so da, wie sie es verliessen. Jetzt hat es der König einem
Capitel von Praemonstratenser Canonicis eingeräumt, die von den
Franzosen im letzten Kriege aus ihrem Wohnsitz vertrieben worden
waren. Die silberne Statue des Heiligen hatte man damals nach
Castilien gerettet.
Das Merkwürdigste ist der noch stehende Theil des Hauses
des Heiligen, in welchem man noch seine Kapelle sieht, und an
das die Vorderseite des neuen Gebäudes angebaut ist. Es ist ein
hohes, gelbangestrichnes Haus, mit kleinen Fenstern und durch-
brochnen Verzierungen, die in langen Streifen unter den Fenstern
hingehn. Hier wohnte dieser wunderbare Mann, der auf die
seltsamste W^eise die abentheuerlichen Ideen des Rittergeistes
seiner Zeit mit religiösen Schwärmereien verband, und wohl
schwerlich ahndete, zu welcher Grösse und Macht der von ihm
gestiftete Orden ausarten oder gedeihen würde.
Von Azpeitia nahm ich einen einsamen, nur gewöhnlich von
Contrebandiers und einigen wenigen Landleuten besuchten Fuss-
steig ^) nach Astiasu. Ein wilder Weg über das Gebirge in dem
dicksten von prächtigen Bergströmen durchrauschten Walde. Von
Häusern findet man bloss einige einzelne Herbergen — Ventas.
Die höchste ist die von Iturriotz, *) hinter der man das ganze
*) kalter Quell von Ituria, die Quelle, und Otza, kalt.
') „Fusssteig" verbessert aus „Weg".
W. V. Humboldt, Werke. XIH.
178
1. Die Vasken.
Land bis an den Ausfluss des Orio, S. Sebastian und das Meer
übersieht.
Bei ^^illabona erreichte ich die gewöhnliche Madrider Heer-
strasse wieder, von welcher der Weg von Ernani bei Oyarzun
unstreitig der reizendste Theil ist.
Auf der Bidassoa fand ich jetzt eine Fähre statt der ehemaligen,
einige Zeit vorher vom Wasser weggerissenen Brücke. Ueber
diese Fähre war bei Gelegenheit der Reise des verstorbenen
Königs von Toscana nach Frankreich ein Streit zwischen den
Bewohnern von S. Sebastian und Irun entstanden, der nicht ohne
blutige Köpfe abging. Beide wollten den König übersetzen ; beide
aber verfehlten ihre Absicht, da der König einen neutralen Fischer-
nachen nahm, der sich gerade am Ufer befand.
Das Französische Basquenland.
Wie man in Frankreich die Französischen und Spanischen
Vasken mit zwei verschiedenen Namen (Basques und Biscayem)
bezeichnet, so verbindet man auch mit dem Charakter von beiden
verschiedene Begriffe. An den Basken rühmt man, und mit Recht,
Stärke und Behendigkeit des Körpers, einen hohen Grad warmer
und lebhafter Einbildungskraft, ein beständiges Streben nach grossen
oft sonderbaren und carricaturartigen Ideen, ein zartes, immer reges
und leicht bewegliches Gefühl, und einen Geist der Freiheit, der
allem gesellschaftlichen Zwange entgegenstrebt; aber man wirft zu-
gleich ihrem Charakter Leichtsinn, unbegrenzten Hang zum Ver-
gnügen und unbeständigen Wechsel in den Neigungen vor. Die
Bisca3^er geniessen bei ihren Landsleuten und ihren Nachbarn eines
solideren Rufes. Körperliche Behendigkeit und Stärke, Gewandt-
heit des Geistes und edler Freiheitssinn werden ihnen ebensowenig
abgesprochen; aber sie gelten übrigens gerade vorzugsweise für
eine überlegende, arbeitsame, in ihren Planen mit Festigkeit be-
harrende, und sich einem nothwendigen Zwange gern unter-
werfende Nation.
In der That bilden sie aber auch ein eignes abgesondertes
Volk, bewohnen ein durch Gebirge und das Meer geschiedenes
Land, besitzen ergiebige Quellen des Erwerbs und des Reichthums,
und machen in strengem Verstände einen eigenen Staat aus. Die
Französischen Basquen sind bloss ein kleiner fremdartiger Stamm
in einem grossen ihnen auf jede Weise überlegenen Volk; ihr,
Das Französische Basquenland. 170
Land ist arm und besteht grösstentheils nur aus Viehweiden ; und
wenn sie auch, vor der Revolution, ausschliessliche Rechte be-
sassen, so ist doch noch weit von da bis zu einer eignen Ver-
fassung und einem abgesonderten Staat. Ueberhaupt aber war
der Nationalgeist in Frankreich nie dergestalt provinzenweise zer-
spalten, als es noch heutiges Tages in Spanien der Fall ist. Auch
werden die Basquen immer mit den Franzosen verglichen, denen
sie in keiner Rücksicht den Rang streitig machen können; die
Biscayer mit den Spaniern, welchen sie offenbar in mehreren^)
Stücken überlegen sind.
Indess klären alle diese Umstände noch immer nicht die Er-
scheinung ganz auf. Die Spanischen Vasken haben offenbar etwas
Langsameres, Schwerfälligeres in ihrem Wesen, ihre Gesichtszüge
selbst drücken weniger Beweglichkeit, weniger Feinheit, weniger
Geist und Einbildungskraft aus, sie haben dagegen vielleicht festere,
und reiner geschiedene Grundzüge, in welchen sich der gleiche
Stammcharakter beider stärker und einfacher ausdruckt. Der Unter-
schied scheint also tiefer und in der eigentlichen Organisation^)
zu liegen. Wie gering '^) auch, wenn von Geist und Charakter
die Rede ist, die Scheidewand selbst der grossesten Gebirgskette
scheinen kann, so weiss man doch nicht, wie wichtig es seyn
mag, auf der einen oder anderen Seite zu wohnen; und wie ihre
Bewohner eine lebendigere Heiterkeit, so zeichnet auch die Thäler
und Gipfel der Pyrenäen auf der Französischen Seite ein lachen-
deres und freundlicheres Ansehn aus. Ja der Dialect der Basquen
selbst (der sich indess freilich auch über Navarra erstreckt) hat
eine gewisse Lieblichkeit vor dem von Guipuzcoa und \'izcaya
voraus, und schmeichelt sich w^enigstens dem Fremden, der sich
einigermassen um die Landessprache bekümmert, durch leichtere
Verständlichkeit an. Der Basquische Charakter dem französischen
beigemischt (wie man es in Personen, die Literatur und Umgang
gebildet hat, antrift) giebt dem letzteren einen unbeschreiblichen
Reiz. Er giesst einen Schmelz der Einbildungskraft zugleich über
den Geist und das Gefühl, scheint jenen zu unabhängigeren Ideen
zu erheben, in dieses die ursprünglichen Naturlaute zurückzurufen,
und trägt noch gleichsam die Farbe der grossen Naturgegenstände,
^) „mehreren" verbessert aus „einigen".
^) Nach „Organisation" gestrichen: „selbst".
^) >»^^^ gering" verbessert aus „Wer weiss".
j^Q I. Die Vasken.
des Gebirges und des Meers, und der einfachen Verhältnisse eines
armen, nur Ackerbau und Viehzucht treibenden Volkes an' sich,
wenn man sich auch, bei genauerer Untersuchung, eben so sehr
und vielleicht noch mehr um den wahren Gehalt ächter Charakter-
einfalt betrogen findet.
Diese Verschiedenheiten zwischen den beiden nur zufällig von
einander abgerissenen Theilen der Vaskischen Nation treten aber
sogleich in einen starken Schatten zurück, sobald man beide mit
ihren Nachbarn, den Gasco?is und den Castilianern , vergleicht.
Bei Völkerstämmen, die keine Literatur, und nicht einmal alle
eine eigne Sprache besitzen, und die in der Geschichte wenigstens
nicht einzeln auf eine bedeutende Weise aufgetreten sind, ist es
nicht möglich, eigentliche Beweise ihrer Charakteristik beizubringen,
man kann nur seine eigne Beobachtung mittheilen, und sich auf
das zustimmende Urtheil desjenigen berufen, der Augenzeuge ge-
wesen ist, oder noch seyn wird. Aber jeder aufmerksame Rei-
sende wird, glaube ich, in den Vasken noch mehr GeistesUnab-
hängigkeit, ^) eine sichtbarere Erhebung der Gefühle, einen ge-
diegneren Charaktergehalt und in den Physiognomien einen kraft-
volleren Ausdruck antreffen als in ihren Französischen Nachbarn,
und so wie er hinter Vitoria in Castilien eintritt die Heiterkeit
und den immer regen Frohsinn vermissen, dessen der düstre
Castilianer nicht fähig scheint. Dagegen hat der Vaske auch nicht
die Leidenschaftlichkeit, und wenn gleich eine starke und beweg-
liche, nicht eine so tiefe und heftige Phantasie als jener schon in
den finstern Augenbraunen, und dem funkelnden, meistentheils
zur Erde gesenkten Blick verräth. Der Biscayer ist nüchterner,
als sein mehr südlicher Nachbar, und wenn er eine vaterländische
Poesie haben könnte, würde sie schwerlich Gefühl und Einbil-
dungskraft so wie die Spanische hinreissen. Selbst das weibliche
Geschlecht hat, wie schon oben bemerkt worden,-) etwas Trocknes,
Steifes und Strenges in Gesichtsbildung und Wuchs, und man
stösst eher auf Elemente der Schönheit in einem Gesicht, als auf
eine eigentlich reizende, oder üppige Gestalt. Im Basquen, Bis-
cayer und Castilianer finden Ausländer noch Spuren einer gewissen
Rohheit übrig. Aber bei dem Biscayer möchte man sie Rohheit
der Gutmüthigkeit nennen und sie bloss einem Mangel der Bil-
') „GeistesunabhängigkeiV verbessert aus „Geist der Unabhängigkeit".
^] Vgl oben S. 21.
Das Französische Basquenland. l8l
dung zuschreiben; in dem leidenschaftlichen Castilier nimmt sie
leicht einen höheren, aber auch furchtbareren Charakter an, und
scheint mir nicht sowohl, wie Spanische Schriftsteller behaupten,
Ueberrest Maurischen Bluts und Maurischer Barbarei, als Folge
eines von der Natur nicht begünstigten Landstrichs, eines in beiden
Extremen widrigen Climas, politischen und religiösen Drucks und
endlich vielleicht auch des wilden ungemächlichen Lebens zu
welchem der Castilier, so oft besiegt und nie ganz und auf lange
unterjocht, vorzugsweise vor andern Bewohnern Spaniens durch
die Maurenkriege verdammt war; in der Rohheit des Basquen,
die einen leichteren und graziöseren Charakter an sich trägt,
möchte ich mehr die des Wilden antreffen, dem der gesellschaft-
liche Zwang verhasst ist. Alle Vasken aber, ohne Rücksicht auf
ihre Vertheilung unter verschiedene Herrschaft, kommen, nur mit
Unterschieden des Grades, in achtem Freiheitssinn, edlem National-
stolz, fester Anhänglichkeit an einander, ausgezeichneter Liebe zur
Ordnung und ReinHchkeit, heitrem Frohsinn, und der körper-
lichen und intellectuellen Stärke und Gewandtheit überein, die
sie als kühne, behende, immer an neuen Hülfsmitteln reiche Berg-
bewohner darstellt.^) Da alle Bestimmungen dieser Art immer
von dem Verhältniss zu den Vergleichungspunkten abhängen, so
könnte man sie vielleicht am besten als ein südliches Bergvolk
und als Nordländer eines südlichen Landes charakterisiren.
Aus der Charakterverschiedenheit der mittäglichen Franzosen,
N'asken und Spanier geradezu auf Verschiedenheit der Abkunft
zu schliessen, dürfte, um dies beiläufig zu bemerken, voreilig seyn.
Seit so vielen Jahrhunderten geschieden, und in ganz verschiedenen
Lagen lebend, haben sich diese Modificationen nach und nach
ausgebildet, und dem ungeachtet können sehr füglich — ohne
auch darüber schon jetzt entscheiden zu wollen — die Vorväter
der Vasken auch Aquitanien und Castilien bewohnt haben, und
ihre Enkel noch einen beträchtlichen Theil der jetzigen Bevölke-
rung dieser Provinzen ausgemacht haben. Die Identität eines
Stamms lässt sich indess mit Gewissheit nie über die Identität
seiner Sprache hinaus beweisen, und das Einzige, was sich dem
Augenschein und der Untersuchung als unbezweifelt und unbe-
streitbar aufdringt, ist, dass alle \"asken Eine Nation ausmachen,
') „darstellt" verbessert aus „char akter isirt".
j^2 ^' ^i^ Vasken.
und die Aehnlichkeit ihrer Charakterzüge im Ganzen aus der
Gleichheit ihrer Abstammung hergeleitet werden mag.
Denn dadurch dass die mannigfaltigen Einflüsse des Climas,
der Lebensart, der Verfassung, der Sitten u. s. f. individuell durch
die Fortpflanzung fixirt; nationeil durch Zusammenhalten in Einen
Völkerhaufen mit Entgegensetzung andrer als fremder verstärkt;
und geschlechterweise durch die Sprache an Einem ununter-
brochenen ^) Faden , unter beständigem Wechsel , forterhalten
werden, entstehen Nationalcharaktere, und nur diess Gesetz und
seine drei gleich wesentlichen Momente machen die Stätigkeit
einiger unter denselben in ganz verschiedenen Umgebungen, andern
Climaten, und andern Erdstrichen erklärlich.
Unter den Gascognern, und namentlich in Bayonne, hat der
grosse Haufe der Basquen das Schicksal, das jede kleinere und
sich doch selbst hartnäckig absondernde Menge unter einer grösseren
erfährt.^) Man nennt sie diebisch, hinterlistig und feige, und nur
da kühn, wo sie ihren Feind ungesehen anfallen können, und
warnt vor einer Reise in die friedlichen und einsamen Thäler von
Ustaritz, Buigney u. s. w. wie vor einer Reise in die Wildniss.
Glücklicher Weise sind indess diese Urtheile dem aufgeklärten
Theil der Nation fremd, und wenn der Vorwurf der Schlauheit
und Hinterlist einigen Grund der Wahrheit hat, so liegt es nur
darin, dass der Vaske (vorzüglich der Französische) mehr schnell
und gewandt, als gross und stark ist, und dass sie, als ein kleines
Bergvolk, ehemals immer mit überlegenen Feinden zu kämpfen
hatten, und jetzt, als Grenzbewohner, durch die unzweckmässigen
Einschränkungen der Staaten selbst verleitet werden, aus dem
Schleichhandel ^) ein Gewerbe zu machen.
Wenn auch die drei Theile , aus welchen bekanntlich das
Französische Basquenland besteht, das pais de Labourd, Unter-
Navarra, und die Soule weniger eng zusammenhiengen, als die
Spanisch Vaskischen Provinzen, so genossen sie doch auch weit
andere Vorrechte, als alle übrige Provinzen Frankreichs. Jede
hatte ihre Ständeversammlungen, alle bezahlten der Regierung
nur geringe Steuern, und wenn der Adel oder die Geistlichkeit
noch einige Vorrechte besassen, so waren sie äusserst unbedeutend.
Daher wurde auch die Revolution von den Basquen mit mehr
^) „ununterbrochenen'''' verbessert aus „fortl[aufenden]".
2) Nach „erfährt" gestrichen: .,Ihre Gewandtheit wird Schlau[heit]".
*) „detn Schleichhandel" verbessert aus „der Contrebande" .
Das Französische Basquenland. 'iS*?
Kälte aufgenommen, als man von ihrem Freiheitssinne hätte er-
warten sollen. Sie konnten durch die Gleichsetzung mit den
übrigen Bürgern, vor denen sie sonst Vorzüge voraus hatten, nur
verlieren, und selbst ihr ländlicher Wohlstand verminderte sich
durch die neue Gesetzgebung, da die Güter jetzt nicht mehr, wie
sonst, dem ältesten Sohne zufielen, sondern unter alle Kinder ver-
theilt und dadurch versplittert wurden.
In Labourd wählten die Gemeinen sich einen Syndicus und
dieser war unmittelbar der Regierung unterworfen, nur dass der
Intendant der Provinz eine Mittelsperson zwischen ihm und dem
Hofe war. Die Wähler bestanden bloss aus dem dritten Stande ;
Adel und Geistlichkeit waren gänzlich von der Wahl ausgeschlossen.
Ihre Zusammenkünfte hiessen Bütgirreac*) ^^ersammlungen der
Alten. Sie vertheilten auch die Steuern, und wiewohl alle Steuern
damals Grundsteuern waren, und der Adel bei weitem nicht den
achten Theil der Ländereien besass, so wurde ihm doch immer
ein Achtel aller Steuern aufgelegt. Dennoch ward er für diese
grössere Last durch keine herrschaftlichen Vorrechte entschädigt.^)
Da das Ländchen sich auf Vorschlag des Vicomte de Guitane
freiwillig an die Krone ergeben hatte; so bezahlte es in den
ältesten Zeiten derselben nur 52 francs jährlich, und noch am
Ende des 17. Jahrhunderts nicht mehr als 200. Selbst in den
letzten Zeiten war es im Verhältniss zu andren Provinzen nur
massig besteuert. Stempelpapier wurde erst 20 bis 30 Jahre vor
der Revolution darin eingeführt.
In UnterNavarra nahmen zwar alle drei Stände an den ge-
meinsamen Berathschlagungen Theil. Aber in allem was die
Finanzen des Landes betraf, hatten die Gemeinen das Veto selbst
dann, wann Adel und Geistlichkeit mit einander einstimmig waren.
Auch die sonst dem Adel ausschliesslich vorbehaltnen Rechte,
Waffentragen, Jagd u. s. f. waren allen gemein.
Das geschriebene Gesetz der Soule, les coutumes de la Soule,
(es ist gascognisch abgefasst, so wie das von Unternavarra fran-
zösisch) hebt gleich mit Aufzählung der hauptsächlichsten Vor-
rechte der Provinz an. Jeder Einwohner, heisst es, ist frei, und
das Land ein freies Land; jeder kann sich, wie er es für gut hält,
verheirathen , zum Priester weihen lassen, und aus dem Lande
*) Biltua, sich versammeln, (^aharra (Guipuzcoanisch Zarrä), der Alte.
') Bei diesem Satze steht am Rande ein Fragezeichen.
i84
Die Vasken.
wegbegeben; jeder hat das Recht Waffen zu tragen; keiner Ge-
meine ist es verwehrt sich so oft zu versammeln, als ihre gemein-
schaftlichen Angelegenheiten es erfordern. Auch in der Soule
hatten ehemals alle drei Stände zu den allgemeinen Zusammen-
künften rechtmässigen Zutritt; die Geistlichkeit verlor aber nach
und nach, weil sie zu erscheinen versäumte, ihr Recht und der
Adel blieb allein mit den Gemeinen zurück. Waren beide mit
einander uneins, so entschied der König.
Da die Französische Revolution alle diese einzelnen Ver-
fassungen über den Haufen gestürzt hat, so würde es unzweck-
mässig seyn, länger bei Auseinandersetzung derselben zu ver-
weilen.
Meine erste Auswanderung war über Ustaritz nach Itzatzu.
Das Französische Basquenland ist, wo man sich nicht in die Berge
vertieft, weder schön, noch malerisch zu nennen. Es hat vielmehr
in seinen meisten Theilen ein ödes und wüstes Ansehn. Zwar
sind die einzelnen Acker- und Gartenstücke mit der diesem Volke
eigenthümlichen Sorgfalt und Reinlichkeit bearbeitet, aber im Ganzen
nähren sich die Französischen Basquen mehr von Viehzucht als
Ackerbau, lassen daher viel Land bloss als Weide liegen, und sind
auch mehr, als die Spanischen, dem Vergnügen ergeben. Auf
grossen Strecken sieht man daher nichts als Heidekraut {bruyere)
das^) auch zugleich abgemäht, eingestreut und zu Mist gemacht
wird. Selbst der fleissige Hauswirth darf seinen Antheil an diesen
Ländereien nicht ohne Erlaubniss der Gemeine einzäunen, weil
sonst dem Vieh die gemeinschaftliche Weide geschmälert wird.
Einzelne Häuser, abgesondert im Felde oder Gebirge liegend,
erinnere ich mich nicht hier angetroffen zu haben. Aber die
Wohnungen der Dörfer selbst sind zerstreut, und bilden un-
geheuer lange, immer durch Gärten, und Ackerstücke unter-
brochene Strassen.
Von Baj^onne bis Itzatzu verlässt der Weg nur sehr wenig
die Ufer der Nive, eines Bergstroms der sich bei Bayonne mit
dem Adour vereinigt.
In der Ferne hat man die Aussicht auf die Pyrenaeen. Die
Larruna, und der Mondarrin,*) ein spitziger, doch wie es scheint
nicht sehr hoher Felsberg, fallen am meisten in die Augen.
*) Monoa, munoa, montoa, Anhöhe, Hügel, arria, Stein. Steinberg.
') Nach „das" gestrichen: „im Herbst".
Das Französische Basquenland. jgc
Auf diesen beiden Bergen, vorzüglich aber amFuss derLarrune,
um die Dörfer Ascaina und Gar herum, giebt es grosse unter-
irrdische Gewölbe , von welchen mir ein Augenzeuge folgende
Anekdote erzählte. Er war auf der Palombenjagd und vermisste
auf einmal seinen Hund. Nachdem er ihn lange gesucht, und
hier und dort nach ihm gerufen und gepfiffen hatte, hörte er ihn
auf einmal tief unter sich in der Erde bellen. Er konnte nicht
begreifen, wie er dort hinuntergekommen se}^ pfiff wieder, und
hörte das antwortende Bellen des Hundes von verschiedenen und
weit entfernten Orten schallen. Er schloss daraus dass eine grosse
unterirrdische Hole an dem Orte se3^n müsse, und entdeckte wirklich
endlich ein senkrecht hinuntergehendes sehr tiefes Loch, in das
der Hund, glücklicherweise ohne sich zu beschädigen, hinunter-
gefallen seyn musste. Da er sah, dass er ihn ohne andervv'eitige
Hülfe nicht retten konnte, ging er nach Hause, einen Korb zu holen,
um ihn an einem Seile in die Hole hinunterzulassen. Er erzählte
dort seinem Grossvater, einem steinalten Greise, die Geschichte;
dieser schüttelte aber mit dem Kopf und zweifelte an der Rettung
des Thiers. — Und warum, war die Frage? — Warum? weil es
dort ganze Dörfer im Berge giebt. — Dörfer unter der Erde? —
Sicherlich. Ich habe oft von alten Leuten gehört, die es wieder
von ihren Vätern und diese von den ihrigen gehört hatten, dass
unsere Vorfahren, als die Römer sie zu unterjochen strebten,
denn gelungen ist es ihnen nie, diese unterirrdischen Gewölbe
anlegten, umihreVorräthe, ihre Kranke, Greise, Weiber und Kinder
dahin zu flüchten. — So lautet die Volkstradition über diese Holen;
und an sich sind unterirrdische Kornspeicher, besonders in Italien
und Spanien, nichts seltenes, wenn der Volksglaube auch die Grösse
und das Alter dieser übertrieben hätte. Der Hund wurde indess,
trotz der Zweifel des guten Alten, auf die gesagte Weise gerettet.
Die Jagd der wilden Tauben [palombes, oder ramiros) deren
ich eben erwähnte wird hier auch ohne Hunde, auf eine sonder-
bare Weise gemacht. Man stellt in einiger E!ntfernung hinter
einander 3, 4 Arten von Gerüsten auf, deren jedes aus drei 40 bis
50 Schuh hohen pyramidalisch an einander gelegten Stangen
besteht, die oben einen Korb tragen, zu welchem man auf Pflöcken,
die aneiner der Stangen angebracht sind, hinaufsteigt. Ein solches
Gerüst heisst im Gascognischen Dialect (denn diese Jagd ist der
Gegend, nicht den Basquen eigen) pentiere^ und man legt sie
immer so an dass ungefähr 50 Schritt davon zur Seite parallel mit
jg(5 I- Die Vasken.
ihnen eine Reihe Bäume steht, zwischen denen Netze aufgestellt
werden. Zur Zeit der Jagd steigt nun in jeden der Körbe der
Pentieren ein Mensch, und andre halten sich in kleinen Hütten
neben den Bäumen versteckt, wo sie an Seilen die Netze herunter-
ziehen können. Wie ein Zug Tauben ankommt, werfen die Leute
in den Körben aus der Höhe Stücke Holz auf sie; die armen
Thiere, dadurch geschreckt und vielleicht in der Meynung dass
Raubvögel auf sie herabschiessen, flüchten sich gegen die Erde
und die Bäume zu, und fallen meistentheils in so dichten Haufen
in die Netze, dass man nicht selten in Einem Tage hundert und
mehrere Paare fängt.
Itzatzu füllt mit seinen zerstreuten Häusern ein kleines rings
von Bergen umschlossenes Thal an. Das Pfarrhaus, in dem ich
wohnte, liegt gerade der romantischsten Seite des Thals, einer
engen Gebirgsschlucht,^) aus welcher die Nive, von Baigorry her-
kommend, mit Brausen hervorströmt, gegenüber. Neben derselben
sind zwei mächtige Bergseiten, vor denen der Hartza,*) ein Berg
voll eckiger schroffer Klippenspitzen, vorsteht. Ein sanfter Abhang,
mit Heidekraut bewachsen, und von Castanien und Nussbäumen
überschattet, führte von dem Hause nach der Kirche hin, und vor
den Fenstern^) standen einige Reihen schöner und grosser Pappeln.
Von den Tagen, die ich in dieser friedlichen Wohnung zubrachte,
werde ich zwar hier nicht gerade viel zu erzählen haben; aber
ihr Andenken wird nie in meinem Herzen verlöschen. Der Be-
sitzer derselben, ein ehrwürdiger Greis, hatte die fünfzig Jahre
hindurch mit unverbrüchlicher Treue geführte Seelsorge der Gemeine
seinem Nachfolger übergeben, um hier seine Tage in Ruhe und
Einsamkeit zu beschliessen. Aber noch genoss er in gleichem
Masse die Achtung und Liebe seiner Pfarrkinder und erst kurz
als ich dort war, hatten sie unaufgefodert die etwas steile Anhöhe
vor seinem Hause geebnet und für seine alternden Kräfte ersteiglicher
gemacht. Unausgesetzt aber war er auch die ganze Zeit seiner
Amtsführung hindurch ihr Wohlthäter und Rathgeber gewesen.
*) Für diejenigen, welche bei diesem Bergnamen an das altdeutsche Hart oder
Harz denken möchten, bemerke ich hier, dass ich im Vaskischen keine Spur dieses
Wurzelworts finde. Artza, labortanisch Hartza heisst dagegen der Bär, und dies
Wort scheint, so wie das Irländische Art, mit dem Griechischen a^tcxos zu Einem
Stamme zu gehören.
^) „Gebirgsschlucht" verbessert aus „Gebirgsschluft".
^) Nach „Fenstern" gestrichen : „der friedlichen Wohnung".
Das Französische Basquenland. fg-y
Denn es ist Sitte bei den Basquen, dass der Pfarrer auch zu allen
wichtigeren bürgerlichen Angelegenheiten des Lebens zugezogen
wird, und dadurch werden seine Geschäfte manchmal so mannig-
faltig, dass er kaum Zeit findet, damit fertig zu werden. Die
Sitten der Basquen vorzüglich in dieser Gegend sind noch patri-
archalischer, und nähern sich noch mehr dem ursprünglichen
Zustande der Gesellschaft, als die in Biscaya; und noch jetzt bleiben
sogar einige Spuren von der ehemaligen Rohheit und Wildheit
zurück. Vor nicht länger als 150 Jahren ging noch — nach des
alten Harambillets (so hiess der edle^) Greis) Versicherung — der
Pfarrer in Hartza jedesmal mit dem Carabiner auf der Schulter
in die Kirche, und vor etwa 100 wurde nach einem ebendaselbst
in seiner eignen Stube geschossen.
Nie habe ich in einem Greise eine so liebenswürdige, durch
nichts gestörte Heiterkeit, eine solche Aufgelegtheit zum unterrichten-
den Gespräch und zu jeder, auch weit über den Kreis seines be-
schränkten Lebens hinausgehenden Untersuchung, eine so herz-
liche Theilnahme an jedem unschuldigen Vergnügen, mit Einem
Wort einen solchen Geist ächter Duldung und wahrer Humanitaet
gesehen, als in dem wackeren Harambillet. Das lebhafteste Interesse
hatte natürlich unter allen Gegenständen seine Nation für ihn, und
alles was nur irgend zu ihr gehörte. Er gerieth in eine Art von
Begeisterung, wenn er von ihr, ihrem ehemaligen Ruhm und ihrer
Sprache redete, und rührend war es, ihn, der selbst am Rande
des Grabes stand, über das allmählige Verhallen der letzteren
klagen zu hören. Er erinnerte sich mit sichtbarer Freude alter in
seiner Jugend gelernter Lieder, konnte Stunden lang sitzen, um
sich mit andern halb vergessener Weisen und Strophen zu erinnern,
und wusste immer mit dem richtigsten Geschmack ächte Töne des
Volks ^) von späteren Nachbildungen, aus fremden Sprachen ge-
nommen, zu unterscheiden, unglücklicherweise war sein Gedächt-
niss nur so schwach geworden, dass er gewöhnlich nur noch die
Anfangsworte und allenfalls die Melodieen zurückzurufen vermochte.
Eins seiner vorzüglichsten Steckenpferde war die Etymologie,
Dl s Ländchen Labourd hat nach ihm nicht seinen Namen von
Lapurdia, Räuberhaufen, sondern von den vier Flüssen, die es
bewässern, dem Adour, der Nive, Nivelle und Bidouse; da der
') „edle' verbessert aus „ehrwürdige".
^)l^Nach „Volks" gestrichen: „das Auf be [wahrte?]".
l88 I. Die Vasken.
Name aus Laur, vier, und ura, Wasser, Strom, zusammengesetzt und
dazwischen nur des Wohlklangs wegen ein h eingeschoben ist.
Ueber die Ableitung des Namens seines Wohnorts hat er
eine eigne Meynung. Es ist auffallend dass Itzatzu mitten im
Lande liegt und Ifsatsoa (auch Ichasoa) auf Vaskisch das Meer
heisst. Harambillet vermuthet, dass vielleicht die Nive bei ihrem
ersten Durchbruch hier in dem eng umschlossnen Thal einen See
gebildet habe, der den ersten ankommenden Bewohnern das Meer
geschienen. — Ich selbst dachte bei diesem Namen einen Augen-
blick an die von Bergen umschlossene Lage des Orts und leitete
es von IcM, einschliessen, ab. Allein genauere Kenntniss der
Sprache führt auf die einfache Bedeutung eines Haufens von
Häusern. Denn ühea wird häufig für ec/iea, Haus, gesagt, und
tsua ist die gewöhnliche Endigung der Eigenschaftswörter, die eine
Menge andeuten. Ganz ähnliche Zusammensetzungen sind Ichagoya,
Hausgipfel, Dach, Icharguia, Hauslicht, Fenster, und auch andre
Dörfer in Biscaya, von denen mir eine solche eingeschlossene
Lage nicht bekannt ist, heissen Ichaso, Ichasendo u. s. f. Die
Aehnlichkeit des Namens mit [dem] des Meers ist daher entweder
zufällig, oder rührt aus einer tiefer liegenden Etymologie beider
her, in die es jetzt nicht der Ort ist einzugehen.
Die Vorliebe des guten Greises für seine Ableitungen machte
ihn aber gegen die Schwäche vieler darunter nicht blind. Dies
bewies er mir noch am Tage meiner Abreise. Wir hatten schon
am Abend vorher von einander Abschied genommen, weil ich
des andern Morgens sehr früh fortreiten wollte. Er kam aber
doch noch zu mir, und zwar, wie er mir ankündigte, mir eine
Warnung auf den Weg mit zu geben. Wir haben, sagte er, viel
et^'mologisirt in diesen Tagen, und Sie haben vieleii meiner Ab-
leitungen Beifall gegeben. Trauen Sie aber nicht zu sehr. Ich
konnte diese Nacht lange nicht einschlafen, und versuchte die
Namen aller Könige von Frankreich, von Chlodowig an bis auf
die Bourbons herab, aus dem Vaskischen abzuleiten, und es ge-
lang mir wirklich mit allen leidlich gut. Man scheint daher doch
nur sehr oft zu finden, was man selbst hineingelegt hat. —
Glücklich für meine Leser und mich, wenn ich ihnen nicht
scheine ^) die freundliche Warnung des ehrwürdigen Alten ver-
gessen zu haben !
*) ISSach „scheine" gestrichen : „weder bis jetzt noch in der Folge dieser
Blätter".
Das Französische Basquenland. i8q
Der kleine aber reissende Nivestrom geleitete mich von
Itzatzu aus in Unter-Xavarra hinein nach einer ehemals hier an-
sehnlichen ^) Kupferschmelzhütte, die aber durch die Spanier im
letzten Kriege zerstört worden ist, und nur eben erst wieder in
Gang gebracht worden war, und die nur schlechthin la Fonderta
genannt wird. Die Mannigfaltigkeit dieses reizenden Weges er-
laubt keine Beschreibung. Zu beiden Seiten der Nive fallen
andere kleine Gebirgsströme in dieselbe, jeder bildet sein eignes
Thal, wo die Thäler zusammen stossen, sind liebliche von Bergen
umschlossene Ebnen. Dabei die Berge schön bewachsen, in den
Thälern und Ebnen üppige Weide , und überall Gebirgswasser
und Quellen die unter den Füssen des Wandrers hervorzusprudeln
scheinen; bald in schäumendem Sturz von den Höhen herab-
rollend, bald sanft hingleitend durch die Wiesen und Ackerstücke.
Dabei ist das Gebirge reichlich mit ländlichen Wohnungen be-
setzt; die Häuser der Dörfer liegen auch hier weit zerstreut, und
hie und da ragt unter ihnen auf einer schroffen Felsenspitze ein
halbverfallener Thurm hervor.
Fast überall fand ich die Landleute mit dem Behacken des
Türkischen Korns beschäftigt. Diese Kihtil {Arfojerratu)*) ist die
*j Artoa heisst jetzt Mais, und Maisbrod zum Unterschiede des Waizenbrotes
Oguia. Ursprünglich bedeutete es jede Art des Getreides. Die Aehnlichkeit mit
aotof ist in die Augen fallend, es ist aber wahrscheinlich, dass beide von dem Begriff
des Pflügecs, Ackerns herkommen, Vaskisch Areatu, Griechisch aQOvu. Eben so ist
im Irländischen araim, pflügen, und aran, Brod, und im Galischen aradh imd aran
in denselben Bedeutungen. Im Gothischen arian, pflügen, ar, Getreide. Man ver-
gleiche was ich über die Ableitung von areatu, arare, S. 8l. sagte. Ist dies richtig,
so ist der Begriff" welcher diese Wörter bestimmt hat, der der ordentlichen und künst-
lichen Arbeit, das anschauliche Bild der Einbildungskraft die gerade aneinander ge-
reihte Lage der Furchen. Arare hiess ursprünglich arbeiten und zwar nicht bloss
mit Gewalt und Kraft, sondern mit Fleiss und Ordnung (daher die abgeleiteten Begriff'e
von ars, uoEiri), artoa -j hiess das nur künstlich und durch Fleiss gewinnbare 'j Ge-
treide (wirklich wächst unser Rocken und Weizen in nur irgend essbarer Gestalt
nicht wild), ferner artoa und aoro£ das aus dem künstlich gewonnenen Getreide ge-
machte Brod. So tief liegt es in der Sprache dass das Feld nur im Schweisse des
Angesichts bebaut wird und der Ackerbau die erste Stufe der Civilisation ist. — Dass
auch die Wurzel von panis dem Vaskischen nicht fremd ist, zeigen die Vaskischen
Wörter Pamichia, eine Art kleinen und dünnen Brotes, und Pampuleta, ein rundes
Brot. — Oguia scheint mit keinem noch in andern Sprachen üblichen Wortstamm
verwandt.
M Nach „ansehnlichen'^ gestrichen: „von Genfer [?]".
^) Nach „artoa" gestrichen: „acno-,".
') „gewinnbare" verbessert aus „gewonnene".
lyo
I. Die Vasken.
hauptsächlichste in dem Basquischen Landbau, so wie der Mais,
nebst den Kastanien, fast die einzige Nahrung der NiederNavarrons
ausmacht. In Sprichwörtern, Liedern und Erzählungen geschieht
ihrer daher oft Erwähnung.
Der Mais wird sehr weitläuftig gesäet. In die Zwischenräume,
die oftmals behackt werden, pflanzen sie Bohnen, Rüben und
andres Gemüse, und bearbeiten jedes Ackerstück mit einer Sorg-
falt und Zierlichkeit, die es einem Blumengarten ähnlich macht.
Die Arten den Mais zu essen sind verschieden. Theils bereiten
sie einen Brei daraus und essen diesen entweder frisch , oder
backen ihn, und schneiden ihn in Stücke. Theils machen sie
ßrod daraus. Da dies aber immer fest, feucht und kuchenartig
bleibt, so essen sie es selten, wie wir das unsrige, sondern schnei-
den es in schmale Scheiben, rösten diese auch einmal am Feuer,
belegen sie auch wohl mit Schinken. Alsdann nennt man sie
Chingarra.^) Manchmal auch nehmen sie ein Stück Maisbrod,
machen es am Feuer warm, thun Käse dazu, und kneten es nun
in den Händen zu einer Kugel. Eine solche Kugel heisst Mara-
kukia und auf diese Weise bereiten sie gewöhnlich ihr Frühstück.
Es schmeckt nicht übel, nur kommt viel auf die Hände an, die
es machen. Solange die Kastanienzeit dauert, also vier Monate
hindurch, macht diese Frucht Morgens und Abends die einzige
Speise des NiederNavarrischen Landvolks aus. Mittags essen sie
eine Brühe von Bohnen, ohne alles Fett, aber mit vielem rothen
Pfeffer. Fleisch, etwa Schinken ausgenommen, und Weizenbrod
sieht man nur in den Häusern der Vermögenden.
Kastanienbäume, wie hier, erinnere ich mich fast nirgends
gesehn zu haben. Sie kommen fast den Eichen an (Grösse gleich
und ihre vielfach über einander starrenden '•^) Wurzeln liegen, ^)
wie ein labyrinthisch verschlungenes Geäder auf dem felsigten
Boden, und fugen sich in die Ritzen der Felsen ein.
Eine eigne Art die Milch zu kochen bemerkte ich in Unter-
Navarra und dem Ländchen Labourd. Statt sie ans Feuer zu
setzen, werfen sie glühende Kiesel hinein. Sie wallt augenblick-
Hch davon auf, und erhält einen brenzlichten Geschmack, den aber
das Volk zu lieben scheint.
') N(3cA „Chingarra" gestrichen: „Eine andre Art der Zubereitung ist die".
^) „starrenden" verbessert aus „geschlungenen" aus „geäderten".
') „liegen" verbessert aus „starren".
Das Französische Basquenland. IQI
Auf den heitren Morgen an dem ich den romantischen Weg
bis zur Fonderia zurückgelegt hatte, folgte ein dunkler und trüber
Abend. Von allen Seiten hatten sich Wolken erhoben, und als
ich am Nachmittag von la Fonderia aus über das Gebirge nach
Roncesvalles ritt, war schon fast der ganze Himmel bedeckt. Ich
kam kurz vor Sonnenuntergang auf dem Port des Gebirges,
zwischen dem Mispira, Mispelnberg, und dem Naharrestoa an,
die untergehende Sonne erleuchtete noch den äussersten Horizont,
und rund um ihn herum lief ein schmaler weisser Streifen, der
mich noch die fernen Gebirge sehen Hess. Das Nivethal, und die
Wälder der niedrigeren Berge standen in magischer Beleuchtung,
wie Decorationen einer Schaubühne da. Kaum aber war die
Sonne hinter die fernsten Gebirge getreten, so umzog mich ein
dicker Nebel. Ich unterschied nichts mehr , als nur die aller-
nächsten Gegenstände , hohe Bäume , Felsstücke , die plötzlich
finster und schauerlich vor mir da standen. Aus der Ferne tön-
ten dumpf die Glocken des w^eidenden Viehs und das Rufen und
Pfeifen der Schäfer her. So musste ich noch einige Stunden
reiten, ehe ich die Abtei erreichte.
Ich bewunderte die Geschicklichkeit meines Führers, eines
jungen Basquen, in diesem undurchdringlichen Nebel den wenig
betretenen Fusssteig, der oft ohne alle sichtbare Spur nur über
dem Rasen hinging, zu finden. Allein mit der seinem Volke so
eignen Behendigkeit schritt er in seiner rothen Jacke, und platten
Bearner Mütze, seinen Stock in der Hand, mit vorwärts gebognem
Leibe, und aufgehobenem Kopf meinem Maulthier voran, und
spürte jedem leisesten Geräusche nach und achtete auf jedes noch
so unbedeutende Kennzeichen des Weges.
So stiegen wir noch beträchtlich höher, theils über freie Vieh-
weiden, theils durch einen dicken Buchenwald. Auf der höchsten
Höhe erreichten wir die Spanische Gränze. An diesem Ort, den
ich am andern Morgen wiedersah, steht gerade auf dem Kamme
des Berges, wie auf einem Sattel die Kapelle von Ibarrieta, und
das Gebirge sendet von hier seine Quellen zu beiden Seiten dem
Oceane und dem Mittelmeere zu. Von der Kapelle selbst sieht
man jetzt nur noch die Mauern, da sie im letzten Kriege zerstört
worden ist.
Ich besuchte Roncesvalles ^) um die Reliquien Rolands und
1) 'Nach „Roncesvalles" gestrichen: „die Abtei".
JQ2 I. Die Vasken.
das SO oft besungene Schlachtfeld zu sehen. Allein beides belohnt
den beschwerlichen Weg dahin nicht. Das Schlachtfeld ist eine
Ebne zwischen der Abtei und dem Spanischen Dorfe Burguet,
das eine halbe Stunde davon entfernt ist. Die Ueberbleibsel des
fabelhaften Ritters werden jetzt, ohne alle Feierlichkeit, in einem
hohen und festen Gewölbe der Kirche aufbewahrt, und bestehen
in einem grossen zerbrochenen Steigbügel, zwei Keulen, zwei
Stücken des zerbrochenen Horns, und dem vergoldeten Kranz
den man in der Schlacht dem Heere vortrug. Das Schwert haben
die Franzosen im letzten Kriege mit fortgeführt. Die Keulen sind
gerade, oben und unten gleich dicke Stöcke, etwa eines Armes
lang, an denen oben an einer Kette von 4 bis 5 Ringen eine
schwere eiserne mit mehreren Kanten versehene Kugel hängt.
Unten hat der Stock einen eisernen Ring zum Handgriff. Zum
Andenken ^) der Schlacht wir J noch jetzt alle Jahr ^) eine feier-
liche Seelenmesse für die in derselben Umgekommenen gelesen.
An demselben Tag ist Markt im Ort, und allgemeine Lustbar-
keit. Nur zu tanzen erlauben die strengen Bewohner der Abtei
nicht.
Ein finstrer aber herrlicher Buchwald führte mich von der
Höhe des Gebirges nach St. Jean pic de port herab. Der oft
schneckenförmig geleitete Weg ändert fast mit jedem^ Augenblicke
die Scene, bleibt aber überall gleich romantisch und wunderbar;^)
wolkenanstrebende Bäume mit moosbewachsenen Stämmen, wilde
Felsmassen in vielfachen Geschieben über einander gethürmt und
auf jeder Etage üppig mit Gesträuch überhangen; in der Tiefe
des Thals ein brausender Strom, von der Höhe herab unzählige
kleine Quellen ihm schäumend und rauschend entgegeneilend;
dabei lange Züge von Eseln und Maulthieren mit iliren Treibern
in mannigfaltigem Gedräng und Gewühle.
Es führen zwei Wege von Roncesvalles nach St. Jean, einer
über den Orisson; der andre über den Luzarie. Ich wählte den
letzteren. Ehemals ging die grosse Heerstrasse von Frankreich
nach Spanien immer über St. Jean und Pampelona.
St. Jean mit seinem schwarzen Thurm und seiner viereckten
Citadelle erscheint schon aus der Ferne. Es liegt mitten in einer
^) „Zum Andenken" verbessert aus „Am Jahrstage"
2) „alle Jahr" verbessert aus „immer''\
*) Nach „wunderbar" gestrichen: „hier
Das Französische Basqyenland. ig^
weiten, aber überall von Bergen, von hohen gegen Spanien, von
niedrigen gegen Bayonne und St. Palais zu umschlossenen Ebene,
in welcher sich die Nive durch das Zusammenkommen von drei
kleinen Gebirgströmen bildet.
Freundlich wie die Lage des Städtchens ist der Anblick des
Volks. Man braucht diese NiederNavarrer nur in ihrer reinlichen
und zierlichen Tracht, mit ihren weissen Strümpfen, leinenen
Beinkleidern und Weste von gleicher Farbe, rother Scherpe und
Jacke, ihrem Stock und ihrer flachen Tuchmütze herumgehen zu
sehen, um zu fühlen, dass sie ein frohsinniges, immer heitres,
gutmüthiges, aber mehr dem Vergnügen als der Arbeit ergebenes
Volk sind. Ihr Blick, ihre Haltung, vor allem aber ihr Gang ist
das Bild kecker und kraftvoller Behendigkeit. Die Leichtigkeit
mit welcher ihnen — da sie sich nur auf Viehzucht legen — der
Verkauf ihres Viehes, ^) ohne merkliche Verringerung ihres Eigen-
thums, baares Geld verschaft, nährt ihren Leichtsinn und ihren
Hang zum Vergnügen. Sie verkaufen ihr Vieh, meist Hammel,
grösstentheils an die Bearner, die, industrioser als sie, es fett
machen, und Handel damit treiben.
Die Bewohner der Soule, des letzten Basquischen Ländchens,
das mir zu durchwandern übrigblieb, unterscheiden sich durchaus
von ihren übrigen Mitbrüdern.
Sie nennen sich selbst die Italiäner unter den Vasken, glauben
mehr Geschmack und Feinheit als ihre Landsleute zu besitzen,
und haben durch alle Stände hindurch einen entschiedenen Hang
zu Poesie und Musik. Schade nur, dass dieser Hang in einem
Völkchen, dem es an allen interessanten Nationalgegenständen
fehlt, seine Einbildungskraft zu begeistern, fast nothwendig zu leerer
Tändelei und poetischem Geschwätz ausarten muss; und schader
noch mehr, dass der Dialect der Souletaner weit mehr mit frem-
den Worten vermischt ist, als der der übrigen Vasken. Ihre
Aussprache ist zwar sanft und hat etwas flötendes, steht aber
auch, vorzüglich durch die durchgängige Verwandlung des u in «,
an Kraft und Ausdruck nach. In der That kann man, so gross
auch die Anhänglichkeit der Bewohner der Soule an ihre Nation
ist, da sie nicht einmal gern Heirathen mit den Bearnern eingehn,.
dieselben doch als eine Art Uebergang von den Vasken zu den
Gascognern, oder — wenn man mehr auf die Aehnlichkeit des
1) l^ach „ Viehes" gestrichen : „an ihre Nachbarn die Bearner (aus „in Bearn
hinein''')".
W. V. Humboldt, Werke. Xm. 13
jQ^ I. Die Vasken.
Charakters, als die geographische Lage sieht — mehr ^) noch zu.
den Provenzalen ansehn.
Die Soule ist der einzige Ort wo noch fortdauernd Basquische
Schauspiele aufgeführt werden. Man nennt sie hier Pasforales,
aber sie sind nicht immer Schäfergedichte, sondern viel eigent-
licher sogenannte Staatsactionen, in denen Könige und Kaiser auf-
treten. Rolands Thaten spielen darin besonders oft eine grosse
Rolle. Die Schauspieler sind junge Leute beiderlei Geschlechts
die meistentheils nicht lesen können; diese werden von Leuten,
die man Institiiteurs des acteurs des pastorales nennt, die aber ge-
wöhnlich auch Bauern sind, unterrichtet. Der Lehrer ist, nach
acht antiker Sitte, auch meistentheils der Verfasser des Stücks.
Die Aufführung geschieht unter freiem Himmel, in Mauleon, dem
Hauptorte, gewöhnlich auf dem Spatzierplatz der Stadt, einer
hohen schattigen Lindenallee, der Vortrag ist theils singend, theils
recitirend, der Zutritt ist unentgeldlich, die Fremden, gegen welche
die Souletaner überhaupt sehr zuvorkommend sind, nehmen dabei
den ersten Platz ein. Auch Dichten aus dem Stegereif über jeden
gegebenen Gegenstand ist hier nicht ungewöhnlich.
Auch der Feldbau in der Soule zeichnet sich durch Sorgfalt
und Ordnung aus. Die zierlich bepflanzten Maisfelder gleichen
den Gartenbeeten, und dadurch wird der Blick auf die reich-
bewachsene Ebne von der Citadelle von Mauleon überaus reizend.
Auf der Brücke der Stadt ist ein schöner Wasserfall. Ein Bach
stürzt sich ^) aus zwei Mühlengewölben in den Gave de Saison,
der die Ebne von Mauleon durchschneidet und sich dann mit
dem Adour vereinigt.
Auf dem Wege von St. Jean nach Mauleon hatte ich zum
letztenmale meine Blicke auf die hohe Pyrenaeenkette und die
beschneiten Gipfel der Berge von Jacea gerichtet. Als ich die
Soule verliess nahm ich von den Gebirgsthälern der Vasken Ab-
schied, und wie ich bei mir von neuem die verschiednen Cha-
rakterabstufungen dieses kleinen, aber in sich so vielfach nüan-
cirten Volkes durchging, glaubte ich die Ueberbleibsel einer grossen
Nation zu erkennen, die vielleicht ehemals zu beiden Seiten der
Pyrenaeen und vielleicht weiter hin, diesseits und jenseits der
Alpen, die Länder besass von denen sie nun in das Gebirge ver-
') „mehr" verbessert aus „besser".
*) „Ein — sich" verbessert aus „den ein Bach bildet, der".
Das Französische Basquenland. Iqc
drängt ist, das allein ihr noch wirthlichen Schutz verheisst. Der
wackre und kraftvolle, aber rauhe Vizcayer, und der weichliche
Souletaner, in dem der Geist provenzalischer Troubadours wieder
erwacht scheint, reden Eine Sprache, und sind nur durch wenige
Tagereisen getrennt; nahe liegende Districte benennen dieselben
Dinge mit verschiedenen und doch derselben Sprache angehörigen
Namen; fast benachbarte Ortschaften verstehen sich mit Mühe
und erkennen sich doch als Brüder einer und eben derselben
Nation an. An entfernten Küsten Spaniens, Frankreichs und Ita-
liens haben sich von Geschlecht zu Geschlecht Namen von Bergen,
Flüssen und Städten erhalten, die offenbar Vaskischen Ursprungs
sind. Bedarf es mehr, um zu beweisen, dass Vaskische Stämme
ehemals weite Landstriche besetzt hielten, dass aber, nach und
nach von allen Seiten zurückgedrängt, zuletzt diejenigen Nachbarn
wurden, die erst grosse Räume von einander trennten.'*
Diese sichre, wenn gleich dunkle Stimme der Geschichte ist
unverkennbar. Wer sie aber weiter befragen, wer das wo? und
das Wann? und das Wie? näher erkunden will? dem verstummt
sie, und er hört nur den leeren Nachhall seiner eigenen Frage
zurückschallen. ^)
Durch den glücklichsten Zufall hat sich Humboldts Manuskript der baskischen
Reisebeschreibung, dessen rätselhafter Verlust noch Band 7, 6oj^ beklagt wurde,
wiedergefunden: in seiner jetzt auf Schloss Günthersdorf in Schlesien, wohin sie
von Ottmachau übergeführt wurde, aufbewahrten Bibliothek fand ich bei einer
genaueren Durchsicht die buchartig in Pappe eingebundene Handschrift mitten
unter den gedruckten Büchern. Die äussere und innere Geschichte des Werkes
habe ich bereits Band j, J75 in Kürze dargestellt (vgl. auch Band 7, 60^): seine
Entstehung teilweise in Berlin, teilweise in Rom wird durch die Verschiedenheit
des verwendeten Papiers bestätigt. Nur ein Punkt bedarf noch einer kurzen
Erörterung, die Beziehungen unsres wiedergewonnenen Textes zu den Band g,
114 abgedruckten „Cantabrica" und zit den gleichzeitigen Briefen an Karoline.
Dass die „Cantabrica" nicht, wie ich früher (Band ^, ^j2) angenommen
hatte, in unmittelbarem Anschluss an Humboldts grosse spanische Reise im Sommer
1800 verfasst sind, sondern tatsächlich erst nach seiner Rückkehr von der bas-
kischen Reise im Sommer 1801, obwohl sie sich inhaltlich auf jene erste Reise
beziehen, ist inzwischen durch den Umstand erwiesen worden, dass eine längere
Betrachtung über die Erhabenheit der Eindrücke von Meer und Gebirge in ihrem
gegensätzlichen Charakter im ersten Abschnitt (Band q, 115) mit nur geringen
*) „hört — zurückschallen'^ verbessert aus „ist glücklich genug wenn ihm
nicht der leere .... zurückschallt".
13*
I9Ö
1. Die Vasken.
Änderungen einem Briefe an Karoline vom ^o. April 1801 ( Wilhelm und Karoline
von Humboldt 2, 86) entnommen ist (vgl. auch Euphorion 14, 635). Die andern
Abschnitte beruhen auf Humboldts Tagebuch der spanischen Reise und die
Skizzen sollten einleitende Proben einer spanischen, nicht einer eigentlich baskischen
Reisebeschreibung bilden, wie schon die beständigen Vergleiche der baskischen Ver-
hältnisse mit den kastilischen und katalonischen deutlich zeigen. Einzelne Abschnitte
der „Cantabrica" gingen dann in leise überarbeiteter Form in das Baskenwerk
über: so findet sich die Beschreibung der stürmischen See und die eben erwähnte,
daran sich anschliessende Betrachtung über Meer und Gebirge (Band ß, 115)
oben S. 29, die Schilderung der Landschaft von Guipuzcoa (ebenda S. 126) oben
S. S5i <^^^ Stelle über die Geschichte von Vitoria und die Etymologie des
Namens sowie die Beschreibung des Marktplatzes und der Magdalena Tizians
(ebenda S. ißz) oben S. 116. Namentlich eine genaue Vergleichung der im
obigen Texte durch Korrekturen veränderten Lesarten mit den entsprechenden
Sätzen der „Cantabrica^' zeigt deutlich, dass überall der Text der letzteren zu
Grunde liegt.
Über Humboldts Reisebegleiter Georg Wilhelm Bokelmann, dem das Werk
gewidmet werden sollte, einen jungen Kaufmann, der im Frühjahr 1801 von
Hamburg über Paris nach Cadiz reiste, um dort das Geschäft seines verstorbenen
Schwagers zu übernehmen, orientiert Ludmilla Assing, Aus Raheis Herzensleben
S. 127.
Jena, 12. Januar igi^.
Albert Leitzmann.
2.
Zwei amtliche Berichte aus der römischen Zeit.
a. Über die Republik der sieben ionischen Inseln
(Rom, 27. Juli 1805).
II y a plusieurs mois que V. M. me fit la grace de me demander
des renseignements statistiques sur Tetat de la Republique des Sept
lies et d'en faire l'objet d'un rapport separe que j'adresserois au
Departement des affaires etrangeres. Je ne manquai point des le
moment que je recus cette commission de m'entourer des meilleurs
ouvrages ecrits sur ce sujet et de recueillir en meme tems de
donnees plus authentiques encore de personnes qui avoient quel-
ques relations avec ce pays. Mais voyant que je manquai abso-
lument apres tout cela encore de renseignements sur le point le
plus essentiel, c. v. d. sur les revenus de l'Etat et que meme ceux
sur Tapplication varioient extremement entr'eux, je tächai de me
procurer du pays meme les notions par lesquelles je puisse com-
pleter et rectifier Celles que j'avais acquises jusques lä, et ce n'est
qu'apresent que j'ai pü les obtenir et que je me vois en etat de
remplir les ordres de V. M. Elle daignera trouver reunis mainte-
nant dans le memoire ci-joint tout ce qui regarde la population,
le commerce, la grandeur, la position geographique et les revenus
de la petite Republique des Sept lies, et je crois pouvoir me flatter
que les donnees qui y sont contenues, sont exactes et peuvent servir
ä rectifier Celles des ouvrages imprimes, surtout celui du Sr. Seru-
fani sur le meme objet. M Je n'ai pas cru devoir entrer dans un
^) Ein Werk dieses Autors wird in der Literaturübersicht bei Rodocanachi,
Bonaparte et les ilcs ioniennes 1797 — 18 18 (Paris l8gg) nicht genannt.
198
2. Zwei amtliche Berichte aus der römischen Zeit.
long detail sur la Constitution ^) de la Republique, puisqu'outre
qu'elle est imprimee, eile. est un vain simulacre et que la Cour
de Russie dispose de tout absolument comme si le pays n'etoit
tout simplement qu'une Province Russe.
V. M. daigne observer avec infiniment de justesse dans son
tr. gr. Rescript que les Sept Des peuvent etre facilement un des
objets de discussion ä la paix que l'Europe desire avec tant d'im-
patience, et j'ose Lui demander la permission de faire ä ce sujet
quelques reflexions, que je n'ai pas cru devoir joindre au Memoire
Statistique.
Quand on considere la petitesse des iles qui forment la Re-
publique Jonienne, le nombre peu considerable de leurs habitans
et la modicite des revenus qu'elles fournissent, on voit du premier
coup d'oeil qu'elles ne peuvent gueres etre un objet important
pour un Souverain, pour formef pour ainsi dire un seul domaine.
II n'est donc point probable que les Puissances qui s'interessent
au sort du Roi de Sardaigne, veuillent, comme le bruit en a
courru plusieurs fois, lui assigner ce pays^) comme un objet
d'indemnite, et il est fort douteux si au cas qu'ils le voulussent,
11 trouveroit bon d'accepter une possession dont la position geo-
graphique — ces lies etant eparses sur une etendue de pres de
trois degres — le caractere mutin et revolutionnaire des habitans
et le voisinage des Turcs rendroient l'administration deja peu lucra-
tive en elle-meme, ä la fois incommode, difficile et dangereuse.
II faudroit au moins qu'on lui cedat encore une partie des cötes;
mais aussi dans ce cas cet Etat manqueroit toujours d'un centre
commun et de forces süffisantes pour se defendre seul contre les
pillages et les vexations des peuples voisins et des Pachas qui
l'environnent. ^) Si l'Ordre de Malthe ne s'eloignoit' pas entiere-
^) Vgl. die eingehende Darstellung bei Rodocanachi S. ij^. Die Grund-
gedanken der Konstitution sollen unmittelbar auf Alexander I. zurückgehen (vgl.
den Eingang der Denkschrift von Capo d'IstiHa, 5. August 18 r 4, ebenda S. 2^iJ;
ein Druck aus diesen Jahren ist dort nicht genannt.
^) Nach Carutti, Storia della corte di Savoia 2, 12g hat Napoleon i8oßl4 die ioni-
schen Inseln Viktor Emanuel I. als Entschädigung angeboten ; vgl. Rose, Napoleon I.
I, jgg deutsche Ausgabe. Rodocanachi S. 175 zitiert eine türkische Note vom Oktober
lygS, in der u. a. der Vorschlag gemacht wurde „d'attribuer les iles ä une puissance
de second ordre, qui ne pouvait etre que le royaume de Naples", wobei nicht deutlich
wird, ob die Nennung Neapels auf dem Text der Note oder auf Kombination beruht.
*) Humboldt berührt damit eine entscheidende Lebensfrage der ionischen
Inseln. Venedig hatte an der Küste von Epirus in Butrinto, Parga, Prevesa und
a. Über die Republik der sieben ionischen Inseln. IQQ
ment du but de son Institution en quittant les cötes barbaresques
et en se mettant dans une position, dans laquelle incapable de
lutter avec succes, il devroit necessairement etablir des rapports
d'amitie avec les Infideles, cette possession conviendroit infiniment
mieux ä cet Ordre , qui ne peut plus former des pretentions ä
etre un Etat proprement dit et duquel eile pourroit servir ä
suppleer en quelque facon ä tant de Prieures supprimes. ^)
11 est cependant ä remarquer que les lies de Malthe et de
Gozo ont plus de la moitie des habitans que les lies loniennes,
puisqu'on y compte 150 milles, tandisqu'ä ces dernieres on n'arrive
qu'ä 220 milles. -) L'interet qu'on attache; ä la Republique des Sept
lies consiste tout entier dans la position, mais sous ce rapport
ces lies sont si importantes que leur veritable destination politique
est Sans doute d'appartenir ä une des grandes Puissances, qui par
leurs moyens puissent exercer une influenae sur la navigation et
le commerce dans les Mers oü elles se trouvent. ^) Dans la
Situation actuelle de l'Europe, elles ne peuvent etre contestees
qu'entre l'Autriche et la Russie.^) La premiere a seulement l'in-
teret majeur ä ne pas les voir entre les mains d'une autre grande
Puissance, mais la derniere peut retirer de plus grands avantages
de leur possession meme. L'obstacle le plus difficile ä vaincre
qui s'oppose ä Tinfluence de la Russie, est Teloignement dans
lequel eile se trouve du Centre de l'Europe. La possession des
Sept lies lui ouvre la possibilite de franchir d'autant plus facile-
Vonitza unentbehrliche Brückenköpfe; die Franzosen vermochten sie gegen den
Pascha von Janitia nicht zu halten und waren damit der ständigen Gefahr einer
wirksamen Blokade preisgegeben (Rodocanachi S. lO^J; noch 181^ hat Capo
d'Istria wiederholt versucht, den Inseln mit russischer Hilfe den Küstenstreifen zu
sichern (ebenda S. 2^6. 261).
') Der gleiche Gedanke wird von Capo d'Istria in seiner Denkschrift für
Alexander I. vom 5. Oktober 1814 erörtert und die aus dem Wesen des Ordens
dem Plan entgegenstehenden Hindernisse werden als die entscheidenden hingestellt
(ebenda S. 252I
^) Dieselbe Zahl bei Capo d'Istria (ebenda S. 252).
*) Genau auf das Gegenteil zielt Capo d'Istria in seiner Denkschrift ab,
indem er zwar die Verwaltungsschwierigkeiten, welche einer Macht zweiten Ranges
aus dem Besitz der Inseln erwachsen würden, ebenso wie Humboldt auseinander-
setzt, zugleich aber die Störung des europäischen Gleichgewichts durch ihren Über-
gang in den Besitz einer Grossmacht als notwendige Folge andeutet (ebenda S. 2^4).
*■) Dieser Gegensatz beherrscht noch i8i4ls die russische Politik unter dem
Einßuss Capo d' Istrias; vgl. die ebenda S. 262 gedruckten russischen Depeschen.
200 2. Zwei amtliche Berichte aus der römischen Zeit.
ment cette distance que la Porte peut encore opposer une faible
resistance ä ses volontes et que ses flottes peuvent aller librement
de la Mer noire dans la Mer adriatique; ^) eile peut comme eile
le pratique deja faire de Corfou un arsenal et un depöt de trouppes;
eile peut menacer de lä l'Italie, gener de toutes les facons possibles
le commerce de Venise et prendre insensiblement pied ferme sur
les cötes de la Moree et de l'Albanie, et rendre par lä l'Empire
Ottoman encore plus dependant qu'il ne Test dejä. En tems de
paix le commerce Russe ne gagne pas moins, en trouvant ä
moitie-chemin entre Odessa et le detroit de Gibraltar une
possession Russe oü l'on peut accorder tous les privileges possibles
aux batiments nationaux et en exclure, si l'on veut, tous les
etrangers. Comme l'Empereur Alexandre peut retirer des avan-
tages aussi precieux de la Republique des Sept lies, ce ne pourroit etre
que le fruit d'une moderation extreme de sa part s'il vouloit jamais
se desaisir d'une position dans laquelle la France et l'Autriche,
par la plus grande faute politique possible, l'ont une fois laisse
s'etablir. ^) Si cependant il portoit ce Sacrifice ä la pacification
de l'Europe, les Sept lies pourroient facilement venir sous la do-
mination de l'Autriche. Ni le repos, ni le commerce de l'Europe
ne courroit aucun risque par lä; [l'Autriche] n'y gagneroit pas
meme beaucoup plus que la domination tranquille de l'Adria-
tique, qu'on semble lui avoir laisse en lui cedant Venise; car les
Sept lies etant la Cle de l'Adriatique, le plus naturel est de les
donner ä celui qui doit etre le Maitre paisible de cette Mer. De
cette maniere on oteroit toute importance politique ä ce pays;
en le laissant au contraire ä la Russie, on fourniroit ä celle-ci un
moyen plus puissant de plus pour contrebalancer la puissance
toujours croissante de la France. On pourroit cependant choisir
le moyen-terme, en laissant subsister les Sept lies en Republique
tributaire de l'Empire Ottoman ; mais libre en elle-meme ä l'instar
de la Republique de Raguse.^) Mais un tel etat de choses seroit diffi-
cilement de longue duree. L'une ou l'autre des grandes Puissances
*) Seit Dezember 1806 befanden die Türkei und Russland sich wieder im
Kriegszustand, so dass die russischen Schiffe 1807 den Rückweg durch den Kanai
nehmen mußten (Rodocanachi S. ig^).
2) Der Fehler wurde von Napoleon im Tilsiter Frieden ausgeglichen
f ebenda S. igi).
*) Der Hinweis auf Ragusa findet sich auch in der russischen Antwort-
note vom Februar jygg (ebenda S. jy8).
b. Über Napoleons Orientpolitik. 201
s'arrogeroient bientöt, des que les circonstances favoriseroient leurs
voeux, comme ä present, d'abord une influence et ensuite l'empire
sur elles et surtout dans un tems oü il devient toujours plus diffi-
cile de se garantir par de simples Traites. Un principe des plus
essentiels de faire une paix stable doit etre celui de laisser aussi
peu que possible les positions interessantes entre des mains qui ne
peuvent point les defendre efficacement. Ayant eü occasion de
me procurer un memoire qui contient plusieurs notions statistiques
sur la Republique des Sept lies, je crois bien faire d'en transmettre
ci-joint une copie ä V. M.^)
b. Über Napoleons Orientpolitik
(Rom, 26. März 1806). ^j
Sire,
le General Matthieu Dumas, Chambellan de S. A. I. le Prince
Joseph, qui commandoit les trouppes Francoises envoyees pour
occuper l'lstrie et la Dalmatie Ex-Venitiennes, ^) vient de passer
hier matin par ici pour se rendre ä Naples, et c'est par lui que
nous avons appris la nouvelle que les Kusses, sta-
tionnes ä Corfou, sesont emparesde Cattaro.*) Lecorps
du General Dumas etait arrive jusqu' ä Spalato lorsque 6 vaisseaux
de guerre Kusses, accompagnes de beaucoup de batisseaux de
transport, ayant, si on n'exagere pas le nombre, 10 ä 12000 hommes
de trouppes ä bord, se presenterent devant Cattaro.^) La garni-
*) Die nun folgende statistische Beschreibung der sieben ionischen Inseln
ist hier fortgelassen.
^) Zum ersten Teil der Depesche ist heranzuziehen : Pisani, La Dalmatie de
1797 — 1815 (Paris i8gß), für den zweiten Teil: d'Haussonville, L'eglise romaine
et le premier empire Band 2 (Paris i868), namentlich die Kapitel ig — 22.
*) Dumas war nicht Kommandant der Okkupationstruppen , sondern stell-
vertretender commissaire imperial (Pisani S. i4j Anm. ^).
*) Der Dechiffreur schreibt Spalatro und Cattano für Spalato und Cattaro :
diese Schreibung Humboldts ist im Folgenden ebenso beibehalten wie die großen
Anfangsbuchstaben bei den von Ländernamen hergeleiteten Adjektiven ; vgl. zur
Schreibung der dalmatinischen Ortsnamen ebenda S. XX.
*) Pisani gibt die Zahl der russischen Truppen vor Cattaro nicht an; die
russischen Streitkräfte in der Adria werden nach französischen Quellen in diesem
Zeitpunkt auf 42 Schiffe und 45000 Mann geschätzt (ebenda S. 150).
202 2. Zwei amtliche Berichte aus der römischen Zeit.
son Autrichienne refusa d'abord de laisser debarquer ces trouppes,
mais elles menacerent de bombarder la ville; les Autrichiens se
jetirerent, et les Russes debarquerent paisiblement. ^) Les Mon-
tenegriens se declarerent sur le champ en leur faveur. Les trouppes
Francoises avaient ordre de rester ä Zara et Spoleto, et le General
Dumas, en allant rejoindre le Prince Joseph, en a laisse le com-
mandement au General Molitor. Elles sont au nombre de 4000
hommes environ. ^) Le General Marmont est encore ä Udine.^)
II est inconcevable que les Russes ne se soient pas d'abord en
quittant Naples diriges vers ce cöte: car V. M. daignera voir par
ce qui s'est passe apresent, alors ils se seroient sans coup-ferir
rendus maitre de toute la Dalmatie venitienne, d'oü ä present il
leur sera toujours plus difficile de deloger les Francois. Si cepen-
dant ils entendent leurs interets, ils ne tarderont point ä les
attaquer et s'assureront d'abord de la Republique
de Raguse situee entre Spalato et Cattaro. ^) Dejä avant
l'occupation de Cattaro par les Russes l'Empereur Napoleon se
preparait ä envoyer un grand nombre de trouppes dans ces con-
trees, et on disoit que l'armee de Dalmatie devoit etre portee ä
60 milles hommes. ^) II n'est pas probable qu'il consente jamais ä ce
que les pais qui bordent la mer adriatique au cöte oppose ä l'Italie
restent entre les mains ou sous Tinfluence directe de la Russie.
II est evident et le langage actuel des gazettes francoises meme le
prouve que la possession de la Dalmatie a surtout prix ä ses yeux
ä cause de l'influence qu'il pourra exercer lui-meme par eile sur
TEmpire ottoman, et il semble que c'est cet Empire du Le-
vant vers oü son ambition se tourne dans ce mo-
ment. ^) Si donc il ne se fait pas une paix generale et que la
^) Vgl. die genaue Darstellung der Übergabe Cattaros fPisani S. 157^.
*) Diese Zahl erweist sich nach den Angaben ebenda S. ij^. i8j als un-
gefähr zutreffend für die in den dalmatinischen Kämpfen unmittelbar verwendeten
Truppen.
*) Marmont wurde erst am 12. Juni 1806 zum general en chef in Dalmatien
ernannt (ebenda S. 182).
*) Die Russen begnügten sich mit einer Neutralitätserklärung von Ragusa;
dagegen besetzten es die Franzosen unter Lauriston und hielten dort eine drei-
wöchentliche Belagerung der Russen und Montenegriner aus (ebenda S. 167. 175^.
^) Vermutlich ist diese Zahl viel zu hoch gegriffen; selbst vor dem öster-
reichischen Kriege zu Anfang i8og beliefen sich Marmonts Streitkräße nicht
höher als auf 18000 Mann (ebenda S. 264. go-]).
®) Vgl. dazu Humboldts Charakteristik der Weltpolitik Napoleons bei Geb-
hardt, Wilhelm von Humboldt als Staatsmann i, 75 Anm., ferner Berthiers De-
b. Über Napoleons Orientpolitik. 20"^
Russie et l'Angleterre ne reussissent point a faire une diversion
ä la France dans le nord, il pourras'engager facilement
une lutte sanglante dans la Dalmatie, et les provinces
turcques qui avoisinent l'Italie et particulierement le ro3^aunie de
Naples souffriroient considerablement dans ce cas; car, comme
les expeditions ou executees ou au moins preparees en Grece,
dans l'Archipel, en Sicile et meme ä Malthe, feroient probable-
ment parti de ce plan qui en meme tems embrasseroit toute cette
partie de la Mediterranee, ces pais seroient vexes par des marches
continuelles de trouppes francoises, mais le reste de l'Europe
jouiroit au moins . d'une paix et tranquillite publique. II n'est
peut-etre pas de propos de rapporter ici ä V. M. une anecdote
que je tiens de la bouche de temoins oculaires. La possibilite de
reunir de nouveau l'orient et l'occident etoit dejä avant
plusieurs annees une des idees favorites de l'Empereur Napoleon.
II avait coutume alors de demander: „qui est-ce qui a separe Rome
de Constantinople?" et quand on lui repondit: „ce fut Theodose"
il ajouta: „et qui est-ce qui les reunit?" ^) — un pareil propos prouve
naturellement peu de chose et les plans de l'Empereur Napoleon sont
bien certainement lies ä un büt et des interets plus solides; on
ne peut cependant pas se nier qu'il est dirige en meme tems par
des idees vastes d'ambition et de gloire qui meme paroitroient
souvent difficiles ä croire s'il n'en avoit pas deja realise une grande
partie. — Ici il ne s'est rien passe du nouveau, mais il devient encore
plus interessant, de voir la decision que prendra l'Empereur
puisqu' ayant continue mes efforts pour penetrer le mystere dans
lequel on enveloppe ici les negociations avec la France, j'ai appris
que le Pape ne s'oppose pas seulement, ainsi que j'ai eu
l'honneur de le mander ä V. M. dernierement, ä ce que les
Etats fassent partie du nouveau S3^steme federatif
de la France, mais qu'il met meme des entraves ä Texecution
de ce Systeme par rapport au royaume de Naples. V. M. daignera
se Souvenir que l'investiture de Naples etait deja un sujet de dis-
pute entre les cours de Rome et de Naples, et que le Pape feroit
tous les ans par cette raison une protestation solemnelle ainsi que
pesche an Marmont, welcher angewiesen wird, zu berichten über die Rekrutierung s-
iind Verproviantierungsmöglichkeiten in Bosnien, Mazedonien, Thrazien, Albanien,
Griechenland „pour une puissance europeenne qui possederait ce pays" (Tilsit, 8. Juli
iScrj, bei Pisani S. 286).
^) Dies ist also die Quelle der bei Gebhardt mitgeteilten Anekdote.
20A. 2. Zwei amtliche Berichte aus der römischen Zeit.
pour les Etats de Parme. ^) A cette derniere la France ne s'est
pas oppose jusqu'ici. Mais apresent il paraitroit sans doute trop
extraordinaire si apres que l'Empereur Napoleon a declare publi-
quement que toute la peninsule de l'Italie doit faire parti de
l'Empire Francois, le Pape qui d'apres cela lui-meme doit en etre
une espece de vassal, ^) osoit protester contre le droit de suzerai-
nete de la France sur une autre partie de l'Italie. L'Empereur
Napoleon a donc demande que le Pape omit cette protestation et
qu'il renoncat ä tout droit sur le royaume de Naples, *) qui devoit
relever apresent de la couronne de France, et c'est ä quoi je dois
meme rectifier ce que j'ai eu l'honneur de dire ä V. M. dans mon
tr. h. rapport du 12. de ce mois, que cela a ete cette demande et
Celle de prendre des mesures contre les ennemis de la France et
de les regarder comme des ennemis communs, qui seuls pour
apresent ont ete formes directement au St. Siege. *) De l'autre
idee que l'Etat Romain devoit etre etat federatif lui-meme, on
n'en a fait mention qu'accessoirement mais comme decoulante du
meme Systeme, le Pape a cru devoir embrasser le tout dans sa
reponse au Cardinal Fesch. ^) Le Pape a refuse egalement
la renonciation ä ses pretensions sur Naples et
d'omettre les protestations usitees, et quelque peu politique que
') Vgl. Ranke, Die römischen Päpste ^', 177 Anm. ij8.
^) £5 wird Beachtung verdienen, daß Consalvi auf eben jene Situation den
Ausdruck anwendete, Napoleon habe den Papst „ä titre de feudataire et de vassal"
zu unbedingter Gefolgschaft zwingen wollen (Memoires 2, 42^ bei d' Haiissonville
S. 12g Anm.).
^) In den ebenda angejahrten Dokumenten findet sich eine dahingehende
Forderung Napoleons nicht ausdrücklich ausgesprochen; doch ist' z. B. das große
Schreiben Pius VII. vom 21. März 1806 nicht in extenso mitgeteilt; es könnte
ebenda S. 1^8 in Fortsetzung des abgebrochenen Satzes „la gardc du patrimoine
de l'eglise romaine" eine entsprechende Protestation des Papstes ausgelassen sein.
*) Napoleon an Pius VII. und an Fesch, 22. Februar 1806 (ebenda S. wo.
104J; Fesch an Consalvi, 2. März (ebenda S. 12^)-
^) Vgl. das Schreiben Pius VII. vom 21. März (ebenda S. ij]); Humboldt
muß also sehr gut informiert gewesen sein, wenn er am 26. bereits über das
päpstliche Antwortschreiben berichten konnte. Doch lagen die Dinge insofern
günstig, als die Grundzüge der Antwort in zwei Konsistorien, am 6. und 8. März,
in Gegenwart von etwa ^o Kardinälen festgestellt und damit diplomatischem
Nachrichtenbedürfnis wohl eher zugänglich waren, als es sonst mit den Verhand-
lungen der Kurie der Fall war. Napoleon hat dann auch in dieser Beratung im
erweiterten Kreis der Kardinäle „un calcul profond, une nouvelle et noire perfidie"
Consalvis sehen wollen (ebenda S. 1^6. i^oj.
b. Über Napoleons Orientpolitik. 20C^
cela paroisse , il semble vouloir persister dans ce refus. ^) La
chose devient donc plus compliquee encore et si le Pape ne cede
point ou que rEmpereur Napoleon n'adopte pas le Systeme du
mepris des protestations, qui sont l'aveu de la propre impuissance,
il est difficile ä voir de quelle maniere eile pourra etre arrangee.
Voilä ce que j'ai appris jusqu' apresent de plus positif; je ne
manquerai pas de continuer ä vouer l'attention la plus suivie ä
cet objet important. Mais j'ose supplier d'avance V. M. de par-
donner si dans des objets de cette nature il n'est pas toujours
possible d'etre informe d'abord avec une parfaite exactitude.
Plusieurs prisonniers d'etat ont ete conduits, il y a
quelques )ours, de Naples ici, pour etre transportes
en France. On pretend que le vice-consul anglois ä Naples, le
Sr, Scott, qui y avoit ete arrete ä cause d'une correspondance
avec le General Craig ä Messine, est aa nombre de ces prisonniers.
La gazette de Naples et les lettres particulieres de cette ville
annoncent la conquete des deux Calabres comme terminee. On
assure que le General Dumas s'est embarque pourla
Sicile, et le Prince Joseph a ecrit des environs de Gaeta, oü
il s'etoit rendü le 19., au Cardinal Fesch, que les Francois mar-
choient, sans rencontrer d'autres obstacles, sur Reggio. Un chef
d'insurgens, nomme Rodio, vient d'etre pris par le General Lachi
ä Pomarico. Un autre, Michel Pezza, connü sous le nom de Fra
Diavolo, est sorti de Gaeta et s'est refugie vers Pontecorvo oü se
trouve encore un troisieme, nomme Antoine Petrucci. Un Irlan-
dois defend avec une poignee d'hommes le fort de Civitella del
Tronto qui n'a pas encore ete attaque par les Francois. Le siege
de Gaeta que le General Lacour dirige, devoit commencer serieuse-
ment le 22. de ce mois. En attendant la place a ete ravitaillee
par 6 vaisseaux Anglois. Parmi les nombreux decrets donnes ä
Naples on remarque surtout celui de ne faire aucun paiment, sous
quelque pretexte que ce soit, de Naples en Sicile.
Le comte de Kaunitz est retourne pour quelques jours ä
Naples. II n'est pas decide encore s'il ne devra pas suivre la Cour
en Sicile.
Le Prince Borghese est revenü hier ici d'une excursion de
quelques jours qu'il avait faite ä Naples.
') d' Haussonville erwähnt (S. 186) einen päpstlichen Protest betreffend die
Lehnshohtit über Neapel erst mit der Mitteilung der Antwort Consalvis auf die
Notifizierung der Thronbesteigung Josephs vorn 26. April 1806.
2o6 2. Zwei amtliche Berichte aus der römischen Zeit. b.
La Cour de Sardaigne qui etait partie le ii. de Fevrier de
Naples, est arrive apres un trajet de sept jours, le 18. du meme
mois, heureusement ä Cagliari.^)
Ici on vient de faire, sous le nom de Prestito perequa-
tivo, un nouvel impöt occasionne surtout par les fraix du passage
des trouppes Francoises. Tous les proprietaires sont obliges de
payer pendant 18 mois doublement Timpöt territorial. Si la France
rembourse jamais les avances que le Gouvernement a fait pour
ses trouppes, ^) ceux qui auront paye cet impot, seront rembourses
ä leur tour, et voilä pourquoi on a donne ä cet impot le nom
d'emprunt. D'apres l'evaluation la plus juste que j'aye pü me
procurer, cet impot devroit rapporter au Gouvernement Romain
presqu' un Million et demi de Piastres. Mais comme les fraix de
perception sont enormes dans ce pais, il faut öter une partie con-
siderable de cette somme en voulant determiner ce qui en coulera
effectivement dans les caisses du St. Pere.
*) Carutti, Storia della corte di Savoia 2, i^6 gibt den ly. Februar an.
^) Auf diesen Ersatz hatte Pius VII. noch am 2g. Januar 1806 gedrungen
(d'Haussonville S. 83).
Die beiden Depeschen Humboldts über die adriatisch- dalmatinischen An-
gelegenheiten sind in der Zeit und unter dem Eindruck der kurzen und bald auf
immer verschwundenen russischen Vorherrschaft in der Adria entstanden. Aus
diesem Umstand ist wohl die eigentümliche Tatsache zu erklären, daß Humboldt,
immer im Hinblick auf den russisch-französischen Antagonismus, in seinen Zukunfts-
erörterungen den endgültigen Erben der einstigen venezianischen Besitzung, Eng-
land, durchaus bei Seite läßt, obschon England Malta festhielt und absehen die
Insel Zante 1801 die englische Flagge gesetzt und England sich in den kor-
fiotischen Parteiungen mit militärischem Eingreifen bemerkbar gemacht hatte
(Rodocanachi S. i8j. i8sJ. Nicht minder auffallend ist Humboldts Ansicht, Öster-
reich werde im Besitz der ionischen Inseln der „friedliche Beherrscher der Adria"
sein: er übersah dabei den Wert, den die Inseln für Österreich als Einfalls-
pforte nach Morea und Epirus haben mußten , weswegen die russische Politik
noch 181S der österreichischen Okkupation entschiedenen Widerstand leistete. Diese
Momente rusammen mit der Unterschätzung der türkischen Machtstellung am
Bosporus lassen den wesentlichen Mangel dieser Depeschen hervortreten: daß sie
eben Berichte aus zweiter Hand sind, zwar auf sorgfältig gesammeltem Material
beruhend und in den einzelnen Angaben zutreffend, aber der auf eigene Anschauung
sich gründenden Kenntnis der gegeneinander streitenden Kräfte und der Über-
sicht über die allgemeinere Lage entbehrend.
Halle, ßo. Januar igiß.
Siegfried Kahler.
3-
Amtliche Arbeiten
aus den Jahren 1809 und 1810.
A. Generalverwal tungsberichte der Sektion für
den Kultus und öffentlichen Unterricht.
Königsberg, den 13. Februar 1809.
An des Königlichen Wirklichen Geheimen Staats-Minister Herrn
Reichs- und Burggrafen zu Dohna Excellenz.
Die Section des Cultus und des öffentlichen Unterrichts ist
in ihrer Thätigkeit durch den Zustand einer noch sehr unvoll-
ständigen Organisation und durch die Erwartung ihres Chefs
gehemmt, bis zu dessen Ankunft durchgreifende Maasregeln billig
ausgesetzt bleiben. Der verflossene Monat hat daher nur zu Vor-
bereitungen und zu Fortsetzung der vom neulich aufgelöseten
Geistlichen und Schul-Departement, (an dessen Geschäften der
Unterzeichnete sowohl als der für die Section des öffentlichen
Unterrichts ernannte Staatsrath Suevern Antheil hatten,) getroffenen
Einleitungen benutzt werden können.
Für die beabsichtigte Verbesserung der protestantischen Kirchen-
verfassung ist die Section nur durch Beprüfung mehrerer ein-
gekommener Vorschläge und durch Aufstellung zweckmässiger
Gesichtspunkte in den darauf ertheilten Bescheiden thätig gewesen.
Als einen wichtigen Schritt zu angemessener Betreibung der
Geistlichen Angelegenheiten darf die Section ihren Antrag ansehen,
dass in den Geistlichen Deputationen der Regierungen dem Präsidio
ein angesehener Geistlicher zugeordnet werde. -)
^) Konzept von Nicolovius' Hand.
*) Vgl. das unten unter E, b abgedruckte Schreiben Humboldts an Nicolovius.
W. V. Humboldt, Werke. XHI. M
210 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Die in mehreren Schriften laut werdende Klage über die Be-
handlung des Geistlichen Standes in Hinsicht der Kriegsleistungen
hat es der Section zur Pflicht gemacht, die Berichte und Gutachten
der Geistlichen Provinzial-Behörden hierüber einzuziehen, um
nöthigenfalls auf angemessenere Festsetzungen für die Folge an-
tragen zu können.
Die Einführung einer bessern Lehrmethode in die Elementar-
schulen ist durch einen unter bestimmten und vortheilhaften Be-
dingungen erneuerten, aber leider noch unbeantwortet gebliebenen
Ruf des Educations-Rath Zeller in Heilbronn, und durch die Auswahl
zweyer, zum Unterricht in der Pestalozzischen Methode nach
Yverdon zu sendenden jungen Männer, vorbereitet worden. ^)
Der Plan zu Verbesserung der vorhandenen und Einrichtung
der fehlenden Institute auf der hiesigen Universität ist weiter ver-
folgt; als wirklich beschlossen und verfügt ist hier aber nur der
Allerhöchst genehmigte Ankauf astronomischer Instrumente aus
dem Landmarschall von Hahnschen Nachlass in Meklenburg
anzuführen.
Von Besetzungen erledigter Lehrstellen muss hier als wichtig
die Berufung des Professor Remer-) aus Helmstaedt zum Professor
der Medicin auf die hiesige und des Professor Bredow^) daselbst
zum Professor der Geschichte auf die Universität Frankfurt erwähnt
werden.
Ns.
Königsberg, den i. März 1809.
An des Königlichen Wirklichen Geheimen Staats-Minister Herrn
Reichs- und Burggrafen zu Dohna Excellenz.
Die Section des Cultus und des öffentlichen Unterrichts hat
in dem abgelaufenen Monat, ausser den currenten Geschäften, ihre
vorbereitenden Arbeiten fortgesezt und hofft in mancher, nicht
unwichtiger Hinsicht ihrem Ziel näher gekommen zu seyn.
') Vgl. Diltheys Artikel „Süvern" in der Allgemeinen deutschen Biographie
3^, 206 und Gebhardt, Die Einführung der Pestalozzischen Methode in Preussen
(Berlin i8g6).
*) Wilhelm Remer (1775—1830); Band 10, 218 ist fälschlich „Renner" ge-
druckt.
• *) Gottfried Gabriel Bredow (1773 — 1814).
*) Konzept von Nicoloviu^ Hand.
A. Generalvenvaltungsberichte der Sektion, a. b. 211
Der Antrag, in den Geistlichen und Schuldeputationen der
Regierungen dem Präsidio einen Geistlichen zuzuordnen, ist
Allerhöchst genehmigt, und für die Ostpreussische Regierung der
ConsistorialRath Borowski ') zum Mitdirektor der Geistlichen und
Schuldeputation mit dem auszeichnenden Prädicat eines Oberconsi-
storialraths ernannt worden. Diese Allerhöchst genehmigte Verände-
rung in der Organisation der Consistorien wird unfehlbar eine
würdigere Behandlung der Geistlichen Angelegenheiten, sowie
eine Aufmunterung des Geistlichen Standes und eine Vermehrung
seines Vertrauens zu der vorgesetzten Provinzial-Behörde zur Folge
haben. Es werden aber leider! für jezt noch nicht überall wo
die Regierungen ihren Sitz haben, qualilicirte Geistliche anzu-
treffen seyn.
Der Plan zu Einführung einer bessern Methode in die
Elementarschulen ist seiner Ausführung näher gekommen. Der
EducationsRath Zeller in Heilbronn hat die Bedingungen, unter
denen er den Absichten der Section im ganzen Umfange entsprechen
zu können glaubt, mitgetheilt. Die Schwierigkeiten, die sich den-
selben sowohl in Hinsicht des Locale als der Fonds entgegenstellten,
sind überwunden, und der ganze Plan bedarf nur noch der Aller-
höchsten Genehmigung.
Die Absendung zweyer jungen Männer nach dem Pesta-
lozzischen Institut in Yverdon ist von des Königs Majestät ge-
nehmigt, auch zu gleichem Zweck einem in der Schweiz bereits
sich aufhaltenden jungen Pädagogen aus Pommern -) eine Unter-
stützung bewilligt.
Das bedeutende Vermögen der Geistlichen milden Stiftungen im
Ermland, das nicht unsichern Nachrichten nach wohl eine Million
Thaler betragen mag, scheint der Aufmerksamkeit sehr werth und
erregt den Wunsch einer bessern, vielleicht auch zum Theil
pädagogischen Zwecken gewiedmeten Benutzung desselben. Es ist
deshalb eine Verfügung erlassen, um die vorgängig nöthige Ueber-
sicht der gegenwärtigen Lage dieser Sache zu erhalten.
Ns.
') Ludwig Ernst Borowski (i']4o — i8^i), der bekannte Biograph Kants.
2) Henning.
14'
212 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und iSio.
Königsberg, den 5. April (809.
An des Königlichen Wirklichen Geheimen Staats-Minister Herrn
Reichs- und Burggrafen zu Dohna Excellenz hieselbst.
Die Section für den Cultus und den öffentlichen Unterricht sieht
sich noch fortdauernd durch ihre unvollendete Organisation und
durch die Abwesenheit ihres Chefs an einer das Ganze umfassenden
Wirksamkeit behindert. Beyden Uebeln wird aber hoffentlich in
kurzem, wenn auch nicht völlig, doch zum Theil abgeholfen seyn,
da die Ankunft des Chefs erwartet wird und zwey neue Mitglieder,
Herr Geheimer Rath Uhden und Herr KriegsRath Schmedding, zu
Staatsräthen bey der Section, lezterer als katholischer, ernannt sind.
Inzwischen sind die angefangenen Pläne mit glücklichem Er-
folg fortgesezt. Die Ideen wegen Einführung einer bessern
Unterrichtsmethode in die Landschulen und Belebung des Interesse
der Landgeistlichen und Schullehrer für dieselbe durch Errichtung
von Normal-Instituten und Einberufung einer bedeutenden Anzahl
von Predigern und Schullehrern zur Theilnahme am Unterricht in
denselben sind Allerhöchst genehmigt und ihre Ausführung ist
durch Anweisung der nöthigen Zuschüsse aus Staatscassen zu den
vorhandenen Fonds gesichert. Es ist nun ein auf die Allerhöchste
Cabinetsordre gegründeter Ruf an Herrn Zeller in Heilbronn zur
Direction dieser Normal-Institute ergangen, auch die nöthige Vor-
bereitung zu Einrichtung des hiesigen Königlichen Waysenhauses zur
ersten Anstalt dieser Art getroffen. Die zur Bildung für den
Schullehrerstand in das Pestalozzische Institut zu Yverdon zu
sendenden be3^den jungen Männer^) treten ihre Reise in diesen
Tagen an, und auf die Auswahl einer grösseren Anzahl für den-
selben Zweck wird Bedacht genommen.
Die Angelegenheit der Universitäten schwebt noch in der
bisherigen Ungewissheit. Wiewohl mehrere vorgefallene Vacanzen
auf der Universität Frankfurt die nöthige Verbesserung derselben
begünstigen, so ist doch noch die Frage zu entscheiden, ob die
Idee, in Berlin eine höhere Lehranstalt zu errichten, ausgeführt
werden solle, und welchen Einfluss dies auf die Universität
Frankfurt und auf die zu ihrer Verbesserung etwa anzuweisenden
*) Konzept von Nicolorius' Hand.
^) Preuss lind Kawerau.
A. GeneralverwaltunfTsberichte der Sektion, c.
213
Fonds haben werde? Da die Existenz der hiesigen Universität
hievon unabhängig und keiner Unsicherheit unterworfen ist, so hat
die Section unbedenklich für die Regeneration derselben thätig seyn
können. Bey des Königs Majestät ist die Unzulänglichkeit ihrer
bisherigen, und großentheils zu milden Nebenzwecken bestimmten
Fonds, ihr Mangel an gelehrten Hülfsanstalten, als Seminarien,
Sternwarte p. p., und die Dürftigkeit mancher Gehalte u. s. w.
vorgestellt und auf einen Zuschuss angetragen worden. Dieser
ist Allerhöchst bewilligt und auf jährlich 17000 Rth. festgesezt
und, bis der Plan der nöthigen Verbesserungen im Allgemeinen
realisiert wird , zu den ersten Einrichtungen bestimmt worden.
Es ist hierauf sogleich die Einrichtung des botanischen Gartens,
zu dem schon vor 3 Jahren ein bisher noch unbenuztes Grund-
stück angekauft wurde, eingeleitet, zu dessen Vorsteher der Professor
Schweigger, ^) ehemals in Erlangen, jetzt in Paris, Allerhöchst er-
nannt ist. —
-)Da zu der erledigten Professur der Staatswissenschaften ein
auswärtiger Gelehrter, der mit vollem ^^ertrauen berufen werden
könnte, vergebens gesucht worden; so ist die Idee, einen Schüler
und Liebling des verewigten, aber unvergesslichen Professor Kraus,
den Regierungs Assessor Hagen,^) der mit beynah allen Hülfswdssen-
schaften ausgerüstet, diesem Studio und der Universität sich ganz
wiedmen will, zu jener Professur zu bestimmen, ihm aber nur
vorläufig einen Theil des Gehalts derselben zur Unterstützung auf
1^2 Jahre zu einer gelehrten Reise zuzugestehen, bey des Königs
Majestät vorgetragen und Allerhöchst genehmigt worden.
Auf den Antrag der Section sind die Berliner Gelehrten Wolf
und Buttmann, die beyde nach Bayern berufen w^aren, durch An-
weisung höherer Gehalte und Eröfnung eines künftigen ihren
Neigungen und Talenten angemessenen Wirkungskreises dem
preussischen Staate erhalten.
Die neuorganisirten Consistorien in Marienwerder und Gum-
binnen sind dadurch ihrer völligen Einrichtung näher gebracht,
dass beym erstem für das Schulfach, insonderheit das gelehrte,
dem Director Rose in Plock die Stelle eines Schulraths angetragen,
und die Zuziehung des reformirten Superintendenten Wesselick in
Elbing bey den reformirten Geistlichen und Schulsachen vertügt;
•) August Friedrich Schweigger (i-j8j—i82j).
2) Dieser und der folgende Absatz sind nachträglich eingeschaltet.
^) Karl Heinrich Hagen (ij8s—iSs6j hat die Professur Ende 1811 erhalten.
21 A 3- Amtliche Arbeiten aus den Jaliren 1809 und 1810.
für das leztere aber der Prediger Luis in Goeritten mit den besten
Hofnungen als reformirter Consistorialrath in Vorschlag gebracht ist.
Gemeinschaftlich mit der Ew. Excellenz unmittelbaren Leitung
untergebenen Section der allgemeinen Polizey ist auf eine bessere
Einrichtung des Censurwesens ^) von der Section des öffentlichen
Unterrichts, auf eine Hemmung der auffallendsten Störungen der
Sabbathsfeyer aber von der Section des Cultus Bedacht genommen.
Diese hat es auch nöthig gefunden, eine Verbesserung des
hiesigen neuen Gesangbuchs einzuleiten, da dasselbe das Gepräge
einer Zeit trägt, die das wahre Wesen der Religion, der Andacht
und der Poesie entweder verkennt oder nach unrichtigem Maass-
stabe schäzt.
Als eine erfreuliche Folge der neulichen neuen Organisation des
Präsidii der Geistlichen Deputation der Ostpreussischen Regierung
darf hier noch angeführt werden, dass im verflossenen Monate die
sonst in einer leeren Kirche geschehene Ordination angehender
Prediger von einer merklichen Theilnahme eines grossen Theils des
PubHkums und von sehr guten Eindrücken auf dasselbe begleitet
gewesen.
Bey der verfügten Besteurung des Silbers hat die Section in
Hinsicht des Kirchensilbers dahin zu wirken gesucht, dass allen
Übeln Eindrücken bey den Gemeinen vorgebeugt, dem illiberalen
Verfahren weltlicher Behörden Schranken gesezt, und die, ihrem
Innern Wesen nach verwandten, religiösen und patriotischen An-
sichten nicht in Widerspruch gebracht werden.^)
Ns.
d.3)
Königsberg, den 19. Mai, 1809.
Da die Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts nur
erst die letzte Hälfte des verflossenen Monats hindurch hat in
Verbindung mit ihrem Chef arbeiten können,*) die Herreise des-
selben selbst aber den Aufschub mehrerer Angelegenheiten ver-
anlasst hat, so hat nur wenig von ihr geschehen können, das sich
auf allgemeinere Verfügungen bezieht, wesentliche Verbesserungen
') Vgl. die Band 10, j6 abgedruckten Aktenstücke.
^) Über das Silberedikt vgl. auch Wilhelm und Karoline von Humboldt jy
11^. IIS- 127. ijo.
^) Konzept von Humboldts Hand.
*) Humboldt traf am ij. April in Königsberg ein
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, cd. 2ICi
•bezweckt, und dadurch sich zum Gegenstande des gegenwärtigen
Berichtes eignet.
Das Wichtigste, was in dieser Art zu Stande gekommen, ist
unstreitig die auf den Vorschlag des Geheimen Raths Wolf bei
dem Joachimsthalschen Gymnasio gemachte Veränderung.^) Der
Zweck derselben war zwar ursprünglich nur der, die Lücke aus-
zufüllen, welche bei dieser Anstalt durch den Abgang des Professor
Buttmann ^) entstand. Allein es ist durch die getroffene Einrichtung
bei weitem mehr erreicht w^orden. Denn obgleich die Professur
des p. Buttmann nicht eigentlich wieder besetzt worden ist, sondern
man nur den Professor Ideler ^) und Dr. Schneider *) angestellt hat
-einzelne, einzeln bezahlte Stunden zu geben, so hat das Gymna-
sium mit einem nur um sehr Weniges grösseren Aufwände,
als das Buttmannsche Gehalt machte, doch bedeutend mehr Unter-
richtsstunden erhalten, und diese sind, nach einem veränderten
Lectionsplan, zweckmässiger vertheilt worden. Dadurch nun ist
ein Uebelstand gehoben, über den man bisher mit Recht sehr
viele Klage führte. Die Stunden waren nemlich so wunderbar
und unzweckmässig vertheilt, dass die jungen Leute nicht in fort-
währender Thätigkeit blieben, sondern leere Stunden und Zwischen-
zeiten eintraten, die gewöhnlich, statt noch auf irgend eine nütz-
liche Weise ausgefüllt zu w^erden, nur in Müssiggang hingebracht
wurden.
Indess ist die gegenwärtige Einrichtung doch immer nur
interimistisch; mehrere Verbesserungen bleiben noch immer bei
der Anstalt zurück, und zwei Professuren sind im gegenwärtigen
Augenblick zu besetzen. Der Abhelfung dieser Mängel steht die
ungünstige Lage der Finanzen der Anstalt im Wege. Zwar ist
-der Status activoriun und passivoriiui derselben von der Art, dass
sie im Stande wäre, sich vollkommen aus eignen Mitteln zu er-
halten, allein ihre Einkünfte kommen von mehreren Seiten nicht
•ein, es ist wenig oder keine Hofnung, dass diese Stockungen sich
bald wieder heben werden, und das Schuldirectorium sieht sich
gegenwärtig genöthigt auf eine Anleihe von 3000 Rth. zu denken.
') Vgl. Spranger, Wilhelm von Humboldt imd die Reform des Bildungs-
wesens S. i-]6.
^) Philipp Buttmann (i-]64—i82g), der namhafte Schüler Wolfs ; vgl. Band 10, 21.
^) Christian Ludwig Ideler (1J66—1846), Astronom, seit 1810 Mitglied der
Akademie der Wissenschaften; vgl. Band 10, 216.
*) Friedrich Konrad Leopold Schneider, Philolog Ci~86—i82i); vgl. ebenda.
2j(5 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Die Section hat es sich zur angelegentlichsten Pflicht gemacht^
diese dringende Lage dem Finanz-Ministerio vorzustellen, und
dasselbe zu vermögen, dem Gymnasium die Summen wieder zu-
fliessen zu lassen, welche es ehemals aus den Lotterie- Ueber-
Schüssen erhielt. Bisher sind diese Versuche nicht glücklich ge-
wesen; da indess das Finanz Ministerium doch versprochen hat,
sich für Anträge die bei des Königs Majestät zur Unterstützung
der Anstalt geschähen, selbst mit zu verwenden, so ist das Gym-
nasium angewiesen worden, seine Verlegenheiten genau zu docu-
mentiren, und die Sache soll alsdann aufs neue eingeleitet werden.
Auf jeden Fall gewinnt jedoch die Anstalt, wenn sie auch jene
Zuschüsse empfängt, nur wenig dadurch, indem sie auch alsdann
diejenigen Pensionen zahlen rnuss, mit welchen fremde Personen
an sie gewiesen sind, und deren Zahlung, da sie wirklich nur
verpflichtet ist, solche von ihren Ueberschüssen zu leisten, seit
einiger Zeit von ihr suspendirt worden war.
Auf der Universität Frankfurt ist der Professor Bredow wirk-
lich angekommen und hat seine Vorlesungen angefangen. Die
übrigen Verbesserungen, welche die Section für diese Universität
eingeleitet hat, gehören erst in den Bericht des gegenwärtigen
Monats ; indess kann schon so viel hier mit Grunde bemerkt werden,,
dass sich die Muthlosigkeit, die am Ende des vorigen und im
Anfange des jetzigen Jahres unter den Professoren herrschte, be-
reits sehr gehoben hat. Nur die Finanzen der Universität befinden
sich gleichfalls, wie die des Joachimsthalischen Gymnasiums und
aus denselben Gründen, in einem ungünstigen Zustande.
Für die Ritteracademie in Liegnitz') ist durch eine neue Ver-
pachtung, welche die Einkünfte der Anstalt um 5000 Rth. höher
herausbringt, eine ansehnliche Verbesserung vorbereitet worden.
Allein welche Bestimmung diese Anstalt wird erhalten müssen?
da man es wohl als erwiesen ansehen kann , dass ihre jetzige
Einrichtung fehlerhaft ist, erfordert noch genaue und reifliche
Ueberlegung. Man hat vorgeschlagen sie einzuziehen, und ihre
Einkünfte (die sich nach dem Etat von 1803/4 auf 19000 Rth.
ungefähr belaufen, jetzt folglich circa 24000 Rth. und mithin fast
doppelt soviel als alle Einkünfte der Universität Frankfurt betragen
werden) entweder der neuen Universität in Berlin zu geben, oder
dieselben zur Anlegung einer Universität in Breslau zu verwenden.
') Vgl. die Band 10, 160 abgedruckten Aktenstücke und Spranger S.
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, d. 217
Allein Fonds einer bloss Schlesischen Anstalt, und zu deren Stif-
tung mehrere Schlesische Familien beigetragen, auf Institute ausser-
halb Schlesiens zu verwenden, würde äusserst han für die Provinz
seyn, und sehr stark von ihr empfunden werden. Breslau aber
zu einer Universität, wie es eigentlich jetzt nicht ist, zu erheben,
scheint mir nicht rathsam, und beziehe ich mich deshalb auf die
in meinem Berichte an den König, die Berliner Universität be-
treffend, ausgeführten Gründe. Soviel ich bis jetzt urtheilen kann,
muss die Anstalt nicht nur in Schlesien, sondern auch in Liegnitz
bleiben, und könnte vielleicht, da die Fonds so ansehnlich sind,
zu einer in demselben Institut vereinigten Bürger-, Gelehrten- und
Realschule (die letztere für diejenigen, so sich nicht eigentlich
gelehrten Studien widmen) gemacht werden. Da Landgüter dabei
sind, Hesse sich eine für Schlesien, wo eine so grosse und schöne
Neigung zur Landwirthschaft selbst unter dem höheren Adel
herrscht, vorzugsweise wohlthätige Ackerbauschule damit ver-
binden, und somit Liegnitz für diejenigen welche nicht studiren
wollen, für ihre ganze Bildung, für die andern aber bis zum
Uebergang zur Universität zu einem Central Punkt der Bildung
für die bemittelten Stände der ganzen Provinz machen, womit,
dünkt mich*, mehr gewonnen wäre, als wenn man die Schlesier
auf einer wahrscheinlich immer nur mittelmässigen Provincial
Universitaet auf eine ihrer allgemeinen Ausbildung gewiss nach-
theilige Weise gewissermassen isolirte. Ehe indess hierüber etwas
entschieden werden kann, muss der Bericht abgewartet werden,
welchen die Section von dem Ober-Praesidenten von Massow über
den Zustand des ganzen Protestantischen Schulwesens in Schlesien
gefordert hat.
Wenn die Section dasjenige erwägt, was sie zu thun hat, ehe
sie behaupten kann nur irgend etwas Wichtiges geleistet zu haben,
ja ehe ihre Thätigkeit nur einen eigentlich consequenten , und
stufenweis zum Besseren fortschreitenden Gang gewinnen kann,
so sind es folgende drei wichtige Punkte:
1. Vervollständigung ihrer selbst in Verbindung mit ihren
geistlichen Mitgliedern, was die Section des Cultus betrift, und
mit der wissenschaftlichen Deputation, was die Section des öffent-
lichen Unterrichts angeht.
2. Festsetzung eines allgemeinen Schulplans welcher sowohl
die verschiedenen Arten der Schulen und ihre Unterordnung, als
2i8 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
den Lehrplan und die Grundsätze der Methode, zwar nicht un-
bedingt vorschreibend, aber so, dass nicht ohne vorhergehende
Darlegung der Gründe davon abgewichen werden darf, be-
stimmt.
3. Regulirung der Fonds und der Etats aller Schulen und
der Besoldungen aller Geistlichen, nicht bloss dergestalt, dass jeder
ein hinreichendes Einkommen geniesse, sondern auch dass dies
Einkommen gegen unvorhergesehene Zufälle gesichert sey.
Die vollkommene Constituirung der Section kann nicht eher
zu Stande kommen, als bis sie nach Berlin verpflanzt ist. Nur
da findet die Section des Cultus ihre geistlichen Mitglieder, die
des öffentlichen Unterrichts die wissenschaftliche Deputation,
beide auch ausser ihrem Kreise Männer, die sie zu Rathe
ziehen, und Acten aus denen sie sich belehren können. Indess
hat der Chef der Section bereits einen Plan für den ganzen
Personal und Salarien Etat entworfen, und erwartet nur noch
einige data über die bei dem bisherigen geistlichen Departement
angestellten Personen, um ihn Ew. Excellenz zur Vollziehung
vorzulegen.
Die Entwerfung eines allgemeinen Schulplans ist jetzt theils
unmöglich, da die wenigen jetzigen Mitglieder der Section für die
Müsse und Ruhe, welche ein solcher Plan erfordert, zu sehr mit
den currenten Arbeiten beschäftigt sind; theils hält der Sections
Chef mit Fleiss diese Arbeit zurück, weil sie sich nicht auf die
Einsichten weniger, sondern aller Mitglieder der Section sowohl,
als der wissenschaftlichen Deputation gründen, und ein Resultat
ihrer gemeinschaftlichen Bemühungen seyn muss. •
Der dritte Punkt hängt, da der Staat dazu nur zum Theil
mitwirken kann, von zwei Dingen ab: von der vollendeten Ein-
richtung der geistlichen Deputationen bei den Regierungen, und
der gehörigen Organisation der verschiedenen Corporationen der
Nation, deren Hülfe vorzüglich in Anspruch genommen werden
muss. Die Regierungs Deputationen werden nun in Kurzem
organisirt se3^n. Von den Corporationen der Nation haben die
Städte eine neue und heilsame Verfassung erhalten, und die Section
hat eben jetzt hier in Königsberg Einleitungen gemacht, um zu
versuchen, wie sich dieselbe für das Schulwesen benutzen lassen
wird. Eine DorfOrdnung soll, soviel mir bekannt ist, nachfolgen.
Allerdings wäre nun für die Verbesserung des Schulwesens gar
A. GeneralverwaUungsberichte der Sektion, d. 2 IQ
sehr zu wünschen, dass auch eine ganze Provinz, als solche,
ins Interesse gezogen werden könnte. Sollte indess auch die
jetzige ständische Verfassung so bleiben, wie sie gegenwärtig ist,
so wird die Section keine Mühe sparen, auch mit grösserer
Anstrengung und geringerem Erfolge, auch diese zu ihren Zwecken
zu benutzen. Der erste Schritt, den sie in Absicht dieses ganzen
Punkts zu machen denkt, wird der se3^n, sich mit denjenigen
Regierungspraesidien von denen sich ein vorzüglicher Antheil
hieran erwarten lässt, in gemeinschaftliche Berathung hierüber
«inzulassen, und ihre Vorschläge, da hierin nichts ohne genaue
Localkenntniss vorgenommen werden kann, einzufordern.
Diesen Punkt, die Nation bei dem eigentlich ihr anvertrauten
Geschäft mit thätig zu machen, sieht die Section übrigens für den
wichtigsten und wesentlichsten an. Denn wenn E. p. erlauben,
einen Augenblick aus dem engeren Kreis der Geschäftsführung
hinauszugehen, so lässt sich mit Wahrheit behaupten, dass der
Zeitpunkt, wo die Section ihren Zweck erreicht hätte, der wäre,
in dem sie ihr Geschäft gänzlich in die Hände der Nation nieder-
legen, und sich mit dem Unterricht und der Erziehung nur noch
in den höchsten Beziehungen desselben auf die andern Theile der
obersten Staatsverwaltung beschäftigen könnte. Der (in England
freilich, aber aus andern Gründen, zum Verderben aller Schulen
ausschlagende) Grundsatz, dass der Staat sich um das Schulwesen
gar nicht einzeln bekümmern muss, ist an sich, einer consequenten
Theorie der Staatswissenschaft nach, gewiss der einzig wahre und
richtige.^)
Nach jenen oben erwähnten drei Hauptgeschäften wird die
vorzüglichste Sorge der Section auf eine zweckmässige Besetzung
der Prediger- und Schulstellen gerichtet seyn. Sie glaubt einen
bedeutenden Schritt, dieselbe zu befördern, dadurch gemacht zu
haben, dass sie die Prüfungen der Bewerber zu den einen und
den andren zwei durch das ganze Land gehenden, aus den an-
gesehensten Männern aller Fächer bestehenden, und nach gemein-
schaftlich verabredeten Grundsätzen verfahrenden Commissionen
zu übertragen denkt. Allein auch dieser Plan muss erst genauer
entworfen werden und kann es nur in Gemeinschaft mit den
geistlichen Mitgliedern und der wissenschaftlichen Deputation.
1) Vgl. Band i, 142.
220 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und j8io.
Was endlich die currenten Arbeiten betrift, so bemüht sich
die Section soviel als möglich Einfachheit in den Geschäftsgang
zu bringen, und Aufenthalt und unnützen Schriftwechsel zu ver-
meiden.
Königsberg, den 19. Mai, 1809.
Humboldt.
An des wirklichen Geheimen Staats-Ministers Herrn Grafen zu
Dohna, Excellenz.
e.i)
Königsberg, den 3^ Juni 1809.
Die erwähnungswerthen Geschäfte, welche bei der Section des
Cultus und öffentlichen Unterrichts im letztverflossenen Monate
vorgekommen, sind folgende :
Zuerst ist auf ihren Antrag der Prediger Natorp^) in Essen
durch eine allerhöchste Cabinets-Ordre vom 8!^/;'. zugleich zum
Mitgliede der geistlichen und Schul-Deputation der Kurmärkischen
Regierung und der Section des öffentlichen Unterrichts ernannt
worden.
Der Staatsrath Schmedding ist in Berlin angekommen und hat
sogleich in Thätigkeit gesetzt werden können.
In dem Verhältniss der Kurmärkischen Regierung zur Section
ist durch eine, auf Beschwerden des ehemaligen OberConsistorii
in Berlin bei Sr. Majestät dem König erlassene Cabinets-Ordre vom
6ten pr. eine Aenderung hervorgebracht worden. Die Regierung
soll nemlich die alleinige Prüfung der Prediger verlieren, und
dieselbe von einer eigenen ExaminationsCommission besorgt
werden ; und in Absicht der Hauptstadt sollen zwei beständige Com-
missarien der Regierung, ein geistlicher und ein weltlicher, für das
Schulfach in Berlin zurück bleiben. Es ist zu bedauern, dass in
der übrigens ganz nach dem Sinn eines von der Section abge-
gebenen Gutachtens abgefassten Cabinets-Ordre einige Punkte
ausgelassen sind, wie z. B. dass die Examinations Commission allein
unter der Section stehen und ihre Prüfungen in den Sessionen
1) Konzept von Schreiberhand mit kleinen eigenhändigen Zusätzen Humboldts.
2) Vgl. den unten unter E, c abgedruckten Antrag und Thiele, Die Organi-
sation des Volksschid- und Seminarwesens in Preussen (i8og—i8igJ mit beson-
derer Berücksichtigung der Wirksamkeit L. Natorps (Leipzig igi2j.
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, d. e. 221
derselben halten soll, dass wenn einer der beiden Berlinischen
Pröpste Commissarius der Regierung werde, nicht auch derselbe
Mitglied der Section seyn könne u. s. f. Die Section wird sich
aber bemühen, diese Berichtigungen auf dem schicklichsten Wege
nachträglich beizubringen.
Die Section des Cultus hat die Aufhebung einer Beschränkung
der Gewissensfreiheit der Katholiken bewirkt, von der man sich
wundern muss, dass sie sich solange in den Preussischen Staaten
hatte erhalten können: In Stettin und den umliegenden Colonie-
Dörfern, in Frankfurth a/0. (wie seitdem angezeigt worden ist)
und vermuthlich noch an anderen Orten (wie die Folge lehren
wird) war es herkömmlich, dass die sich an diesen Orten befindenden
Katholischen Geistlichen Adus Ministeriales nur dann bei ihren
Glaubensgenossen verrichten konnten, wenn diese den Protestan-
tischen Geistlichen die Jura stolae bezahlten. Eine eigne Cabinets-
Ordre hat dies nicht nur in Absicht Stettins autgehoben, sondern
auch die Section autorisirt, ferner nach dem gleichen Grundsatz
zu verfahren.
Die so nothwendigen geistlichen Einrichtungen in den ab-
gerissenen Dioecesanstücken von VVestpreussen sind jetzt dem
StaatsRath Schmedding, der diese Provinz zu diesem Endzweck
bereisen soll, aufgetragen, und so sieht diese wichtige und lange
ohne Erfolg ventilirte Sache endlich einer Erledigung entgegen.
Die Zuschüsse, welche Königliche Gassen ehemals den geist-
lichen und Schulanstalten gaben, waren seit dem Ausbruch des
Krieges in Stockung gerathen. Die Section hat darauf angetragen,
dieselben wieder in Gang zu bringen, und das Finanz-Ministerium
hat dies vom i t£n März c. an, zu bewirken versprochen, so-
bald die Section ein Verzeichniss jener Zuschüsse einreiche. Die
Section ist jetzt mit Anfertigung desselben beschäftigt, wird es
sich aber angelegen seyn lassen, dabei alle, nur mit dem Zweck
der Anstalten irgend vereinbare Ersparungen eintreten zu lassen.
In Schlesien wurden bei Vergebung grösserer Beneficien den
commissarisch dabei beschäftigten Kammer-Mitgliedern von den
Stiftern gewisse Douceurs ertheilt. Diese hat des Königs Majestät
jetzt dem Schul-Fond angewiesen, und die Section hat es für
billig gehalten, dem Ober-Präsidenten von Massow bekannt zu
machen, dass sie nur zu Schlesischen Schulanstalten verwendet
werden sollen.
222 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Zur Organisation der Elementarschulen ist durch die Voll-
endung der mit dem zum Organisator der in sämmtlichen Preussischen
Staaten für das Volks- Schulwesen zu errichtenden Normal-Institute
ernannten EducationsRath Zeller gepflogenen Unterhandlungen
ein sicherer Grund gelegt worden. Zeller hat seine Entlassung
im Wirtembergischen erhalten, und verspricht im August hier
einzutreffen. Diese ganze Einrichtung ist vor meiner Ankunft in
Königsberg getroffen worden und ich habe erst seitdem officielle
Kenntniss davon erhalten.
Von der Zahl der 12 jungen Leute, welche zu Pestalozzi ge-
schickt werden sollen, ist wiederum einer, Namens Kzionsiuk, ab-
gegangen, der schon durch sein Aeusseres und seine bisherige
Bildung soviel Lebendigkeit und Beharrlichkeit des Willens beweist,
dass man mit Zuversicht hoffen kann, er werde seinem mit fast
leidenschaftlicher Wärme gefassten, und durch die Erinnerung an
seine eigne frühere, sehr schlechte Erziehung in ihm befestigten
Vorsatz, in seinem Geburtsort und der umliegenden Gegend zur
Einführung besserer Volks-Bildung künftig kräftig zu wirken,
getreu bleiben.
Zwei andere junge Leute werden, mit Königlicher Erlaubniss,
nicht in die Schweitz geschickt, sondern bei dem sich sehr aus-
zeichnenden, und Pestalozzische Methode vorzüglich auch auf höhere
Gegenstände anwendenden Plamannschen Institute in Berlin an-
gestellt. Ihre Wahl ist dem Dr. Plamann^) selbst überlassen, und
ihm, um dem Staat desto tüchtigere Subjecte zu verschaffen, auch
erlaubt worden, sie aus seiner eignen Anstalt zu nehmen. Die Be-
setzung aller, nicht den Regierungen competirenden Lehrstellen
in Gymnasien und höheren Bürgerschulen ist durch eine Cabinets-
Ordre der Section des öffentlichen Unterrichts überlassen worden,
ohne dass es dabei ferner der Königlichen Bestätigung bedarf.
Im vergangenen Monat sind nur zwei Stellen dieser Art ver-
geben worden:
in Königsberg in der Neumark das Rectorat des Lyceums
an den ehemaligen Professor vom Posenschen Gymnasio
Dr. Leps; in Demmin das Rectorat an der Stadtschule
an den bisherigen Conrector Reinholz.
*) Johann Ernst Piamann Cijji—i8j4j, i8oj in Burgdorf bei Pestalozzi, er
öffnete seine Anstalt i8os-
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, e. 22^
Auf der Universität zu Frankfurth ist der Prediger Spieker^)
zum Professor extraordinarius der Theologie, jedoch für jetzt ohne
Gehalt, ernannt worden.
Zur Dotirung einer neuen ordentlichen Professur der Theologie
hat der König 1200 Rth. von den neulich durch den Tod des Grafen
von Hoym ledig gewordenen und dem Schulfonds geschenkten
2000 Rth. anzuweisen geruht. Die Section hat zu dieser Stelle den
Professor Pott'') in Helmstädt berufen, und erwartet dessen Antwort.
Dem für die künftige Berlinische Universität bestimmten Pro-
fessor Fichte hat der König seine Besoldung von 800 Rth. aufs
neue zugesichert.^)
Zur Vermehrung der mit der Academie der Wissenschaften
verbundenen Sammlungen hat der König den Ankauf der Herb-
stischen Krebs- und KrabbenSammlung zu genehmigen geruht.
Bei der Academie der Künste ist eine Professur der Musik
und mit ihr eine eigne Musikbehörde zur Veredlung der öffent-
lichen Musik errichtet, und die Professur dem bekannten Ton-
künstler Zelter ertheilt worden.*)
Die Censur der Schriften, die bisher zum Sprengel des Kammer
Gerichts gehörte, ist dem Dr. Biester übertragen worden, wobei
die Section vorzüglich zur Absicht gehabt hat, durch die Wahl
eines Mannes, der sich immer durch lebhaften Eifer für Denk-
freiheit ausgezeichnet hat, eine gute Meinung von der Liberalität
der Grundsätze zu erregen, welche die Regierung über die Censur
hegt. Einen Censor in Breslau, welcher einen durchaus unschäd-
lichen ^) Aufsatz über das Edict vom 9^ October mit dem Be-
merken, man liebe in Königsberg solche Aufsätze nicht, bei der
Censur zurückgewiesen hatte, hat die Section Verdientermassen
zurechtgewiesen.
Königsberg, den 3^ Juni 1809.
Humboldt.
An
den Königlichen Wirklichen Geheimen Staatsminister des Innern
Herrn Grafen zu Dohna Excellenz.
') Christian Wilhelm Spieker (i'jSo — 1858), als Erbauungsschriftsteller be-
kannt geworden.
2) David Julius Pott fij6o—i8j8).
^) Vgl. den Band 10, 72 abgedruckten Antrag.
*) Vgl. Band 10, 75.
■^) „unschädlichen" von Humboldt verbessert aus „harmlosen".
224. 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Königsberg, den 2. Julius 1809.
Die einzelnen Gegenstände, welche die Section des Cultus
und des öffentlichen Unterrichts im Laufe des verflossenen Monats
beschäftigt haben, und um die ihre Bemühungen so weit gediehen
sind, dass sie Ew. Excellenz Aufmerksamkeit einigermassen ver-
dienen, sind folgende.
Zwischen der Section des Cultus und dem Kriegs Departe-
ment sind die Verhältnisse der Feldprediger regulirt worden.
Mehrere Gründe von Seiten beider Behörden hätten vielleicht eine
gänzliche Abschaffung derselben rathsam gemacht; im Frieden
kann der Soldat sich an den Civil Geistlichen wenden, und im
Felde thut ein kurzes Gebet eines alten Militairs, ein vielleicht zu-
fällig angestimmtes Lied mehr Wirkung, als ein Vortrag eines
Geistlichen, zu dem überdies nur selten Gelegenheit seyn wird. Allein
die Beibehaltung derselben stand einmal vor der Berathung fest,
und es kam daher nur darauf an, die sonst bei ihnen bemerkten
Mängel zu vermeiden, und ihnen ihren Wirkungskreis gehörig zu
bestimmen. In der ersteren Hinsicht ist festgesetzt worden, dass
die Feldprediger künftig unter den geistlichen undSchuldeputaiionen
der Regierungen stehen sollen, und daher der Feldpropst von jetzt
an wegfällt, dass sie bloss das active Militaire als ihre Gemeine
ansehen dürfen, und dass, einige Festungs Prediger vielleicht aus-
genommen, ihrer überhaupt künftig nur 19 seyn werden. Der
Vorschlag des Feldpropstes , sie unmittelbar unter die Section
zu stellen, ist, da ihre Versorgung, nach Beendigung ihrer Lauf-
bahn als Feldprediger, von den Regierungen abhängt, und diese
sie daher kennen müssen, abgewiesen worden. Ihr Geschäft soll
vorzüglich, ausser den geistlichen Verrichtungen, in dem Unter-
richte der Portepee Fähnriche, und der Aufsicht auf die Lehr-
anstalten für die jungen Soldaten, und die Schulen für die Soldaten-
kinder bestehen; ihr Gehalt mehr als doppelt soviel, als bisher,
betragen. Die Soldatenkinderschulen sollen jedoch von jetzt an,
soviel als möglich , mit den Bürgerschulen verbunden werden.
Diese gemeinschaftlichen Beschlüsse sind des Königs Majestät zur
allerhöchsten Genehmigung vorgelegt worden.
^) Konzept von Humboldts Hand; avi Rande: „Ich habe das Miindum zur
eignen Beförderung zurück behalten. 6. Jul. 180g. H."
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, f. 22 c,
In Absicht der Schulfonds im Allgemeinen ist, auf Antrag
der Section, der wichtige Beschluss gefasst worden, dass, obgleich
die Westphalische Regierung der KurA'Iark 15000 Rth. Sti-
pendien- und die Universität Halle einige Freitischgelder streitig
macht, dennoch keine Retorsionen deshalb ausgeübt werden sollen.
Dieser Beschluss ist gemacht, weil an jenen 15000 Rth. wirklich
die Altmark einige gegründete Ansprüche hat, und die West-
phalische Regierung alles Preussische Schuleigenthum gewissen-
haft respectirt, es war aber auch nothwendig, da die Besitzungen
der diesseitigen Schulanstalten an Gütern, Praestationen, und
Capitalien im Königreich Westphalen aufs mindeste auf Va Million
Thaler gerechnet werden können, die jenseitigen Behörden dagegen
bei uns nur etwa 35,000 Rth. Capital besitzen.
Um sich mit der Pestalozzischen Schul metho de be-
kannt zu machen, sind aufs neue zwei junge Männer, der 2^^ und
3 te^ der bestimmten Zahl von zwölfen. Dreist aus Schmiedeberg und
Marsch aus Grüneberg in Schlesien, nach Yverdun gesendet worden.
Der erste ist durch Herrn Professor Schleiermacher empfohlen,
war bisher Hauslehrer bei einem Kaufmann, und nimmt, was ein
doppelt günstiger Umstand ist, seine beiden Zöglinge mit. Der
letztere ist Garnisonschullehrer, hat seit 1807. 60 — 70. arme und
zum Theil verwaiste Soldatenkinder unentgeldlich unterrichtet,
und mit Schreibmaterialien versehen, verlässt jetzt Frau und Kinder,
und bewährt daher durch grosse Aufopferungen seinen Eifer und
inneren Beruf für seine Bestimmung.
Bei dem Waisenhause in Bunzlau ist auf den Antrag
der Section von des Königs Majestät nachgegeben worden, dass
nunmehr auch ohne Unterschied Waisen katholischer Religion
aufgenommen werden können. Bis jetzt war dies nur als Aus-
nahme, in dringenden Fällen erlaubt.
Das Conrectorat zu Tilsit ist dem Studiosus Raue, je-
doch nur interimistisch, um ihn erst Proben seiner Fähigkeit, auch
auf höheren Classen Unterricht zu geben, ablegen zu lassen, er-
theilt worden.
Auf der Universität zu Frankfurt a/0. hat der bisherige ausser-
ordentliche Professor der Philosophie Thilo die durch Steinbarts ^)
^) Gotthilf Samuel Steinbart fijj8—iSog), Professor der Philosophie und
Theologie in Frankfurt a. O., zugleich Leit er der Züllichauer Erziehungsanstalten
W. V. Humboldt, Werke. Xm, ^5
225 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
Tod erledigte ordentliche philosophische Professur erhalten und
angenommen.
Allein der aus Helmstädt zum Professor der Theologie be-
rufene Pott hat den Ruf abgelehnt. Die Section denkt daher
jetzt auf die Wahl eines andern Gelehrten.
Ebenso hat für die theologische Professur in Königsberg
Brettschneider die Vocation ausgeschlagen, für die statistische
dagegen, nur dass er nicht wird vor dem Januar aus Russland
abreisen können, Gaspari^) gänzlich, und die der orientalischen
Sprachen Vater'^) so gut als angenommen.
Für die medicinische Facultaet ist die Section mit Vollendung
der Einrichtung der Hospital- und Anordnung einer ambulatorischen
Clinik beschäftigt. Wegen der ersteren wird mit dem Löbenicht-
schen Hospital ein Contract abgeschlossen, vermöge welches
dieses die Wohnung einräumt, und zur Speisung goo Rth. beiträgt.
Die ambulatorische, die etwa jährlich 400 Rth. kosten dürfte,
soll von den Armenanstalten der Stadt erhalten werden, und die
näheren Einrichtungen deshalb werden jetzt von dem Magistrat in
Vereinigung mit dem Professor Remer eingeleitet.
Bei der mit der Akademie der Wissenschaften verbundenen
Kunstkammer hat sich der unangenehme Zufall ereignet, dass
in einer, wegen des Krieges hierher geflüchteten, jetzt aber nach
Berlin zurückgekommenen Kiste ein massiv goldener Degenbügel
vermisst wird, der auch durch seine kunstreiche und geschmack-
volle Arbeit ein interessantes Denkmal des Mittelalters war. Wie
derselbe hat verloren gehen können, ist bis jetzt nicht auszufor-
schen gewesen. Die Section hat aber hiervon Gelegenheit ge-
nommen, dem Bibliothekar und Aufseher der Kunstsammlungen
.... Auftrag zu * geben, einen Bericht wegen aller durch die
feindliche Besitznehmung geflüchteten, und durch die Flucht ge-
retteten, oder aus derselben verloren gegangenen Objecte abzu-
statten.^)
Ein Gesuch der Academie der Künste, den Prinzen
Wilhelm K. H. zu ihrem Curator zu ernennen, hat eine Cabinets
Ordre veranlasst, durch welche der Grundsatz festgestellt wird.
^) Adam Christian Gaspari (i']52 — 18 jo), Historiker, Geograph und Sta-
tistiker; vgl. Band 10, 218.
^) Johann Severin Vater (i-]']i — 1826), Sprachgelehrter und Theolog; vgl.
Band j, 222.
*) Vgl. Gebhardt, Wilhelm von Humboldt als Staatsmann i, 184.
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, f. 227
■dass Akademien und Universitäten keine besondern Curatoren
haben, sondern, bei dem Genuss möglicher eigner Freiheit, allein
unter der Section des öffentlichen Unterrichts stehen sollen.
Auch ist durch dieselbe Cabinets Ordre die \"ereinigung der
BauAcademie mit der KunstAcademie bestimmt worden.
Diese in der That zu bewirken, bedarf es jedoch noch einer direc-
ten Eröfnung Ew. p. an die Section.^)
Nach Aufzählung dieser einzelnen Gegenstände nehme ich
mir die Freiheit mich in Absicht der allgemeinen \^erhältnisse
der Section auf die dem gegenwärtigen gehorsamsten Bericht
beigefügte besondere Beilage zu beziehen.
Königsberg, den 2. Julius, 1809.
Humboldt.
An des Königlichen wirklichen Geheimen Staats und diri-
girenden Minister des Innern, Herrn Grafen zu Dohna, Excellenz^
[Nachtrag.]
Königsberg, den 2. Julius, 1809.
Ew. Excellenz verzeihen, wenn ich mich veranlasst sehe, meinem
IjeneralBericht von diesem Monat noch einen besonderen, aber
gleich ofßciellen Nachtrag beizufügen.
Ich habe jetzt die Geschäfte meiner Section beinahe drei Mo-
nate unter den Augen Ew. p. geführt, und dadurch Gelegenheit
gehabt, die Mängel zu bemerken, die sich, bei dem gegenwärtig
eingeführten Geschäftsgange, bereits wirklich zeigen, und noch
für die Zukunft besorgen lassen, und daher über die UnvoUkommen-
heit desselben und die Unmöglichkeit ihn, ohne die wichtigsten
Nachtheile, lange unverändert fortdauern zu lassen, mit Sicherheit
aus der Erfahrung zu urtheilen.
Der Aufsatz, den ich Ew. p. privatim übergeben, und sogar
auf Ihre Veranlassung gemacht habe, setzt dies und die Gründe
ausführlich auseinander. -) Er enthält zugleich ^^orschläge zur
noth wendigen Abhülfe. Alle diese Vorschläge laufen auf die
Errichtung des Staatsraths auf eine oder die andere Weise hinaus.
Ew. p. sind mit mir, jedoch mehr, wie es scheint, über die Zu-
*) Dieser Satz ist nachträglich eingeschaltet.
^) Am Rande: „Ist in der Anlage beigejügt. //."; in dem betreffenden Fas-
zikel hat er sich nicht vorgefunden.
15*
228 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
lässigkeit, als die Nothweridigkeit einer solchen Einrichtung ein-
verstanden. Allein ebendeswegen muss ich hier wiederholen, dass^
wenn der StaatsRath nicht so eingerichtet wird,
dass nun wirklich Einheit und Regelmässigkeit in der Ge-
schäftsverwaltung eingeführt,
das Eingreifen einer Behörde in die andere verhindert, und
Willkühr vermieden wird,
derselbe mehr schädlich als nützlich seyn muss, indem er die als-
dann immer nöthig bleibende Hauptreform aufhält und erschwert»
Auch hierüber habe ich meine Ansicht in dem eben angeführten
Aufsatz ausführlich und bestimmt auseinandergesetzt.
Es bleibt mir jetzt nichts übrig, als Ew. p. gehorsamst zu
ersuchen
denselben als eine Ihnen officiell vorgelegte fiece zu be-
trachten
und Ihnen diese ganze Sache dringend ans Herz zu legen.
Ich mache es mir zu einer sehr angenehmen Pflicht, Ew. p»
bei dieser Gelegenheit zu bezeugen, dass ich mit dankbarem Ver-
gnügen die Sorgfalt bemerkt habe, mit welcher Ew. p. bemüht
sind, das Verhältniss meiner Section zu Ihrem Ministerium dem
in der Grundverordnung vom 24. November, pr}) festgesetzten so
nahe zu bringen, als es bei der jetzt freilich, wie man freimüthig
gestehen muss, höchst unvollkommenen Verfassung möglich ist.
Allein ich brauche Ew. p. nicht zu sagen, dass diese bloss per-
sönlichen Verhältnisse wohl persönliche Beruhigung für den
Augenblick einflössen, allein den Geschäften weder Sicherheit für
die Folge, noch einmal Schutz gegen mancherlei Nachtheile jetzt
gewähren können, da auf den festen Gang in diesen nur die Ueber-
zeugung wirkt, dass sie nach Grundsätzen geführt werden,
die, wie auch die persönlichen Gesinnungen seyn möchten, befolgt
werden müssen, und ohne die Allerhöchste Zustimmung nicht
abgeändert werden können.
Königsberg, den 2. Julius, 1809.
Humboldt.
An den Wirklichen Geheimen StaatsMinister
des Innern, Herrn Grafen zu Dohna, Excellenz.
*) Abgedruckt bei Pertz, Das Leben des Ministers Freiherrn vom Stein 2y
68g. An ihrer Stelle trat zunächst das Piiblikandum vom 16. Dezember in Gel
tung; vgl. Preussische Gesetzsammhmg 1806— iSio S. 46g.
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, f. 22Q
[Anlage.^)]
Der jetzigen Verwaltung der obersten Staatsgeschäfte liegt
die Verordnung vom 24. November zum Grunde. Sie ist aber nur
theilweise ausgeführt. Da sie nun doch von einem consequenten
Kopfe als ein Ganzes entworfen worden, so entsteht die sehr
ernsthafte Frage:
ob die in ihr aufgestellte Staatsverwaltung in ihrer Ver-
stümmelung noch sich zu erhalten und Nutzen zu bringen
im Stande ist?
wohin diese halbe Ausführung ausschlagen muss?
und durch welche Mittel man die sich etwa zeigenden
Mängel verbessern, und den etwa drohenden Gefahren vor-
beugen kann?
Der Punkt, um welchen sich der ganze Steinische Geschäfts-
plan, wie um seine Angel, dreht, ist das Verhältniss der Minister
zu den Sectionschefs.
Die Sectionen und ihre Chefs sind, nach diesem Plan, die
einzigen administrativen Behörden im Staat; sie sollen, als solche,
und innerhalb der ihnen gesezten Schranken durchaus selbst-
ständig (S. 13) aber auch vollkommen verantwortlich seyn.
Die Minister, insofern sie nicht selbst Sectionschefs sind (da
der Plan ihnen eine zwiefache Rolle zutheilt), sollen
die Resultate der Administration der Sectionen zu der
Einheit ihres ganzen Ministeriums verbinden,
die Sectionen in den ihnen bei ihrer Administration
angewiesenen Schranken erhalten ;
dieselben controlliren ;
allein schlechterdings nicht sich in die Administration selbst
mischen. Sie sollen nur leiten, nicht ausführen.
Daher können die Sectionen von den Entscheidungen der
Minister an den Staatsrath oder den König appelliren, und mit-
■einander, auch aus einem Ministerio ins andere hinüber, ohne
Dazwischenkunft der Minister in Correspondenz treten. Denn
sie , und nicht die Ministerien allein , sind die wahren De-
partements.
In diesem gegenseitigen Verhältniss liegt der Perpendikel der
ganzen Staatsmaschine; und sie ist zerstört, wenn die Minister
^) Konzept von Schreiberhand.
2QO 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
sich in die Administration mischen, oder die Sectionen sich ihrer
Leitung entziehen wollen.
Im ersteren Fall steigen die Minister von ihrem höhern
Standpunkt herab, verlieren sich im Detail, und bringen sich um
die Uebersicht des Ganzen ihres Ministerii, ohne doch je recht in
die einzelnen Sectionen eindringen zu können.
Im letztern machen sich die Sectionen zu Ministerien.
Minister und Sectionschefs aber finden wiederum ihre Einheit
im Staatsrath, als dem wahren Centralpunkt der ganzen Steinischen
Verfassung.
Im Staatsrath werden alle Sachen von allgemeiner Wichtig-
keit, ohne Ausnahme, vorgetragen. Das Cabinet ist bloss ein
Mittel zur Controlle, und zur Erleichterung der Uebersicht für
die Person des Königs. Die Sectionschefs haben gleiche Stimme
mit den Ministern, und ihr Verhältniss nimmt hier eine andre
Gestalt an. Die Minister, als Mitglieder des Staatsraths, sind, wie
ausdrücklich gesagt ist, zugleich Geheime Staatsräthe. Auch ist
dies sehr natürlich. Denn hier ist nicht mehr von der Haltung
schon festgesetzter Schranken, sondern von der Festsetzung der
Schranken selbst, nicht mehr von Leitung und Controlle einer
einzelnen Behörde, sondern des Ganzen die Rede.
Sectionen und Staatsrath hängen nun dermassen von einander
ab, dass nur unter der Voraussetzung eines Staatsraths die Sec-
tionen noch nützlich, ohne denselben aber durchaus gefährlich
und verderblich werden.
Alle Verwaltungszweige sind auf das innigste mit einander
verbunden; alle Verwaltung hängt wieder unaufhörlich von der
jedesmaligen den Umständen und Zeiten nach unausbleiblich
wechslenden Stimmung der Regierung ab, insofern unter Regierung
der Landesherr und das Total der Mitglieder der obersten Ver-
waltungs-Behörde verstanden wird; und jede gute Administration
d h. eine solche, die sich nicht an Abmachung der vorkommenden
Geschäfte begnügt, sondern die ihr anvertraute ganze Parthie so
weit bringen will, als es jedesmal möglich ist, setzt in dem Chef
nicht bloss Grundsätze und Motive bei jedem einzelnen Schritt,,
sondern einen durchgehenden und herrschenden Geist voraus.
Wer nun das Treiben der andern Verwaltungszweige nur
von ferne kennt, wer die Regierung nur immer in ihren Resul-
taten, nie in ihrem Wirken sieht, wer nicht selbst bemerken kann,
wohin ihre Stimmung geht, was von ihr zurückgewiesen, was mit
A. Generalverwaltunssberichte der Sektion, f.
231
Kälte, was mit Lebhaftigkeit aufgenommen wird, der verliert die
Lust mehr zu thun, als das alte Rad fortzulaufen, weil er keine
sichere Spur sieht, geht über das hinaus, was sich durchsetzen
lässt, oder bleibt dahinter zurück, weiss nicht, was er wagen
und nicht wagen soll, und läuft Gefahr, vielleicht lange fort-
zuarbeiten, ehe er bemerkt, dass er eine ganz andere Methode
und ganz andere Mittel einschlagen muss. Er administrirt isolirt,
und jede isolirte Administration ist eine schlechte Administration.
In solcher Lage ist der Sectionschef ohne Staatsrath. Er er-
fährt alsdann unausbleiblich folgende Xachtheile:
er kann seine Anträge nicht mehr selbst vertreten;
er kann seine Meynung, wo sie von der des Ministers
abweicht, nicht selbst rechtfertigen;
er kann, was so sehr wichtig, und wo alle gut gestimmt
sind, nicht schwer ist, der Regierung im Ganzen keinen
seiner einzelnen Parthie vorteilhaften Impuls geben;
er kann keinen Wink benutzen, der ihm so oft aus
der Behandlung anderer Angelegenheiten zukommt;
er läuft Gefahr, dass ein anderer Minister, vielleicht sein
eigener für eine andere Section einen Vorschlag macht, der
auf die seinige nachtheilig zurückwirkt, und dass sein, ihn
vertretender Minister, der mit seiner besonderen Parthie
nicht so vertraut seyn kann, es unbeachtet lässt;
er läuft auf dieselbe Weise Gefahr, dass Vortheile un-
benutzt bleiben, die aus solchen Vorschlägen für seine Sec-
tion entstehen können.
Bei dieser Lage der Sache wird dem Sectionschef nichts übrig
bleiben, als viel häufiger bei dem Minister anzufragen, als er sonst
thun würde, und ihn selbst einzuladen, sich um das Detail seiner
Parthie zu bekümmern, und Minister und Sectionschef werden
beide gezwungen werden zu thun, was dem Steinischen Plane
durchaus zuwider ist : ministerielle Leitung und Sectionsadministra-
tion mit einander zu vermischen. Solange beide das aber nicht
klar und rein aussprechen, wird es nur halb und zufallsweise ge-
schehen, und die Verwaltung wird schlechter seyn, als die ehe-
malige, wo die Minister ganz und allein dirigirten.
Recapitulirt man alles Vorhergehende, so ist klar, dass, wenn
i) die Minister sich in die Administration der Section mischen,
oder
2Q2 3» Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
2) die Sectionen selbstständig seyn sollen, ohne dass es einen
Staatsrath giebt,
die Geschäftsführung nach dem Steinischen Plan unzusammen-
hängend, unhaltbar und verderblich wird.
In jedem dieser Fälle, und noch mehr, wenn beide zusammen
kommen, muss daher jeder Sections-Chef, der es ehrlich mit der
Sache me3^nt, wünschen, dass sein Minister auch seine Section
dirigire, ihm seine precaire Selbstständigkeit abnehme, und ihn
zum bloss vortragenden Rathe, ungefähr nach Art der ehemaligen
Geheimen Finanzräthe, mache.
Dass, wenn es keinen Staatsrath giebt, die Minister nicht
umhin können sich in die Administration zu mischen, und die
Sectionschefs es zu wünschen, ist eben gezeigt worden. Die Frage
ist also nur: kann es einen Staatsrath geben, oder nicht?
An sich und der Sache nach, sehr wohl und ohne Bedenken.
Die Nachtheile, die man befürchtet, sind:
Partheigeist und unnützes Gezanke,
Schwatzhaftigkeit und Uebergewicht der Sectionschefs über
die Minister.
Den ersten Nachtheil zu vermeiden hängt von der Festigkeit
und der Autorität des Präsidii ab. Ist dies der König, so fällt
auch die leiseste Besorgniss deshalb weg. Ist es ein Minister, so
wird er zu imponiren verstehen. Vergisst sich einer dennoch, so
ist die Suspension seines Rechts auf einige Sessionen und die
Entfernung von seiner Stelle bei Rückfällen die natürliche Folge.
Gegen die Schwatzhaftigkeit sind dieselben Mittel vorhanden.
Ueberdies aber sind die Sectionschefs so wenige, dass die Zahl
der Personen nicht zu sehr durch sie vermehrt wird.
Auf den letzten Punkt ist es, wie man fühlt, delicat zu ant-
worten. Man kann aber wohl mit Recht sagen, dass ein Minister,
welcher sich vertraut, dies Uebergewicht nicht besorgen wird.
Soll aber der Staatsrath wirklich nützlich seyn, so muss er
folgende drei Bedingungen erfüllen:
i) es müssen alle innere Civil-Landes Angelegenheiten , ohne
Ausnahme, an ihn, und niemals, mit Vorbeigehung seiner, un-
mittelbar an das Cabinet gebracht werden;
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, f. 2^^
2) die Sectionschefs müssen mit den Ministern durchaus gleiche
Stimme haben, und es muss jedesmal ein wahres Conclusum nach
der Stimmenmehrheit abgefasst werden;
3) es muss hinter dem Staatsrath her entweder gar keine
Cabinets-Vorträge mehr geben, oder es müssen in denselben nicht
mehr die blossen Anträge einzelner Sectionschefs und Minister,
sondern zugleich die Conclusa des Staatsraths der Person des
Königs zur Vollziehung oder Verwerfung vorgelegt werden.
Erfüllt man diese Bedingungen nicht streng , sondern will
man gleichsam einen modificirten Staatsrath einführen, es sey nun
dass man, nach Willkühr, nur gewisse Sectionschefs,
mit Ausschluss anderer zuziehe;
oder zwar nach einer beständigen Regel immer die-
jenigen, deren Berichte an den König gerade vorliegen,
über diese Berichte, allein keine andern, und jene nicht
über andere Gegenstände;
oder nur gewisse Angelegenheiten an denselben bringe,
andere nicht;
oder endlich die Berathung in demselben bloss als vor-
läufige Discussion ansehe, und im Cabinet ohne Rücksicht
auf die Stimmenmehrheit in der Vorconferenz die Sache
von Neuem zur Sprache bringe,
so kann eine solche Einrichtung nie das Uebel heilen, sondern
muss dasselbe vielmehr, wie jede Palliativcur, w^o eine radicale
möglich ist, schlimmer und gefährlicher machen.
Dasjenige, wohin der jetzige Zustand führen muss, ist sichtbar:
dass die Selbstständigkeit der Sectionschefs nach und nach
aufhört, ohne dass dieselben doch die Verantwortlichkeit
verlieren, und ohne dass die Minister wahrhaft dirigiren.
Dieser Zustand aber ist nicht nur für die Personen der
drückendste, sondern auch für die Sache ganz und gar verderblich.
Denn es ist eine Verwischung der Gränzen der leitenden und
administrirenden Behörden, ohne Princip, nach Willkühr und
Zufall.
Das einzige Mittel, diesem Uebel vorzubeugen, ist:
Die Einrichtung eines wahren Staatsraths.
Will man diese nicht, oder ist ein Staatsrath mit den Per-
sonen, die ihn jetzt ausmachen müssten, ent\veder nicht ausführ-
204 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
bar, oder in der Ausführung, die sich erwarten lässt, nicht rath-
sam, so bleibt nichts übrig, als
Vernichtung des Steinischen Plans, Vervielfältigung der
Ministeria, Aufhebung der Sectionschefs, und Organisirung
eines Staatsraths aus blossen Ministern, denen man aber
nothwendig einige gar nicht administrirende Mitglieder zu-
ordnen müsste.
Dass des sehr wichtigen Gedankens:
dass ein ächter Staatsrath zum grössten Theile aus solchen
Mitgliedern bestehen müsste, und die Minister nur neben-
her ein Recht darin zu sitzen erhielten,,
hier nicht erwähnt worden ist, rührt daher, dass hier nur von
der leichtesten Abhelfung der gröbsten Mängel der jetzigen Ver-
fassung gesprochen werden sollte, und man auf Ausführung, nicht
Kritik des Steinischen Planes ausging. Denn unstreitig ist es ein
sehr wesentlicher Mangel in diesem Plan, dass dieser Gedanke
darin gar nicht, wie er sollte, aufgefasst, und daher der Begriff
eines eigentlichen Staatsrathes und eigentlicher Staatsräthe gänz-
lich verfehlt ist. Man sieht es überhaupt diesem Plan auf jeder
Seite an, dass er zwar von einem, allgemeiner Ideen fähigen Kopfe,
aber nicht nach Resultaten unabhängigen Nachdenkens, sondern
nach speciellen Erfahrungen und zu speciellen Zwecken gemacht
worden ist. ^)
Königsberg, den i6. August 1809.
In dem verflossenen Monat Julius ist die Organisation der
geistlichen und Schulbehörden um einige sehr bedeutende Schritte
weiter vorgerückt.
Es war ein dringendes Bedürfniss, der Section des Cultus einen
Geistlichen beizuordnen, von dessen Ansehn in der protestantischen
Kirche man sich kräftige Mitwirkung zur Beförderung ächter Reli-
giosität und der zur Erreichung dieses Zwecks vorzunehmenden
1) Hier findet sich folgender Vermerk Dohnas: „pr. 2. Aug. i8og. Ew. Hoch-
iind Wohlgeboren erwiedere ich auf das gefällige Schreiben vom 2 ten d. M. er-
gebenst, dass die Sache wegen Einrichtung des Staatsraths jetzt in der Arbeit
ist und ich hoffe, dass der Wunsch hierunter bald erreicht seyn wird. Königsberg
d. 27^ July i8og. Dohna." In diesen Zusammenhang gehört auch die unten
unter E, h abgedruckte Beschwerde.
^) Konzept von Schreiberhand,
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, f. g. 2^t^
Reformen versprechen konnte. Für die Ausfüllung dieser Lücke
ist durch die von des Königs Majestät genehmigte Berufung
des Ober-Hofpredigers und Kirchenraths Dr. Reinhard^) aus
Dresden gesorgt v^^orden, und die Antwort desselben muss höchst-
wahrscheinlich am Ende gegenwärtigen Monats hier eintreffen.
Da die demselben zu seinem eigentlichen Gehalt zu ertheilende
Zulage noch unbestimmt gelassen war, so habe ich diesen Punkt
durch ein PrivatSchreiben an den Dr. Reinhard, der mir persön-
lich bekannt ist, so einzuleiten gesucht, dass das Zartgefühl des-
selben nicht beleidigt, und doch der Staat nicht mit einer zu be-
deutenden Ausgabe belästigt werde.
Da die Kurmärkische Regierung gegenwärtig in Thätigkeit
getreten ist, so hat das Kurmärkische OberConsistorium
mit dem i \^ Jmjus aufgelöst werden können, und wirklich am
^iten Juli seine letzte Sitzung gehalten. Nach den Ew. Excellenz
bereits hinlänglich bekannten Verfügungen war schon früher das
Schicksal aller Räthe desselben bis auf den Präsidenten von Scheve
und den OberConsistorialrath Hecker bestimmt. Letzterer ist
gegenwärtig auch, mit Beibehaltung seines Gehalts, in Ruhestand
versetzt, der von Scheve aber verdient um so mehr berücksichtigt
und wenigstens jetzt durch Ew. p. für die Zukunft beruhigt zu
werden, als er mit wirklich beifallswürdiger Fassung die Unge-
wissheit, in der er sich befand, ertragen, und allen in Beziehung
auf die neuen Einrichtungen erhaltenen Weisungen pünktliche
Folge geleistet hat.
Mit der Auflösung des Kurmärkischen Consistorii hing das
Aufhören der Thätigkeit des reformirten Kirchen-Directorii und
französischen OberConsistorii, jedoch beider nur für die Kurmark
ab, da sie, wenigstens das erstere, für die übrigen Provinzen noch
fortbestehen müssen.
Bei dem reformirten Kirchendirectorio war bei dieser
GeschäftsTrennung eine Absonderung der generellen Angelegen-
heiten von den besondern der Kurmark erforderlich, und wenn
demselben auch nicht die unter diesem Vorwand gemachten äusserst
übertriebenen Forderungen, nach w^elchen es sich sogar die Be-
setzung der Predigerstellen, auch in der Kurmark, noch vorbe-
halten wollte, haben nachgegeben werden können, so ist ihm doch
^) Franz Volkmar Reinhard (175^— /5'/2); vgl. Schwabe, Der D?-esdner
Oberhofprediger F. V. Reinhard, in den Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche
Schul- und Erziehungsgeschichte 16.
noQ 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1S09 und 1810.
die Aufsicht auf das CandidatenAlumnen-Institut , und die
Verwaltung
der Prediger-Wittwen und Waisen, und der Stadtschulleh-
rer-Wittwen Gasse,
des Gnadenfonds,
der Gasse monä's pietatis'^) und der dieser angehängten
Polnischen StipendienGasse
gelassen worden. Alle diese Gegenstände gehen künftig zur Sec-
tion über. Die GandidatenPrüfungen zu Predigerstellen in der
Kurmark geschehen von jetzt an vor der aus lutherischen und re-
formirten Mitgliedern bestehenden Examinations-Gommission.
Das Französische OberGonsistorium hat die Abgabe der Kur-
märkischen Acten an die Regierung verweigert, und sein Gesuch
um die Fortdauer seiner Selbständigkeit liegt Sr. Majestät dem
König zur Entscheidung vor.
Auf eine in der That höchst unzweckmässige Weise waren
bis jetzt einzelne Kirchen in Berlin unter der Aufsicht eigener
Guratorien nur den Personen der ehemaligen DepartementsMinister
untergeordnet. Dies fand bei dem Dom, der Parochial-, der
Dreifaltigkeits- und der Katholischen St. Hedwigs-
Kirche statt. Die Section hat dieselben, der jetzigen Verfassung
gemäss, sämtlich der geistlichen und Schul-Deputation der Regierung
untergeordnet.
Obgleich die geistliche und SchulDeputation der Kurmärkischen
Regierung erst die Genehmigung ihres Organisations-Plans er-
wartet, so ist doch schon jetzt, nach erfolgter Ankunft des OberGon-
sistorialRaths Natorp, eine hinlängliche Anzahl von Räthen zur
Besorgung der Geschäfte vorhanden.
Bei der hiesigen Regierung ist die bisher noch ledig gebliebene
Regierungsrathsstelle für Schulsachen durch den bisherigen Pro-
fessor Delbrück^) und bei der Liegnitzer Regierung durch den bis-
herigen Gymnasiums-Director Wolfram besetzt worden.
Section des Gultus.
Nachdem S. Majestät der König die Ew. p. in meinem letzten*
monatlichen Bericht angezeigten Verabredungen wegen der künf-
*) Jjber diesen von Friedrich Wilhelm I. gestifteten Schulfonds im Betrage
von so 000 Thalern vgl. Vollmer, Friedrich Wilhelm I. und die Volksschule S. j4.
2) Johann Friedrich Ferdinand Delbrück (1772 — 1848), der Bruder von
Johann Heinrich Delbrück, dem Erzieher des Kronprinzen.
A. Generalverwallungsberichte der Sektion, g. 2^7
tigen Verhältnisse der Feldprediger genehmigt haben, ist das
MilitairDepartement unter Zuziehung des Feldprobsts mit der
ersten Besetzung der noch beibehaltenen Feldpredigerstellen und
ihrer ^^e^theilung in die verschiedenen Garnisonen beschäftigt.
Nach Vollendung dieser Arbeit werden die Feldprediger der Auf-
sicht der Regierungen überwiesen werden.
Auf die schon im Mai an das französische OberConsistorium
ergangene Verfügung über die dem Prediger .... gemachten Be-
schuldigungen Bericht zu erstatten, hat dasselbe ein im December,
1806. beim Französischen Consistoire ordinaire abgehaltenes Proto-
coll eingesandt. Nach demselben hat das Consistorium dem ....
damals den Vorwurf gemacht,
öfter ohne Urlaub verreist zu seyn, sein Amt deshalb ver-
säumt und Geschäfte übernommen zu haben, die demselben
fremd waren, und über die ausserdem schon nachtheilige
Gerüchte herumgingen,
und ihn mit einer Anzeige beim OberConsistorio bedroht. Da
er aber sein Unrecht, ohne Urlaub verreist zu seyn, anerkannt
und um Verzeihung gebeten, sich wegen der übernommenen Ge-
schäfte, als wären sie gerade zum Nutzen seiner Mitbürger ab-
zweckend gewesen, gerechtfertigt, und versprochen, künftig sich
aller Reisen ohne Urlaub, und selbst, w^gen des entstandenen
Argw^ohnes, aller ähnlichen Geschäfte zu enthalten, so hat das
Consistorium die Sache auf sich beruhen lassen. Die Section hat
aber jetzt dem OberConsistorio zu erkennen gegeben, dass das
Consistoire ordinaire sich bei so strafwürdigen Dienstvernachlässig-
ungen des .... auffallend nachsichtig gegen denselben bewiesen,
und näheren Bericht über die Aufführung des .... seit dem De-
cember 1806, und ob er seinem Versprechen pünktlich nachgelebt?
eingefordert. Erst nach Eingang dieses Berichts wird sich eine
endliche Entscheidung über diese in jeder Rücksicht grosse Auf-
merksamkeit verdienende Sache fällen lassen.
Der gleichfalls angeschuldigt gewesene Pfarrer Riemasch in
Laptau hingegen ist bei einer an Ort und Stelle vom Consistorial-
Rath Wald angestellten Untersuchung nicht nur durchaus un-
schuldig, sondern auch auch als ein um die Schule seines Dorfs
und auch sonst ^) verdienter Mann erfunden worden. Weil er
sich jedoch nicht überall vorsichtig benommen, auch durch ehe-
^) liach „sonst' gestrichen: „sehr".
2o8 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
malige, jedoch immer höheren Orts vorher genehmigte, unüber-
legte Verwendung der Kirchenbaugelder seine Gemeine in die
Nothwendigkeit, jetzt auf eigene Kosten zu bauen, versetzt hat,
so ist er deshalb für die Zukunft ernstlich verwarnt worden.
Ueber den Zustand der katholischen Geistlichkeit in
Westpreussen hat der Staatsrath Schmedding sehr interessante
Berichte eingesandt. Obgleich diese keinen Auszug erlauben, so
geht seine Meynung im Ganzen dahin, dass eine neue Dioecese
errichtet, bis dahin aber durch einzelne kräftige Maassregeln den
einzelnen Nachtheilen entgegengearbeitet werden muss. Seine Aeusse-
rungen sind auch insofern beruhigend, dass er die früheren Berichte
über die grosse von der Geistlichkeit im Herzogthum Warschau
und dem Einverständniss einiger inländischer Geistlichen mit der-
selben zu besorgende Gefahr wenigstens für sehr übertrieben hält.
Der OberPräsident von Massow hatte der Section sehr dringend
die Aufnahme einiger Conventualinnen in die jungfräulichen
Stifter zu Liebenthal und Liegnitz empfohlen, und sich vorzüglich
auf den Nutzen berufen, welche die mit dem Liebenthalschen
Stift verbundene MädchenlndustrieSchule stiftet. Da aber die
Cabinets Ordre vom 29^ Februar v. J. nur in den Orden der
Elisabethanerinnen und Ursulinerinnen Novizen aufzunehmen ge-
stattet, und die vorgeschlagenen Personen auch ohne Ablegung
förmlicher Ordensgelübde der gedachten Schule nützlich seyn können,
so hat die Section das Gesuch für jetzt zurückgewiesen.
Section des öffentlichen Unterrichts.
Die Wiederherstellung des ehemaligen lutherischen General-
Schulfonds ist im Laufe des verflossenen Monats nunmehr
vollendet worden. Das FinanzMinisterium hat die sich auf etwas
mehr als 14000 Rth. jährlich belaufende Summe königlicher Zu-
schüsse, welche ehemals zur Ober-SchulCasse flössen, wieder
vom I. Juni c. ab bewilligt, aber auf den Vorschlag der Section
auf die Etats der ProvincialRegierungen übernehmen lassen.
Doch verlieren darum diese Gelder nicht ihre Eigenschaft der
Generalfonds, und ihre Bestimmung hängt immer, ohne an eine
Provinz gebunden zu seyn, von der Section ab. Ein grosser
Theil davon wird in einzelnen, zum Theil so kleinen Zulagen für
Schullehrer zersplittert, dass einige nur 2., 6., viele 10 Rth. jähr-
lich erhalten. Die Section hält diese von dem vorigen Geistlichen
Departement als System angenommene Zersplitterung für durchaus
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, g. 2'?Q
unzweckmässig, und glaubt, dass eine kräftige Verbesserung nur
durch Schulbeiträge der Gemeinen, nicht durch Zuschüsse des
Staats, für welche auch der reichste zu arm ist, zu bewirken steht.
Für jetzt indess wird in der Verwendung jener Summen auf welche die
Personen einmal angewiesen sind, keine Abänderung zu treffen seyn.
Einen neuen, erst kurz vor Ausbruch des letzten Krieges durch
Zuschüsse aus den Tabaks-OfliciantenPensionen gebildeten Ge-
neralSchul-Fonds von 23000 Rthl. jährlich hat das FinanzMiniste-
rium noch wieder in Gang zu bringen abgelehnt, weil die Art
der Verwendung desselben noch nicht bestimmt war, und daher
erst die Xothwendigkeit dieser nachgewiesen werden muss, wes-
halb bereits an die Regierungen verfügt ist.
In Absicht der Organisation der untern Schulbehörden ist die
Section jetzt mit einem Reglement für die städtischen Schulde-
putationen beschäftigt.^) In hiesiger Stadt sind bereits vier, sich
vorzüglich durch patriotische und liberale Gesinnung auszeichnende
Mitglieder der Stadtverordneten
der Consistorial [Rath] Busolt
Stadtrath Hagedorn
unter Vorsitz
und Beiordnung
Kaufmann Richter und
Buchhändler Xicolovius
des Stadtraths Hörn
des Stadtraths Glagau
zur Schuldeputation gewählt worden, eine Wahl, welche die Sec-
tion zu beschleunigen und zu lenken bemüht gewesen ist, um
hier sogleich den ersten Versuch einer Verbesserung des städtischen
Schulwesens durch eine allgemeine Bürgerabgabe zu machen.^)
Da es gut schien, um desto kräftiger auf die Litthauische
Nation zu wirken, einen jungen Litthauer nach Yverdun zur Er-
lernung der Pestalozzischen Methode zu senden, so ist ein
sich durch grossen Eifer für das Lehrfach, Lebhaftigkeit des Kopfes,
hinlängliche schon gesammelte Kenntnisse, und eine grosse Ein-
fachheit und Offenheit des Charakters empfehlender junger Mensch,
Namens Macik aus Barscheiten, dazu gewählt worden. Er wird
') Vgl. Band 10, 115.
2) Vgl. Hollack lind Tromnau, Geschichte des Schulwesens der königlichen
Haupt- und Residenzstadt Königsberg in Preussen S. 62g.
2A0 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
jetzt der 4*3 dort hingesandte Eleve von der bestimmten Zahl der
Zwölfe.
Von dem Plamannschen Institut waren durch dessen
Vorsteher zum Genuss der allerhöchst bewilligten Pension zwei
Subjecte vorgeschlagen, von denen die Section jedoch nur den
einen, Namens Schmidt, von welchem sich etwas Bedeutendes
hoffen lässt, genehmigt hat. Wegen der andern Stelle ist ein
anderweitiger Vorschlag aufgegeben worden.
Die Wahl des bisherigen Prorectors Schummel zum Rector
am Elisabethano in Breslau ist von der Section förmlich
annullirt worden, da, die gegen den Schummel sonst erhobenen
Einwürfe abgerechnet, er, nach allen eingezogenen Nachrichten,
dieser Stelle nicht gewachsen war.^) An das vom Magistrat zu
Breslau bisher ausgeübte Recht aber, die Prediger und Schullehrer,
ohne Bestätigung, zu wählen, hat die Section nicht sich binden
zu müssen geglaubt, weil der Umfang der ConsistorialRechte
des Breslauer Magistrats überhaupt noch streitig ist, nach dem
allgemeinen Landrecht alle MediatConsistoria unter der Geistlichen
Oberbehörde stehen, und eine ältere allgemeine Verordnung alle
Magistratswahlen der höhern Bestätigung unterwirft. Zu einer
neuen Wahl ist der jetzige Magistrat veranlasst, aber ihm ge-
äussert, dass es zweckmässiger seyn werde, wenn er der Section
3 Candidaten zur eignen Wahl in Vorschlag bringe, und weil er
hierin eine Schmälerung seines Patronatsrechts finden könnte,
dem Vice-Regierungs-Präsidenten Merkel die geschickte Einleitung
dieser von ihm angegebenen Maassregel aufgetragen worden.^)
Bei dem Joachim stha Ischen Schuldire ct'orio ist nun-
mehr, auf Vorschlag der Section, bestimmt worden, dass diejenigen
Mitglieder, welche andere Aemter erhalten, aus demselben, mit
Verzichtleistung auf ihre Bestallung, austreten sollen.
Eines der grössten Gebrechen unsers Schulwesens ist die
Nachlässigkeit bei den Prüfungen der von den gelehrten Schulen
zur Universität abgehenden jungen Leute, und dass der Titel ge-
1) Johann Gottlieb Schummel {1J48—181J), Schulmann und Schriftsteller^
bekannt durch seine satirische Kritik des Philanthropismus, vom Minister Zedlitz
geschätzt, seit i'j'jS Prorektor am Breslauer Elisabethanum ; vgl. Band 10,
214 und Wiedemanns Aufsatz in der Festschrift zur Feier des j^sojährigeyi Be-
stehens der Anstalt (Br-eslau igi2).
2) Vgl. das Band 10, ijÖ abgedruckte Aktenstück über die Patronatsrechte.
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, g. 24 1
lehrter Schulen und das Recht zur Universität zu dimittiren Schulen
verstattet v^^orden ist, welche, schon ihrer kärglichen Dotirung
wegen, nicht darauf Anspruch zu machen im Stande sind. Ein-
führung grösserer Strenge bei jenen Prüfungen und Verminde-
rung der gelehrten Schulen sind daher ein Hauptaugenmerk der
Section.^)
^^on diesen Grundsätzen geleitet, hat sie auf den Vorschlag
der litthauischen Regierung, in welcher der Geist ihres gegen-
wärtigen Chefs schon jetzt sehr sichtbar wird, der Schule zu
Angerburg sich als gelehrte Schule zu geriren untersagt. Sie
ist dazu durch die geringe Anzahl der Lehrer, deren es nur vier
giebt, um die jungen Leute von den Elementen des Buchstabirens
bis zur Universität zu führen, und die höchst unvollkommene
Beschaffenheit ihrer letzten eingereichten Prüfungsarbeiten bewogen
worden, und übrigens nur in die Fussstapfen des vorigen geist-
lichen Departements getreten, welches die Wirksamkeit dieser An-
stalt, als gelehrte Schule, schon suspendirt hatte, ohne dass jedoch
gehörig auf Befolgung dieser Verfügung geachtet worden war.
Der Finanzzustand der Blindenanstalt ist durch eine
Königliche Cabinets-Ordre, welche ihr 1550 Rth. jährlich zugetheilt,
aufs Neue gesichert, und ihr Wirkungskreis dadurch, dass man
dem Vorsteher unentgeldlichen Unterricht armer Kinder zur Pflicht
gemacht hat, erweitert worden.
Ein gleiches soll nunmehr auch mit dem Taubstummen-
Institut geschehen.
Immer aber muss man gestehen, dass diese Anstalten für
ihren, doch nur beschränkten Zweck äusserst kostbar sind, und
dass es daher wünschenswerth wäre, wenn man, w4e der Re
gierungsrath Zeller verspricht, und wie, seiner Versicherung nach,
schon an einigen Orten geschieht, Taubstummen und Blinde auch
in den gewöhnlichen Elementarschulen unterrichten könnte.
Dem Uebelstande, dass in Berlin in der Nähe einiger Gymna-
sien Bordell wirtschaften waren, ist, auf meine Beschwerde,
vom PolizeiDirectorio abgeholfen und diese Häuser, ein einziges
ausgenommen, wo dies nicht füglich anging, in andere Strassen
verlegt worden.^)
*) Vgl. die Darstellung bei Gebhardt i, 2j^ und Spranger S. 2j4.
2) Die Beschwerde, die in den Akten erhalten ist, bezieht sich auf die Um-
gebung des Gymnasiums zum Grauen Kloster.
W. V. Humboldt, Werke. Xm. l6
2 12 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Für die Universitäten hat, da die Antworten der für
Frankfurth und Königsberg berufenen Lehrer noch nicht ein-
gelaufen sind, nichts weiter geschehen können.
Dem Professor Schleiermacher ist indess bis zur Errich-
tung der in Berlin ein Wartegeld von 500 Rth. angewiesen worden.^)
Bei der Academie der Wissenschaften haben des Königs
Majestät dem Geheimen Rath Hermbstädt'^) die durch den Tod
des Kriegsraths Kuhn erledigte Besoldung von 200 Rth. jedoch
dergestalt ertheilt, dass die wirkliche Auszahlung vom Zustande
der Gasse der Academie abhängig gemacht worden ist.
Die Kunst- und Bau -Academie sind zwar jetzt wirklich
an die Section übergegangen; indess hat der Staatsrath Uhden in
Berlin noch immer nicht die Ablieferung aller Acten, die Ueber-
gabe der Gasse, und die Auszahlung von 200 Rth., wegen welcher
die Verfügung schon am 1^^ Junius c. vom FinanzMinisterium
erlassen wurde, vom Geheimen Staatsrath Sack, ungeachtet der Befehle
Ew. p. und der ergangenen GabinetsOrdre, erlangen können. Die
Section wartet noch einen Bericht des Uhden ab, um hernach
andere Maassregeln zu ergreifen.
Die Pension des in Rom studirenden Bildhauers Rauch ist
durch eine allerhöchste GabinetsOrdre bis auf 400 Rth. jährlich
erhöhet worden.
Schliesslich muss ich Ew. p. um geneigte Entschuldigung der
verzögerten Abstattung dieses Berichts gehorsamst ersuchen.
16^ August 1809.
Humboldt.
An
des Königlichen Wirklichen Geheimen Staats- und dirigirenden
Minister des Innern Herren Grafen zu Dohna Excellenz.
h.3)
Königsberg, den 16. September, 1809.
In dem verflossenen Monat ist eine Angelegenheit berichtigt
worden, die seit vielen Monaten eine laute Beschwerde aller geist-
lichen und Schulbedienten ausmachte, und für welche auch die
^) Vgl. den Band 10, 80 abgedruckten Antrag.
*) Sigismiind Hermbstädt [1^60 — 18^^, Chemiker, Technolog und Pharma-
kolog, seit i-jgi Professor beim Collegium medico-chirurgicum.
^) Konzept von Humboldts Hand; ein zweites von Schreiberhand liegt bei.
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, g. h. 24^
Section des Cultus und öftentlichen Unterrichts sich thätig ver-
wandt hatte, die Praegravation, welche die Geistlichen
bei Vertheilung der Kriegslasten erfahren zu haben
behaupteten. Man hat ihnen nemlich nachgelassen, hypothekarische
Schulden auf das Kirchenvermögen aufzunehmen, und nun all-
mälig zu tilgen. Da aber dieser Gegenstand durch das Ministerium
selbst entschieden worden ist, so ist das Detail davon Ew. Excellenz
hinreichend bekannt.
Die auch in andern Provinzen nicht selten vorkommenden
Klagen, dass den Geistlichen und Schullehrern die ihnen zu-
kommenden x\bgaben nicht gehörig entrichtet werden, waren in
Litthauen so häufig geworden, dass die Regierung sich genöthigt
gesehen hatte, in vielen Orten Execution deshalb zu verfügen.
Das Insterburgische OberLandesGericht hatte sich aber heraus-
genommen, diese Execution einseitig zu inhibiren. Auf
die Vorstellungen der Section hat der Grosskanzler dem Ober-
landesGericht dies verfassungswidrige \^erfahren untersagt. Die
Section hat dagegen auch die Regierung aufgefordert mit den
Executionsverfügungen nicht zu rasch und häufig vorzugehen, um,
da viele dortige Unterthanen seit Jahren mit diesen Abgaben in
Rest sind, ihnen nicht auf Einmal zu hart zu fallen.
Zwischen der Section der directen und indirecten Abgaben und
•der Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts war die Frage
entstanden, ob die den Geistlichen und Schulbedienten competirende
Brau-Bonification auch den E m e r i t i s verstattet werden könne.
Die Abgabensection hatte diese Vergünstigung anfangs schlechter-
dings nur Einem (entweder dem Emerito, oder dem wirklich
Angestellten nach Wahl der Section des Cultus p.) zugestehen
wollen. Sie hat sich aber in der Folge doch bereit erklärt, den
Emeritis, da die BrauBonification natürlich den wirklich thätigen
Geistlichen verbleiben muss, die NaturalAcciseFreiheit zu ge-
währen.
Section des Cultus.
Die Verhältnisse des Domkirch enD irectorii, das bisher
«in durchaus eignes Collegium ausgemacht, und nur unter der
unmittelbaren Leitung des reformirten geistlichen Ministers ge-
-standen hatte, sind durch die CabinetsOrdre vom i8. v. M. nun
auch dergestalt regulirt worden, dass dasselbe der geistlichen De-
putation der Kur Märkischen Regierung untergeordnet worden ist,
16*
2aA . 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Durch die Abtretung der dem Herzogthum Warschau zu-
gefallenen Provinzen ist es gekommen, dass geistlich Katho-
lische Rechtshändel derjenigen Dioecesen, deren Bischöfe
sich ausser den Königlichen Staaten befinden, in 2t£^ I n s t a n z eigent-
lich ausser Landes gehen müssten. Da dies nun durchaus ver-
fassungswidrig ist, so ist, auf Vorschlag des JustizMinisterii, die
Einrichtung getroffen w^orden, dass diese Sachen in 2^ Instanz
vor das Officialat in Frauenburg verwiesen werden. ^)
Da sich bereits mehrere Candidaten in Berlin gemeldet haben,
pro Ministerio examinirt zu werden, so ist es nothwendig, jetzt
die Verhältnisse der in Berlin errichteten ExaminationsCom-
mission festzustellen. Die Section ist seit einiger Zeit mit den
beiden Berlinischen Pröpsten und dem ersten Hofprediger darüber
in Correspondenz. Diese Angelegenheit ist aber mit nicht ge-
ringen Schwierigkeiten verknüpft, da auf der einen Seite die
Prüfungen der Geistlichen wirklich in Beriin besser, als in Pots-
damm besorgt werden können, auch die Verhältnisse der Haupt-
Kirchen in Berlin geschont werden müssen, auf der andern aber
es von der äussersten Wichtigkeit ist, die KurMärkische Regierung
nicht gegen andere Regierungen, bloss ihrer, freilich in allem,
was das geistliche und Schulfach betrilft, höchst nachtheiligen Ver-
legung nach Potsdamm wegen, zu sehr zurückzusetzen, und
ihr dadurch das nöthige Ansehen bei den Geistlichen zu be
nehmen.
Seit dem letzten unglücklichen Kriege waren eine grosse An-
zahl von PredigerBesoldungen, die auf General-Gassen
angewiesen waren, unbezahlt geblieben. Für die Berlinischen
Prediger ist diese Angelegenheit nunmehr auch so gut als gänz-
lich berichtigt worden, indem die auf die GeneraldomainenCasse
und den Französischen Etat angewiesenen Prediger daselbst
sämmtlich vom i. März, c. ab auf andere Gassen übernommen
sind. Mit den auf die DispositionsGasse angewiesenen ist das-
selbe zwar einzeln, wie sie sich gemeldet haben, jedoch so ge-
schehen, dass nicht leicht noch einer unbefriedigt geblieben seyn
wird. Sehr dringend wird aber jetzt die Befriedigung der Fran-
zösischen Prediger ausserhalb Berlin, für die das FinanzMiniste-
rium eher thätig zu sorgen verweigert hat, bis die ganze Ange-
legenheit des Französischen Etats abgemacht seyn wird. Künftig
^) Vgl. Gebhardt i, 2gi.
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, h. 24^,
sollen, was im höchsten Grade zweckmässig ist, alle Prediger-
gehalte auf die Provincial-Cassen übernommen werden.
Section des öffentlichen Unterrichts.
Ew. p. werden aus meinem letzten monatlichen Bericht er-
sehen haben, wie das FinanzMinisterium die ehemaligen Zuschüsse
zu der OberSchulCasse wieder in Gang gebracht hat. Dasselbe
wollte jedoch damals die sonst ad extraordinaria verwandte
Summe von 2000 Rth. auf 1500 Rth. herabsetzen, weil die
Monarchie beträchtlich verringert sey. Auf meine Vorstellung
aber, dass dagegen auch Schlesien, das ehemals vom OberSchul
Collegio getrennt war, zur Section gehöre, hat das FinanzMiniste-
rium jetzt die ganze Summe unverkürzt gelassen. Dieses quanium
war ehemals, und soll jetzt wieder bestimmt seyn zu den so
äusserst nothwendigen Reisen des SectionsChefs und der Räthe
durch die Provinzen, und zu kleinen ausserordentlichen Be-
willigungen und Remunerationen. Zu letzteren habe ich schon
jetzt, um Ew. p. nur dies Eine Beispiel anzuführen, eine sehr
nützliche Gelegenheit gefunden, indem ich dem Professor Herbart,
dessen Tendenz vorzüglich auf Paedagogik und Prüfung der
gegenwärtigen Erziehungssysteme gerichtet ist, versprochen habe,
armen Studirenden, die er zum Versuche dieser oder jener
Methode beim Unterricht gebraucht, kleine Aufmunterungen (von
5, IG Rth. bis 100 zusammen höchstens jährlich) zu geben. ^) Ew. p.
haben nun genehmigt, dass ich, ohne weitere vorherige Anfrage,
über diese Summen disponirte, es ist jedoch in der Antwort der
Zusatz enthalten:
„insofern die Verordnung vom 24. November 1808 dies verstat-
tet." Ich halte es daher für nöthig hinzuzufügen, dass dies letztere
keinem Zweifel ausgesetzt seyn kann. Denn diese Verordnung
verlangt nur die Vollziehung der HauptEtats jeder Departements
Parthie durch den Minister, und in diesem HauptEtat würde
jene Summe nur unter dem allgemeinen Namen ^^ad Extra-
ordinaria!'- vorkommen können. Es heisst aber auch S. 13 fr. aus-
drücklich :
„Rücksichtlich kleiner Unterstützungen und GnadenGe-
schenke werden ihnen (den Geheimen StaatsRäthen) be-
') Vgl. Herbarts Sämtliche Werke i4,2j Kehrbach und die weitere Literatur
bei Spranger S. 224.
2aQ 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
sondere Fonds zur freien Disposition bis zu gewissen
NormalSummen angewiesen; ausserdem ist die Genehmi-
gungs-Einholung erforderlich."
Ich brauche übrigens Ew. p. nicht zu versichern, dass ich
dies nur darum bemerke, weil es mir nothwendig scheint, alles,
was Geschäfte betrifft, einer genauen und festen Bestimmung zu
unterwerfen, weil es mir peinlich seyn würde, Ew. p. mit Kleinig-
keiten zu behelligen, und weil ich endlich weiss, dass Sie durch-
aus mit dem Grundsatz einverstanden sind, welcher die Seele der
Verordnung vom 24. November ausmacht, und ohne den das ganze
Verhältniss und der ganze Nutzen der Sectionen über den Haufen
fällt, dass nemlich alles blosse Administrationsdetail den Sectionen
überlassen werden, und der Minister nur die zur obersten Leitung
und Controlle nothwendige Kenntniss davon nehmen muss. Um
Ew. p. diese Kenntniss zu verschaffen, bemühe ich mich, in meinen
monatlichen Berichten nichts irgend Erhebliches zu übergehen,
und werde sehr gern, wenn sich hierin unwillkührliche Mängel
einschleichen sollten, Ew. p. Erinnerungen hierüber empfangen,
da mir nichts so wünschenswerth seyn kann, als die genaueste
und speciellste Theilnahme Ew. p. an der von Sr. Majestät dem
König meiner Leitung anvertrauten Parthie.
Dr. Piamann, dem durch eine CabinetsOrdre zugesichert
worden war, dass zwei aus Königlichen Gassen zu pensionnirende
junge Leute sich bei ihm in der Pestalozzischen Methode üben
sollten, hat nunmehr auch zu der zweiten, nach meinem Bericht
vom vorigen Monat noch offnen Stelle ein Subject vorgeschlagen,
welches die Section bestätigt hat. Es ist dies der Studiosus
Süssenbach aus Frankfurt, der von den Professoren Thilo und
Bredow die günstigsten Zeugnisse seines Talents und seines Eifers
für das Erziehungsfach erhält, und schon im Sinn hatte, für sich
eine Reise zu Pestalozzi zu unternehmen.
In die durch die Versetzungdes Professor Delbrück i) nach Königs-
berg erledigte Collaboratorstelle beim BerlinischCöllnischen
Gymnasium ist der Professor Heinsius gerückt, und zu der von
diesem bisher bekleideten jüngsten Collaboratorstelle hat der Ma-
gistrat den bisherigen Subrector der Cöllnischen Schule Land-
schuftz wiederum gewählt. Die Section hat zwar aus dem Wahl-
protocolle gesehen, dass der Magistrat unter den vier Competenten
') Vgl. oben S. 2j6.
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, h. 247
mit Uebergehung des überaus vorzüglichen Prorectors Gotthold
in Cüstrin, des jetzt brotlosen Professor Brohm in Posen und des
Collaborators Dr. Ritschi an der Cöllnischen Schule gerade den
am wenigsten gelehrten und bekannten gewählt hat; sie hat sich
jedoch, nach der bestehenden Verfassung, da sich nicht gerade
etwas Bedeutendes gegen den Gewählten einwenden Hess, ihn zu
bestätigen nieht entbrechen können. Der Magistrat hatte zugleich
um den Professortitel für den p. Landschultz angehalten, und es
ist richtig, dass durch eine Cabinets-Ordre vom 4. October 1774
sämmtlichen damaligen und künftigen Lehrern des Gymnasii dieser
Titel und zwar gratis beigelegt ist, nur dass nach einer Verfügung
des lutherisch-geistlichen Departements vom 10. November 1774 der
Magistrat in jedem einzelnen Fall besonders darum einkommen
muss. Da aber eine spätere CabinetsOrdre vom 26. November 1S03
ausdrücklich festsetzt, dass der ProfessorTitel
in Zukunft ausschliesslich den academischen Lehrern, den
Lehrern solcher Institute, bei denen öffentliche Vorlesungen
gehalten werden, als z. B. bei den Medicinischen CoUegien
in Berlin, und solchen Lehrern öffentlicher Schulanstalten,
denen einmal durch die Constitution dieser Anstalten dieser
Charakter zugesichert ist, zu ertheilen
und auch noch bei diesem hier eintretenden Fall die Einschrän-
kung macht,
doch letzteren nur in dem Fall, wenn sie schon öffentlich
anerkannte Beweise einer nicht gewöhnlichen Gelehrsamkeit
gegeben haben, ^)
und dies bei dem Landschultz keineswegs der Fall war, so hat
die Section die Ertheilung des Professortitels um so mehr ab-
geschlagen, als auch neuerlich bei Gelegenheit des p. Grashoff
höheren Orts die Nothwendigkeit, den Professortitel seltener zu
machen, bemerkt worden ist und dies bei der jetzt näher rücken-
den Errichtung der Universität in Berlin noch rathsamer wird
Die Stelle des Subrectors Landschultz soll wieder von einem ge-
wissen Schmidt besetzt werden, und da dieser erst geprüft werden
muss, so ist seine Prüfung, bei noch nicht organisirter wissen-
*) Eine Abschrift dieser beim 400jährigen Jubiläum des Lyzeums zu Stettin
an Massow erlassenen Kabinetsordre befindet sich in den Akten des Kultus-
ministeriums A, Generalia, Landes- und Hoheitssachen 4, i (betreffend Erteilung
der Charaktere und Titel).
2^8 3« Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
schaftlicher Deputation, dem Geheimen Rath Wolf und dem
Professor Schleiermacher ausserordentlich aufgetragen worden.^)
In Züllichau sind bekanntlich drei öffentliche Anstalten, ein
Waisenhaus, ein Schullehrer-Seminarium und ein Paedagogium.
Alle danken der Steinbartischen Familie ihr Daseyn, die beiden
ersten sind aber seit längerer Zeit für königliche Anstalten erklärt
worden; die letzte ist ein blosses Privat-Institut. So vielen Nutzen
auch diese Anstalten gestiftet haben, so zeigte doch jetzt ihr oeco-
nomischer Zustand sowohl, da man unter anderem, um dem
Paedagogium aufzuhelfen, Documente des Waisenhauses verpfändet
hat, als die Beschaffenheit und Vertheilung des Unterrichts, dass
es um so nöthiger war, sie einer genauen und vollständigen Unter-
suchung zu unterwerfen, als auch der jetzige Director, der jüngere
Steinbart, schwerlich seinen Vater ^) ganz zu ersetzen im Stande seyn
möchte. Die Section hat diese Untersuchung, auf den V^or-
schlag des ViceRegierungsPraesidenten Troschel, dem ehemaligen
Kriegs-Rath Fischer aufgetragen, der mit allgemeiner Einsicht in
das Schulwesen eine grosse Thätigkeit verbindet.
Der Plan, welchen die Section zur Verbesserung des hiesigen
Schulwesens entworfen hatte, ist Ew. p. bekannt.^) Ew. p. wissen
auch bereits, welche Schwierigkeiten die Ausführung derselben
findet, ungeachtet den Stadtverordneten die Aufbringung einer
Summe von 20000 Rth. durch die CabinetsOrdre vom 26. pr.
aufgegeben worden war. Ohne daher Ew. p. mit Wiederholung
dieser Umstände zu ermüden, füge ich nur einige Bemerkungen
über die Nothwendigkeit der Reform, und die Unmöglichkeit, die
Mittel dazu auf andre Weise herbeizuschaffen, hinzu. Das Mis-
verhältniss unter den drei hiesigen magistratischen gelehrten Schu-
len ist so gross, dass die Altstädtische 400, die Kneiphöfische 100,
die Löbenichtsche 70 Schüler hat. Die Frequenz auf der erstem
entsteht lediglich durch die Thätigkeit des Rectors Haman*) und
die Schlechtigkeit der andern Schulen; sie ist aber, da bei der
verhältnissmässig geringen Lehrerzahl die Zöglinge nicht übersehen
^) Vgl. Heidemann, Geschichte des Grauen Klosters zu Berlin S. 279 und
Humboldts Briefe an WolJ in Fleckeisens Neuen Jahrbüchern für Philologie
und Pädodogik 752, 2^2. 295. ^00.
") Vgl. oben S. 225 Anm.
^) Abgedruckt unten unter C, a.
*) Johann Michael Hamann {i']6g — 181^, Sohn Johann Georg Hamanns,
seit lygö Rektor der Altstädtischen Schule.
A. Generalverw'altungsberichte der Sektion, h.
249
werden können, offenbar dem Unterricht schädlich. Dennoch ist
es unmöglich, onne ansehnliche Geldzuschüsse dem Uebel abzu-
helfen, da die Lehrer jetzt nur vermöge des Schulgeldes bestehen
können, keiner aber leicht auf die ungewisse Aussicht, seine Anstalt
so ansehnlich zu haben, wenn er irgend ein besseres Mittel der
Subsistenz weiss, eine Stelle im Kneiphof, oder Löbenicht an-
nehmen kann, mithin die Sache immer dieselbe bleibt, und die
Section, wie bei einer eben jetzt entstandenen Vacanz wieder der
Fall seyn wird, in die Nothwendigkeit kommt, höchst mittel-
mässige Subjecte bestätigen zu müssen. Wie schlecht aber die
Lehrer gesetzt sind, können Ew. p. daraus sehen, dass keiner der
Rectoren ein Gehalt von 400 Rth. bezieht, die Lehrerbesoldungen
aber grösstentheils unter 200 Rth. sind. Ueberhaupt betragen die
Einnahmen sämmtHcher drei gelehrten Schulen, ohne das Schul-
geld, nur 5652 Rth., da in Berlin z. B. ohne die reichen Anstalten
zu erwähnen, das Berlinisch-Cöllnische Gymnasium, ohne die Zu-
schüsse aus der Streitischen Stiftung, allein 6000 Rth. bezieht.
Diese Revenuen fliessen aber bis auf 1500 Rth., welche die
Kämmerei hergiebt, aus den KirchenCassen, und sind, da diese
meistentheils verarmt sind, in Gefahr ganz zu versiegen. Auch
haben in der That die Lehrer ihr Gehalt seit mehreren Monaten
nicht bekommen. Dabei sind die Gebäude in einem solchen Zu-
stande, dass in der Altstädtischen Schule z. B. eine Ciassenstube
im Winter vor Rauch kaum brauchbar ist, und zwei durch eine
so dünne Wand getrennt sind, dass man jedes in der einen ge-
sprochene Wort in der andern hört. Nimmt man nun das Innere
hinzu, so kann man mit Wahrheit behaupten, dass, wenn man
von der einzigen Altstädtischen Schule, gegen die sich doch auch
noch Manches erinnern lässt, abgeht, die Schulen sich in keiner
der grösseren Städte der Monarchie in einem so kläglichen Zu-
stand, als in Königsberg, befinden. Mittel aber, diesen Zustand
zu verbessern, giebt es, ohne einen Beitrag der Stadt, so gut als
keine. Denn gute Lehrer sind bei so schlechten und ungewissen
Besoldungen zu erhalten unmöglich, und die Section darf um so
weniger wagen, dem König Vorschläge zu machen, für die hiesigen
magistratischen Schulen Summen aus Königlichen Gassen zuzu-
geben, als schon das gleichfalls ganz in Verfall gerathene Collegium
Fridericianum einen nicht unbedeutenden Zuschuss verlangt, wenn
es wieder gehoben werden soll. Dies aber ist durchaus noth-
wendig, wenn es möglich seyn soll, die Kneiphöfische und Lobe-
2C0 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
nichtsche Schule in Bürgerschulen zu verwandeln, und ihnen das
traurige Recht zu nehmen, höchst mittelmässig vorbereitete Schüler
zur Universität zu dimittiren.
Die Regulirung des neuen Etats der Universität Königs-
berg und die Pensionnirung der nicht mehr brauchbaren Pro-
fessoren hat noch nicht Statt finden können, weil der zuerst schon
am 21. Mai, c. eingereichte Vertheilungsplan der von des Königs
Majestät bewilligten Zuschüsse noch nicht an die Section zurück-
gekommen ist. Es entspringt hieraus der Uebelstand, dass die
zur Pension vorgeschlagenen Professoren noch haben im Lections-
Catalog für das nächste Winter Halbe Jahr aufgeführt werden
müssen. Selbst der Bau der zum Klinischen Institut angewiesenen
Locale wäre unterblieben, und somit diese so nützliche Anstalt
gänzlich aufgehalten worden, wenn Ew. p. nicht die Güte gehabt
hätten, die Fortsetzung des Baues, auch ohne die Königliche
Genehmigung, auf Sich zu nehmen.
Da sowohl der Professor Pott in Helmstädt, als der Professor
Augusti^) in Jena den an sie ergangenen Ruf ausgeschlagen haben,
so hat die erledigte theologische Professur in Frankfurt noch
nicht wieder besetzt werden können. Die Section hofft indess
noch vor dem Winter in neuen Versuchen glücklicher zu seyn.
Da es einen sehr guten Eindruck machen würde, wenn die
Geheimen Räthe Wolf, und Schmalz, und die Professoren Schleier-
macher und Fichte schon in diesem Winter Vorlesungen in Berlin
hielten ; so hatte ich, sobald nur Hofnung war, das Prinz Heinrichsche
Palais für die Berliner Universität zu erlangen, einen Saal zu einem
öffentlichen Auditorium darin auswählen, und mit Anfertigung
der nöthigen Bänke und Tische immer anfangen lassen. In der
CabinetsOrdre vom i6. August haben nun des Königs Majestät die
Errichtung der Universität aufs Neue zu beschliessen geruht, und
derselben in Verbindung mit den beiden Akademieen und den
wissenschaftlichen Instituten Domainen von 150000 Rth. Ertrag
unter den Ew. p. bekannten Bedingungen zu verleihen geruht.
In der darauf mit dem Finanz- und JustizMinisterio am 28. ej.
gehaltenen Conferenz^) ist vorläufig festgesetzt worden, dass die
^) Johann Christian Wilhelm Augusti {1771—1841), Alttestamentier und
Orientalist.
2) Vgl. Band w, i^S. Der weiter unten erwähnte Zusatz Humboldts ist von
Gebhardt ebenda nicht aufgenommen worden ; er ist abgedruckt bei Köpke,
A. Generalverwaltungsberichte der Sektion, h. 2^1
Auswahl der Domainen der DomainenSection überlassen werden
soll, jedoch solche Aemter vorzugsweise zu nehmen sind, welche
den KurMärkischen Ständen nicht verpfändet worden, dass (wo-
rüber bereits an den ViceRegierungsPraesidenten Merkel geschrie-
ben worden) in der vom JustizMinisterio auszufertigenden Ur-
kunde die zu saecularisirenden katholisch-geistlichen Güter namhaft
gemacht werden sollen; dass die Administration dieser Domainen
von der KurMärkischen Regierung unter der Firma: Admini-
strationsCommission der gelehrten Anstalten geführt, die Ein-
künfte aber von den Aemtern unmittelbar an die gemeinschaft-
liche Gasse des Instituts gezahlt; die OberAdministration von der
DomainenSection geleitet, die HauptEtats aber von ihr und der
UnterrichtsSection gemeinschaftlich vollzogen werden sollen. Die
Revenuen werden vom i. September c. an berechnet, allein insofern
nicht ihre Disposition sogleich freigegeben wird, als ein, wie alle
andern Staatsschulden zu behandelndes Darlehen betrachtet. Ueber
die jetzt zu bewilligende Summe steht die Section gegenwärtig
mit dem FinanzMinisterio in Correspondenz, es ist aber dabei
schon vorläufig der Grundsatz angenommen, dass die beiden Aca-
demien ihre bisherigen Einkünfte dem Staate abtreten und da-
gegen ihren Antheil an der neuen Verleihung erhalten. Ausserdem
ist in diesem ConferenzProtocoll auch der Punkt enthalten, dass
der Werth der Domainen zwar nach dem diesjährigen Ertrag,
aber ohne Abzug der Remission und Baukosten, bestimmt werden
soll. Hiergegen habe ich geglaubt noch bei Unterzeichnung des
Protocolls schriftlich protestiren zu müssen, habe jedoch bisher
keine Antwort vom FinanzMinisterio erhalten. Da nun die Grün-
dung einer solchen Anstalt für Ew. p. Ministerium gewiss von
grosser Wichtigkeit ist, so ersuche ich Dieselben gehorsamst, Sich
Selbst vor Ausfertigung der Urkunde in Kenntniss der von der
DomainenSection auszuwählenden Aemter geneigtest zu setzen,
um zu beurtheilen, ob sie in der That den vom König zugesicher-
ten Enrag, auch ohne Abzug jener Kosten, zu gewähren im Stande
sind, und das Institut und die dasselbe vertretende Section hierin
zu unterstützen.
Die Kunst- und Bau-Academie hatten seit dem Aus-
bruch des letzten Krieges die ihnen sonst aus Königlichen Gassen
Gründung der Universität Berlin S. irjj ; vgl. Lenz, Geschichte der Universität
Berlin i, ig^.
2L2 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
zufliessenden Zuschüsse, erstere gänzlich, letztere grösstentheils ent-
behrt. Auf den Antrag der Section aber sind dieselben wiederum
mit 21,500 Rth. jährlich angewiesen worden. Die für die hiesige
Kunstschule hat die hiesige Regierung auf ihren Etat übernommen,
dagegen sind die für die BauAcademie, welche ehemals aus mehr
denn 20 verschiedenen ProvinzialCassen kamen, nunmehr sämmt-
lich auf die GeneralCasse überwiesen worden. Indess hat die
Section auch hier bedeutende Ersparungen gemacht, und diese
Zuschüsse sind um 7000 Rth. etwa geringer, als diejenigen, welche
ehemals etatsmässig waren.
Da die Section es für ihre Pflicht hielt, dem Aufseher der
Kunstkammer, Prediger .... ihr Misfallen über den Ver-
lust eines Fässchens mit Medaillen, das ihm auf seiner Flucht ent-
wendet worden ist, zu erkennen zu geben, so hat sich derselbe
hierüber sehr beleidigt gefunden und ^) in einer langen Vertheidi-
gung darthun wollen, wie er bei jenem Verluste ausser aller Schuld
gewesen sey. Seine eigne Erzählung des Hergangs der Sache
aber enthält die deutlichsten Beweise seines unachtsamen und un-
geschickten Benehmens bei diesem Vorfall, und die Section hat
daher nicht umhin gekonnt, ihm dasselbe noch einmal ernstlich
zu verweisen.
Königsberg, den 16. September, 1809.
Humboldt.
An
den Königlichen Wirklichen Geheimen StaatsMinister, Herrn
Grafen zu Dohna, Excellenz. ^)
1) Nach „und" gestrichen: „seine angebliche".
'') Hier findet sich folgender Vermerk Dohnas: „Da die Frist eines Monats
zu kurz ist, um während derselben merkbare Fortschritte in der Administration
zu machen ; so bin ich veranlasst, Ew. Hoch- imd Wohlgeboren von Einreichung
der durch die Verordnung vom 24^^ Novbr. v. J. angeordneten monatlichen
Uebersicht des VerwaltungsZustandes der Ihrer Leitung anvertrauten Section
für den Kultus und öffentlichen Unterricht zu entbinden und Sie ganz ergebenst
zu ersuchen, selbige künftig nur Viertel] äh-ig, mit dem z. t£? Decbr. Maerz, Ju-
niiis und September beliebig zu übergeben.
Das nächste Mal läuft zugleich das erste VerwaltungsJahr nach der neuen
Einrichtung ab, und ich beabsichte, im Monath Decbr. c. den in jener Verordnung
vorgeschriebenen Bericht an des Königs Majestät zu erstatten. Ew. Hoch- und
Wohlgeboren wird es gewiss interessieren , dass Sr. Majestät diesen HauptBe-
richt in Rücksicht des Ressorts der gedachten Section nach Ihrer eigenen Dar-
B. Über die Organisation des Medizinalwesens. 2^^
B. Über die Organisation des Medizinalwesens. ^)
Königsberg, den i8. Junius, 1809.
Da ich aus den mir durch Ew. Excellenz mitgetheilten, und
anliegend zurückerfolgenden Papieren gesehen habe, welche gütige
und wirklich freundschaftliche Absichten Sie in Ansehung des
Medicinalwesens für mich gehegt haben; so glaube ich dadurch
gerechtfertigt zu werden, wenn ich so frei bin, Ihnen meine Mey-
nung über diesen Gegenstand freimüthig und offen mitzutheilen.
Ich brauche Ew. p. nicht auf die grosse Wichtigkeit desselben
aufmerksam zu machen; ich brauche Ihnen nicht zu sagen, in
welchem unvollkommenen Zustande, nach dem Urtheile aller Un-
partheiischen, sich das (y^oxCollegium medicmn et sanitatis und das
Collegium medtco-chirurgüum befand; es ist genug, wenn ich Ihnen
in wenigen Grundzügen andeute, wie, meines Erachtens,
1. die neuen oberen Medicinalbehörden organisirt, und
2. dieselben mit der Section des Cultus und öffentlichen Unter-
richts in Verbindung gesetzt seyn müssten.
I.
Die Organisation setzt schon die V^erordnung vom 24. No-
vember, pr. fest, und ich bin ganz mit derselben einverstanden,
dass künftig eine wissenschaftliche Deputation und ein OberMe-
dicinalRath vorhanden seyn muss.
Allein die Organisation des letztern wünschte ich ein wenig
anders zu modificiren.
Er soll nemlich bestehen aus dem Chef, einem Staatsrath,
dem Director der wissenschaftlichen Deputation und einem Mit-
glied derselben, also nur zur Hälfte aus Aerzten, und wenn man
annimmt, dass bei Gleichheit der Stimmen der Chef entscheidet,
mit 3 Laienstimmen gegen 2 sachkundige.
Stellung und Ansichten erhalten. Aus diesem Grunde ersuche ich Ew. Hoch- und
Wohlgeboren künftigesmal eine generelle Uebersicht von dem ganzen Jahre ge-
fälligst beizufügen, imd sie so zu fassen, dass sie des Königs Majestät eingereicht
werden könne.
Königsberg, 77. Octbr. iSog.
Dohna."
Der hier geforderte Hauptbericht ist abgedruckt Band 10, igg. Weitere Berichte
scheinen nicht erstattet zu sein.
V Eigenhändiger Entwurf Humboldts.
2Z.A. 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Dies ist offenbar unzweckmässig; der OberMedicinalRath
muss, soviel möglich, bloss aus Aerzten bestehen; es ist viel leichter,
dass diese sich die nöthige Geschäftskenntniss erwerben, als dass
Geschäftsleute mit Verstand über medicinische Gegenstände ur-
theilen; auch sind die Fehler, die aus dem Mangel der erstem
entstehen können, bei weitem leichter zu heben und minder
gefährlich.
Ich würde daher von Laien bloss den Chef zulassen, und
auch zu diesem nur einen Mann wählen, der wenigstens histo-
risch ziemlich vollständige Kenntnisse besässe. Ausserdem aber
müssten die andern Mitglieder bloss Aerzte seyn, und der Director
der wissenschaftlichen Deputation gehörte natürlich zu ihrer Zahl.
Auch wünschte ich eine gleiche Zahl von Käthen, weil in
diesem Collegio schlechterdings nicht der nicht sachkundige Chef,
sondern nur Stimmenmehrheit entscheiden müsste, nun doch nur
Eine Laienstimme in die Entscheidung einträte, da man bei un-
gleicher Zahl der Räthe im gleichen Fall dem Chef nothwendig
zwei einräumen muss.
Der Chef der Abtheilung mit 4 oder 6 Aerzten, als Käthen
bildete also das Collegium, das an die Stelle des Ober Colle^-ü medici
et sanitatis träte. Zu Bearbeitung juristischer, ökonomischer und
allgemein polizeilicher Gegenstände würde dem Collegium noch
ein Kath zugeordnet, der aber bloss ein votum consiiltativum
nicht decisiuum hätte.
Das Collegium medico-chirur^icuvi hörte gleichfalls auf und
die wissenschaftliche Deputation träte in dessen Stelle. Diese hätte
einen Arzt zum Director und lauter Aerzte zu Mitgliedern. Allein
Mitdirector zur Erhaltung des Geschäftsganges wäre das dem
OberMedicinalKath zugeordnete Mitglied; allein auch hier ohne
entscheidende Stimme. Diese könnte sich hier nicht einmal der
Chef der Abtheilung anmassen, ob es gleich von ihm abhinge,
auch selbst den Vorsitz in der Deputation zu führen.
Die Prüfungen machen einen Theil der Geschäfte der wissen-
schaftlichen Deputation für das Medicinalwesen. Eine eigne Com-
mission für dieselben ist alsdenn nicht mehr nothwendig; nur
werden sie zweckmässig eingerichtet, wie sie bisher, worin ich
mich abermals auf das allgemeine Zeugniss berufen kann, nicht
waren.
Von den medicinischen Bildungsanstalten, deren es bei der
Medicinalbehörde allerdings auch noch ganz unabhängig von der
B. Über die Organisation des Medizinalwesens. 255
Section des öffentlichen Unterrichts geben kann, werde ich gleich
jetzt bei der Verbindung der Abtheilung für das Medicinalwesen
und der Section des öffentlichen Unterrichts reden.
II.
Diese beiden Abtheilungen hängen allerdings sehr genau zu-
sammen, und genauer, als die letztere mit andern Verwaltungs-
zweigen, da, obgleich keiner der Grundlage einer guten wissenschaft-
lichen Bildung entbehren kann, doch das Medicinalwesen am meisten
einer rein wissenschaftlichen bedarf. Steckt man hingegen, was sehr
gut möglich ist, die Gränzen genau ab, so lassen sie sich auch sehr
füglich trennen. Nur ist freilich bei der Trennung bloss in dem
einzigen Falle Gewinnst, wenn der Chef der MedicinalAbtheilung
doch Arzt ist. Dies hielte ich allerdings für das Beste, nur müsste
er dann auch Chef im vollen Sinne des Worts, und ebenso frei
in seiner Abtheilung seyn, und in einem ebenso liberalen Verhältniss
zum Minister des Innern stehen, als dies die Verordnung vom 24.
November für die Sectionschefs überhaupt festsetzt. Soll aber dieser
Chef nicht selbst Arzt seyn, so ist es unstreitig besser, die Medicinal-
Abtheilung gleichfalls dem Chef der Section des Cultus und öffent-
lichen Unterrichts zu geben, als einen Fremden dazu zu nehmen,
oder sie unmittelbar dem Minister zuzuordnen. Denn es werden
dadurch viele Collisionen vermieden, und Fächer, die durch das
wissenschaftliche Interesse nahe verwandt sind, auch in der Geschäfts-
form verbunden; auch kann man von dem Chef des öffentlichen
Unterrichts am meisten erwarten, dass er ein CoUegium, das aus
blossen Aerzten besteht, zu ehren und zu leiten verstehe, und
indem er die nöthige Ordnung erhält, ihm auch die gehörige
Freiheit gewähren wird.
Sind beide Abtheilungen verbunden, so bestimmt sich ihr
gegenseitiger Einfiuss von selbst, und ohne weitere ausdrückliche
Festsetzungen, deren es nur, wenn sie getrennt sind, bedarf.
Ueber diese nun ist es nothwendig zu reden
1. im Allgemeineren
2. in besondrer Beziehung auf die in Berlin jetzt existirenden
medicinischen Unterrichtsanstalten.
2cß 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
I.
Aus einem Briefe des Herrn Geheimen Rath Hufeland ^) an mich,
den ich diesem Schreiben beilege, werden Ew. p. ersehen, dass die
Erörterung der Frage, inwiefern die Section des öffentlichen Unter-
richts abhängig, oder unabhängig von dem MedicinalRath seyn soll,
keineswegs überflüssig ist, und ich fange daher mit dieser an.
In keiner Stelle dieser Verordnung wird der Section des
öffentlichen Unterrichts zur Pflicht gemacht, die MedicinalBehörde
auch nur zu Rathe zu ziehen. Die Universitäten werden ihr ohne
Einschränkung untergeordnet. Nicht einmal der Name der Medi-
cinalBehörden kommt in dem ganzen Abschnitt vom Departement
des Cultus und öffentlichen Unterrichts vor.
In dem vom Departement des MedicinalWesens werden zwar
unter den Stellen, die der OberMedicinalRath nicht ohne höhere
Anfrage besetzen soll,
„die ersten Aerzte oder Directoren grösserer Medicinalln-
stitute in den Hauptstädten, auf Universitäten,"
und
„die medicinischen Lehrer bei den BildungsAnstalten für
das MedicinalPersonale"
genannt.
Allein die ersteren gehören an sich nicht, oder nur wenn sie
zugleich Professoren sind, in dieser Eigenschaft zum Ressort der
Section des öffentlichen Unterrichts, und bei den letzteren sind,
so wie bei den dem OberMedicinalRath ganz untergebenen
allgemeinen BildungsAnstalten für das Medicinal Wesen
gewiss nicht die medicinischen Facultaeten der Universitäten, sondern
die bloss medicinischen Schulen verstanden, die entweder auf den
UniversitätsUnterricht folgen, oder denselben umgehen.
Bei diesen ist dagegen der OberMedicinalRath gemeinschaftlich
mit dem Departement des öffentlichen Unterrichts zu handeln
angewiesen, und also mehr jener von diesem, als dies von jenem
abhängig gemacht.
Und in der That folgt dies auch aus richtigen Grundsätzen»
Selbst ein wissenschaftliches Institut, sobald es nur einen einzelnen
Zweig der Wissenschaft betrifft, wird leicht einseitig, und muss
daher, da es um zu gedeihen doch der allgemeinen Ansichten
1) Über Christoph Wilhelm Hufeland {ij62—i8^6), seit iSoi Direktor des
Collegiummedico-chirurgicum, vgl. Lenz, Geschichte der Universität Berlin 1,51- 197.
B. Über die Organisation des Medizinalwesens. 257
bedarf, wieder auf die allgemeine wissenschaftliche Behörde
recurriren.
Es würde auch vergeblich seyn zu sagen, dass die Section des
öffentlichen Unterrichts kein competentes Urtheil über zu berufende
medicinische Lehrer, die Anordnung des medicinischen Lehrcursus,
die Direction der klinischen Lehranstalten u. s. f. fällen könne,
und dass man ihr deshalb ein Mitglied des OberMedicinalRaths
zuordnen müsse. Sie w^rd schon dafür sorgen, in ihrer wissen-
schaftlichen Deputation auch Mediciner zu haben, sie hat ausser-
dem die medicinischen Facultäten ihrer Universitäten und kann,
wenn sie will, jeden berühmten inländischen und auswärtigen
Arzt um Rath fragen. Es stehen ihr also Mittel zu Gebote, die
gewiss wirksamer und besser sind , als ein ärztliches Mitglied.
Ueberzeugt, dass unsre deutschen Universitäten, nur weil sie
freie Corporationen waren, viel Gutes wirkten, wird sie auch
die medicinischen Facultaeten derselben nicht selbst gängeln, sondern
sie sich selbst, nur unter Aufsicht überlassen. Selbst auf die Wahlen
neuer Mitglieder wird sie ihnen immer sehr gern hauptsächlichen
Einfluss gestatten. ♦
Dem OberMedicinalRath einen Einfluss auf die Universitäten
zu gestatten, würde (ausserdem dass die Universitäten ungern von
'2wei Behörden abhängen würden) für die allgemeine medicinische
Bildung im Ganzen offenbar zweckwidrig seyn, da hingegen freie
Wirksamkeit der Universitäten und MedicinalBehörden zugleich
erst zusammen ein wohlthätiges Ganzes bildet. Denn Medicinal
Behörden nehmen fast unvermeidlich eine mehr praktische, und
■den LocalUmständen ihrer Lage angemessne, also einseitige, und
nicht rein wissenschaftliche Richtung; die FacultaetsGelehrten
befinden sich in dem entgegengesetzten Falle. Beide zusammen
wirken also ungemein heilsam. Die Section des öffentlichen Unter-
richts wird die rein wissenschaftliche Tendenz, auch in der Medicin,
immer von selbst befördern, bei dem Uebergewichte der Medicinal
Behörde liefe sie dagegen schlechterdings Gefahr, unterdrückt oder
anderswohin gerichtet zu werden.
Nicht einmal also, wenn man alles durchaus neu organisirte,
dürfte die Section des öffentlichen Unterrichts von den Medicinal
Behörden abhängig gemacht werden, jetzt aber, da es der Ver-
ordnung vom 24. November entgegenläuft, und die Section alsdann
:mcht einmal soviel, als der mit weit wenigeren Mitteln zu guten
Wahlen auch in der Medicin versehene Minister des geistlichen
W. V. Humboldt, Werke. XUI. ^7
2rQ 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Departements vermöchte, würde sie durch eine solche, auch noch
so geringe Abhängigkeit in ihren wesentlichsten Rechten ge-
kränkt. Stünde die Section ihrem Amte nicht recht vor, lieferte
sie den Medicinalbehörden unfähige angehende Aerzte, so hätte
diese dasselbe Recht im Staatsrath oder beim König darüber ge-
rechte Klage zu führen, wie der Grosskanzler über schlechte
Juristen, und der Sectionschef 'der allgemeinen Gesetzgebung über
schlechte Staatsbeamte in anderen Fächern. Aber solange die
Section ihre Unfähigkeit nicht bewiesen hat, muss man ihr freie
Hand lassen.
Da nun aber gewisse Bildungsanstalten zum ressort der
Medicinalbehörden gewiesen werden sollen, so fragt es sich welche ?
und wie hier die Gränzen zwischen beiden Sectionen zu be-
stimmen sind?
Es giebt dreierlei Arten medicinischer Bildungsanstalten:
1. Die Universitäten, also theoretisch-wissenschaftlichen Unter-
richt in Verbindung mit dem ganzen Gebiet der Wissenschaft,
und mit soviel praktischer Einleitung als zum Uebergange aus
der Theorie in die Praxis und zur Verbindung beider nöthig ist;
2. medicinisch-practische Anstalten, nach vollendetem Univer-
sitätsUnterricht ;
3. medicinische SpecialSchulen und zwar entweder:
a. wissenschaftliche, wie es in Paris und leider seit langer
Zeit auch in Berlin giebt;
b. empirische für diejenigen, die nicht studiren können.
Die erstere Classe dieser Specialschulen ist verderblich und
kann weder von der Section des öffentlichen Unterrichts, noch den
Medicinalbehörden in Schutz genommen werden. Die letztere ist,
da man einer zu grossen Menge von Aerzten bedarf als dass
alle ordentlich studiren könnten, und bloss empirische Bildung
besser als halbstudirte ist, unentbehrlich, muss aber erst geschaffen
werden, um das Curiren und Operiren der Bader auszurotten, und
Chirurgie und Medicin zweckmässig zu verbinden. Hierher gehört
Reils^) Vorschlag über die Bildung der Routiniers.
Die ersten dieser drei Anstalten gehören nun ausschliesslich
zum ressort der Section des öffenthchen Unterrichts;
') Im Konzept ist der Absatz und die Ziffer 2 vergessen.
*) Vgl. Band 10, 231.
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. a. 2C.Q
die zweiten ausschliesslich zu dem der Medicinalbehörden;
bei den dritten, da der Unterricht da nicht mehr rein medi-
cinisch seyn kann, concurriren beide, allein die Section des öffent-
lichen Unterrichts nur auf eine untergeordnete Weise.
So bestimmen sich die Gränzen mit Leichtigkeit und Sicherheit,
wenn man nur von dem Grund ausgeht, dass die Section des
öffentlichen Unterrichts nicht auf einzelne Fächer beschränkt
seyn (da sonst auch die Gerichtshöfe die juristische Facultaet,
die Bergbauadministration die mineralogische Professur, die Re-
gierungen die cameralistische an sich reissen könnten, und so
die Einzige und wissenschaftliche Universität von administrierenden
und polizeilichen Behörden in lauter SpecialSchulen zerrissen
würde) sondern alle Fächer des Unterrichts, insofern er theoretisch
und wissenschaltlich ist, umfassen soll ; da hingegen die Verwaltungs-
behörden auch den Unterricht und die Bildungsanstalten da an
sich nehmen, wo er ins Praktische und zur einzelnen Anwendung
übergeht.
C. Der königsberger und der litauische Schulplan.
a. Ueber die mit dem Koenigsbergischen
Schulwesen vorzunehmende Reformen.^)
I.
Wie vielerlei Arten von Schulen soll es geben?
wie viele von jeder Art? und welche?
Man ist sowohl in dem Möllerschen, als Hoffmannschen Plane,
die beide viele zweckmässige Vorschläge enthalten, davon aus-
gegangen, dass es, ausser den Elementar- und gelehrten Schulen,
noch Mittelschulen geben solle.
Diese Frage ist daher zuerst zu erörtern.
Ich bin dagegen.
Mittelschulen sollen entweder den Uebergang von den Ele
mentar- zu den gelehrten Schulen ausmachen, so dass die letzteren
gar keine sogenannten Bürgerklassen mehr haben; oder als eine
eigne Art der Schulen für diejenigen bestimmt seyn, welche auf
eigentlich wissenschaftliche Bildung und besonders auf Universitäts
*) Eigenhändiges Konzept Humboldts.
17*
2(5o 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und iSio.
Studium Verzicht thun, oder endlich beide Zwecke zugleich
erfüllen.
Die Trennung der Bürgerklassen von den gelehrten in zwei
verschiedenen Anstalten stört oifenbar die so nothwendige Einheit
des Unterrichts, der in der Wahl der Lehrgegenstände, in der
Methode und der Behandlung der Schüler von dem Augenblick
an, wo das Kind die ersten Elemente gefasst hat, bis zu der Zeit
wo der Schulunterricht aufhört, in einem so ununterbrochnen
Zusammenhange stehen muss, dass Klasse auf Klasse und halbes
Jahr auf halbes Jahr berechnet sey. Die Mittelschulen bei dieser
Anordnung könnten, indem sie nach vollendetem Elementarunter-
richt anfiengen, und bei dem Beginnen des höheren gelehrten
aufhören sollten, schlechterdings nur ein Stück des Unterrichts,
und zwar ein, wenigstens in Absicht der Gränze nach oben, will-
kührlich abgeschnittenes behandeln. Es liegt nun aber in der
Natur der Sache, dass eine Anstalt, die ganz dasselbe mit einer
andern, dies aber nur bis zu einem gewissen Punkte treiben soll,
also so dass sie ihr Complement immer ganz ausser sich sieht,
auch innerhalb des bestimmten Punktes schlecht werde.
Es giebt, philosophisch genommen, nur drei Stadien des
Unterrichts :
Elementarunterricht
Schulunterricht
Universitätsunterricht.
Der Elementarunterricht soll bloss in Stand setzen, Gedanken
zu vernehmen, auszusagen, zu fixiren, fixirt zu entziffern, und
nur die Schwierigkeit überwinden, welche die Bezeichnung in
allen ihren Hauptarten entgegenstellt. Er ist noch nicht sowohl
Unterricht, als er zum Unterricht vorbereitet, und ihn erst mög-
lich macht. Er hat es also eigentlich nur mit Sprach-, Zahl- und
Mass -Verhältnissen zu thun, und bleibt, da ihm die Art des Be-
zeichneten gleichgültig ist, bei der Muttersprache stehen. Wenn
man, und mit Recht, noch andern Unterricht, geographischen,
geschichtlichen, naturhistorischen hinzufügt, so geschieht es theils
um die durch den Elementarunterricht entwickelten, und zu ihm
selbst nöthigen Kräfte durch mannigfaltigere Anwendung mehr zu
üben, theils weil man für diejenigen, welche aus diesen Schulen
unmittelbar ins Leben übergehen, den blossen Elementar-Unter-
richt überschreiten muss.
Der Zweck des Schulunterrichts ist die Uebung der Fähig-
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. a. 20 1
keiten, und die Erwerbung der Kenntnisse, ohne welche wissen-
schaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich ist. Beide sollen
durch ihn vorbereitet; der junge Mensch soll in Stand gesetzt
werden, den Stoft", an welchen sich alles eigne Schaffen immer
anschliessen muss, theils schon jetzt wirklich zu sammeln, theils
künftig nach Gefallen sammeln zu können, und die intellectuell-
mechanischen Kräfte auszubilden. Er ist also auf doppelte Weise,
einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens ')
beschäftigt. Aber alle seine Functionen sind nur relativ, immer
einem Höheren untergeordnet, nur Sammeln, Vergleichen, Ordnen,
Prüfen u. s. f. Das Absolute wird nur angeregt, wo es, wie es
gar nicht fehlen kann, selbst in einem Subjecte zur Sprache kommt.
Der Schulunterricht theilt sich in linguistischen, historischen und
mathematischen ; der Lehrer muss immer beobachten, bei welchem
von diesen dreien der Schüler mit vorzüglicher Aufmerksamkeit
verweilt, allein auch streng darauf sehen, dass der Kopf für alle
drei zugleich gebildet werde. Denn die Schule soll eng verbinden,
damit die Universität zu besserer Verfolgung des Einzelnen, ohne
Schaden eilen ^) könne. Der Schüler ist reif, wenn er so viel bei
andern gelernt hat, dass er nun für sich selbst zu lernen im Stande
ist. Sein Sprachunterricht z. B. ist auf der Schule geschlossen,
wenn er dahin gekommen ist, nun mit eigner Anstrengung und
mit dem Gebrauche der vorhandenen Hülfsmittel jeden Schrift-
steller, insoweit er wirklich verständlich ist, mit Sicherheit zu
verstehen, und sich in jede gegebene Sprache, nach seiner allge-
meinen Kenntniss vom Sprachbau überhaupt, leicht und schnell
hinein zu studiren.
Wenn also der Elementarunterricht den Lehrer erst möglich
macht, so wird er durch den Schulunterricht entbehrlich. Darum
ist auch der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studirende
nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Pro-
fessor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin. Denn der
Universitätsunterricht setzt nun in Stand, die Einheit der Wissen-
schaft zu begreifen, und hervorzubringen, und nimmt daher die
schaffenden Kräfte in Anspruch. Denn auch das Einsehen der
Wissenschaft als solcher ist ein, wenn gleich untergeordnetes
Schaffen. Daher hat der Universitätsunterricht keine Gränze nach
*) Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten S. Ji4 weist
das „Lernen des Lernens" der Universität zu.
*) Vielleicht ist hier „theilen" zu lesen.
202 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
seinem Endpunkt zu, und für die Studirenden ist, streng genommen,
kein Kennzeichen der Reife zu bestimmen. Ob, wie lange, und
in welcher Art derjenige, der einmal im Besitze tüchtiger Schul
kenntnisse ist, noch mündlicher Anleitung bedarf? hängt allein
vom Subject ab. Das Collegienhören selbst ist eigentlich nur zu-
fällig; das wesentlich Noth wendige ist, dass der junge Mann zwischen
der Schule und dem Eintritt ins Leben eine Anzahl von Jahren
ausschliessend dem wissenschaftlichen Nachdenken an einem Orte
widme, der Viele, Lehrer und Lernende in sich vereinigt.
So wie es nun bloss diese drei Stadien des Unterrichts giebt,
jedes derselben aber unzertrennt ein Ganzes macht, so kann es
auch nur drei Gattungen auf einander folgender Anstalten
geben, und ihre Gränzen müssen mit den Gränzen dieser Stadien
zusammenfallen, nicht dieselben in der Mitte zerschneiden.
Auch ist die Idee zur Absonderung wohl nur daher entstanden,
dass man sich unter Mittelschulen eine eigne Gattung von Schulen,
die auf andre Kenntnisse, als die gelehrten Rücksicht nehmen,
gedacht und nun besorgt hat, die gelehrten durch Verbindung
beider zu verwickelt zu machen. Allein auch in dieser zweiten
Absicht, dass die Mittelschulen für diejenigen, die auf höheren
Unterricht Verzicht leisten, bestimmt seyn sollen, bestreite ich
dieselben.
Da, um dies nur vorläufig zu bemerken, die Bestimmung
eines Kindes oft sehr lange unentschieden bleibt, so bringen sie
den Nachtheil hervor, dass leicht Verwechslungen vorgehen, der
künftige Gelehrte zu lange in Mittelschulen, der künftige Hand-
w^erker zu lange in gelehrten verweilt, und daraus Verbildungen
entstehen.
Aber ich läugne auch die Möglichkeit, ihnen auf eine zweck-
mässige Weise eine wesentlich verschiedne Einrichtung zu geben,
und es ist leicht zu zeigen, dass die durch ihren Mangel ent-
stehende Lücke vollkommen durch andre Einrichtungen ausgefüllt
werden kann.
Der Unterschied zwischen den Mittel- und gelehrten Schulen
soll entweder in der Wahl der Lehrgegenstände, oder in der
Methode bestehen. Man hat überdies in beider Hinsicht bei ihnen
eine doppelte Classe von Menschen im Auge, einmal die ärmere,
die darum höherer Bildung entsagen muss, dann diejenige, welche
sich nicht dem Universitätsstudium widmet. Allein beide lassen
sich nach gleichen Grundsätzen beurtheilen.
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. a. 263
Bei der Wahl der Lehrgegenstände schliesst man einige aus,
und dies Loos trifft dann gewöhnlich beide alte Sprachen, oder
eine derselben, nimmt andre auf, wie mehr neuere Sprachen,
Technologie und Statistik u. s. f. und macht die zur Hauptsache,
die man sich in den gelehrten Schulen als Nebensache denkt, wie
Geographie, Geschichte, Physik u. s. f.
Allein man vermischt auf diese Weise immer auf eine kläg-
liche Weise die vom Schulunterricht allemal zu fordernde allge-
meine Uebung der Hauptkräfte des Geistes und die Einsammlung
der künftig nothwendigen Kenntnisse, welche zum wirklichen
Leben vorbereitet, da es hingegen allgemeiner Grundsatz seyn
sollte :
Die Uebung der Kräfte auf jeder Gattung von
Schulen allemal vollständig und ohne irgend einen
Mangel vorzunehmen, alle Kenntnisse aber, die sie
überhaupt wenig oder zu einseitig befördern, wie
nothwendig sie auch seyn mögen, vom Schulunter-
richt auszuschliessen, und dem Leben die speciellen
Schulen vorzubehalten.^)
Auch würden diese Realschulen (und je besser und vornehmer
sie wären, je mehr) nach und nach alle Disciplinen der gelehrten
an sich reissen ; viele Schüler würden Lateinisch, manche Griechisch
lernen wollen, nur würde eigentliche Gelehrsamkeit vermieden
w^erden, man würde Griechisch und Lateinisch wie Französisch
und Englisch gleichsam aus dem Gebrauch und kursorisch lernen,
viele Sprachen gewissermassen besitzen, und von keiner einen
eigentlichen Begriff haben. Denn es ist sicher ein Vorurtheil,
dass, wenn man (und kaum die) einige Kleinigkeiten (wie
z. B. im Griechischen die Accentuation) abrechnet, ein künf-
tiger Kritiker im Anfange auf andre Weise Griechisch lernen
müsse, als jeder andre. Beide sollen mit Sicherheit verstehen,
nicht rathen; und in der bestimmten Sprache die Sprache
überhaupt anschauen. Ihre Wege gehen allerdings, aber immer
erst spät, aus einander.
Ebensowenig lässt sich ein wesentlicher Unterschied in der
Methode denken. Die Betrachtung der Länge oder Kürze der
Jahre, welche in der Mittel- und in der gelehrten Schule dem
V Vgl. zu diesen Ausführungen Band 10, 205-
26a 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Unterricht gewidmet wird, rechtfertigte einen solchen noch am
meisten. Allein auch da lässt sich bei den Fundamenten nichts
thun; nicht abkürzen, denn man bestimmt ja in jeder Disciplin
die Menge des aufzunehmenden Stoffs im Verhältniss zu der Kraft,.
die er üben, und die ihn verarbeiten soll; nicht übereilen, denn
die Entwicklung erfordert ihre natürliche Weile. Das Einzige^
was hier geschehen könnte, wäre wieder dem Leben vorgreifen;
man könnte nemlich, was in der gelehrten Schule nach Gründen
gezeigt wird , in der Mittelschule mechanisch beibringen , z. B..
chemische Mischungen, Rechnungsformeln u. s. f. Allein dies,
hiesse durchaus die Gränzen des Schulunterrichts verlassen, die
zur Bildung bestimmte Zeit zur Abrichtung misbrauchen und die
Köpfe verderben. Alle den gelehrten, als solchen, entgegengesetzte
Mittelschulen sind also im besten Sinne Verbindungen allgemeiner
Schulen mit speciellen, woraus, meiner Ansicht nach, immer Mis-
geburten entstehen.
Um dagegen alle Nachtheile, um derentwillen man sie ein-
führen will, zu vermeiden, muss man nur überhaupt und bei den
gelehrten für folgende Dinge sorgen.
1. dass es wenigstens in jeder grösseren Stadt eine oder
einige so vorzügliche Elementarschulen gebe, dass es für keinen
Nachtheil angesehen werden kann, wenn auch viele Bürger allein
sie und nie eine andere Schule besuchen. Und wenn man be-
denkt, dass der Elementarunterricht, wie er jetzt hier genommen
wird, alles in sich fasst, wovon die Klarheit und Bestimmtheit
der Begriffe abhängt, worauf, wie auf einem Fundament, die
höchste Mathematik ruht, und was die Einbildungskraft zu den
beiden Hauptgattungen der Kunst, der bildenden, und musika-
lischen, anregt, und dass dies alles auf eine die Empfindung stark
bewegende Weise behandelt wird, so dürfte man gewiss in Ver-
suchung gerathen, diese Erziehung der auf manchen unsrer jetzt
berühmten Gymnasien vorzuziehen.
2. dass für die Güte der unteren, oder Bürgerklassen der ge-
lehrten Schulen ebensosehr, als für die der höheren gesorgt werde ;
man aber den eigentlichen Elementarunterricht von ihnen ab-
sondere. Nehmen sie diesen auch nur einigermassen mit auf, sa
werden die eigentlichen Elementarschulen bald als Volksschulen
im verächtlichen Sinne des Worts angesehen, was ihrer Ver-
besserung sehr nachtheilig ist. Folgen diese gut organisirtea
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. a. 26tL
unteren Classen auf gute Elementarschulen, so lässt sich für sehr
viele Zwecke des Lebens der Unterricht sehr gut bei ihnen be-
schliessen.
3. dass die gelehrten Schulen nicht bloss lateinische seyen,
sondern der historische und mathematische Unterricht gleich gut
und sorgfältig mit dem philologischen behandelt werde. Gegenwärtig,
wo es sehr oft hieran mangelt, entsteht der Nachtheil, dass der-
jenige, welcher für Sprachunterricht weniger Sinn hat, entweder
die Schule zu früh verlassen oder unnütz auf derselben ver
weilen muss.
4. dass der Sprachunterricht wirklich Sprachunterricht und
nicht, wie jetzt so oft, eine mit Alterthums und historischen
Kenntnissen verbrämte, und hauptsächlich auf Uebung gestützte
Anleitung zum Verständniss der classischen Schriftsteller sey. Denn
die Kenntniss der Sprache ist immer, als den Kopf aufhellend, und
Gedächtniss und Phantasie übend, auch unvollendet nützlich, die
Kenntniss der Literatur hingegen bedarf, um es zu werden, einer
gewissen Vollständigkeit, und anderer günstiger Umstände.
5. dass die Klassenabtheilung nicht durchweg, sondern nach
den Hauptzweigen der Erkenntniss gehe, und die Lehrer erlauben
und begünstigen, dass der Schüler, wie ihn seine Individualität
treibt, sich des einen hauptsächlich, des andern minder befleissige,
wofern er nur keinen ganz vernachlässigt. Eine Verschiedenheit
der intellectuellen Richtung auf Sprachstudium, Mathematik und
Erfahrungskenntnisse ist einmal unläugbar vorhanden, und es wäre
ebenso wunderbar nur Eine begünstigen, als, sie in verschiedene
Anstalten verweisend, sie noch mehr spalten zu wollen. Bloss die
letztere muss man nie dulden, ohne sie fest an eine der andern
zu knüpfen, da sie sonst nach und nach auch die Möglichkeit
wahrer Wissenschaft in einem Kopfe zerstört.
6. dass es viele SpecialSchulen gebe und kein bedeutendes
Gewerbe des bürgerlichen Lebens eine entbehre. Was man in
Bürgerschulen in Technologie lehrt, Hesse sich sehr gut mit den
Kunstschulen, in denen ja viele Handwerker schon jetzt unter-
richtet werden, verbinden. Ausserdem könnten sie, wie in Berlin
geschieht, technische und chemische Vorlesungen hören, und da
viele doch wandern und reisen, so schadete es nichts, wenn diese
nur an einigen Orten der Monarchie zu finden wären. Ackerbau-
Handels- Steuermannsschulen giebt es schon jetzt. Ebenso An-
stalten für nicht wissenschaftlich gebildete Aerzte u. s. f.
256 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
Auf diese Weise sehe ich keinen Mangel, dem durch eine
Mittelschule abgeholfen werden müsste. Der ganz Arme schulte
seine Kinder in die wohlfeilsten, oder unentgeldlichen Elementar-
schulen; der weniger Arme in die besseren, oder wenigstens
theureren. Wer noch mehr anwenden könnte, besuchte die ge-
lehrten Schulen, bliebe bis zu den höheren Classen, oder schiede
früher aus, triebe mehr Sprachunterricht oder mehr gemeinhin
realen genannten. Auf diesen Schulunterricht folgten die Univer-
sität, eine Specialschule oder der Eintritt in das bürgerliche Leben
selbst. Jeder, auch der Aermste, erhielte eine vollständige Menschen-
bildung, jeder überhaupt eine vollständige, nur da, wo sie noch
zu weiterer Entwicklung fortschreiten könnte, verschieden be-
gränzte Bildung, jede intellectuelle Individualität fände ihr Recht
und ihren Platz, keiner brauchte seine Bestimmung früher als in
seiner allmähgen Entwicklung selbst zu suchen, die meisten end-
lich hätten, auch indem sie die Schule verliessen, noch einen
Uebergang vom blossen Unterricht zu der Ausführung in den
SpecialAnstalten.
Nur noch ein Paar Winke jetzt über die Erlernung der alten
Sprachen. Von dem Grundsatz ausgehend, einmal dass die Form
einer Sprache, als Form, sichtbar werden muss, und dies besser
an einer todten, schon durch ihre Fremdheit frappirenden, als
an der lebendigen Muttersprache geschieht, dann dass Griechisch
und Lateinisch sich beide gegenseitig unterstützen müssen, würde
ich festsetzen : ^)
dass alle Schüler, ohne Ausnahme, beide in dej untersten
Classe jede schlechterdings lernen müssten, es sey nun, dass sie
beide zugleich, oder eine, und welche? zuerst anfiengen, damit
keinen, wenn er nachher Lust erhält, die ersten Fundamente auf-
halten, und auch keinen etwas ganz Unbekanntes zurückstösst,
dass, nach absolvierter untersten Classe, es zwar von jedem
abhängt, mit Zustimmung seiner Eltern oder Vormünder, eine
aufzugeben, er aber die andere nothwendig forttreiben muss, auch
wenn er nicht das Studium beider verbindet, niemals, welche Fort-
schritte er auch mache, in Rücksicht auf Sprachstudium eine Prämie
oder Auszeichnung erhalten könne.
') Vgl. zu diesen Ausführungen Band 10, 20j; Wilhelm und Karoline von
Humboldt ^, 25g; Spranger S. i6y.
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. a. 207
In Absicht des Hebräischen muss allerdings mehr Freiheit
Statt finden. Allein es müsste gleichfalls sehr befördert werden,
nicht bloss der Theologen wegen, sondern auch, weil sein gram-
matischer und lexikalischer Bau auf den ersten Anblick sehr von
dem des Griechischen abweicht, nah verwandt ist mit dem Bau
der Sprachen wilder Völker, und daher den Begriff von der Sprach-
form überhaupt nach einer sonst fast unbekannt bleibenden Seite
hin erweitert.
Nach dieser allgemeinen Erörterung würde ich daher hier^)
nur Elementar- oder Bürger- und gelehrte Schulen bestehen lassen.
Da indess die Bürgerschulen nothwendig von sehr verschiedener
Güte, einige sehr beschränkt, andere sehr gut und vollständig seyn
würden, so können diese letzteren gewissermassen für das ge-
halten werden, was man mit den Mittelschulen abgezweckt hat.
Die Zahl der gelehrten Schulen muss nun aber vermehrt
w^erden, weil sich alle Kinder, welche über die Mittelschule hinaus-
gehen, in ihnen vereinigen. Dennoch halte ich drei für hinreichend :
die Altstädtische,
das Collegium Fridericianum,
die reformirte, und selbst ob ich hierin nicht zu viel nehme,
bleibt noch zu untersuchen übrig. Zu blossen Bürgerschulen, mit
der Beschränkung, aber auch mit der Vollständigkeit, welche
Elementarschulen haben müssen,
die Kneiphöfische,
die Löbenichtsche.
Die gelehrten Schulen Hessen niemand zu, der nicht fest in
den Elementarkenntnissen und wenigstens neun Jahr alt wäre.
Sie hätten fünf Classen, die Bürgerschulen zwei.
Die gelehrten Schulen hätten jede sechs Lehrer und zwei
Collaboratoren ; die Bürgerschulen jede einen Lehrer.
Der Unterricht in den Bürgerschulen umfasste
Lesen, Schreiben,
die Zahl- und Massverhältnisse Sprechübungen,
die nöthigsten und ersten Begriffe von der Beschaffenheit des
Menschen und des menschlichen Geschlechts, des Erd-
bodens, der Gesellschaft,
Musik, Zeichnen,
^) In Königsberg.
268
3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
Geographie, Geschichte, Naturgeschichte, insofern sie Stoff
nergeben können an dem sich der Verstand innerhalb der ihm
hier angewiesenen Sphäre üben kann.
Der Religionsunterricht ist minder Lehren, als Anregung des
Gefühls.
Die beiden sehr vollständig organisirten Bürgerschulen führen
natürlich diese Kenntnisse, vorzüglich die Zahl- und Massver-
hältnisse w^eiter fort, als die andern Elementarschulen es können,
und vermehren dann auch in den sogenannten Realkenntnissen
den Stoff nach Massgabe der grösseren Erweiterung der Verstan-
deskräfte. Bei ihrer näheren Organisation wäre vorzüglich auf
diejenige Rücksicht zu nehmen, welche Zeller dem Waisenhause
geben wird, und zu bestimmen, in welchem Zweckverhältniss sie
mit dieser Anstalt stehen sollten.
Welche Fonds sind zur Erhaltung dieser Schulen nothwen-
dig? und woher werden sie genommen?
Ich bin mit Herrn StaatsRath Hoffmann der Meynung, dass eine
Stadt, wie Königsberg, ihre Lehrer gut besolden muss.
Ich schlüge daher folgenden Etat vor, nehme ihn als Maximum,
Herrn Möllers Vorschläge, aber nach der hier verlangten Lehrerzahl
erweitert, als Minimum an.
I. für eine gelehrte Schule:
I . Rector maxmium 800 Rth. minimuni 600 Rth. Holz 5 AchteL
*2. — 6. fünf Lehrer 3000 Rth 1900 Rth ,_2o
zu 600 Rth. nemlich 2
zu 500 Rth.
2 zu 400 Rth.
I zu 100 Rth.
Zwei Collaboratoren
200 Rth.
7.8
zu
Zu Schulbedürfnissen
Fünf Ciassenstuben und
eine zu ausserordent-
lichen Bedürfnissen,
Theilung von Classen
u. s. f.
400 Rth.
200 Rth.
minimtmi 200 Rth.
Summa Maximum 4,400 Rth. Minimum 2,700 Rth. 35 Achtel.
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. a. 200
II. für eine Bürgerschule:
i.Der Kcctor maxwmm 600 Rth. 7mmvmm ^^oKih. Holz 5 Achtel
2.DreiLehrer 1200 Rth . 650 Rth 12 .
zu 400 Rth. nemlich
zu 300 Rth.
230 Rth.
100 Rth.
230 Rth. und
Zu Schulbedürfnissen 1 00 Rth.
Zwei Ciassenstuben und
eine zu ausserordent-
lichen Bedürfnissen
Summa : Maximum j 900 Rth. Minimum 1 000 Rth. Holz 20 Achtel
Freie Wohnung können alle Lehrer haben. An den Magi-
stratischen Schulen sind jetzt 15 Lehrerwohnungen, und hiernach
hätten diese Schulen künftig nur 14 ordentliche Lehrer. Das Colle-
gium Fridericianum und die reformirte Schule haben eigne Gebäude.
Auf diese Weise kosteten die Hauptschulen der Stadt zusammen
3 gelehne Maximum 13,200 Rth. Minimum 8, 100 Rth. Holz io5AchteI
2 Bürgerschulen 3,800 Rth. 2,000 Rth. 40 .
Summa: Maximum 17000 Minimum 10,100 Rth. Holz 145 Achtel
[und 3000 Rth. Pensionsfonds, dazu ge-
rechnet nach dem höchsten Anschlag].
20,000 Rth. und Holz 145 Achtel
Diese Einkünfte würden beschaft
durch die bisherigen der Schulen,
das Schulgeld,
einen Zuschuss der Stadt.
Von den bisherigen müsste jedoch alles gleich abgezogen werden,
was irgend unsicher ist. Hierzu fehlen mir die Localdata.
Das Schulgeld bliebe zur Hälfte den Lehrern; zu Vi käme
es zum gewöhnlichen zur Auszahlung der Gehalte bestimmten;
je ^/4 zum ausserordentlichen Schulfonds. Ohne diese letzte An-
ordnung setzt man sich in Gefahr, auch die Gehalte ungewiss
werden zu sehen.
Jede Schule hat einen der Hälfte ihres Gehaltsquanti gleichen
eisernen Bestand, welcher gesammelt wird durch das letzte Vi des
Schulgeldes, und angegriffen nur zu Gehaltszahlungen. Er wird
im letzteren Falle sogleich wieder hergestellt, und dies letzte
2'TO 3* Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
^4 des Schulgeldes wird bis dahin zu nichts Andrem verwandt.
Nachher zu Praemia und Schulbedürfnissen.
Das Schulgeld könnte, meines Erachtens, betragen :
für die Bürgerschulen i Rth
für die 3 untren Classen der gelehrten i Rth. i5gr.
für die 2 obren der gelehrten 2 Rth.
Aus Armuth der Schüler darf die Schule gar kein Schulgeld
verlieren; sondern sie muss immer die Früchte der Frequenz,
die ihr Verdienst ist, rein und ungeschmälert geniessen. Den
nach Wahrscheinlichkeit beim Schulgeld zu berechnenden Ausfall
schlage man zum Zuschuss der Stadt, da er nie viel betragen
kann. Ueber den Anspruch darauf verfüge das Concilium der
Lehrer, seine Verfügung sey aber nachher dem Ausspruch der Armen-
vorsteher unterworfen. So werden die Eltern zu Aufbringung des
Schulgeldes die äussersten Anstrengungen machen, und dazu muss man
sie bewegen. Das Schulgeld werde von keinem der Lehrer, sondern von
einer Rechnungsbehörde des Magistrats eingenommen, und wo nicht
Erlasse erlangt sind, mit äusserster Strenge beigetrieben.
Die beiden Collaboratoren und der jüngste ordentliche Lehrer bei
den gelehrten Schulen haben gar keinen Antheil am Schulgeld. Der
Rector empfängt Ve? jeder der andern 4 ältesten Lehrer Vi 2 desselben.
Ebenso empfängt der jüngste Lehrer der Bürgerschulen nichts
vom Schulgeld, der Rector V45 jeder der andern 2 ältesten Lehrer ^g*
Da die Frequenz einer Schule bei weitem mehr von der Be-
schaffenheit des Rectors, als der übrigen Lehrer abhängt, so recht-
fertigt sich dadurch sein vorzüglicher Antheil.
Ueber die Baukosten der Schulen und ihre Herbeischaffung
ist nach der Localverfassung besonders nachzudenken.
Der Zuschuss der Stadt muss durch einen allgemeinen Bei-
trag erlangt, und daher an die allgemeinste Bürgerabgabe geknüpft
werden. Er muss so festgesetzt werden, dass gewiss eher mehr
als weniger einkommt, und es muss V3 mehr als der zu den jetzt
verbesserten Schulen nöthige Aufwand verlangt, ausgeschrieben
werden, um von diesem ^g, zu welchem das über den Anschlag
herauskommende hinzugefügt wird, die übrigen Elementarschulen
der Stadt noch danach verbessern zu können.
Wieviel dieser Zuschuss betragen müsse, beruht auf daä's^ die
noch nicht gehörig ausgemittelt sind.
Zuerst entsteht die Hauptfrage: soll die Stadt nur für ihre
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. a. 271
Jetzigen drei Schulen, oder auch für das Collegium Fridericianum
und die reformirte Schule sorgen?
Ich bin für das letztere. Jedoch muss der Staat den beiden letz-
teren Anstalten lassen, was er ihnen einmal verliehen hat, oder noch
giebt. Indess auch so vermehrt sich der Zuschuss der Stadt ansehnlich.
Nur begreife ich nicht, wie auf einem andern Wege das Collegium
Fridericianum und die reformirte Schule gehoben werden können, und
da es für Schulen ein Maximum der Frequenz giebt, das nicht Über-
schrittenwerden darf, so muss die übermässige der Altstädischen Schu-
le, die ein wahres Uebel ist, durch die Verbesserung jener beiden An-
stalten vermindert werden. Die Güte der magistratischen Schulen steht
daher mit der der andern in sehr genauer Verbindung.
Ersparungen am Lehrergehalt wären sehr schlimm. Dagegen
ist noch wohl zu überlegen, ob, wie ich angenommen habe, die
Anzahl der zu versorgenden Schüler drei gelehrte Schulen noth
wendig macht. Ist dies nicht der Fall, so könnte, meines Be-
dünkens, das Fridericianum aufhören, die reformirte Schule, die
schon jetzt auch lutherische Lehrer hat, in das Gebäude desselben
verlegt, und mit seinen Einkünften, im Gebäude der reformirten,
wozu sie mehr als hinreichen, eine Bürgerschule errichtet werden.
Mit dem Fridericianum, als einer ganz Königlichen Anstalt, lässt
sich am leichtesten schalten, und die Vorurtheile der Reformirten
würden dadurch, und dass man dem reformirten Prediger die
Aufsicht über den Religionsunterricht Hesse, geschont. Alsdann
sorgte die Stadt nur für 2 gelehrte und 2 Bürgerschulen und
erhielte zu ihren jetzigen Fonds die der reformirten Schule hinzu.
Schiene das zu verwickelt, so würde die reformirte Schule zur
Bürgerschule, oder, was aber freilich schlimm wäre, bliebe ganz
aus dem jetzigen Verbesserungsplan ausgeschlossen, und ihrem
Schicksal überlassen.
Alles dies vorausgeschickt, wären nunmehr ^.nfonds vorhanden :
1. Die bisherigen der 3 magistratischen Schulen
nach Herrn Möller und Hoffmann 5652Rth. 17 gr.
Diese Angabe ist aber wohl zu prüfen. Herrp.
Weiss giebt nur 4658 Rth. 77g. 'i^'^\^^{. d^n^
scheint aber das Leichengeld und andre
Accidentien nicht gerechnet zu haben.
2. die des Collegii Fridericiani *) 2120 — 60 —
*) nach dem Etatsentwurf Tpro 1809/10 nach Abzug von 620 Rth. 66 gr.
Schulgeld.
2-72 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
3. die der reformirten Schule 1409 — 36 —
4. ^4 des Schulgeldes.
^) Gegenwärtig sind auf den hiesigen 6 ge-
lehrten Schulen, (die deutschen Classen
des Collegii Fridericiani nicht mitgerechnet)
843 Schüler, von welchen 83 gar nicht und
72 nicht voll bezahlen, (die Freischüler der
reformirten Schule sind mir unbekannt und
also nicht hierunter begriffen.) Von diesen
Schülern (wenn man die der reformirten
Schule als alle bezahlend annimmt, das un-
bedeutende Schulgeld des Waisenhauses aber
gar nicht mit rechnet) kommt, nach der An-
gabe im gegenwärtigen Augenblick, jährlich
die Summe von 6622 Rth. ein. Bei der neuen
Einrichtung der Schule könnte man mehr be-
zahlende Schulkinder rechnen, da viele der-
selben von der Löbenichtschen und Kneip-
höfischen Schule in die gelehrten Schulen
übergehen und also in beiden successive be-
zahlen werden. Sollte aber auch die Zahl
wegen des erhöheten Schulgeldes abnehmen,
glaube ich doch mit Sicherheit für die 3 ge-
lehrten Schulen wenigstens 600, für die Bürger-
schulen 300 Schüler rechnen zu können. Von
den 850 Schülern sitzen ^/g in den 3 untern,
\ in den zwei höhern Klassen. Dies giebt
von
300 Schülern in der Bürger-
schule zu I Rth. 3600 Rth.
400 in den untern Classen der ge-
lehrten zu 1V2 Rth 7200 Rth.
200 in den obern zu 2 Rth.
monatlich _ 4800 Rth.
Summa 15600 Rth.
Wovon das Viertel hier in Rechnung kommt 3900 Rth.
Summa ^ , 13,082 Rth. 23 gr.
Mithin wäre zu 20 000 Rth. nur noch ein
^) Die Exposition dieses Titels 4. ist zum Teil vo» Schreiberhand.
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. a. 21%
Zuschuss von 7000 Rth. nöthig. Schlägt man
zu diesen 7000 Rth.
noch Ve <ics Schulgeldes für Freischüler
mit 2600 Rth.
und für die übrigen Elementarschulen der
Stadt 3400 Rth.
so beträgt der ganze Zuschuss 13000 Rth.
Um aber recht hoch zu gehen, wollen wir ihn einmal auf
16000 Rth. setzen, Angenommen nun, dass Königsberg auch nur
■8000 Familienhäupter hätte, die überhaupt, ohne gedrückt zu
werden , Abgaben bezahlen können , und diese in drei Classen
zwei zu 3000 und eine zu 2000 vertheilt, würde die dürftigste
Classe, um jene Summe zusammenzubringen, nur 6^/3 hiesige
-Groschen, die reichste aber i fl. monatlich beitragen müssen.
Wäre aber auf diese Weise einmal ein allgemeiner Schulfonds
der Stadt vorhanden, so würde er hernach auch durch Geschenke,
Vermächtnisse und selbst durch die Freigebigkeit des Staats ver-
mehrt werden.
Ich glaube nicht, das Schulgeld zu hoch angenommen zu
haben. W>nn man Herrn StaatsRath Hoffmanns und Herrn Möllers
Rechnungen so macht, dass jeder Schüler, wie ich annehme, voll
bezahlt, so schlägt der Erstere das Schulgeld an
1. für 90 Schüler der gelehrten Schule auf
2. 480 der Mittelschulen
zusammen auf
der Letztere
1. für 120 der gelehrten auf
2. 388 der Mittelschulen auf
zusammen auf 9084 Rth.
"Ich rechne fast noch einmal so viel Schüler, als sie. Allein wenn
850 Schüler in den jetzigen gelehrten Schulen sind, so rechne ich
gewiss mit 900 für 2 Bürger- und 3 gelehrte noch zu wenig, um
so mehr als, nach meinem Plan, das Schulgeld nicht einmal so,
wie nach dem von Herrn Möller erhöht wird. Denn der ganze
Unterricht bis zur Universität würde, nach meiner Annahme, für
ein Kind nur circa 6^0 Rth. kosten, wenn der Vater es 12 Jahre die
Schule besuchen liesse, nämlich 4 die Bürger-, 5 die untern Classen
und 3 die obern der gelehrten Schule, und wenn man, was schon
wohl mehr ist, als gewöhnlich geschieht, auf Schulbedürfnisse,
^ausser dem Schulgeld, im ersten Stadium ebensoviel, im zweiten
W. V. Humboldt, \Verke. XIH. l8
3240
II 520
Rth.
14760 Rth.
2880 Rth.
6204 —
274. 3- Amtliche Arbeiten aus den Jaliren 1809 und 18 10.
doppelt, und im dritten dreifach soviel jährlich, als das Schulgeld
ausmacht, rechnete.
Auf die sogenannten deutschen Gassen des Collegii Frideri-
ciani habe ich gar keine Rücksicht genommen. Sie müssten, als zu
dieser Anstalt gehörig, ganz untergehen und eine eigne Elementar-
schule ausmachen, die besonders von der Stadt dotirt würde ; oder
man Hesse ihnen von den Einkünften des Fridericiani, was sie
jetzt davon ziehen, und erhöhte um so viel den Zuschuss der
Stadt zur jetzigen Reform.
3-
Nothwendigkeit eines allgemeinen Schulreglements.
Es ist natürlich hier nur von einem für Königsberg, aber für
alle Schulen die Rede.
Ich erwähne nur einzelne Punkte, die mir gerade, als vorzüglich
wesentlich, hier aufgefallen sind.
Alle sogenannte Winkelschulen müssen aufhören, keiner kann
Schule halten, der nicht bei der geistlichen und Schuldeputation
geprüft ist, und jetzt gleich muss eine allgemeine Visitation vor-
genommen werden, um die nützlichen der bisherigen Schulen dieser
Art förmlich zu genehmigen, die andern zu unterdrücken. Das
PoliceiDirectorium muss hernach angewiesen werden zu wachen,
dass nicht neue ohne vorhergängige Bestätigung entstehen.
Die Besorgniss, die ich äussern hörte, dass diese Anordnung
die öffentlichen Schulen mit Kindern überfüllen würde, ist unge-
gründet. Je kleiner die Zahl dieser Privatschulen wird, desto mehr
Schüler werden die übrigbleibenden bestätigten haben.
Die gelehrten Schulen müssen niemals Kinder annehmen, als
beim Anfange eines neuen Lehrsemesters. Da alle Kinder, die sie
erhalten, immer schon aus einem öffentlichen oder Privatunter-
richt zu ihnen kommen, so schadet es nie, wenn sie einige Monate
länger in demselben bleiben.
Die Bürgerschulen nehmen zwar, um die Kinder nicht herum-
laufen zu lassen, in jedem Monat, doch immer nur mit dem i^,
auf, aber beschäftigen die in der Mitte des halben Jahres kommen-
den Kinder, die sonst nur stumm der untern Klasse beiwohnen,
abgesondert einige Stunden täglich, was sehr füglich angeht, weil
hier bei 2 Klassen auf 4 Lehrer und auf eine Stube mehr, ausser
den Klassenstuben, gerechnet ist.
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. a. 275
Keine Schule dringt einem Schüler mehr als 36 Schulstunden,
was das Maximum ist, und einem Lehrer mehr als 24 wöchentlich
auf. Der Rector giebt nur 12. Mit noch mehr verringerter
Stundenzahl den gleichen Zweck zu erreichen, steht frei, und ist,
wenn der Hausfleiss befördert wird, lobenswerth.
Der Uebergang aus der Bürgerschule in die gelehrte, und in
beiden aus einer Klasse in die andre, geschieht immer nach vor-
gängigem Examen, aber, wenn es die Lehrer wollen, und wo es
die Natur des Lehrgegenstandes erlaubt, auch mitten im halben
Jahr.
Bei der Aufnahme in die gelehrte Schule geschieht die Prü-
fung durch den jüngsten Lehrer in Gegenwart des Rectors, und
bei getheilter Meynung ist die zurückweisende Stimme die ent-
scheidende.
Die Versetzung aus einer Classe in die andre geschieht nach
einer Prüfung des dimittirenden, und des aufnehmenden Lehrers
in Gegenwart des Rectors, und der Rector entscheidet, wenn beide
uneins sind.
Bei Entwerfung des Lectionsplans wird möglichst genau be-
stimmt, was die Reife in jeder Classe für jede Disciplin bezeich-
nen soll.
Keine höhere Classe lehrt je, sondern wiederholt nur, fragend,
das Pensum der nächst vorhergehenden. Ist ein Subject ihr nicht
gewachsen, so kann es, ungeachtet des Receptionsexamens, jedoch
nur nach nochmaliger Prüfung, zu jeder Zeit zurückgewiesen werden.
Die Bürgerschule entlässt nie, als nach vorgängiger Prüfung,
und, es sey denn zum Uebergang in eine andre Bürgerschule,
erlangter Reife, oder anerkannter Unfähigkeit des Kindes, je weiter
vorzurücken. Eltern, die ihre Kinder früher wegnehmen wollen,
kommen in die Kategorie derer, welche sie nicht zur Schule schicken.
Die gelehrte Schule muss zwar zu jeder Zeit entlassen; ohne
bei der geistlichen und SchulDeputation nachzusuchende Dispen-
sation rhut sie es aber nur am Ende eines Schulsemesters, und
nie anders, als nach vorhergängigem Examen, dessen Zweck aber
nur ist, dem jungen Menschen eine Erklärung mitzugeben, wie
viel oder wenig Fortschritte er gemacht hat. Von dieser Erklärung
bleibt, von der 3. Classe an, Abschrift bei der Schule.
Ein MaturitaetsZeugniss zur Universität giebt die Schule,
welches auch der Grad der Fähigkeiten und Kenntnisse seyn
möchte, nie als nach vollendetem 18. Jahre.
i8»
2'y5 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Das Schulgeld wird zwar monatlich bezahlt, läuft aber, bis
das Kind aus der Schule gesetzlich genommen werden kann, und
genommen wird, ununterbrochen fort. Nur bei Krankheitsfällen
wird es sistirt; doch nur gegen ein Zeugniss des Arztes.
Es wird praenumerirt, und der angefangene Monat gilt, auch
bei Krankheiten, für einen ganzen.
b. Unmassgebliche Gedanken über den Plan zur Ein-
richtung des Litthauischen Stadtschulwesens. ^)
Wenn ich, mit Vorbeilassung alles Details, gleich auf das
Wesentliche des Plans gehe, so weicht er in den Hauptgesichts-
punkten weit von den bisherigen Grundsätzen der Section ab; in
der Ausführung nach der örtlichen Lage würde diese Abweichung
grösstentheils wieder verschwinden. Allein es ist dennoch ebenso
nothwendig, als mit denkenden Männern erfreulich, auch über die
Grundsätze zu discutiren. Von ihnen hängt der Geist ab, in dem
auch auf demselben Wege gewirkt wird, und dieser macht offen-
bar durch seine innere Kraft durchaus verschieden, was, den
äussren Einrichtungen nach. Eins und dasselbe scheint.
Die Abweichung nun liegt in dem Begriffe der Bürgerschulen,
welche in dem Plane als eine eigne, ihrem Begriff und Zweck
nach abgegränzte Gattung von Schulen, und selbst wo sie das
nicht sind, (für den Gelehrten) als ein besonderes Stadium des
Unterrichts betrachtet werden.
Die durch die wirkliche Ausführung wieder herbeigeführte
Uebereinstimmung würde daraus entstehen, dass doch nur in Lyk
Bürger und Gelehrtenschule getrennt seyn sollten, sonst aber nah
und enge verbunden wären.
Die Frage über die Zulässigkeit abgesonderter Bürger oder
Realschulen scheint weitläuftig und schwierig zu erörtern. Sie
hat zwei verschiedene Systeme hervorgebracht, wovon man das
realistische neulich, in Baiern, so weit getrieben hat, dass man
beinahe RealUniversitäten aufstellt.
Alle Schulen aber, deren sich nicht ein einzelner Stand, son-
dern die ganze Nation, oder der Staat für diese annimmt, müssen
nur allgemeine Menschenbildung bezwecken. — Was das Bedürfniss
des Lebens oder eines einzelnen seiner Gewerbe erheischt, muss
abgesondert, und nach vollendetem allgemeinen Unterricht er-
worben werden. Wird beides vermischt , so wird die Bildung
*) Eigenhändiges Konzept Humboldts.
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. a. b. 277
unrein, und man erhält weder vollständige Menschen, noch voll-
ständige Bürger einzelner Klassen.
Denn beide Bildungen — die allgemeine und die specielle —
werden durch verschiedene Grundsätze geleitet. Durch die all-
gemeine sollen die Kräfte, d. h. der Mensch selbst gestärkt, ge-
läutert und geregelt werden; durch die specielle soll er nur
Fertigkeiten zur Anwendung erhalten. Für jene ist also jede
Kenntniss, jede Fertigkeit, die nicht durch vollständige Einsicht der
streng aufgezählten Gründe, oder durch Erhebung zu einer all-
gemeingültigen Anschauung (wie die mathematische und ästhe-
tische) die Denk- und Einbildungskraft, und durch beide das
Gemüth erhöht, todt und unfruchtbar. Für diese muss man sich
sehr oft auf in ihren Gründen unverstandene Resultate beschränken,
weil die Fertigkeit da seyn muss, und Zeit oder Talent zur Ein-
sicht fehlt. So bei unwissenschaftlichen Chirurgen, vielen Fabri-
kanten u. s. f. Ein Hauptzweck der allgemeinen Bildung ist, so vor-
zubereiten, dass nur für wenige Gewerbe noch unverstandene, und
also nie auf den Menschen zurück wirkende Fertigkeit übrigbleibe.
Die Organisation der Schulen bekümmert sich daher um keine
Kaste, kein einzelnes Gewerbe, allein auch nicht um die gelehrte
— ein Fehler der vorigen Zeit, wo dem Sprachunterricht der
übrige geopfert, und auch dieser — mehr der Qualität, als Quan-
tität nach — zum äussern Bedarf (in Erlangung der Fertigkeit
des Exponirens und Schreibens) nicht zur wahren Bildung (in
Kenntniss der Sprache und des Alterthums) getrieben wurde.
Der allgemeine Schulunterricht geht auf den Menschen über-
haupt, und zwar
als g}'mnastischer
ästhetischer
didaktischer und in dieser letzteren Hinsicht wieder
als mathematischer
philosophischer, der in dem Schulunterricht
nur durch die Form der Sprache rein,
sonst immer historisch-philosophisch ist,
und
historischer^)
auf die Hauptfunktionen seines Wesens.
') „Historisch" bedeutet nach dem Sprachgebrauch der Leibniz-Wolff sehen
Philosophie bekanntlich das Tatsächliche im Gegensatz zum Rationalen, aus
ewigen Wahrheiten Ableitbaren. ^^^
27^ 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
Dieser gesammte Unterricht l^ennt daher auch nur Ein und
dasselbe Fundament. Denn der gemeinste Tagelöhner, und der
am feinsten Ausgebildete muss in seinem Gemüth ursprünglich
gleich gestimmt werden, wenn jener nicht unter der Menschen-
würde roh, und dieser nicht unter der Menschenkraft sentimental,
chimärisch, und verschroben werden soll.
Eher könnte es scheinen, dass bei der allmählig fortschreiten-
den Bildung die Methode insofern verschieden seyn müsste, als
sich das Ziel derselben durch Unterricht als weit oder nahe ge-
steckt voraussehen lässt. Allein auch hier scheint mir der Unter-
schied nicht bedeutend. Bleibt man fest dabei stehen, Zahl und
Beschaffenheit der Unterrichtsgegenstände nach der Möglichkeit
der allgemeinen Bildung des Gemüths in jeder Epoche zu be-
stimmen, und jeden Gegenstand immer so zu behandeln, wie er
am meisten und besten auf das Gemüth zurückwirkt, so muss
eine ziemliche Gleichheit herauskommen. Auch Griechisch gelernt
zu haben könnte auf diese Weise dem Tischler ebenso wenig un-
nütz seyn, als Tische zu machen dem Gelehrten. Indess lässt kleine
Verschiedenheiten allerdings die Wahl des Stoffes, da jede Form
nur an einem Stoffe geübt werden kann, zu und auf diese wird
in der Folge auch Rücksicht genommen werden. Auch können
die grellen Contraste immer vermieden werden, und es braucht
nie dahin zu kommen, dass ein Handwerker Griechisch, kaum
lateinisch gelernt habe.
Die Gränze des Unterrichts, da wo derselbe nicht seinen End-
punkt, die Universität, als die Emancipation vom eigentlichen
Lehren (da der UniversitätsLehrer nur von fern das eigene Lernen
leitet) erreicht, kann nun durch nichts andres bestimmt werden,
als durch die zu allem Unterricht nöthigen Bedingungen Kraft
und Zeit. Soweit der Schüler das eine hergiebt, und zum andern
Mittel hat, so weit kann der Lehrer ihn führen, und soweit muss
der Staat dafür sorgen, dass er gebracht werden könne.
Die Pflicht der Schulbehörde bei der Organisation des Schul-
wesens ist nun, zu verhüten, dass der Schüler einen Weg mache
der ihm unnütz se3^n würde, wenn er ihn nun nicht auch noch
weiter verfolgte. Leider aber ist dies fast immer jetzt bei unsern
Schulen der Fall, wenn einer in tcrtia oder secimda stecken bleibt.
Es wird aber nie Statt haben, wenn man (wie auf den sehr guten
Schulen schon jetzt geschieht) beim Unterricht nicht auf das
Bedürfniss des Lebens, sondern rein auf ihn selbst, auf die Kenntniss,
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. b. 270
als Kenntniss, auf die Bildung des Gemüths und im Hintergrunde
auf die Wissenschaft sieht. Denn im Gemüth und in der Wissen-
schaft (die nur sein von allen Seiten vollständig gedachtes Object
ist) steht jeder einzelne Punkt mit allen vorigen und künftigen
in Contact, ist kein Anfang und kein Ende, ist alles Mittel und
Zweck zugleich, und also jeder Schritt weiter Gewinn, auch w^enn
unmittelbar dahinter eherne Mauern gezogen würden.
Sind diese Grundsätze richtig und kommt man nun von ihnen
auf die verschiedenen Gattungen der Schulen (Specialschulen immer
ganz abgesondert), so ist wieder das erste und wichtigste Princip
die Einheit und Gontinuität des Unterrichts in seinen natür-
lichen Stadien,
da jede Theilung der Anstalt da, w'o der Unterricht keine natür-
liche Theilung kennt, seine Folge zerreisst, \'erschiedenheit in der
Behandlung und dem Geiste derselben hervorbringt, und selbst
die Lehrer, die nur bis zu einem willkührlich angenommenen
Punkt führen sollen, ungewiss und verwirrt macht.
Als natürliche Stadien aber kann ich nur anerkennen:
den Elementarunterricht
den Schulunterricht
den Universitätsunterricht.
Der Elementarunterricht umfasst bloss die Bezeichnung der
Ideen nach allen Arten, und ihre erste und ursprüngliche Classi-
fication, kann aber, ohne Nachtheil, in dem Stolf zu dieser Form
in Natur- und Erdkenntniss mehr oder minder Gegenstände mit
aufnehmen. Er macht es erst möglich, eigentlich Dinge zu lernen,
und einem Lehrer zu folgen.
Der Schulunterricht führt den Schüler nun in Mathematik,
Sprach- und Geschichtskenntniss bis zu dem Punkte wo es unnütz
seyn würde, ihn noch ferner an einen Lehrer und eigentlichen
Unterricht zu binden, er macht ihn nach und nach vom Lehrer
frei, bringt ihm aber alles bei, was ein Lehrer beibringen kann.
Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch
und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissen-
schaft. Zu diesem SelbstActus im eigentlichsten Verstand ist
nothwendig Freiheit, und hülfereich Einsamkeit, und aus diesen
beiden Punkten fliesst zugleich die ganze äussere Organisation
der Universitäten. Das Kollegienhören ist nur Nebensache, das
Wesentliche, dass man in enger Gemeinschaft mit Gleichgestimmten
und Gleichaltrigen, und dem Bewusstseyn, dass es am gleichen
23o 3« Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Ort eine Zahl schon vollendet Gebildeter gebe, die sich nur der
Erhöhung und Verbreitung der Wissenschaft widmen, eine Reihe
von Jahren sich und der Wissenschaft lebe.
Uebersieht man diese Laufbahn von den ersten Elemente»
bis zum Abgang von der Universität, so findet man, dass, von
der intellectuellen Seite betrachtet , der höchste Grundsatz ^}
der Schulbehörde (den man aber selten aussprechen muss) der
ist: die tiefste und reinste Ansicht der Wissenschaft an sich her-
vorzubringen, indem man die ganze Nation möglichst, mit Bei-
behaltung aller individuellen Verschiedenheiten, auf den Weg^
bringt, der, weiter verfolgt, zu ihr führt, und zu dem Punkte^
wo sie und ihre Resultate nach Y^i'schiedenheit der Talente und
Lagen, verschieden geahndet, begriffen, angeschaut, und geübt
werden können, und also den Einzelnen durch die Begeisterung^
die durch reine Gesammtstimmung geweckt wird, zu Hülfe kommt.
Nicht überall aber kann der eigentliche Schulunterricht in
Einer Anstalt vollendet dargestellt werden. Da indess diese Hinder-
nisse nur zufällig sind, so ist auch, nach meiner Einsicht, jeder
andere Unterschied, ausser dem oben angegebenen, nur ein zu-
fälliger und nur als solcher zu behandeln.
Hieraus fliesst nun für die Schulbehörde der praktische-
Grundsatz :
an Orten, wo es gelehrte Schulen (d. h. solche, welche
den Schulunterricht bis zu seinem Endpunkte führen)
geben kann, müssen keine abgesonderte Bürger- sondern
nur Elementarschulen seyn;
an Orten hingegen, wo dies nicht möglich ist, kann-
und muss es Bürgerschulen geben, welche indess dann nur
die unteren Klassen der von ihnen abgesonderten ge-
lehrten sind.
Wie es aber Pflicht jedes praktischen Verfahrens ist, dafür
zu sorgen, dass die Einheit des Princips nicht die wohlthätige
Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit verschlinge, so können in dem
ersten Falle Elementarschulen eine solche Ausdehnung erhalten,,
dass sie den Zögling gewiss weiter bringen als die Bürgerschulen
von Einer Klasse des Plans. Nur müssen sie nie alsdenn ins
Gebiet der gelehrten Schulen mit Unterricht im Lateinischen ein-
greifen. Sonst zerreissen sie die Einheit dieses Unterrichts. Auch
*) Von fremder Hand übergeschrieben „Ziveck^'.
C. Der königsberger und der litauische Schulplan. b. 08 1
in Geschichte müssen sie bei Gränzpunkten stehen bleiben. In
der Mathematik aber können nur in solchem Fall die Talente
des Lehrers und Schülers und die Zeit die Gränzen setzen. Es
ist ein abgesondertes Fach, in dem der Begriff der Wissenschaft
leichter errungen werden, und daher allgemeiner gewährt wer-
den kann.
Aus gleichen Accommodationsmaximen muss im zweiten Fall
die sogenannte Bürgerschule sich bequemen in Mathematik weiter
zu gehen, als sonst die unteren Klassen der gelehrten thun würden,
auch mehr bloss historische Kenntnisse aufzunehmen.
Trete ich nunmehr dem vorliegenden Plane näher, so finde
ich vorzüglich folgende Hauptwidersprüche mit den hier ent-
wickelten Grundsätzen:
1. die aufgestellte Maxime, dass es nur zu dulden sey,
Bürger- und gelehrte Schule in Einer Anstalt zu verbinden, an
sich aber das Gegentheil wünschenswerth. Sehr bedenklich ist
schon in dieser Hinsicht der Grundsatz, dass für jene die Stadt.
für diese die Provinz sorgen soll, woraus sogar, nach dem Plan,
zwiefache Aufsichtsbehörde entsteht. Hierbei scheint es mir durch-
aus unmöglich, eine gute gelehrte Schule zu haben. Denn wie
genau auch die geistliche Deputation die Städte angehen möge,
so kann sie doch für die wahre Güte der Bürgerschulen, und
vorzüglich für ihre Angemessenheit zu Vorbereitungsschulen zu
den gelehrten nicht mehr einstehen. Mir schiene daher besser
a. entweder die Königlichen fonds zwar nur den Städten, wo
gelehrte Schulen sind, zu geben, aber da mit den städtischen zu-
sammenzuwerfen und zu machen, was sich nun damit machen
lässt; oder
b. die gelehrten Schulen ganz von ihrer untersten Klasse an
auf Königliche Kosten zu übernehmen, und die Städte, die da-
durch erleichtert werden, dagegen zu nöthigen, verhältnissmässig
gleichviel, als andre Städte auf Elementar- und Bürgerschulen
zugleich wenden, bloss für ihre Elementarschulen zu geben.
Ungleichheiten sind das Wesen der Welt, und dass etwas besser
sey, als anderes, ist leicht zu dulden;
2. kommt mir die Klasseneintheilung bei weitem zu dürftig
vor. Eine Bürgerschule mit Einer Klasse kann schwerlich mehr,
als jede Elementarschule leisten. Für eine Bürgerschule, die Vor-
bereitungsschule zugleich seyn soll, sind noch 2 Klassen zu wenig.
2g2 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Trotz aller Anstrengungen könnten die gelehrten Schulen nichts
leisten, wenn ihnen Schüler aus fremden Schulen von i, oder
2 Klassen zukämen, und sie selbst nur nothdürftig 3 hätten. Man
würde bald aufs neue theilen, combiniren u. s. f. müssen.
Schon bei einer Elementarschule muss selbst Ein Lehrer,
wenn er ordentlich unterrichten will, wenigstens manchmal die
Stunden theilen. Sehr vollständige und gute Elementarschulen
müssten also 2 Klassen haben, obgleich die Regel eine seyn könnte.
Sogenannte Bürgerschulen (besser Stadtschulen) müssen un-
nachlasslich 2 Classen, oder, wo möglich, drei haben, und doch
sehr streng nie Schüler, die im Elementarunterricht nicht ganz
fest wären, aulnehmen. Sonst muss eine 3^^ oder 4te Classe hinzu-
kommen.
Gelehrte (besser hier Provincialschulen, die also die Bürger-
schule des Plans mit sich vereinigen) können sich mit 5 Classen
begnügen.
3. scheint noch im Plan eine gewisse Tendenz zu liegen, in
den Bürgerschulen sich selbst von der Möglichkeit künftiger
Wissenschaft zu entfernen, und aufs naheliegende Leben zu denken.
Warum soll z. B. Mathematik nach Wirth und nicht nach Euclides,
Lorenz ^) oder einem andern strengen Mathematiker gelehrt werden ?
Mathematischer Strenge ist jeder an sich dazu geeignete Kopf, und
die meisten sind es, auch ohne vielseitige Bildung fähig, und will
man in Ermangelung von Specialschulen aus Noth mehr Anwen-
dungen in den allgemeinen Unterricht mischen, so kann man es
gegen das Ende besonders thun. Nur das Reine lasse man rein.
Selbst bei den Zahlverhältnissen liebe ich nicht zu häufige An-
wendungen auf Carolinen, Ducaten u. s. f. Je tiefer der Mensch,
der nicht höher gebildet werden kann, leider ins Leben eintauchen
muss, desto sorgfältiger halte man ihn bei dem wenigen Formellen,
was er rein zu fassen im Stande ist. Gerade dies hat auf Mora-
lität durch die Strenge des Pflichtbegriff's, der, wo man gar keine
andern reinen Begriffe kennt, nur als Zwang erscheint, und
auf Religion durch das Abziehen vom sinnlichen Stoff sehr wesent-
lichen Einfluss.
V Johann Friedrich Lorenz, Rektor der Schule zu Burg bei Magdeburg,
Übersetzer des Euklid und Verfasser mehrerer mathematischer Lehrbücher. Über
das im Text gemeinte Lehrbuch von Wirth hat sich nichts feststellen
lassen.
D. Bericht an Altcnstein über die Finanzgrundsätze der Sektion. 28^
Dies ist ungefähr, was es mir gut schien, im Ganzen voraus
zu erinnern, da es im Zusammenhang überlegt seyn will und sich
für eine Conferenz mit der Deputation nicht passt. Uebrigens,
diese bestrittenen Punkte abgerechnet, in denen auch die Section,
wenn ich auch vielleicht nicht über ihre Meynung hinausginge,
irren kann, ist ein tref licher Geist in dem ganzen Plan ; sehr viel
Einzelnes stimmt ganz mit dem System der Section überein,
andre Kleinigkeiten, wie dass die Lehrer noch viel zu sehr mit
Lectionen überhäuft bleiben, lassen sich mündlich besprechen.
Gumbinnen, den 27. September 1809.
Humboldt.
D. Bericht an Altenstein über die Finanzgrundsätze
der Sektion. ^)
Die von Ew. Excellenz veranstaltete Conferenz über die Kir-
chen und Schul-Etats der verschiedenen Regierungen mit dem
Herrn Staats-Rath Schultz ^) veranlasst mich. Denselben folgende
Gedanken über die ganze Finanz-Parthie der Section des Cultus
und öffentlichen Unterrichts gehorsamst vorzulegen.
In dem ersten Augenblick, wo ich die Leitung derselben über-
nahm, bemühte ich mich, die Totalität sowohl der vorhandenen
Schul-Fonds, als der dem Schulwesen aus Königlichen Gassen
bisher zugeflossenen Zuschüsse mit einiger Genauigkeit kennen
zu lernen. In der Registratur des ehemaligen Geistlichen Departe-
ments und OberSchul-CoUegii fanden sich schlechterdings nur
einzelne und zerstreute Data hierüber. Ich wandte mich an die
vormalige General-Controlle, allein auch da würde der Total-Betrag
nur mit Mühe haben zusammen gesucht werden können, und die
gewiss nicht unwichtige Frage:
wie viel die Unterhaltung der kirchlichen und SchulAnstalten
dem Lande überhaupt gekostet habe?
schien daher nie aufgeworfen worden zu seyn.
^) Von Sehr eiber hand.
^) Christoph Ludwig Friedrich Schultz {ij8i — i8j4), durch seinen Brief-
wechsel mit Goethe weiter bekannt geworden, seit 1808 Staatsrat im Finanz-
ministerium, seit 1814 im Ministerium des Inneren, von dort i8ij in das neu
abgezweigte Ministerium der geistlichen und Unterrichtsangelegenheiten über-
nommen; vgl. sein Lebensbild im Briefwechsel zwischen Goethe und Staatsrat
Schultz von Düntzer [Leipzig 18^3)-
2g 1 3, Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
Als ich nach Königsberg kam, führte mich Ew. Excellenz bei
einigen Gelegenheiten geäusserte Bemerkung, dass es weniger auf
die historische Untersuchung des bisherigen Zustandes, als die
Ausmittelung des jetzigen wahren Bedüfnisses ankomme, um so
mehr von diesen Nachforschungen ab, als ich mit lebhaftem Ver-
gnügen bemerkte, dass Ew. Excellenz diesen Grundsatz sehr häufig
zum Vortheil der wissenschaftlichen Institute anzuwenden die Ge-
neigtheit hatten.
Es wurden daher die alten Zahlungen nur einzeln wieder in
Antrag gebracht, grösstentheils hergestellt, zum Theil aber auch,,
wie die zu dem Joachimsthal und der Monas pütafis-CdiSse^ noch
suspendirt gelassen.
Da ich die Schonung fühlte, deren die Staats-Cassen bedürften^
so zog ich es vor, Ew. Excellenz durch wiederholte einzelne Ge-
suche lästig zu werden, als ganze Etats, in denen einige Zahlungen
vielleicht noch ruhen konnten, auf einmal wieder aufzunehmen,
und wandte mich daher nur da an Ew. Excellenz, wo die Institute
es schlechterdings erforderten, oder die zahlungsberechtigten Per-
sonen dringend wurden.
Wo es möglich war, machte ich gegen die vorigen Etats be-
deutende Ersparungen. So bei der Academie der Künste und
Wissenschaften.
Auf der andern Seite machte ich meine Anträge, wo sich ein
kirchliches, Lehr- und wissenschaftliches Bedürfniss zeigte, ein-
zeln, und Ew. Excellenz genehmigten die mehresten dieser An-
träge entweder geradezu, oder unterstützten dieselben bei des
Königs Majestät. Das Normal-Institut zu Königsberg, das Colle-
gium Fridericianum ebendaselbst, die Universität Königsberg und
die neue Lehranstalt hier in Berlin werden dauernde Beweise der
Fürsorge Ew. Excellenz für Erziehung und Wissenschaften bleiben.
Allein so sehr, und für die von allen Seiten bedrängten Zeit-
umstände unglaublich viel auch wirklich geschehen ist, soviel
bleibt, wie ich Ew. Excellenz unumwunden gestehen muss, noch
zu thun übrig.
Wenn auch die schlechterdings nothwendige Verbesserung der
Landschulen grösstentheils durch die Gemeinen geschehen könnte und
sollte, so wird doch die Anlegung anderer Normal-Institute, deren
Nutzen jetzt das Königsbergsche bereits durch die Erfahrung be-
währt hat, schlechterdings nothwendig seyn, wenn die Verbreitung,
einer bessern Methode nicht allzu langsam von Statten gehen solL
D. Bericht an Altenstein über die Finanzgrundsälze der Sektion.
-'"D
Die gelehrten Schulen in allen Provinzen, fast ohne Ausnahme,
sind auf eine den Forderungen, die man billigerweise jetzt an sie
machen muss, durchaus unangemessene Art dotirt, und die Ver-
legenheit in Absicht derselben ist um so grösser, als die Städte,
in welchen sie sich befinden, meistentheils zu klein sind, als dass
ihre Verbesserung von ihnen gefordert werden könnte.
Die neue Lehranstalt hier erfordert, worüber ich mich auf
ein am lo. Junius an des Herrn StaatsMinisters des Innern er-
lassenes Schreiben, welches derselbe Ew. Excellenz mittheilen wird,
zu beziehen die f^hre habe, noch eine immer für die Umstände
nicht unbedeutende Summe, um aufzuhören ein blosses Project
zu seyn.
Für kirchliche ^^erbesserungen ist bis jetzt noch fast nichts
geschehen. Da aber dies vorzüglich daher rührte, dass die Sec-
tion des Cultus, in Ermangelung ihrer geistlichen Mitglieder, in
Königsberg nur wenig thätig seyn konnte, so wird auch hiefür
das Bedürfniss bald fühlbar w^erden.
Ganz besonders dringend ist die Schulverbesserung in West-
preussen und dem Ermeland. Schon vor dem Kriege war der
Zustand des Schulwesens dort wenig erfreulich. Allein der Krieg
und die Folgen, welche derselbe auf den, noch überdies vielleicht
nicht mit der nothwendigen Sorgfalt administrirten Jesuiter-Fonds
gehabt hat, haben dasselbe so zerrüttet, dass man es ohne alle
Uebertreibung als gänzlich zerstört ansehen kann. Es wird hier-
über dem Herrn Staats-Rath Schultz ein eigener detaillirter Auf-
satz mitgetheilt werden. Die Hülfe in dieser Provinz ist um so
nothwendiger, als wegen der Mischung deutscher und polnischer
Einwohner in derselben die National-Bildung schwieriger ist, und
die Folgen des Mangels an derselben so leicht auch politisch be-
denklich werden. Auf der andern Seite fehlt es aber auch nicht
an inneren schon vorhandenen Hülfsmitteln, und es ist nur zu
bedauern, dass nicht gegenwärtig schon über dieselben disponirt
werden kann. In jedem Falle ist daher das Zutreten der Staats-
Cassen nur auf eine Zeitlang nothwendig.
Für Schlesien und namentlich für Breslau würde schon be-
deutend gesorgt seyn, wenn, indem die 7000 Rth. von den Stiftern
und Klöstern jetzt auf den Kurmärkschen Regierungs-Etat über-
gehen, diese Summe nebst den 3000 Rth. von den Militär-Pensionen
auf die gelehrten Anstalten verwendet würden. Ueberhaupt bieten
für Schlesien die Stifter und Klöster immer eine noch im hohen
286 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Grade ergiebige Hülfsquelle dar, wenn nur der Gesichtspunkt im
Auge behalten wird, dass im Fall sie einmal eingezogen werden
sollten, ihre Einkünfte, so weit es erforderlich ist, zur Schul-
verbesserung zu verwenden seyn würden.
Ich glaube also mit Recht voraussetzen zu dürfen, dass
Ew. Excellenz, wenn Sie jetzt die Feststellung des Etats veranstalten,
doch nicht damit bloss die Berichtigung der bisher bewilligten
Summen im Sinne haben, sondern auch wirklich nothwendige Ver-
besserungen, die im Laufe des Etats-Jahres zu machen seyn werden,
schon jetzt zu berücksichtigen gemeynt sind, sey es nun, dass gleich
jetzt eine disponible Summe eveiihialüer bestimmt werde, oder
nur allgemein vorbehalten bliebe^ neue Anträge wie bisher bei
Sr. Majestät dem Könige, auch im Laufe des Jahres zu machen.
Ew. Excellenz sind gewiss überzeugt, dass ich lebhaft fühle,
welche Schonung im gegenwärtigen Augenblick die erschöpften
und noch auf so mannigfaltige Weise in Anspruch genommenen
Kräfte des Staats nothwendig fordern. Allein gerade diese un-
vermeidliche Erwägung führt mich auf die Idee der Ausmittelung
eines General-Etats für die, nothwendige Verbesserungen mit in sich
begreifenden Bedürfnisse der Section zurück. Denn gewiss ist es
gleich peinlich, Seine Majestät den König mit Anträgen zu be-
helligen, die nun einmal nicht für jetzt ausgeführt werden können,
und aus dieser Besorgniss nützliche Reformen zu unterlassen. Auch
ist es unläugbar, dass die Section, wenn sie die Summe kennt,
auf welche sie sich über das bisherige Quantum würde Rechnung
machen können, besser im Stande ist, dieselbe zu den einzelnen
Zwecken zu repartiren, als wenn über die Prioritaet dieses oder
jenes Antrags, wie jetzt unvermeidlich oft der Fall seyn muss, der
Zufall entscheidet.
Ein solcher Etat sollte nun eigentlich freilich von Seiten der
Schulbehörde, welche ihr Bedürfniss angeben muss, vorgelegt
werden, und die Section würde hiezu sehr bereitwillig seyn. Es
würde ihr hierin allerdings die Neuheit sowohl ihrer eigenen, als
der Organisation der Provinzial-Schul-Behörden entgegen stehen,
die eine hinlänglich genaue Kenntniss aller einzelnen Anstalten
schon jetzt unmöglich macht. Allein auch ausserdem würde ein
solcher Etat, in seiner ganzen Ausdehnung, jetzt ohne reellen
Nutzen seyn. Es ist augenscheinlich, dass man jetzt nur bei dem-
jenigen stehen bleiben muss, was unter den gegebenen Umständen
zu thun möglich ist, und ein von Seiten der administrirenden
D. Bericht an Altenstein über die Finanzgrundsätze der Sektion. 287
Behörde so beschränkter und doch allgemeiner Etat würde in die
Einrichtung jeder Anstalt schiefe Gesichtspunkte bringen. Von
dieser Seite aus kann die Section Ew. Excellenz nur eine, ihren
Ansichten nach gemachte Auswahl des Nothwendigsten vorlegen
und hierauf hat dieselbe die zur Conferenz mit Herrn StaatsRath
Schultz deputirten Räthe instruirt.
Wenn man aber das Kirchen- und Schulwesen als etwas an-
siehet, das gewissermassen einer unbestimmten Verbesserung fähig
ist, das in einem Staate von einigem Umfange schon äusserst be-
deutende Mittel bedarf um überall nur gut und hinlänglich dotirt
zu seyn, und für das, wenigstens bis auf einen, auch vielleicht
dem reichsten Staate schwer zu erreichenden Punkt, nie zuviel
geschehen kann; so rechnet man vielleicht diesen Verwaltungszweig
nicht unbillig zu denjenigen, für die ein Etat nicht nach dem
immer zu relativen Bedürfniss, sondern nach den Kräften, es zu
befriedigen, und mithin nach der StaatsEinnahme gemacht werden
müsste, und diese Methode möchte wohl in einem Staate, wie
der unsrige, in seiner jetzigen Lage, der nicht alles thun kann,
was er möchte, wo man aber mit Wahrheit von Sr. Majestät dem
Könige und dem Ministerio behaupten kann, dass der bereiteste
Wille vorhanden ist, das Mögliche in vollem Maasse zu thun, die
sicherste se3'n.
Wenn daher Ew. Excellenz vorzögen, eine Summe im Ganzen
zu bestimmen, bis auf welche Sie (ohne Rücksicht auf die einzelnen
Fälle des Bedürfnisses) den Anträgen der Section über die bisherigen
Etats hinaus, während des jetzt beginnenden Etats-Jahres, vom
blossen Interesse des Finanz-Punktes aus nicht entgegen seyn
würden; so würde die Section gewiss das aufrichtige Vertrauen
hegen, dass Ew. Excellenz hiebei eben die Grundsätze und Maximen
befolgen würden, welche schon so oft den Lehr- und wissen-
schaftlichen Anstalten wohlthätig geworden sind, und sie selbst
könnte ihre Mittel besser übersehen, und richtiger das Verhältniss
zwischen den möglichen Verwendungen treffen.
Auch hierüber sind die mit dem Herrn Staats-Rath Schultz
zu conferiren bestimmten Räthe der Section gehörig instruirt, so
wie sie sich überhaupt theils für sich aus den Acten, theils in
einer eigenen Sections-Conferenz und endlich durch einen Vortrag
in Pleno des Minislerii des Innern auf die Verhandlungen mit
Ew. Excellenz Ministerium so vollständig vorbereitet haben, als
die Lage der Umstände es erlaubte. Indess konnte diese Vorbereitung
-288 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
immer nur mangelhaft seyn, da die Zeit, seitdem Ew. Excellenz
Ihr Verlangen zu diesen gemeinschaftlichen Verabredungen ge-
ä ussert haben, so überaus kurz, und der Weitläuftigkeit des Gegen-
standes nicht angemessen ist, und bei der Section auch nur von
vier Regierungen, nemlich den drei Preussischen und der Bres-
lauischen, die Etats vorhanden sind.
Ich kann dieses Schreiben nicht schliessen, ohne Ew. Excellenz
noch auf eine Idee aufmerksam zu machen, die ich, gleich beim
Antritt meines Amts, hatte, die ich während der Führung des-
selben nur kaum hier und dort habe auszuführen versuchen können,
die ich aber noch jetzt für hinlänglich wichtig halte um wenigstens
■auf das reiflichste erwogen zu werden.
Es schiene mir nemlich viel zweckmässiger, die für das Kirchen-
und Schulwesen bestimmten Gelder unmittelbar aus dem Ver-
mögen der Nation in eine abgesonderte Geistliche Casse, von
welcher die schon vorhandenen Schul- und Kirchen-Fonds den
Hauptbestandtheil ausmachten, fliessen zu lassen als sie, wie jetzt
geschieht, mit den übrigen Staatsausgaben zu vermischen.
Die Vortheile einer solchen Einrichtung, die grössere Selbst-
ständigkeit dieser Casse, das höhere Interesse der Nation an In-
stituten, die nun sichtlicher ihr Werk wären, liegen am Tage. Ja,
es entstände vielleicht dann, wenn es solche, nicht mit den Re-
gierungs-Cassen vermischte, sondern von den Administratoren der
Communen selbst verwaltete Gassen gäbe, wieder der alte fromme
Gemeingeist, der sich in zu oft und ungerecht geschwächten Schen-
kungen und Vermächtnissen thätig erwiese.
Die Art der Erhebung könnte alsdann eine doppelte seyn.
Entweder erhöbe der Staat neben den Königlichen Abgaben
«inen für das ganze Land ungefähr berechneten Ueberschuss, und
dieser flösse unmittelbar in die Casse.
Oder jeder Theil der Nation erhielte unmittelbar die für ihn
besonders bestimmten Anstalten und Personen.
In diesem letztern Fall müsste jedoch der Staat, der schon
durch die Bildung seiner Diener ein unmittelbares und evidentes
Interesse bei der Schulreform hat, die Unterhaltung der Universi-
täten ganz, und der gelehrten Schulen wenigstens zu dem Theile,
in welchem sie gelehrte, nicht bloss mit denselben verbundene
Elementar- und Bürgerschulen sind, tragen.
In wie fern aber die Unterhaltung der Land- und niedern
Stadtschulen durch Einrichtung von Schul-Societäten im ganzen
D. Bericht an Altenstein über die Finanzgnindsätze der Sektion. 28q
Lande, durch Zuschüsse aus den Stadt-Cassen und durch Bildung
von Provincial-Cassen zu bewirken seyn möchte, würde näher
^usgemittelt werden müssen.
Wichtige Hindernisse hierbei sind allerdings einestheils die noch
mangelnde Organisation des ländlichen Gemeinwesens und der Kreis-
tind Provincial- Verfassung, anderntheils der traurige Finanzzustand
sowohl der Städte, als Provinzen im gegenwärtigen Augenblick.
Allein nicht bloss das Kirchen- und Schulwesen, sondern auch
andere Gegenstände, von welchen ich nur hier das mich gleich-
falls unmittelbar angehende MedicinalWesen und die Armenpflege
namhaft machen will, sind von der Art, dass dabei auf die Ge-
meinen wird gerechnet werden müssen, und dass dies wirklich
geschieht. Es lässt sich in der That keine wahre und erschöpfende
Sorge für die Befriedigung der Bedürfnisse der Nation und des
Staats denken, wenn nicht
genau gesondert ist, was Communal-Last werden und
was aus Staats-Mitteln bestritten werden muss,
den Gemeinen in allen Stufen ihres Umfanges, in den
Dörfern, Städten, Kreisen, und Provinzen eine überein-
stimmende Verfassung, in welcher die StädteOrdnung noch
immer isolirt da steht, gegeben wird, und endlich
das jetzige Schuldenwesen der Städte und Provinzen
auf eine feste Weise geregelt ist.
Da nun die Xothwendigkeit dieser Einrichtungen allgemein an-
erkannt ist, da die verschiedenen Ministerien schon sehr viel für
dieselben gethan haben und unablässig an ihrer Vollendung
arbeiten; so kann, dünkt mich, hieraus keine gegründete Ein-
wendung gegen den Vorschlag im Ganzen hergenommen werden.
Sollte nun dieser Gedanke nur im Allgemeinen mit Ew.
Excellenz Ansichten übereinstimmen, so bin ich sehr bereit, einen
detaillirten Plan hierüber ausarbeiten zu lassen und zu gemein-
schaftlicher Berathung zu bringen.
Berlin, den 12. Mai iSio. Humboldt.
An
des Königlichen Wirklichen Geheimen Staats- und Finanz-
ministers, Herrn Freiherrn von Altenstein, Excellenz.^)
^) Präsentiert ij. Mai 1810, von Altenstein an Schult:: zum Referat überwiesen.
Dieser bemerkt am Rande der ersten Seite:
„Resp. Man sey bereit, mit ihm über die Bedürfnisse des SchulWesens in
^iner dem Abschluss des GeneralStaatsLastenEtats vorangehenden Conferenz zu
W. V. Humboldt. Werke. XUI. 19
290
3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
E. Verschiedenes.
a. Amtsantritt.
I. Dohna an Humboldt. ^)
Mit sehnsuchtsvoller Erwartung und mit der innigsten Freude
sehe ich dem Augenblick entgegen, in welchem Ew. Hochwohl-
geboren den wichtigen Posten, zu welchem Dieselben durch das
ausgezeichnete Vertrauen des Königs Majestät berufen worden
sind, antreten und dadurch zugleich dem Wunsch des theuern
deutschen Vaterlandes und aller derer, welche sich auch im fernen
Auslande mit heiliger Wärme und Gründlichkeit für die höhere
Bildung der Menschheit, für Wissenschaft und Kunst interessiren,
erfüllen werden.
Bis zu diesem ersehnten Augenblick, in welchem Ew. Hoch-
wohlgeboren die specielle Leitung der Geschäfte der Ihnen an-
vertraueten Section übernehmen, dürften Dieselben wahrscheinlich
geneigt seyn. Sich von dem Zustande der Geistlichen und Schul-
Angelegenheiten, den darüber obwaltenden Bedürfnissen und vor-
handenen Hülfsmitteln, gehörig zu unterrichten.
In der abschriftlichen Anlage beehre ich mich, Ew. Hoch-
wohlgeboren dasjenige mitzutheilen , was in dieser Hinsicht an
sämmtliche Consistoria und an die vorzüglichsten wissenschaftlichen
Behörden in Preussen, Pommern, den Marken und Schlesien,
auch gleichlautend an das evangelisch Lutherische, imgleichen an
das französische OberConsistorium zu Berlin heute erlassen worden
ist, und bemerke dabei, dass bis jetzt die Consistoria (mit Aus-
nahme des Kurmärkischen, welches für sich bestehet, und des
Ostpreussischen und Litthauischen, die schon mit den Kammern
rathschlagen, 77iüsse jedoch bevorworten, wenn er wünsche, vorerst festgestellt zu
sehen, was der Staat zu diesem Behuf aus seinen Fonds leisten könne, solches
das Resultat ergäbe, dass garnichts dazu übrig sey , indem, wie ihm bekannt
seyn würde, die gefahrvolle politische Lage des Staats es zur dringendsten aller
Verpflichtungen mache, die Staatsfonds zu Abtragung der grossen Schuld an
Franckreich zu verwenden, insofern solche nicht zur Erhaltung des Innern noth-
wendig absorbirt werden. Es komme also in Absicht des Schulwesens immer
wiederum auf die Nothwendigkeit einer überzeugenden Darstellung von den
wahren und unumgänglichen Bedürfnissen dieses Zweigs an, und nach
dieser würden sich die Leistungen abmessen lassen, welche der Staat dafür auf
seine Fonds übernehmen könne.
B. jj.jö. w, Seh.''
') Von Schreiberhand.
E. Verschiedenes, a.
291
hieselbst und in Gumbinnen vereinigt worden) noch mit den
Provincial-Justiz-Collegien vereinigt sind.
Die Verbindung des Westpreussischen Consistorii mit der
p. Kammer zu Marienwerder soll jedoch in kurzem geschehen
und in den übrigen Provinzen wird solche gleichfalls eintreten,
sobald die von des Königs Majestät bereits vollzogene und im
Druck befindliche Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der
ProvinzialPolizei und FinanzBehörden ^) zur Ausführung kommt.
Dem Vernehmen nach, soll der ehemalige Chef des Geist-
lichen Departements, Herr StaatsMinister von Massow Excellenz,
bereits eine sehr ausgebreitete Sammlung von gar mannigfaltigen
Materialien zur Reform und Verbesserung der Geistlichen und
SchulAngelegenheiten veranstaltet haben, welche Ew. Hochwohl-
geboren auf Dero Aufforderung durch das OberSchulCollegium
oder durch den Herrn Präsidenten von Scheve werden vorgelegt
werden können. ^)
Auch sind während der interimistischen Verwaltung der Geist-
lichen und Schul-Sachen von Ost- und VVestpreussen im vormaligen
Preussischen Provincial-Depanement, mehrere Nachrichten über
das Schulwesen nach der abschriftlichen Anlage erfordert, jedoch
noch nicht eingekommen. ^) Sobald dieses geschiehet, werde ich
nicht ermangeln, Ew. Hochwohlgeboren davon Mittheilung zu
machen. Es ist jetzt die Absicht, ähnliche Nachrichten aus den
übrigen Provinzen zu erfordern.
Ich werde, wie es sich ganz von selbst versteht, bis zu dem
Augeijblicke, in welchem Ew. Hochwohlgeboren ganz die Ge-
schäfte übernehmen. Denselben von den vorkommenden erheb-
lichen Gegenständen Kenntniss geben, vorzüglich keine irgend
wichtige Stelle ohne Ihre Zuziehung besetzen und überhaupt alles
beizutragen mich beeifern, um Ihr künftiges Verhältniss zu Ihrer
Zufriedenheit einzurichten.
*) Vom 26. Dezember 1808; vgl. Preussische Gesetzsammlung 1806— 1810
S. 404-
^) Vgl. Heilbaum, Die Geschichte des ersten preussischen Schulgesetzentwurfs
(i'jgS — 180-]) in der Monatsschrift für höhere Schulen i. Humboldt hat das Ma-
terial tatsächlich erhalten. Von Scheve war Präsident im Oberschulkollegium, im
Lutherischen Oberkonsistorium und Mitglied zahlreicher andrer Kollegien; vgl.
oben S. 255 und Spranger S. j4.
') Gemeint ist eine Verfügung von Schroetters vom 27. September 1808, der
4 Umfrageformulare beiliegen mit Bezug auf i) Landschulen, 2) Stadtschulen,
j^) Erziehungsanstalten. 4) Lehrer seminarien.
19*
oQo 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Da Ihnen auch ein Expedient und Kanzelist bei Ihren vor-
läufigen Arbeiten nöthig seyn wird; so überlasse ich Ew. Hoch-
wohlgeboren, Sich dieserhalb an den Herrn Geheimen StaatsRath
und OberPräsidenten Sack beliebigst zu wenden, welcher beauf-
tragt ist, Ihnen hiezu zwei brauchbare Subjecte anzuweisen, oder
für deren Remuneration zu sorgen, im Fall Ew. Hoch wohlgeboren
vorziehen sollten, selbige unter den dortigen Officianten des vor-
maligen General-Directorii Selbst zu wählen.
Königsberg, den 24ten Januar 1809.
Dohna.
2. Humboldt an Dohna. ^)
Berlin, den 4. Februar, 1809.
Ew. Excellenz zwei geehrteste Schreiben vom 24. und 27. pr.
sind richtig vor einigen Tagen bei mir eingegangen, und je auf-
richtiger ich Denselben für die mir geäusserten schmeichelhaften
Gesinnungen verbunden bin, desto lebhafter ist mein Wunsch,
wenigstens einigermassen den Erwartungen zu entsprechen, welche
Sie darauf zu gründen die Güte haben. Mein neuliches Schreiben an
des Herrn Staats und CabinetsMinisters Grafen von Goltz Excellenz^)
wird Ew. Excellenz ein überzeugender Beweis gewesen seyn, welchen
Begriff ich von der Wichtigkeit des mir von des Königs Majestät
allergnädigst angetragenen neuen Berufs hege, und wie unange-
messen ich meine Kräfte dem Umfange und den Schwierigkeiten
desselben finde. Indem ich mich nun hierin, so wie in Absicht
meines ganzen künftigen Schicksals, allein der Entscheidung
Sr. Königlichen Majestät unterwerfe, werde ich mit ausnehmendem
Vergnügen die Gelegenheit, schon in der Zwischenzeit und wie
auch jene Angelegenheit entschieden werden möge, thätig zu seyn,
ergreifen, welche Ew. Excellenz mir darzubieten die Gewogenheit
haben, und die ich mit herzlichem Danke für einen neuen Beweis
Ihres gütigen Vertrauens erkenne.
Ich werde nemlich sogleich, von Anfang der künftigen Woche
an, mich bemühen, die zu den bei der Section des Cultus und
öffentlichen Unterrichts vorzunehmenden Einrichtungen nöthi-
gen Materialien über den Zustand der Geistlichen und Schul-
Angelegenheiten, die Bedürfnisse derselben, und die dabei vor-
') Eigenhändiges Konzept.
'^) Dieses Schreiben an den Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Grafen
von Goltz, Humboldts bisherigen Chef, wird in der Briefabteilung abgedruckt werden.
E. Verschiedenes, a. OQ*?
handenen Hülfsmittel einzusammeln. Ich werde dabei die Befehle
benutzen, welche Ew. Excellenz an die Consistoria und Universi-
täten des Landes haben ergehen lassen, und nehme mir nur die
Freiheit, Denselben gehorsamst anheimzustellen,
ob nicht ähnliche auch an die Akademieen der Wissen-
schaften und Künste allhier zu erlassen seyn dürften?
Meine erste Sorge wird natürlich die seyn, mich hier durch die Ver-
mittlung des Herrn Praesidenten von Scheve aus den Registraturen
des geistlichen Departements, des OberConsistorii und des Ober-
Schul-Collegii zu unterrichten, um unnütze Anfragen zu vermeiden,
und ich werde dort unstreitig das schon von dem Herrn Staats
Minister von Masso w Excellenz zweckmässig Vorgearbeitete antreffen.
Ueberaus wichtig und schätzbar werden gleichfalls diejenigen
Nachrichten über das Schulwesen in Ost- und Westpreussen seyn,
für deren Einziehung man bereits Sorge getragen hat, da schon
die mir von Ew. Excellenz gewogenst mitgetheilten Fragen den
Umfang und die wohl überlegte Anordnung der beabsichteten
Erkundigungen beweisen.
Indess ist in dieser Rücksicht, meines Erachtens, im jetzigen
Augenblick ein doppeltes Geschäft zu unterscheiden.
Es giebt bei der jetzt vorzunehmenden Organisation des
Schulwesens einige Punkte, welche die Wiederherstellung in Ver-
fall gerathener, oder die Errichtung neuer Institute an der Stelle
verloren gegangener betreifen, und da eine zu lang fortgesetzte
Ungewissheit über dieselben von nachtheiligen Folgen seyn könnte,
sobald als möglich entschieden werden müssen. Diejenigen Data
zu sammeln, welche zur vollständigen Uebersicht und sicheren
Entscheidung dieser Punkte dienen können, wird daher mein
erstes und angelegentlichstes Geschäft seyn.
Etwas Andres ist es nachher zur Uebung der erforderlichen
Aufsicht und Beurtheilung der nöthigen Verbesserungen Nach-
richten über die Beschaffenheit aller Schulanstalten überhaupt ein-
zuziehen. Dies Geschäft, das einer vollständigen Prüfung und
Revision dieser Anstalten gleichkommt, erfordert nicht nur in
der Ausführung nothwendig Zeit, sondern auch in der Anordnung
selbst, ausser der Bestimmung der Fragen, oder der Angabe der
Methode der zu erstattenden Berichte, wenn sich vielleicht nicht
alles bequem unter Fragen fassen Hesse, noch eine vorzügliche
Sorgfalt in der Auswahl solcher Personen, welche diese Prüfung
vorzunehmen im Stande sind.
204. 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Da dies nun in Ost- und Westpreussen bereits zweckmässig
eingeleitet ist, so werde ich mir angelegen seyn lassen, dasselbe
auch in den übrigen Provinzen vorzubereiten, indess nicht ver-
fehlen, meine Gedanken darüber erst Ew. Excellenz zur gefälligen
Beurtheilung und Entscheidung vorzulegen.
Was Ew. Excellenz übrigens die Gewogenheit haben, mir
von dem Antheil zu sagen, welchen Sie mir schon jetzt an den
Geschäften der Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts
gütigst erlauben wollen, ist mir ein neuer Beweis Ihrer gütigen
Gesinnungen gegen mich und des Vertrauens gewesen, welchem
zu entsprechen ich ununterbrochen eifrigst bemüht seyn werde.
Berlin, den 4. Februar, 1809.
H.
3. Humboldt an Dohna. ^)
Berlin, den 28. Februar, 1809.
Da Se. Majestät der König allergnädigst geruhet haben, mich
durch die von Allerhöchstdemselben empfangene CabinetsOrdre
vom 20. huj. in Stand zu setzen, den mir mit so vieler Huld an-
vertrauten Posten wirklich anzutreten, und auch Ew. Excellenz
in dem mir mitgetheilten Schreiben an den Herrn Geheimen
StaatsRath und OberPraesidenten Sack bereits, dass dies geschehen
ist, voraussetzen, so eile ich Ew. Excellenz die Versicherung
der Verehrung und der Ergebenheit zu wiederholen, welche mich
immer für Sie beseelt haben. Ich bitte Ew. Excellenz, überzeugt
zu seyn, dass ich mir aus innigem Herzen Glück wünsche, der
Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts in dem Ministerium
eines Mannes vorzustehen, welchen der wärmste und lebendigste
Eifer für alles Grosse, Gute und Schöne belebt, und bei dem
jedes auf Gründung und Befestigung aufgeklärter und edler Grund-
sätze ^) gerichtete Unternehmen der günstigsten Aufnahme und
der thätigsten Mitwirkung gewiss ist. Mein eignes Bestreben,
Ew. Excellenz gütigen Erwartungen in meinem Fache, nach allen
meinen Kräften, zu entsprechen, wird Ihnen, wie ich mir zu
schmeicheln wage, ein überzeugender Beweis der Wahrheit und
Aufrichtigkeit dieser Gesinnungen seyn.
Um sogleich die volle Wirksamkeit meines neuen Postens
anzufangen , habe ich den beiden hiesigen Akademien und dem
Herrn Praesidenten von Scheve und durch ihn den unter seinem
^) Eigenhändiges Konzept.
'•') „Grundsätze" verbessert aus „Gesinnungen".
E. Verschiedenes, a. b.
295
Vorsitz arbeitenden Käthen angezeigt, dass ich jetzt in die Thätig-
keit meines Amtes eingetreten sey, und ich werde nicht ver-
säumen, soviel es schon jetzt möglich seyn wird, alles dasjenige
wahrzunehmen, was zu meinem Geschäftskreis gehört. Nur muss
ich Ew. Excellenz gehorsamst bitten, mir gütigst zu erlauben, da
ich mich hier noch bis jetzt ganz allein befinde, mich öfter um
Zustimmung und Befehl an Ew. Excellenz zu wenden, als ich
sonst bei den wichtigern und ausgebreiteten Geschäften Ihres
Ministeriums zu thun wagen würde.
Im gegenwärtigen Augenblick bleibt mir weiter nichts übrig,
als mich Ew. Excellenz nachsichtsvollem Wohlwollen und der
Fortdauer der Gesinnungen zu empfehlen, die in jeder Rücksicht
einen so grossen und unschätzbaren Werth für mich haben.
Berlin, den 28. Februar, 1809.
Humboldt.
b. Humboldt an Nicolovius über die geistlichen und
Schuldeputationen. ^)
Berlin, den 4ten März 1809.
Extract.
Der Herr StaatsMinister Graf von Dohna Excellenz hat mir
unterm 18. praet. Abschriften einiger Verfügungen zugesendet,
welche die Zuziehung würdiger Geistlichen zur MitDirection der
zw. bildenden Geistlichen und SchulDeputationen betreffen.
Nichts könnte mehr mit meinen Gesinnungen und innersten
Ueberzeugungen übereinstimmen, als die Absicht, welche durch
diese Anordnungen erreicht werden soll, und der ganze Inhalt
derselben scheint mir in so hohem Grade zweckmässig, dass ich
selbst schon gleich nach Empfang der Instruction für die Regie-
rungen dem Herrn Grafen Dohna meine Besorgniss äusserte, dass
die Verbindung der Kirchen- und Schul-Deputationen mit den
ehemaligen Kammern leicht den Nachtheil haben könnte, dass die
Reinheit der Grundsätze, welche die höchste, und am meisten
von allen kleinlichen politischen und oeconomischen oder sonst
beschränkten Rücksichten entfernte ^Angelegenheit des Staats noth-
wendig leiten müssen, durch den zu grossen Einfluss von Per-
sonen, die mit ganz verschiedenem Interesse umzugehen gewohnt
'1 Von Schreiberhand.
200 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
sind, gedrückt werden könne. Wissenschaftlich gebildeten, prac-
tisch erfahrenen, und durch ihr Amt selbst bei ihren Mitbürgern
angesehenen Geistlichen bedeutende Mitwirkung und entscheidenden
Einfluss bei allen auf Kirchen und Schulen Bezug habenden Ver-
fügungen der Regierung zu verschaffen, ist nun gewiss das beste
Mittel jenem nur zu sehr zu befürchtenden Nachtheil wirksam zu-
vorzukommen.
Nur erscheint mir die getroffene Verfügung, so wie dieselbe
in dem Schreiben an die OberPräsidenten und dem Rescript an
die Consistorien ausgedrückt ist, noch einige Erläuterungen zu er-
fordern, welche ihr erst die nothwendige, meines Erachtens ihr
jetzt noch mangelnde, Klarheit und Bestimmtheit geben.
In der CabinetsOrdre vom 1 3 i£5 praef. wird nemlich gesagt^
dass es rathsam seyn werde
„dem Praesidium einer jeden Kammer einen angesehenen
Geistlichen als Mitglied zuzuordnen"
und in dem Schreiben an die OberPräsidenten heisst es, dass der
Geistliche MitDirector nicht als eigentlicher Geschäftsmann ge-
braucht werden solle. Es wird also dort von ihm als einem Mit-
Director, der einen weltlichen Vorsitzenden Rath, den Präsidenten
oder Director, welcher die specielle MitDirection der Geistlichea
und SchulDeputation führt, zur Seite hat, gesprochen.
Hierin scheint mir nun eine Dunkelheit zu liegen, welche
nothwendig aufgeklärt werden muss, wenn die OberPräsidenten
im Stande seyn sollen die Verfügung zu einer den wohlthätigen
Absichten des Ministeriums gemässen Ausführung zu bringen.
Denn wenn man die neuen, die Organisation der Regierungen
betreffenden Verordnungen mit Aufmerksamkeit durchliest, so
scheint es klar, dass jede RegierungsDeputation ihren eigenen
Director haben und also das Praesidium aus 5 Personen, nemlich
dem Präsidenten und 4 Directoren bestehen soll.
Zwar heisst es in der Verordnung wegen der ProvincialBe*
hörden^) § 17.
ausser demx Praesidium, welches aus dem Präsidenten und
zweien bis dreien RegierungsDirectoren besteht u. s. f.
Allein diese Stelle hat mich auch gleich befremdet, man müsste
denn annehmen, dass bei schwach besetzten Regierungen Ein und
derselbe Director mehreren Deputationen vorstehen sollte.
*) Preussische Gesetzsammlung 1806— 1810 S. 46g.
E. Verschiedenes, b.
297
Nach der neuen Verfügung muss nun jede Kirchen- und
SchulDeputation einen Geistlichen zum Director haben und dieser
muss alle DirectorialGeschäfte besorgen, oder es muss, wie das
Schreiben an die OberPräsidenten besagt, zwei Directoren, einen
geistlichen und einen weltlichen geben, so dass das Praesidium
eine Person mehr dadurch erhält.
Wie aber der weltliche mit Vorsitzende Rath jemals der Prä-
sident selbst seyn könne, ist mir nicht klar, denn nach dem Inhalte
der Instruction für die Regierungen^) soll, soviel ich absehe, der
Präsident nie einer einzelnen Deputation, als ihr Director vorstehen.
Dass nun eine solche gemeinschaftliche Direction, wenn dieselbe
wirklich überall eingeführt werden soll, ihre Schwierigkeiten und
Nachtheile hat und die Maschine verwickelter macht, ist wohl
keinem Zweifel unterworfen.
Könnte man (und am Ende ist doch die Zahl der Regierungen
nicht so gross) jeder geistlichen Deputation einen Mann zum Director
geben, der keinen der Nachtheile befürchten Hesse, zu deren Ver-
meidung man die geistlichen MitDirectoren bestimmt, so wäre dies
unstreitig besser.
Wo ein Geistlicher Neigung und Müsse genug hätte (und
wenigstens hier und da trifft dies gewiss ein) sich der ganzen
Geschäftsführung der Deputation als Director zu unterziehen,
könnte auch er genommen werden und so wäre allerdings alles
einfacher.
Jetzt dürfte es aber wohl nothwendig seyn, die Verhältnisse
der beiden Directoren zu einander, zum Praesidio und den Räthen
noch genau und bestimmt festzusetzen. Der Gedanke, Räthen
der ProvincialBehörden zugleich wie bei Herrn Borowski ^) ge-
schehen ist, Titel zu geben, die nur für die obern Behörden
passen, um ihnen dadurch die Pflicht aufzuerlegen, der Section des
Cultus auf Erfordern in wichtigen Angelegenheiten ihr Gutachten
abzugeben, ist, da darunter natürlich über die einzelne Provinz her-
ausgehende allgemeine Angelegenheiten verstanden werden, sehr
glücklich, da er gleichsam der Section auswärtige Mitglieder ver-
schafft. Ich war gerade, als ich dies empfing, im Begriff etwas
Aehnliches vorzuschlagen.
Ew. Hochwohlgeboren ersuche ich gegenwärtig, mir gefälligst
anzuzeigen, ob die oft erwähnte Verfügung in dem Sinne genom-
') Vgl. ebenda S. 481, besonders § gi.
*) Vgl. oben S. 211.
2Q^ 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und i8io.
men worden ist, welchen ich ihr beilege, vorher aber die von mir
geäusserten Bedenken Sr. Excellenz dem Herrn Minister vorzu-
tragen und mir das Weitere darüber mitzutheilen.
Auch wünsche ich Mittheilung des ganzen Berichts vom 24.
Januar ^., von welchem der Verfügung nur ein Extract beigefügt
ist, in sofern nemlich der ganze Bericht von der Section herrührt,
wie ich voraussetzen muss.
p. ich verharre p.
Ew. p.
Berlin, 4. März 09.
ergebenster
V. Humboldt.
c. Berufung des Predigers Natorp.^)
Berlin, den 14. März, 1809.
Eins der dringendsten Bedürfnisse bei der Organisation der
meiner Leitung anvertrauten Behörden ist unstreitig, Personen zu
besitzen, welchen mit Sicherheit die speciellere Aufsicht auf die
Land- und niederen Bürgerschulen anvertraut werden kann, und
von welchen sich heilsame Verbesserungen in diesem wichtigen
Theile der Nationalerziehung erwarten lassen, und ich freue mich,
Ew. Excellenz hierzu einen Mann vorschlagen zu können, der sich
vorzugsweise diesem Fache gewidmet und sich einen entschiedenen
Ruf darin erworben hat, den Prediger Natorp in Essen. Ew. Excellenz
sind vermuthlich Selbst schon näher mit den Verdiensten und den
Schriften dieses Mannes bekannt, und ich darf mir daher mit der
Hoffnung schmeicheln, dass auch Sie schon ein günstiges Vor-
urtheil für ihn besitzen.
Soviel sich aus seinen Schriften urtheilen lässt (denn persönlich
ist er mir nicht bekannt) hat er in der That mehr, als sonst andre,
den wahren Gesichtspunkt gefasst, der bei der Bildung der untern
Volksklassen nicht verlassen werden darf. Denn er geht überall
auf die Begründung eines festen, bestimmten, durch Moralität und
Religion zugleich gestärkten und erwärmten Charakters aus;-
hängt nirgend am Buchstaben; und ist immer bemüht, den gesunden
und schlichten Sinn, und die reine und natürliche Empfindung zu
wecken, aus welcher jener Charakter gleichsam von selbst ent-
') Eigenhändiges Konzept.
E. Verschiedenes, b. c.
299
springt. Man darf daher von ihm licinen der verderblichen Mis-
bräuche, dem Volke bloss auf das Bedürfniss des Lebens berechnete
mechanische Fertigkeiten beibringen, oder dasselbe mit Fleiss inner-
halb der Schranken gewisser Begriffe halten, oder endlich den
Kreis seiner Kenntnisse auf eine zweckwidrige Weise erweitern zu
wollen, befürchten.
Allein was ihn noch ausserdem vorzüglich schätzbar macht,
ist, dass er mit der Theorie auch Erfahrung verbindet, und wie
seine Schriften häufig beweisen, oft und reiflich über die Möglich-
keit nachgedacht hat, die Schwierigkeiten, welche der Verbesserung
der unteren Schulen im Wege stehen, hinwegzuräumen. Die
Mittel, sowohl Einrichtungen dieser Art ohne zu grossen Aufwand
machen, als das Volk selbst bewegen zu können, zu dem nun
einmal unvermeidlichen nach Vermögen mit beizutragen, werden
ihm daher w^eniger fremd seyn.
Und dieser Punkt verdient auf alle Weise beherzigt zu werden.
Ungeachtet der Grossmuth, mit welcher Se. Majestät der König sehr
bedeutende Summen zur Verbesserung der Land- und niederen
Bürgerschulen hergeschossen hat, war es doch bisher immer un-
möglich, eine wesentliche und bedeutende Verbesserung zu be-
wirken, und es ist allgemein anerkannt, dass, auch in Rücksicht
des Aufwandes, eine solche Verbesserung schwerer zu bewirken
ist, als die Einrichtung der glänzendsten gelehrten Anstalten. Man
muss also schlechterdings darauf denken, einen andern Weg
einzuschlagen, und nicht vom Staate allein zu fordern, was der
Staat allein nicht zu leisten vermag, sondern, da die Erziehung
überhaupt, vorzüglich aber dieser Theil derselben, im eigentlichsten
Verstände Sache der Nation ist, auch die Nation unmittelbar, nur
auf eine zweckmässige, und in die bisherige Staatsverwaltung ein-
greifende Weise, dazu mitwirken und beitragen zu lassen.^) An
dem Willen dazu wird es ihr nicht mangeln, sobald nur das rechte
Interesse in ihr geweckt wird, allein dazu w^erden in den leitenden
Behörden Männer erfordert, die mit Erfolge auf sie einwirken
können.
Dass aber für diesen Theil der Erziehung besonders alles ge-
schehen, ja selbst das unmöglich scheinende versucht werden muss,
davon sind Ew. Excellenz gewiss auch mit mir überzeugt, sowie
auch davon, dass es damit bei w^eitem anders werden muss, als
ij Vgl. oben S. 288.
300
3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
es bisher gewesen ist. Die Volksbildung ist die Basis aller Bildung
überhaupt. Sie macht nicht nur (so segensvoll auch dies allein
schon ist) glücklichere Menschen und gehorsamere Unterthanen;
sondern aus ihr entspringt auch allein die ächte Vaterlandsliebe,
und sie wirkt selbst in der höheren Bildung mit fort, welche so-
gleich anfängt, in Spitzfindigkeit und Tändelei auszuarten, und bis
auf den Gehalt ihrer eignen Sprache verliert, wenn das Volk einen
festen, geraden, durch natürliches, aber wahres Gefühl gehobenen
Charakter zu besitzen aufhört. Wirklich zehrt dieselbe in den
meisten Ländern nur noch von dem Fonds, der den Nationen in
ehemaligen Zeiten eigen war.
In den Preussischen Staaten kann auch hierin der Grund zu einer
heilsamen Verbesserung gelegt werden. Die Aufmerksamkeit des
Publikums ist seit einigen Jahren gar sehr auf diesen Punkt ge-
richtet, und man hat Lehrmethoden erfunden, die Prüfung und
Verbesserung erheischen, aber die es unverzeihlich wäre, unversucht
und unbenutzt liegen zu lassen. Der erste Schritt hierzu thätig
zu seyn ist, Leute zu versammeln, die diesem Geschäfte gewachsen
sind, und als einen Mann, zu dem man das Vertrauen hegen
kann, dass er nicht nur dies selbst seyn, sondern auch Andre
fähige 'bilden und heranziehen werde, schlage ich den Prediger
Natorp vor.
Ich werde jetzt nur ein Paar Worte über die Stelle hinzu-
zusetzen brauchen, die man ihm, meines Erachtens, anweisen
müsste.
Da es dem beabsichteten Zweck am meisten entsprechen
würde, ihm einen allgemeinen Einfluss zu verschaffen, so würde
er natürlicherweise seinen Platz in der Section des öffentlichen
Unterrichts finden und zu seinem besonders abgegränzten Departe-
ment die Land- und niedern Bürgerschulen erhalten.
Allein folgende Gründe lassen mich wünschen, ihn auch zu-
gleich bei der hiesigen KurMärkischen geistlichen Regierungs-
Deputation angestellt zu sehen.
1. Die wichtigsten und unentbehrlichsten Werkzeuge zur Ver-
besserung der Land- und Bürgerschulen sind die Prediger, die
sogar noch bei weitem mehr, als bis jetzt der Fall ist, thätige Mit-
arbeiter an denselben werden müssen. Nun heisst es zwar durch-
aus den neuen Organisationsplan verkennen, wenn man die
Unterabtheilung für den öffentlichen Unterricht als eigentlich ge-
trennt von der für den Cultus ansehen wollte; allein zu läugnen
E. Verschiedenes, c.
301
ist dennoch nicht, dass in der RegierungsDeputation Schul- und
Kirchenwesen noch bei weitem enger verbunden sind. Die Arbeit
in derselben muss daher noch eine andre und demjenigen, der
thätig auf die Schulverbesserung einwirken soll, unentbehrliche
Ansicht gewähren.
2. Die RegierungsDeputation wirkt zwar nur auf Eine Pro-
vinz, aber praktisch und unmittelbar, und wer an allgemeinen
Planen zu arbeiten bestimmt ist, verfährt zweckmässiger, wenn er
auch selbst mit den Schwierigkeiten der Ausführung zu kämpfen
hat, und den" Erfolg zu prüfen im Stande ist.
3. Da die Prüfung der Schullehrer und vielleicht selbst der
Prediger, und wenigstens die Ernennung der letzteren künftig bei
der Deputation verbleibt, so ist es nothwendig, sich da, wo Re-
gierung und Section an demselben Ort vereinigt sind, nicht des
Vortheils zu berauben, demjenigen, welcher das Fach der Land-
schulen bearbeitet, auch Einfluss auf die Besetzung der Prediger-
stellen zu verschaffen.
4. Bisher bestanden das Kur-Märkische, das OberConsistorium
und das OberSchulCollegium fast ganz aus denselben Mitgliedern,^
und dies brachte unstreitig Einseitigkeit hervor. Allein jetzt muss auf
der andern Seite auch alles Mögliche geschehen, um die Verbindung
der an ihre Stelle tretenden Behörden zu erleichtern, und da
können Mitglieder, welche regelmässig in beiden Sitz und Stimme
haben, ausserdem dass sie die Gleichförmigkeit der Grundsätze
befördern, und die Ansichten des einen Collegii durch die des
andern berichtigen helfen, oft in wenigen Worten Aufklärungen
geben, die sonst nicht ohne grössere Weitläuftigkeit zu erhalten
seyn würden.
Sollten Ew. Excellenz in diesen, sich auf die Organisation im
Ganzen beziehenden Ideen mit mir übereinstimmen, so ersuche
ich Sie gehorsamst, Sr. Majestät dem Könige vorzuschlagen:
1. den Prediger Natorp zum Mitgliede der geistlichen Depu-
tation in der KurMärkischen Regierung zu ernennen, und ihm
vielleicht auch in derselben denjenigen Antheil an der Direction
selbst zu verleihen, welchen Ew. Excellenz, nach vielleicht mit
dem Praesidio zu nehmender Rücksprache, für gut finden werden,
2. denselben aber zugleich zum Assessor der Section des öffent-
lichen Unterrichts zu bestimmen.
Die Beifügung von Assessoren zu den StaatsRäthen würde der
Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts überhaupt noch
Q02 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
den Vortheil gewähren, was bei einer Oberbehörde so nothwendig
ist, aus einer grösseren Anzahl stimmführender Mitglieder zu be-
stehen, ohne dass dadurch die Zahl der höheren Staatsämter, und
der Besoldungsetat zu beträchtlich vermehrt würde.
Berlin, den 14. März, 1809.
Humboldt.
An des Herrn StaatsMinister des Innern, Grafen zu Dohna, Excellenz.
d. Vokation der Prediger. ^)
(An Dohna.)
' Berhn, den 25. März 1809.
Ew. Excellenz werden aus der abschriftlich inliegenden Eingabe
des Herrn OberConsistorialPräsidentenvonSchevezu ersehen die Güte
haben, dass derselbe mich um die Ausfertigung der Vocation für
den Feldprediger Kegler, welcher als Adjunctus des Predigers
Weisser zu Königshorst aim spe succedendi angestellt werden
soll, ersucht. Zugleich fragt er an, wie es künftig in ähnlichen Fällen
gehalten werden soll?
Da hier ein wichtiger und, wie es mir scheint, durch die
neueren Organisationsverordnungen noch nicht gehörig bestimmter
Punkt in Frage kommt, so halte ich es für meine Pflicht, mich
deshalb unmittelbar an Ew. Excellenz zu wenden.
Die Geschäftslnstruction für die Regierungen vom 26t£5 Decem-
ber praet. 2) bestimmt, daß die Besetzung der dem Königlichen
PatronatRechte unterworfenen Geistlichen und SchulStellen der geist-
lichen und SchulDeputation der Regierungen zustehen soll. Ich
kann indess nicht glauben, dass dadurch die ehemals schlechterdings
immer nothwendige Bestätigung dieser Ernennungen durch die
OberBehörde, die damals das lutherisch geistliche Departement
war, und jetzt die Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts
ist, aufgehoben seyn sollte.
Es kann der Section auf keine Weise gleichgültig seyn, aut
die Besetzung der Pfarrstellen auch nicht den mindesten Einfluss
zu haben, sondern höchstens nachher Anzeige zu erhalten, dass
dieses oder jenes Subject ernannt sey. Nach § 39 der erwähnten
Geschäftslnstruction soll jede Stellen-Besetzung allemal im Plenum
^) Von Schreiberhand.
^) Vgl. Preussische Gesetzsammlung 1806— 1810 S. 4-j8 (§ 62).
E. Verschiedenes, c. d.
303
der Regierung zur Sprache gebracht werden, um zu erfahren, ob
den anderen Mitgliedern Umstände, welche die Anstellung des
gewählten Subjects wiederriethen, bekannt sind? Wieviel mehr
nun wäre es zwecl^mässig, eben dies bei der Section zu thun, da
diese ein noch viel näheres Interesse bei der Besetzung der Pfarr-
stellen, als die übrigen Deputationen der Regierung, hat, und da
vorauszusetzen ist, dass sie nie versäumen wird, sich schon von
den Universitäten her und auch sonst Kenntniss von den zu
Predigerstellen aspirierenden Candidaten zu verschaffen?
Auf der anderen Seite ist es nothwendig, den Regierungen,
da sie für die Besetzung der Predigerstellen verantwortlich seyn
sollen, alle erforderliche Freiheit in dieser Rücksicht zu lassen,
und es schiene mir daher folgender Mittelweg rathsam:
Die Regierungen wählten und ernennten die, dem Königlichen
Patronat unterworfenen Prediger, zeigten aber die geschehene
Wahl allemal zur Bestätigung der Section des Cultus und öffentlichen
Unterrichts an; in dieser würde die Sache und zwar im Plenum
beider Unter-Abtheilungen, da jeden Prediger, als natürlichen
Aufseher der Schule seiner Gemeine, das Schulfach mit angeht,
vorgetragen, und die geschehene Wahl entweder bestätigt oder
verworfen. Dies letztere müsste aber nur dann geschehen können,
wenn sich erhebliche Gründe gegen das gewählte Subject zeigten,
nicht wenn bloss ein anderes vorzüglicher schiene, damit die Be-
stätigung nicht in wahre Besetzung ausartete. Die Section ge-
wönne durch diese Einrichtung ausserdem, dass sie untaugliche
Subjecte zurückweisen könnte, noch den Vortheil, auch da, wo
sie die Bestätigung nicht wirklich verweigerte, doch aber die Wahl
nicht recht zweckmässig fände, die RegierungsDeputation darüber
zurechtweisen und ihr an dem einzelnen Beispiel, wie sie künftig
besser zu verfahren habe, zeigen zu können.
Wirklich scheint mir nur auf diese Weise eine gehörige Con-
trolle der Section über die Regierungen in diesem wichtigen Punkte
möglich.
Die V^ocation müsste alsdann von der Section ausgehen, aber
von dem Praesidio der Regierung oder dem Director der geist-
lichen Deputation (wie dies nun beliebt werden würde) mit unter-
schrieben seyn. Durch diese Unterschrift, die bei den Vocationen
der allein von der Section zu ernennenden Superintendenten weg-
fiele, würde die Regierung und ihre Deputation für die Ernennung
verantwortlich. In der Section selbst geschähe die Unterschrift
QQA 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
der Vocationen von dem Chef der beiden Unterabtheilungen der-
selben, sowohl wegen des Interesses, das die Section des öffentlichen
Unterrichts an der Besetzung jeder Predigerstelle nimmt, als auch
deswegen, weil diese Angelegenheit in der That von allgemeiner
Wichtigkeit ist.
Die für die Ausfertigung der Vocationen zu zahlenden Ge-
bühren flössen in die Kanzlei der Section, welche, so viel ich ab-
sehe, an die Stelle der Geheimen StaatsKanzlei des Geistlichen.
Departements treten muss.
Der einzelne Fall wegen des Feldpredigers Kegler würde nun
sogleich nach der hierüber zu nehmenden allgemeinen Entschei-
dung, welche ich den höheren Einsichten Ew. Excellenz anheimstelle,
zu bestimmen seyn.
Berlin den 25^ März i8oq.
Humboldt.
An
des Königlichen StaatsMinisters Herrn Grafen zu Dohna
Excellenz. ^)
e. Humboldt an Nicolovius. '^)
Königsberg, den 3. December 1809.
Meine jetzt so nah bevorstehende Abreise veranlasst mich
Ew. Hoch wohlgeboren über die Führung der Geschäfte der Section
während meiner Abwesenheit folgendes zu eröffnen.
Ich ersuche Ew. p. von Morgen an, wo es mir unmöglich
seyn wird, noch selbst der Session beizuwohnen, das Praesidium
sowohl hier als in Berlin zu führen, und es theils hiermit, theils
mit der Unterzeichnung der Reinschriften, die sonst von mir voll-
zogen werden, eben so zu halten, als es während meiner Reise
nach Litthauen geschehen ist.
Bei Ew. p. Ankunft in Berlin scheint es mir zweckmässig, dass
Ew. p. die Sessionen der Section noch so. wie bisher ungetheilt
und bloss mit Zuziehung des Herrn StaatsRath Uhden abhalten,
und nur da wo einzelne Fälle es Ihnen nöthig zu machen scheinen,
') Aus der AnWort vom Ö. April i8og: „Den Vorschlag, bei Besetzimg der
Predigerstellen die Regierungen zu beschränken, finde ich aus denselben Gründen
bedenklich, aus welchen ich mich nicht für die vorgeschlagenen Modifikationen
bei Besetzung der Rektorstellen an untern und der untern Lehrerstellen an höheren
Schulen habe erklären können" ; im übrigen empfehle sich Vorsicht bei der Wahl
der Regierungsmitglieder und ihre Beaufsichtigung dw-ch die Oberpräsidenten.
^) Von Schreiberhand mit eigenhändigen Korrekturen.
E. Verschiedenes, d. e.
305
die deutschen Geistlichen und die französischen Mitglieder ein-
laden.
Da. es indess möglich wäre, dass dennoch Umstände einträten,
welche dies nicht rathsam machten ^), so wird es von Ew. p. Ermessen
abhängen, dies auch früher abzuändern, alle Mitglieder zuzuziehen
und beide Abtheilungen der Section einzeln arbeiten zu lassen.
Ew. p. werden auch alsdann die Gefälligkeit haben, den Vor-
sitz in der einen und der andern zu übernehmen, und die fernere
Einrichtung muss künftig, wie Ew. p. schon mündlich mit mir
übereinstimmten, aut folgenden Grundsätzen beruhen.
Die Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts ist eine und
eben dieselbe, und ihre beiden Abtheilungen müssen auf das engste
zusammenwirken.
Ihre beiden Abtheilungen haben jedoch besondere Sessionen
in welchen der jeder besonders bestimmte Chef den Vorsitz
führt.
Eine Session wöchentlich für jede wird in der Regel zur Ab-
machung der Geschäfte hinreichen. Von beiden Chefs wird er-
wartet, dass sie soviel als möglich den beiderseitigen Sessionen
beiwohnen, welche daher nie zu gleicher Zeit gehalten w^erden
können. Allein die Anwesenheit des Sectionschefs in den Vor-
trägen für den Cultus bringt keine xVenderung im Praesidium
hervor, und der besondere Chef des Cultus übernimmt für den
Unterricht keine ^^ortragsSachen, es sey denn, dass er aus eigner
Wahl es wünsche. Die Reinschriften für den Cultus unterzeichnet
der besondere Chef desselben allein, die Concepte aber zeichnet
der SectionsChef zugleich mit, um, da er die Sachen erbrechen
soll, und doch nicht unausgesetzt wird den Vorträgen beiwohnen
können, den Faden der Geschäfte nicht zu verlieren. Er erlaubt
sich aber in den Concepten keine Aenderungen, ohne sich dar-
über mit dem besondern Chef für den Cultus vorher zu vereinigen.
Es freut mich ungemein im voraus überzeugt seyn zu können,
dass Sie mit mir darin übereinstimmen, dass auf diese Weise die
uns gemeinschaftlich übertragenen Geschäfte werden auf eine dem
wichtigen Zweck, der uns beiden so sehr am Herzen liegt, ent-
sprechende Weise geführt werden können.
^) Nach „machten" gestrichen: „oder dass ein längerer Aufschub ihrer regel-
mässigen Geschäftsthätigkeit von den Geistlichen übel empfunden würde".
\V. V. Humboldt, Werke. XUI. 20
«Q^ 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Herrn Staatsrath Schmedding und die beiden französischen
Mitglieder ^) bitte ich Ew. p. auf jeden Fall so anzusehen, als ge-
hörten sie der Section des Cultus und öffentlichen Unterrichts ge-
meinschaftlich an, wogegen diese Herren, wie ich im voraus über-
zeugt bin, keine Schwierigkeit machen werden.
Den Geheimen Secretair Felgentreff habe ich angewiesen,
sich sogleich nach meiner Abreise bei Ew. Hochwohlgeboren zu
melden und von Ihnen die weitere Verfügung über seine Beschäf-
tigung und eigenen Abgang zu empfangen.
f. Berufung von Klaproth.^)
Berlin, den 9. März 1810.
Der OberMedicinalRath Klaproth ^) ist durch die unglücklichen
Ereignisse der letzt verflossenen Jahre in eine Lage versetzt worden,
welche mich um so mehr veranlasst, Ew. Königlichen Majestät
allerunterthänigst Vorschläge zur Verbesserung derselben zu machen,
als dieser Mann den hiesigen gelehrten Instituten bereits wichtige
Dienste geleistet hat, und auch die hier zu errichtende Universität
sich mit Recht gleich grosse von ihm versprechen kann.
Das Gehalt, welches der OberMedicinalRath Klaproth vor dem
Kriege genoss, floss zum grossesten Theile aus der ArtillerieAcademie-
Casse. Denn ausser den 600 Rth. aus dieser Gasse bezog er nur
noch 200 von der Academie der Wissenschaften, 160 als Mitglied
der HofapothekenGommission, und 165 Rth. als Mitglied des
OhcivCollegü media et sanitatis. Das Gehalt aus der Artillerie-
AcademieCasse wurde seit dem Anfange des Krieges nicht mehr
gezahlt; für das letzte Vierteljahr ist zwar die Zahlung einstweilen
geleistet worden, und dasselbe wird auch nach der Äusserung des
GeneralMajor von Scharnhorst tür das nächste Vierteljahr der Fall
seyn; allein da die ArtillerieAcademie seit dem Jahre 1806 aufgehört
hat, so finden diese interimistischen Zahlungen nur bis zur Einrichtung
der allgemeinen MilitärAcademie statt. Das Gehalt von der Hofx'Xpo-
thekenCommission kann sehr leicht, da das Schicksal der Hof-
apotheke noch nicht entschieden ist, gleichfalls authören; das bei
*) Ancillon und von Lancizolle; vgl. Gebhardt i, 282.
') Konzept von Schreiberhand mit eigenhändigen Verbesserungen.
*) Martin Heinrich Klaproth (ij4_3—i8iyj, Chemiker, seit ij82 Mitglied des
CoUcgium medicum et sanitatis, seit ij8j Mitglied der Akademie der Künste, ij88
der der Wissenschaßen ; vgl. Lenz, Geschichte der Universität Berlin i, 207.
E. Verschiedenes, c. f.
:^o7
dem OhtTCollegio rnedico ist in ein Wartegeld von i6o Rth.
verwandelt worden, und wenn gleich der OberMedicinalRath Klap-
roth gegenwärtig 300 Rth. als Mitglied der wissenschaftlichen Depu-
tation für das Medicinalwesen geniesst, so ist auch diese Anstellung
ihrer Natur nach nur temporell. Dauernd kann derselbe also jetzt
nur auf das geringe Gehalt bei der Academie der Wissenschaften
rechnen.
Der OberMedicinalRath Klaproth gehört unleugbar z\x den ersten
jetzt lebenden Chemikern. Er hat seine Wissenschaft durch wahre
Entdeckungen bereichert und sich dadurch auch im Auslande einen
Namen erworben, in dem sich nur sehr wenige Gelehrte Ew. König
liehen Majestät Staaten mit ihm vergleichen können. Er hat
ausserdem durch seine Lehrvorträge und vorzüglich durch die
damit verbundenen genauen Experimente sehr viele trefliche
Schüler gebildet, und auch bei Ew. p. p. ArtillerieCorps allgemein
anerkannte Dienste geleistet.
Ich würde geglaubt haben, eine meiner ersten Pflichten zu
versäumen, wenn ich nicht gesucht hätte, einen solchen Mann
auf eine Weise hier zu fixiren, die ihm eine sorgenfreie Be-
schäftigung mit seiner Wissenschaft verstattete. Wirklich hatte
der p. Klaproth im Anfang dieses Jahres einen ungemein vortheil-
haften Ruf nach Russland erhalten ; er hat aber denselben sogleich
und ohne Ew. pp. mit Bitten beschwerlich zu werden, auf meine
ihm nur im allgemeinen gemachte Hofnung, dass auch hier werde
für ihn gesorgt werden, abgelehnt.
So wie dies seinen uneigennützigen Patriotismus und seine
Anhänglichkeit an Ew. p. p. beweist, so freue ich mich, ihm auch
überhaupt in Absicht seiner patriotischen Gesinnung das vortheil-
hafteste Zeugniss geben zu können. So hat er, um nur dies eine
anzuführen, im letzten Kriege von der ihm von Frankreich aus
wegen seiner wissenschaftlichen Verdienste unaufgefordert ertheilten
Einquartirungsfreiheit keinen Gebrauch gemacht.
Die hier zu errichtende Universität könnte keinen berühmteren
Lehrer der Chemie erhalten, und ich wage daher bei Ew. p. p.
allerunterthänigst dahin anzutragen
den OberMedicinalRath Klaproth mit einem vom
i^ Januar c. ab zu zahlenden Gehalte von 1200 Rth. zum
Professor der Chemie bei der hiesigen Universität aller-
gnädigst zu ernennen, ihm aber dabei aufzugeben, seine
jetzigen Vorlesungen beim ArtillerieCorps dafür fortzusetzen,
508 3- Amtliche Arbeiten au? den Jahren 1809 und 18 10.
auch allerhöchst Sich vorzubehalten bei der künftigen Bildung
der MilitärAcademie ihn vielleicht gleichfalls in Thätigkeit
zu setzen.
Dies letztere glaube ich hinzufügen zu müssen, weil der Gene-
ralMajor von Scharnhorst sich zweifelhaft gegen mich geäussert
hat, ob es nicht nothwendig seyn dürfte, den OberMedicinalRath
Klaproth bei der Militär-Academie anzustellen. Wann dieser Punkt
entschieden seyn wird, dürfte auch erst bestimmt werden können,
ob die ganzen 1200 Rth. oder welcher Theil davon wird auf die
Fonds der hiesigen Universität angewiesen werden müssen.
Schliesslich kann ich mich nicht der ehrfurchtsvollen Aeusserung
des dringenden Wunsches enthalten, dass, wenn Ew. p. p. viel-
leicht wieder einmal Gelehrten ehrenvolle Auszeichnungen zu er-
theilen allergnädigst geruhen sollten, Allerhöchstdieselben die Gnade
haben möchten, dabei auf den OberMedicinalRath Klaproth Rück-
sicht zu nehmen, welcher in der That vorzügliche Ansprüche
darauf hat.
Beriin, den 9^ März 1810.
Humboldt.
An des Königs Majestät.
g. Votum über die wissenschaftlichen Deputationen
und wissenschaftlich-technischen Kommissionen bei
den Regierungen.)
Bemerkungen der GesetzgebungsSection und eigne noch reifere
Ueberlegung haben bei der Section des öffentlichen Unterrichts
Zweifel ge cn die Zweckmässigkeit einiger Punkte in der ent-
worfenen Instruction für die wissenschaftlichen Deputationen (nach
welcher Herr StaatsRath Köhler auch die anliegende ausgearbeitet
hat) erregt.^) Vorzüglich hat es geschienen:
dass man die wissenschaftlichen Deputationen gar nicht
mit dem Publicum und andern Behörden in Berührung
bringen ;
dass man ihnen das Nachdenken über Verbesserungsvor-
schläge nicht zu einer gleichsam fortdauernden Pflicht
') Eigenhändiger Entwurf.
'•') Die Instruktion für die wissenschaftliche Deputation der Sektion des öffent-
lichen Unterrichts findet sich Band 10, iq6. Das Konzept von Koehler umfasst
40 Paragraphen und trägt das Datum des ry. Februar 1810.
E. Verschiedenes, f. g. -iqq
machen müsse, indem hieraus leicht für die Section
selbst mehr Unannehmlichkeit, als Vortheil für die Sache
entstehen könne.
Aus diesem Grunde hat die Section des öffentlichen Unter-
richts statt dieser Instruction bloss die anliegende Verfügung an
die wissenschaftliche Deputation erlassen, und die eigentliche
Instruction noch hinausgesetzt.^)
Ich wünschte nun, dass dieselbe auch mtdatis niutandis für
die wissenschaftliche Deputation bei der MedicinalSection geschehen
möchte. Es würde aber die Verfügung bloss an die Berliner De-
putation zu richten seyn, und dieser würde man nicht zu sagen
brauchen, wie die ProvincialDeputationen und Commissionen ein-
gerichtet wären. Es würde also aus dieser Verfügung Alles weg-
bleiben, was sich in der Anlage auf die Breslauer und Königs-
bergische Deputation bezieht. Auch würde der Punkt des Gehalts
nicht zu berühren seyn.
Um nun gleich den Standpunkt der Berliner Deputation recht
zu fixiren, so muss dieselbe, meines Erachtens, ganz und gar füi
sich, bloss unter der Section, und ausser aller Verbindung mit
der KurMärkischen Regierung stehen.
Sollte sie zugleich Commission für die Regierung se3'n, so
wird sie nicht nur zwei Behörden untergeordnet (da die Regierung
ihre Commissionen so nothwendig braucht, dass sie ihr unbedingt
zu Gebote stehen muss) sondern auch mit detail überladen, was
sehr zu vermeiden ist, weil sie die wichtigsten Prüfungen hat,
und auch oft über wichtige Dinge befragt werden kann.
Die Commissionen in Breslau und Königsberg müssen wissen
schaftliche Deputationen für diese beiden OberPraesidialDeparte-
ments seyn. Sie stehen also wirklich unter der Section und Re-
gierung zugleich, was aber auch, da die Section wenig mit ihnen
unmittelbar zu thun haben wird, gut angeht; sie haben auch,
wie gleich unten folgen soll, mehr Arbeiten, als die blossen Com-
missionen.
Die blossen RegierungsCommissionenin Berlin (fürPotsdamm)^
Königsberg Neumark, Stargard, Marienwerder und Liegnitz bilden
die letzte, in ihrem Wirkungskreis am meisten beschränkte Classe.
Um nun auf die hiesige wissenschaftliche Deputation zurück-
zukommen, so finde ich in Absicht der schon entworfenen Instruc-
') Vgl. über die vorläufige Instruktion für die n-issenscfmftlichen Depu
tationen vom 25. Februar 1810 Gebhardt i, 226.
2JQ 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 18 10.
tion nur noch, ausser dem schon durch das Vorige Abgeänderten,
Folgendes zu bemerken.
Die Prüfungen bei der UnterrichtsSection sind zwar unent-
geldlich angeordnet worden. Im MedicinalWesen wäre indess für
jetzt noch die Sache beim Alten zu lassen. Auch könnte ebenso
die Vertheilung noch wie bisher, und also dieser Punkt aus der
Verfügung ganz wegbleiben.
Bei Erwähnung der Arbeiten der Deputation dürfte der § 7 der
von Herrn p. Köhler entworfenen Instruction nach der Anlage zu
modificiren seyn. Von besondern Arbeiten müsste man einige,
etwa so, wie ich bei § 8 in margine gethan, specificiren.
Bei der Eintheilung in Fächer § -15. nach Herrn p. Hufeland ist
CS auffallend Anatomie, Phj'^sik u. s. f. aufgeführt, die andern
Wissenschaften, wie Pathologie u. s. f. fehlen zu sehen. Es ist
also wohl besser, die drei Classen nur so zu bestimmen:
Gegenstände, zu deren Beurtheilung eigentliche Arzneikunde,
mit Inbegriff der Thierarzeneikunde,
zu deren Beurtheilung Kenntniss der Wundarznei und Geburts-
hülfe und
zu deren Beurtheilung pharmaceutische auf Chemie und Natur-
geschichte beruhende Kenntniss gehört.
Bildung der ProvincialMedicinalBehörden.
Die Verordnung vom 24. November 1808 verordnet wissen-
schaftliche Deputationen in den Provinzen, die Regierungslnstruc-
tion wissenschaftlich technische Commissionen n bei jeder Regierung.
Ob beide darunter dasselbe verstehen? ist nicht klar.
Ich glaube man kann die wissenschaftlichen Deputationen von
den Commissionen unterscheiden durch zwei nur den erstem zu
übertragende Geschäfte :
die Abfassung von Gutachten in Criminalfällen ; die höheren
Prüfungen, d. h. derer, die sich zu solchen Stellen widmen,
zu denen man nur Personen, die studirt haben, zulassen
kann.
Der letzte Punkt aber müsste für jetzt noch nicht gesagt werden,
da bis jetzt noch alle diese Prüfungen hier in Berlin geschehen.
Die wissenschafthchen ProvincialDeputationen bestünden nur
aus 8 Mitgliedern, vier Aerzten, zwei Wundaerzten, und zwei
•) ? 22.
E. Verschiedenes, g. <» 1 1
Apothekern. Unter den erstem müsste ein der Thierarznei Kun-
diger seyn.
Die Commissionen hätten mit 6 Mitgliedern genug.
Beide wären auf 3 Jahre, da kleinere Städte nicht so viel
Wechsel erlauben.
Die Regierungen könnten sich, jede ausser ihrer Commission
auch der wissenschaftlichen Deputation ihres OberPraesidialDepar-
tements bedienen, nur mit dem Unterschiede, dass sie hierzu nur
autorisirt nicht verpflichtet wären, und dass sie nicht befehlsweise
an die wissenschaftlichen Deputationen schreiben, sondern sie nur
durch die Section in Berlin, und in Breslau und Königsberg durch
die dortigen Regierungen ersuchen könnten. Dies könnte geschehen
bei Anfragen über wichtige Gegenstände, bei wichtigeren Prüfungen.
In den wissenschaftlichen Provincial Deputationen und den
Commissionen hätte der MedicinalRath der Regierung den Vorsitz.
Diese Deputationen und Commissionen bloss ihren eignen
Sportein, ohne feste Bestimmung zu überlassen,^) scheint mir nicht
zweckmässig. Es müsste festgesetzt werden, dass jede wissenschaft-
liche Deputation 1800 Rth., jede Commission 1200 Rth. jährlich er-
hielte, allein den Regierungen bei den jedesmaligen Ernennungen
der Mitglieder überlassen bliebe. Vertheilungsvorschläge über diese
Summen zu machen, die sich nach den Bedürfnissen der einzelnen
Personen richteten.
Diese Summe könnte folgendergestalt zusammengebracht
werden :
1 . würde dazu genommen, was schon für das MedicinalWesen
auf einigen RegierungsEtats steht;
2. was z. B. in Schlesien die MedicinalCasse oss. fonds besitzt
3. die Sportein, die gesammelt würden,
4. das alsdann Fehlende schösse die Regierung aus ihren
Extraordinarienfonds zu.
Machten aber die Sportein eine grössere Summe, als die er-
forderte, so würde der Ueberschuss unter die Mitglieder vertheilt.
Hiernach wäre nun das Folgende zu thun:
I. die als Instruktion dienende Verfügung an die hiesige wissen*
schaftliche Deputation zu entwerfen,^)
') So war es beim Collegium medico-chirurgicum et sanitatis gewesen.
, -) Konzipiert von Koehler am 2g. März 1810.
0 12 3- Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
2. sich mit dem FinanzMinisterio über den Modus der Be-
zahlung der ProvincialDeputationen und der Commissionen zu
einigen,
3. die Litthauische Regierung zu befragen, ob sie wirklich
eine eigne Commission entbehren will ? Auf gleiche Weise könnte
es auch Königsberg Neumark in Rücksicht auf Potsdamm oderStar-
gard. Allein man braucht doch Leute an Ort und Stelle. Kann man
nicht viele Gute haben, nimmt man nur Einige, erspart an fonds^
und gibt mehr Aufträge an die nächste wissenschaftliche Deputation,
4. von der Neumärkischen und Pommerschen Regierung Be-
richt über die Organisation ihrer Commission, das Personal und die
fonds zu fordern,
5. alle Mitglieder zu ernennen, jedoch immer mit vorgängiger
Rücksprache mit den Regierungen,
6. der Instruction der Section ähnliche Verfügungen für die
wissenschaftlichen Provincial Deputationen und Commissionen zu
entwerfen.
17. März, 1810.
s. m. Humboldt.
h. Beschwierde Humboldts über verfassungswidrigen
Geschäftsgang.^)
An des Königlichen Geheimen Staatsminister Herrn Grafen zu
Dohna Excellenz.
Das Königliche Staatsministerium hat der Section für den Cultus
unterm 3. d. eröfnet, dass der Immediat-Bericht derselben wegen
Verlegung des Busstages bey ihm zum Vortrage gekonimen sey,
es aber diesen Antrag jetzt nicht gerathen finde, die Section da-
her die Sache wenigstens ein Jahr ruhen lassen, alsdann aber
auch auf die vom Staatsministerio sehr zweckmässig gefundene
Abschaffung des Himmelfahrtstages antragen möge.
Dieses der Section gewordene Schreiben sezt Verhältnisse
voraus, die ihr ganz fremd sind, und die mir nicht nur der ihr
ursprünglich gegebenen Stellung, worüber ich jetzt schweifen würde,
sondern auch der, wegen der Geschäftsführung des Königlichen
Staatsministerii unterm 31. Maerz ergangenen Cabinets Ordre, der
man doch wenigstens keine^ durchaus über ihren klaren Inhalt gehende
ausdehnende Erklärung ^eben darf, zu widersprechen scheinen,
') Der Haupttext ist von Nicolovius konzipiert, das kursiv Gedruckte von
Humboldt eingeschaltet. ,
K. Verschiedenes, s. h. 'i I •?
Die Sectionen sind ihrer Bestimmung und wesentlichen Ein-
richtung nach keine irgend untergeordnete Behörden , sie sind
Theile des Ministeriums, führen die ihnen anvertrauten Geschäfts-
zweige als höchste Landesbehörden, stehen blos unter Aufsicht ')
des DepartementsMinisters, welcher die von den Sectionen an
des Königs Majestät unmittelbar zu erstattenden Berichte zwar mit
seinem Voto begleiten, nicht aber dem Könige vorenthalten darf.
Durch das m dem gegenwärtigen Fall beobacJdete Verfahren ivird
vermittelst des Staats Ministerii eine wahre Zivischen-Instanz zwischen
den Sectionen 7ind dem Thro7i gebildet, welche ohne alle Anfiihnmg
von Gründen, ja, wenn auch mit gelinderen Ausdrücken, ihnen An-
weisungen zu ertheilen unternimmt. Eine solche Zwischenbehörde
kannten die Sectionen bis jetzt nicht ; sie verwalteten, in einzelnen
Fällen nicht ohne besondere Zustimmung des Departements xMinister,
sonst aber selbständig^mit voller Autorität und Verantwortung die
ihnen anvertrauten Geschäfte und hingen 7iie von der Meynung der
übrigen Minister, als nur insofer^i ab, als diese Meynu7ig beim Cabinets-'
Vortrag auf die Ent Schliessung S. Majestät des Königs Einfluss haben
konnte.
Es ist ihnen nicht bekannt geworden, dass diese ihre Be-
stimmung verändert sey; die Cabinetsordre vom 31. Maerz d. J.
will, dass diejenigen Sections Chefs, welche bey den im Staats-
ministerio vorkommenden Gegenständen concurriren, gegen-
wärtig seyn und ein volles \'^otum haben sollen. Nirgends aber
gehet aus der Cabittets Ordre hervor, dass in der Berichterstattung der
Sections Chefs an den König eine Veränderung Statt finden solle, und
dass dem Staatsministerium mehr zustände, als im Falle die Section
einer verschiedenen Meynu?ig ist, seine abweichende Sr. Königlichen
Majestät mit vorzulegen. Die von dem Staatsministerio unterm
17. V. M. an die Provinzial-CoUegien erlassene Bekanntmachung er-
klärt ausdrücklich, dass in dem Ressort der Sectionen nichts geändert
worden.
Das gedachte Schreiben sezt dagegen ganz andere Verhält
nisse voraus. Es wehrt der Section den Zugang zu des Königs
Majestät, es entscheidet in einer durchaus zur Entscheidung der Section
und noch dazu vorzüglich der geistlichen Mitglieder in derselben ge*
eigneten Sache, ohne mich und den in der Cultus-Section Vorsitzenden
Staatsrath gehört zu haben. Die Section soll hienach nicht länger
Nach „Aufsicht'' gestrichen: „doch nicht unter I^itung".
oj^ 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
selbst integrirender Theil des Ministerii seyn, sie soll nicht länger
nach ihrer Ueberzeugung administriren, Vorschläge die sie ine-
stimmig, wie die Ahschaffitng des Himmelf ahristag es, unzweckmässig
befunden hat, soll sie, ihrer Meynung darüber ungeachtet, an des
Königs Majestät bringen, sich also in den Fall setzen, Anordnun-
gen zu bewirken und zur Ausführung zu bringen, welche sie selbst
nicht billigt sondern nachtheilig findet.
Ew. Excellenz stimmen gewiss mit mir überein, dass') die
heiligste Amtspflicht mir nicht gestattet, bey solchem Verfahren
gegen die Section zu schweigen, ich würde noch hinzusetzen, dass
mich auch gekränktes Ehrgefühl zu redefi Z7uingt, wenn ich nicht in
dieser Hinsicht mich gegen ?nehr als diesen Punkt allein erheben
müsste, und 7ucn?i Ew. p. nicht bekafifit wärc^ dass ich deshalb un-
mittelbar einen Schritt bei Sr. Majestät dem König gethan habe, den
mich der fetzige Vorfall veranlasst hat, heute noch einmal zu "wieder-
holen. Allein wenn ich mich persönlich zurückziehe, darf ich das Interesse
der Section und die Rechte, die ihr, auch nach der Cabinets Ordre vom
ji. März, c. noch übrig bleiben, darum nicht verabsäumen tmd unter
Umständen, wie die durch jenes il/wü/mfy/ Schreiben angedeuteten,
hört alle zweckmässige Geschäftsverwaltung, aller Muth zu neuen,
wichtigern Operationen, alle Hofnung auf Erfolg auf. Die Sectionen,
die nach der Bestimmung der Verordnung vom 24. November t8o8.
mit voller Verantwortung selbständige,
selbstthätige Behörden sind,
werden in eine Abhängigkeit versezt, die den freyern Wirkungs-
kreis der ihnen untergeordneten Provinzialbehörden beneidenswerth
macht, und das todte Formenwesen, welches die neue Organi-
sation zu vertilgen beabsichtigte, mit allen seinen Folgen und mit
vermehrtem Unmuth jedes, von Liebe für den Staat und für sein
Amt erfüllten Staatsdieners herbey geführt.
Ew. Excellenz mufsich daher gehorsamst, aber auch dringendst
pflichtmässig ersuchen, die mir anvertrauten Sectionen vor Beein-
trächtigungen zu schützen, welche die Bestimmung derselben zer-
stören, und keine kräftige, freudige und erfolgreiche Geschäfts-
führung derselben ferner gestatten. Doppelt treifen alle angeführten
Nachteile meine Parthie, da die Überzeugungen von den in sie
einschlagenden Gegenständen nur bey anhaltender Beschäftigung
mit denselben richtig entstehen und sich abändern können, und
') "Nach „dass" gestrichen „nicht allein gekränktes Ehrgefühl, sondern".
E. Verschiedenes, h. i. -^ I -
da es nicht immer möglich ist, sich mit Personen, die einmal
von Grund aus andere Ansichten hegen, darüber durch blosse
Gründe zu verständigen; eine Ansicht, worüber Ew. Excellenz bisher
ganz mit mir einverstanden gewesen sind und die Sie, wenn sie
angefochten wurde, mit Überzeugung und Nachdruck unterstüzt
haben.
Von der vorliegenden einzelnen Sache, die nur durch die
Behandlung, die ihr widerfahren, wichtig wird, sonst aber gering-
fügig und auf Verlangen der Kurmärkischen Regierung, nicht aus
eignem Antrieb der Section Sr. Majestät vorgetragen werden sollte,
mag immerhin nicht weiter die Rede seyn. Das aber mufs ich
Ew. Excellenz dringend und bestimmt bitten, einen gleichen Ge-
schäftsgang ferner nicht zu gestatten, den ich nicht ohne völlige
Vernachlässigung meiner Pflicht ertragen kann und der mich nöthi-
gen würde, um die Bestimmung der mir anvertrauten Sectionen
zu erhalten, die lezten mir noch übrigen Schritte zu thun.
Berlin, 23. Mai, 1810.
Humboldt.
i. Humboldts Verabschiedung an Dohna.^)
Berlin, den 19. Junius, 1810.
Nichts hätte mir gleich schmeichelhaft seyn können, als das
Bedauern, welches Ew. Excellenz mir in dem geehrtesten Schreiben
von heute über meinen Abgang zu erkennen zu geben die Ge-
wogenheit haben, und der Wunsch, dass ich die Geschäfte der
mir anvertrauet gewesenen Sectionen noch so lange als möglich
fortführen möchte. Ich schmeichle mir, dass Ew. p. bemerkt
haben werden, dass es immer mein Ziel war, mir Ihre Zufrieden-
heit zu erwerben, und Ihnen auch dadurch zu beweisen, wie leb-
haft ich die mir von Ew. p. bewiesene Güte und Freundschaft
empfand, für die ich Ew. p. nochmals bei dieser Gelegenheit
meinen aufrichtigsten und herzlichsten Dank wiederhole.
So gern ich mich aber auch noch ferner meinen bisherigen
Geschäften widmen möchte, so macht mir dies doch die Vorbe-
reitung zu meiner neuen Stelle und die nothwendige Besorgung
vieler Privatgeschäfte unmöglich. Ich werde daher mit Ew. p.
Erlaubniss, so wie mich die Königliche CabinetsOrdre ausdrück
^) Eigenhändiger Entwurf.
Itjß 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
lieh anweist, meine Geschäftsführung mit dem Ende dieser Woche
in Ew. p. Hände niederlegen, und in der MedicinalSection über-
morgen, 21. /mj.^ in der des Cultus und öffentlichen Unterrichts
Sonnabend, 23. /mj. meine letzte Sitzung halten, und alsdann die
Geschäfte der ersten, nach Ew. p. Befehl, Ihnen selbst, die der
letztern dem Herrn StaatsRath Nicolovius übergeben.
An der Organisation der Universität hingegen werde ich sehr
gern noch so lange ich hier bin fortwährend Antheil nehmen;
den Sitzungen der von mir errichteten Commission, sofern Ew. p.
solche bestehen lassen, beiwohnen, und auf jede, von mir ab-
hängende Weise zum Besten eines so wichtigen Instituts ange-
legentlichst mitwirlven.^)
In der Voraussetzung, dass Ew. p. diese ergebensten Anträge
zu genehmigen die Güte haben werden, empfehle ich mich Ihrem
ferneren echt freundschaftlichen Wohlwollen.
Berlin, den 19. Junius, 1810
Humboldt.
Berlin, den 23. Juni 1810.
An des Königlichen Ministers pp. Herrn Grafen zu Dohna, Excellenz.')
Ew. Excellenz habe ich die Ehre gehorsamst anzuzeigen, dass
ich heute die letzte Sitzung der Section des Cultus und öffentlichen
Unterrichts unter meinem Vorsitze gehalten und, Ew. Excellenz
geneigten Anweisung zufolge, die Leitung dieser Partie dem Herrn
StaatsRath Nicolovius übergeben habe.
H.
k. Berufung von Thaer.')
Berlin, den 20. Junius, 1810.
An den Königlichen StaatsRath, Herrn Thaer,
Hochwohlgeboren.
Zu den wichtigsten, bis jetzt noch unbesetzten Lehrstellen an
der hiesigen Universität, welche, Sr. Majestät des Königs neuesten
Befehlen gemäss, um Michaelis eröfnet werden soll, gehört die
Professur des Ackerbaus. Ich brauche Ew. Hochwohlgeboren nicht
•) Vgl. Lenz, Geschichte der Universität Berlin i, 21g.
') Von Schreiberhand.
*) Eigenhändiges Konzept.
E. Verschiedenes, i. k.
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ZU sagen, wen ich am liebsten mit derselben bekleidet sehen
möchte. Gewiss würde es in ganz Deutschland zu den wichtigsten
Vorzügen der Universität hier gerechnet werden, wenn Ew. p.
Sich entschliessen könnten, einen Ruf hierher anzunehmen. Ich
fühle aber, dass dies unmöglich ist. Ihr Institut in Mögelin und
die Annehmlichkeit, unabhängig und auf dem Lande zu leben,
werden natürlich der Ausführung eines solchen Plans immer im
Wege stehen. Dennoch kann ich den Gedanken nicht ganz auf-
geben, dass gerade Sie und selbst Ihr Institut der hiesigen Uni-
versität von dem wichtigsten und erspriesslichsten Nutzen seyn könn-
ten, und ich wünschte nur, Ihre eignen Ideen über die Ausführbarkeit
hievon zu vernehmen. Mir scheint ein doppelter Weg möglich.
Der erste wäre der, dem ich in ieder Rücksicht den Vorzug
ertheilen würde. Er bestände darin, dass Ew. p. sich entschlössen,
wenigstens den Winter immer hier zuzubringen, und alsdann
ordentliche ^"orlesungen zu halten. Der Sommer könnte, da ich
so in diesen alle Ferien beider Semester fallen zu lassen denke,
in Rücksicht auf das Studium des Ackerbaus dem eignen Studium
und Besuchen in Mögelin gewidmet seyn. Glaubten Ew. p., dass
die Ausführung einer solchen Idee nicht unmöglich wäre, so würde
ich Sie, Sich näher mit mir über die Art und die Bedingungen
zu erklären, ergebenst einladen.
Der zweite Weg wäre allerdings viel weniger wohlthätig für
die Universität. Es wäre der, dass Ew. p. mir jemanden vor-
schlügen, der die Vorlesungen hier hielte, aber so, dass Ew. p.
dieselben aus der Ferne dirigirten, manchmal selbst die Zuhörer
zu prüfen und kennen zu lernen herkämen, und bestimmten,
welche davon nach und nach durch das theoretische Studium zum
praktischen in Mögelin reif geworden wären. Auch hierüber er-
bitte ich mir Ihren Rath.
Im Fall Ew. p. Sich leider nicht im Stande sehen sollten,
meinen ersten Vorschlag anzunehmen, und der zweite Ihnen für
das Studium selbst nicht hinlänglich schiene, so bliebe nichts
andres übrig, als dass man einen andern Gelehrten zum Professor
des Ackerbaus wählte. Je schwieriger hier die Wahl seyn dürfte,
desto mehr muss ich Ew. p. ergebenst ersuchen, mir auch des-
halb in diesem Fall Ihre Gedanken zu eröffnen, und mir über-
haupt und ganz nach Ihren eignen Erfahrungen zu sagen, was Sie
überhaupt von der Einrichtung des Studiums der Sie interessiren
den Wissenschaft auf der hiesigen Universität gerade halten. Die
«j^ 3. Amtliche Arbeiten aus den Jahren 1809 und 1810.
Wichtigkeit des Gegenstandes wird, wie ich mir schmeichle, mich
der Nothwendigkeit überheben, die Unbescheidenheit dieser Bitte
zu entschuldigen.
Ew. p. werden zwar vermuthlich gehört haben, dass ich seit
kurzem zum Gesandten in Wien bestimmt bin. Auch lege ich
wirklich meinen jetzigen Posten mit dieser Woche nieder, und
verlasse Berlin mit Ende künftigen Monats. Allein des Herrn Staats
Ministers Grafen zu Dohna Excellenz wünschen, dass ich während
meiner Anwesenheit hier noch die auf die (Jrganisation der hiesigen
Universität Bezug habenden Geschäfte führen möge, und auf diese
Weise werde ich noch immer im Stande seyn, Ew. p. zu beweisen
wie gern ich Ihren Rathschlägen Folge leiste.
Berlin, den 20. Junius, [810.
Humboldt.
1. Antrag auf Anstellung Schleiermachers in der
Sektion.^)
Berlin, den 22. Junius, 1810.
An des Königs Majestät.
Ew. Königlichen Majestät sehe ich mich genöthigt, ehe ich die
mir bisher anvertraut gewesene Führung der Section des Cultus
und öffentlichen Unterrichts niederlege, noch einen allerunterthänig-
sten Antrag in Ansehung derselben zu machen.
Obgleich die Organisation der Section im Ganzen als vollendet
angesehen werden kann, so hat dieselbe doch noch immer drei
Räthe weniger, als ihr die Verordnung vom 24. November, 1808
bestimmt. Die Anstrengung, mit welcher alle Mitglieder, wie ich
ihnen dies ehrenvolle Zeugniss pflichtmässig ablegen muss, unaus-
gesetzt gearbeitet haben, hat zwar verhindert, dass dieser Mangel
in den Geschäften der Section fühlbar geworden ist. Allein es
ist auch bei jeder, auch nur augenblicklichen Abwesenheit oder
Verhinderung eines Raths immer eine sichtbare Verlegenheit ent-
standen, und wenn ein solcher Zufall, wie doch so leicht ge-
schehen kann, einmal zwei Mitglieder zugleich getroffen hätte,
wäre eine Stockung unvermeidlich gewesen. Im gegenwärtigen
Augenblick bringt nun mein Abgang, da wenigstens für jetzt
niemand an meine Stelle tritt, eine neue Lücke hervor.
') Eigenhändiger Entwurf.
li. Verschiedenes, k.
V9
Um diese, aui eine den Geschäften höchst zweckmässige, und
zugleich für Ew. Königlichen Majestät Gassen weniger lästige Weise
auszuiüllen, hielte ich es für gut, den Professor und Prediger
Schleiermacher zum Mitglied der Section des öÜ'entlichen Unter-
richts zu ernennen.
Dieser Mann ist als Gelehrter hinlänglich bekannt, um von
dieser Seite mit Recht der obersten wissenschaftlichen Behörde
beigesellt zu werden. Ich habe mich aber auch dadurch, dass
er, als Director der wissenschaftlichen Deputation, den Sitzungen
der Section seit einiger Zeit beigewohnt, und an ihren Arbeiten
thätigen Antheil genommen hat, überzeugt, dass es ihm, was
nicht immer bei Gelehrten der Fall ist, sehr gut gelingt, sich in
den formellen Geschäftsgang zu linden, und mit Leichtigkeit und
Fertigkeit darin zu arbeiten. Er würde sich zugleich mit einem
Gehalte, das geringer als das StaatsrathsGehalt wäre, begnügen,
und ich wüsste auf diese Weise keinen Weg vorzuschlagen, auf
dem es möglich wäre, der Section ein so ausgezeichnetes Mitglied
mit gleich geringem Aufwände zu verschaffen.
Aus diesen Gründen wage ich, bei Ew. Königlichen Majestät
ehrfurchtsvoll dahin anzutragen,
den Professor und Prediger Schleiermacher zum Mitgliede
der Section des öffentlichen Unterrichts mit einem vom
I. Julius c. ab zahlbaren Jahrgehalte von 2000 Rth. huld-
reichst zu ernennen, zugleich aber zu gestatten, dass er»
wenigstens für dies Jahr, und wenn im künftigen kein
gleich taugliches Subject dazu gefunden werden sollte, auch
Director der wissenschaftlichen Deputation bleiben könne.
Der p. Schleiermacher würde neben dieser seiner Stelle
in der Section sein Predigeramt an der Dreifaltigkeitskirche
beibehalten können, wenn ihm nur mit Ew. Königlichen
Majestät huldreicher Erlaubniss nachgelassen würde, die
kleinen Amtsverrichtungen dabei durch einen ordinirten
Candidaten verrichten lassen zu dürfen.
Geruheten Ew. Königliche Majestät allergnädigst, diesen Antrag
zu genehmigen, so würde in der Folge nur noch ein zur Bear-
beitung finanzieller und ökonomischer Gegenstände geeignetes
Mitglied in der Section nothwendig seyn, und auch dazu dürfte
sich vermuthlich ein nicht sehr kostbarer Weg auffinden lassea
Berlin, den 22. Junius, 1810.
Humboldt.
Nachwort,
Der vorliegende dreizehnte Band war bis zum neunzehnten Bogen
gedruckt, der zwanzigste Bogen gesetzt, als den Fortgang der Aus-
gabe das vorzeitige Hinscheiden Erich Schmidts, ihres geistigen Vaters
und Leiters, aufs schtnerzlichste unterbrach.
Nachdem durch die verständnisvolle Fü/rsorge des Preussischen
Kultusministeriums die Verbreitung der Ausgabe im Kreise der
höheren U^iterrichtsanstalten gefördert war, gelang es, dank der im
Amt des Herausgebers unermiidet d)ewährten Arbeitskraft und Pflicht-
treue Albert Leitzrnanns, der seinerzeit im Einverständnis mit der
Familie Humboldt das ganze Unternehmen angeregt hatte, die Ab-
teilung der Tagebücher inmitten der Nöte des Weltkriegs anzufangen
und, wenn auch unter grossen Opfer^i des neuen Inhabers des
Behrschen Verlages (Friedrich Feddersen), zu volletiden.
Angesichts der ungeheuerlichen Teuerung im Druckgewerbe, die
eine Fortführung des Drucks für die nächsten Jahre unmöglich
macht, schien es der Akademie nun aber Pflicht, vom dreizehnten
Band alles was fertig war für sich allein der Öflentlichkeit endlich
zu übergeben: namentlich die längst von vielen Seiten erwartete
Mitteilung des neuen Fundes, der Abhandlung über die Basken,
durfte nicht weiter verzögert werden. Der noch ausstehende Rest
der Nachträge zu den Politischen De?tkschriften wird, sobald es die
wirtschaftlichen Verhältnisse zulassen, als Ergä?tzu?igsband erscheinen.
Auch für die vorbereitete und angekündigte Abteilung der Briefe
wird mafi bessere Zeiten abwartest müssen.
Es ist so ein Abschluss dieser Atisgabe, die das Denkmal einer
eingelösten Ehrenschuld sein soll, für die Gesamtheit der eigentlichen
Schriften Wilhelm von Humboldts erreicht u?id dem grossen Wieder-
hersteller der geistigen Arbeit in Preussen, desse7i Name bei der
Jahrhundertfeier der Berliner Universität vor Glückwunsch spendenden
Gästen aller Natione?i so feierlich und nachdrucksvoll erklang, die
Bahn eröffnet zu neuer Wirkung auf sein Volk und auf alle Welt.
Berlin, den j. Oktober ig20.
Konrad Bur dach.
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