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Full text of "Gesammelte Werke"

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ur ann — en — 


FT 


Richard Dehmel 
Geſammelte Werke 


in drei Baͤnden 


Zweiter Band 


3 


1.4 24. 


m — nn, 
S. Fiſcher, Verlag, Berlin 
1913 


Erftes bis fünftes Taufend. 
Alle Rechte vorbehalten, auch das der Überſetzung. 
Copyright 1913 S. Fiſcher, Verlag, Berlin. 


Weib und Welt 
Ein Buch Gedichte 
Vierte Ausgabe 


1 
Pe 


12 


Erfter Teil 


* 
Ins Weite 


Die du mir naͤher biſt, als Sinne ahnen koͤnnen, 
meine Erfüllerin, 
ſchlummernde: 
o traͤume dich ein in meine ſchmachtenden Adern, 
und fuͤhle mein Herz aus meinen Augen brennen, 
und ſieh die Sterne ſich uͤber mir verdoppeln, 
und ſchmecke das Mannah dieſer grenzenloſen Nacht, 
die Duͤfte der Sehnſucht von Wieſe zu Wald zu Wolke, 
und hoͤre den Weltraum mein heiliges Lied mitatmen, 
mein Echo du! — 


Die Erweckung des Herrſchers 
Pſychiſche Szene 


Ein Geiſt im Schlaf: 


Da thront ſie wieder; thront, als ob ſie warte. 
Was willſt du, Traumbild, immer noch von mir 
mit deinem Gnadenblick? du biſt doch tot! 

Zu oft bin ich von dieſem Blick erwacht; 

ich fuͤhls, ich räume nur! Was quaͤlſt du jetzt 
mit taͤuſchender Erhoͤrung meine Naͤchte 

und blickteſt nie zuvor, zu keiner Stunde 

— o doch: in einer, einer Stunde doch: 

in deiner Sterbeſtunde — ſo mich an! 

Willſt du den Mann, der ich in Schmerzen ward, 
durch deinen Hingang ward, noch buͤßen laſſen, 
was dir der unbedachte Juͤngling tat? 

Wars denn ſo ſchlechte Tat? Wars nicht Verehrung, 


daß ich mit meiner Luft an Ruhm und Rang 
auch Dir zu ſchmeicheln dachte? Warb ich nicht 
mit hoͤchſter Hoffahrt um dein ſtolzes Herz? 
Aus deiner ſtillen Welt, die mir nicht wuͤrdig 
genug fuͤr deine holde Wuͤrde ſchien, 

wollt ich ein klingend Sphaͤrenſpiel geſtalten! 
Hab ich dich nicht gefeiert? Schmuͤckt ich nicht 
dein jungfraͤuliches Haupt mit einer Krone? 

mit ſtetem Feſtglanz unſern Thron! Und gabſt mir 
kaum eine Gunſt dafür, kaum ganz ein Lächeln, 
nie einen vollen, ſeelenvollen Dank, 

nie — 


Antwort einer Seele: 
Ich liebte dich — 


Der Geiſt: 


Du? liebteſt? mich? — Und zeigteſt mir das nie?! 
Und ließeſt mich, wenn deine ſanfte Hand 

ſich meiner ungeſtuͤmen ſtreng entzog, 

mich, der zu Fuͤßen dir getaumelt waͤre 

fuͤr nur den ſcheueſten Wink, ließeſt mich haltlos 

mit falſchen Freunden dann von Rauſch zu Rauſch 
die irren Wege meines Unmuts gehn! 

Mußt ich nicht meinen, du verabſcheuſt mich, 

du ſeiſt enttaͤuſcht, ſinnſt Rache? Bis ich endlich, 

ſo immer werbend, immer unbelohnt 

und immer wieder auf Erhoͤrung pochend, 

endlich den einen einzigen Gnadenblick, 

mit dem dein Auge brach, empfing und nun 

vor deinem ſtarr gewordnen Antlitz mich 

in grauſigem Zweifel fragte: galt er mir? 

mir? oder ſahſt du Sterbende ein Weſen, 


das Du nur fahft, mit dieſem Dankblick an, 
weil's dich von mir befreite?! Sprachſt du doch 
kein letztes Wort zu mir! O warum ſtarbſt du 
ſo ſtumm? 


Die Seele: 
Ich liebte dich — 


Der Geiſt: 


Und quaͤlſt mich immer noch?! O deute mirs, 

du Unfaßbare: was bedraͤngſt du mich? 

Ich ſinne ſelbſt am hellen Tag dir nach; 

du weißt, ich will das nicht, will nicht mehr traͤumen, 
ich ward zu klar dazu, dank deiner Drangſal, 

ich litt genug an dir, ich will nicht leiden, 

mir ziemt die Tat, drum lernt ich mich beherrſchen, 
und will auch Dich, auch Dich beherrſchen, denn 

ich bin ein Herrſcher — und das iſt, du weißt es, 

ein ſchwacher Menſch, der tauſend fremde Kraͤfte 
unter ein ſtarkes Werk einſammeln ſoll. 

Was alſo ſtoͤrſt du meinen kurzen Schlaf? 

was goͤnnſt du mir nicht Raſt, mich ſelbſt zu ſammeln? 
was ſtachelſt du mich in dem Lichtſtrahl noch, 

der Mittags in mein halbgeſchloſſenes Auge 

ſich eindraͤngt und an deinen letzten Blick mich 
gemahnt? 


Die Seele: 
Ich liebe dich — 


Der Geiſt: 
Dann laß dich faſſen! dann erhoͤre mich! 
bei deiner Seligkeit beſchwoͤr ich dich: 
laß mich vollkommen in dir ruhn! 


10 


So will ich nicht mehr eitel mit dir ringen, 

will mein Gezweifel vollends niederzwingen, 

dir freudig deinen Willen tun! 

So wirſt auch Du endlich zur Ruhe kommen, 
wirſt ſtolz von meinen Kraͤften hingenommen 
erkennen, daß du mich nicht laͤnger ſchreckſt! 

So wird aus unſerm Traumbund im Geheimen 
ſtark eine neue Seele keimen, 

durch die du mich 

ſchutzmuͤtterlich 

zu immer ſtolzerem Tagwerk weckſt, gern weckſt — 
und ſo — 


Die Seele: 
So lieb“ ich dich — — 


Der Geiſt des Herrſchers 
erwachend: 
Und lebſt mir ſo — und wirſt mir nie mehr ſterben. 
Und all mein Volk wird unſre Liebe erben. 


Das Ideal 


Doch hab ich meine Sehnſucht ſtets gebuͤßt; 
ich ging nach Liebe aus auf allen Wegen, 
auf allen kam die Liebe mir entgegen, 
drum hab ich meine Sehnſucht ſtets gebuͤßt. 


Es ſtand ein Baum in einem Zaubergarten, 
mit tauſend Bluͤten gab er Duft und Schein, 
und eine leuchtete vor allen rein; 

es ſtand ein Baum in einem Zaubergarten. 


Und aus den tauſend pfluͤckte ich die eine, 
ſie war noch ſchoͤner mir in meinen Haͤnden, 


ſodaß ich kniete, Dank dem Baum zu ſpenden, 
von dem aus tauſend ich gepflüdt die eine. 


Ich hob die Augen zu dem Zauberbaume, 
und wieder ſchien vor allen Eine licht, 

und meine welkte ſchon — ich dankte nicht; 
ich hob die Augen zu dem Zauberbaume. 


Doch hab ich meine Sehnſucht nie verlernt; 
ich ging nach Liebe aus auf allen Wegen, 
auf jedem glaͤnzte mir ein andrer Segen, 
drum hab ich meine Sehnſucht nie verlernt. 


Beichtgang 


Ich war der Herr der Welt vor dir, 
im Traum; 

wie eine Sonne warſt du mir, 

im Traum. 

Ich ſchmuͤckte dich mit allen guten 
Gluͤckſehnſuchtsgluten 

in dieſem Traum, 

und hieß dich leuchten, ließ dich ſchweben. 
Und habe mich in den Staub gebogen 
vor dir, im Traum, 

und dich belogen und betrogen 

im Staub, im Traum — 

komm, laß uns leben! 


Narziſſen 


Weißt du noch, wie weiß, wie bleich 
in den Maiendaͤmmerungen, 


II 


12 


wenn ich lag, von dir umſchlungen, 
dir zu Fuͤßen hingeriſſen, 
um uns ſchwankten die Narziſſen? 


Weißt du noch, wie heiß, wie weich 
in den blauen Juninaͤchten, 

wenn wir, muͤde von den Kuͤſſen, 
um uns flochten deine Flechten, 
Duͤfte hauchten die Narziſſen? 


Wieder leuchten dir zu Fuͤßen, 

wenn die Daͤmmerungen ſinken, 
wenn die blauen Naͤchte blinken, 
wieder duften die Narziſſen. 

Weißt du noch, wie heiß? wie bleich? 


Drei Ringe 
Elegie 


Ihr Ringe, drei Ringe, um Einen Finger, 

und jeder ein toter, gebrochener Schwur; 

und ſeid mir ſo heilig, ihr flimmernden Dinger, 
ſeid mir ein treuer, 

ſtill wachſender, neuer, 

einziger, willig geſprochener Schwur. 


Was gluͤhſt du, Rubin, von verſunkenen Stunden? 
Was blickſt du, Perle, fo bleich im Gold? 

Du Reif dazwiſchen, ſchlicht gewunden, 

was ſchimmerſt du ſo ſcheu und hold? 

Ach! immer die Treue treuwillig verſprochen, 

und immer treuwillig die Treue gebrochen. 

So hat es das Leben, das Leben gewollt. 


Ihr Ringe, drei Ringe, an meiner Linken, 
und dennoch ein neuer daͤmmernder Schwur? 
O Abendſonne, wie truͤb dein Blinken, 

und Nebel winken, 

bald wirſt du ſinken. 

Du blaſſe Perle, wie wars doch nur? 


* 


War wohl ein Morgen, fruͤhlings mild; 
die alte Kirche ſtand voll Glanz. 

Blaß flammte ums Erloͤſerbild 

der Oſterkerzen weißer Kranz. 

Der Orgel Hallelujah quoll; 

uns war das Herz von Gott ſo voll, 
das Kinderherz, voll Bebens. 

O Schwur des Glaubens! O Gebot: 
nun ſeid getreu bis in den Tod, 
dann wird euch die Krone des Lebens, 
die ewige Krone des Lebens. 


Und mit der Mutter ſtill durchs Feld; 
wie glaͤnzte weit, wie glaͤnzte gruͤn 
und war ein Sonntag all die Welt! 
Die Weidenbuͤſche wollten bluͤhn; 

ein Zweiglein brach der Knabe. 

Doch feierlich im leeren Land 

als wie ein Kreuz die Mühle ſtand; 
und ſinnend weiter ſtill feldein. 

O Foͤrſterhaus am Eichenhain! 

O Vaterwort⸗und⸗Gabe! 


O Gartenzaun am Eichenhain! 
da nahm mein Vater meine Hand 


13 


und legte einen Ring hinein, 

der hatte einen ſchwarzen Stein, 
drin eine goldne Krone ſtand, 

und ſprach zu ſeinem Sohne, 

und all ſein Blick war Ein Gebot: 
Nun ſei dir treu bis in den Tod, 
dann wird dir die Krone zum Lohne, 
des Lebens Sieges krone! 


* 


Ihr Ringe, drei Ringe, an meiner Linken, 

und jeder ein neuer, ein toter Schwur; 

was wird ſo zitternd euer Blinken? — 

Du truͤbe Sonne, laß dein Winken. 

O weite Flur! 

Die Nebel gleißen wie blutende Wunden; 

ich habe die Freiheit, die Freiheit gewollt! 

O Sonnenblut. O gleißend Gold. 

Was gluͤhſt du, Rubin, von verſunkenen Stunden? 


* 


Es war ein Mittag, fruͤhlings wild. 

Von der Bergeskrone, rot zuckend, kroch 

die Wolkenſchlange ins Gefild. 

Der Donner jagte von Joch zu Joch. 

Stuͤrmiſch weinte das Dunkel, ein ſtuͤrzendes Meer. 
Triefend ſauſten die Bäume; und grell und ſpitz, 
Licht ſchleudernd, uͤber uns, um uns her 

— mein bebendes Mädchen, weißt du noch? — 
flocht flatternde Netze Blitz auf Blitz. 


Und die Baume bogen und ſchlugen ſich, 
blendend nieder krachte der ſteile Strahl 


und warf im Taumel irr dich und mich 

zu Boden, glutſchwer, ein flackernder Wall; 
und da lag im Taumel irr Bruſt an Bruſt, 
jung hing und glutſchwer Mund an Mund 
und Auge in Auge im Mooſe, und 
rauſchend ſchluchzte der Regen in unſre Luſt, 
ſtumm lohte der feuergetaufte Bund. 


Und dann auf! Oh, ſtandeſt du bleich und bang. 
Und da hab ich den Donner des Himmels bedroht, 
von der Fauſt mir peitſchend das Waſſer ſprang, 
durch die ſauſenden Baͤume mein Lachen klang: 

o lauter, mein Bruder, dein wild Gebot! 

Und riß mir vom Finger den Knabenring: 

ich bin mir ſelbſt mein Herr und Gott! 

und nahm deine zitternde Hand, dran hing 

im Blitzlicht funkelnd der rote Rubin, 

und vom Himmel gebadet, vom Himmel umloht 
— ich fühlte dich weinen, ich ſah dich gluͤhn — 
ſchwur ich: gib her! ſei treu! nimm hin! 


* 


Ihr Ringe, drei Ringe, um Einen Finger, 

und jeder ein doppelt gebrochener Schwur. 

Wie der Nebel raucht! ein brennender Zwinger 
vermauert die fliehende Sonnenſpur. 

Noch glaͤnzt ein ſtiller Streifen Gold; 

ich habe freiwillig die Freiheit verſchworen. 
Was glimmſt du ſchlichter Reif ſo hold? 

Die Freiheit verſchworen, die Freiheit verloren. 
So hat es die Liebe, die Liebe gewollt. 


R 


15 


16 


Es kam ein Abend, frühlingsmild; 

bang ſteht, in Schleiern, bleich, die Braut. 
Ernſt rauſchen die Geigen; herb duftend ſchwillt 
der Myrte gruͤnes, weißbluͤhendes Kraut. 

Und Andacht wird, und Schweigen; nur 
durchs Fenſter fluͤſterte der Mai. 

Und nun: nun will ich ſtolz und frei 

uns ſegnen — da: voll Bebens, 


horch, die Stimmen der Freunde — o Lied, o Schwur, 


o ihr rauſchenden Geigen, o Gebot 

— blaß zuckten die Kerzen im Abendrot —: 
Nun ſeid getreu bis in den Tod, 

dann wird euch die Krone des Lebens! 


Da flocht ich ihr ſtill vom Haupt den Kranz, 
ſtill kuͤßte ich ihr dunkles Haar; 
glutuͤberhaucht vom fernen Glanz 

hielt ihre Hand ein Roſenpaar, 

ſtill zitterten die Bluͤten. R 
Und hoch ins ſchweigende Gemach 

hob ich den goldnen Ring und ſprach 
und ſprach — wie war das Herz mir weit, 
von Glauben weit und Seligkeit —: 

Nun will ich Dein fein alle Zeit, 

Ein Leib, Eine Seele, in Gluͤck und Leid 
dein Gott, meine Welt, dich huͤten. 


Und draußen wiegte ein Lindenbaum 

goldgruͤn fein jung Gefieder; 

ſanft gluͤhte der Roſen rot ſchwellender Saum, 
und durch den Schimmer, den Duft, den Traum 
rauſchten die Geigen wieder. 

Da gab ſie mir an meine Hand, 


II. a 


an meine Rechte zuruͤck mein Pfand, 
den Ring mit der leuchtenden Krone. 
Stumm bat ihr Blick voll ſeliger Not: 
nun ſei mir treu bis in den Tod, 
dann wird uns die Krone zum Lohne, 
des Lebens Friedenskrone. 


* 


Ihr Ringe, drei Ringe, an meiner Linken: 
was blickſt du, Perle, ſo truͤb im Gold? 

O Sonne, du muͤde, nun magſt du ſinken; 
o ſchwere Pflicht, wie ſchienſt du hold! 

Gelb taucht ins Moor der letzte Funken, 
das Land wird fahl, der Nebel rollt. 

Ich habe die Wahrheit, Klarheit gewollt. 
Ich war der Liebe ſo ſatt — ſo trunken — 


* 


Und eine Nacht kam, fruͤhlings wild, 
kam ſchwuͤl. Ums Licht der Lampe lag, 
vom lauten Regen dunſtverhuͤllt, 

das Dunkel dumpf und dufterfuͤllt; 
hohl ſcholl und hart das Laubendach. 
Es klang ſo einſam, was ich ſprach 
von meinem großen Überdruß; 

es klang ſo bang, als ob ich log, 

als ich mich fluͤſternd zu ihr bog. 

Und ich hielt ihre Hand. Weißt du wohl noch, 
du blaſſe Andre?! Wollteſt du's? 


Wie war die Hand von Arbeit rauh! 
Wie ſaßeſt du fo ſcheu und ſtill 
mit deinen Augen groß und grau, 


17 


18 


als horchteſt du dem Tropfentau, 

der durch die Epheublaͤtter fiel. 

Und ich hielt deine Hand. Und es war fo ſchwül. 
Was ließeſt du es denn geſchehn?! 

Ich wollte dir nur ins Innre ſehn, 

in dieſe Augen ſtolz und ſtumm. 

Du aber —? Und wir ſanken um. 

Die Epheublaͤtter zitterten. 

Ich nahm dein einziges Eigentum. 


Und dann: im dunkeln Graſe hing 

und flimmerte etwas wie Gold. 

Das war dein lieber Perlenring, 

der war dir in den Sand gerollt. 

Und da haſt du trotzig aufgelacht, 

von deinem Vater war auch er; 

blaß langteſt du ihn zu mir her, 

aus deinen Augen ſah die Nacht, 

und nahmſt meine Hand — beſudelt glomm 
der Kronring dran — und waͤhrend hohl 
der Regen rauſchte wie ein Strom, 

ſprachſt du: vergiß! nimm! gieb! leb wohl! 


* 


Ihr Ringe, drei Ringe, und doch der neue, 
aus ſcheuer Seele bang daͤmmernde Schwur? 
Dahin der Glaube, dahin die Treue; 

o dunkle Flur. 

Starr durch die kahlen Pappeln ſchauen 

die Sterne ins verhuͤllte Feld. 

Klarheit?? Im Moor die Nebel brauen. 

O ja: die Erde iſt voll Grauen. 

Doch — voll von Sonnen ſteht die Welt! 


Raum! Raum! brich Bahnen, wilde Bruſt! 
Ich fuͤhls und ſtaune jede Nacht, 

daß nicht blos Eine Sonne lacht; 

das Leben iſt des Lebens Luſt! 

Hinein, hinein mit blinden Haͤnden, 

du haſt noch nie das Ziel gewußt; 
zehntauſend Sterne, aller Enden, 
zehntauſend Sonnen ſtehn und ſpenden 
uns ihre Strahlen in die Bruſt! 


Uns in die Bruſt ... Was willſt du, Schweigen, 
du graue Erde, immer noch? 

Und ich ſehe die Krone, die eine, ſteigen 

— ihr Ringe, drei Ringe, wie war es doch? — 
die Krone ſteigen, die Krone ſinken, 

wie eine Sonne ſinken, winken: 

mir nach! nichts iſt vergebens! 

feſt ſteht mein flammendes Gebot: 

aus Abendrot waͤchſt Morgenrot! 

dem biſt du treu bis in den Tod, 

du traͤgſt die Krone des Lebens: 

die Schoͤpferkrone des Lebens! 


Ent ruͤckung 


O nein, mir wird es nicht zur Qual, 
fo ſehr es Dich und Andre quält, 
wenn du ins Grenzenloſe blickſt; 

ich bin wie du ein ſchlanker Stahl, 
und der ſich immer ſtrahlender ſtaͤhlt, 
je mehr du ihn durch Kaͤmpfe ſchickſt. 


Aus deines Auges innerm Ring 
flimmert ein ſternglutweißes Licht 


2* 


durch Schwarz und Grau, du arge Frau; 
dies Licht, das mich ſeit je umfing, 
ſieh, das entruͤckt mir dein Geſicht 

in mein geliebtes ewiges Blau. 


Himmelfahrt 


Schwebſt du nieder aus den Weiten, 
Nacht mit deinem Silberkranz? 
Hebt in deine Ewigkeiten 

mich des Dunkels milder Glanz? 


Als ob Augen liebend winken: 
alle Liebe fei enthuͤllt! 

als ob Arme ſehnend ſinken: 
alle Sehnſucht ſei erfuͤllt — 


ſtrahlt ein Stern mir aus den Weiten, 
alle Angſte fallen ab, 

ſeligſte Verſunkenheiten, 

ſtrahlt und ſtrahlt und will herab. 


Und es treiben mich Gewalten 
ihm entgegen, und er ſinkt — 
und ein Quellen, ein Entfalten 
ſeines Scheines nimmt und bringt 


und erlöft mich in die Zeiten, 
da noch keine Menſchen ſahn, 
wie durch Naͤchte Sterne gleiten, 
wie den Seelen Raͤtſel nahn. 


Der Stieglitz 


Die Sonne ſticht; ein Diſtelfeld 
blitzt durch die ſtille Mittagswelt. 


Im ſtarrgezackten Blaͤttermeer 
gluͤhn purpurlockig kreuz und quer 
die Bluͤtenkoͤpfe. 


Und durch den eiſengrauen Buſch: 
ein bunter Vogel, hupp, hup huſch, 
huͤpft durch das wilde Staudenheer, 
als ob es ohne Stacheln waͤr: 

ein junger Stieglitz. 


Wie wirr! wie wunderlich geſchweift! 
Ein leichtes Luͤftchen kommt und greift 
von Bluͤtenſpeer zu Bluͤtenſpeer 

und wirft die Schatten hin und her; 
weg iſt der Stieglitz. 


Nun will ich ſtille weitergehn 

und mir die ſonnige Welt beſehn, 
und durch das Leben kreuz und quer, 
als ob es ohne Stacheln wär; 

das liebe Leben. 


Sinnige Fahrt 


An kleinen ruhigen Doͤrfern vorbei, 
durch eilende Felder und Leutegeſchrei. 


Die Axen droͤhnen; ich denke ſtill 
an Eine, die mir treu ſein will. 


Sie denkt wohl auch: was wohl die Welt 
ſo im ſtillen zuſammenhaͤlt? 


Und plotzlich ſeh ich zwei Schafe ſtehn, 
die dem rollenden Zug nachſehn. 


21 


So im Wandern 


Ein ſilbern klein Herze, 
von Gold einen Ring, 
die gab ſie mir, als ich 
wandern ging, 


und tat in das Herze 
ihr Bild hinein; 

ſo einſam der Morgen, 
bin nicht allein. 


Arme Padde im Gleiſe, 
zerquetſcht liegſt du! 
Ich wandre meine Straße 


und wandre immer zu. 


Schon teilt ſich der Nebel, 
nun ſchimmert die Welt; 
im Sonnenſchein glitzert 
das Ahrenfeld. 


Die Hummeln ſummen, 
die Lerchen klingen: 

die Birken wehen, 

die Zweige ſchwingen. 


Die Pappeln, die ſchuͤtteln 
die Blaͤtter im Wind; 

ſie fluͤſtern mir Gruͤße, 
die voll Erinnrung ſind. 


Das Herzelein nehm ich 
vom ſeidenen Band 

und leg's in das Ringlein 
in meiner Hand, 


fo ſchreit ich und ſchau 

als ein Zeichen mir's an: 
ſo will ich in Treuen 

ohne Ende Dich umfahn! — 


Was rennſt, Meiſter Lampe? 
heut jag'ich nicht. 

Ich wandre, ich ſchreite; 

die Sonne ſticht. 


In Dorfes Mitten, 

wo ſich der Friedhof hebt: 
wie wirds gar kuͤhl ſich ruhen, 
wenn man mich einſt begraͤbt: 


zwei weiße Roſen biegen 

ums Grabkreuz die Aſt, 

drauf ſteht mein Nam geſchrieben, 
bis der Regen ihn loͤſcht. 


Hinterm Kirchlein die Schenke 
heißt „Zu den drei Linden“; 
da wird ſich wohl auch noch 
ein Ruheplaͤtzchen finden. 


Ei Tauſend, mein Schaͤtzchen, 
ſo ſchmuck, und allein? 

Ei komm doch, ruͤck naͤher; 
trink mit, ſchenk ein! 


Es ſitzen zwei Spatzen 
im Lindenbaum; 


ſie ſchnaͤbeln, ſie ſchwatzen, 
es iſt wie Traum. 


23 


24 


Auf'm Kirchhof ſtehn Kreuze, 

mehr als hundert, ſchwarz und weiß; 
aber Du haſt zwei Lippen, 

die ſind rot und heiß! 


Na Maͤdel, was weinſt denn? 
Ja, die Welt iſt hohl. 

Die Welt iſt ein Weinfaß: 
trink aus — leb wohl! — 


Was wackelt der Pfahl da? 
der iſt wohl betrunken! 


Ich wandre, ich ſchreite, 
in Sinnen verſunken. 


Sie ſaß ja ſo alleine; 

und die Liebſte wohnt weit! 
Ich will ihr Alles ſchreiben, 
bis ſie mir verzeiht. 


Und am End meiner Reiſe 
ſteht mein elterlich Haus, 

da ſchaut mein lieb Mutterherz 
am Fenſter nach mir aus; 


und drinnen ſitzt mein Vater, 
wie'n König auf ſei'm Thron, 
und wills nicht verraten, 

daß er wart't auf ſein'n Sohn. 


Nun will ich nicht ſinnen, 

ob man glücklich kann werden; 
der Himmel iſt hoch, 

und wir leben auf Erden! 
Sela! — 


Schutzengel 


Nicht vom Kirchhof will ich Epheu pflüden, 
glänzt das ganze Doͤrfchen doch von Epheu; 
davon will ich pflüden 
für mein Kaͤmmerchen! 
ſpricht der junge, junge Jaͤgersmann. 


Guten Tag, du ſchoͤnes, ſchoͤnes Maͤdchen, 

gieb mir doch dein liebes, liebes Haͤndchen! 
Weißt, ich ſuche Epheu 

für mein Kaͤmmerchen; 

darf ich wohl von deinem Epheu pfluͤcken? 


Komm herein, du ſchoͤner, ſchoͤner Jaͤger; 
will dir vielen, vielen Epheu geben. 
Hinten um mein Fenſter, 

um mein Kaͤmmerchen, 

ſchlingt ſich dicht der dunkle, dunkle Epheu. 


Kommt das kleine Bruͤderchen gelaufen: 
Schweſterchen, was will der große Jaͤger?! 
Und ich kuͤßt es auf die ſcheue Stirne 

und ging ſtill nach Hauſe 

in mein Kaͤmmerchen — 

ich, der junge, junge Jaͤgersmann. 


Begegnung 
Ich ſah dich ſchon. 


Im Sonnenſchein 
beim Roggenfeld am Wieſenrain 
ſtand wilder Mohn; 


25 


26 


die Kelche bluͤhten blutrot breit, 
den Schooß voll blauer Dunkelheit, 
und jaͤh aus einer Knoſpe quoll 
ihr gluͤhendes Seelchen, unruhvoll. 


So ſah ich Dich, du knoſpiges Kind, ergluͤhn, 
geſtern im Feld am ſtillen Fichtenhain, 

als im Voruͤbergehn mein Blick dich kuͤßte; 
mit allen Adern ſchienſt du aufzubluͤhn, 

ſo ſcheu und rein, 

als ob ich um Verzeihung bitten muͤßte. 


War's ein Ergluͤhn? War's nur ein Widerſchein? 
das Rot des roten Sommerkleids um dich? 
das Abendrot, das fern verglomm im Tann? 
War's ein Ergluͤhn, das erſte war es dann, 
das deine jungen Schlaͤfen ſo beſchlich; 

ſo bang, ſo ſchwer ſahſt du mich an, 

ſo faſt voll Angſt zuruͤck nach mir, 

als du verſchwandeſt ſacht im dichten 

Gewuͤhl der ſilbergruͤnen Fichten. 


Doch meine Seele folgte dir, 
dein blautief Auge blieb in mir. 


Ich ſah dich ſchon, 

du fluͤchtendes Kind: 

heiß durch den Roggen ſtrich der Wind 
und bebend neigte ſich der Mohn. 

Ich hab eine rote Bluͤte verwehn, 
zwiſchen den Halmen zerflattern ſehn, 
und habe den Blaͤttern nachgetraͤumt; 
und immer iſt mir noch, ich ſchaue 


in ihren Kelch, der glutumſaͤumt 
ſich jaͤh vertieft ins Dunkle, Blaue 


Unterm jungen Birnbaum 


Unterm jungen Birnbaum ſtandeſt du. 
An die erſten kleinen gruͤnen Fruͤchte 
ruͤhrteſt du entzuͤckt mit zartem Finger; 
letzte Bluͤten wehten um dich nieder. 


Unterm jungen Birnbaum ſtand auch ich. 
Meine harten Haͤnde rührten nicht 

an die kleinen gruͤnen erſten Fruͤchte; 
letzte Bluͤten wehten um mich nieder. 


Emporſturz 


Einmal, Erde, wollt ich dich kuͤſſen: 

ein Weib in Armen, jach Schooß an Schooß, 
zu Boden ſtuͤrzend in raſendem Tanz. 

Da winkte ein Maͤdchen mir zum Reigen, 
einen weißen Mantel um die Huͤften, 

in den tiefblauen Augen einſamen Glanz. 


Glanz aus fern aufſteigenden Raͤumen, 
Glanz aus laͤngſt verſunkener Zeit, 
Glanz des Mondes im ſtillen Meere, 
Glanz der Sterne uͤber der Wuͤſte: 
Lauterkeit. 


Und da lag ich im Staub und huͤllte 

meine grauen Haare in ihr Gewand, 

wie einſt Joſef hin vor Mirjam kniete, 
als er den heiligen Geiſt empfand. 


27 


Verkündigung 


Du tateſt mir die Tür auf, 

ernſtes Kind. 

Ich ſah mich um in deinem kleinen Himmel, 
laͤchelnde Jungfrau. 

Du ſollſt einſt einen großen Himmel huͤten, 
Mutter mit dem Kind. 

Ich tu die Tür mit ernſtem Lächeln zu. 


Einſt 
Ich ruhe; helle Wolken fliehn; 
mein Herz rauſcht wie das weite Feld. 
Fluͤgel leuchten — 
und uͤber die Wolken ſteigt ein Lied: 
Einſt brauchſt du keinen Menſchen mehr, 
du Herz der Welt! — 


Stimme des Abends 


Die Flur will ruhn. 

In Halmen, Zweigen 
ein leiſes Neigen. 

Dir iſt, als hoͤrſt du 

die Nebel ſteigen. 

Du horchſt — und nun: 
dir wird, als ſtoͤrſt du 
mit deinen Schuhn 

ihr Schweigen. 


Feierabend 


Geh nur, lieber Tag, 
freue dich der Nacht. 


Nichts bleibt unvollbracht; 
deines Lichtes Macht 
keimt im dunkeln Grund. 
Einſt wird alles kund, 
hell von Mund zu Mund, 
was uns heut im Traum erſt daͤmmern mag. 


Manche Nacht 


Wenn die Felder ſich verdunkeln, 
fuͤhl ich, wird mein Auge heller; 
ſchon verſucht ein Stern zu funkeln, 
und die Grillen wiſpern ſchneller. 


Jeder Laut wird bilderreicher, 

das Gewohnte ſonderbarer, 
hinterm Wald der Himmel bleicher, 
jeder Wipfel hebt ſich klarer. 


Und du merkſt es nicht im Schreiten, 
wie das Licht verhundertfaͤltigt 
ſich entringt den Dunkelheiten. 
Ploͤtzlich ſtehſt du uͤberwaͤltigt. 


Aus banger Bruſt 


Die Roſen leuchten immer noch, 
die dunkeln Blaͤtter zittern ſacht; 
ich bin im Graſe aufgewacht, 

o kaͤmſt du doch, 

es iſt ſo tiefe Mitternacht. 


Den Mond verdeckt das Gartentor, 
ſein Licht fließt uͤber in den See, 


29 


30 


die Weiden ſchwellen ſtill empor, 
mein Nacken wuͤhlt im feuchten Klee; 
fo liebt ich dich noch nie zuvor! 


So hab ich es noch nie gewußt, 
ſo oft ich deinen Hals umſchloß 
und blind dein Innerſtes genoß, 
warum du ſo aus banger Bruſt 
aufſtoͤhnteſt, wenn ich uͤberfloß. 


O jetzt, o haͤtteſt du geſehn, 

wie dort das Gluͤhwurmpaͤrchen kroch! 
Ich will nie wieder von dir gehn! 
O kaͤmſt du doch! 

Die Roſen leuchten immer noch. 


Helle Nacht 


Weich kuͤßt die Zweige 

der weiße Mond. 

Ein Fluͤſtern wohnt 

im Laub, als neige, 

als ſchweige ſich der Hain zur Ruh: 
Geliebte du — 


Der Weiher ruht, und 

die Weide ſchimmert. 

Ihr Schatten flimmert 

in ſeiner Flut, und 

der Wind weint in den Baͤumen: 
wir traͤumen — traͤumen — 


Die Weiten leuchten 
Beruhigung. 


Die Niederung 

hebt bleich den feuchten 

Schleier hin zum Himmelsſaum: 
o hin — o Traum — — 


Aufſtieg 


Als Engel durch die Finſternis, 

ſo wollten wir zu hoͤhern Sonnen; 
doch hab ich dich erſt ganz gewonnen, 
als Gott uns aus dem Traume riß. 


Blau fuhr ſein Blitzſtrahl durch die Weiten 
und zwang uns zur Hinunterſchau; 

da lag die Erde grell und grau 

mit allen ihren Wirklichkeiten. 


Wie lachte Satan auf zu mir, 

als du mich zu verlieren meinteſt. 

Wie ſchrie er ſelig, als du weinteſt: 

Sie traͤumt nicht mehr, ſie lebt mit dir! 


Druͤckende Luft 


Der Himmel dunkelte noch immer; 
ich fühlte tief bis in mein Zimmer 
der fahlen Wolken vollen Schooß. 
Die Eſche druͤben drehte ſchwer 

die hohe Krone um ſich her; 

zwei Blaͤtter trieben wirbelnd los. 


Laut tickte durch die ſchwuͤle Stube, 
wie durch die ſtille Totengrube 
der Holzwurm ticken mag, die Uhr. 


31 


32 


Und duch die Türe hinter mir 
Hang dünn und ſchuͤchtern ein Klavier 
uͤber den Flur. 


Der Himmel laſtete wie Schiefer: 

ihr Spiel klang immer trauertiefer, 

ich ſah ſie wohl. 

Dumpf rang der Wind im Eſchenlaub, 
die Luft war grau von Glut und Stand 
und ſeufzte hohl. 


Und blaſſer toͤnten durch die Waͤnde 
die taſtenden verweinten Haͤnde, 

ſie ſaß und ſang; 

ſang ſich das Lied, in ſich gebuͤckt, 
mit dem ſie mich als Braut entzuͤckt; 
ich fuͤhlte, wie ihr Atem rang. 


Die Wolken wurden immer dumpfer, 
die wunden Toͤne immer ſtumpfer, 
wie Meſſer ſtumpf, wie Meſſer ſpitz; 
und aus dem alten Liebeslied 
klagten zwei Kinderſtimmen mit — 
da fiel der erſte Blitz. 


Aufblick 


über unſre Liebe hängt 

eine tiefe Trauerweide. 

Nacht und Schatten um uns beide. 
Unſre Stirnen ſind geſenkt. 


Wortlos ſitzen wir im Dunkeln. 
Einſtmals rauſchte hier ein Strom, 
einſtmals ſahn wir Sterne funkeln. 


11,3 


Iſt denn Alles tot und truͤbe? 


Horch —: ein ferner Mund —: vom Dom —: 


Glockenchoͤre. .. Nacht... Und Liebe... 


Stiller Gang 


Der Abend graut; Herbſtfeuer brennen. 

Über den Stoppeln geht der Rauch entzwei. 
Kaum iſt mein Weg noch zu erkennen. 

Bald kommt die Nacht; ich muß mich trennen. 
Ein Kaͤfer ſurrt an meinem Ohr vorbei. 
Vorbei. 


Ein Grab 


Das ſind die Abende, die bleich verfruͤhten. 
Die Georginen, die im Sonnenſcheine 

wie rot und gelbe letzte Roſen gluͤhten, 
ſtehn fahl, Roſetten aus verfaͤrbtem Steine. 
Der Nebel klebt an unſern Huͤten. 


Komm, Schweſter. Dort der Zaun von Erz 
umgittert Eine, die zu fruͤh verblich. 

Komm heim; mich friert. Sie liebte mich. 
Sie hatte nichts vom Leben als ihr Herz; 
ſtill tat ſie wohl, ſtill litt ſie Schmerz. 


Klage 


In dieſen welken Tagen, 
wo Alles bald zu Ende iſt, 
ſturmzerfetzte Sonnenblumen 
uͤber dunkle Zaͤune ragen, 


33 


34 


Wolken jagen 
und den Boden flammenfarbne 
Blaͤtterſtuͤrze ſchlagen: 


da muͤſſen wir nun tragen, 
was wir uns mußten ſagen 


in dieſen welken Tagen. 


Einſt im Herbſt 


Durch den Wald, den ernſten alten Wald, 
ſprangen drei Maͤdchenrangen; 

hatten Flammen von Abendglanz im Haar, 
ſchwangen Zweige mit rotem Herbſtlaub, 
ließen ſie prangen, ja prangen. 


Kam ein Herr, ein ernſter alter Herr, 
durch den Glanz gegangen; 

bot ihm eine lachend ein Zweiglein dar, 
ſchoͤnes rotes Herbſtlaubzweiglein, 
lachend mit blutjungen Wangen. 


Stand er laͤchelnd, laͤchelnd im ernſten Wald, 
während fie weiterſprangen; 

ſchwang fein roſtrot Zweiglein im Abendglanz, 
ſah die ihren drei flammengolden 

fern noch prangen, ja prangen. 


Der geſunde Mann 


Meine Frau iſt krank, ſie 
wird wohl bald ſterben; 
dann kann ich lachen, 
dann werd'ich was erben. 


8* 


O, wie lieb mir das Leben im Leibe ſchlägt, 
wenn ihr Huſten mir das Herz zerſaͤgt; 
hilf Gott. 


Da ſitzt ſie am Ofen 

und laͤchelt ins Feuer; 

die Flammen roͤcheln 

ſo ungeheuer. 

Es kocht die Glut, ein Scheit zerſpringt, 
und eine ferne Glocke klingt: 

hilf Gott. 


Befreit 


Du wirſt nicht weinen. Leiſe, leiſe 

wirft du laͤcheln; und wie zur Reiſe 

geb ich dir Blick und Kuß zuruͤck. 

Unſre lieben vier Waͤnde! Du haſt ſie bereitet, 
ich habe ſie dir zur Welt geweitet — 

o Gluͤck! 


Dann wirft du heiß meine Haͤnde faſſen 
und wirſt mir deine Seele laſſen, 

laͤßt unſern Kindern mich zuruͤck. 

Du ſchenkteſt mir dein ganzes Leben, 
ich will es ihnen wiedergeben — 

o Gluͤck! 


Es wird ſehr bald fein, wir wiſſen's Beide. 

Wir haben einander befreit vom Leide; 

ſo geb'ich dich der Welt zuruͤck. 

Dann wirſt du mir nur noch im Traum erſcheinen 
und mich ſegnen und mit mir weinen — 

o Gluͤck! 


35 


36 


Troſt 


Du ſahſt eine Sternſchnuppe fallen: 
was hebſt du ſcheu die Hand? 
Sieh, kein Stern verſchwand: 

alle leuchten noch allen. 


Wunder 


Niemals war es mir ein Wunder, 
daß die Baͤume, wenn die Blätter fallen, 
all ſchon wieder voller Knoſpen ſtehn. 


Immer wird nun, wenn die Blaͤtter fallen, 
deine Frage mich bewegen: 
Kann man traurig auf dies Wunder ſehn? 


Kalte Frage 


Wo biſt du nun? Die Taͤler ſind verſchneit; 
es ſtarrt der Fluß, der geſtern noch ſich regte. 
Ich ſtaune in die bleiche Dunkelheit 

wie dort das Licht, das ferne, unbewegte. 


Winterwaͤrme 


Mit brennenden Lippen, 

unter eisblauem Himmel, 

durch den glitzernden Morgen hin, 
in meinem Garten, 

hauch ich, kalte Sonne, dir ein Lied. 


Alle Baͤume ſcheinen zu bluͤhen; 
von den reifrauhen Zweigen 
ſtreift dein Fruͤhwind 


ſchimmernde Floͤckchen nieder, 
gleichſam Fruͤhlingsblendwerk; 
habe Dank! 


An meiner Dachkante haͤngt 
Eiszapfen neben Zapfen, 
ſtarr; 

die fangen zu ſchmelzen an. 
Tropfen auf Tropfen blitzt, 
jeder dem andern unvergleichlich, 
mir ins Herz. 


Kein Bleiben 


Immer dichter 
fluͤchtet der Schnee. 
Ich ſteh und ſeh 
die Flocken treiben, 
um Straßenlichter, 
ſtumme Geſichter, 
immer dichter. 
Nur nicht bleiben: 
weiter, weiter, 
einſamer Schreiter! 


Heimweh in die Welt 


O wie lange litt ich's nun, wie ſtumm! 

ſoll ich denn mein Herz, mein Herz noch toͤten? 
War doch dein, nur dein, in Glut und Noͤten; 
weißt warum? 

Weil mein Herz ſo wild, 

weil es Meere braucht, 


37 


38 


wenn der Sturm ins Blut mir taucht, 
weil es deine Tiefen fo gefühlt! 


Doch wenn nun der Fruͤhling wieder ſprießt 
— o, ich fuͤhls, ich fuͤhls, fo ſtumm ich blieb — 
und im warmen Sturm der junge Trieb 
ſchwillt und ſchießt: 

wird mein Herz ſo wild, 

weil es Meere braucht, 

wenn der Sturm ins Blut mir taucht, 
weil es ſo in alle Weiten fuͤhlt! 


Haſt es doch gewußt. Damals im Mai: 

als uns auf der Bergwand der Blitz umlohte, 
als ich jauchzte und dem Donner drohte, 
adlerfrei: 

gabſt mir deine Hand, 

mein in Glut und Schmerz, 

ſankeſt mir ans wilde Herz, 

unten glaͤnzte fern das deutſche Land. 


Und wenn nun der Fruͤhling bluͤhen will 
und die herrlichen Blitze wieder gluͤhn 

und im Sturm die Meere wieder ſpruͤhn: 
dann — oh ſtill — 

gieb mir deine Hand, 

Einmal noch ein Schmerz, 

Einmal noch ein deutſches Herz, 

dann leb wohl, mein Weib, mein Vaterland! 


über frei Feld 


Über frei Feld, mein Hund und ich; 
die Fruͤhlingsluft iſt dunkel. 


Fern ſtaut ſich ein Gewitterſtrich; 


mein Teckel knurrt, er fuͤrchtet ſich. 
Komm, Teckel. 


Er will nicht ſehn die Himmelswand, 

die Sonne ſticht durch Wolken; 

blendende Streifen ziehn durchs Land, 

ein Scherben blitzt wie Diamant. 
Komm, Teckel. 


Am Saum der Saat, von Stiel zu Stiel, 

ſchleicht ungewiß ſein Schatten; 

ein Regen ſpruͤht wie Müdenfpiel, 

die Tropfen flimmern ohne Ziel. 
Komm, Teckel. 


Da: jaͤh am Horizont hin zuckt 


der erſte Blitz im Jahre. 


Ein kurz entſchloſſner Donner ruckt; 
mein Teckel hat ſich ſcheu geduckt. 
Hundsſeele! 


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40 


Zweiter Teil 
* 
Der Fruͤhlingskaſper 


Weil nun wieder Fruͤhling iſt, 
Leute, 

ſtreu ich butterblumengelber Kaſper 
lachend 

lauter lilablaue Aſternbluͤten 

hei ins helle Feld! 


Lilablaue Aſtern, liebe Leute, 

Aſtern 

bluͤhn im deutſchen Vaterland bekanntlich 
blos im Herbſt. 


Aber Ich, ich butterblumengelber Kaſper, 
ſtreue, 

weil nun wieder heller Fruͤhling iſt, 
tanzend 

tauſend dunkelblaue Aſternbluͤten 

hei in alle Welt! 


Entladung 


Ich kam mit meinem Alpenſtocke 

und offner Bruſt vom Berg geſchlendert; 
begegnet mir im Ordensrocke 

ein Zug von Nonnen, grau bebaͤndert, 
zehn ſchwarze Paare. 


Den Blick zu Boden, ſteif und ſtumm, 
ſo kamen ſie dahergeſtiegen; 


ich ſeh die Täler ringsherum 
in leichenhaftem Glanze liegen, 
Gewitter drohte. 


Fern unten, wo noch Sonne gaͤhrte, 
zog durch den wolkendunkeln See 
ein Dampfſchiff ſeine blanke Faͤhrte, 
und Tuͤcher winken hell Ade; 

ich ſchau nach Oben. 


Wie ſieht die Bergwand duͤſter aus! 
Ein greller Kirchturm ſteht davor 
und fordert frech den Blitz heraus; 
die Tannen ſtraͤuben ſich empor 

wie Warnungszeichen. 


Und herriſch kommt der Wind geſauſt, 
die Straße her, mit Staub und Friſche, 
und nimmt die Birken in die Fauſt 
und ſchuͤttelt ſie wie Flederwiſche; 

es donnert ſchon. 


Die ſtrengen Ordensroͤcke ſtieben; 

nur raſch vorbei, ihr armen Schweſtern! 
ihr duͤrft nur tote Heilige lieben. 

Raſch! Eure ſtumpfen Blicke Kasten 
Natur und Leben. 


Ah: wie die Gletſcherkanten gluͤhn! 
Vom Dampfer hoͤr ich Juchzer klingen; 
der Regen klatſcht ins wilde Grün, 
und mit dem Wirbelwinde ringen 
vierzig Nonnenwaden. 


41 


42 


. 


Da hob ich meine Alpenſtange 
und ſchlug ein Kreuz auf ihren Trott, 
und lachte laut und lachte lange, 
und herzlich herzlos, wie ein Gott — 
fie hoͤrten's. 


Anbetung 


Letzter Schritt, und hoch mit mir 


ſtrebt der Turm ins Licht; 
und vom Steigen auf zu Dir 
bebt mein heiß Geſicht. 


Hier, wo keine Menſchen ſind, 
ſieh mich niederknien! 

Ums Geſimſe ſauſt dein Wind, 
und ich fuͤhle ihn, 


wie er an das Steingeruͤſt 
ſeine Haͤnde legt 

und es ſchuͤttelt und es kuͤßt 
und mein Haar durchfegt. 


Durch die Glocken unter mir 
rauſcht ſein Atemſtrom. 

Sonne, Sonne, Schoͤpferin, Dir 
bebt der ganze Dom, 


den o Dein Dom uͤberblaut, 
und den ſchaffensbang 

einſt ein Menſch wie Ich gebau 
Menſch im Überſchwang! 


Ausblick 


Jetzt einen Schritt, dann ſtuͤrzt vom Rande 
mein Leben in die Schlucht hinab. 

Wie haͤngt die Sonne tief im Lande! 

Ich recke mich auf meinem Stande, 

und alle Sehnſucht faͤllt mir ab. 


Denn dort aus Wald⸗und⸗Wolkenkraͤnzen 
ragt mir erreichbar Firn an Firn. 

Die Wirklichkeit iſt ohne Grenzen! 

Wie nah die fernen Doͤrfer glaͤnzen, 

der Strom dazwiſchen wie ein Zwirn! 


Ich lehne mich zuruck mit Grauen: 
was iſt hier groß, was iſt hier klein. 
Da bluͤht ein Enzian: nun ſchauen 
zwei Menſchenaugen in den blauen, 
einſamen, winzigen Kelch hinein. 


In gelben Pollen reift der Samen, 
Unendlichkeiten ahnen mir; 

und ſelig ruf ich einen Namen — 
du Mutter meiner Kinder, Amen, 

mein Leben bluͤht, ich danke dir! 


Ideale Landſchaft 


Du hatteſt einen Glanz auf deiner Stirn, 
und eine hohe Abendklarheit war, 

und ſahſt nur immer weg von mir, 

ins Licht, ins Licht — 

und fern verſcholl das Echo meines Aufſchreis. 


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Auf See 


Doch hatte niemals tiefere Macht dein Blick, 
als da du, Abſchied fuͤhlend, ſtill am Ufer 
ſtandeſt, ſchwandeſt. Nur der Blick noch 
blieb und bebte uͤber den Waſſern. 


Dunkel folgte der Schein den leuchtenden Furchen. 
Und ich ſah den Schaum der tiefen Flut, 

ſah dein weißes Kleid zerfließen: 

du Seele — Seele — — 


Geſang vor Nacht 


Im großen Glanz der Abendſonne 
ſchauert die See; ſacht ſteigt die Flut. 
Im großen Glanz der Abendſonne 
ergreift auch mich die weite Glut. 
Im großen Glanz der Abendſonne 
brauſt immer feuriger mein Blut: 
Noch ſteigt die Flut — 

im großen Glanz der Abendſonne. 


larer Tag 


Der Himmel leuchtet aus dem Meer; 
ich geh und leuchte ſtill wie er. 


Und viele Menſchen gehn wie ich, 
ſie leuchten alle ſtill fuͤr ſich. 


Zuweilen ſcheint nur Licht zu gehn 
und durch die Stille hinzuwehn. 


Ein Lüftchen haucht den Strand entlang: 
o wundervoller Muͤßiggang. 


Dunkle Gewalt 


Wieder! Da kommt ſie durchs Gewimmel. 
An ihrem Buſen, in der Rechten, 

wie Nachtgewoͤlke ruhn am Himmel, 

die aufgerafften dunklen Flechten — 


beſtricken meinen Blick wie Schlangen, 
mir traͤumt von Paradieſesnaͤchten — 
Was ziehſt du ploͤtzlich ſo voll Bangen 
den Mantel, Weib, vor deine Flechten? 


Ballade von der wilden Welt 


Schoͤne ſtille Seele 

hatte einen Garten, 

rings um den Dornheckenwerk 
und Urwalddickicht ſtarrten, 
einen Blumengarten. 


Schoͤne ſtille Seele 
ſaß in ihrem Zelt, 
bebte vor den Haͤßlichkeiten 
oh der wilden Welt, 
in ihrem ſeidnen Zelt. 


Schoͤne ſtille Seele 

ſah gern Kolibris 

durch die Bluͤtenbuͤſche huſchen 
uͤberm warmen Kies, 

die goldnen Kolibris. 


* 
wa 


4 


Und die bunten Schmetterlinge, 
und die blanken Schlangen; 
ſchoͤne ſtille Seele 

ſah fie gern im Dickicht prangen, 
die ſonneblanken Schlangen. 


Sah auch gern die blauen Blitze 
uͤber den Waͤldern jagen 

und die fernen ſchneebedeckten 
Kraterberge ragen; 

ſchoͤne ſtille Seele! 


Schoͤne ſtille Seele 

erſchrak auf einmal ſehr: 

durch das Dornwerk drang ein hoher 
wilder Fremdling her. 

Seele bebte ſehr. 


Fremder Weltumſegler, 

ich ſaß ſo ſchoͤn allein; 

du wirſt mich Schlange ſchelten, 
dann werden wir haͤßlich ſein. 
Und ſtehſt ſo ſchoͤn allein. 


Schoͤne ſtille Seele 

konnt alldas nicht ſagen, 

ſah den Fremdling vor ſich hoͤher 
als die Berge ragen; 

konnt kaum Willkomm ſagen. 


Konnt ihn nur empfangen endlich, 
Ihn — o wilde Welt — 

Blitze, Bluͤten, Kolibris 

jagten um ihr Zelt — 

ſchoͤne wilde Welt! — 


Herr und Herrin 
N Ein Mann: g 

Oa du ſo ſchoͤn biſt, darf ich dich beſchwoͤren, 
errege nicht mein leicht erregtes Blut. 

Da du ſo ſchoͤn biſt, kann ich dir nicht wehren, 
daß deine Hand zu ſehr in meiner ruht. 

Da du ſo ſchoͤn biſt, muß ich dich begehren, 
denn alle Schoͤnheit iſt mir freies Gut. 

Da du ſo ſchoͤn biſt, will ich dich zerſtoͤren, 
damit es nicht ein Andrer tut 


Das Weib: 
Da du ſo ſtark biſt, darfſt du mich begehren, 
doch meine Schoͤnheit bleibt mein freies Gut. 
Da du ſo ſtark biſt, kannſt du mich zerſtoͤren, 
wenn dir die Tat nicht ſelbſt zu wehe tut. 
Da du ſo ſtark biſt, mußt du mir beſchwoͤren, 
daß du beſchuͤtzen wirſt mein ſchutzlos Blut. 
Da du ſo ſtark biſt, will ich dir nicht wehren, 
daß deine Hand in meiner ruht 


Ballade vom Kuckuck 


Du haſt zwei ſchoͤne Kinder, Frau, 
ſie ſpielen um unſre Fuͤße im Gras: 
was ſchweift dein Blick in die Wolken? 


„Ich warte auf meinen Kuckuck, Mann; 
er ruft mir immer von fern was zu, 
immer zu, wenn die Kinder ſpielen.“ 


Was hat er dir zuzurufen, Frau? 
Was ſchweift dein Blick ſo fremd und bang, 
daß mir graut fuͤr unſre Kinder? 


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„Unſre Kinder bleiben nicht unſer, Mann; 
ſie ſpielen mit Blume und Schmetterling, 
einſt horchen ſie auch auf den Kuckuck.“ 


So will ich den Kuckuck totſchießen, Frau! 


Ich ſchoß ſchon manchen Habicht tot, 
der unſer Huͤhnervolk ſchreckte. 


„Kam immer wieder ein Habicht, Mann; 
kommt immer wieder ein Kuckuck von fern. 
Horch — nun ſchreckt dich ſelber ſein Lockruf.“ 


Vorſpiel 


Sie iſt nur durch mein Zimmer gegangen 
und hat mir ſcheu von Traͤumen erzaͤhlt; 
und ich habe ſie mit Troſt gequaͤlt 

und ſaß und ſtarb faſt vor Verlangen. 


Sie hat getraͤumt von meinen Haͤnden: 

ſie aß von ihres Mannes Brot, 

da kam ich an und druͤckte ſie tot, 

fie hielt ganz fill... Wie wird das enden 


Wellentanzlied 


Ich warf eine Roſe ins Meer, 

eine bluͤhende Roſe ins gruͤne Meer. 

Und weil die Sonne ſchien, Sonne ſchien, 
ſprang das Licht hinterher, 

mit hundert zitternden Zehen hinterher. 

Als die erſte Welle kam, 

wollte die Roſe, meine Roſe, ertrinken. 

Als die zweite ſie ſauft auf ihre Schultern nahm, 


11. 4 


mußte das Licht, das Licht ihr zu Füßen ſinken. 
Da faßte die dritte ſie am Saum, 


und das Licht ſprang hoch, zitternd hoch, wie zur Wehr; 


aber hundert tanzende Bluͤtenblaͤtter 
wiegten ſich rot, rot, rot um mich her, 
und es tanzte mein Boot, 

und mein Schatten auf dem Schaum, 
und das gruͤne Meer, das Meer — — 


Bewegte See 


Noch Einmal ſo! Im Nebel durch den Sturm: 
das Segel knatterte, die Schiffer ſchrieen, 

am Bugſpriet ſtand das Waſſer wie ein Turm, 
ich fuͤhlte deine Angſt in meinen Knieen 

und ſah dein ſtolz und fremd Geſicht. 


Noch Einmal wollte mir dein Auge drohn, 
wie eine Flamme ſtand dein Haar im Winde, 
doch in den Wellen rang ein Ton 

wie das Gewein von einem Kinde — 

da wehrteſt du mir nicht: 


Um meine Lippen lag dein naß wild Haar, 
um deine Schulter lag mein Arm gezogen, 
und unſern Kuß verſuͤßte wunderbar 

der Schaum der ſalzigen Sturzwogen — 
da ſchrie ich laut vor Freude auf. 


Noch Einmal ſo! Was tuſt du jetzt ſo kalt, 

haſt du denn Furcht vorm offnen Meere? 

Es peitſcht dich warm! Komm bald, komm bald! 
im Hafennebel tanzt die Faͤhre — 

hinaus! hinauf! 


49 


so 


Der Sturm 


Der Sturm ging noch die ganze Nacht, 
ganz daß die Nacht dem Abend glich. 
Ich bin fortwaͤhrend aufgewacht: 

wie war der Abend ſchauerlich! 

Uns ſchnitt der Ton bis unters Herz; 
dann haben wir noch mehr gelacht — 
Du, dein Mann, und ich. 


Verklaͤrung 


Schwer ſind dir die grauen Tage? 
Seele, komm: ich nehm dich ganz, 
wie du willſt, du liebe Plage! 

Horch, der Regen rauſcht wie Tanz, 
und die Windsbraut ſingt und geigt: 
Nichts iſt ſchwer, ſind wir nur leicht! 


Schwingen wir nur erſt im Reigen, 
hingeriſſen Spur in Spur, 

braucht kein Engel mehr zu geigen, 
Erde wird zur Himmelsflur. 

Tanze, leichte Seele, tanz: 

jeder Tag hat ſeinen Glanz! 


Das Schloß 


Ich bin arm, du biſt reich, 

darum bau ich dir ein Schloß 

aus meinen purpurnſten Traͤumen. 
Das ſteht am grauen Nordſeedeich, 
wo die funkelndſten Wellen ſchaͤumen. 


4* 


Denn unſre Liebe ift fo groß, 

daß die ganze Welt mir ein Spiel iſt; 
und alle Meere um unſer Schloß 
ſtaunen, was mein Ziel iſt. 


Mein Ziel iſt eine tiefe Nacht: 

wir ſchwimmen auf unſerm Schloſſe, 
und die Wellen ſpringen an unſre Pacht 
wie trunken ſchreiende Roſſe. 


Und ich laſſ ein wildrotes Nordlicht ſcheinen, 
du liegſt vor mir in Flammen, 

und unſer gluͤhendes Schloß ſtuͤrzt ein, 

und wir ſtuͤrzen mit ihm zuſammen 

und ertrinken — — 


Der Schwimmer 


Gerettet! Und er ſtreichelt den Strand, 
um den er rang mit dem wilden Meer; 
noch peitſcht der weiße Giſcht ſeine Hand. 
Und er blickt zuruck aufs wilde Meer. 


Und blickt um ſich ins graue Land; 
das liegt im Sturm, wie's vorher lag, 
feſt und ſchwer. 


Da wirds nun ſein wie jeden Tag. 
Und er blickt zuruͤck aufs wilde Meer 


Beſchwichtigung 


Die Nacht wird kuͤhl; mein Schatten kriecht 
im Sand am Rand des Ozeans. 


51 


Der Mond vergießt fein fremdes Licht 
und nimmt den Sternen ihren Glanz. 
Die See rauſcht. 


Was qguaͤl ich mich! Hier trieb vielleicht 
ſchon manches Paar ſein loſes Spiel, 
und ſind ergluͤht und ſind erbleicht, 
und ſprachen dann vom Tode viel. 

Die See rauſcht. 


Wenn alles Land gefroren iſt, 

wenn uͤbers eingeſchneite Feld 

die Sonne ihren Glanz ergießt, 

dann wird dir fremd ſein, was dich quaͤlt. 
Die See rauſcht. 


Lied an den Mond 


Willkommen, weißer Mond im Blauen, 
allein! 

Laß mich in Deine Heimat ſchauen, 
ſei mein! 

Ich ſitz im Dunkeln voll Geduld, 
du ſcheinſt! 

O leuchte jedem heim voll Huld, 
dereinſt! 


Gruß 


Schlaflos lieg' ich, wie im Fieber 
ſtarr'ich in ein Schattenmeer: 
endlich glaͤnzt vielleicht ihr lieber 
Augenſtern darüber her. 


Endlich — und zwei Seelen braͤchten 
ſolchen Gruß ſich durch die Welt, 
wie aus hohen Sommernaͤchten 
Stern zu Stern vom Himmel fällt. 


Aufglanz 


Der Mond iſt neu geworden, 

nun kommen die dunkeln Naͤchte; 

da klopft das Herz mit ſtaͤrkerem Schlag 
und wuͤnſcht ein andres Herz herbei, 

an dem es ergluͤhen moͤchte. 

Gluͤhn bis ins ruheloſe 

dunkelſte Blut hinein: 

o Nacht, gib Licht, 

o Tag, erſchein, 

die Welt iſt neu geworden! 


Morgenſtunde 


Ob du wohl auch ſo ſchlaflos liegſt 

und dich in wachen Traͤumen wiegſt 

vor Gluͤck, wie ſehr die Sehnſucht brennt? 
Ich ſchau ins dunkle Firmament: 

der Morgenſtern, in großem Bogen, 

iſt langſam laͤngſt heraufgezogen 


und laͤßt mich laͤchelnd fuͤhlen, was uns trennt. 


Vor meinen ſchwachen Augen 

— nun weiß ich doch, zu was ſie taugen — 
ſtrahlt er, je hoͤher her, je flimmernder. 
Weihnaͤchtig glänzt die graue Stille. 

O zoͤgre, Alltag! Ohne Brille 

ſieht man die Welt unendlich ſchimmernder. 


53 


54 


Schon aber glitzert fein Gezitter blaſſer; 

nun ſteh ich auf und geb der Lilie Waſſer, 
die du mir geſtern heimlich brachteſt. 

Und wenn du mich dafuͤr auslachteſt: 

ſanft nehm ich ſie von ihrer Staͤtte 

und leg ſie auf mein warmes Bette 

und fuͤhle laͤchelnd, wie du nach mir ſchmachteſt. 


Ruf 


Immer ſtiller ſtehn die Baͤume, 

nicht ein Blatt mehr ſcheint zu leben, 
und ich fuͤhle Wuͤſtentraͤume 

durch den bangen Mittag beben, 


bis ins bange Blut mir zittern, 
bis ins Herz, wie Feuerpfeile. 
O, ich lechze nach Gewittern! 
Komm, Geliebte! eile! eile! 


Berädung 


Und du kameſt in mein Haus, 
kamſt mit deinen ſchwarzen Blicken; 
ſah ich ferne Palmen nicken, 

und du gabſt mir deinen Strauß. 


Gabſt die zitternden Narziſſen, 

die wir in der Wildnis pfluͤckten; 

deine ſchwarzen Locken ſchmuͤckten 

meines Diwans rote Kiffen. | 


Kehre wieder in mein Haus, 
laß die wilden Blumen bluͤhen! 


Unſre jungen Lippen gluͤhen; 
gieb mir, gieb mir deinen Strauß! 


Wirrſal 


Weine nicht, mein treues Weib! 
Jene Andre, die mich auch liebt, 
die begluͤckt wohl meinen Leib, 

aber Du haſt meine ganze Seele. 


Und du biſt ihr nicht verhaßt. 

Mußt du ſie nicht mit mir lieben, 

die ſo innig zu mir paßt 

wie mein ganzer Leib zu meiner Seele? 


Sie begluͤckt doch dieſen Leib, 

den ſie liebt und der ſie auch liebt, 

wie er Dich begluͤckt, mein Weib! 

Und dann hat fie meine ganze Seele. 


Nach einem Regen 


Sieh, der Himmel wird blau; 

die Schwalben jagen ſich 

wie Fiſche uͤber den naſſen Birken. 
Und du willſt weinen? 


In deiner Seele werden bald 

die blanken Baͤume und blauen Voͤgel 
ein goldnes Bild ſein. 

Und du weinſt? 


55 


56 


Mit meinen Augen 
ſeh ich in deinen 
zwei kleine Sonnen. 
Und du laͤchelſt. 


Der gute Hirte 


Laßt uns endlich heiter wandeln 
durch die grillenvolle Welt! 
Wenn wir unbekuͤmmert handeln, 
iſt das Schwerſte leicht beſtellt. 
Gluͤck macht jede Seele fromm; 
eil dich, Rahel! Lea, komm! 


Saht ihr je die Laͤmmer ſtreiten, 
wen der Hirte lieber hab? 

Alſo laßt die Zwiſtigkeiten, 

zaͤrtlich winkt mein Jakobsſtab. 
Seht, ſchon zieht der Mond herauf; 
eil dich, Rahel! Lea, lauf! 


Mach ich euch nicht gluͤcklich Beide, 
wenn auch meiſtenteils allein? 
Schmachtend ſchimmern Wald und Weide: 
wer wird heut die Einzige ſein? 

O, wie lieblich riecht der Klee; 

eil dich, Rahel — Lea, geh — — 


Stimme im Dunkeln 


Es klagt im Dunkeln irgendwo. 
Ich moͤchte wiſſen, was es iſt. 
Der Wind klagt wohl die Nacht an. 


Der Wind klagt aber nicht fo nah. 
Der Wind klagt immer in der Nacht. 
In meinen Ohren klagt mein Blut, 
mein Blut wohl. 


Mein Blut klagt aber nicht ſo fremd. 
Mein Blut iſt ruhig wie die Nacht. 
Ich glaub, ein Herz klagt irgendwo. 


Über den Suͤmpfen 


Wo wohnſt du nur, du dunkler Laut, 
du Laut der Gruft? 

Was rinnt und raunt durch Schilf und Duft 
und gluͤht wie Augen durch die Luft, 
durch Rohr und Kraut? 


Es lehnt die Nacht am offnen Tor 
und weint und winkt. 

Zwei graue Hunde ſtehn davor 
und lauſchen mit geneigtem Ohr, 
wie's klingt, 

lockt, blinkt. 


Erwartung 


Aus dem meergruͤnen Teiche 
neben der roten Villa 
unter der toten Eiche 
ſcheint der Mond. 


Wo ihr dunkles Abbild 
durch das Waſſer greift, 


57 


ſteht ein Mann und ſtreift 
einen Ring von ſeiner Hand. 


Drei Opale blinken; 
durch die bleichen Steine 
ſchwimmen rot und gruͤne 
Funken und verſinken. 


Und er kuͤßt ſie, und 

ſeine Augen leuchten 

wie der meergruͤne Grund: 
ein Fenſter tut ſich auf. 


Aus der roten Villa 
neben der toten Eiche 
winkt ihm eine bleiche 
Frauenhand 


Im Reich der Liebe 


O Du, dein Haar, wie ſtrahlt dein Haar, 
das iſt wie ſchwarze Diamanten! 

O, weil wir uns als Herrſcherpaar 

der ewigen Seligkeit erkannten, 

Du! 


Schmuͤck mir die Stirn du, nackt und bloß, 
mit dieſem Band aus blauer Seide! 
Das ging dir los von deinem Schooß, 
als wir noch ſtrauchelten im Kleide 

jener Welt. 


Hier ſind wir Gott gleich, ſieh mich an: 
oh Gott, wie Eins ſind wir geworden! 


Hier kannſt du ruhig deinen Mann 
mit mir betruͤgen, fuͤr mich morden, 
Du — — f 


Nun erſt 


Hab Dank! wir waren Mann und Weib, 
es iſt geſchehn; 

nun laß uns wieder aufrecht gehn, 
allein und klar. 

Wir wollen uns nicht truͤb geberden; 
wir koͤnnen nun erſt Freunde werden, 
ganz und wahr. 


Du weißt ja gut, wie's enden kann; 
am Weg ins Tal, 

du ſahſt, da lag es, einſam, kahl, 
das alte Liebesgrab im Wald. 

Es war nicht Zufall, was dich fuͤhrte: 
ich wollte pruͤfen, wie's dich ruͤhrte: 
du lachteſt kalt. 


Das tat mir wohl, das klang ſo frei 
aus dir heraus in mich herein. 

Doch unten lag im Abendſchein 

der dunkle See. 

Im Waſſer ſpielten lange Streifen; 
die ſchienen gluͤhend ſich zu greifen, 
der Nix die Fee. 


Die Sonne ſank; die Waſſerglut 
iſt nun zur Ruh. 
Das war nicht Ich, das warſt nicht Du, 


60 


was uns bezwang. 

Denn ob wir unſer maͤchtig waren, 
das ſoll ſich nun erſt offenbaren. 
Hab Dank! 


Mannesbangen 


Du mußt nicht meinen, 

ich haͤtte Furcht vor dir. 
Nur wenn du mit deinen 
ſcheuen Augen Gluͤck begehrſt 
und mir mit ſolchen 
zuckenden Haͤnden 

wie mit Dolchen 

durch die Haare faͤhrſt, 

und mein Kopf liegt an deinen Lenden: 
dann, du Wehrloſe, 

beb'ich vor dir 


Der weiſe Koͤnig 


Ich will nicht immer kuͤſſen; 

ich will nur fuͤhlen, du biſt mein! 
Und wenn du noch viel nackter waͤrſt, 
ich wuͤrde lieber zu Stein, 

als heut dich kuͤſſen. 


Gieb mir die ſtillſte Stille, 

die du geben kannſt. 

Dann will ich wie der Mondſchein dort, 
der auf den Blaͤttern tanzt, 

bei dir bleiben. 


So ſprach der weiſe König. 

Da fiel ein Blatt in ihren Schooß, 
der Wind fuhr durch den Mondſchein; 
ſie aber nickte blos 

und kuͤßte es. 


Er iſt bei ihr geblieben, 

er riß ihr das Blatt vom Munde; 

er iſt die ganze Nacht geblieben 

und hat fie — Gott weiß wie ſtill — gekuͤßt, 
wohl hundertmal die Stunde. 


Stilles Zeichen 


Mir war ein Roſenblatt im Haar geblieben. 
Ich ſaß und ſann noch uͤber die Geberde, 
mit der ich mich aus deinem Arm befreit, 
und ſah zur Erde; 

da fiel das rote Blatt 

in meine Einſamkeit. 


Die Kette 


Du haſt mir eine Kette geſchenkt. 

Ich ſoll ſie um meinen Nacken legen. 

Ich werde ſie tragen, um meinen ſtolzen Hals, 
offen auf meiner Bruſt vor allen Leuten: 

Du haft mir ja die Kette geſchenkt. 

Ich möcht auch heimlich mein Herz dran haͤngen; 
Himmel, mein Herz, woran haͤngt es ſchon? 

An den Blicken meiner treuen Frau, 

an den Locken manches treuloſen Fraͤuleins, 

an den Schmuckſachen, die ſie zu Weihnachten wuͤnſchten, 


61 


62 


den Schmetterlingen, die wir im Hochſommer haſchten, 
an den Zugvoͤgeln, die jetzt uͤber uns wegziehn, 

den fremden Blumen, die ſich jenſeits der Meere 
auf paradieſiſchen Baͤumen ſchaukeln, 

an dem unvergeßlichen Horizont meiner Heimat 
und den feurigen Sternen nie erblickter Zenithe, 

an alldem, alldem haͤngt mein Herz, 

mein armes Herz. Sprecht, guͤtige Sterne: 

wie faſſ ich ſoviel Reichtum zuſammen? — 

Du haft mir eine Kette geſchenkt! — — 


Ein Ring 
Ich trug einen Ring mit drei Opalen. 
Viel Maͤrchen ſchuf der bleiche Stein; 
ſcheu wie das Gluͤck ſind ſeine Strahlen, 
Waſſer ſoll ihren bunten Schein 
wie Gift zernagen. 


Ich kenn ein Weib, das hat all meine 
bleiche bunte Sehnſucht lieb; 

ſie gab mir mehr als edle Steine, 
doch ſollt ich alles wie ein Dieb 
heimlich tragen. 


Ich hab eine Frau, die ſchenkt mir klar, 
wie eine Quelle unverſchloſſen, 

ihren Frieden immerdar; 

ſie weinte, ihre Traͤnen floſſen 

auf die Opale. 


Ich trug den bleichen Ring zuruͤck; 
aber das Maͤrchen hat gelogen. 
Noch glaͤnzt der Stein und glaͤnzt mein Gluͤck, 


* 


. ee in inet 


glänzt wie der bunte Regenbogen 
im Waſſerſtrahle. 


Der Fluß 


In den abendgelben Fluß 

grub mein Ruder ſchwarze Trichter; 
ohne Wort und ohne Kuß 

ſahn wir auf die Wellenlichter, 
ſahn wir eine dunkle Bucht 

ſtill das kahle Ufer ſpiegeln, 

ſahn der Berge ſtarre Wucht 

ſeine wirbelvolle Flucht 

vor uns, hinter uns verriegeln. 


Als wir dann um Mitternacht 

in der Stadt mit Fluͤſterlauten 
auf der hohen Bruͤckenwacht 
ſtanden und hinunterſchanten, 
ſchienen uns die ſchwarzen Mauern 
in dem grauen Waſſerſchacht 

ihren Einſturz zu belauern. 


Still, die Sonne kommt herauf. 
Klar verfolgen meine Traͤume 
bis zum Meer hin ſeinen Lauf; 
fern durch morgenrote Baͤume 
ſteigt der blaue Nebel auf. 


Naͤchtliches Zwiegeſpraͤch 


„Was ſind das fuͤr Maͤnner, 
die dort ins Dunkel zeigen?“ 


Ich ſehe ſie nicht. 
63 


64 


„Dort bei dem Feuer am Fluß 
die glänzenden Haͤnde!“ 
Seltſam. 


„Der Bruͤckenbogen ſteht voll Menſchen!“ 
Totenſtill. 


„Und dort, ſieh dort: das leere Boot!“ 
Was bebſt du — 


„Oh, mein Geliebter, verlaß mich nicht!“ 


Ruͤckblick 


In dieſem Jahr verlor ich einen Freund. 

Hier unterm Nußbaum ſprachen wir uns aus. 

Das Laub wird gelb; es wartet auf den Wind. 
Iſt das der Schluß? 


Hier unterm Nußbaum gab mir eine Frau 

in dieſem Jahr erroͤtend ihre Hand. 

Still weht ein Blatt und treibt ins welke Gras. 
Iſt das der Schluß? 


In dieſem Jahr ... Vor meine Füße fällt 

ein dumpfer Schlag zu Boden und zerplatzt, 

und aus der Kapſel rollt die rauhe Frucht. 
Das iſt der Schluß! 


Mein Wald 


Der Herbſt ſtuͤrmt ſeine Taͤnze. 
Durch duͤrre Blaͤtter muß ich gehn; 
in meinen Wald. 


II. 5 


In meinem lieben Wald, 

wo nicht ein Baum mein eigen iſt, 
gehn fremde Leute durch den Wind 
und ſagen: es iſt kalt. 


Und da ſteht auch mein Stein, 
auf dem ich manchmal ſitze, 
wenn mein Herz ſtuͤrmt. 


Die Harfe 


Unruhig ſteht der hohe Kiefernforſt; 
die Wolken waͤlzen ſich von Oſt nach Weſten. 
Lautlos und haſtig ziehn die Kraͤhn zu Horſt; 


dumpf tönt die Waldung aus den braunen Aſten. 


Und dumpfer toͤnt mein Schritt. 


Hier uͤber dieſe Huͤgel ging ich ſchon, 


als ich noch nicht den Sturm der Sehnſucht kannte, 


noch nicht bei euerm urweltlichen Ton 
die Arme hob und ins Erhabne ſpannte, 
ihr Rieſenſtaͤmme rings. 


In großen Zwiſchenraͤumen, kaum bewegt, 
erheben ſich die graugewordnen Schaͤfte; 
durch ihre gruͤngebliebnen Kronen fegt 

die Wucht der lauten und verhaltnen Kraͤfte 
wie damals. 


Und Eine ſteht wie eines Erdgotts Hand 

in fuͤnf gewaltige Finger hochgeſpalten; 

die glaͤnzt noch goldbraun bis zum Wurzelſtand 
und langt noch hoͤher als die ſtarren alten 
einſamen Staͤmme. 


65 


Durch die fünf Finger geht ein zaͤher Kampf, 


66 


als wollten fie ſich aneinanderzwaͤngen; 

durch ihre Kuppen wuͤhlt und ſpielt ein Krampf, 
als riſſen ſie mit Inbrunſt an den Straͤngen 
einer verwunſchnen Harfe. 


Und von der Harfe kommt ein Himmelston 

und pflanzt ſich maͤchtig fort von Oſt nach Weſten. 
Den kenn ich tief ſeit meiner Jugend ſchon: 
dumpf toͤnt die Waldung aus den braunen Aſten: 
komm, Sturm, erhoͤre mich! 


Wie hab ich mich nach einer Hand geſehnt, 
die maͤchtig ganz in meine wuͤrde paſſen! 
wie hab ich mir die Finger wund gedehnt! 
die ganze Hand, die konnte Niemand faſſen! 
Da ballt ich ſie zur Fauſt. 


Ich habe mit Inbruͤnſten jeder Art 

mich zwiſchen Gott und Tier herumſchlagen. 
Ich ſteh und pruͤfe die beſtandne Fahrt: 
nur Eine Inbrunſt laͤßt ſich treu ertragen: 
zur ganzen Welt. 


Komm, Sturm der Allmacht, ſchuͤttel den ſtarren Forſt! 
ſchuͤttelſt auch mich, du urweltliches Treiben. 

In ſcheuen Haufen ziehn die Kraͤhn zu Horſt. 

Gieb mir die Kraft, einſam zu bleiben, 

Welt! — 


. Dritter Teil 
i Geheimnis 


In die dunkle Bergſchlucht 
kehrt der Mond zuruͤck. 


| Eine Stimme ſingt am Waſſerſturz: 


. O Geliebtes — 

deine hoͤchſte Wonne 

und dein tiefſter Schmerz 
find mein Süd — — 


4 | Am Scheideweg 


Ich wollt dir die Stirn kuͤſſen 

und dir ſagen: hab Dank! 

Aber da war ein Licht in deinen Augen 

wie Morgenglut auf unerklommenen Bergwaͤldern; 
und dem haben wir folgen muͤſſen, 

ſchweigend. 


Hoch in der Fruͤhe 


Sieh, wie wir zu den Sternen aufſteigen! 
Unſern gluͤckſtrahlenden Augen 

leuchtet der Schnee der Gebirge, 

bald blitzt dort unten die Sonne durch. 
O! ſchon roͤten ſich 

Tiefen und Hoͤhen; 

durch den Rauch unſrer Atemzuͤge, 


68 


bis über das fernſte Fuͤnkchen dort oben 
fern hinauf, N 

ſchimmert die Nacht deiner Geburt, 
glaͤnzt der Tag unſrer Himmelfahrt. 


Immer wieder 


Ehe wir uns trennen konnten, 

o, wie hielt mich dein Geſicht, 
ſahen wir noch Einmal, dicht, 
dicht an deinem mein Geſicht, 

in den Winterwald zuruͤck, 

wo die Baͤume ſich noch ſonnten, 
wo die Abendwolken prangten, 
wo ins feuergoldne Licht 

die verworrnen Zweige langten, 
und wir baten Gott um Gluͤck. 


Die Frage 


Kann ich dein Herz begluͤcken? 
liebreiche Seele, nein. 

Ich kann dich an mein Herz drüden, 
fuͤhlen mußt du's allein. 


Noch im gluͤckhellſten Geſange 
ſchwebt ein dunkler Klang; 
lauſch ihm nicht zu lange, 
ſonſt wird dir bang. 


Ob ich dir tauſendmal ſage: 

ich liebe dich — 

immer doppelt bebt drin die Frage: 
liebſt du mich? — 


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98S 


Im Zwielicht 


Laß uns noch die Nacht erwarten, 
daß wir alle Sterne ſehn. 

Falt die Haͤnde; in den harten 
Steigen durch den ſtillen Garten 
kommt das Heimweh auf den Zehn. 


Kommt und bringt die Anemone, 
die du einſt ans Herzchen druͤckteſt; 
kommt umklungen von dem Tone 
einſt des Baums, aus deſſen Krone 
du dein erſtes Fernweh pfluͤckteſt. 


Und du ſtreifſt dir aus den Haaren, 
was dir an der Seele frißt; 

ſelig Kind mit dreißig Jahren, 
Alles wirſt du noch erfahren, 

Alles, was dir heilſam iſt. 


Gluͤckwunſch 


Ich wuͤnſche dir Gluͤck. 

Ich bring dir die Sonne in meinem Blick. 
Ich fuͤhle dein Herz in meiner Bruſt; 
es wuͤnſcht dir mehr als eitel Luſt. 

Es fuͤhlt und wuͤnſcht: die Sonne ſcheint, 
auch wenn dein Blick zu brechen meint. 
Es wuͤnſcht dir Blicke ſo ſehnſuchtlos, 
als truͤgeſt du die Welt im Schooß. 

Es wuͤnſcht dir Blicke ſo voll Begehren, 
als ſei die Erde neu zu gebaͤren. 

Es wuͤnſcht dir Blicke voll der Kraft, 


69 


70 


die aus Winter ſich Fruͤhling ſchafft. 
Und taͤglich leuchte durch dein Haus 
aller Liebe Blumenſtrauß! 


Ein Blütenblatt 


Von deinen Tulpen fiel das erſte Blatt. 

Es liegt am Fuß der ſtolz geſchwungnen Vaſe 
und lehnt ſich auf am gletſcherblauen Glaſe, 
und druͤber flammt der Strauß mit dreizehn Braͤnden 
Und eine von den Blüten zuͤngelt fo 

in ſich gekruͤmmt, als ſuche farbenſatt 

ihr Leben eine kalte Ruheſtatt i 
und rette ſich aus halbverbrannten Waͤnden. 
Doch eine andre iſt ſo lichterloh 

geoͤffnet, daß wie zwiſchen Feuerwiegen 

die gelbgekroͤnte Samenpuppe prangt, 

die nach der Bluͤte nicht zuruͤckverlangt, 

wenn alle Blaͤtter abgefallen liegen. 


Das Perlgewebe 
Von Ida Dehmel 


Ich ſitze dunkle Frau in meinem Zimmer, 
ſtille, dunkle, große Frau. 

Weiß iſt das Zimmer, weit ſeine Waͤnde; 
weiß iſt mein Kleid, mein Webſtuhl weiß. 


Und vor mir buntgehaͤuft ein Schatz Perlſchnuͤre. 


Was will ich dunkle Frau denn weben? — Mein Leben. 


Weiß, weiß und golden ſind die Farben meiner Jugend, 
ein morgenblauer Himmel uͤber mir. 
Himmelſchluͤſſel bluͤhn auf unſern Wieſen. 


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Viele kleine Blumen will ich weben, 


zart ein gluͤckliches Lachen dazwiſchen, 
Alles leuchtet dem ſpielenden Kind. 


Mutter ſtarb. Die Farben werden blaſſer. 
Dunkle Trauerzweige ſprießen auf, 

ſchwanke Linien aus flimmerndem Grund, 
Thraͤnen glitzern, Sehnſuchtsthraͤnen. 

Kind, ich große Frau moͤcht gern dich troͤſten; 
ſieh, ich ſetz ein funkelnd Sternlein uͤber dich. 


Und nun miſchen ſich die bunten Perlen: 

ſtolz und heftig ſchießt ein Blutrot hoch 

durch ein trotziges Gelb in ſchroffen Kanten, 

hell im Kampf mit ſtrengen grauen Maͤchten 
baͤumt die aufwaͤrtsflammende Seele ſich: 

rot und golden ſind die Farben dieſer Jungfrau. 


Und aus Rot und Gold paart ſich ein Schrei nach Liebe. 
Roſen bluͤhn aus meinen Haͤnden auf, 

jeder Kelch voll Tau und Sonnentraum; 

ſchwer in Buͤſcheln rankt ſich ein Klematisſtrauch 

um die Roſen lilaſanft ins Blaue; 

die Verheißung gluͤht aus allen Bluͤten. 


Die Erfüllung log. Nun wirren ſich die Fäden. 
Fahl und grell verſchlingen ſich die Schnuͤre. 

Jeder Weg ein Irrweg, und kein Kreis geſchloſſen. 
Zuchtlos drängt ſich wildes Geſtruͤpp 

uͤber meine Wieſen, meinen Blumenteppich; 

und der Stern der Mutter birgt ſich hinter Nebeln. 


Da — ein klarer Klang: ſtark: eines Helden Ton. 
Schwarz wie der Urſprung, golden wie das Licht, 


71 


72 


und moosgruͤn wie der Wald, aus dem die erſten 
Menſchen kamen. 

Auch blau fein Himmel, aber mittagsblau; 

auch rot ſein Blut, doch nordlichtnaͤchtig rot. 

Und uͤber Alles breitet ſich ſein Glanz. 


O wie ſich unſre Farben herrlich einen: 

Leere wird Fülle, und fie ſtroͤmt wie Quellen, 

aus ihren Fluten ſteigt des Schoͤpfungstages Feſte, 
mein Stern ſtrahlt durch des Weltbaums Bluͤtenaͤſte — 
So kann ich meine Traͤume und mein Leben 

zum Werk verwebt in Gottes Haͤnde geben. 


Störung 


Und wir gingen ſtill im tiefen Schnee, 
ſtill mit unſerm tiefen Gluͤck, 

gingen wie auf Bluͤten, 

als die arme Alte 

uns anbettelte. 

Und du ſahſt wohl nicht, 

als du ihr die Haͤnde druͤckteſt 

und dich liebreich zu ihr buͤckteſt, 

wie durch ihr zerriſſenes Schuhzeug 
ihre aufgeborſtnen 

blauen Fuͤße gluͤhten. 

Ja, ein Menſch geht barfuß 

im eignen Blut durch Gottes Schnee, 
und wir gehen auf Bluͤten. 


Zukunft 


Du reiche Frau, du edle Frau, 
mit deiner Hoffnung unterm Herzen, 


du moͤchteſt jubeln und erſchrickſt; 

ich ſehe dich in deinen Schmerzen, 
wie du beim Schein der Ambrakerzen 
die ſeidne Wiegendecke ſtickſt. 


Du zaͤhlſt die Faͤden, ſilbergrau 

und ſchwarz und blutrot, und dir ſchweben 
viel tauſend Haͤnde vor, die weben, 

viel tauſend graue Mutterhaͤnde, 

die weben, weben ohne Ende; 

ich ſeh dich, wie du grauſig nickſt 

und dunkel durch dein Zimmer blickſt. 


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Und tauſend Kinder ſiehſt du ſtehen, 
die ſtill an einem Stricke drehen, 
fruͤh alt vor Hunger und Gebreſt. 
Und ſiehſt die Vaͤter ſich erheben, 
alle, die haͤßlich muͤſſen leben, 
damit es Schoͤnheit koͤnne geben, 
ſie ſtuͤrmen dein geſchmuͤcktes Neſt: 


Madam dies blutige Garn, wer ſpann es?! 
Da wuͤrdeſt Du in Todeswehen 

entzuͤckt ſein, koͤnnteſt du dich ſehen, 

wie ſich zum moͤrderiſchen Feſt 8 
die ſchmutzige Fauſt des Arbeitsmannes 
um deine weiße Kehle preßt. 


Enthuͤllung 


Du ſollſt nicht dulden, daß dein Schmerz dich knechte; 
du biſt ſo gern vor Freude wild. 

Komm vor den Spiegel! — O, wie ſchwillt 

dein duͤſtres Haar, wie lebt dein Bild, 


74 


wie blüht dein Mund —: als wenn durch Nächte 
der Blitze blaͤuliches Geflechte, 
der Honigduft der roten Diſteln quillt! 


Dein weißes Kleid iſt wie zum Hohne 

mit tuͤrkiſchen Maͤrchenblumen toll durchzackt. 
Ich traͤume dich auf ſchwarzem Throne. 

Du biſt verſchleiert bis zur Krone. 

Doch waͤrſt du keuſch wie Magelone, 

wir Traͤumer ſehen alles nackt! 


Gib her, gib her den Trauerſchleier, 

ich reiß ihn lachend dir entzwei! 

Ich bin dein Einziger, dein Befreier, 

dein Herr! — Was ſtarrſt du ſo ins Feuer, 
ſo ſchmerzhaft? — O verzeih — verzeih — 


Beſchwoͤrung 


Du biſt nicht hier. Ich fuͤhle ſchwer, 
wie deine blaſſe Hand mich preßte; 
und wie Todfeinde ſind mir ploͤtzlich 
die lachenden Geburtstagsgaͤſte. 


Immer verdrehter wird das Feſt, 
die Blumen welken in den Kraͤnzen. 
Um meinen Bart ſind die Geruͤche 
der Medizinen und Eſſenzen 


von deinem Krankenbette her; 

es iſt vielleicht dein Sterbelager. 

Ich ſeh dein glanzlos Haar daliegen 
und dein Geſicht blutleer und mager. 


O ſieh nicht ſo die Baͤume hoch, 
warum ſie mit den kahlen Zweigen 


ſo ſtarr und ſchwarz vor deinem Fenſter 
ins graue Himmelsdickicht zeigen. 


Sieh tief in deine Nacht hinab! 

da glaͤnzt mein Bild mit Gottesfarben 
und laͤuft vom Blute derer uͤber, 

die Dir zum Opfer in mir ſtarben. 


O ſieh, ſieh, wie mein Blick dich traͤnkt 
und meine Lippen nach dir beben 

und meine Haͤnde zu dir beten 

und dich beſchwoͤren: bleib mir leben! 


Aus ſchwerer Stunde 


Ich konnte nur noch laͤcheln; 

ich war ſo traurig im Grunde, 

daß meine eigne Stimme mir fremd klang. 
Da traf mich Deine Stimme, 

und ich konnte wieder lachen wie als Kind, 
und einmal weinten wir vor Gluͤck. 

O, ich danke dir, 

in dieſer ſchlafloſen Nacht, 

wo du fern von mir 

zwiſchen Tod und Leben liegſt. 

Sieh, ich falte wie als Kind die Haͤnde: 
bleib mir, laß mich nicht allein, 

ich habe Furcht bekommen 

vor den einſamen Naͤchten. 

Wenn du ſtuͤrbeſt, 

nein, ich wuͤrde nicht weinen, 

meine Seele iſt geuͤbt im Trauern; 

aber ich wuͤrde nie mehr lachen koͤnnen. 


S RE 


906 


Ich hab dich ſelig gemacht, 

mein Geliebter, 

und du mich, du biſt mein, 

und darfſt nicht bei mir ſein 

in meinen furchtbaren Schmerzen. 
Bis in Mark und Bein 

bin ich dein, 

und darf nicht nach dir ſchrein 
vor den Menſchen, 

wenn ich ſterben muß 

ohne deinen Kuß. 

Nein nein nein, 

Du haſt mich ſelig gemacht! 
Tag und Nacht 

fuͤhl ich mich an deinem Herzen 
leben, das an mein Herz ſchlug! 
Ja, ich fuͤhls, ich bleibe leben, 
hab dir noch ſoviel zu geben, 

all mein Leben, 

gab dir nie, noch nie genug! 


Gleichnis 


Es iſt ein Brunnen, der heißt Leid: 

draus fließt die lautre Seligkeit. 

Doch wer nur in den Brunnen ſchaut, 
den graut. 


Er ſieht im tiefen Waſſerſchacht 

ſein lichtes Bild umrahmt von Nacht. 

O trinke! da zerrinnt dein Bild: 
Licht quillt. 


Weihnacht im Krankenhaus 


Schoͤnen guten Abend, ihr im Leidensgewand; 

neue frohe Botſchaft hoͤrt aus Gnadenland! 

Wir haben lang geſucht nach einem heilſamen Sterne, 
bis er ſich finden ließ in ſeiner naͤchtlichen Ferne. 

Da haben wir ihm gewunken, 

da iſt er uns ans Herz geſunken. 

Dann haben wir ihn feſtlich mit Liebe umwunden 
und auf ein immergruͤnes Baͤumlein gebunden. 

Nun ſeht ihn! hier glaͤnzt er, ſamt anderen Schaͤtzen; 
an denen moͤgt ihr euch ſpaͤter ergetzen. 

Erſt ſollt ihr Mut ſchoͤpfen aus ſeinem Schimmer, 
denn die Nacht iſt lang, und dies Haus glaͤnzt nicht immer. 
Hier kaͤmpft oft das Todesgrauen ſchwer 

mit der Lebensroͤte um die Wiederkehr. 

Hier ſuchen oft Seelen nach gnaͤdigen Sternen 

und finden nichts als lichtleere Fernen. 

Hier ſtrahlt jetzt, o Wunder, ein heiliger Baum 
mitten im eiſigen Weltenraum 

und ſpiegelt ſich 

und euch und mich 

im warm aufquellenden Traͤnentau 

einer geneſenden, laͤchelnden, liebenden Frau. 

Die Mutter des Heils iſt uͤberall zugegen, 

wo Menſchen eine Hoffnung hegen. 


Lied im Winter 


Truͤb ſucht dein Blick: wann wird ſie wieder bluͤhn? 
Die harte Erde laͤßt mit kaltem Schweigen 

die Wipfel in den klaren Himmel zeigen 

um die verſchneite Bank im Wald, 


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auf der du einſt ein Fruͤhlingsgluͤck umarmteſt; 
nun ſprießt Reif an den ſtarren Zweigen. 
Dann willſt du weitergehn den alten Gang, 
da ſchluchzt ein Vogelherz, du weißt nicht wo, 
die Stille klingt ihm nach: ſie bluͤht, ſie bluͤht! 
Lichtbluͤten glitzern über allen Steigen! 


Eva und der Tod 


Der Wintermorgen ſchien ein Fruͤhlingsmaͤrchen; 
der Reif der Zweige ſproß im Sonnenſchein 
zum blauen Himmel auf wie Bluͤtenpaͤrchen. 


Ein Luͤftchen, das ſich hob und ſtumm verfing, 
trieb Silberflocken von den hohen Ulmen 
des langen Weges, den ich einſam ging. 


Ich hoͤrte noch, daß fern ein Schlitten ſchellte; 
dann wurde Schweigen auf dem ſchweren Schnee. 
Ich ſchritt und ſann, und fuͤhlte nichts von Kaͤlte. 


Denn geſtern war mir ein geliebtes Weſen 
nach heißer Seelennot und Leibesqualen 
von einem Sohn, nicht meinem Sohn, geneſen. 


Und der das Kind von ihr entgegennahm, 
empfing ein Pfand des Lebens, nicht der Liebe; 
ſie aber gab es mit zu ſpaͤter Scham. 


Ich ſuchte tief nach truͤbem Dankes worte, 
da ſah ich fern am Ende meines Weges 
auf einmal eine ſchwarze Gitterpforte. 


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Zu ihren Seiten dehnten ſich zwei Mauern; 
die waren uͤberwipfelt von Cypreſſen. 
Ihr ſtarrer Wuchs bedrohte mich mit Schauern. 


Und aus der Pforte traten ſchwarz und groß 
und langſam nach einander ſieben Maͤnner; 
die kamen langſam, ſchweigſam auf mich los. 


Aus fremdem Lande ſchienen ſie zu ſein, 
ſo lange Maͤntel, breite weiße Kragen. 
Und plotzlich rief ich außer mir: Nein! Nein! 


Denn aus der Pforte trat da noch ein achter, 
der war ganz duͤrr und groͤßer als die andern, 
und ſtand und nickte, ſacht, und immer ſachter. 


Und eiſig lief es mir durch Blut und Bein: 
die ſieben wollen ſich mein Liebſtes holen. 
Ich ſtand und bettelte und bebte: Nein! 


Und ſeh durch Traͤnen, wie die ſchwarzen Schemen 
den Sonnenſchein verdunkeln und den Schnee, 
und glaube fern ein Lachen zu vernehmen. 


Und als ich mir die Augen muͤhſam reibe, 
ſteht hoch ein nacktes Weib vor jenem Gitter, 
mit ſchwarzem Haar und Blick und braunem Leibe. 


Und lacht ganz hell und winkt dem duͤrren Mann 
und hebt im andern Arm ein zappelnd Kindchen 
und ſieht mich fernher lebensſelig an. 


O dieſes Blickes Herrlichkeit und Hohn! 
Nur Einer haͤtte das wie ich empfunden: 
der Trotzigſte der Dichter: Liliencron! 


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Ich ſeh den Dürren ihr entgegenſtelzen: 
er buͤckt ſich — widerwillig — er verſchwindet — 
zu ihren Fuͤßen ſcheint der Schnee zu ſchmelzen. 


Die ganze Landſchaft ſchmilzt; das kleine Kind 
ſchwimmt rieſengroß auf ſieben ſchwarzen Strudeln 
und lacht — lacht — lacht mich aus. Was! War ich blind ? 


Ich ſelber lache! meine Wimpern tropfen; 
die ſieben ſind ja nichts als Leichentraͤger, 
die ſonſt Schuh flicken oder Hoſen ſtopfen! 


Und jenes Weib, das iſt ja nur die Frau 
des Totengraͤbers, und ihr brauner Kittel 
iſt keine Haut, ich ſeh es ganz genau! 


Du aber lebſt mir, und der Himmel blaut, 
und bald iſt Fruͤhling, und du wirſt mich kuͤſſen 
trotz deines Sohns, du meine braune Braut! 


Verhoͤr 


Du liegſt ſehr blaß in deinen weißen Kiſſen, 
und deine matten Lippen ſind zerbiſſen; 
hatteſt du ſehr viel Schmerz? — 

„Ich weiß nicht mehr.“ 


Ou ſiehſt ſehr traͤumeriſch zur Zimmerdecke, 
ſieh nach dem Bettchen druͤben in der Ecke: 
liebſt du dein Kindchen ſehr? 

„Ich weiß noch nicht.“ 


Schriebſt du zuweilen, wenn die Wehen kamen, 
mit deinen irren Fingern meinen Namen 
auf deine Bettdecke? — 

„Du weißt es ja.“ 


Kannſt du noch immer, ohne hinzudenken, 
dein Kind und ſeinen Vater ruchlos kraͤnken 
und mit mir ſelig ſein? — 

„Weißt du das nicht?“ 


Zur Geneſung 


Steh auf, ſteh auf vom Meeresſchvoß! 
guten Morgen! 

ich will dich ſelig machen! 

Hoͤrſt du die Walfiſche lachen? 

hoͤrſt du das Weltkonzert ſchallen? 
Komm, kletter auf die Korallen: 

kuck, alle Engel ſind los! 


Jetzt: hopp, einen kleinen Luftfprung. 
Auf doch! 

Guten Morgen! 

Huͤh, meine Fluͤgeldelphine: 

hoch, hoch, hoch, Aphrodite: 

in Abrahams Schooß! 


Ach du, hilf mir doch lachen, 

bitte bitte, 

und guten Morgen und Unſinn machen! 
Denn du lagſt ſehr bleich, du ſchlechtes Weib, 
als du vom Meergott traͤumteſt 

und meine Arme wie Seeſchlangen zaͤumteſt; 
das darfſt du nie wieder machen, 

hoͤrſt du, nie wieder! 


Denn ich will dich ja ſelig machen, 
ja, du: ſeeelig! über und über! 


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Und darum verbitt ich mir ſolche Sachen; 
hoͤrſt du! 

Denn dazu tut Uns Beiden kein Fieber 
mit Himmelstraͤumen etcetera not, 

denn du biſt mir zehntauſendmal lieber 
als der liebſte liebe Gott! 


Alſo: Auf jetzt! O Gottes Wunder: 

hoͤr doch die Voͤgel, wie die lachen: 

jeden Tag wird ſie geſunder, 

und Vater Abraham iſt tot! 

Ja: das iſt mein Schooß, 

und das iſt dein Schooß, 

und der Menſch will ſelig werden auf Erden — 
weißt du noch, wie man das machen muß? 


Auf! — O Liebſte! — O guten Morgen: 
ſieh mal, da bluͤht ſchon bald der Flieder! 
Ach, weißt du noch? Ja, blick nur nieder: 
bald bluͤhſt du auch und tuſt mir wieder 
— endlich wieder — 

den Himmel auf! o Goͤtterkuß! 


Schneeflocken 


Gnaͤdige Frau, es ſchneit, es ſchneit! 
Tragen Sie heut Ihr weißes Kleid? 


Gnaͤdige Frau, hier in der Ferne 
ſchneits bei helllichtem Tage Sterne. 


Und dieſe Sterne flimmern genau 
wie die Zaͤhne der gnaͤdigen Frau. 


6* 


Oder wie Blüten von weißem Flieder, 
gnaͤdige Frau, an Dero Mieder. 


Oder die Blicke des Herrn Gemahls 
am Tage Ihres Hochzeitsballs. 


Nein, ſie flimmern, ich kann mir nit helfen, 
gnaͤdige Frau, wie tanzende Elfen. 


Haͤnſeln jeglichen Parapluie; 
will man fie faſſen, zer flimmern fie. 


Flimmern in Wirbeln, flimmern in Bildern, 
die ſind wirklich nit zu ſchildern. 


Gnaͤdige Frau, ſo wild, ſo mild 
wie ein opaliſch flimmerndes Bild. 


Und, ach Gnaͤdigſte, dieſe Sterne 
tanzen auf manchermanns Naſe gerne. 


Und auf ſolchermanns Naſe, gnaͤdige Frau, 
zertanzen ſie zu Traͤnentau. 


Zertanzen flink wie kichernde Lieder: 
morgen, morgen tanzen wir wieder! 


Gnaͤdige Frau, leb wohl! Schluß, Kuß! 
Frechheit — aber wer muß, der muß. 


Orientaliſches Potpourri 


Geſtern Nachmittag, meine braune Geliebte, 
die du nach Ruhm begehrſt vor allen Frauen 
deines Volkes, ſaß ich in einem Treibhaus, 


und von allen Palmen und andern Gewaͤchſen 
flogen mir neue Gedichte zu. 


Hier iſt eins von einem Agavenwildling: 


Meine Geliebte! 

Grau in ſtaubiger Wuͤſte 

ſtand mein dorniges Blattwerk 

jahrlang mit durſtig ſchwellendem Fleiſch. 
Ploͤtzlich ſchoß uͤber Nacht 

ein ſteiler Schaft, knoſpengekroͤnt, 

aus dem ſtaubgrauen Schooß 

in die feurige Morgenluft. 

Schick mir zu Mittag, Geliebte, 

deine tauſend durſtigen braunen Bienen: 
viertauſend goldgelbe Bluͤtengloͤckchen 
haben ſich aufgetan und triefen, 

triefen, triefen von Honigſaft. 


Oder eins von einer verſchulten Muſa: 


Meine Geliebte! 

Wen mit deinen uͤppig langen 
Blaͤttern willſt du denn umfangen, 
die du uͤberreichlich treibſt? 

Fuͤhlſt du nicht den Abend glühen? 
Wenn du ohne Bluͤte bleibſt, 
Schoͤnſte, kannſt du nie verbluͤhen, 
Armſte, nie mit Fruͤchten prangen. 


Oder von einer ſeltnen Waſſerviole: 


Meine Geliebte! 
Mondblau ſteht mein Kahn, 
himmeltief der See; 


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fern beim hellen Uferfchitf 
ziehn zwei weiße Enten 


ihre Bahn. 

Sehnſuͤchtig und rot 

ſpiegelt ſich mein Mund: 
tauche auf, Geliebte, Dunkle, 
aus dem blauen Grund, 

hol mich in den Himmel! 


Oder von einem gewoͤhnlichen Igelkaktus: 


Meine Geliebte! 

Ich bin ſo rund wie die Erde, 

mein Fleiſch hat Heilkraft, 

und meine Blume iſt zum Kuͤſſen ſchoͤn. 
Aber hebe mich nicht aus meinem Erdreich: 
mein Fleiſch hat Stacheln, 

und leicht entroll ich deiner Hand. 

Willſt du mich kuͤſſen, 

bitte, knie nieder! 


Solche Gedichte, meine braune Geliebte, 

koͤnnt ich dir noch viertauſend und einige dichten 
an Einem Nachmittag; 

und die wuͤrden meine vielen verehrten 

neuen deutſchen und neueſten juͤdiſchdeutſchen 
lyriſchen Brüder ſicher furchtbar ruͤhmen — 


Aber du biſt mir zu lieb dazu 


Jeſus bettelt 


Schenk mir deinen goldnen Kamm; 
jeder Morgen ſoll dich mahnen, 


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daß du mir die Haare kuͤßteſt. 

Schenk mir deinen ſeidnen Schwamm; 
jeden Abend will ich ahnen, 

wem du dich im Bade ruͤſteſt — 

oh, Marja! 


Schenk mir Alles, was du haſt; 

meine Seele iſt nicht eitel, 

ſtolz empfang ich deinen Segen. 

Schenk mir deine ſchwerſte Laſt: 

willſt du nicht auf meinen Scheitel 

auch dein Herz, dein Herz noch legen — 
Magdalena? 


Benedeiung 


Geſtern hobſt du verzweifelt die Haͤnde, 
deiner heiligen Namenſchweſter gleich, 
als ihr ein Schwert durch die Seele ging. 


Heute breit'ich entzuͤckt die Arme, 


allen Heiligen mich vergleichend, 
weil mir Dein Schwert durch die Seele ging. 


Neige dich zu mir, Maria, 
laß uns lauſchen, 
wie die himmliſchen Heerſchaaren uͤber uns jubeln! 


Erfuͤllung 


Daß du auch an Meinem Herzen, 
Herz, nur neue Sehnſucht fuͤhlſt 
und dich in die Menſchenſchmerzen 


| ſchmerzlicher als je verwuͤhlſt: 
iſt das nicht Erfuͤllung, du? 


Wenn die Erde ſchmilzt vom Eiſe, 
daß die Luft nach Frühling ſchmeckt, 
und in immer neuer Weiſe 

wild ihr Gruͤn zum Himmel reckt: 
iſt das nicht Erfüllung, du? 


Wenn wir dann noch Oſtern feiern, 
weil ein Menſch ſein Leben ließ, 
der den Frevlern wie Kaſteiern 
gleiche Seligkeit verhieß: 

iſt das nicht Erfuͤllung, du? 


Laß die tragiſche Geberde, 

ſei wie Gott, du biſt es ſchon: 
jedes Weib iſt Mutter Erde, 
jeder Mann iſt Gottesſohn, 
Alles iſt Erfuͤllung, du! 


Heilandswort 


Ich trat in ein Haus, 

da gingen viel Sünder ein und aus, 

aber auf einer grauen Wand 

und mit leuchtenden Lettern ſtand: 
Nur ſelig! 


Ich ſah eine Menſchengeſtalt, 

mit Leidenszuͤgen mannigfalt, 

aber im Gruß der blaſſen Hand 

und im Lichte der Augen ſtand: 
Nur ſelig! 


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Ich ging bald fort, | 

durch einen trüben, armſeligen Ort, 

aber uͤber dem ganzen Land 

und mit leuchtenden Lettern ſtand: 
Nur ſelig! 


Zwiſchen Oſtern und Pfingſten 


Und jeden Abend kannſt du ſo aufatmen: 

du horchſt ins Dorf hin, was die Glocken wollen, 
du gehſt ins Freie, 

der Rauch der Huͤtten umarmt die Eichenkronen: 
auf, Seele, auf! 


Dann raunt dir fruͤhlingsheimlich ein Echohauch 
unter den knoſpenvollen Wipfeln zu: 

ins Freie auf — ſo frei ins Freie, 

wie dort der Vater mit ſeinem Kindchen Ball ſpielt. 


Und uͤber dir, lichtgruͤn im Blauen, 
fpielt eine Birke 
mit einem ſtrahlend blühenden Ahorn Braut. 


Die Gluͤcklichen 


Nun will ich mir die Locken 

mit Birkenlaub behaͤngen; 

der Fruͤhling ſitzt am Wocken, 

von dem er mit Geſaͤngen 

um meine Wildnis gruͤne Schleier ſpinnt. 


Und du auf deinem Throne 
im Aſtwerk unſrer Linde, 


beglaͤnzt mit deinem Sohne 
vom goldnen Mittags winde, 
biſt meine Jungfrau mit dem Wunderkind. 


Ein Lamm mit weißem Felle 

auf unſerm Wieſenlande, 

mit einer Silberſchelle 

und blauem Seidenbande, 

bringt uns zum Lachen, wenn wir traurig ſind. 


So wuͤrden wir uns gerne 

mit aller Welt vertragen, 

nicht Sonne, Mond noch Sterne 

um unſer Gluͤck befragen, 

doch — manchmal haben wir kein Brot im Spind. 


Drum ſtehn im jungen Schilfe 

mit aufgeſperrter Miene, 

als ſchnappten ſie nach Hilfe, 

zwei ſteinerne Delphine 

am Waſſer, das um unſre Inſel rinnt. 


Erhebung 


Gieb mir nur die Hand, 

nur den Finger, dann 

ſeh ich dieſen ganzen Erdkreis 
als mein Eigen an! 


O, wie bluͤht mein Land! 

Sieh dir's doch nur an, 

daß es mit uns uͤber die Wolken 
in die Sonne kann! 


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Hochſommerlied 


Golden ſtreift der Sommer meine Heimat, 
brotwarm ſchwillt das hohe reife Korn, 
wie in meiner goldnen Kinderzeit; 

habe Dank, geliebte Erde! 


Schwalben rufen mich hinauf ins Blaue, 
weiße Wolken tuͤrmen Glanz auf Glanz, 
wie in meiner blauen Juͤnglingszeit; 
habe Dank, geliebte Sonne! 


Mit heiligem Geiſt 


Liebe Mutter! mir traͤumte heute 
von der Inſel der ſeligen Leute. 

Da ſaß auf einem Huͤgel der Au 
eine nackte gekroͤnte Frau; 

in ihrem Herzen ſtak ein Schwert, 
aber ſie lachte unverſehrt. 

Denn neben ihrem natuͤrlichen Thron 
ſtand ihr lieber großer Sohn; 

in ſeinen Fingern, voll Sonnenglanz, 
hing ein blutiger Dornenkranz. 

Der begann ſich mit gruͤnen Spieren 
und raſchen Bluͤten zu verzieren; 
und umringt von den ſeligen Leuten, 
die ſich an dem Wunder freuten, 
ſuchte mir Er die Blumen aus 

zu einem leuchtenden Oſterſtrauß. 
Den umflocht er mit blauem Bande 
von ſeiner Mutter fruͤherm Gewande 
und gab ihn mir und ſprach dazu: 


Sag Deiner lieben Mutter du, 

weil ihr auf Erden niemals wißt, 
wann die Zeit erfuͤllet iſt, 

ſollt ihr immer glauben und hoffen, 
der Tag ſei endlich eingetroffen. 
Und bis einſt jedes Weib gewinnt 

den rechten Vater fuͤr ihr Kind, 

ſoll jede Irrende die Treue 

dem falſchen brechen ohne Reue, 

ſoll ihre Sehnſucht nicht verfluchen, 
ihren Qualen den Heiland ſuchen 

und ſeinen liebenden Gewalten 

Leib wie Seele empfaͤnglich halten. 
Wenn das mit heiligem Geiſt geſchehn, 
wird ſie die Heimſuchung beſtehn, 

wie meine Mutter ſie beſtand, 

beſeligt im Gelobten Land. 


Boͤſer Traum 


Was kannſt du gegen Träume, Menſch, die tuͤckiſch 
ſelbſt auch den Maͤnnlichſten, mit Engels haͤnden 
oder mit Teufelsfaͤuſten, in den Himmel 

ſamt Hoͤlle ſeines Kinderglaubens fuͤhren? 

In ſolchem Traum erſchien mir heute Nacht 

der boͤſe Feind und ſah mich furchtbar an. 

Er hatte das Geſicht von einem Freunde, 

dem ich ſein Weib in aller Freundſchaft nahm, 
und ſetzte auf mein wehrlos Herz ein Meſſer 
und ſprach — nein, was er ſprach, vergaß ich ſchon. 
Er ſah mit Wolluſt, wie die roſtige Spitze 

auf meiner Haut im Takte meiner Pulſe 

ſich hob und ſenkte, ſah mich gierig an. 


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Ich aber bohrte meine blauen Augen 

in ſeine braunen tief empor und ſagte: 

Wenn du mich kennteſt, zoͤgerteſt du nicht. 

Und als ſein Blick ineins mit meinem ſank 

und blaͤulich wurde, dacht ich: Waͤrſt du nicht 
der boͤſe Feind, ſo muͤßteſt du mich lieben, 

ich habe dich von einer Laſt erloͤſt. 

Was ich dir nahm, iſt niemals dein geweſen; 
was du mir nehmen kannſt, war niemals mein. 
Drum, wenn du mußt, ſo toͤte mich! mein Tod 
wird dir viel weher tun als je mein Leben, 

das Keinem weher tat als Mir — „Wach auf!“ — 


Leiſer Beſuch 


Eine treue Seele lag 

ſtill zuhaus mit krankem Leibe; 
zwiſchen ihren Fingern ſtaken 

zwei drei bluͤhende Weidenzweige, 
und die Sonne ſchien aufs Bett. 


Zoͤgernd ruͤhrte ſich die Hand, 
taſtete nach meinem Haupt; 
aus den ſanften Bluͤtenfaſern 
fiel der gelbe Samenſtaub, 
wie am Morgen unſrer Liebe. 


Trat ein Maͤdchen blaß herein, 
brachte eine blaſſe Roſe, 

legte die gebeugte Blume 
nieder neben meinem Schooße, 
wie zum Abend unſrer Liebe. 


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Folgte eine hohe Frau; 

rot von Nelken eingefaßt 
duftete in ihrem Arme 
goldgelb eine Ananas, 

wie der Mittag unſrer Liebe. 


Und die treue Seele ſprach: 
Sieh, aus allen Himmelsſtrichen 
bringt mir heute deine Liebe 
Frucht und Bluͤten und Geruͤche. 
Und ihr ſtiller Aufblick ſtach 

uns ins Herz. | 


Der Strauß 


Nun nimm drei weiße Nelken du, 
mein Weib. Und du, Geliebte, nimm 
dieſe drei roten noch dazu. 

Und in die nickenden Nelken tu 

ich eine dunkelgelbe Roſe. 


Seht: iſt es nicht ein lockender Strauß, 
ganz Eins auf dieſem ſchwarzen Tuch? 
Und ſieht ſo farbenfriedſam aus. 
Und nur von doppeltem Geruch: 
die je drei Nelken und die Roſe. 


Nein, laßt! entzweit den Stengelbund 
nicht! laßt! Sonſt ſcheint ſo kalt und tot 
blos Gelb zu Weiß, und gluͤht ſo heiß 
und brennt ſo wild blos Gelb zu Rot; 
dann, ja, dann haſſ ich wohl die Nelken! 


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Dann haſſ ich wild das zahme Weiß 
und haſſe kalt die rote Glut, 

wohl bis zur Mordluſt! Ja, es tut 
mir weh, daß von Geruch und Blut 
ſo reizend gleich ſind alle Nelken! 


Was willſt du ſo entſetzt? Nein, bleib, 
Geliebte, nimm, ſtill ſeh ich zu: 

nimm jetzt die weißen Nelken Du! 
und die drei roten Du, mein Weib! 
und ich die dunkelgelbe Roſe. 


Finale 


Da haft du dich von meiner Bruſt geloͤſt. 
Doch als ich fuͤrchtete, das Feſt ſei aus, 
hobſt du mir meinen Kranz auf, 

meinen Kranz auf. 


Vierter Teil 


* 


Einſiedler, Schmetterling und Tempelherr 


Du weißt, Poet — begann der Tempelherr 

und laͤchelte durch ſeinen weißen Bart — 

ich las ſie auf vom Weg, die jetzt mein Weib iſt. 
Und daß ſie, wider Sitte und Geſetz 

des Ordens, mitging nach Jeruſalem 

und nicht den Weg zuruͤckging, den ſie kam, 

— ich ſelber hieß ſie mitgehn —: das ging ſo zu. 


Wir trugen ſchon das Abſchiedswort im Sinn, 
es war an einem heißen Fruͤhlingstag, 

ſchier blendend flimmerte das junge Gras, 

und die Gefallne ließ es ſtill geſchehen, 

daß ich mit ihr den Pfad vom Schloß zum Ufer, 
wo andern Tags das Schiff anlegen ſollte, 
gleichſam zur Herzensuͤbung niederſtieg. 

Der Pfad bog ſehr abſchuͤſſig hin und her; 

ich brauchte ſie, die ſtets wie ich gewilllt war 

— ihr Herzſchlag geht dem meinen voͤllig geich — 
kaum mit der Hand zu ſtuͤtzen, ſo gefaßt 
vermied ſie jeden lockern Stein im Gras, 

als ſie auf einmal feſt um meinen Arm griff. 
Dicht vor uns ſonnte ſich, beinah beruͤhrt 

von meinem Schuh, auf einem Bluͤtenkelch 

des gelben Loͤwenzahns, ein ſaugender 

ganz trunkner Schmetterling, ein Trauermantel. 
Nun flog er taumelnd weg, zum naͤchſten Kelch, 
dicht vor uns her, wir ſahn ihn weiterſaugen, 
kaum atmend beide, wenn die bleichgeſaͤumten 


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tiefſchwarzen Flügel vor Entzuͤcken zuckten, 

und immer weiter ſo, von Kelch zu Kelch, 

dicht immer vor uns her den Pfad hinab, 

faſt bis zum Fluß; da krigte ihn der Wind 
und blies ihn fort, wir blieben ſtehn im Wind. 


Und ploͤtzlich ſteht, durch dieſen Schmetterling 
mir vorgeruͤckt, vor meinem innern Blick 

ein jahrelang vergeſſner Tag: ein Herbſttag. 
Ich bin bei einem Freund, Einſiedler iſt er; 
er war's — man wußte nicht warum — geworden, 
an Jahren konnt er gut mein Vater ſein. 
Wir ſind verloren in Gedanken; draußen 
zerzauſt der Bergwind ſeinen Blumengarten. 
Er macht ſein Bett, ein ſeltſam ungeſchlachtes, 
nach Bauernart bemaltes Ehebett; 

da klopft es an die Tur. Er geht und oͤffnet; 
und vor der Klauſe ſteht, bei ſeinen Blumen, 
zerzauſt wie ſie, in ſchlechter ſchwarzer Tracht, 
ein altes Weiblein, elend, ſcheu, verkommen, 
das blickt ihn bettelnd an. Ich ſeh ihn noch: 
auf ſeine große Stirne treten Flecken 

wie von Fauſtſchlaͤgen, ſeine Finger beben, 

die guten blauen Augen glaͤnzen grauſig, 

er ſagt: geh weg! ich kenne dich nicht mehr. 
Er will die Tuͤr zudruͤcken, ſie verſperrt ſie: 


Ich hab nur Dich geliebet! bettelt ſie. 


Er tritt zuruͤck, die rote Stirn wird blaß, 

die Augen kalt, er ſagt: geh weg, du luͤgſt. 
Sie ſchleppt ſich nach: Verzeih mir! bettelt ſie. 
Er ſagt noch kaͤlter: ich verzeih dir, geh. 

Da faßt ſie ſeine Hand, und wieder fliegt 

der grauenhafte Glanz durch ſeine Augen — 


11.7 


Du haft mich nit verſtanden, Meiner! fleht fie: 
ich war — Doch eh fie enden kann, er debt 
der ganze breite Mann: Verſtanden? fhreit er 
und hebt die Fauſt, ich will zuſpringen, da: 


laut ſchluchzend, Blut ausſchluchzend vor ihn hin 


knickt ſie zuſammen, ſchluchzt ſie auf zu ihm: 
ich war ein armer Schmetterling im Wind! — 
Da hat er ſich mit mir gebuͤckt zu ihr 

und nahm das alte Weiblein an ſein Herz 
und trug fie weinend in ihr altes Beit; 

drin iſt fie laͤchelnd andern Tags verſtorben. 


Nun weißt du — endete der Tempelherr 

und laͤchelte durch ſeinen weißen Bart — 
warum, Poet, trotz Sitte und Geſetz 

des Ordens, ſie, die jetzt mein Weib iſt, nicht 
den Weg zuruͤckging, den fie zu mir kam. 

Ich ſagte ihr am Morgen meiner Abfahrt, 
was mir in jenem ſtillen Augenblick, 

als wir am Fluß im Wind beiſammenſtanden 
— fie hatte mich mit keinem Hauch geſtoͤrt, 
ihr Atem geht dem meinen voͤllig gleich — 
vor meinem innern Blick geſtanden hatte, 
und hieß fie mitgehn nach Jeruſalem. 


Der Verbannte 


Durch die fremde Stadt 

geht mir eiſig der Wind nach, 
der die Birken bewegte, 

der die Schneegloͤckchen ſchuͤttelte, 
als ich die Heimat verließ. 


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Durch die fremde Stadt 

kommt mir ſonnig ein Bild entgegen: 
eine Mutter mit ihren Kindern, 

die vor Fruͤhlingsfreude gluͤhn. 


Unterwegs 


Vor meinem Lager liegt der helle 
Mondſchein auf der Diele. 

Mir war, als fiele 

auf die Schwelle 

das Fruͤhlicht ſchon; 

mein Auge zweifelt noch. 


Und ich hebe mein Haupt und ſehe, 
ſehe den fremden Mond 

in ſeiner Hoͤhe 

glänzen, Und ich ſenke, 

ſenke mein Haupt und denke 

an meine Heimat. 


Heimatgruß 
an Hans Thoma zu ſeinem 60. Geburtstag 


Wo die Heimat liegt, 

das iſt mir erſt aufgegangen 

im fremden Land. 

O, mit welchem Bangen 

ſchaue ich manchmal vom Fenſter herunter 
durch die enge Hafengaſſe 


wie von einer Feſtungsterraſſe 


auf den kahlen Inſelrand 
da mitten in dem grauen Fluß! 
Doch geht die Sonne unter, 


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dann ſteigen durch den Nauch und Ruß 


der lauten Dampfſchiffe und dunkeln Schornſteine 
die Nebel wie reine Geiſter; 

und immer mahnt mich das an Deine 

Inſel, Hans Thoma, 


du heimatſeliger Meiſter. 


An die Inſel, die du gemalt haſt 

— wie du mir ſelbſt erzähle Haft — aus Heimweh, 
wo hold und heiter, ohne Heimweh, 

unter den ſchlanken, gen Himmel breiten, 
ſtillen Baͤumen Deines Landes 

Frauen und Maͤnner ſchlichten Gewandes 

in Eintracht mit ſtolzen Tieren ſchreiten, 
geweihten Hirſchen, frei laufenden Pferden, 
und rings mit ſorgloſen Geberden 

ſchaukeln auf den wirbelnden Wogen 
Liebespaare, von Schwaͤnen gezogen — 
wirklich, dann glaub ich, ſo muß es wohl ſein 
auf deiner Inſel bei Frankfurt am Main, 
oder wo ſonſt deine Heimat liegt; 

denn daß der Schwarzwald dich großgewiegt, 
das iſt mir nicht immer gleich im Klaren, 
denn auf einmal liegt dann zwiſchen den Staͤmmen 
meine eigne Heimat, der Wald von Kremmen, 
und ich ſchaue auf Wieſen, woruͤber ſich fern 
im Nebel Himmel und Erde paaren, 

und ſuche kindlich den hoͤchſten Stern — 

bis mich das Heulen der Hafenſirenen 

aufſtoͤrt aus meinem Sinnen und Sehnen. 


Doch Einmal, ja, da ſah ich den Stern: 
— noch war in der Luft kein Rauch und Laͤrm, 


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1 


die Morgenroͤte kuͤßte den Fluß, 

und die kahle Inſel ſchien aufzuleben — 

da ſah ich fern den Genius 

aller Heimat daruͤber ſchweben: 

leicht aus dem Woͤlkicht kam er einher 

mit ruhigen Flügeln durchs himmliſche Meer, 
kaum die kraͤftigen Schwungfedern ſpreitend, 
auf einer durchſichtigen Kugel gleitend, 

drin ſpiegelte ſich die bunte Erde 

ſamt meiner uͤberraſchten Geberde: 

den Stern, den trug er als Blume in Haͤnden, 
kein Gewand um die hellen Lenden, 

eine Einſicht auf dem Juͤnglingsgeſicht 

wie im Traum, im Halbtraum, ich weiß es nicht — 
fo flog er, ohne ſich umz uwenden, 
an der fremden Inſel vorüber, 
aus der Heimat 

in die Heimat 

hinuͤber 


Hoher Mittag 


Da ich nun in Einſamkeiten 
traͤume von dem goldnen Land, 
von den fernen Seligkeiten 
unerfuͤllbar ſchoͤner Zeiten, 

und der blaue Kreis der Weiten 
weiter ſich und weiter ſpannt, 


ruͤ hrt auf einmal mich ein Bangen: 
Sonne, welchem Ziele zu? 

tief und tiefer ein Verlangen: 
Urquell meiner Sehnſucht du! 


Stimme im Licht 


Dunkles Herz, 

dunkles Herz, 

was bebſt du denn? 

Sieh doch die Nacht glaͤnzen; 

dir lebt ein Licht in den Weiten, 

zu allen Zeiten, 

uͤber Grenzen, 

da kann kein Mond, kein Stern hinan! 
Dulde nur deine Dunkelheiten 

ohne Schmerz: 

ein andres Herz 

moͤchte in deinem Schatten ruhn. 

Brauchſt kaum durch ſeine Traͤume zu beben, 
alle Himmel fühle ihr dann in euch ſchweben; 
dunkles Herz, 

dunkles Herz, 

wie ſtrahlſt du nun! 


Nachtgebet 


Ou tiefe Ruh, 

laß deinen Schleier ſinken, 

und ſchling dein dunkles Haar um meine Bruſt, 
und laß mich deinen Atem trinken, 

Du, 

bis alle meine Luſt 

und letzter Schmerz in einen Hauch verſchweben, 
den deine Lippen mir vom Herzen heben, 

dann laß mich deinen Kuß erleben, 

du tiefe Ruh. 


101 


102 


Durch die Nacht 


Und immer Du, dies dunkle Du, 
und durch die Nacht dies hohle Sauſen; 
die Telegraphendraͤhte brauſen, 

ich ſchreite meiner Heimat zu. 


Und Schritt fuͤr Schritt dies dunkle Du, 
es ſcheint von Pol zu Pol zu faufen; 
und tauſend Worte hoͤr ich brauſen 
und ſchreite ſtumm der Heimat zu. 


Masken 


Du biſt es nicht, du greiſer Tempelritter 

im Panzerkleid, auf das die Kerzenſtrahlen 
des bunten Saals mit taͤuſchendem Gezitter 
geheimnisvolle Charaktere malen; 

dein Blick iſt ſchwarz, laß das Viſier nur zu! 
Du biſt es nicht — doch Ich bin Du. 


Du biſt es nicht, Zigeuner mit der Geige, 
der wild fein Lied läßt in die Zukunft bluten. 
Dein roter Bart iſt kraus wie Urwaldzweige, 
um die rauchpraſſelnde Fruͤhfeuer gluten. 
Dein Blick iſt grau; laß nur die Maske zu! 
Du biſt es nicht — doch Ich bin Du. 


Du biſt es nicht, Traumkoͤnigin. Seeroſen 
traͤgſt du im wolkendunkeln Haargeflechte, 
und keuſchen Asphodellos, und Skabioſen, 
die ſanfter bluͤhn als purpurſanfte Naͤchte. 
Dein Blick iſt braun; laß deinen Schleier zu! 
Du biſt es nicht — doch Ich bin Du. 


Du biſt es nicht, mein blonder Puck. Dein Roͤckchen 
iſt viel zu kurz fuͤr deine Maͤdchenbeine; 

man ſieht es doch, daß dein hell Klingelſtoͤckchen 

ein Totenkoͤpfchen kroͤnt, du freche Kleine. 

Dein Blick iſt ſtahlblau; laß dein Laͤrvchen zu! 
Du biſt es nicht — doch Ich bin Du. 


Und Du, biſt Du's, du Domino im Spiegel, 
in deſſen Blick die Farben meerhaft ſchwanken, 
du maskenlos Geſicht? Zeig her das Siegel, 
das mir ausdruͤckt den Grund deiner Gedanken! 
Bin ich das ſelbſt? Ausdruck, du nickſt mir zu. 
Grundſiegel — Maske — Bin Ich Du? — 


Nacht für Nacht 


Still, es iſt ein Tag verfloſſen. 
Deine Augen ſind geſchloſſen. 
Deine Haͤnde, ſchwer wie Blei, 
liegen dir ſo druͤckend ferne. 

Um dein Bette ſchweben Sterne, 
dicht an dir vorbei. 


Still, ſie weiten dir die Waͤnde: 
Gieb uns her die ſchweren Haͤnde, 
ſieh, der dunkle Himmel weicht — 
Deine Augen ſind geſchloſſen — 
ſtill, du haſt den Tag genoſſen — 
dir wird leicht — — 


Lied vor Tag 


Was bewegt dich, ſtiller Himmel? 
Was beſchwingt die ſchweren Wolken? 


103 


Herz, wie kommt die helle Höhe 
uͤbers tiefgraue Meer? 


Durch die Wolfen ſchwebt ein Vogel, 
ſchwelt vorbei mit hellen Flügeln, 
trat die goldne Morgenroͤte 

uͤbers tiefgraue Meer. 


Komm zuruͤck, du goldner Vogel! 
Nimm mich hoch in deine Hoͤhe! 
Trag mein Herz, du helle Hoffnung, 
uͤbers tiefgraue Meer! 


Gondelliedchen 


Bitte, bitte, Voͤgelchen: 

Schiffchen hat ein Segelchen, 

ſegelt uͤbers Meer: 

Voͤgelchen, komm her! 

Komm und ſetz dich, laß dich wiegen, 
warum willſt du immer fliegen, 
machſt es dir ſo ſchwer! 


Sirge, kleiner Paſſagier! 

Wenn die großen Wellen krachen, 
wird dein Lied uns ruhig machen: 
ſtill vergeſſen wir 

Erde, Menſch und Tier. 


Griechiſche Pfingſten 


Wie anders nun! — Ihr blumigen Auen, 
ihr wilden Berge: irrt mein Geiſt? 
Bin ich nicht juͤngſt mit heiligem Grauen 


durchs blaue Meer zu trunknem Schauen 
ins Land der Mythe hergereiſt? 


Nun graſt hier hinter kruͤppligen Säulenflümpfen, 
vorbei an ausgegrabenen Goͤtterruͤmpfen, 

mein muͤder Klepper mit Geſtoͤhn. 

Man blickt noch manchmal zuruͤck nach ihnen: 
man ſieht, es ſind und bleiben Ruinen — 

aber ihr, ihr Berge, ſeid ewig ſchoͤn! 


Drum ſtill, du graue Mythe, 
mit deinem truͤben Sinn! 
Ganz Hellas ſteht in Bluͤte, 
noch heut, ſo wahr ich bin! 
Hier lernt man heiter ſchreiten: 
über den Schutt der Zeiten 
geht immergruͤn die Zeit dahin. 


Eine Rundreiſe in Anſichtspoſtkarten 


1. Straßburger Muͤnſter 
Der Anſicht aller Welt zum Trotz 
ſteht dieſer Turm und kroͤnt — was? — einen Klotz. 
Er ſtand beim jungen Goethe ſehr in Gunſt 
als Voll⸗und⸗Hoͤchſtbeweis echt deutſcher Kunſt. 
Er ſteht, wie ihn der alte Goethe ſah, 
noch heut hoͤchſt unvollendet da. 


2. Rheinfall bei Schaffhauſen 
Blickſt du ihn an, ſo wird dir wirr 
von all dem ſtuͤrzenden Flutgeirr. 
Doch horch hinein, da ſteigt vom Grund 
klar ein ſteter Einklana und 


Aufklang. 
* 


105 


3. Gotthard Tunnel 
Klänge im Eilzug 

Über der Einfahrt grauſen verquollen 
eiſige Gipfel durch Wolken herab. 
Unter der Ausfahrt weiſen die Schollen 
finſtrer Felſen zu nebelvollen 
Schluchten und neuen Schachten hinab. 
Immer durchs Dunkel von Stollen zu Stollen 
fuͤhlſt du dich immer dem Licht zurollen, 
und ſo ſetzt dich endlich mit tollen 
Spruͤngen der Himmel ins Blaue ab. 


4. Iſola Bella 
Das koͤnnten wohl die ſeligen Inſeln ſein, 
wenn's nicht auch hier, wenn's regnet, regnete. 
Wie arme Sünder ſchaudern die Cypreſſen 
vor ihrem Spiegelbild im trüben See; 
und waͤhrend ſich des Himmels Gnade reichlich 
auf ſie und mich und uͤbers Schiff ergießt, 
ſteht, einem Engel aͤhnlich an Geduld, 
mit hoͤchſter Hoͤflichkeit mein Haupt beſchirmend, 
ein Doganiere neben mir und pruͤft 
bis auf den Grund mein zollpflichtſchuldiges Herz. 


5. Mailand 


Und ward dir vor den tauſend Heiligen ſchwach, 
die, eitel Marmor, rings den Dom garnieren, 
dann ſteige auf ſein flaches Dach, 

das neunundneunzig einzelne Tuͤrmchen zieren. 
Das wird dich, Alles Marmor, wie ein Hain 
kandierter Weihnachtsbaͤumchen delektieren — 
auf einmal ſiehſt du fern im Sonnenſchein 

die Alpen — — 


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6. Certoſa bei Pavia 


Schmuckkaͤſtlein ſchlichter Einſamkeit: 

hinter der Prachtwand der Faſſade 

bat mancher Mönch in weiſer Schweigſamkeit 
die Jungfraun Borgognones einſt um Gnade. 
Jetzt moͤcht ich in den leeren Klauſen 

mit dir, Geliebte, noch verſchwiegner hauſen. 


7. Genua 


Kaufherrin ſtolze: immer ſtrahlenbreiter 

traͤgt ſie bergan die meerentnommene Krone, 
und ihr geringſtes Frachtſchiff faͤhrt heut weiter 
als je die kuͤhnſte Doria⸗Traumgallione. 


8. Campo Santo in Piſa 


Geiſterhafter Bildertraum 

dehnt den ſchmalen ſtillen Raum. 
Sieh: das Viereck der Arkaden 
ſtrebt den Himmel einzuladen. 
Horch: der Erde reinſten Hauch 
opfert ſtumm ein Roſenſtrauch 
voller weißer Bluͤten. 


9. Orvieto 


Willſt du den Tag der Auferſtehung ſehn, 

den Signorelli ſah? Komm, Seele: dort 

ſtaun ſich Gewitterwolken, ſchon ziehn Schatten. 
Bald werden um dies trotzige Felſenneſt 
durchs weite Talfeld der Chiang unten 

die ſchraͤgen Strahlen der verhuͤllten Sonne 
fahl wie aus Graͤbern aufgeſcheuchte Schemen 
nach Zuflucht ſchweifen, taumelnd, und nun faͤhrt 


107 


108 


der Blitz dazwiſchen — o Erleuchtung — ja: 
dort ſah der Kuͤnſtler, was er dann nur malte. 


10. Campagna vor Rom 
Hier ſpannt ſich alles, Landſchaft, Baͤume, Tiere, 
als habe ſich die Welt zur Ruh gezwungen: 
erwartungsvoll iſt jede Form geſchwungen, 
die Hoͤrner ſelbſt der ſilbergrauen Stiere. 
Denn dort am Horizont hebt einſam groß, 
ſo einſam groß, daß auch die Berge nur 
Mitglieder ſind der ſtaunenden Natur, 
das Haupt der Ewigen Stadt ſich zum Azur: 
die Peterskuppel Michelangelos. 


rr. Im Pantheon 
Wer faßt dein Innres, Rom: du Kirchhof der Kulturen: 
Verweſung glaͤnzt darin mit immer friſchen Spuren. 
Im Pantheon zumal, kraft goͤttlicher Beſchluͤſſe, 
erlebt man wunderſame Grundwaſſer⸗Uberfluͤſſe. 
Durch ſolch ein Wunder ſah ich: auf einer Altarplatte 
ſaß eine magre Katze, die ſich gerettet hatte. 
Klaͤglich miauend ſaß fie, begafft vom Fremdenftrom; 
da haſt du deine Goͤttin, modernes Rom! 


12. In den Abruzzen 
Endlich dem Bann der Muſeen entronnen, 
fand ich Italien auf eigne Fauſt ſchoͤn; 
fand ohne Baedeker goldene Sonnen, 
ſilberne Monde, in Taͤlern, auf Hoͤhn. 
Fand auch ein Raͤuberpaar, in einer Grotte, 
ſpaͤt eines Abends, im wilden Wald, 
raubten ſich Kuͤſſe, die haben geknallt: 
siamo felici nel cuor della notte! 


13. Pontiniſche Sümpfe 
Die Sterne flimmern; ſchwuͤl ſchweigt das Moor 
laͤngs der langen Straße zur Nacht empor. 
Langs der langen Straße, ſchwarz im Duͤſtern, 
ragen und raunen die hohen Ruͤſtern. 
Laͤngs der langen Straße, wie aufgereiht 
von einer zur andern Unendlichkeit, 
raunen die Ruͤſtern fiebertrunken: 
dreiunddreißig Städte ruhn hier verſunken 
laͤngs der langen Straße 


14. Neapel 
„Neapel ſehn und ſterben“ — in der Tat: 
dies Paradies des Poͤbels iſt zum ſterben. 
Sehr ſichtbar, echter Lazzaroniſtaat, 
liegt's wie ein blendender Haufen Scherben 
am Rieſenmaulwurfshuͤgel des Veſuv, 
den Gott gewiß aus reinem Mordsſpaß ſchuf. 


15. Pompeji: Haus des tragiſchen Dichters 
Was klagſt du, Menſchheit! Sieh, allerſeelenvollſt 
lacht dir das Leben, und komiſch nickt der Tod: 
Da ſteht zerbroͤckelt des Dichters Gaſtgemach, 
ſein Werk und Name verbrannten im Lavaſchutt, 
aber das Brautpaar ſeines Wandgemaͤldes 
entdeckt noch immer das Neſt voll Liebesgoͤttchen, 
wie's Tauſende Paare noch entdecken werden, 
wenn dieſes ausgegrabene Machwerk laͤngſt 
wieder in Lavaſchutt verſenkt ſein wird. 


16. Auf Capri 
Trotz aller reiſenden chriſtlichen Tugendbuͤnde 
iſt hier noch Raum fuͤr einige heitre Suͤnde. 


109 


IIe 


Trotz Badehoſe gleicht in der blauen Grotte 

ein ſchmieriger Fiſcher einem ſilbernen Gotte. 
Trotz Zeitung, Polizei und meckernder Ziegen 
kann noch an mancher Klippe ganz verſchwiegen 

der Faun die Nymphe beim Schlafittchen kriegen. 


17. Bergſtraße von Amalfi nach Salerno 

Europas reichſte Damen 

karriolen den Felsweg her, 

hoch zwiſchen Himmel und Meer; 

immerfort wechſelt der Rahmen. 

Großartig wechſelt der Rahmen; 

hoch zwiſchen Himmel und Meer 

erwartet ein Bettlerheer 

Europas reichſte Damen. 


18. Bahn nach Potenza 
Und keiner iſt veraͤchtlich und ſchwach genug, 
daß nicht auch ihn aufruͤttelnd ein Stolz durchzuckt, 
wenn durchs Gebirg auf droͤhnender Bahn der Zug 
hinſtuͤrmt von Viadukt zu Viadukt. 
Denn hier hat Menſchenarbeit Bogen an Bogen, 
Triumphbogen durch die Natur gezogen. 


19. Valle del Baſente 
Straße und Bruͤcke verfallen, 
das ſteinige Flußbett trocken; 
meine Schritte hallen 
laut auf Truͤmmerbrocken. 
Und erſchuͤttert erbeben 
verdorrte Uferbaͤume — 
Land, wo iſt dein Leben? 
Volk, was traͤumſt du fuͤr Traͤume? 


20. Erſter Klaſſe nach Brindiſi 
Scusa, Signora e Monsignore! 
und ich nehme Platz im Coupe, con amore. 
Der Prieſter ſcheint auf Kohlen zu ſitzen, 
die Dame ſtrotzt von Juwelen und Spitzen. 
Der Prieſter ruͤckt in die aͤußerſte Ecke, 
die Dame buͤckt ſich, und ich entdecke: 
ſie verſteckt ein beſudeltes Dingrichs. 


21. Corfu 
Alſo auch hier wuͤhlen Huͤhner und Schweine 
in verwahrloſten Gaͤrten und Auen. 
Aber wenn wir's von ferne beſchauen, 
laͤutert der Lichtgeiſt alles Gemeine. 
Weiter und weiter ſchreit'ich ins Reine, 
und der Oliven verwilderte Haine 
uͤberrauſchen das menſchliche Grauen. 


22. Pontikoniſi 
Weiß ſteht das Kirchlein aus der blauen Flut, 
Cypreſſen laden ein zur Himmelsreiſe. 
Sacht naht der Faͤhrmann mit der irdiſchen Speiſe; 
ein Gloͤckchen toͤnt, das Ruder ruht. 
Waͤrſt Du, Geliebte, nicht auf Erden, 
ich koͤnnte Moͤnch auf dieſem Eiland werden. 


23. Bergweg bei Patras 
Ein Schrei — faſt ſtuͤrzt mein Pferd — und aufgebaͤumt 
ums Felseck biegend ſeh ich: ſchluchzend reißt, 
im Staub knieend, mit aufgeloͤſtem Haar, 
und ſchreiend — oh, ſo ſchrie Medea einſt, 
als Jaſon fie aus Überdruß verließ — 
reißt ſich ein ſchoͤnes griechiſches Bauernmaͤdchen 


die tuͤrkiſche Jacke von den nackten Bruͤſten 

— Papiergeld fliegt — und weg von ihr bergab 
jagt im Galopp, in klirrender Kutſche hockend, 

ein ſchlotternder Stadtherr, haͤßlich wie ein Mops. 


24. Olympia 


Apollon, der die Tiermenſchen bezwang, 

jetzt als ein Giebelbruchſtuͤck ausgeſtellt, 

begleitet mich durchs Tempeltruͤmmerfeld 

und ſpricht gen Sonnenuntergang: 

Lapithen und Kentauren ruhn im Sumpf, 
Fauſtkaͤmpfer preiſt die Menſchheit auch nicht mehr, 
noch aber uͤbermannt euch ſeelenſchwer 

der Schatten ſelbſt von dieſem Saͤulenſtumpf. 


25. Tempel bei Baſſaͤ 


Wohl ſtehn noch ſtolz die morſchen Saͤulenſchaͤfte 
ob Steingeroͤll und niedern Kruͤppel⸗Eichen 

und ſind, indeß Eidechſen und Blindſchleichen 
den kletternden Hufen meines Gauls ausweichen, 
in dieſer Hoͤhenluft ein ruͤhrendes Zeichen 
himmliſchen Aufbegehrs der irdiſchen Kraͤfte, 
doch ruͤhrender rings die tauſend Nachtigallen, 
die durchs Gelaͤut der kaͤuenden Ziegen ſchallen. 


26. Burg und Stadt Karptaͤna 


Schmettert, ihr Nachtigallenheere, 
helft meine Kavalkade befeuern! 

dort oben herrſchte einſt Ritterehre, 
ſchuf Herzogskronen aus Abenteuern! 
Aber die griechiſchen Roſſe wollen 
nur noch zur Futterkrippe trollen. 


27. Herberge vor Tripoliza 


Hier gibt es Alles: Waſſer, Haͤckſel, Miſt, 
Strohſack und Wanzen — blos Laternen fehlen. 
Schon aber geht ein frommer griechiſcher Chriſt 
ein Licht aus der Dorfkirche ſtehlen. 


28. Nauplia 


Ein toter Eſel fault im Straßengraben, 

am Tor ein Hund. 

Ein Stadtſoldat ſchleckt ſich an Honigwaben 

die Zunge wund. 

Mit ſchmachtenden Blicken hockt ein Rudel Knaben 
am Mauerwall. Und jedes Auge laben 

unzählige wilde Blumen, maͤrchenbunt. 


29. Wieſen bei Argos 


Oas ſind die Blumen aus dem Morgenland: 
Sie leuchten aus der Ferne wie durch Schleier, 
ſie ſchimmern ſeidner als ein Feſtgewand, 

ſie duften reiner als die Braut dem Freier. 
Sie ſcheinen in der Naͤhe dir bekannt; 

es glimmt in ihren Kelchen wie ein Feuer, 
das auch in Dir wohl einſt, o einſt gebrannt. 
Du pfluͤckſt davon. Doch ſcheu und ſcheuer 
ſtockt deine Hand: 

du traͤumſt die Blumen heim ins Morgenland. 


30. Mykenaͤ 


Auf einmal ſchleppt mich Frau Hiſtoria 

durch wuͤſt Geruͤmpel und beginnt zu melden: 
das Loͤwentor — die Burg — die Agora — — 
Was? Hier, hier hauſten die homeriſchen Helden? 


ei 113 


Weg! In der Dichtung iſts ein Goͤtterſaal, 
hier wirds zum Hottentottenkraal. 


31. Akrokorinth 


Stahlblau erfunkeln mir zwei Meere, 
Waffen funkeln durch meine Gedanken, 
wild ſich kreuzend, alle die blanken 
Klingen der Krieger, die dort verſanken, 
Griechen, Slawen, Tuͤrken, Franken, 
Landeskinder und Soͤldnerheere — 
funkeln — und um zerſtuͤrzte Palaͤſte 
von Strand zu Strand uͤber Tempelreſte 
den Berg herauf zur verfallenden Feſte 
brandet Begeiſtrung und fuͤllt das Leere. 


32. Bei Sala mis 
Fiſcherlied 

Ruhe dich, Schiffchen: hier werfen wir Netze. 
Hier wurden vom Ahnherrn ertraͤnkt die Barbaren. 
Drum ſchenkt uns das Meer heut fetten Fiſch — 
ruhe dich, Schiffchen 
Hundert Heilige wurden fuͤr uns gemartert. 
Fremde Lords ſind geſtorben fuͤr unſre Freiheit. 
Drum ſchenkt uns der Himmel heut weichen Wind — 
ruhe dich, Schiffchen 


33. Athen 
Die Muſe ſpricht: Narrt mich ein Fiebertraum? 
Stellt nicht dort unten das Theater noch, 
der Felswand angeſchmiegt am heiligen Abhang, 
traut wie ein Schwalbenneſt, den Weltkreis vor? 
Was ſucht der Herr da, der den Staub beriecht, 
wo einſt der Feldherr ſaß, der Opferprieſter? 


114 


Und hier, wo ehmals ſteilgeſtreifte Säulen, 
ſchwarz wie der Styx, rot wie geronnen Blut, 
dem blauen Ather, der ſie bleichte, trotzten, 

hier ſteht gar einer und ſtudiert den Schutt? 

O Wunder, daß noch Meer und Himmel leuchten! 


34. Fahrt zum Parnaſſos 
Vom Dampf des Schiffes, den die Hitze ballt, 
verhuͤllt: was ſtrahlt aus buntem Dunſt herbei? 
ſo weiß! — was traͤumte mir? — ein Gipfel — drei — 
ein Kranz von Gipfeln ſtrahlt den Dunſt entzwei — 
ſo weiß ſtrahlt nur der ewige Schnee — ſo frei — 
Iſt“s der Parnaß?! — Flieh, ſchwuͤle Traͤumerei! 
Hinauf! dort oben iſt es kalt. 


35. Delphi 
Mein Daͤmon ſpricht: Auf Delphi ruht ein Fluch, 
da laß uns ſtill voruͤbergleiten. 
Mir deucht, wir hatten ſchon zu Olims Zeiten 
an dem Orakel in uns ſelbſt genug. 


36. Zwiſchen Leukas und Ithaka 
Durch dieſes Meer trieb einſt in irrer Not 
Odyſſeus ſeinem treuen Weib entgegen. 
Durch dieſes Meer trieb wild im Liebes tod 
Sapphos zerbrochner Leib der Nacht entgegen. 
Durch dieſes Meer treibt nun im Morgenrot 
mein Herz, Geliebte, Dir entgegen. 


37. Albaniſche Kuͤſte 


Die Kuͤſte weicht; ich ſeh mein Schiff mit beiden 
Bugſeiten durch die Flut, die tiefblau glatte, 


8 119 


116 


wie durch geſchliffnen Stein ſich vorwärts fehneiden, 
ſo undurchſichtig glaͤnzt die ſpiegelglatte. 

Ich wende mich und ſeh im Glanz auf beiden 
Kielſeiten ferne Hoͤhenzuͤge ſcheiden; 

da ſchwimmen ſie wie ſagenhafte ſatte 

Seekuͤhe, die ſich an der Blaͤue weiden. 


38. Hafen von Ancona 


Zwiſchen zwei Vorgebirgen lauſcht der Wind, 
der ſanften Gruß bringt von der Abendſonne, 
ob Stadt und Hafen wohlgebettet ſind. 

Er fragt ein Heiligtum, worob es ſinnt, 

einft der Frau Venus Haus, jetzt der Madonne, 
und alle Glocken kuͤnden voller Wonne: 

In goldner Wiege ruht ein himmliſch Kind. 


39. Aſſiſi 
Wallfahrer haben mir den Weg gezeigt; 
im oͤffentlichen Garten raſten wir, 
und mancher blickt dem heiligen Dichter gleich 
beſeligt auf zum lieben Bruder Himmel. 
Ein junges Weib nur blickt verfiört ins Land, 
durch das ein Zug lobſingender Moͤnche wandelt. 
Am Rand des Gartenberges die Cypreſſen 
ſtehn wie erſtarrte ſchwarze Flammen da, 
und ploͤtzlich regt ſich eine wie entſetzt 
vor dieſes Himmels bleiglutblauer Laſt. 


40. Perugia 
Sei geſegnet, ruhiger Ort! 
Frommer Ahnen Meiſtergilde 
ſchuf aus rauhem Felsgebilde 


„„ Ä, r r FE a“ 
2 ” * e ZU Ne — Di 
F 5 a 

2 > 


für die Enkel dies Gefilde; 


kannſt du zuͤrnen, Gott der Mil de, 
wenn fle nun ins Ewige fort 

unter den Akazien wandeln, 

nur noch ſchauen, nicht mehr handeln?! 


41. Am Traſimeniſchen See 


Was wohl die Unken klagen 
dort um das alte Kaſtell? 
Daß da mal Roͤmer lagen 
von Hannibal erſchlagen? 

Daß da den Troubadouren 
von denen adligen Huren 
vertrommelt ward das Fell? 
Man muß nicht immer fragen, 
um was die Unken klagen; 

die Froͤſche lachen hell. 


42. Florenz 


Du Allerſchoͤnſte, Liebling aller Welt, 

einſt manchem Herrn, jetzt jedem Gaffer feil, 
und immer noch von Zier und Reiz geſchwellt, 
ſo lehnſt du ſtolz auf hehrem Ruhebett, 

dein Haupt wie eines Turmes Zinne ſteil, 
dein Schooß wie offne Roſen lebensfroh, 

und gar den Buſen ſchmuͤckt als Amulett 

die heilige Kunſt des Fra Angelico. 


43. Ravenna 


Ravenna! rief die Inbrunſt: gib mir Raum! 
was bruͤteſt du auf Graͤbern Tag und Nacht? 
Und Gruͤfte woͤlbten ſich zu Farbenhimmeln, 


117 


118 


in denen tauſend Malerſeelen träumen, 
und über denen Dante wacht. 


44. Venedig: Punta della Salute 


Hier moͤcht ich ſterben, alt, wie Tizian ſtarb, 
doch in verhaͤngter Gondel und allein. 

Durch einen Spalt nur glühn im Abendſchein 
verwitterte Palaͤſte glorienfarb. 

Schlaftrunken ſchaut die Waſſerflaͤche drein 
und haucht mir eine Seelenruhe ein, 

die niemals um ein ewiges Daſein warb. 

So moͤcht ich ſterben ... aber leben: nein! 


45. Verona 


Auf des Amphitheaters hoͤchſtem Rand 

ruht nach vollbrachtem Tagewerk ein Kerl, 

die braune Stirn noch voller Schweißgeperl, 
und laͤßt ſich trocken gluͤhn vom Sonnenbrand. 
Ein ſimpler Steinmetz, der wohl kaum verſtand, 
wozu ſein Flickwerk an dem alten Loch, 

und hat wie Herkules geſchuftet doch; 

jetzt aber faullenzt er ob Stadt und Land, 

als ſei kein Gott ſo frei wie Er vom Joch. 


46. Wanderſtraße am Etſch 


Arbeitsleute ſchreiten vor mir ſchwer, 
immer ſchwerer droͤhnt bergan ihr Schritt: 
aus der Ferne graut die Fremde her. 
Pfeifend halt ich ihnen gleichen Tritt, 
Strom und Straße ſchweigen immer mehr: 
aus der Ferne blaut die Heimat her — 
und auf einmal pfeifen alle mit. 


47. Sirmione am Gardaſee 


Avanti! — Heiter wie des Suͤdens Luft 

ſoll dich mein Abſchiedsgruß, du liebliche 

Halbinſel, die Catull beſang, umwehn. 

Hell greifſt du durch den blauen See nach Norden, 
gleich einer gaſtlich hingeſtreckten Hand 

gefuͤllt mit Veilchen, Immergruͤn und Frucht. 
Doch daß auch ernſter Schmuck dir wohlſteht, zeigt 
gleich einer Spange am Gelenk das duͤſtre 

Kaſtell, von deſſen Soͤller mich der Ruhm 

des jungen Bonaparte grüßt — Avanti! 


48. Hochfeiler am Brennerpaß 
Heiß auf kalter Hoͤhe mach ich Raſt, 
von den Gletſchern kommt ein leichter Hauch, 
kommt und geht, und lichter Rauch 
wird mir all die fremde Laſt, 
von der Voͤlkerſtraße her die Haſt, 
und die Sehnſucht nach der Heimat auch. 


49. Innsbruck 


Die Berge glaͤnzen klar im Kreis, 

die Luft im Tal iſt menſchenheiß. 

Ich trete in den alten Dom, 

ich atme tief den Daͤmmerſtrom. 

Erzbilder ſchimmern durch den Raum, 

ich traͤume einen Himmelstraum; 

und langſam neigen ſich die Stirnen 

der ehernen Ritter vor den fernen Firnen. 


50. Konſtanz 


Im offnen Garten iſt Konzert am See, 
der Geiſt Beethovens ſchwebt von Stern zu Stern: 


N 129 


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kief unter Bruͤcken ſchweigt die Waſſerfee, 
hoch über Türmen ſchweigt der Alpenſchnee, 
ſchweigt Stern bei Stern, ſchweigt wie ſeit je; 
und immer noch Konzert, Konzert am See — 
o Beethoven, wozu der Laͤrm?! — 


5r. Spezgart bei Überlingen 


Von Schlucht und Halde weichen Morgenſchleier, 
die Erde dampft der Sonne ihren Dank. 

Hier trieben wir, Geliebte, Fruͤhlingsfeier; 

es herzte Trieb an Trieb ſich frei und freier, 

bis uͤber unſre Abſchiedsfeier 

der pfirſichbluͤtne Abend ſank. 

Nun ſind die Fruͤchte reif zum Willkommtrank. 


52. Stein am Rhein 


Kloſterfrieden, Weltbehagen, 

lacht hier noch Italiens Glanz? 
Buntbemalte Giebel tragen 

frei Boccaccios Fabelkranz. 

Stromſchnell naht das heimatſtete 

Schiff, mit Gaͤſten angefuͤllt. 

Wenn doch jetzt Geſang herwehte! 

Da: weiß Gott, man ſingt — man bruͤllt 
die „Wacht am Rhein“ 


53. Triberg im Schwarzwald 
Stimme der Heimkehr 
Urweltſprache droͤhnt im Waſſerfall, 
laͤßt kein Menſchenwort herbringen; 
was denn hoͤr ich durch den Schwall 
doch wie Mutterſprache klingen? — 
Nicht ein Vogelſtimmchen hallt, 
nur die alten Wipfel ſchwingen; 


Welt, ich fühle wieder deutſchen Wald, 
hoͤre deutſche Quellen ſingen! — 


54. Heidelberg 


Das alte Schloß ... Man zankt ſich wohlgeſinnt 

im Akademiſchen Kulturverein: 

Iſt's zu erneuern? — wie! — halb? ganz? — ja! nein! 
Der will das „Weſen“ wahren, Der den „Schein“, 
Jeder luͤgt Leben in den toten Stein 

und ſchilt die Andern wahrheitsblind. 

Ich ſehne mich nach einem Menſchenkind, 

das garnichts will als ganz natuͤrlich ſein. 


55. Bingen am Rhein 


Ou kleine Stadt am Strom, mir weltengroß, 

dir dank ich meine Mutter, dir das Weib, 

das mir ſo lieb iſt wie mein eigner Leib, 

ich williger Pilgersmann von Schooß zu Schooß. 
Du Strom, du großer, ſpiegelſt du mein Los? 
du kleine Welle, meinen Weltverbleib? 

Eilt nicht auch ihr mit Seel und Leib 

von Schooß zu Schooß, 

von Bergesſchooß zu Meeresſchooß?! — 


Wiederſehn 


Eh du kamſt, ſchienen mir 
alle Schiffe im Hafen 
Unheil zu bruͤten 

auf der ſteigenden Flut. 


Und nun laͤchelſt du ihnen, 
weil mein Blick drauf geruht hat; 


121 


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und ich lache ihnen, 
weil Dein Blick drauf geruht hat; 
und alles iſt gut. 


Siegerin 


Mit deinem Laͤcheln bewaͤltigſt du die Nacht: 
ich fuͤhl's um deine Lippen ſchweben 
und ſehe Sterne aufgehn in meiner Seele. 


Mit deinem Lachen bewaͤltigſt du den Tag: 
ich ſeh's aus deinen Augen ſtrahlen 
und fuͤhle die Sonne in mich verſinken. 


Letzte Bitte 


Lege deine Hand auf meine Augen, 


daß mein Blut wie Meeresnaͤchte dunkelt: 


fern im Nachen lauſcht der Tod. 


Lege deine Hand auf meine Augen, 
bis mein Blut wie Himmelsnaͤchte funkelt: 
ſilbern rauſcht das ſchwarze Boot. 


Zweier Seelen Lied 


Lieber Morgenſtern, 
lieber Abendſtern, 
ihr ſcheint zwei 
und ſeid eins. 


Ob der Tag beginnt, 

ob die Nacht beginnt, 

findet euer Schein 

in uns Zweien die Liebe wach. 


Lieber Abendſtern, 
lieber Morgenſtern, 
hilf uns Tag fuͤr Tag 
eins ſein, bis die letzte Nacht uns eint. 


Pſalm zweier Sterblichen 
Von Ida und Richard Dehmel 


Der Mann: 


Goͤttin Zukunft, 

mit gefeſſelten Haͤnden haͤltſt du 
eine geſchloſſene Schriftrolle, 

drin mein Schickſal verzeichnet ſteht. 
Langſam, Tag fuͤr Tag, 

ringe ich deinen Fingern 

Zoll fuͤr Zoll die Urkunde ab, 

Zeile fuͤr Zeile. 

Bis der Augenblick kommt, 

wo das entrollte Papier, 

eh ich das letzte Wort noch las, 
meinem erſchoͤpften Arm entfaͤllt; 
und mit gefeſſelten Haͤnden 

gibſt du den Winden zur Sage anheim, 
was ich tat. 


Das Weib: 
Schickſalsgoͤttin, 
ich liege vor dir auf den Knieen. 
Du haͤltſt in deinen, ach, gefeſſelten Haͤnden 
eine goldene Tafel, 
drin die Namen nur derer eingegraben ſtehn, 
die Unvergeßliches taten. 
Auf den Knieen, Schickſalsgoͤttin, 


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bitte ich dich: 

Laß mich nicht ins Namenloſe verſinken! 
Spreng deine Feſſeln — oder 

nur einen Augenblick 

reich mir die goldene Tafel, 

und neben die Runen der Helden und der Weiſen 
ſchreibe ich hinſinkend: 

Ich liebte. b 


Im Geiſte 


Ich ſteh im Geiſte an ein Grab gefuͤhrt, 

wo Eine ruht, die ſo beſeelend lebte, 

daß ich nicht glauben kann, ihr Geiſt entſchwebte; 
ich ſteh wie einſt vor ihr, ſo rein geruͤhrt. 


Und dort ſteht Einer, deſſen Auge ſchuͤrt 

noch reiner an, was damals in mir bebte; 

er wars, der zart ihr Reinſtes mir verwebte, 
und ſteht nun ſtarr, als haͤtt er's nie geſpuͤrt. 


Du Huͤter dieſes heiligen Grabes, wehre 
der Andacht nicht, die Geiſt dem Geiſt hier weiht; 
es bebt in dir wie mir das ſeelvoll Leere. 


Die wirren Zeiten haben uns entzweit; 
hier aber ruͤhrt uns Klarheit, und ich kehre 
vereint mit dir den Blick zur Ewigkeit. 


Nachglanz 


Einſt geliebte Seele, 
immer noch empfundne, 


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ſternklat weiſt die Nacht mir Weiten, 
die auch dich umſchließen, 
du entſchwundne. 


Guͤtig glaͤnzen wieder 

alle Lichter oben, 

die uns je zu gleicher Andacht 
von der truͤben Erde 
auferhoben. 


Einſamkeit und Dunkel 

ſind nun nicht mehr Qualen. 
Dankbar betet Seel in Seele: 
Sterne, all ihr Sterne, 

helft uns ſtrahlen! 


Verewigung 


Freund in der Ferne, wer du auch ſeiſt, 
Fluͤchtling auf der Erde wie ich, 

die wir zwiſchen den Sternen hauſen, 
du ein Unvergaͤnglicher, 

ich ein Unvergaͤnglicher, 

weil wir's fuͤhlen — 

ſieh, ich feire eine Seelenbefreiung. 

Ich ſitze am Sarg einer lieben Geſtalt, 
wie ich an manchem Sarg ſchon ſaß 
und an manchem noch ſitzen werde: 

ich habe geweint, ich laͤchle. 

Dieſe liebe Geſtalt wird bald zerfallen; 
nie mehr wird ihr Mund mir Raͤtſel aufgeben, 
ihre Hand mir die Stirnfalten löſen, 


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nie wieder werden ihre Augen 

mir die Sonne ins Herzdunkel fpiegeln. 
Nichts wird weiterleben von ihrer ſchlanken Erſcheinung, 
nichts als ein Schemen in meinem Gedaͤchtnis, 

bald verdraͤngt durch ihr Bild von fremder Malershand, 
durch viele andre Schattenbilder, 

und auch die werden alle zerfallen. 

Nur was ſie ſeelvoll zuſammenhielt, 

was uns zuſammenhaͤlt noch beide, 

warum wir Blick in Blick einſt erbebten: 

nur das wird bleiben zwiſchen den Sternen, 

wird immer neue Geſtalt annehmen, 

wird warten, daß auch ich mich verwandle, 

bis wir einander wieder erſcheinen 

in den Schaaren der Atherdaͤmonen, 

wieder erbeben. 

Dann werden wir uns wohl begruͤßen 

wie einſt auf Erden das erſte Mal: 

uns nicht erkennend, nur begluͤckend, 

viel zu beſeligt der neuen Gegenwart, 

als daß wir alter Zeiten gedaͤchten. 

Und werden uns wohl wieder wundern, 

im ſtillen fuͤhlend: das letzte Mal, 

da haben wir geweint zuſammen, 

da mußten wir uns noch befreien — 

jetzt laͤcheln wir, jetzt laͤcheln wir — 

wir Unvergaͤnglichen — — 


Am Ufer 


Die Welt verſtummt, dein Blut erklingt; 
in ſeinen hellen Abgrund ſinkt 
der ferne Tag, 


. 


er ſchaudert nicht; die Glut umſchlingt 
das hoͤchſte Land, im Meere ringt 
die ferne Nacht, 


ſie zaudert nicht; der Flut entſpringt 
ein Sternchen, deine Seele trinkt 
das ewige Licht. 


Aufrichtung 


Hoͤrſt du Nachts die leere Stille ſchallen? 
Tote Seelen rufen dich von fern. 

Eine aber war dir wert vor allen; 

o, nun moͤchteſt du vor Schmerz ihr folgen, 
ihr und ihrem unſichtbaren Herrn. 

Und du kannſt nicht faſſen, 

daß du weiterlebſt, 

daß du deinen Arm zur Abwehr 

hoch ins Dunkel hebſt; 

und auf einmal ſchweigt es, 

und mit frommen Haͤnden 

legſt du deinen Schmerz auf einen Stern. 


Heilige Nacht 


Es ſteht ein Stern, der leuchtet klar, 
von Nacht zu Nacht, ſchon tauſend Jahr. 
Es kommt ein truͤber Wandersmann, 
an eine Stalltuͤr klopft er an. 


Wer biſt du, Mann? was ſuchſt du hier? 
Ich ſuche Gott in Menſch und Tier. 
Dann tritt herein, hier kannſt du ſehn 
Ochs, Eſel und ein Laͤmmlein ſtehn. 


A 


128 


Ein Laͤmmlein wie im Paradies; 

ein Knaͤblein ſtreichelt ihm das Vlies. 
Das Knaͤblein ſitzt auf Mutters Schooß, 
hat Augen wie der Stern ſo groß. 


Es ſieht der truͤbe Wandersmann 
die ſtole Magd, den Knaben an. 
Ja, ſieh nur in die Augen ſein, 

da ſiehſt du Gottes Glorienſchein! 


Ich aͤchzte wie ein Tier fuͤrwahr, 

indeß ich lag und ihn gebar; 

nun kroͤnt auch mich der Schoͤpferglanz, 
ſo ſchoͤn iſt keiner Jungfrau Kranz! 


Es ſteht der Wandersmann und ſinnt; 
es lacht die Magd und herzt ihr Kind. 
Das Laͤmmlein leckt an ihr hinauf; 
Ochs, Eſel ſtehn und horchen auf. 


O Mutter Gottes, hoͤre mich an, 

mich vielverſuchten Gottesmann! 

Vor deiner Schoͤnheit koͤnnt ich fliehn, 

vor deiner Wahrheit lieg'ich auf den Knien. 


Ich ging auf Erden hin und her: 
es hieß, daß Gott geſtorben wär, 
Doch ſiehe da: von jeder Magd 
wird er auſs neu zur Welt gebracht. 


Nun bin auch ich ein Gottesſohn; 

o Mutter, nimm dies Lied zum Lohn! 
Es ſteht ein Stern ſchon tauſend Jahr 

und leuchtet noch wie eiunſt fo klar. 


a 
D 


119. 


Evas Klage 


Stern im Abendgrauen, 
laß dein bleich Erſchauern; 
laß mich endlich ruhig 
heim gen Eden trauern. 


O Eden, mein Eden, 

Garten meiner Traͤume, 

warum gab mir Gott den Anblick 
deiner Fruͤhlingsbaͤume! 


Deine Sommerfluren 
hat er nicht behuͤtet; 

in den ſtolzen Garben 
hat der Blitz gewuͤtet. 


In dein Herbſtgefilde 

iſt der Sturm gekommen, 

hat mir von den Aſten 
Frucht auf Frucht genommen. 


Warum ſang der Fruͤhling, 
ſang von ſeligem Wandern 

nur auf Blumenauen, 

ſang von einem ſeligen Andern! 


Ach, er kam, der Andre, 

kam mit Glut und Flammen; 
uͤber meinen Blumen 

ſchlugen ſie zuſammen. 


Lachend aus der Aſche 
hat er mich getragen. 


129 


173 


In der kalten Fremde 


hat ihn Gott erſchlagen. 


Winter iſt geworden. 

Ach, ich moͤchte weinen. 
Aber ſeine Seele 

lacht noch in der meinen. 


Still auf ſeinem Grabe 
will ich warten, warten; 
meine Kinder irren 
ſuchend nach dem Garten. 


O mein Garten Eden, 
verlornes Eden, 

o Eden, mein Eden, 

ſtehſt du denn noch offen? 
Bis zur letzten Stunde 
will ich auf dich hoffen! 


Magſt du, Gott, mich toͤten, 
mag mein Traum vergluͤhen, 
aber meinen Kindern muß er 
neu erbluͤhen! 


Laß dein bleich Erſchauern, 
Stern im Abendgrauen! 
Endlich kann ich ruhig 
heim gen Eden ſchauen. 


Magſt du, Stern, verſinken, 
mag ich ſelbſt vergehen: 
meine Kinder werden 

Eden wiederſehen. 


Eines Tages 
Phantaſieen zweier Liebenden 
Morgen 


„Auf, mein ſchwarzer Zaubrer, auf, 
eile, ſpinne Gold, es tagt, 

ſchmuͤcke deine ſtolze Magd! 

Laß die Strahlen nicht verwittern, 
die dem Morgenſtern entſplittern! 
Heute Mittag muß die Erde 

ſich entzuͤcken am Geſchnauf 

deiner wilden Siegespferde! 

Auf, mein goldner Zaubrer, auf!“ 


Laß mich traͤumen, Zauberin, 

ſprich mir nicht vom Tag der Schlacht; 

nimm die Strahlen, ſpinn ſie, ſpinn. 

Mich verſtoͤrt das Marktgepraͤnge, 

wo die Erze vor der Menge 

zur verſtaubten Sonne droͤhnen. 

Überirdiſch iſt die Nacht, 

wo die heimlichen Geſaͤnge 

meiner zahmen Schlangen toͤnen; 

ſprich mir nicht vom Tag der Schlacht, 

laß uns traͤumen, Zauberin, 

nimm den ganzen Himmel hin 
Mittag 

„Aber jetzt, mein Held, mein Sieger, 

komm, mein Koͤnig, komm, mein Krieger, 

gib dich nicht den Gaffern preis! 

Wirf ſie weg, die blanken Baͤlle, 

die ſo kalt, ſo glaͤſern klingen 

und vor Hitze faſt zerſpringen; 


131 


132 


führe mich an eine Quelle, 

dies Getuͤmmel riecht nach Schweiß! 
Komm, was ſtehſt du bei den Leuten, 
du ermatteſt nur im Schwarm; 

und bis Abend muß dein Arm 

noch ein drittes Reich erbeuten!“ 


Koͤnigin, du ſtoͤrſt mein Spiel. 
Auf mein Volk herabzuſehen, 
wahrlich, das war nicht mein Ziel. 
Schau: in dieſem kleinen Ball, 
weiß man ihn nur recht zu drehen 
und das wird man bald verſtehen, 
ſpiegelt ſich das große All. 

Spiele mit! Komm, Siegerin, 
nimm den ganzen Erdball hin... 


Abend 


„Iſt hier nicht das dritte Reich? 
ach, mein raſcher Pilger, ſaͤume! 
Banunt dich nicht der dunkle Teich, 
uͤber den die Lilienbaͤume 

ihren ſuͤßen Atem breiten? 

Und ſchon naht der Elefant, 

drauf der Buddha Ewigkeiten 

uͤber unſre Seelen ſpannt. 

Ja, mein Zaubrer: ſpiele! traͤume!“ 


Pilgerin, mir kommt ein Bangen; 
ſiehſt du nicht im bunten Laube 
jene großen Schlangen hangen, 

die mir fremd ſind? und ich glaube, 


daß fie Traͤumern Unheil brüten. 
Ahnſt du nicht, wonach ich ſuche? 
Nicht nach uͤppigem Geruche! 

laß uns wachen, Pilgerin! 

Brich dir eine dieſer Bluͤten; 
und, im Haar die weiße Blume, 
folge mir zum Heiligtume, 

nimm die Ewigkeit da hin 


Nacht 


„Willſt du mich denn nie erhoͤren? 
Nennſt du dazu mich die Deine, 
um mich langſam zu zerſtoͤren? 
Ich zerfalle faſt in Stuͤcke; 

wohin führt nun dieſe Bruͤcke, 

die der Mond in Schatten legt? 
Immer neue Meilenſteine! 

ich bin muͤde! mich bewegt 

keine Liebe mehr zum Ruhme, 
auch zu keinem Heiligtume; 

nimm mir aus dem Haar die Blume — 
ſieh, mein Einziger, ich weine.“ 


Weine, weine, wein es aus! 

O, nun darf ich mich dir beugen, 
Weib, dort ſchimmert unſer Haus. 
Hinter jener hellen Scheibe, 

nur noch Seele, nur noch Sinn, 
die du biſt und der ich bin, 
werden wir mit nacktem Leibe 
einen neuen Menſchen zeugen — 
o du Meine, nimm mich hin! 


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Eine Lebensmeſſe 
Dichtung für ein feſtliches Spiel 


Chor der Greiſe: 


Wenn der Menſch, 

der dem Schickſal gewachſen iſt, 

ſein zerfurchtes Geſicht 

vor der Allmacht der Menſchheit beugt, 
nur noch vor der Menſchheit: 

dann wird ſeine Seele wie ein Kind, 
das im Dunkeln mit geſchloſſenen Augen 
an die Maͤrchen der Mutter denkt. 
Alle Sterne 

werden dann ſein Spieliengz 

durch das wilde Feuerwerk der Welt 
kreiſt er furchtlos mit den unſichtbaren 
muͤtterlichen Fluͤgeln, 

ſieht er innig und verwundert zu, 

wie das Leben 

aus der Werkſtatt des Todes ſpruͤht. 
Denn nicht uͤber ſich, 

denn nicht außer ſich, 

nur noch in ſich 

ſucht die Allmacht der Menſch, 

der dem Schickſal gewachſen iſt. 


Eine Jungfrau: 


Aber wenn auf Fruͤhlingswegen 
durch den ſcheinbar duͤrren Hain 

alle Kraͤuter mir entgegen 

wachſen, wenn im Sonnenſchein 
jedes Auge Oſterkerzen 

aus ſich ausſtrahlt, Menſch und Tier, 


und mir geht das fo zu Herzen, 

daß mich meine Bruͤſte ſchmerzen: 
dann gerat ich außer mir! 

und ich werf mich zum Erbarmen 

in den rauhen Raſen hin, 

und ich moͤchte das Schickſal umarmen. 
dem ich doch gewachſen bin! 


Chor der Vaͤter: 


Eine wandelnde Wage 

iſt der Menſch. 

Mit Haupt, Herz, Haͤnden 

waͤgt er ſein Wohl; 

nur mit der Rechten gibt er den Ausſchlag, 
und ſeine Zunge ſchreit nach Gleichgewicht. 
Faſſ feſten Fuß, 5 
du haſt die Macht der Wahl! 

Es kommen Viele 

vor Sehnſucht nie zum Ziel; 

gern bis zum Außerſten geht der Menſch 
in ſeiner Ohnmacht, und Tat wird Untat. 
Doch immer treibt ihn 

die Sehnſucht nach Ruhe: 

raſtlos raſt er von Bruſt zu Bruſt, 
Schooß zu Schooß, 

und ſucht nichts als den Menſchen, 

der dem Schickſal gewachſen iſt. 


Ein Held: 


Kommt mir nicht mit Euerm Treiben, 
ich weiß kein Ziel, ich will kein Wohl! 
ich habe nur dies mein Herz im Leibe, 
das von ſeher uͤberſchwoll. 


238 


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Ich hatte Freunde, ich gab Gelage, 
und manches Weib war mir zu Sinn; 
aber an einem Sommertage 

zeigte ſich mit Einem Schlage, 

wozu Ich gewachſen bin. 

Das Spiel der Hoͤrner und der Geigen 
verſtummte plotzlich wuͤſt und irr: 
mitten durch den Erntereigen 

kam ein losgeriſſener Stier. 

Und da riß mich mein Herz vom Platze, 
und man griff nach mir vor Schreck; 
aber mit Einem Satze 

ſchlug ich dem Freund in die Fratze, 
ſtieß ich das Weibsbild weg! 

Und jetzt reit ich von Sieg zu Siegen 
bahnfrei auf meinem Stier dahin, 

bis ich dem Schickſal erliege, 


dem ich gewachſen bin. 


Chor der Mütter: 


Mit Schweiß und Traͤnen 

und manchem Tropfen Blut 
ſetzen wir Kinder auf dieſe Erde 
und lehren ſie Vorſicht 

und uͤben Nachſicht, 

bis ſie ſich ſelbſt mehr lieben als uns. 
Und Schweiß und Traͤnen 

und Stroͤme von Blut 
vergießen die Kinder dieſer Erde 
vor lauter Vorſicht 

und lehren Nachſicht 

und lernen nie, was Liebe iſt. 
Denn Schweiß und Traͤnen 


und alles Blut 

vergeſſen wir entzuͤckt, wenn Einer, 

den Blick der Sonne oder fernſten Sternen zugewandt, 
uͤber die Erde hinſtuͤrmt ohne Vorſicht, 
ohne Nachſicht, 

uͤber ſich und Andre hin. 

Jeder Lehre zuwider, 

nur dem Leben zu Liebe, 

ruͤhmen wir Kindern und Kindeskindern 
opferſelig den Einen, 

ſchoͤpferſelig den Menſchen, 

der dem Schickſal gewachſen iſt. 


Eine Waiſe: 


Ich kenne Keinen, 

der mich will leben ſehn; 

ich moͤchte weinen, 

aber um wen! 

Bald kommt der Herbſt mit ſeinen Stuͤrmen, 
die Blaͤtter ſchwirren; 

wo werd'ich irren, 

wenn ſie den winzigſten Gewuͤrmen 
Heimſtaͤtten tuͤrmen? 

Wohl ſtehn mir Huͤtten, 

Palaͤſte offen; 

aber ich moͤchte mein Herz ausſchuͤtten, 
Einem ins Herz zu wachſen hoffen, 
und dann ſtehn die Menſchen betroffen. 
Koͤnnt ich noch weinen, 

waͤre mir wohl zu Sinn; 

ich kenne Keinen, 

dem ich gewachſen bin. 


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Zwei erfahrene Sonderlinge: 
Wenn uns Hilferufe ſchmerzen, 
koͤnnen wir nicht abſeits bleiben; 
eins und gleich iſt unſern Herzen, 
was uns treibt und was wir treiben. 
Sei getroſt! 


Der eine allein: 


Komm an meinen ſtillen See, 
wenn die Menſchen dich nicht wollen. 


Der andre allein: 
Komm auf meinen wilden Strom! 
ſieh, wie hell die Wellen rollen! 


Der Eine: 
Aber unten iſt es dunkel; 
komm an meinen ſtillen See! 
Bis zum Grunde welch Gefunkel, 
wenn die Sonne taucht ins Feuchte; 
und in Naͤchten welch Geleuchte, 
Welten flimmern auf wie Schnee! 
Kannſt du dich denn noch beſinnen, 
wenn dir alle Himmel winken? 
wenn ſie dir zu Fuͤßen ſinken 
und dich ſpiegeln und dich trinken! 
Laͤchelnd gehſt du unter drinnen. 


Der Andre: 
O, du kannſt dich noch beſinnen; 
aber komm auf meinen Strom! 
Da rauſcht und raunt der Urton drinnen, 
dem Wellen, Wolken, Waͤlder, Zinnen, 
Berge und Burgen entgegenrinnen, 


und orgelſtürmiſch Dom auf Dom: 
der Ton des Urſprungs aller Ziele, 

der Tropfenſtuͤrze um dich her, 

des Abgrunds unter deinem Kiele — 
Und ſo gehſt du mit klingendem Spiele 
lachend auf ins große Meer! N 


Die Waiſe: 
Auf —! Ach —: weiſe — lieb und weiſe 
lachen ſie mich Beide an. 
Ach, wem dank ich fuͤr die Reiſe? 
Bin ich doch nur eine Waiſe, 
die ſich nicht zerreißen kann! 


Die zwei Sonderlinge: 


Hahahah, du liebes Kind! 
Ohne Einfalt iſt am Ende 

alle Weisheit taub und blind. 
Komm: vereine unſre Haͤnde — 


Die drei Einigen: 
die dem Schickſal gewachſen find! 


Der Held: 


Wenn ich Euch in Eintracht ſehe, 
wird mir ploͤtzlich kalt und heiß; 
durch mein Herz brandet ein Wehe, 
das ſich nicht zu laſſen weiß. 

Holt mir jene Jungfrau vom Wege, 
der das Land zu eng war hier! 
Schwillt mir Deren Herz entgegen, 
will ich ſie an Mein Herz legen, 
und ich ſchlacht ihr meinen Stier! 


139 


Und wir ſteigen zu Schiff und lenken 


uns durch Wetter und Waſſer und Wind; 


und ſie ſoll mir Kinder ſchenken, 
die dem Schickſal gewachſen ſind! 


Chor der Kinder: 
Dann wird ein Winter kommen, 
friert alles Waſſer zu: 
da haben alle Wellen, 
alle Schiff lein Ruh. 
Und ein ſtiller Weihnachtsengel 
geht von Haus zu Haus, 
hebt ſeine weißen Finger, 
dreht alle Lampen aus 
Bringt ein gruͤnes Baͤumchen mit, 
ſteckt neue Lichter auf; 
das glaͤnzt wie Fruͤhlingsbluͤtennacht, 
und ſind auch Fruͤchte drauf. 
Du ſtiller Weihnachtsengel, 
mach uns geſchickt wie Du! 
wir ſind ja noch ſo klein, ſo klein, 
und wachſen immer zu 


Die Greiſe: 
— immer zu — — 


Alle Großen: 


Seele der Menſchheit, 


immer wieder 

ruͤhrſt du uns aus Kindermund. 
Die du alle Tiere in dir traͤgſt 

und den Blumen ihre Farben ſagſt 
und mit jauchzenden Jammerlauten, 
daß ſich Steine verwandeln, 


Götter gebaͤrſt: 

Warum ſuchen wir Dich, 

die du in uns biſt, 

uns in alle Welten ſchickſt, 

uns mit Übergewalten, 

die den weiſeſten Mann empoͤren, 

zu Kindern machſt, 

die ſich fromm in Alles ſchicken, 

Alles, Alles, 

die dem Schickſal gewachſen find?! — 


Zwiegeſang uͤberm Abgrund 


Des Todes Stimme: 
Du pfadloſer Sucher, 
ich will dich heimfinden laſſen. 
Im Schneeſturm, im Nebelbrodem, 
im Blitzſtrahl, im Wolkenbruch, 
im berauſchenden Wirbel des Lichts von Welle zu Welle 
ſollſt du dich ſchaukeln traumgewiegt, 
in jeder Luftſpiegelung zuhauſe, 
in jedem Steinfunken, jedem Samenflimmer, 
ruhſamer Phoͤnirx im fliegenden Feuerneſt: 
tu nur den Schritt jetzt, vor dem dir graut, 
zu dem dein Grauen dich kniefaͤllig lockt, 
den einen Sprung von deinem erkrochenen Gipfel 
in meine allbeſchwingende, 
allverſchlingende, 
unerſchoͤpfliche Tiefe. 


Eines Menſchen Erwiderung: 
Verſucher, zielloſer du, 
ich danke dir. 


141 


142 


Hab ich nicht ſchon, was du alles verſprichſt! 

Die Jagd durchs Luftmeer vom fruͤhen Morgen au, 
die Entzuͤckung, mich wie ein Baum zu fuͤhlen, 
wenn ich die Arme ins Blaue ſtrecke, 

vogelleicht atmend mit heißen Lungenfluͤgeln, 
wurzelhafte Schwermut im Nerven; und Adern⸗Geflecht, 
Kopf, Herz, Schooß voller Keimtriebe! 

Und hab ein Ziel: 

bei der Heimkehr Abends in ſtiller Kammer 

den dunkeln Blick meiner lieben Frau, 

mit dem ſie mir den Schlaftrunk reicht, 

einen irdnen Krug voll Milch oder Wein 

und voll Ruhe. 


Am Opferherd 


Komm an mein Feuer, mein Weib, 

es iſt kalt in der Welt. 

Komm an mein Feuer und lege 

dein Ohr an mein Herz. 

Komm an mein Feuer und mache aus meinen Haͤnden 
eine leuchtende Schale fuͤr die Waͤrme, 

die wir — o wir, mein Weib — verſchwenden 

an die Welt. 


Leitlied 


Offne ſtill die Fenſterſcheibe, 

die der volle Mond erhellt; 

zwiſchen uns liegt Berg und Feld 
und die Nacht, in der ich ſchreibe. 
Aber oͤffne nur die Scheibe, 

ſchau voll uͤber Berg und Feld, 
und hell ſiehſt du, was ich ſchreibe, 
an den Himmel ſchreibe: Wir Welt! 


Erſter Umkreis 


— Die Erkenntnis — 
* 


Eingang 


Steig auf, ſteig auf mit deinen Leidenſchaften, 
tu ab die lauliche Klagſeligkeit; 

lach oder weine, hab Luſt, hab Leid, 

und dann recke dich, bleib nicht haften! 
Um den Drehpunkt des Lebens kreiſen 
Wonne und Schmerz mit gleichem Segen; 
ſieh, mit unaufhaltſamer Sehnſucht weiſen 
die Menſchen einander Gott entgegen! 
Stolpert auch Jeder uͤber Leichen, 
ſchaudre nicht davor zuruͤck! 

denn es gilt, o Menſch, ein Gluͤck 

ohne gleichen zu erreichen. 


3 
Vorgaͤnge: I, 1-36 


I, 


Zwei Menſchen gehn durch kahlen, kalten Hain; 
der Mond laͤuft mit, ſie ſchaun hinein. 

Der Mond laͤuft uͤber hohe Eichen; 

kein Woͤlkchen truͤbt das Himmelslicht, 

in das die ſchwarzen Zacken reichen. 

Die Stimme eines Weibes ſpricht: 


Ich trag ein Kind, und nit von Dir, 
ich geh in Suͤnde neben dir. 
Ich hab mich ſchwer an mir vergangen. 


145 


i 
4 En ö 


Ich glaubte nicht mehr an ein Glüd 
und hatte doch ein ſchwer Verlangen 
nach Lebensinhalt, nach Muttergluͤck 
und Pflicht; da hab ich mich erfrecht, 
da ließ ich ſchaudernd mein Geſchlecht 
von einem fremden Mann umfangen, 
und hab mich noch dafuͤr geſegnet. 
Nun hat das Leben ſich geraͤcht: 

nun bin ich Dir, o Dir, begegnet. 


Sie geht mit ungelenkem Schritt. 

Sie ſchaut empor; der Mond laͤuft mit. 
Ihr dunkler Blick ertrinkt in Licht. 

Die Stimme eines Mannes ſpricht: 


Das Kind, das du empfangen haft, 
ſei deiner Seele keine Laſt, 

o ſieh, wie klar das Weltall ſchimmert! 
Es iſt ein Glanz um alles her; 

du treibſt mit mir auf kaltem Meer, 
doch eine eigne Waͤrme flimmert 

von dir in mich, von mir in dich. 
Die wird das fremde Kind verklaͤren, 
du wirſt es mir von mir gebaͤren; 

du haſt den Glanz in mich gebracht, 
du haſt mich ſelbſt zum Kind gemacht. 


Er faßt ſie um die ſtarken Huͤften. 
Ihr Atem kuͤßt ſich in den Luͤften. 
Zwei Menſchen gehn durch hohe, helle Nacht. 


8 


— 


Oie Sonne ſtrahlt auf rauhen Reif; 
Baum bei Baum ſteht weiß, ſteht ſteif. 


146 


Aus ihren Peljen von Kriſtallen 


aaſſen die Zweige Tropfen fallen. 


10* 


Schon zeigt ein Wipfel nackte Spitzen, 

die feucht und ſcheu gen Himmel blitzen. 

Der Park will weinen, die Sonne lacht; 

zwei Menſchen beſchauen die ſchmelzende Pracht. 
Sie ſtehn auf eiſernem Balkone. 

Ein Mann ſagt innig, ſagt mit Hohn: 


So, Fuͤrſtin, wars im blendenden Saale. 
So ſtandeſt du bei deinem Gemahl 

in deinem Pelz von Silberbrokat, 

als ich, ein Lohnmenſch, vor dich trat. 
Da: fuͤhlſt du's noch? was war da ich, 
der hergeſchneite Unbekannte — 

und wie ſich ploͤtzlich außer ſich 

dein Auge doch in meines brannte 

und immer nackter ſich entſpannte, 

als ob im glitzernden Gehoͤlze 

das Schwarze aus dem Weißen ſchmoͤlze. 
Ja, Fuͤrſtin, da beherrſcht ich mich 

und kuͤßte nicht, o Du, die Hand, 

die ſchon zu mir heruͤberfand, 

ſonſt haͤtt ich auch den Mund gekuͤßt; 

ſo klar, ſo ſtarr ergriff mich dein Geluͤſt, 
mit mir gleich zwei erſchuͤtterten Kriſtallen, 
die maͤchtig warm das ewige Licht beſchlich, 
in Einen Tropfen zuſammenzufallen. 

So biſt du mir; ſo rein, ſo frei! — Und ich?? 


Hoch ſteht der Park mit Eis beſiedert. 
Die ſtarren Wipfel, Trieb an Trieb, 
erſchauern wirr. Das Weib erwidert: 


147 


148 


Ich weiß nicht, wie du biſt — du biſt mir lieb — 


Ein Windſtoß ſtoͤbert durch den Park. 
Zwei Menſchen froͤſtelt bis ins Mark. 


— 
* 


Aus erleuchteten Fenſterraͤumen 

toͤnt in die Nacht Muſik und Tanz; 
jenſeits der Straße verſchwimmt der Glanz 
unter dunklen Trauerbaͤumen. 

Ein Kirchhof ſchweigt da, Grab an Grab. 
Das Licht prallt von den Leichenſteinen, 
die ſchwarz durch weiß zu huſchen ſcheinen; 
zwei Menſchen wandeln auf und ab. 

Am winterlich durchnaͤßten Zaune 

toͤnt eines Weibes zoͤgerndes Geraune: 


Schon Einmal wollt ſich bei ſolchen Klängen 

Einer in mein Innres draͤngen; 

ich hatt ihn Jahr und Tag gekannt. 

Wenn er in meiner Naͤhe ſtand, 

ging mir das Blut in Feuerfluͤſſen. 

Als er mich endlich wagte zu kuͤſſen, 

war alles in mir abgebrannt. 

Ich hoͤrte nur die Tanzmuſik: 

was er wie Sphaͤrenklang empfand, 

war mir Gedudel und Gequiek. 

Ich konnt mir nit ein Woͤrtchen abringen. | 
Jetzt — hör ich Engelsharfen klingen. 4 


Von den goldig glänzenden Lettern 
der Gräber ſcheint der Glanz abzublaͤttern, 


r 


das Licht ſchielt um die naſſen Gitter. 
Ein Mann geſteht, faſt mit Gezitter: 


Wir haben einander ſehr aͤhnlich gelebt. 
Unſre Liebe tanzt auf Leichen, 

die keine fromme Hand begraͤbt. 

Noch geſtern ſah ich ein Geſicht erbleichen: 
ſie will vom Leben nichts als mich, 

ich konnt ihr nichts als Mitleid reichen, 
in das ſich noch Verachtung ſchlich. 

Ich liebe dich. 


Das Licht lacht auf den blanken Steinen. 
Zwei Menſchen moͤchten lachen und weinen. 


4. 

Zwiſchen geputzten Herren und Damen, 
die durch Zufall zuſammenkamen, 
wiegen zwei Menſchen ſich im Tanz; 
um ſie rauſcht des Saales Glanz. 
Bebend legt ſich im Kreis der Kerzen 
ſein dunkles in ihr ſchwarzes Haar, 
legt ſich uͤber zwei bebenden Herzen 

an ihr Ohr ſein Lippenpaar: 


Ja, du: wiege dich, laß dich fuͤhren, 

und fuͤhl's, fuͤhl's: Niemand kann uns trennen! 
Laß uns nichts als Uns noch ſpuͤren, 

ſelig Seel in Seele brennen! 

Zehn Jahr lang glaubt ich, daß ich liebte; 

zu Haufe ſitzt mein Jugendgluͤck, 

ſitzt und ſtarrt auf Einſt zuruͤck, 

als ich ſie noch „ewig“ liebte. 


149 


150 


Nimm mich, wiege mich! — Singegeten 
bringt fie jetzt ihr Kind zur Ruh; 

iſt auch mein Kind! — Nimm mich, Leben, 
wiege, wiege mich, führ mich Du! 


Taumelnd draͤngt ſich im Kreis der Kerzen 
ſein wirres in ihr wirres Haar, 
draͤngt ſich uͤber zwei taumelnden Herzen 


an ſein Ohr ihr Lippenpaar: 


Ja, es wiegt uns! Nit erzaͤhlen! 

Fuͤhre mich ſanfter! Nit uns quaͤlen! 
du biſt mir gut, ich bin dir gut. 

Hab doch auch die Seel voll Schmerzen: 
ſpuͤr ein Kindchen unterm Herzen, 

und iſt nicht von Deinem Blut. 
Sanfter noch — mir brauſt vor Hitze; 
komm, ſei lieb, mein wilder Tor, 

huͤte deine Augenblitze — 

nick mal — lach mal — mir ins Ohr! 


Ihr ſchwarzes Haar erſchauert ganz. 
Zwei Menſchen wanken; es ſtockt ihr Tanz. 


5+ 


Hitze ſchwingt. Ein Raum voll Schlangen 
ſtroͤmt durch Glas und Gitterſtangen 
Dunſt; zwei Menſchen ſtehn davor. 

Die geſaͤttigten Gewuͤrme haͤngen 

ſtill in buntverflochtnen Straͤngen. 

Einem Manne haucht ein Weib ins Ohr: 


Du, die Schlangen muß ich lieben. 
Fuͤhlſt du die verhaltne Kraft, 

wenn ſie langſam ſich verſchieben? 

Eine Schlange möcht ich mir wohl zaͤhmen; 
moͤcht ihr nit ein Gliedche laͤhmen, 

wenn ihr Hals vor Zorn ſich ſtrafft. 

Eh ſie noch vermag zu fauchen, 

werden ihre Augen naͤchtig — 

Sterne tauchen 

wie aus Brunnenloͤchern auf — 

ſetz ich ein Rubinenkroͤnche 

auf ihr Stirnche: ſtill, mei Soͤhnche, 
zuͤngle, Juͤngle — Ringle, lauf, 

ſpiel mit mir! — Du, Das waͤr praͤchtig. 


Hitze ſchwingt. In gleichen Zwiſchenraͤumen 
tippt ihr Finger an die Scheibe; 

ihre Augen ſtehn in Traͤumen. 

Waͤhrend ſich zwei Vipern baͤumen, 

ſagt ein Mann zu einem Weibe: 


Du mit deinem egypfifchen Blick, 
biſt du ſo wie die dadrinnen? 
Noch, du, kann ich dir entrinnen! 
Daraus knuͤpft man ſein Geſchick, 
was und wie man haßt und liebt. 
Komm: wir wollen uns beſinnen, 
daß es Tiere in uns giebt! 


Hitze ſchwingt. Zwei Augen wuͤhlen 
brandbraun in zwei grauen kuͤhlen; 
doch die ſtaͤhlt ein blauer Bann. 

Und zwei Seelen ſehn ſich funkelnd an. 


152 


6. 


Durch ſtille Daͤmmrung ſtrahlt ein Weihnachtsbaum. 
Zwei Menſchen ſitzen Hand in Hand und ſchweigen. 
Die Lichter zuͤngeln auf den heiligen Zweigen. 

Ein Mann erhebt ſich, wie im Traum: 


Ich kann zu keinem Gott mehr beten 

als dem in dein⸗und⸗meiner Bruſt; 

und an die Gottſucht der Propheten 

denk ich mit Schrecken ſtatt mit Luſt. 

Es war nicht Gott, womit ſie naͤchtlich rangen: 
es war das Tier in ihnen: qualbefangen 
erlag's dem ringenden Menſchengeiſt. 

O Weihnachtsbaum — o wie ſein Schimmer, 
ſein paradieſiſches Geflimmer 

gen Himmel zuͤngelnd voller Schlaͤnglein gleißt! 
Wer kann noch ernſt zum Chriſtkind beten 

und hoͤrt nicht tiefauf den Propheten, 

indeß ſein Mund die Kindlein preiſt, 

zu ſich und ſeiner Schlange ſprechen: 

du wirſt mir in die Ferſe ſtechen, 

ich werde dir den Kopf zertreten! 


Ein Weib erhebt ſich. Ihre Haut 

ſchillert braun von Sommerſproſſen; 

ihr Stirngeaͤder ſchwillt und blaut. 

Sie ſpricht, von goldnem Glanz umfloſſen: 


Ich denk nicht nach um die Legenden, 

die unſern Geiſt vieldeutig blenden; 

ich freu mich nur, wie ſchoͤn ſie ſind. 

„Uns iſt geboren heut ein Kind“ — 

das klingt mir ſo durch meine dunkelſten Gruͤnde, 


durch die zum Gluͤck, dank einer Ahnenſuͤnde, 
auch etwas Blut vom Koͤnig David rinnt, 

daß ich mich kaum vor Stolz und Wonne faſſe 
und deine Schlangenfabeln beinah haſſe! 


Er laͤchelt eigen; ſie ſieht es nicht. 
Ein Lied erhebt ſich, fern, aus dunkler Gaſſe. 
Zwei Menſchen lauſchen — dem Lied, dem Licht. 


72 
Kaminfeuer und blauer Tag 
liebkoſen ein hohes Damengemach, 
die Waͤrme ſcheint ſchier fruͤhlingshell; 
zwei Menſchen ruhn auf einem Eisbaͤrfell. 
Der Mann beſtarrt die meergruͤn ſeidnen Waͤnde. 
Das Weib faßt zaͤrtlich ſeine Haͤnde: 


Quaͤlſt dich ſchon wieder mit Alltagsſachen? 

Lukas! mein Traumprinz! ſollſt doch lachen! 

Sollſt uns mit Maͤrchennamen taufen; 

nit ſo hinterm Leben herlaufen, 

nit ſo haͤßlich auf deiner Hut ſein. 

Weißt? wenn du lachſt, Lux, muß alle Welt dir gut ſein! 


Er lacht und Füße die ſchmeichelnden Fingerſpitzen, 
faͤhrt durch den dunkeln Haarbuſch ſich, 
und ſeine grauen Augen blitzen: 


Ja — wenn ich traurig bin, haſſ ich mich; 

dann wird wohl auch die Welt mich haſſen. 

Jetzt aber will ich dich beim Worte faſſen, 

Lea: hoͤchſt wirklich tauf ich dich. 

Es tut nicht not, daß man dem Alltag trotzt; 

es gibt kein Wort, das nicht von Maͤrchen ſtrotzt. 


153 


154 


Drum bleibe nur das Wunder, das du biſt, 
und ich bin Lukas dein Evangeliſt. 

Du biſt die Fuͤrſtin Iſabella Lea, 

die loͤbenkuͤhne Gottbeſchwoͤrerin; 

aus deiner ſchwarzen Maͤhne, mea Dea, 
lauſcht Mutter Iſis, Mutter Gaͤa 

zum Lichtbringer Oſiris hin. 

Denn hier thront Lukas Lux, dein Sekretär, 
das dunkle Raubtier mit den hellen Lichtern, 
der Große Geiſt⸗Luchs der Indianermaͤr, 
verhaßt wie Lucifer den Blaßgeſichtern. 

So tauf und kroͤn ich dich mit neuem Sinn: 
komm, meine große Geiſtbeſchwoͤrerin! 


Er ſchlaͤgt das weiße Fell um ſie und ſich. 
Zwei Menſchen freun ſich koͤniglich. 


8. 


Sylveſternacht. Viel Glocken laͤuten. 

Fern graut die Großſtadt her. Zwei Menſchen ſehn 
den Dunſt des Horizontes leuchten 

und druͤber die Millionen Sterne ſtehn. 

Zwangvoll, um ein Weib nicht zu beruͤhren, 

lehnt ein Mann auf eiſernem Balkone, 

ſagt mit trunknem, heiſerm Ton, 

waͤhrend im Hauſe Glaͤſer klirren: 


Dort ſchlaͤft im Dunſt mein Eheweib, 

und Du — beſiehſt mit mir die Sterne. 

Und hinter uns trinkt Jemand Haut⸗Sauternes, 
dem du gehoͤrſt mit deinem Leib, 

mit deinem hoffnungsvollen Leib. 

Himmel, Himmel, o koͤnnt ich blind ſein! 


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bea! Blind fein! wirklich noch Kind fein! 


Nimm mir's ab, dies eifige Grauen: 


klar und kalt wie Gott durchſchauen: 
nur aus Leid iſt Gluͤck zu bauen. 
Alles Leid iſt Einſamkeit, 

alles Gluͤck Gemeinſamkeit — 


Er ſtockt. Die Glocken rings verſtummen; 
es iſt, als ob die Sterne ſummen. | 
Die Stirn erhebend ſagt ein ſchwangres Weib: 


Nur mir, nur Gott gehoͤrt mein Leib. 
Mir ſteht ein andrer Himmel offen, 

als ihn die Leidenden ermeſſen. 

Haſt du dein eignes Wort vergeſſen: 

Gott iſt der Menſch, auf den wir hoffen?! 
Uns ging kein Paradies verloren, 

es wird erſt von uns ſelbſt geboren. 
Schon reift in manchem Schooß auf Erden 
ein neuer Menſchenſohn — der ſagt: 

ſo ihr das Himmelreich nicht in euch tragt, 
koͤnnt ihr nicht wie die Kindlein werden! 


Es glitzern die Millionen Sterne; 
zwei Menſchen ſchauen in die Ferne. 


9. 
Ein Zimmer ſchwimmt voll Zigarettenduft, 
zwei Menſchen hauchen Ringe in die Luft. 
Immer wieder blickt ein Weib einen Mann 
verſtohlen an — 
ſeine offne Stirn, den kurzgehaltnen Bart, 
den Mund von traͤumeriſch verſchloſſener Art, 


155 


Hiebnarben neben den heftigen Nuͤſtern — 
und faͤngt wie unwillkuͤrlich an zu fluͤſtern: 


Dieſe Nacht war furchtbar. Ich konnt nit ſchlafen: 
mich quaͤlten die unausgeſprochnen Dinge. 

Es war halb Traum halb Hoͤllenſtrafe. 

Wie auf der Jagd — als ſtaͤke mein Hals in Schlingen; 
fern ſtand mein Gatte und ſchrie hetz⸗hetz! 
Ploͤtzlich ein Ruck: es war, als klinge 

das Telephon am Kopfend’ meines Betts, 

als wolle die Frau mich Grauenhaftes fragen, 
die du — o Lux: nit wahr? ich glaub, 

Dir kann ich Alles, Alles ſagen; 

o furchtbar, ſich mit Heimlichkeiten tragen! 

Nit, du? — Du! Lukas — Biſt du taub?! 


Schweigen. Ihre Augen ſchauen 
nachtbraun ſeine morgengrauen 
durch den Rauch verſchleiert an. 
Sacht die Lider ſchließend ſagt ein Mann: 


Fruͤher konnt ich ſchwer mit Leuten reden; 

jetzt ſprech ich mit dem Fremdeſten gern. 

Es geht ein Band von dir durch mich zu Jedem, 
als wenn wir Alle Engel waͤrn. 

Und doch: wer darf uns Teufeln trauen! 

Schon Eva hat zu klar erkannt: 

das Unerkannte iſt es, was uns bannt. 

Denn eine tiefe Wolluſt ſchlaͤft im Grauen. 


Sie laͤchelt eigen; er ſieht es nicht. 

Sie hauchen wieder Ringe in die Luft. 

Das Zimmer ſchwimmt voll Zigarettenduft. 
Zwei Menſchen horchen, was ihr Innres ſpricht. 


156 


10. 


Truͤber Tag und dunkle Ahnenbilder, 

blinde Spiegel, roſtige Wappenſchilder; 

und hohe Aktenwaͤnde. Und inmitten 

ſitzen zwei Menſchen mit ſeltſam kalten 
Anſtandsmienen da und halten 

Konferenz mit einem dritten. 

Dieſer blickt korrekt gekleidet 

und gelangweilt in die Welt, 

waͤhrend er verbindlichſt leidet, 

daß ein Mann ihm folgenden Vortrag haͤlt: 


Hoheit, ich fand in den Archivpapieren, 
die ich die Ehre habe zu regiſtrieren, 
gewiſſe halb politiſche Dokumente, 

die mancher arg mißbrauchen koͤnnte. 
Hoheit wiſſen, die Welt ſteckt heute 

voll exploſibler Elemente; 

und da in Fuͤrſtenhaͤuſern manchmal Leute 
antichambrieren, 

die andern in die Karten ſchauen, 

moͤchte ich lieber meinen Dienſt quittieren, 
wenn Hoheit mir nicht voll und ganz vertrauen. 


Hoheit raͤuſpert ſich und blickt voll Schonung 
und gelangweilt in die Welt. 

Oa ſich hierauf alles ſtill verhält, 

ſagt ein Weib mit ſeltſamer Betonung: 


Herr Doktor, wir danken voll Verſtaͤndnis. 
Und, um Vertrauen mit Vertrauen zu ehren: 
Hoheit mein Gatte huldigt der Erkenntnis, 
dem Lauf der Welt kann niemand wehren. 


157 


158 


Ihr raſcher Abſchied traͤfe uns empfindlich; 

ein Archivar von gleichen Qualitaͤten 

ſcheint mir zur Zeit ganz unauffindlich. 

Sie ſind, Herr Doktor, voll und ganz vonnoͤten. 


Sie neigt das Haupt ſeltſam verbindlich; 
Hoheit verneigt ſich, wie es Brauch. 
Zwei Menſchen laͤcheln; der dritte auch. 


II, 


Wolken flattern groß um den Mond; 

als ob in ſtaubenden goldbraunen Lappen 
eine maͤchtige Zauberſpinne thront. 

Die Schritte zweier Menſchen tappen 
durch eine ſchattenflackernde Gaſſe. 

Ein Weib ſagt mit entzuͤcktem Haſſe: 


Mein Herz darf Freiheit von dieſem Menſchen verlangen, 
der nichts als meine Mitgift hat gefreit, 

und der nichts liebt als ein alt Krongeſchmeid, 

das Einzige, was Ich von ihm empfangen. 

Es iſt ſehr ſchoͤn — ein Neſt von blinden Schlangen 
mit rauchtopaſenen Stirn⸗ und Ruͤckenflaͤchen; 

draus aͤugt, wie jetzt der Mond durchs Dunkel, 

ein großer blaͤulicher Karfunkel — 

den moͤcht ich ihm, das wuͤrde mich raͤchen, 

uͤber der Wiege meines Kinds zerbrechen! 


Wolken wuͤhlen ſchwer um den Mond; 
als ob durch ſilbergraue Schollen 
maͤchtige Maulwuͤrfe dringen wollen. 
Ein Mann entgegnet, ſehr betonend: 


Was du von ihm empfangen haſt, 


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vs it meiner RN feine ae 
auch nicht das Kind von ſeinem Blut! 


Aber ich hab ein unabwaͤlzbares Grauen 

vor den Geluͤſten ſchwangrer Frauen; 

die ſind der Seele blindeſte Brut. 

Vergleich mir nicht den Reiz von toten Steinen 
mit dem belebenden Licht, dem reinen; 

daß du jetzt arm biſt, leite dich hinauf! 

Was buhlſt du mit Topaſen und Karfunkeln — 
ſei reicher —: hebe deine dunkeln | 
Augen mit mir zum Himmel auf! 


Er ſtaunt: ſie ſteht jaͤh ſtill im Schreiten: 

in ihren Augen und Mundwinkeln ſtreiten 
Auflehnung, Pein, Verwundrung, Gluͤck, Ermatten. 
Zwei Menſchen werfen Einen Schatten. 


12. 
Kaͤlte glaͤnzt auf den Feldern. 
Arm in Arm, Hand in Hand 
ſehen zwei Menſchen aus fernen Waͤldern 
uͤber das ſtarrgefrorne Land 
die Sonne ſteigen. 
Ein Mann bricht das Schweigen: 


Und waͤrſt du arm wie jetzt die nackte Natur, 
und waͤr ich jeder andern Empfindung bar 
und ſpuͤrte nur 

den rauhen Maiduft aus deinem Haar, 

der wie das Moos⸗ und Kienharz⸗Schwelicht 
meiner Heimatwaͤlder mich beſeligt, 

es waͤr mir Inhalt genug vom Leben: 

du haſt mir den ewigen Fruͤhling gegeben. 
Du biſt mir blutlieb! — blick nicht ſo kalt 


159 


160 


auf deinen Fuß, der meinem gleicht! 
Was tuſt du ſtolz, wenn mit Gewalt 
meine Seele ſich deiner neigt? 


Komm, ſei mein Leichtfuß! komm dort auf den Huͤgel, 


wo die zwei Rehe im Sonnenglanz ruhn; 
ich geh in deinen, du gehſt in meinen Schuhn, 
und wenn wir wollen, haben wir Fluͤgel! 


Das Weib blickt nach den ſcheuen Tieren. 
Dann weicht ein ſtarrer Zug von ihren 
Lippen, als gebe ſie etwas preis: 


Ja? tu ich kalt? — Ja: kalt wie Eis, 

eh's ſacht zerſchmilzt in warmer Menſcheuhand, 
daß ſie heiß wird wie Feuerbrand. 

Ja —: Kalt oder heiß! nur nit lau! 

ſchwarz oder weiß! nur nit grau! 

das iſt der Wahlſpruch einer „armen“ Frau. 


Sie lacht; es klingt ihm hell wie Scherz 
und grell wie Schmerz im Sonnenſcheine. 
Sie legt die Hand, groß wie die ſeine, 
aus ſeinem Arm feſt auf ihr Herz. 

Zwei Menſchen kaͤmen gern ins Reine. 


13. 
Der Tag hat aufgehoͤrt zu ſchnein. 
Der graue Eichwald reckt ſich, weiß belaſtet, 
von einem letzten Licht betaſtet. 
Zwei Menſchen waten querforſtein. 
Tief Atem ſchoͤpfend ſagt ein Weib und raſtet: 


Ich bad ſo gern durch friſchen Schnee, 
durch den noch Keiner gegangen iſt. 


Wenn ich die reine Spur dann ſeh, 

die wie vom Himmel gefallen iſt, 

dann kommt mein Pfad mir her aus einem Garten, 
wo ich als Kind in einer Schneenacht ſtand, 
weil ich den lieben Tag nit konnt erwarten, 

der mir zuruͤckgab mein hell Heimatland, 

wo Wald und Berg und Tal nach allen Seiten 
in hundert lachenden Linien ſich verzweigt, 

wo in die leuchtenden Ewigkeiten 

Rebhuͤgel über Hügel ſteigt, 

und all die Hoͤhen, die blauen, verflicht in Eins 
die tiefe gruͤne Schlucht des Rheins. 

Hier aber — — Sie erſchauert, ſchweigt, 


ein Mann ſpricht wie voll jungen Weins: 


Hier graut im Schnee mein ernſtes maͤrkiſches Land, 
dies Land, in dem ſich Rußlands Steppen 

ſchwer zu Deutſchlands Bergen hinſchleppen. 

O, aber ſieh's erſt im Sommergewand, 

wie's dann drin ſummt und hummelt und tummelt und tut, 
wenn hoch im Abendſonnenbrand 

der alten Kiefern verſchaͤmte Glut 

ſich aufreckt aus der Verſunkenheit! 

Dann atmen die Wieſen Unendlichkeit. 

Dann blaut hinter den Baͤumen her ein Duft 

wie fernes Meer aus tiefer Kluft. 

Dann ins Unabſehbare ſieh ihn ziehn: 

in hundert Windungen, himmelhell, den Rhin! 


Er gluͤht; fie ſtrahlt, kuͤßt feine Hand. 
Zwei Menſchen danken ihrem Vaterland. 


11. 71 161 


14. 
Die Sonne ſcheint in einen Blumenladen, 
durch den ein Flor von Orchideeen ſchwillt; 
ein Eis hauch klaͤrt die Stadt. Zwei Menſchen baden 
ſich in dem Duft, der durch die Scheiben quillt. 
Bunt lechzen Schooß an Schooß die fleckigen Bluͤten. 
Ein Mann bekennt aus innerm Bruͤten: 


Sonſt graute mir vor ſchwangern Frauen, 
als waͤr ich einer Verwachſnen begegnet; 
Dich kann ich wie die Blumen beſchauen 
und fuͤhle wirklich, du biſt „geſegnet“. 
Meine Vaterſchaft war mir Zufallsmache, 
alle Vaterliebe Gewohnheitsſache — 

jetzt moͤcht ich beten: o waͤre dein Kind von Mir! 
Und doch: auf dieſe reine Begier, 

Lea, aus der ich eben erwache, 

faͤllt mir das ſchamloſe Bluͤhen hier 

wie eine Befleckung: ich veruͤbe 

nur Tieriſches — das iſt das Truͤbe. 


Er will die Straße weiter, wie duftbeklommen; 
er fuͤhlt ſich heimlich beim Arm genommen, 
tief wird das Weib gegruͤßt von irgendwem. 
Sie nickt kalt, laͤchelt angenehm. 

Dann folgt ſie ihm, wie zu ſich ſelbſt gekommen: 


Vergleich dies Gluͤck dem tieriſchen nicht! 

Einſt meint ich zu ſterben am Ekel der Begattung, 
und ich begriff das Wort „Beſchattung“ — 

jetzt leb ich wie die Pflanze dem Licht: 

mit einer Sehnſucht, Lukas, wie eine Blinde! 

Ich muß dir ja dies Fleiſch und Blut noch wehren; 


162 


ıı* 


aber wuͤrdeſt du's nicht begehren, 

ich wuͤrde verkuͤmmern, glaub ich, ſamt meinem Kinde. 
Was iſt da truͤb? Ich ſeh nicht, was. 

Wir leben, wir lieben — wie klar iſt das! 


Sie muß von neuem gruͤßen: Herren zu Pferde. 
Die laͤcheln mit galanter Geberde. 
Zwei Menſchen blicken auf die kalte Erde. 


x. 
Es wird dunkler; immer heller blitzen 

durch die Aſche im Kamin die Kohlen. 

Am Klavier, an dem zwei Menſchen ſitzen, 
ſtockt ein halbberhaltnes Atemholen. 

Eine Wiegenweiſe bannt noch beide; 

aber endlich lacht das Weib und ſpricht, 
blau umrauſcht vom Mutterhoffnungskleide: 


Du machſt ſchon wieder dein ruſſiſch Geſicht. 

Was haſt denn wieder Graues zu ſchleppen? 

Kannſt denn nit auch mal aufgluͤhn wie deine Steppen, 
eh der Regen vom Himmel bricht?! 

Du ſollſt ja all mein, all mein Labſal noch ſchluͤrfen, 
darfſt doch ſchon koſten, und ſollſt es duͤrfen: 

meine Kniee nehmen, die Schönheitsfleden 

auf meinen braunen Bruͤſten entdecken, 

meinem Mund, meinem Schooß deine Notdurft ſtammeln, 
all mein Schmachten auf deine Lippen ſammeln — 

ja fuͤhlſt denn nit, einfältiger Mann, 

wie vielfältig man kuͤſſen kann ?! 


Halblaut greift ſie Toͤne; ſie huͤpfen wie Baͤlle. 
Es wird dunkler; eine breite Welle 


364 


Glut erliſcht in feinem Bart. 
Und er ſagt unſaͤglich zart: 


Du machſt ſchon wieder zu deinen hellen Terzen 
Augen, die ſo verwirrend ſchimmern 

wie Spinnwebnetze in finſtern Zimmern, 

wenn ein paar Streifchen Licht drauf fielen; 

ich ließ dich ſpinnen und weben von Herzen, 
nun willſt du Fliege mit mir ſpielen. 

So ſpiel denn! ſpiele, Spinnchen — und lerne fliegen: 
ich nehme dich mit: komm, Herz, ich weiß ein Land, 
wo wir den Blick des Kindes wiederkriegen, 

der glaͤubig eine Kachelofenwand, 

auf die der Schein des Nacht⸗Ollaͤmpchens faͤllt, 

fuͤr einen Himmel voller Sterne haͤlt! 


Und zwei Menſchen vergeſſen die Welt. 


16. 


Zwiſchen zwei Rappen jachtert ein Schimmel, 

Sonne glitzert auf Schneeſtaubgewimmel: 

ein Schlitten ſtiebt mit zwei Menſchen dahin. 

Schwarz funkeln die Schellen der ſilbernen Buͤgel. 

Ein Weib ſchwingt die Peitſche, der Mann fuͤhrt die Zuͤgel. 
Jetzt reckt er das Kinn: 


Lea! ſeit meinen Jugendjahren 

bin ich nicht ſo im Fluge gefahren, 

ſo raſend noch nie. 

Aber noch raſender wars geſtern Morgen, 
als ich im Sturm deinen Namen ſchrie 
und, als waͤre mein Gott drin verborgen, 
mit ihm rang um dich, Knie an Knie: 


ſchleife mich, Sturmgott, um die Erde, 

ſei ſie unrein, ſei ſie rein! 

goͤnne mir nur kein Gluͤck am Herde, 

hingeriſſen will ich fein! 

Sage mir — Dul ich frage dich: ſchreit 

Dein Gott auch ſo Meinen Namen? 

Peitſcht dich der Schnee auch wie Fruͤhlingsſamen? 
Kennſt du den Wahnſinn dieſer Seligkeit?! 


Er reißt ihr die Peitſche weg; die Rappen ſchaͤumen ſchon. 
Die Zuͤgel ſchlackern, die Bügel baͤumen ſchon. 
Das Weib umſchlingt ihn fallbereit: 


Nenn's nicht Wahnſinn! nenn's lieber Ahnſinn! 
Lukas, ich hab in manchen furchtbaren Wochen 
dagelegen wie zerbrochen, 

und wußte doch: ich will, muß, willmuß fliegen! 
Ja, Lux: raſe! laß brechen, laß biegen! 

Mir wiegt ein Gefuͤhl der Erleuchtung die Bruͤſte, 
als ob es die Sonne blindmachen müßte! 

Und wenn mir der Schneeſtaub die Augen zerſtaͤche, 
und wenn mir dein Sturmgott den Atem braͤche, 
ich laſſe mich wiegen, du — wiegen — wiegen — 


Sie ſtarrt verzückt in das wilde Gewimmel. 
Zwei Menſchen glauben ſich im Himmel. 


17. 

Ampelſchatten huͤllt vier bebende Lippen. 
Der Park wankt, als wuͤhlten Geiſter drin; 
Nachtſturm reißt an den Fenſterrippen. 
Die dunkeln Lebensbaͤume ſchwippen 

tief zur verſchneiten Erde hin. 


165 


Die bebenden Lippen atmen ſo ſchwer, 

wie Menſchen atmen, um nicht zu ſtoͤhnen. 

Dumpf horcht der Mann nach den heulenden Toͤnen, 
die bald aufhimmeln, bald tieriſch roͤcheln. 

Er preßt die Adern auf ſeinen Knoͤcheln; 

das Weib, ſtumm wie er, 

iſt ihm zu Fuͤßen vom Diwan geſunken, 

fie ringt die Finger auf feinen Knien. 

Ihre ſchwangern Huͤften umſchauern ihn. 

Sie ſtammelt trunken: 


So komm doch! nimm mich doch! trag mich weg! 
ich will ja blindlings Alles dir geben! 
Und wenns mich umbringt hier auf dem Fleck, 


ich will ja mein eigen Blut hergeben! 


166 


Nur ſchau nicht ſo grauenhaft tot ins Leben! 


Sie klammert ſich hoch an ſeinen Armen 

an ſeine Bruſt; die haͤmmert zum Sturmerbarmen. 

Er ſtoͤhnt. Sie ſchuͤttelt ihn: komm! Sie hoͤrt 

ihn betteln: ja komm! Sie liegt emporgeriſſen 

auf ſeinen entbreiteten Faͤuſten mit ſchwebenden Fuͤßen, 
und —: verſtoͤrt 

graben zwei Augen ihr aus den Eingeweiden 

eine Nacht von Entſetzen und Weh: 


Geh — keucht er — geh! 
Dein — ſein Kind regt ſich zwiſchen uns beiden! 


Er reißt ſie an ſich, reißt ſich los; 

der Sturm heult wahre Trauer⸗Oden. 

Komm! ringen vier Haͤnde Schooß an Schooß. 
Geh! holen zwei Arme rieſengroß 

aus zum Stoß. 

Zwei Menſchen winden ſich am Boden. 


18, 


In das Geraͤuſch eines VBierlokals, 

in das Rauſchen großſtaͤdtiſchen Straßenſkandals 
miſcht ſich wie Kettengeraſſel ein Ton. 
Elektriſches Gluͤhlicht kämpft in den Eden 

mit blaſſem Taglicht und Schattenflecken. 

Ein Mann ſpricht horchend durchs Telephon: 


Lea! — Hoͤrſt du? — Was iſt geſchehn? 
Geſtern Abend — hoͤrſt du? — es war eben zehn: 
dein Brief aus deinen großen Schmerzen 
lag mir wie Albdruck auf dem Herzen — 
Auf Einmal: ich wagte kein Glied zu regen, 
ſo hatt ich die Angſt des Unterliegens — 
auf einmal kann ich mich frei bewegen: 

mich hebt ein Gefühl vollkommenen Fliegens 
wie über ein Ufer, über ein Meer — 

Sag: hat meine Seele hellgeſehen? 

biſt du erloͤſt von deinen Wehen? 

Sprich doch! Was atmeſt du ſo ſchwer?! 


Er horcht. Durch das Geraͤuſch des Lokals, 
durch das Rauſchen des Straßenſkandals, 
durch eine Stille hohlſauſend und leer 
kommt eines Weibes Stimme her: 


Deine Seele hat hellgeſehen: 

ich bin erloͤſt von meinen Wehen: 

mir lebt ein Kind. 

Es liegt wie Albdruck auf meinem Herzen. 
Es ſieht nicht meine großen Schmerzen. 
Es — if — blind — — 


In das Rauſchen des Straßenſkandals, 
in die Geraͤuſche des Bierlokals 


167 


168 


miſcht ſich wie Kettengeraſſel ein Ton; 
ein Mann verlaͤßt das Telephon. 

Er hoͤrt im Hintergrund einen Herrn 
„Kellner, mehr Licht auf Erden!“ ſchrein, 
und ein Gelaͤchter hinterdrein. 

Zwei Menſchen ſind einander fern. 


19. 
Mondlicht greift durch bleiche Gardinen, 
legt Flecke auf ein Himmelbette. 
Zwei Menſchen ſehn's mit bleichen Mienen, 
ſehn die Flecke in ſchleichender Kette 
grell ein Kind, das ſchlaͤft, umkraͤnzen: 
es ſchlaͤft mit offnen Augenlidern. 
Die ſtillen Augenſterne glaͤnzen; 
glaͤnzen weiß, wie blindes Eis. 
Ein Weib ſchluchzt auf mit allen Gliedern. 
Wie aus einem Abgrund geriſſen 
ſtarrt ihr ſchwarzes Haar aus den Kiſſen, 
haucht ſie heiß: 


Mir lebt dies Kind, und nicht von Dir; 
ich lieg in Dankbarkeit vor dir. 

Ich lag bis heute wie unter Steinen, 
wie unter einer Sticklaſt Schnee: 

du biſt gekommen, nun kann ich weinen. 
Jetzt aber — geh! 

Ich will vor dir kein Klagweib ſein; 

laß mich, ſolang ich lieg, allein. 


Der bleiche Mann im Vollmondlicht 
neigt ſein unbewegtes Geſicht. 
Sein Blick weilt wie in weiten Fernen 


auf den blinden Augenſternen. 
Und er ſpricht: 


Das Kind, das du geboren haſt, 

ſei deiner Seele keine Laſt: 

ſieh, wie ſein Schlaf das Helle trinkt! 

Es ſcheint ein Licht durch unſre Welt zu wehen, 
das alles andere, groͤbere Licht beſchwingt; 

in ihm wird dieſes Kind aufgehen. 

Es wird die irdiſche Qual nicht ſehen. 

Wir werden's leiten wie auf Wolkenauen. 

Es wird das innere Weltlicht ſchauen 


Er küßt fie, geht; fein Schatten ſtreift das Kind. 
Zwei Menſchen ſehn, daß ſie auf Erden ſind. 


20. 


Eisblumen und Hyazinthenduft 

ringen mit warmer Zimmerluft; 

weiße Seide umbauſcht ein braunes Weib. 
Ein Mann ſieht ihren geneſenen Leib 

auf ſchmiegſamſten indiſchen Kiſſen ruhn; 

ihr Goldbrokatſchuh ſtreift den Boden. 

Er ſteht in blauen Segeltuchſchuhn, 

feine Radfahrjacke von graugrünem Loden 
zuknoͤpfend, einen Brief in Haͤnden, 

und fragt, indem er drin Kniffe zieht: 


Willſt du dir auch die Augen blenden, 
weil du ein Kind haſt, das nicht ſieht?! 
Ich ſoll mit dir „ins Weite gehen“? 
Was gehn heißt, wirſt du bald verſtehen, 
wenn du mit deinen zarten Zehen 


169 


erſt barfuß für uns betteln mußt; 

ich glaube, da wuͤrde dir die Luſt 

zur blinden Liebe ſehr ſchnell vergehen. 
Einſt, ja, da nahm ich Kredit aufs Leben 
und ſchlug die Schulden in den Wind; 
aber als Vater lernt man eben, 

was wir dem Daſein ſchuldig find. 

Das traͤumt nicht wie die grünen Seelen, 
die ſich vorm Leben ins Blaue ſtehlen, 
bis die ergraute Welt ſich raͤcht. 

Und klein beigeben mit großem Munde: 
dann gehn wir an uns ſelbſt zu Grunde — 
nit, Lea? das ſteht Uns Beiden ſchlecht! 


Er legt ihren Brief ſehr zart auf ihr Knie; 
ſie wiegt ihren Goldſchuh. Dann antwortet ſie: 


Du haſt ſehr blaue Schuh an, ſehr blaue; 

du kommſt wohl von einer — „Wolkenaue“ ?! 
Aber ich dank dir; du ſprachſt ſehr klar. 

Ja ja: man träumt oft wunderbar! 


Ihr Goldſchuh zieht im Teppich einen Strich. 
Zwei Menſchen laͤcheln bitterlich. 


21. 


Nur an den Eichen bebt noch braunes Laub; 

es bebt im Wind. Und wenn die Spechte klettern, 
dann weht der Schnee wie Kieſelſtaub 

und kuiſtert in den abgefallnen Blättern. 

Zwei Menſchen ſehn im Park den Abend zaudern. 
Ein Weib bezwingt ein leiſes Schaudern: 


170 


Heut hat ein Menſch mir leidgetan, 

der ſonſt mein Weichſtes zur Erſtarrung brachte. 
Er hat mir nie ein Leid getan 

ſeit jener Nacht, die mich zur Mutter machte; 
er iſt faſt ſtumpfer als ein Scherben. 

Heut aber, vor dem blinden Leibeserben, 
vergaß er ſelbſt ſein gnaͤdiges Stottern: 

er ſaß nur da und ließ ſich ſchlottern. 

Ich mußt ihn immerfort betrachten, 

ihn halb bedauern halb verachten. 


Der Mann an ihrer Seite nickt; 

er ſieht im kahlen Park den Abend daͤmmern, 
er hoͤrt im hohlen Holz die Spechte haͤmmern. 
Er ſagt, indem er einen Zweig zerknickt: 


Ich fühle jeden Tag mein Herz in Noͤten, 

wenn eine Frau ſich mit Erroͤten, 

und wie zur Abwehr blaß und zart doch, 

ſamt unſerm Toͤchterchen an mich draͤngt, 
waͤhrend vielleicht in meinem Bart noch 

der Hauch von deinen Kuͤſſen haͤngt. 

Ich kann ſie nicht ſo flach bedauern; 

ich wuͤrde lieber mit ihr trauern, 

koͤnnt ich wie fie mich ſanft und klug beſiegen 
und leidenswillig den Nacken biegen. 

Jawohl, wir ſind von haͤrterem Holz; 

von Eichen bricht man keine Gerten. 

Drum wolln wir nicht noch ſelber uns verhaͤrten; 
denn daß wir Mitleid ſchenken, macht uns ſtolz. 


Er horcht: ein Rauſchen ſtoͤrt das Spechtgekletter: 
zwei Menſchen gehn durch abgefallne Blaͤtter. 


171 


172 


22. 


Die Nacht am Horizont gaͤhnt Strahlen, 

als wolle der Himmel die Erde verzehren 
oder ein neues Geſtirn gebaͤren; 

zwei Menſchen ſehn ein Nordlicht prahlen. 
Sie ſtehn auf eiſernem Balkone; 

ſie ſehn den Glanz elektriſch zucken, 

ſich auf und ab ins Dunkel ducken. 

Ein Mann ſagt ſchmeichelnd, ſagt mit Hohn: 


Das, Fuͤrſtin, ſcheint mir recht ein Thron 
fuͤr deinen neuen Menſchenſohn. 

Ich moͤcht ganz lange Arme haben: 

dann ſetzt' ich dich mit deinem blinden Knaben 
dort auf die herrlichſte Flackerſtraͤhne. 


Ich ſeh ihn, wie er deine Maͤhne 


ſchwarzſtrahlig durch den Weltraum ſpannt, 
hoch uͤber allen Sinn und Verſtand. 

Ou haſt doch gar zu tolles Haar; 

fuͤr eine Mutter ſonderbar! 


Dem Weib zucken die Augenbrauen; 


wo die ſchwarzen Bogen ſich ſpalten, 
zittern zwei kleine quere Falten, 

wie ein zerbrochenes Kreuz zu ſchauen. 
Sie ſagt verhalten: 


Du zielſt fehl auf mein Mutterherz, 

Dir lacht es ſelbſt beim bitterſten Scherz. 
Ich gebe Nichts an mein Kind verloren. 
Ich fuͤhle nicht: dies Kind iſt Mein. 
Ich fuͤhl: ich hab einen Menſchen geboren 
zu ſeiner eigenen Luſt und Pein! 


Ich geb ihm meinen Glädwunfdh blos — 
und trage noch manchen Wunſch im Schooß — 
Weib ſein iſt doch das herrlichſte Los! — 


Ihr dunkler Blick hat ſich gefeuchtet. 

Der Mann ſtreicht ihr wild Haar verſonnen 
glatt wie zum Scheitel der Madonnen. 
Zwei Menſchen ſehn die Nacht erleuchtet. 


23. 

Kaminfeuer und Morgenrotſchimmer 
ſchmuͤcken ein hohes Damenzimmer. 
Ein Weib erhebt aus meergruͤner Seide 
ihre nackten Arme beide 

vor einem Mann breit in die Luft 

und lacht, umſchwebt von Mandelduft: 


Ich glaub, ich bin noch immer ſchoͤn; 

mein Kind hat mir nichts weggenommen. 
Und haͤttſt mich eben baden ſehn, 

du waͤrſt mit mir gen Himmel geſchwommen! 
Was ſtehſt denn wieder wie im Schlaf? 

O Lux, was biſt du für ein — Schaf! 


Er laͤchelt eigen, ſie merkt es nicht: 

er ſenkt, ſcheinbar gruͤbelnd, ſein ſcharfes Geſicht. 
Sein Fuß ſtreichelt ein Eisbaͤrfell. 

Er fragt halbhell: 


Schoͤnheit? — das iſt mir nichts als Huͤlle 
um irgend eine Liebreisfülle, 

Der Reiz zur Liebe und zum Leben, 

wenn den die Reize einer Geſtalt 


173 


mir wie aus eigner Seele eingeben, 

dann bin ich — ſchoͤn in ihrer Gewalt; 
ſonſt ſind ſie angeflogne Schaͤume, 
Nachwehen toter Kuͤnſtlertraͤume. 

Du wuͤrdeſt ja Raffael nicht entzuͤcken: 

du biſt zu kriegriſch ins Kraut geſchoſſen. 
Deine dunkle Haut iſt voll Sommerſproſſen. 
Dein Pferdshaar, dein herriſcher Naſenruͤcken 
taugen zu keiner klaſſiſchen Ode; 

und dein klaſſiſch Kinn iſt garnit mehr Mode, 
Aber — jetzt will ich die Augen zudruͤcken, 
will nichts mehr fuͤhlen als deinen Bann, 
nichts kuͤſſen als deine Wildkatzenſtirne; 

und waͤrſt du die durchtriebenſte Dirne, 

du wirſt mir eine Heilige dann — — 


Pruͤfend blicken zwei Seelen einander an. 


24. 


Die hohen Kiefern können noch nicht rauſchen; 

fie ſchweigen ſchneebedruͤckt. Zwei Menſchen lauſchen, 
wenn manchmal durch den ſchwerbeladnen Wald 

das Eis der fernen Seeen knallt. 

Dann ſcheinen tiefer noch geſenkt 

die dunkeln, weißgeſaͤumten Aſte, 

um die das Fruͤhlicht machtlos haͤngt. 

Ein Mann ſpricht mit ergriffner Geſte: 


Das iſt wie eine Verſammlung von Greiſen 
um ein fremdes Taͤuflingsbette. 

Keiner ruͤhrt mit ſeinen weiſen 

Haͤnden an die Schickſalskette. 

Sie laſſen ſtumm das Unverwandte 


174 


zwiſchen ihren Seelen ſchweben. 
Sie ſegnen fromm das Unbekannte 
es wehrt dem Überdruß am Leben. 
Sie ſchenken jedem Morgengrauen 
ohne Anſpruch ihr Vertrauen. 


Durch den ſchwer beladenen Wald 
geht auf einmal ein Schattenwanken; 
von den Zweigen, die noch ſchwanken, 
faͤllt der Schnee, zu Schlacken geballt. 
über ein Weib kommt ein Gedanke: 


Lieber, du ſollſt dich nicht verſtellen! 

Wenn unter dieſen ſtarren Baͤumen, 

ſo oft der Eisſchreck draußen ſchallt, 

Echos wie aus ſchweren Traͤumen 

in mein warmes Leben kalt 

dieſen Todesſchauer bellen, 

daß wir unſer Gluck verſaͤumen — 

dann ſollſt du nicht mit ſolchen ausgedachten 
Bildern mich zu pruͤfen trachten, 

dann ſollſt du mit mir fuͤhlen und denken: 
wir wollen Nichts, rein Nichts dem Schickſal ſchenken! 


Die hohen Kiefern koͤnnen noch nicht rauſchen. 
Zwei Menſchen ſcheinen auf ihr Herz zu lauſchen. 


25. 


Jeder Hauch ſtockt. Auf den Mooren 
ſteht der Nebel wie angefroren, 

ob auch fern der Himmel loht; 

zwei Menſchen ſchaun ins Abendrot. 
Einſam hebt ein Birkenſtaͤmmchen 


175 


aus dem bleichen Rauch fein Reiſig; 
in der Spitze zaudert eiſig 

noch ein Blattchen wie ein Flaͤmmchen. 
Und ein Weib bemerkt verloren: 


Das ſteht nun da wie'n Waiſenkind, 
das weder Vater noch Mutter kennt, 
von aller Heimat abgetrennt; 
Stiefmutter Sonne ſtellt ſich blind. 
Und ob auch fern der Himmel brennt, 
es ſehnt ſich nicht, es ruͤhrt ſich kaum, 
leidlos wie der Geiſt im Raum. 


Jeder Hauch ſtockt — ſie erſchrickt: 

von dem kahlen Birkenſtaͤmmchen 

iſt das letzte Blatt geknickt. 

Zaudernd ſinkt das fahle Flaͤmmchen 
in das rauchverhuͤllte Land. 

Und ein Mann hebt Haupt und Hand: 


Liebe, du ſollſt dich nicht verſtecken! 

Ich ſeh aus deinem tiefen Schrecken, 

wie dich der leere Raum bedruͤckt. 

So wills der Geiſt; wenn nur drei Birken 

das Grauen der Unendlichkeit bezirken, 

dann iſt das Auge ſchon begluͤckt. 

Er will und kann nicht einſam ſein: 

er lebt davon, ſich umzuſchauen. 

‚Drum finne nicht zuviel in dich hinein! 

Denn eine ſchlimme Wolluſt ſchlaͤft im Grauen. 


Jeder Hauch ſtockt. Rot und ſtumm 
ſtarrt der Himmel wie eingefroren 


176 


j c ne en ee 


Il, 1a 


durch den Nebel auf den Mooren. 
Zwei Menſchen kehren langſam um. 


26. 


Über altersgrauen offnen Folianten, 

zwiſchen Schraͤnken mit verſtaubten Kanten, 
roſtigen Waffen, bunten Wappenſchildern, 
blinden Spiegeln, dunkeln Ahnenbildern, 
haͤngt ein goldner Streifen Licht. 
Sonnenſtaͤubchen ſchweifen dicht 

um das Schnitzwerk hoher Stuͤhle; 

kommen noch dichter ins Gewuͤhle, 

denn ein Mann beruͤhrt ein Weib und ſpricht: 


Das hab ich mir als Kind beim Klettern 
im gruͤnen Forſt nicht traͤumen laſſen, 
daß ich in dieſen vergilbten Blaͤttern 
einſt ſuchen wuͤrde Boden zu faſſen. 
Es iſt fuͤr dich geweihter Boden, 

du willſt einen uralten Wipfel lichten; 
ich ſeh nur tote Wurzelſchichten, 

kaum noch wert ſie auszuroden. 

Wie zur Erinnerung bluͤht da matt 
noch manch Blaubluͤmlein Ehrenpreis; 
aber der morſche Stammbaum hat 
als letzten Sproß ein blindes Reis. 


Er will zuklappen. Er ſtockt. Die Funken 
der Sonnenſtaͤubchen ſtieben wie trunken. 
Denn das Weib umſchlingt ihn leis: 


Druͤcken dich wieder die blauen Schuh? 
Was mußt denn gleich ſo quer immer denken! 


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178 


Du mußt dich liebender verſenken 

in dieſe ſtillen Dinge, du. 

Sonſt druͤckſt mir ja das Herz ganz zu; 

und gelt? das willſt doch offen ſehn. 

Ich ſoll mich dir doch blos geſtehn! 

Ich wollt auch — wollt dir laͤngſt ſchon ſagen: 
mein Kind, Lux — Nein: ich wollt dich fragen: 
ich moͤcht dein Toͤchterchen mal ſehn! 


Sie klappt zu, haſtig; es ſtiebt zum Blenden. 
Zwei Menſchen muͤſſen den Blick abwenden. 


27. 


Unter taktvoll ſchreitenden Koſtuͤmen, 

die den Rauſch vergangener Zeiten ruͤhmen, 
uͤberſchaut ein Weib ein naͤchtlich Feſt. 

Weiß verſchleiert Haar und Ohr und Wange, 
vor der Stirn die goldne Iſis⸗Spange, 

ſteht ſie groß in ſtarrem Aſbeſt. 

Faſt ſo groß wie jener Mann, 

der aus dunkler Magier⸗Augenbinde 

um ſich blickt wie auf Geſinde. 

Und ſie naht ſich ihm und ruͤhrt ihn an: 


Zaubrer — du kennſt die Schlange, und kennſt den Drachen, 
die den ſchweren Weg der Liebe auf Erden bewachen. 
Ich kenn eine Mutter in einer Not; 

die ſtreckt allnaͤchtlich zum Tag die dunkeln Hände, 

daß er ein Schickſal von ihrem Herzen abwende, 

mit dem ihr blindes Kind ſie bedroht. 

Soll ſie mit Augen der Schlange ihr Neſt behuͤten? 
ſoll ſie den Drachen bitten, darin zu wuͤten? — 


Hell beginnt der wimmelnde Saal zu klingen, 
taktvoll laͤßt der Schwarm der Koſtuͤme ſich leiten, 
bis ſie ſich rauſchend zu Paaren in Kreiſen ſchwingen, 
die der Magier und das Weib umſchreiten: 


Goͤttin, ich kenne die Schlange, und kenn auch den Drachen, 
die den ſchweren Weg der Liebe gen Himmel bewachen — 
und kenn eine Mutter in andern Noͤten; 

die wuͤrde mit ihren blaſſen Haͤnden 

ihr Kind, ihr ſehendes, lieber noch heute töten, 

als je ihr Herz von ihrer Brut abwenden. 

Mutter Iſis, begreif deine Erde freier! 

horch, dein Magier lüfter den Gaͤa⸗Schleier: 

Sie traͤumt ſeit je das Ungeheuerliche, 

Unwirkliche, hoͤchſt Abenteuerliche, 

doch was er wirkt, der Traum, iſt das Gewoͤhnliche, 
und was er birgt, das tiefſt Verſoͤhnliche. 


Er unterbricht ihr einſam Gewander; 
zwei Menſchen tanzen miteinander. 


28. 


Es ſchwebt ein Klingen uͤbers Eis, 

wie ferne Fruͤhlingsſtimmen leis. 

Blaß ſtarrt der See. Auf blitzenden Eiſen 
faſſen ſich, fliehn ſich zwei Menſchen und kreiſen. 
Jetzt kommt der Mann in ſcharfem Bogen 

vor das Weib herumgeflogen 

und faßt ſie feſter und baͤumt im Sprung: 


Halt! — Gelt, Frau Fuͤrſtin, das waͤr ohne Schwung: 
vom Schlittſchuhlaufen zum Struͤmpfeſtopfen, 
vom Radfahren zum Steineklopfen, 


179 


180 


das waͤr doch gar zu harte Bahn? 

Ja, du: ich lief durch manchen Wahn, 

als mich das Jugendblut noch trieb, 

mit offner Hand an jedes Herz zu ſtuͤrzen, 
bis mir am eignen Herd nichts uͤbrig blieb 
als wenig Fleiſch mit viel Gewuͤrzen. 

Zwar, mir iſt mancher zugetan 

ſo in der Welt, der wohl was opfern wuͤrde, 
beehrt'ich ihn mit dieſer Buͤrde; 

aber — — Er laͤßt ſich ruͤckwaͤrts kreiſen. 


Blaß ſtarrt der See. Sie folgt. Die Eiſen 
blitzen ſchriller uͤbers Eis. 
Sicher folgt und fragt ſie leis: 


Und wenns fuͤr dich nun keine Buͤrde waͤre, 
Steine fuͤr deine arme Herrin zu klopfen? 

Und wenns fuͤr mich nun eine Wuͤrde waͤre, 
Struͤmpfe fuͤr meinen reichen Herrn zu ſtopſen? 
Und wenn ich waͤhnte: das iſt kein Wahn, 

ſo ganz bin ich dir zugetan — 

und bin dir auch ganz aufgetan — 


Sie ſchreit wild: Lukas! — Ein Knall, ein Sprung, 
hoch hat der Mann ſie an ſich geriſſen. 

Es donnert unter ihren Fuͤßen, 

es klafft. Er baͤumt mit ihr im Schwung. 

Es iſt nur ein ganz ſchmaler Spalt. 

Zwei Menſchen lachen, daß es ſchallt. 


29. 
Nun ſcheinen ſelbſt die Blumengewinde 
der indiſchen Kiſſen voll Fruͤhlingsſehnen; 
am Fenſter ſchmilzt die letzte blinde 


Eisblume unter hellen Tränen. 

Ein Mann ſieht die barocken Ranken 
mehr und mehr durchſichtig ſchimmern, 
gleißend Gold in Silber flimmern; 

er ſitzt in druͤckenden Gedanken. 

Er neigt noch tiefer Stirn und Ohr: 
er hat ein Weib am Herzen liegen, 
mit Augen, die zur Sonne fliegen. 
Sie fluͤſtert, gluͤht an ihm empor: 


Und heb mich wieder ſo herrlich hoch, 

und trag mich fort, o trag mich fort! 

Und waͤren die Berge noch ſo hoch, 

ich will dir folgen an jeden Ort; 

ich will dir alles, alles hingeben! 

Verkauf mein letztes bißchen Schmuck, 

nimm mir mein Eigenſtes, nimm mir's Leben; 
nur fort, nur fort aus dieſem Druck! 

Und wenn wirs bis zum Bettelſtab bringen, 
und wenn wir verlumpen, wenn wir verdrecken, 
dann wirds wohl uͤberall noch gelingen, 

eine Schachtel Zuͤndhoͤlzchen zu erſchwingen 
und den naͤchſten Wald in Brand zu ſtecken, 
und ſelig will ich mit dir zuſammen 

wie eine Hindufrau ſtehn und flammen! 


Sie laͤchelt ſeltſam; er ſieht es nicht. 

Sie hebt das Haupt — ſie ſieht ein Geſicht 
heiß von bebenden Narben zerriſſen; 

das ſtarrt auf die gleißenden Fenſter und Kiſſen 
mit dem Ausdruck eines Steins, 

der zerſpringen will, und ſpricht 


muͤhſam: Und dein Kind? — Und — meins? 


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182 


Da ſinkt ihr Haupt in feinen Schoß; 
zwei Menſchen weinen faſſungslos. 


30. 


Der Himmel ſcheint blutunterlaufen. 

Fern graut die Großſtadt her. Zwei Menſchen ſehn 
die Türme hoch in dunkler Rotglut ſtehn; 

die Stadt raucht wie ein Scheiterhaufen. 

Ein Weib lehnt an der Fenſterborte, 

duͤſter, wie aus Erz gebaut. 

Der Glanz macht ihre braune Haut 

gluͤhender als eine Braut. 

So hoͤrt ſie eines Mannes Worte: 


Dein Herr Gemahl? Nein: der iſt nicht im Wege. 
Er hat ja Augen, und kann noch welche pachten. 
Und traͤf er mich in ſeinem Gehege, 

ich würd ihn mir ſehr hoͤflich betrachten: 
Hoheit, Sie duͤrfen mich verachten, 

Sie koͤnnen, wenn Sie's wagen, mich toͤten. 
Ich wuͤrde vielleicht, wer weiß, dabei erroͤten; 
das tut mein Koͤrper leider noch, 

wenn ihm das Herzblut hochſteigt — doch 
mein Geiſt iſt uͤber dieſen Noͤten. 

Ja, Lea: begreifſt du, was das heißt: 

ich will getrieben ſein vom Geiſt!? 

Erſt wenn der Geiſt von jedem Zweck geneſen 
und nichts mehr wiſſen will als ſeine Triebe, 
dann offenbart ſich ihm das weiſe Weſen 
verliebter Torheit: die große Liebe. 

Du biſt noch nicht ſo zwecklos mein; 

du willſt noch mich, ich ſoll noch dich befrein. 
Dies blinde Kind aus fremden Lenden, 


es ſcheint uns immer zuzuſchauen, 
ob wir nicht ſein Vertrauen ſchaͤnden. 
Und ſiehſt du: Das — jawohl — das macht mir Grauen! 


Er bebt; er zerrt an feinem Bart. 
Das braune Weib wird bleich, wird rot. 
Dann ſagt ſie leiſe, muͤhſam, hart: 


Das Kind, vor dem dir graut, iſt tot — — 


Zwei Menſchen ſchweigen wie erſtarrt. 


31. 


Der Mond beſcheint ein ſteinernes Portal, 
durch kahle Zweige eine feuchte Schwelle. 

Die Zweige leuchten wie aus Stahl. 

Zwei Menſchen ſtehn in einer Grabkapelle. 
Der Mond legt Schatten auf ein totes Kind: 
nur ſeine beiden offnen Augen glaͤnzen. 

Sie glaͤnzen wie die Blumen an den Kraͤnzen, 
bleich und blind. 

Sie glaͤnzen bleicher als der Vollmondſchein. 
Ein Weib hoͤhnt in die Nacht hinein: 


Ich hatt ein Kind, und nicht von Dir, 

ich ſteh in Freiheit neben dir; 

ich bin erloͤſt, wenn Du, wenn Du es biſt! 
Ich bin die Fuͤrſtin Iſabella Lea, 

die auf dem Weg der Liebe gen Himmel iſt — 
ich, Mutter Iſis, Mutter Gaͤa, 

die willig ihre eignen Kinder frißt, 

der irdiſchen Gerechtigkeit entruͤckt. 

Iſt nun mein Gott, mein Lucifer, begluͤckt?? 


184 


Sie wankt; fie hat die Augen zugedrückt. 
Ein Mann legt ihr die Hand auf Stirn und Haare. 
Er ſpricht — ſein Blick verſchlingt die dunkle Bahre: 


Das Kind, das du getoͤtet haſt, 

war meiner Seele nicht die Laſt 

auf unſrer Wallfahrt zu der Freiheit, 

die Einheit ſchafft aus aller Zweiheit. 

Aber du haſt mich tief verwandelt; 

du haſt fuͤr mich aus einem Geiſt gehandelt, 
der nichts mehr will als klar am Ziele ruhn — 
ſo komm! — ich weiß jetzt: du kannſt ſchweigen. 
Ich habe Manches in der Welt zu tun, 

Lea; und Das — nun ja, das wird ſich zeigen. 
Im uͤbrigen, Madam: es wohnen 

noch Kruͤppel genug auf Fuͤrſtenthronen! 


Er kuͤßt ihr Stirn und Augen, wie zur Weihe. 
Zwei Menſchen wenden ſich ins Freie. 


32. 


Hellblauer Himmel mit weißen Streifen 

laͤßt alle Saatſelder gruͤner prangen. 

Und den Baͤumen am Wege muß wohl ein Bangen 
vor den mächtigen Roßſchweifen 

des Windes durch die Knoſpen wehen: 

ſie zittern. Aber zwei Menſchen gehen 

ruhig einen Wieſenrain hinan. 

Einem Weibe erwidert ein Mann: 


Mein Toͤchterchen? — Ja — ſonderbar: 

fie ſagte — fie meinte wohl dein Auge und Haar — 
du ſaͤhſt ganz ſchwarz aus, ganz ſchwarz und heiß, 

aber inwendig waͤrſt du wohl weiß. 


* 


Nun ſtehſt du wieder, wie zur Erſtarrung geneigt. 
Lea, ſieh um dich! Sieh, wie alles ſich aͤndert: 
wie jeder Baum ſein Wachstum klarer zeigt, 
wie's lichtbegehrlich aus Spitze an Spitze ſpringt, 
wie er die Triebkraft, die alle zackt und raͤndert, 
mit eignem Umriß trotzig zum Ausdruck bringt! 
Dann preiſt dir jedes Haͤlmchen im Feld 

den Geiſt der koͤrperlichen Welt. 

Dann ſagt dir jeder Lebens hauch: 

wie du dich gibſt, ſo biſt du auch! 


Er ſtutzt: Sie laͤchelt ins Blaue hinein. 
Sie ſteigt ſtill über den Wieſenrain. 
Sie bricht ſich einen Knoſpenzweig ab. 
Sie hebt ihn wie einen Zauberſtab: 


Wenn ich nun aber nach jenen Wolken weiſe, 
die unter der Sonne den Abendhimmel ſtreifen, 
und nun im Geiſt nach Morgenlaͤndern reiſe — 
dann moͤgen ſie noch ſo eigen anders ſchweifen, 
die ganze Landſchaft verſichert mir: 

wie du mich nimmſt, ſo bin ich dir! 


Sie ſtutzt: Er weiſt ſtill uͤber die Wieſen: 
die ſehn noch aus wie abgeweidet. 

Die Wolken werfen Schatten wie Rieſen. 
Zwei Menſchen merken, was ſie ſcheidet. 


33. 
Die Lerchen jubeln, daß die Sonne ſcheint; 
bis in den Wald heruͤber klingt es leiſe. 
Hell vor ſich hin erwiedert eine Meiſe: 
ich fuͤhls, ich fuͤhls, wie lieb, wie lieb ſie's meint. 
Die Finken ſind verſtummt: ein Rappe ſchnaubt 
und ſchuͤttelt ſein Geſchirr. Zwei Menſchen ſtreichen 


185 


186 


dem edlen Tier die dampfend heißen Weichen. 
Nun hebt das Weib ihr dunkles Haupt: 


Als du vorhin ſo kerzengrad anhielteſt, 

fiel mir ein Traum ein, der mir geſtern traͤumte. 
Es war, als ob du fern die Laute ſpielteſt; 

ich ſtand am Meer, in dem die Nacht noch ſaͤumte. 
Da kam, auftauchend mit dem Morgenrot, 
gerudert von zwoͤlf tiefgebuͤckten Herren, 

die Kronen trugen, ein gewaltiges Boot; 

ich ſah die Herren wie an Ketten zerren. 

Am Steuer aber, uͤber ihnen frei, 

ſtand Einer, der war nackt, und glaͤnzte. Und — 


ſie ſtockt: der Rappe, zitternd, ſtampft den Grund, 
ſie zittert mit — ſie hoͤren auf zu ſtreichen, 
der Mann nimmt ihr das Wort vom Mund: 


Und Er, der Glaͤnzende, gab dir ein Zeichen 
und kam mit ſeinem Lautenſpiel herbei. 
Und Du, du mußteſt ihm die Haͤnde reichen 
und folgteſt ihm und ſeiner Melodei. 

Und wenn du ſtaunſt, wieſo ich alldas weiß, 
dann ſtaune auch, wieſo dies Tier mitbebte, 
als meine Seele ſo in deiner lebte, 

wie ſeine Haut in unſrer Hand ſo heiß. 
Und ſtaune, Seele, was dich ſo beſchwingt, 
daß du die Meiſe zwitſchern hoͤrſt: ich bin’s! 
und was dich lerchengleich zu jubeln zwingt! 
und wie's dich wieder wie als Kind durchdringt, 
das Gluͤck folgſamen Eigenſinns! 


Die Lerchen jubeln, daß die Sonne ſcheint; 
zwei Menſchen ahnen, was ſie eint. 


34 


Fern in jungen Birken fpielt der Wind, 
ſcheint das ſcheue Fruͤhrot anzuſchuͤren. 

Von der zarten Glut umglaͤnzt beginnt 

eine Mühle ſich zu rühren; 

roſig ſchauert das gruͤne Feld. 

Wo der altersgraue Park ſich lichtet, 

unweit einer Grabkapelle, 

gruͤßt ein Weib ins Freie, Helle, 

blitzt ein Stahlrad auf, blitzt und haͤlt, 
ſchwenkt ein Mann die Rechte, heiß hochgerichtet: 


Fruͤhling! — endlich! — wie draͤngt das, mitzutun! 
Mir war, als muͤßt ich uͤber dies Saatenmeer 
mit meinen blauen Segeltuchſchuhn 
wie die Schwalben hin und her! 
Herrlich: ſo ſchweben, fliegende Blicke werfen! 
Wie alle Sinne ſich an einander ſchaͤrfen! 
Man wird bis in die volle Bruſt 
ſeiner eignen Gotteskraft bewußt; 
und ſelbſt aus Grabesfinſterniſſen 
lacht es „All Heil, Welt!“ dies neue Gewiſſen. 


Funkelnd ſtreift ſein Grußblick die Kapelle. 
Aber da, ſtatt mitzugruͤßen, 
bebt das Weib empor, Zorntraͤnen quellen: 


Ich weiß nur Eins, und geb's auch Dir zu wiſſen: 
mir lacht dein Weltall gar zu bunt! 

Mir iſt mein Herz, hier dies mein Herz, zerriſſen, 
und waͤr ſo gern, o Gott wie gern, geſund! 

Und quaͤlte das Deinen Gott auch nur zum Teilchen 
wie Mich, du kuͤßteſt dir die Lippen wund 


187 


188 


und heilteſt, heilteſt mich! ja nick nur! Und — 
ach, Lukas, ſieh: das erſte Veilchen! 


Sie ſteht auf einmal ganz begluͤckt, 
daß er, entzuͤckt, ſich buͤckt, es pfluͤckt, 
es ihr an Herz und Lippen druͤckt 
und wie ein Junge lacht dazu. 

Zwei Menſchen laſſen Gott in Ruh. 


35. 


Durch offne Fenſter, lautlos, glaͤnzt die Nacht. 

Es regt ſich nur das Licht der tauſend Sterne. 
Und Fruͤhlingshauch. Und dunkelblaue Ferne. 

Und manchmal eine Fledermaus auf Jagd. 

Und Atemzuͤge, unterdruͤckt und ſchwer, 

voller Spannung, mehr und mehr. 

Jetzt rauſcht ein Seidenglanz und bricht den Bann: 
ein Weib draͤngt ſich an einen Mann: 


Lukas! was liegſt du wie vom Alb gedruͤckt, 

als ob du nichts von meinem Daſein fuͤhlteſt! 

Meinſt du, mich hat die Zukunft nicht bedruͤckt, 

wenn du mich Tag fuͤr Tag fuͤr Tag hinhielteſt? 

Und jetzt, wo dieſer Druck mich faſt erſtickt — 

Du — Lukas?! — Wenn du — wenn du mit mir ſpielteſt — 


Sie ſchuͤttelt ihn, ihr Augenglanz wird hart; 

er ſtarrt hinein, wie vorher in die Ferne. 

Und wieder regt ſich nur das Licht der Sterne, 

die Jagd der Fledermaͤuſe. Und ſie ſtarrt: 

ſie ſtarrt wie er — will drohn — da wirkt ſein Bann: 
ſie zuckt, ſie nickt, ſie lacht ihn traumhaft an. 

Und traumhaft geht ſein Wort ihr zu Gemuͤt: 


Fuͤrſtin, ich will nichts halb. Ich will dich ſehn, 
in ganzer Schoͤnheit, ganzer Haͤßlichkeit. 

Ich will vor dir, du ſollſt vor mir beſtehn, 
vom Alb der ſcheuen Ahnungen befreit; 

ich will die nackteſte Befreiung. 

Wenn dann die Male deiner Mutterwehn 

dich nicht dem Gott in meiner Bruſt verleiden 
oder dem Tier in unſern Eingeweiden, 

will ich nach ſoviel Sehnſucht und Kaſteiung 
nicht wie ein Nachttier mich mit dir vergehn: 
ich will mit dir ins Licht der Menſchlichkeit! 
Sei bereit! — 


Er kuͤßt fie wach; er draͤngt fie ſanft zuruͤck. 
Sie ſitzt und ſinnt, wie über Raum und Zeit, 
Zwei Menſchen beten fuͤr ihr Gluͤck. 


36. 


Und lichter als der lichte Tag im Zimmer 

und immer lichter ſchauert ein Geflimmer 

von Kerzen uͤber helle Blumen hin. 

Still ſchwebt um ſilberblau geſtickte Kiſſen 

der Duft des weißen Flieders, der Narziſſen. 

Und durch die Blaͤue, durch die Blumen hin 

zittert die Luft, als ob ſich Herzen ruͤhren: 

zwei Menſchen ſtehn — noch toͤnen ſtill die Tuͤren — 
mit Augen, die den Himmel nahe ſpuͤren, 

enthuͤllt bis zu den Huͤften da: 


ein Mann mahnt: du! — ein Weib haucht: ja. 


Still ſinkt ihr Arm von ihren braunen Bruͤſten, 
die Lichter ſchauern immer ſchimmernder; 


189 


190 


fein Blick erbebt, als ob fie lodern müßten. 
Die Blumen atmen immer flimmernder. 
Die Sterne an den ſilberblauen Waͤnden 
erſtrahlen wie in keiner Nacht ſo blank. 


Still neſtelt ſie am Goldband ihrer Lenden; 


ſein Koͤrper ſpannt ſich unter innern Braͤnden, 
wie eines Kaͤmpfers ſtraff und ſchlank. 

Still ſchaut ſie auf. Er muß die Augen ſchließen. 
Still weht ein Flor zu Boden. Er will ſehn! 
Er ſieht nur, wie zwei Augen Licht ergießen, 
zwei dunkle Augen, die ihm zugeſtehn 

— fill — 

was er will. 

Er will fie ganz mit feinem Blick erkennen; 

er ſieht ſie ganz nach ſeinem Blick entbrennen. 
Er will nichts mehr als ſtehn und ſtehn 

und ſtill in ihre Seele ſehn. 

Er ſteht und muß die Haͤnde heben, 

als blende ihn das ewige Leben; 

und dunkel rauſcht der Weltraum. Da 


mahnt ſie ihn: du — da haucht er: ja — 


und alles rauſcht tief innerlich. 
Zwei nackte Menſchen einen ſich. 


Im IR 
£ 


Zweiter Umkreis 
— Die Seligkeit — 


* 
Eingang 


Halt ein, halt ein — weit uͤber jenen Gleiſen, 
wo man noch Hoͤhen ſieht und Tiefen; 

nun ſollſt du erſt das wahre Leben umkreiſen 
und ſollſt der Allmacht Deine Macht verbriefen. 
Sieh: zwei Adler ſteuern, vom Sturm getrieben, 
uͤber allem Erdentrott! 

Du aber biſt noch Menſch geblieben: 

du atmeſt und entatmeſt Gott. 

Willſt du nicht das Ewige ſelbſt erreichen? 

oh, dann laß auch Gott zuruͤck! 

denn es gilt, o Menſch, dein Gluͤck 

mit dem Weltgluͤck zu vergleichen. 


x 
Vorgaͤnge: II, 1-36 


I. 


Zwei Menſchen reiten durch maihellen Hain, 

galopp, galopp, von Schatten zu Sonnenſchein; 

alle Blaͤtter ſind gruͤne Flammen. 

Wenn der Himmel erſcheint, wenn die Pferde aufſchnauben, 
ſehn ſich die Beiden mit jauchzenden Augen 

immer wieder beiſammen 

und werfen den Kopf wie die Tiere. 

Immer wieder ſtreckt durch die goldnen Strahlen 

auf dem ſchmalen 

Moosweg zwiſchen den hohen Stämmen 


191 


192 


dann ein dunkler Schemen 

halb Chimaͤre halb Drache 

hopp alle Viere. 

Da muͤſſen ſie lachen 

und werfen dem Untier Kußhaͤnde zu. 

Und das Weib kann den Jubel nicht laͤnger daͤmmen, 
laut ſcheucht ihr Ruf die Mittags ruh: 


Echo! Echo! ſtimm ein, ſtimm ein — 
es wollt eine Seele ſich befrein, 

da band das Gluͤck ihr die Haͤnde! 

O Meiner, hilf mir die Arme breiten! 
halt mich gefangen, du, ohne Ende! 
ach koͤnnt ich ewig ſo weiter reiten! 


Und der Mann, plotzlich die Sporen gebend, 
in die Bruſttaſche greifend, im Sattel ſich hebend, 
jagt vor ihr her fort: 


Komm, ich nehm dich beim Wort! 

Und wenn ich die Freiheit druͤber verliere: 

hier — es lebe die Tat — iſt das noͤt'ge klein Geld! 
voila, madame: Banknoten! — gelt: 

die ſind doch mehr wert als Archivpapiere?! 


Er ſchwenkt die blauen Lappen in der Sonne; 
er lacht, daß ein faſt ſchreckhaft Echo gellt. 
Sie hat kaum zugehoͤrt vor Fruͤhlingswonne. 
Aufbaͤumend gleißt ihr Rappe in der Sonne; 
zwei Menſchen reiten in die Welt. 


2. 
Und ſie machen Halt und lugen aus. 

Da liegt, von Epheu eingehuͤllt, 

im Kiefernhochwald ſtill ein kleines Haus; 


bie graue Lichtung iſt erfüllt 

vom kuͤhlen Duft des Morgentaus. 

Oer Mann blickt lange auf die beiden Linden 

am moosbedeckteu Zaun des alten Herdes. 

Dann greift er in die Maͤhne ſeines Pferdes 

und nimmt ein Haar und uͤbergibt's den Winden: 


Sieh, Meine, ſo werf ich hinter mich, 

was uns noch ſcheidet durch Erinnerungen. 
Dort halten Zwei in treuen Armen ſich, 

die traͤumen jetzt vielleicht von ihrem Jungen, 
wie er ſein Kind herzt, vaͤterlich. 

Sie haben Alles in mir großgehegt, 

wodurch ſich Menſchenſeelen gluͤcklich ſchaͤtzen; 
doch wuͤßten ſie, welch Gluͤck mich jetzt bewegt, 
und welches Leid es Andern auferlegt, 

fie würden ſich vor ihrem Sohn entfegen. 


Er blickt kalt weg, er laͤchelt befangen. 

Das Weib hebt ſacht vom Sattelknauf die Hand. 
Sie hat das Haar im Flattern aufgefangen; 

ſie haͤlt's wie zum Zerreißen geſpannt. 

Nun reicht fies ihm zuruͤck mit froͤſtelnden Wangen: 


Nein, Lux: ſo leicht verwirft man nicht. 

Was hilft dein Laͤcheln — ich ſeh dein wahres Geſicht; 
uns ſcheidet Alles, was uns nicht geſellt. 

Du willſt mir helfen, mich in mein Schickſal ſchicken; 
wohlan! ſo zeige mir mit immer waͤrmeren Blicken 
verſoͤhnt die Zwietracht dieſer Welt! 


Da fliegt ein Glanz rings uͤbers Haidekraut: 
die Sonne kommt durchs Holz. Ein Hund gibt Laut; 
ein Ruf hallt jenſeits des Geheges. 


11. 13 5 193 


Das Haar entweht. Hell draͤut das Hirſchgeweih 
vom grauen Firſt der Foͤrſterei; 
zwei Menſchen reiten eilends ihres Weges. 


3. 
Und auf einer Landſtraße begegnet ihnen 
eine Heerde Schafe, vom Abendrot beſchienen; 
ſie muͤſſen durch den Staub. 
Der lahme Hirt hebt beſorgt ſeinen Stecken, 
daß die Pferde wie raſend vor der Mißgeſtalt erſchrecken, 
aus den Zuͤgeln gehn, huſſa, quer durch den Haufen. 
Hinter ihnen her laͤrmts bloͤkend und blaffend, 
eine Weile — dann ſtoppt der tolle Ritt; 
fie zwingen die Gaͤule zum ſpaniſchen Schritt. 
Und das Weib ſagt laͤchelnd, die Schleppe raffend: 


Als ich geſtern den Brief — du weißt — abſchickte, 
da wurde mir auf einmal klar, 
wie dienlich der goldne Kaͤfig mir war, 
in deſſen Luft ich beinah erſtickte. 
Wie hat dieſe Luft mir doch erſt eingegeben, 
was es bedeutet, ſich ganz ausleben: 
ganz in ein anderes Leben hin! 
Wie kann ich jetzt in jedem Baum aufgehen: 
das Wachstum jeder Bluͤte laͤßt mich ſehen, 
was du mir biſt, was ich dir bin. 
Wie glaͤnzt mir ſelbſt der Kruͤppel dort im Staube: 
er iſt ſo eins mit ſeinen Hunden 
wie Gott mit ſeiner Welt! — Ich glaube, 
das haͤtt ich fruͤher nicht empfunden. 


Fruͤher — nickt der Mann, und klemmt die Kandare herunter, | 
denn fein Blauſchimmel halſt nach ihrem Rappen, 
als wollten ſie wieder durch die Lappen — 


194 


ee Je * 
22 * 


13* 


Aber weißt du: ſteig lieber nicht weiter hinunter 
in dieſe Welt der einfachen Seelen — 

fonft möchte dir Eins an ihrem Gottgluͤck fehlen: 
ſie gehn nicht auf darin, ſie gehn drin unter — 
unwiſſend! — Ja: gottlob: nicht Einen Tag 
wärft du im Stande, zwiſchen dieſen Viehern 
dich auszuleben — oder ſag: 

moͤchteſt du Tiere zu Erziehern? 


Zwei Menſchen lachen; zwei Pferde wiehern. 


4. 
Und es fuͤhrt ein Wildſteg durch Farrenkraut bergan. 
Über Moos und Felſen fchlüpft huͤpfend das Licht 
und blitzt im Oickicht; fern ruft ein Kuckuk. 
Und es ſprudelt ein Waſſer durch tiefen, tiefen Tann; 
da ſitzt ein nacktes Weib, das Kraͤnze flicht, 
Kraͤnze um einen glitzernden Mann. 
Der ſingſangt: 


Vor der Nixe vom Rhein kniet der Kobold vom Rhin 
und bringt ſchoͤn bang feine Brautſchaͤtze dar: 
blaue Blumen, die nur im Freien bluͤhn, 
Maͤnnertreu, Pferdefuß, Jungfer im Gruͤn, 
und zur Hochzeit ein ſtumm Muſikantenpaar: 
Unke, die munkelt nur, 

Gluͤhwurm karfunkelt nur: 

Ellewelline, huſch, tanze danach! 

Ein Herr Eidechs hatte einmal zwei Frauen, 
denen er ſehr am Herzen lag: 

eine, der gab er ſein tiefſtes Vertrauen, 
darauf lief er der andern nach. 

Ellewelline, tanz Serpentine: 

ſchwarz iſt die Nacht, und bunt iſt der Tag! 


195 


Und der Kuckuk ruft, und der Bergquell ſprudelt; 
und das dunkle Weib bekraͤnzt ihr ſchwarz Haar. 

Und ſie ſummt — und das Licht in der Welle ſtrudelt 
kuͤhl und warm, wirr und klar —: 


Ellewelline tanzt Serpentine, 

o ja, Herr Eidechs, ſonderbar! 

Sie ſchwamm eines Nachts um den Nirenflein: 
da konnt ſie den ganzen Tag Kobolde frein, 
jeden Tag ein paar, 

macht faſt tauſend im Jahr. 

Aber ans Ufer kam einfach ein Mann: 

der hatte blaue Schuh, blaue Himmelſchuh an — 
Amen! 


Und der Kuckuk ruft, als faͤnd“er kein Ende; 
da falten die zwei Menſchen die Haͤnde. 


* 
Und es liegt ein Strom im Tal, und Nebel ſteigen; 
der Strom glaͤnzt glaͤſern und ſcheint ſtillzuſtehn. 
Aus gruͤner Daͤmmrung dehnen und verzweigen 

die Waͤlder ſich zu hundert blauen Hoͤhn. 

Ein dunkles Schloß wiegt zwiſchen ſeinen Giebeln 
den großen goldnen Mond; zwei Fenſter gluͤhn. 
Und drunter winden ſich an Rebenhuͤgeln 

die Lichter kleiner Staͤdte hin. 


Dort — ſagt das Weib und weiſt mit der Gerte 
von ihrem Pferd ins Zwielicht hinab — 

dort ging ich eines Nachts von Grab zu Grab 

und weinte bis zur Herzenshaͤrte. 

In die Strudel im Strom, ins Gewirr der Baͤume, 


196 


zu den Sternen, die über die Berge ſtarrten, 
verſtieß ich meine Himmelstraͤume 

und verließ meine Toten, verſchloß meinen Garten. 
Keine Seele fragte mehr nach meiner, 

kein Geiſt der Vaͤter trat her zu mir; 

nur die reiche Erbin wollte manch einer. 

So ging ich ins Leben. So kam ich zu Dir. 


Lange ſchweigt der Mann. Die Pferde ſcharren. 
Ein Stein rollt zu Tal, ein Echo weckend. 

Und das Weib beginnt in den Mond zu ſtarren. 
Da ſagt er leiſe, den Arm ausſtreckend: 


Komm — es wollt eine Seele ſich befrein, 

da band ihr die Sehnſucht die Haͤnde. 

Was beſchwoͤrſt du Schatten am gruͤnen Rhein! 
Sieh dort in die Lichter mit mir hinein, 

in die Heimat ohne Ende! 

Sieh: iſt nicht der Himmel herabgeſunken, 

dein dunkles Tal wie von innen erhellt! 
Sternbildern gleich glänzt Funken neben Funken, 
vom Geiſt der Vaͤter alle zuſammengeſtellt. 
Und mild belebt das irdiſche Graͤberfeld 

der tote Mond, vom Licht der Sonne trunken. 


Zwei Menſchen atmen auf, in ihrer Welt. 


6. 


Und wieder daͤmpft ein dumpfes Wiehern und Schnauben, 
das durch den Schatten ſtiller Buͤſche rauſcht, 

im hohen Holz das Gurren der wilden Tauben; 

und das Weib lauſcht. 

Der ſchlafende Mann in ihrem Schooß 

hat ſchwer geſtoͤhnt; ſoll fie ihn ruͤtteln? 


197 


198 


Da Öffnet er die Augen — grauengroß. 

Er ſieht die Blumen bluͤhn im ſchwuͤlen Moos. 
Und jaͤh, als wollt er einen Wurm abſchuͤtteln, 
macht er ſich los: 


Das war, weiß Gott, ein Teufelstraum! 

Ich ſaß mit dir in einem alten Park; 
zuweilen ritten Leute hin am Saum. 

Und plotzlich kam ein Reiter, jung und ſtark; 
der fing uns an im Zirkel zu umtraben, 

in immer gleichem, ziellos gleichem Kreiſe, 
und doch ſo eifrig wie auf einer Reiſe, 

als moͤcht er Ruhe, endlich Ruhe haben. 

Er ſchien uns beide garnicht zu beachten. 
Und langſam uͤbermannte mich ein Schauer: 
er wurde immer aͤlter, immer grauer. 

Ich mußt ihn immer ſinnender betrachten, 
mit immer tiefer angeſtrengten Blicken. 
Dann ſah ich Roß und Reiter graͤßlich nicken, 
mit Augen, die mich immer irrer machten; 
ich wollte ſchrein vor ſinnloſer Beſchwerde. 
Und als mich deine Haͤnde zu mir brachten, 
fuͤhlt ich mit Grauen: das war der Geiſt der Erde. 


Er kuͤßt ihr dankbar die Rechte. Sie nickt und lauſcht. 
Er ſieht die Blumen bluͤhen im ſtillen Moos. 

Er hoͤrt den Wald antworten; es gurrt und rauſcht. 
Er fuͤhlt zwei Augen ſchweigen. Die ſinnen blos: 


ich weiß einen Himmel — grauenlos — 


und er ſchließt die Arme um einen Schooß. 
Da rauſcht es wieder: zwei Pferde ſtecken 
die Koͤpfe durchs Dickicht. Zwei Menſchen erſchrecken. 


75 

Und endlich kommt eine Huͤtte in Sicht. 

Es regnet, daß ſich an den Wegen 

die Halme in den Schlamm der Berge legen; 
er ſpritzt den Reitern ins Geſicht. 

Sie muͤſſen immer mehr die Koͤpfe neigen: 
Kirſchbaum bei Kirſchbaum, immer tiefer, 
ſpritzt Bluͤtenfluten von den Zweigen, 

ſie kleben feſt wie Ungeziefer. 

Das Weib ſpricht: 


Mir iſt, als ritten wir zum Juͤngſten Gericht; 
der liebe Gott weint ſeine dickſten Traͤnen. 
Ich triefe wie die Pferdemaͤhnen, 

und paradieſiſch riecht mein Rappe nicht! 


Sie wiſcht ſich heftig den Brei von Hals und Hut. 
Der Mann will laͤngſt ein Lächeln verbeißen. 

Aber endlich zwingts ihn: er muß den Mund e 
und lacht in hellem Übermut: 


Ei ei, Frau Fuͤrſtin! Gott iſt gut! 

er merkt, Ihr wollt in den Himmel kommen; 

drum kommt uns der Himmel hoͤchſtſelbſt entgegenge⸗ 
ſchwommen — 

o Meine, ſei keine Marterſaͤule! 

Allons, was ſtarrſt du! mein Schimmel hat Eile: 

komm, im naͤchſten Pfarrdorf verkaufen wir die Gaͤule, 

das wird unſrer Pilgerkaſſe frommen! 

Dann rollſt du zu Rade vor mir her, 

wie Frau Fortuna erlaucht im Traum der Ahnen. 

Kein Schmutz, kein Stallgeruch befleckt uns mehr, 

kein Kohlenrauch von Eiſenbahnen. 


199 


Dann reiſen wir nur noch bei Sonnenſchein 


unnd laſſen unſre Herzen brennen. 


200 


Und dann will ich nie mehr, ich ſchwoͤr's, dich 
Frau Fuͤrſtin nennen 
und doch — dein ergebenſter Diener ſein. 


Sie machen vor der Huͤtte Halt. 

Er wiſcht den Schmutz von ſeinen und ihren 
Haͤnden; fie wehrt mit fanfter Gewalt. 

Zwei Menſchen ſteigen von den Tieren. 


8. 


Und im Glanz, im bebenden blauen Glaſt 

um zwei ſtrahlende Stahlmaſchinen 

wiegt der Bergwind Blumen und Bienen: 
traumhaft halten zwei Menſchen Raſt. 

Traumhaft haucht ein Birkenſtrauch 

Duft und Dunkel um ſie her. 

Im Laubwerk ſpielt die Luft, bald ſanft, bald ſehr. 
Die Graͤſer zittern zwiſchen ihnen. 

Ein Mann ſummt: 


Nun laß die goldnen Schatten 

durch deine Locken gleiten; 

ich will dir eine Krone 

aus lauter Licht bereiten. 

Wiege mich, wiege mich: du ſollſt mir Alles ſein: 
wie ein klein Kindchen bedarf ich dein! — 

Siehſt du den freien Himmel dort 

aus den Kluͤften ſteigen? 

ich ſeh eine Freifrau thronen, 

ihrem Freiherrn tief leibeigen. 


na a Fa ee 


Wecke mich, wecke mich! ich will dir Alles fein: 
ich kann dir Gott aufwiegen, bedarfſt du mein. 


Traumhaft blickt das Weib den Weg zuruͤck. 
Um zwei ſtrahlende Stahlmaſchinen 

wiegt der Bergwind Blumen und Bienen; 
jede taumelt auf gut Gluͤck. 

Eine Stimme zittert hin zu ihnen: 


Siehſt du an deiner Krone auch, 

Kind, die ſchroffen Zinken? 

Ich ſah den freien Himmel, Herr, 

in den Kluͤften verſinken. 

Hebe mich, halte mich, ich war ſo tief allein; 
laß uns zuſammen Alles ſein! 


Traumhaft haucht der Birkenſtrauch 
taumelnde Schatten um ſie her. 

Im Laubwerk wogt das Licht, unendlich ſehr. 
Himmelluft huͤllt zwei Menſchen ein. 


9. 
Und es wird immer freier. 
Von den Bergen weichen die Morgenſchleier. 
Noch wanken Wolken in den Spalten; 
aber aus allen grauen Falten 
quellen und ſtrahlen wie Diamant 
Schneeadern nieder ins gruͤne Land, 
die ſich unten in klaren Baͤchen 
Bahn zum dunkeln Strom hin brechen, 
ſteil von Halde zu Halde ſchaͤumend. 
Das Weib ſteht ſaͤumend: 


202 


Wie ſtrebt das alles weg von ſich — 

o Meiner, Meiner: wohin, wohin! 

Jeder Sturzbach zeigt mir, wie dein ich bin; 
und doch lockt jede Wolke mich. 

Mir iſt ſo federleicht, zum Fliegen — 

was will dies Bangen, es iſt kein Grauen: 
jeden freien Abgrund moͤcht ich hinunterſchauen, 
zwiſchen Tod und Leben mich wiegen. 

Zeig mir das Dorf, wo unfre Räder ſtehn: 

ich kann's ohne Wanken liegen ſehn! 


Sie will ſich uͤber die Tiefe neigen. 
Sie ſteht auf einmal tief erſchrocken: 
hohl erdroͤhnt das Tal von Glocken. 
Sie weicht zuruͤck. Der Mann lächelt eigen. 


Wohin — nun fuͤhlſt du's: nicht hinab! 
da droht ein Gott: die Welt iſt Mein. 
Und nicht hinauf: da gaͤhnt ſein Grab. 
Nur hin, nur hin — dann iſt ſie Dein! 
Dann wird ſie dir das Ziel enthuͤllen, 

zu dem der Gießbach ſtuͤrzend ſpringt: 
mit Willigkeit den Willen zu erfuͤllen, 

der alles Leben zu Todesluͤſten beſchwingt: 
du wirſt dir ſelbſt, in weltlichen Parabeln, 
der unbekannte Gott der alten Fabeln. 


Er winkt ihr, halt fie, laͤßt fie ſchweben; 
zwei Menſchen ſehn ins ewige Leben. 


10. 


Und ſie ſteigen den bleichen Firnen zu, 
von dem fernen ſtummen Blitzdunſt umhaucht, 


der die ſchwälen Almen, die Pfade, die dunkle Fluh, 
die Huͤtten, die Heerden in Geiſterlicht taucht — 
wie verzaubert ſtaunt der Blick einer Kuh. 

Groß voll Ruhe, weitauf trunken, 

ſchluͤfft das Auge die Himmelsfunken, 

reglos ragt das Hoͤrnerpaar — 


Wie die Goͤtterfuͤrſtin ſtarrte, 

wenn ſie auf den Gatten harrte, 

deſſen Gruß der Blitzſchlag war — 

raunt der Mann dem ſchauenden Weibe 
ſeltſam zu und macht ſich frei. 

Ein erſtickter Schrei — 

ſauſend zuckt ſein Bergſtock an ihr vorbei — 
und ein Schritt, und funkelnd mit peitſchendem Leibe 
ſpeit unter ſeinem knirſchenden Schuh 

eine Viper den letzten Blick ihr zu, 

noch toͤtlich lauernd. 

Schuͤtzend, ſchauernd 

naht ihr feine Stimme: Du — 


innig bis ins bangſte Mark: 


Lea! meine Loͤwin! ſei ſtark! 


Sie hat die großen Augen geſchloſſen; 
wie ein klein Maͤdchen ſteht ſie da 
mit ihrer Haut voll Sommerſproſſen, 
bleich vom Glanz der Blitze umfloſſen. 
Wie verzaubert nickt ſie: Ja — 


ich weiß nit, wie mir eben geſchah — 

halt mich noch ein Weilchen umfangen, 

du warſt ſo ruhig, bleib mir nah — 

ich wußt ja nicht: mir graut vor Schlangen — 


203 


bis unters Herz iſt mirs gegangen — 
o geh mit deiner Loͤwin, du: 
ich glaub, ich bin — lach nit — dei’ Kuh — 


Und zwei Menſchen ſegnen ihr Todesbangen. 


II, 


Und fie ſeufzen auf aus Sturm und Nacht; 

ohne Grenzen fuͤhlt ſich Arm in Arm. 

Durch die rauſchende Huͤtte, unendlich warm, 
wogt und weht das Dunkel hin. Und der Schacht 
des Rauchfangs funkelt ſo ſternenweiß 

wie auf den Bergen das ſchmelzende Eis. 

Das Weib fluͤſtert heiß: 


Und braͤchen da jetzt Lawinen herein, 

ich wuͤrd aufjubeln: wir leben, leben! 

Nicht Leib, nicht Seel mehr fuͤhl ich Mein, 

wenn ich mich dir entgegenhebe 

und du dringſt immer tiefer in mich ein. 

Noch rauſcht dein Blut mir, dein Herzſchlag, durch alle Poren! 
o ſag mir, ſag mir: ſolche Sekunden 

haſt doch auch Du nie fruͤher empfunden?! 

Ach, haͤtt ich dich doch ſelber geboren!! 


Sie breitet die Haͤnde zum Firmament. 
Pulſend wogt das Dunkel, unendlich warm. 
Mit ſuchenden Fingern umgluͤht ſie ein Arm, 
ein Mann bekennt: 


Ja, greif nach den Sternen, als ob ſie wuͤßten, 
was Menſchenherzen Reinſtes verlangen! 

Du haſt mich geheilt von allen Luͤſten, 

die nicht der Einen Luſt entſprangen, 


204 


N 
7 
Ani? 


die ganze Welt im Weib zu umfangen; 

du biſt es, biſt mir, was mich gebar. 

Du tauchſt mich wieder in die Erde, 

als ſie noch Eins mit dem Himmel war; 

in Dir fuͤhl ich ihr feuerfluͤſſig Werde 

dem kreiſenden Weltraum noch immer ſich entwuͤhlen, 
und hingenommen von den Urgefuͤhlen 

bringt ihre Glut uns der ewigen Inbrunſt dar. 


Er nimmt ſie an ſich wie ein Rieſe. 
Durchs Dach der Huͤtte funkelt die Nacht 
des Sturms mit uͤberirdiſcher Pracht. 
Zwei Menſchen nahn dem Paradieſe. 


12. 


Und ſie ſchweben in ſteiler Gletſcherſpalte; 

die Seile knirſchen, der Atem raucht. 

Aus daͤmmernden Grabesgruͤnden taucht 

die blaue Klarheit, die ſchneidend kalte. 

Und ſie finden Halt. Der Mann horcht und haucht: 


Da kommen die großen Stroͤme her, 

wo die Tiefen weinen vor eiſigem Grauſen. 

Hoͤrſt du die tauſend Tropfen brauſen? 

die fernen Waſſerſtuͤrze? das Meer? 

Hoͤrſt du im Brauſen das Todesſchweigen 

aus den leuchtenden Gruͤften ſteigen? 

ſieh: es ſcheint, ein Wanken weitet Allvaters Hallen! 
Lea — wenn jetzt die Wand zerriſſe 

und wir wuͤrden einſam ins ungewiſſe 

Reich des ewigen Daſeins fallen: 

waͤrſt du im Sturz noch meine Goͤttin der Freude? 
oder wieder die Fuͤrſtin Herzeleide? 


205 


206 


Er ſucht ihren Blick; er ſieht blaue Kreiſe, 

er faßt feſter Fuß — der Gletſcher ſchreit. 
Dumpf droͤhnt's im fern zerreißenden Eife; 
meergruͤn furcht ſich die Dunkelheit, 

die ſtarre Wand bebt. Das Weib fragt leiſe: 


Biſt du des Todes ſo kalt gewahr? 

Allmutter ſieht in Allvaters Hallen 

einen heimlichen Brunnen uͤberwallen, 

drin daͤmmert's warm und wunderbar. 

Es ſcheint, Opale ſchmelzen auf ſeinem Grunde. 
Oa entſprießt dem maͤrchenfarbenen Schlunde 
eine roſige Knoſpe, morgenklar. 

O, die moͤchte Allmutter Herzeleide 

bluͤhn ſehn voll goͤttlicher Augenweide; 

und ihr Schooß erbebt, des Lebens gewahr. 


Sie ſtarrt beklommen. Es ſtarrt der Mann, 
als ob er ſelbſt Tod und Leben erſchuf. 

Da ſchallt von oben der Fuͤhrerruf; 

zwei Menſchen ſchweben himmelan. 


13. 
Und es iſt keine Erde mehr zu ſehn. 

Über Meeren von Dampf, Schatten, Wolkenſchaum 
dehnt und woͤlbt ſich der reine Raum. 

Hoͤher als die Sonne ſtehn 

zwei Menſchen in gaͤrendem Wetterbrodem, 
fuͤhrerlos vom Glanz umbrandet, 

der von Berghaupt wild zu Berghaupt ſtrandet; 


alle Gipfel wogen. Das Weib zuͤrnt zu Boden: 


Lukas, wir haben uns verſtiegen. 
Laͤchle nicht! War Das dein Ziel? 


2 mich in ſtolze Mutterhoffnung zu wiegen, 


um dem irren Zufall zu erliegen? 

Du biſt zu ernſt für ſolch ein Spiel! — 
Du kannſt in deinem Schwerpunkt ruhn, 
du brauchſt nicht bodenlos zu gaͤren; 

es iſt nicht Flugkraft, wenn Opale tun, 
als ob ſie Seifenblaſen waͤren. 


Sie ſucht ſeinen Blick. Der folgt dem Dampfe. 
Zuckend gluͤhn die Narben in ſeinem Bart; 
ſeine Nuͤſtern ſpannen ſich wie zum Kampfe. 
Er fragt ſehr zart: 


Sprach das die Frau, die einſt fliegen wollte? 
Nun, der Morgennebel wird bald zergehn; 

dann wirſt du die Straßen wiederſehn, 

auf denen geſtern da unten dein Gluͤcksrad rollte. 
Auch die Felswaͤnde ſtehn noch unverruͤckt, 

die meine freie Ebne vermauern — 

Lea! Lea! ſoll ich bedauern, 

daß ich Seelen verließ, die Mein Gluͤck begluͤckte?! 
Steht der Himmel dir nur im Gleichnis offen? 
Mutter Iſis! — Ah: nun laͤchelſt auch Du! 

Ja, dann juble, Seele: im Himmel herrſcht keine Ruh — 
und du wirſt noch viel ſtolzer, viel goͤttlicher hoffen! 
O ſieh die Adler dort, die beiden, 

wie ſie ſtrahlend den Dunſt zerſchneiden — 


Strahlend blicken zwei Menſchen der Sonne zu. 


14. 


Und es blaut eine Nacht, rings von Monden hell: 
der Gießbach brauſt in elektriſcher Glorie vom Berg. 


207 


Der Mond des Himmels kroͤnt das Menſchenwerk; 
einem Zauberſchloß gleicht das ſtille Hotel. 

Fern ſchwebt ſilbern die eiſige Gipfelkette, 

gleißt in jedes Fenſter herein, 

beglaͤnzt ein ſeidnes Himmelbette. 

Wirr entſinnt ſich der Mann: er traͤumte ein Schreien. 
Auf der ſchimmernden Lagerſtaͤtte 

liegt das Weib, ein Bild ſtarrer Pein. 


Lea! — er reißt ſie aus dem Schlaf — 
Du! wach auf! komm! was hat dich bedroht? 
Du machſt ja Lippen, blaß wie zum Tod. 


Kuͤſſe mich! lebe! fei Meine! ſei brav! 


208 


ſei wieder braun! ſei ringe⸗range⸗rot! 


Er richtet ſie hoch mit ſchmeichelndem Zwange. 

Sie verſucht ein Laͤcheln zum Erbarmen. 

Sie horcht in das Brauſen hinaus, lange, bange. 
Klagend greift ſie nach ſeinen Armen: 


Es wollt eine Seele ſich befrein, 

da band ihre Tat ihr die Haͤnde! 

Ich ſah in zwei blinde Augen hinein; 

die ſtarrten mich an ohne Ende. 

Sie ſtarrten weiß, wie dort das Eis. 

Eine Kälte wehte; es kam eine Mauer von Saͤrgen. 
O Lux, fuͤhr mich weg von dieſen Bergen! 

hilf mir dies tote Leben verſenken! 

Lux, du darfſt nicht mehr an dein Toͤchterchen denken! 
o waͤr's doch Mein! o waͤr's! — Nein! nein: 
ich will mich wehren, wehren mit allen Gelenken! 
ſchuͤttle mich! bis mirs vom Herzen ſchmilzt! 

Ich will dir ein viel ſchoͤner Kind ſchenken! 


Ich will mich in Dein, ganz in Dein Herz verſenken! 
Nimm mich! fuͤhr mich, wohin du willſt! 


Sie umſchlingt ihn, ſchlotternd, vor Wonne ſchluchzend, 
vor Grauſen; 
zwei Menſchen Hören die Mondnacht brauſen. 


15. 


Und fie kehren zuruck auf beſtaubte Bahnen, 
Rad an Rad im Fluge durch graue Schluͤfte, 
durch Bluͤtenmatten ohne Duͤfte. 

Immer dunkler blaut das Moos von Enzianen; 
als wolle der gluͤhende Tag die Luͤfte 

tief an himmliſche Naͤchte mahnen. 

Immer finſtrer ſchaut das Weib in die Kluͤfte: 


Lukas, mich peinigt ſchon ſeit Stunden ein Ahnen, 
als habeſt du verſucht dort oben, 

meine Weibesohnmacht zu erproben; 

tu das nie wieder, ich bitte dich! 

Wie du heut dich uͤber den Abhang buͤckteſt 

und mir das einſame Edelweiß pfluͤckteſt, 

kam eine Empoͤrung uͤber mich: 

ich haͤtt dich hinunterſtoßen koͤnnen, 

blos um dich keiner Andern zu goͤnnen. 


Sie wirft die Blume wild hinter ſich. 

Ein Ruck: ſein Rad baͤumt. Sie wankt, ſchreit auf: 
er ſcheint zu ſtuͤrzen im Ruͤckwaͤrtslauf. 

Nein: er greift zu Boden in blitzendem Schwunge, 
iſt wieder bei ihr mit lachendem Sprunge, 

in der Hand die Blume, und ſteht, faͤngt ſie auf: 


11.14 209 


EEE IE TEAREAFET 
A u 


210 


Ja! Ja, du: das hab ich verſucht dort oben! 

und wills immer wieder, immer wieder erproben, 
weil du Mein bleiben ſollſt, weil du ſtark ſein kannſt! 
Du ſollſt nicht an deine alten Suͤnden denken, 
wenn du mit mir durchs heilige Leben rollſt, 

dem du ein Kind von mir geben ſollſt! 

Nein, die göttliche Unſchuld wolln wir ihm ſchenken: 
und das Edelweiß hier wird zum Andenken 

in deine ſchwarze Seele gepflanzt, 

bis der Heiland mit den Engeln drum Ringelreih tanzt! 
Sieh, mein ganzes Herz lacht: du Weib, ich Mann, 
o ſelig, wer dein Gott ſein kann! 


Er ſteckt ihr den bluͤhenden Stern ins Haar; 
braͤutlich gluͤht der Tag um ein Menſchenpaar. 


16. 


Und der Himmel eilt uͤber Taͤler und Tau. 
Und im Haar einen Kranz von Windenranken, 
rollt durch den Glanz voll Wundergedanken 
eine irdiſche Frau. 

Wie die weißen Bluͤten ins Herz ihr ſchwanken! 
wie die Straße mitfliegt mit den ſchlanken 
ſtaͤhlernen Raͤdern, den ſonneblanken! 

Und der Mann jauchzt ins helle Morgenblau: 


Heia! All Heil, Welt! jetzt gehts bergab! 


Achtung! gleich wird dein Herz was erleben. 
Fluͤgel, Frau Goͤttin! Fuͤße heben, 

Augen ſchließen! hei, ich ſchwebe, 

alle Sterne ſpruͤhn in mein Dunkel herab. 
Das lenkbare Luftſchloß iſt erfunden, 
Wolken fallen mir in den Schooß; 


14* 


und an keine Erdaxe mehr gebunden, 

laͤßt dein Herrgott auch noch die Lenkſtange los. 
Los! frei weg! gradaus ins Blaue, 

wie Herr Andree der Nordpolfahrer! 

Sieh, wie ſauſt die Welt gleich klarer! 

Aufgepaßt: da kommt ein wahrer 

Eisbaͤr! huh, ein grieſegrauer! 


Er ſchwingt beide Haͤnde, ein Hoͤkerweib gruͤßend, 
das brummend durch den Straßenſtaub zieht, 
wuͤtend die lachende Dame beſieht. 

Die ruft bluͤtenumflattert voruͤberſchießend: 


Aber Lux! Mann! Menſch! die ſtirbt ja vor Schreck! 
Halt! mein Kranz! na wart du: ich hol dich ſchon ein, 
du Unmenſch! dann renne Ich dir weg — 


Und —: ein Stoß, als ſtuͤrze das Weltall ein: 
Sterne ſpruͤhn: nachtwolkenbedeckt 

kommt ſie zu ſich aus Stahl, Staub, Stein: 
da liegt er blutend hingeſtreckt. 

Und oben ſteht das Hoͤkerweib 

und lacht und ſchlaͤgt ſich vor den Leib. 

Zwei Menſchen ſtimmen ſtoͤhnend ein. 


1 

Und ein Regen perlt an zitternde Scheiben; 

ein Bahnzug ſtampft durch fanfte Gelände. 

Ins Polſter gedruͤckt, verbunden Arme und Haͤnde, 
ſieht der Mann die Tropfen rinnen und treiben. 
Seine Augen werden immer grauer; 

er ſcheint die Frau, die neben ihm lehnt, 

nicht zu fuͤhlen. Sie ſagt voll Trauer: 


211 


Du haft dich in die Ebne geſehnt, 

nun kommt ſie, und — du ſprichſt kein Wort; 
als waͤr dir die ganze Seele verbunden. 

Und ich — ja, ich weiß, ich ſtieß dir die Wunden; 
aber ſie werden wieder geſunden; 

ſoll ich denn mitleiden fort und fort? — 
Fuͤhl's doch endlich, wie Ort bei Ort 

und Tal an Tal ſich zur Ernte kraͤnzt! 

das feuchte Korn, wie's brotgelb glaͤnzt! 

die Obſtalleeen, die weidenden Pferde — 

ſieh: tauſend Freuden wachſen aus der Erde! 


Und immer ſanfter rinnt das Gelaͤnde; 

wilder ſtampft der Zug und ſchuͤttelt die Frau. 
Unwillkuͤrlich hebt der Mann die Haͤnde. 

Sein grauer Blick wird dunkelblau: 


Ja, ich fuͤhls, ich ſehs! ſehr, ſehr genau! 

ſeh ſchon die Arme der Schnitter ſich regen, 

und muß die meinen erbaͤrmlich zur Ruhe legen, 

weil ich mich gehen ließ — ich! — ja: Ich — 

meine ganze Seele beſchuldigt mich. 

Zu jeder Handlung braucht ſie die Hand, 

fuͤr unſer Wort ſelbſt als Unterpfand; 

wehe dem Menſchen, der das vergißt! 

Wie dies Stampfen mich hoͤhnt! Das Gangirerk der Mas 
ſchine, 

das unſrer Glieder lenkſames Nachbild iſt, 

mir kann es jetzt als Vorbild dienen! 


Er verſtummt mit ſelbſtbeherrſchter Miene. 
Der Regen rinnt von den zitternden Scheiben. 
Zwei Menſchen bedenken ihr Tun und Treiben. 


212 


Bee 


ar 18. 
Und ein Lichtſtreif ſchielt von getuͤnchten Waͤnden 
nach blitzenden Meſſern zwiſchen Verbänden; 
dunkle Roſen gluͤhn uͤber friſchem Blut. 
Ohnmaͤchtig ringt der Duft des Straußes 
mit der Luft des Krankenhauſes; 
und laͤhmend ſticht die Mittagsglut 
durch die verhaͤngte Fenſterſcheibe. 
Ein Mann eroͤffnet einem Weibe: 


Alſo — die Arzte haben befunden, 

meine rechte Hand wird nicht wieder geſunden. 

Ich werde ſie wahrſcheinlich verlieren, 

oder man wird ſie mir lahm kurieren, 

was ungefaͤhr dasſelbe ſagt; 

kurz, ich hab mich fuͤr immer zur Schandgeſtalt gemacht. 
Nach unſerm Gottrauſch lieg ich da, 

hilfloſer als der Urmenſch. Ja: 

ſtelle dich nur recht aufrecht hin! 

Bei jeder Umarmung wirſt du's erkennen, 

daß ich meiner, deiner nicht mehr maͤchtig bin. 

Das iſt kein Mann mehr nach deinem Sinn — 

auch nicht nach meinem —: wir muͤſſen uns trennen. 
Geh! machs kurz! ſei Du! ſchon ſeit geſtern 

mahnt mich dein Weſen an eine Andre; 

ſie wuͤrde fuͤr mich durch jedes Fegfeuer wandern; 
uns aber ſchaudert vor barmherzigen Schweſtern. 
Geh! Noch kannſt du zuruͤck in dein Leben. 

Du ſollſt einſt nicht davor erroͤten, 

dein Kind einem Kruͤppel ans Herz zu heben. 

Auch nach Klarheit brauchſt du nun nicht mehr zu ſtreben; 
die wird das Kind dir auf jeden Fall geben, 

auch falls du wieder geruhſt, es zu — töten, 


213 


Er laͤchelt eiſig; er gluͤht. Sie ſchweigt. 

Sie ſteht wie uͤber ihr Innres geneigt; 
ohnmaͤchtig duftet ihr Roſenſtrauß. 

Sie hebt die Stirn, ſie ſchreitet hinaus, 

ohne Gruß, ohne Blick. Zwei Menſchen erbeben. 


19. 
Doch von fernen Hoͤhen ſpringt das Licht 
über Land und Stadt durch den truͤben Morgen; 
zwiſchen rings aufglitzerndem Gruͤn verborgen, 
hebt der Mann ſein verwachtes Geſicht. 
In dem einſamen Garten knirſchte der Sand. 
Er lauſcht noch, ob er traͤumte, ob wachte 
— eine Meiſe huſcht um den Laubenrand — 
da ſteht ſie vor ihm, an die er dachte. 
Sie nimmt die lahme, vernarbte Hand. 
Er will ſie ihr entreißen, entringen; 
aber heiße Traͤnen dringen 
uͤber ihr und ſein Geſicht, 
er kann es nicht — 


Nein, Meiner! — und wuͤrdeſt du jetzt mich ſchlagen, 
was waͤr mirs gegen dies Wiederfinden! 

O, ich waͤr ja am liebſten mit vier Wagen 

nach allen vier Winden 

auseinandergejagt, dir endlich zu ſagen: 

was Du kannſt, kann auch Ich ertragen! 

alle, alle Weibeskraft ſollſt du in mir finden! — 
Sieh: hier haſt du zwei Haͤnde ſtatt der einen. 
Ich bin ja nicht mehr wie fruͤher. Schau: 

da mußt ich mein Menſchlichſtes verneinen, 

um der Welt und mir etwas vorzuſcheinen. 

Jetzt bin ich etwas: Deine ſtolze Frau! — 


214 


ri FF, 


Ja: ſteh auf! mir iſt, als muͤßt ich erſticken, 
bis die Leute mit menſchenfreudigen Blicken 
uns wieder nachſchaun: welch ſtrahlend Paar! 
Und ſchlicheſt du, ſo die Stirne hebend, an Kruͤcken, 
ich hoͤr ihr Gefluͤſter: Wunderbar, 
wer muß das ſein, was fuͤr ein Mann, 
dem ſolch ein Weib gehoͤren kann! 


Sie lacht: ſeine Hand bebt auf ihrem Haar. 
Von den fernen Hoͤhen lacht der Morgen. 
Um die Laube lachen die Voͤgel gar. 

Zwei Menſchen fühlen ſich geborgen. 


20. 


Und ein Abend roͤtet die Daͤcher alle. 

Eine Taubenſchaar kreiſt mit flammenden Schwingen, 
als habe ſie dem ſchwuͤlen Tale 
eine Himmelsbotſchaft herabzubringen. 

Da erklaͤrt das Weib mit einem Male: 


Lukas, nun muß ich dir etwas ſagen: 

ich hab einen Brief an dich unterſchlagen. 

Ich mußt endlich wiſſen, was du triebſt, 

wenn du zuweilen Nachts heimlich ſchriebſt — 

du brauchſt dein Erblaſſen nicht zu verſtecken: 5 

auch mich kam Furcht an, Schmerz, Verwirrung, faſt 
Schrecken. 

Ich konnt die ſonderbaren Chiffern 

zwar nit ganz und gar entziffern; 

aber dieſer Freund benutzt dich als Helfershelfer zu Zwecken, 

die lichtſcheu ſind! er ſpricht von deinem Leben, 

als waͤrſt du gewohnt, falſche Karten zu geben. 

O Lux, vertrau mir! Ich hab nichts, nichts zu verlieren 


215 


216 


als Dich! Ich will mich in jede Armut finden; 
ſelbſt verachtet zu werden, koͤnnt ich verwinden. 
Nur: laß dir nicht für Geld die Hände binden! 
Sag mir —: was iſts mit den Archivpapieren? — 


Kalt blickt der Mann nach den flammenden Tauben. 
Seine Rechte hat verſucht, ſich zu ballen. 

Er ſagt, und ſeine Worte fallen 

wie metallen: 


Es iſt Nichts! ich fordre von dir Glauben. 

Und bis du reif biſt, Naͤheres zu erfahren, 

und um dir weiteres Mißtraun zu erſparen, 

wird dieſer Briefwechſel einfach unterbleiben; 

denn ja — ich kann jetzt nicht mehr heimlich ſchreiben. 
Einſtweilen aber ſollte dein eigen Treiben 

dir die Erleuchtung innerſt nahe legen: 

kein Licht kommt anders als auf dunklen Wegen! — 
Hier: blick mir in die Augen hinein: 

ſag, meinſt du wirklich, Ich kann lichtſcheu ſein?? 


Zwei Menſchenſeelen ſchimmern ſich entgegen. 


21. 


Und Wolke uͤber Wolke kommt gekrochen 

und druͤckt das offne Land in dumpfe Schranken; 
es liegt im Halblicht wie gebrochen, 

der Bergforſt ſteht geſtraͤubt. 

Der Donner brodelt ſchon, und Blitze wanken; 

und wenn die Funken fahl durchs Dunkle kochen, 
dann iſts, als atmeten des Tales Flanken. 

Der Mann macht Halt wie dunſtbetaͤubt: 


So ſind wir rings umhuͤllt vom Unbekannten; 
dem Qualm der Niederungen kaum entklommen, 


2 


1 ſtehn wir vom Schwall der Höhen ſchon benommen 


und gehn vielleicht erſt recht der Tiefe zu. 

Und wenn der Bann, dem unten wir entrannten, 
hier oben uns ereilt mit gluͤhendem Schuh, 

wenn dann im letzten taumelgrellen Nu 

die eine Frage noch in uns entbrannte: 

iſt nicht des Lebens Mißgeſchick 

nur unſres Weſens Ungeſchick — 

dann wirbelt noch durch unſre tiefſte Ruh 

als einzige Antwort aus der Ewigkeit 

des Daſeins grauſige Unſicherheit. 


Und drohender erſchallt das Lichtgebebe, 

die hohen Tannen fangen an zu ſchauern. 

Bis ganz ins Land haͤngt alles in der Schwebe; 
es iſt, als ob das Tal die Fluͤgel hebe. 

Das Weib zeigt in die rollenden Wolkenmauern: 


Wenn ſonſt die Blitze ſo den Raum durchſchoſſen, 
war mir ſo grenzenlos, ſo haltlos bange 

wie damals vor der Todeswut der Schlange; 

jetzt ſcheint durch jeden mir der Himmel erſchloſſen. 
Ich brauche blos mit dir ins Licht zu ſchauen 

und habe vor nichts, vor nichts mehr Grauen. 


Und jaͤhlings reißt ſich aus der Dunkelheit 
blendend und knatternd der erſte klare Strahl. 
Mit praſſelnder Sohle ſpringt der Regen ins Tal. 
Zwei Menſchen atmen wie befreit. 


22. 
Und ſie ſchreiten durch verwuͤſtete Fluren. 


Von Huͤgel nieder zu Huͤgel hingeſchwemmt 
ziehn ſich des Wolkenbruches Spuren. 


217 


218 


Die Baͤume ſtehn noch wie gekaͤmmt. 

Das reife Korn am Weg iſt wie geplaͤttet. 
Fern am durchbrochnen Bahndamm haͤngen, 
Strickleitern gleich, Reſte von Schienenſtraͤngen; 
die Bruͤcke liegt zerriſſen im Fluß gebettet. 

Die Sonne blitzt aus hundert Spiegelflaͤchen. 
Des Weibes Blick folgt den gefuͤllten Baͤchen: 


Wie wird nun nach dem erſten Staunen und Grauen 
der Menſch hier rings mit doppelt maͤchtigem Mut 
bahnen und bauen, 

bis die Natur ihm ſeinen Willen tut! 

So ſtand ich einſt — o endlich kann ichs ſagen — 
nach friſcher Tat vor meinem getoͤteten Kind. 

Im Garten draußen ſtoͤhnte die Nacht, der Wind. 
In meinem Innern ſah ich Blutſtuͤrme jagen. 

Ein Paradies reifer Hoffnungen lag mir zerſchlagen. 
Aber ein Glaube ſchwoll draus auf, ſo groß, 

als bebe die Erde vor Drang, mich hochzutragen: 
o, unerſchoͤpflich iſt der Mutterſchooß! — 

Gib mir die Hand, Lux; jedes Mißgeſchick 

macht uns geſchickt zu neuem Gluͤck. 


Sie greift nach ſeiner gelaͤhmten Rechten, 

eine Himmelsklarheit im dunkeln Augenpaare 

gleich den glanzgefuͤllten Baͤchen. 

Er will noch wehren. Er moͤchte ſprechen. 

Da —: ein Schauer reckt ſie — ſeine Finger umflechten 
ihre ſtolzen Huͤften, ihn zieht das Unſagbare — 

er ſteht und ſtammelt, kaum bewußt: 


du Liebe, Schoͤne, Gute, einzig Wahre! 
du Moͤrderin aus Lebensluſt! 
du Kind, du Engel an meiner Bruſt! — 


ee Kain Sn Sn len in en 


rr 


Der Himmel glaͤnzt aus jeder Waſſerrinne; 
zwei Menſchen ſehn's wie eines Wunders inne. 


23. 

Und ſchwarz aus dunklem Erntefeld 

baͤumt ſich das Denkmal einer Schlacht. 
Tief hinter den Garbenreihen haͤlt 

der große Mond im Dunſt blaßrote Wacht. 
Es traͤnkt ein Duft die weite warme Nacht, 
der jeden Buſch zur Wolkenblume ſchwellt. 
Die Wieſenraine ſind wie Geiſtergleiſe. 

Ein Mann ſagt leiſe: 


Es wollt eine Seele ſich befrein, 

da band ihr die Freiheit die Haͤnde. 

Nun ſinnt ſie in Tod und Leben hinein; 

da ſchließt eins innerſt das andre ein, 

aller Zwang hat willig ein Ende. 

Sieh dort: wie ſtehn, wie ſchimmern die vollen Ahren! 
als ob ſie ſtolz die Opfer verklaͤren, 

die einſt hier fielen fuͤr fremdes Gluͤck. 

Kein Denkmal ruft die Tauſende zuruͤck, 

die noch als Leichen Kindeskinder naͤhren; 
auf dieſem Huͤgel aber ſtand der Feldherr 
und fuͤhlte ſich im Siegesgluͤck als Weltherr. 


Er hat den Arm wie zum Befehl gehoben. 

Da ſchmiegt das Weib ihr Haupt in ſeine Hand 
und Bruſt an Bruſt, und raunt ins dunkle Land, 
als hoͤre ſie das Mordgewuͤhl noch toben: 


Und fuͤhlte doch vielleicht ſein Herz erbeben, 
und haͤtte gern die Tauſende geſchont, 


219 


220 


wenn nicht auch Er bereit war, Blut und Leben 

ſo ruͤckhaltlos der Welt zuruͤckzugeben, 

wie dort ſein Licht vergießt der rote Mond. 

Glaub's, Meiner, glaub's: kein Gluͤcklicher fühlt einſam: 
was ihn begluͤckt, er geht drin auf, gemeinſam! 


Und warm und waͤrmer ſchließt im Nebelkreiſe 
ſich Herz an Herz mit uͤberſtroͤmender Macht. 

Die Erde ſchwillt gen Himmel, leiſe, leiſe. 

Die Wieſenraine werden Goͤttergleiſe. 

Zwei Menſchen ſinken in den Duft der Nacht. 


24. 
Und aus verwildert ſtillen Gaͤrten ſteigt 
ein altes Staͤdtchen in die Mittagsglut. 
Um die zerborſtenen Mauerwehren zweigt ſich 
Epheu, Hexenbart, Pfaffenhut; | 
weiße Roſen blühn am Tore. 
Im Schatten ruht ein Mann und traͤumt und ſchweigt 
zur Giebeluhr hinauf, die nicht mehr zeigt. 
Ein Weib zupft ihn am Ohre: 


Du machſt ja Augen, ſo voll entlegener Wonnen, 
als ſaͤhſt du die Jahrhunderte ſich ſonnen 

auf den Ruinen. 

Ja: die ſteinernen Jungfraun hoch am Tor, 
die beten gar „reif“ um ihr Stuͤndlein empor 
mit ihren verwitterten Mienen. 

Wir aber — o — wir haben Zeit; 

ſehn wir nicht auf zu ihnen 

voll ewiger Seligkeit?! 


Der Traͤumer hat den zarten Spott vernommen. 
Sein Blick iſt freudig aufgeglommen. 


cc een 


Die Gaͤrten gluͤhn. Er laͤchelt ſonderbar. 

Er ſucht nach Worten, Blick in Blick gegruͤndet. 
Er ſpricht, als ſaͤh er tief ein Licht entzuͤndet, 
das fruͤher nicht in ihrer Seele war: 


Vielleicht ſah ich in meinen entlegenen Wonnen 
ein kommendes Jahrhundert ſchon ſich ſonnen, 
nicht auf romantiſchen Ruheſtaͤtten zwar. 

Ich ſah nach dem edlen Ritter im Fries, 

der ſeinen Mantel weiland den Bettlern ließ, 
um hilfloſe Bloͤßen zu decken. 

Vielleicht iſt heimlich nach Bettlerart 

mancher edlere Ritter heut auf der Fahrt, 
Helfershelfer zu wecken 

zu jetzt noch „lichtſcheuen“ Zwecken — 


Er ſchweigt. Die Gaͤrten gluͤhn. Es iſt, als ſchliefe 
verſtohlenes Leben hinter allen Hecken. 
Zwei Menſchen ſinnen in die Tiefe. 


25. 

Und hoch durch Hallen, die faſt blenden, 

brauſt Dampf; und dumpf donnert Rad bei Rad. 
Hohl durch die offenen Bogen⸗Enden 

ſchweelt wie ein Herd mit tauſend ſtillen Braͤnden 
die Lichter⸗Dunſtnacht einer großen Stadt. 
Bahnzuͤge droͤhnen rhythmiſch hinaus, herein, 

hin am Wirrwarr der ſcheinbar zielloſen Menge. 
Zwei Menſchen uͤberſchaun das ſtete Gedraͤnge. 
Ein Mann weiſt nach den fernen Haͤuſerreihn: 


Iſts nicht, als waͤrens Aonen ſeit ehemals, 
ſeit wir vom Haus deines Herrn Gemahls 


221 


die finſtern, lichtdurchfurchten Mauern 

auch ſo am Horizont ſahn kauern? 

Und iſts nicht wieder, nicht immer noch, als lauern 
die roten Fenſterhoͤhlen auch hier wie Augen, 

die alle truͤben Begierden einſaugen, 

auf Habſucht Notdurft ſpeichern, und Haß zum Neide? 
Und treibt doch Alle die Liebe, wie uns Beide, 

ſich Geiſt an Geiſt mit ſeelenvollen Haͤnden 

zu gleichen Lebenszwecken zu vollenden! 

Waͤrs da nicht not, daß Freunde des Lebens ſich fänpen, 
nur zu dem einen Endzweck auserlefen, 

klar Alle dem Willen Aller zuzuwenden?! 

bis einſt der Geiſt, von jedem Zweck geneſen, 

nichts mehr zu wiſſen braucht als ſeine Triebe, 

um offenbar zu ſehn das weiſe Weſen 

verliebter Torheit wie der großen Liebe?! 


Und einer Seherin gleichend ſteht das Weib, 

und naͤher draͤngt um ſie das Koͤpfegewimmel. 
Sie fragt, und haͤlt die Haͤnde in das Getuͤmmel, 
als ſchuͤtze ſie den Mutterleib: 


Und wenn nun Einſt und Jetzt auch Mir ſich einen, 
ſodaß ich furchtlos deine Freundin bleib, 
trotz meiner Eheſchuld und trotz der deinen?! 


Sie ſchweigt, als ob ſie heimlich etwas verſprach. 
Zwei Menſchen ſinnen der Menſchheit nach. 


26. 


Und ſie ſtehn vor einer Domfaſſade. 
Unvollendet hockt der eine der hohen Tuͤrme 
im Kranz der gotiſchen Hoͤllengewuͤrme, 


222 


als bitte er den andern um Gnade. 

Aber vor vermeſſenem Himmelsverlangen 

ſcheint die irdiſche Tragkraft ihnen ausgegangen; 

unten gaͤhnen wie Gruͤfte die kunſtgerechten Pforten. 
Demuͤtig Gebeugte nahen von allen Seiten. 

Und das Weib winkt dem Mann, auch hineinzuſchreiten. 


Und die Orgel erbrauſt zu ihren Worten: 


Komm, laß uns einmal wieder voller Kindheit ſein. 
Horch, wie die alten Lieder Alle benedein. 

Da ſpuͤrt kein Herz mehr Suͤnde; 

die Mutter mit dem Kinde 

ſchließt ja auch Uns die Gruͤnde 

der Welt und Menſchheit auf und ein. 


Doch die Orgel verſtummt. Dumpf toͤnen Geſaͤnge 
einer verborgenen Prieſterſchaar. 

Und uͤber dem weihrauchumdampften Altar 

ſehn ſie bleich einen Gekreuzigten haͤngen 

mit graͤßlich wahr gemalten Wunden 

und ſchrecklich ſchoͤn geformtem Munde — 

Da neigt fromm der Mann dem Weibe ſich dar: 


Vor deinem kuͤnftigen Kinde 

koͤnnt ich dir beichten, den Heiligen gleich: 

ich ſuchte einſt ein bißchen Suͤnde 

und fand das ganze Himmelreich. 

Hier aber duͤnkt es ein Wortſpiel mich, 

wie dieſes Schauſpiel ſtimmungsgeil durchtrieben. 

Komm! Draußen ſteht's von Grund auf in Stein geſchrieben, 
das ſchwere Wort: Vollende Dich! 


Und die Orgel brauſt wieder. Er ſucht einen Pfad 
ins Freie, ſcheu umkauert von Betern. 


223 


224 


Ein feiſter Kuͤſter im Ornat 
blickt ihnen nach wie frechen Spoͤttern. 
Zwei Menſchen fliehn vor fremden Goͤttern. 


27. 
Und ein wuͤſter Traum ſcheint Wirklichkeit geworden: 
durch grabesſtille Saͤle tobt ein Farbenmeer: 
Nackte Leiber haͤngen an den Waͤnden umher, 
und geputzte Damen, Tiere, Baͤume, Herren mit Orden. 
Neben bluͤhenden Feldern ſieht man arme Leute jammern. 
Aus vergoldeten Rahmen ſtieren elende Kammern. 
Endlich ſeufzt der Mann und laͤchelt ſchwer: 


Ich ſegne wahrhaftig meine gelaͤhmte Hand, 

wenn ſoviel geſunde auf kaͤuflicher Leinewand 

mit ihrer natürlichen Ohnmacht Stimmung machen. 
Ob dieſe Kuͤnſtler nicht uͤber ſich ſelber lachen, 

wenn ſie mit kindiſcher Liſt vom vollen Leben 

den Schaum abſchoͤpfen? — Aber eben: 

Stimmung — die Sprache ſagt es — laͤßt ſich „machen“, 
Gefuͤhl und Geiſt ſind Wenigen voll gegeben. 

Sieh dort: in all dem Schwall das ſchmale Bild, 
von dem wir hier nur eine Klarheit erkennen, 

die kuͤhn aus tiefem Grau ins Blaue ſchwillt: 

und magſt du's arm vielleicht an Farbe nennen, 
du fuͤhlſt doch, daß da Einer ſpricht, 

der innerlich ſo reich iſt wie das Licht, 

und der drum Schatten wirft auf das Gelichter 
dieſer duͤrftigen Flunkerwichter. 


Sie treten naͤher. Sie ſehn am Strand 
des Nachtmeers ſchlafend einen Knaben liegen: 
ein großer Stern ſcheint feinem Atem entſtiegen, 


—— 


in deſſen Glanz ſich alle Wellen wiegen. 
Endlich nimmt das Weib des Mannes Hand: 


Und ſtimmt das nicht zum Frieden deinen Geiſt? 
Mir deucht, vom ſichern Ufer kann man dreiſt 
auch einem Irrlichtſchwarm Reiz abgewinnen. 

Ich glaube, dir iſt das Herz durch Andres ſchwer. 
Ich hab auf einmal Sehnſucht nach dem Meer; 
uns fehlt wohl nur der freie Himmel hier drinnen. 


Sie laͤchelt: komm! Er ſtutzt. Dann nickt er nur. 
Zwei Menſchen folgen ihrer Natur. 


28. 


Und es rauſcht nur und weht. 

Es liegt eine Inſel, wohl zwiſchen grauen Wogen. 

Es kommen wohl Voͤgel durch die Glut geflogen, 

die blaue Glut, die ſtumm und ſtet 

die Duͤnen umſchlingt. 

Da gebiert die Erde im Stillen wohl ihr Empfinden 

und nimmt ihre Traͤume und giebt ſie den Wellen, den Winden. 
Die Seele eines Weibes ſingt: 


O laß mich ſtill ſo liegen, 


5 an deiner Bruſt, die Augen zu. 


r ð y ß en EAN, 
. ee 28 


Ich ſehe zwei Wolken fliegen, 
die eine Sonne wiegen; 
wo ſind wir, du? — 


Und es rauſcht und weht. 

Es liegt eine Duͤne, wohl zwiſchen tauſend andern. 

Es werden wohl Sterne den blauen Raum durchwandern, 
der uͤber den bleichen wilden Huͤgeln ſteht 


II. 15 225 


und golden ſchwingt. 
Die Seele eines Mannes ſingt: 


Still, laß uns weiter fliegen, 
Beide die Augen zu. 

Ich ſehe zwei Meere liegen, 
die einen Himmel wiegen. 

O Du — 


es rauſcht, es weht; 

uͤber die heißen Hoͤhenzuͤge geht 

hoͤher und hoͤher der goldne Schein 

ins Blaue hinein, 

wo das Dunkel ſchwebt. 

Und aus dem Dunkel heruͤber, auf großen 9 
kommt die Einſamkeit gezogen. 

Und zwei Seelen ſingen: Eine Seele lebt, 

wohl zwiſchen den Sternen, den Sonnen, den Himmeln, den Erden, 
die will uns wohl endlich leibeigen werden: 

es ſchwellen die Wogen heruͤber, wie Herzen klingen, 
Menſchenherzen! — Zwei Seelen fingen — — 


29. 


Und ſie ſehn fuͤnf Sonnen im Nebel ſtehn, 
von Glanz umzingelt vier blaſſe kleine 

im Kreiſe um die große eine; 

der ſtille Kreis ſcheint den Nebel zu drehn. 
Und im Duͤnenſand hat im Windeswogen 
jeder Halm um ſich einen Kreis gezogen. 
Ploͤtzlich lacht der Mann zu dem Phaͤnomen: 


Iſts nicht, als will uns der Himmel aus ſeinen Schaͤtzen 
rings deinen verkauften Perlring erſetzen, 


226 


von dem wir die tolle Überfahrt bezahlten! 

O, wie deine Augen herzehell ſtrahlten, 

deine dunkeln Augen im Sturm neben mir, 

daß michs trieb, dich auf offnem Schiff zu umarmen! 
Und da lagen dieſe Mitmenſchlein zum Erbarmen 
und waren ſeekrank! — Hah: da dankt ich dir, 

Du, fuͤr deine wellenwild ſchwungvolle Koͤrperſchwere, 
die mich auf den Grund aller irdiſchen Rhythmen tauchte! 
Da fühlt ich wie ein ſintflutlich Tier 

unſre Urverwandſchaft mit dem Meere! 

Ja, meine Erlauchte: 

Was iſt denn dieſe aͤußere Welt, 

dies oͤde Eiland um uns her? 

nur was die Seele davon haͤlt: 

ein Ufer fuͤr das innre Meer! 


Er hat ſich erhoben. Der Duͤnenſand 

fegt ſingend uͤber den feuchten Strand. 

Die vier Sonnen im Nebel verſchwimmen zu blaſſen Axen, 
die ſacht der leuchtenden Mitte zuwachſen. 

Das Weib ſtreckt die Hand: 


Zieh mich hoch! — ja, ruͤck es mir ins reinſte 

Licht, daß deine Welt meine umſpannt! 

O, wie ſchmuͤckt unſre Sonne mein ſchlicht Gewand! 
Und jeder Flimmer, jeder kleinſte, 

verflicht uns mit ins Allgemeinſte ’ 
und hat doch hell für ſich Beſtand — 


ſieh! — Zwei Menſchen umſchlingt ein Strahlenband. 
30. 


Und ſie ſtehn von Morgenſchauern erfaßt, 
nackt. Die Kuͤſte gluͤht perlmutterfarben. 


15, 227 


Die Ebbenrillen furchen den Glaſt 

wie roſige Narben; 

in der See wuͤhlt die Windsbraut und jauchzt und toſt. 
Und das Weib erſchauert bis in den Schooß 

und wirrt ihr naß Haar vom Nacken los 


und breitet die Arme: Jetzt kommt die Flut, 
ich moͤcht ihr gleich wieder entgegenſchwimmen! 
Pulſt ſie dir auch ſo heiß ins Blut? 

dies Branden, dies Glimmen! 

Wie fie Kraft ſchoͤpft — bis zum Horizont, 
himmelan ſchwellend aus ihrem Rauch, 
ſchwarzzottig, ſilberkraus uͤberſonnt, 

voll Spannung wie ein hochſchwangerer Bauch, 
und der Odem der Allmacht kreiſt druͤber her: 
O Mutter See! o Meer! mein Meer! 


Und von Segeln der Morgenroͤte umſchloſſen, 
ſchau — lacht der Mann und knipſt ihr ein Muſchelchen ab — 
kommt 10 liebſter Sohn durch den Raum geſchoſſen: 


mein Schiff hat Regenbogenfloſſen 

und holt dich ins Raumloſe ab, 

wo die fuͤnf Sonnen noch immer am Himmel ſtehn! 
Und da wollen wir eine zum Ballſpielen nehmen, 
einen Knaͤuel zum Glanzweben, 

eine Kugel, aus der wir Lichtbrot rollen, 

eine, in der wir einander ſpiegeln wollen, 

und die fuͤnfte bleibt ſtehn! 

Die bleibt ſtehn, damit die Menſchen es ſehn koͤnnen, 
wie wir uͤber die hohen Wellen gehn 

und den freien Sternen dahinter entgegenrennen, 
um die unſre Sonnen und alle ſonnigen Herzen ſich drehn 
auf Wieder⸗Immerwiederſehn! 


228 


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1 
— 5 
a. 


Und da weiſt das Weib nieder: hell wie aus Atherhoͤhn 
ſpiegelt ein Ebbentuͤmpel ihre Geberde — 
zwei Menſchen ſehn den Himmel durch die Erde. 


31. 


Und ſie ſchaukeln im Boot. 

Die Nacht kommt. Sturm droht. 

Die Wogen gehn hohl wie das Segeltuch. 

Grell im Weſten ringt noch und ſchwingt ein Streifen. 
Die Moͤwen kreiſchen. 

Der Mann ſtemmt ſich hoch, viſiert den Bug: 


Zieh die Leine ſtraffer! ſo! ſetz dich feſt! 

Haft du Furcht? Ja lache, dann jauchzen die Boͤen! 
Sahſt du mich nicht im Traum einſt ſo ſtehn, 

uͤber Herren mit Kronen, die Rechte ums Steuer gepreßt? 
Jetzt tut's die Linke! Los! Freiherr Nord pfeift zum Feſt 
wie auf meinen großen Heimatſeen! 

Sieh, das Grenzband druͤben wird ſchon blaſſer; 

nun ruft er die Geiſter uͤbers Waſſer. 

Holla! keine Geiſter, die jenſeits hauſen: 

das ſind Meine Geiſter, allſeits brauſen ſie! 

Da: die ſchaͤumenden Wonnen mit den ſpruͤhenden Haaren. 
Da das tiefſchwarze Wehe treibt ſie zu Paaren, 

von den grauen Sehnſuͤchten uͤberrannt. 

Bis die ſchimmernde Liebe alle hinreißt und außer ſich ſpannt 
und deinen trunknen Blick ins Weiteſte lichtet: 

da entſpringt dir, vom Odem der Bruͤnſte entbrannt. 
deine eigne Inbrunſt, zur Geſtalt verdichtet — 

halt ihr Stand!! 

Denn: fuͤhlſt du ſelber dich Geiſt genug, 

dann verſchwindet der ſinnliche Spuk: 


229 


übern Erdrand auf fluͤchtendem Waſſerbogen 

kommt die Kraft deines Urſprungs hochgezogen, 

und du ſtreckſt deine Hand aus, von Toden umbellt, 
und ſchreiſt in den Aufruhr: O Meine Welt! 


Meine Welt — mein Traum! — o nicht einſt — allerwegen 
ſeh ich dich ſo! — ſtammelt, jubelt das Weib —: 


Aus mir ſelbſt — letzte Nacht — hoch durch ſtuͤrzenden Regen — 
mit mir ſelbſt — ja, ein Geiſt — ſtieg dein lichter Leib: 
Himmelfahrt! Ja, fahr zu! Ich fahr mit! allerwegen 


Dein! — Zwei Menſchen ſteuern dem Sturm entgegen. 


32. 


Und es tönt aus der Brandung wie Schalmein; 

helle Nacht verſilbert den fremden Strand. 

Langſam waͤlzen die Wellen den Mondſchein ans Land, 
in die dunkelroten Kliffe hinein; 

da ſtuͤrzen ſie ſich die Stirnen ein, 

um zuruͤck immer wieder verklaͤrt zu ſein — 


Es wollt eine Seele ſich befrein, 

ſieh — entfoltet das Weib die Haͤnde —: 

Da ward Tod und Leben ihr zu Schein, 

nur der Liebe iſt kein Ende. 

Ja: ſo ſah es meine Seele im Traum: 

es ging Deine Seele wie leuchtender Schaum 

aus meinem Koͤrper deinem entgegen. 

Ich ſah voll Angſt, wie ihr doppelt ſtandet: 

Ein Haupt hell, Ein Haupt dunkel umſtroͤmt von Regen. 
Bis ihr, Leib in Geiſt, ineinander euch fandet 


230 


und mich ergriffet. Da ſprachſt du ein Wort; 
wie ein Wirbel klang es. Und uͤber mich fort 
ſtiegen wir, ſtroͤmten wir lichtflutvermaͤhlt | 
hin in deine, meine, unſre Welt! 


Es toͤnt aus der Brandung wie Geraun — 
Horch — raunt der Mann — das Zauberwort: 


Ja, es hieß wohl: Wir Welt! Nicht Schein! nicht 
| Traum! 

horch, wie's wirbelt: WJRWelt — o Urakkord! 

WIR Welt murmeln die Stroͤme, die großen, 

wenn ſie zuſammenkommen im Meere! 

WI RWelt jubeln die Sternenchoͤre, 

Wag Welt die Stürme im Uferloſen! 

Wg Welt ſtammelten die Menſchen, als fie noch reine Tiere 
waren; 

ſtammeln's wieder, alle wieder, die als reine Goͤtter ſich 
paaren, 

rein, wie Wellen mit Mondlichtſchleiern 

ſpielend ihre Freiheit feiern, 

die Freiheit, die voll Eintracht ſpricht: 

o gieb uns, Welt, Dein Gleichgewicht! 


Es toͤnt aus der Brandung wie Geſang 
um ein Menſchenpaar im Überſchwang. 


33. 


Und ſie wirbeln im Tanz: gluͤhend im Glanz 
maͤchtiger Feuer bei heller Sonne, in Feiertagsluſt: 
Maͤnner und Weiber mit offner Bruſt, 

mit brennenden Backen, ſtampfenden Hacken, 


237 


232 


auf offner Tenne, um eine Tonne: 

die paukt ein Fiſcher voller Wonne, 

um die Wette 

mit einem Hirten, der blaͤſt Klarinette, 

und fernher brauſt den Takt die See. 

Und nun reihn ſich rings die Kinder zur Kette. 
Und es wogt ein Herz: Meine Flammenfee — 


weißt noch? damals? unſer Tanzen 
zwiſchen den Modepuppen und Schranzen! 
wie du mir wehrteſt: nit erzaͤhlen — 

wie du mich lehrteſt: nit uns quaͤlen — 
und mich ſchuͤrteſt, wie einen Herd, 

aus dem ſtatt Waͤrme Feuerwerk ſprang! 


Und er 1 ſie derber die Tenne entlang, 
unverwehrt; 

ſingend ſchuͤren die Kinder den geuertreis 
Zur Sonne ſingend. Und in den Pauſen 
macht die See die Seelen erbraufen. 

Das Weib lacht heiß: 


WaRWelt, Meiner! ſei Kind! dann ſteigt 

deine Fee herab von ihrem Stern. 

O, ſie haͤtt wohl laͤngſt von Herzen gern 

vor Mann und Weib den Damen und Herrn 
die Zaͤhne und die Zunge gezeigt: i 
Seht, hier tanz ich in ſelbſtgeſtopften Struͤmpfen 
und kann noch immer die Naſe ruͤmpfen! 

ich habe ſeit Wochen nichts zu Tiſche 

als Salz, Brot, Ziegenmilch und Fiſche, 

aber bin Mutter Iſis, die Herrin der Welt — 
gelt, mein lieber Herr Gott: deine liebe Frau Welt! 


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Es brauſt die See; es brauſt ihr Blut. 
Zwei Menſchen jauchzen vor Übermut. 


34. 
Und ſie ſehn ſich ſchimmern, ruhend vom Bade. 
Und ſchimmernd ruht das oͤde Geſtade 
im warmen Wind. Sie lauſchen ihm nach: 
lauſchen, wie die Weiten ſich ruͤhren, 
wie alle Tiefen zu Hoͤhen fuͤhren — 
wie die Moͤwen zwiſchen den Wellen 
ſchwimmend auf und nieder ſchnellen — 
Und des Weibes Lächeln wird zur Sprache: 


Lux, mein Leuchtender, wenn wir ſo liegen, 

ich mit meinem ſchwarzen Windsbrauthaar, 

du wie ein Flußgott der See entſtiegen, 

und jeder Wogenkamm bringt uns Liebreize dar, 
und mir verſinkt die letzte Schranke, 

die zwiſchen Leib und Seele noch blieb, 

denn dein kleinſtes Haͤrchen iſt mir ſo lieb, 

ſo wert wie dein groͤßter Gedanke — 

und ich denk an geſtern und ſtrahle vor Ehren, 
daß ich dir Haar und Bart durfte ſcheren — 
ach, und heut Nacht, du, hoͤrt ich dich ſchnarchen 
wie einen braven Patriarchen 

und konnt nit lachen — Herr meines Lebens, 

es war mir lieb als Außerung Deines Lebens — 
und ich ſag dir dann mit froͤhlichem Mut: 

ich bin auch deinem Toͤchterchen gut — 

und frag dann ohne ein Laͤcheln des Spottes: 
bin ich nun „reif“ zur Mutter Gottes, 

reif zur Lebens meiſterſchaft, 

tauglich, tuͤchtig, tugendhaft —? 


233 


234 


Dann, mein himmliſches Freudenmaͤdchen du, 
— reckt ſein narbiger Arm ſie der Sonne zu — 
dann ſag ich lachend ohne Spott: 


wir Goͤtter brauchen keinen Gott! 


Er laͤßt ſie thronen auf ſeinen Knien; 
und ſie, mitlachend, ſchaukelt ihn, 

die Bruͤſte zum Triumph geſtrafft. 
Zwei Menſchen ſchwelgen in ihrer Kraft. 


35. 


Und es rauſcht nur und gluͤht. 

Es liegt eine Duͤne im ſchwuͤlen Licht der Fernen. 
Es fuͤllt ein Geflimmer wie von ſprießenden Sternen 
die ſtille Wildnis; das Sandmeer ſpruͤht. 

Es loht die hohle Huͤgelwand, 

wie auf ewig vor Schatten behuͤtet, 

ein Neſt, in dem der Himmel bruͤtet. 

Und der Mann wiegt das Weib im Mittagsbrand: 


Aufgewacht, Seele, aufgewacht! 

Wunderland liegt aufgetan! 

In uns, Seele, da traͤumt die Nacht; 

aber hier, ein Hauch meines Mundes macht 
dieſe duͤrre Inſel — ja, ſchau ſie an — 

zum Paradies und Kanaan, 

wo Adam ſuͤndlos bei Eva ruht, 

wo der Tag gluͤht wie unſer Fleiſch und Blut, 
wo Alles Frucht iſt am reinen Leib der Liebe, 


ſelbſt der Halm dort im Sandgetriebe! 


ſelbſt der Salzgeruch, der von der Kuͤſte 


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herquillt an deine braunen Brüfte 

und Milch aus deinem Mutterblut braut! 

ſelbſt deine honigwabengoldne Haut, 

und deines Schooßes gluͤckſtrotzender Schwung, 
und meiner Mannheit Verkoͤrperung! 

Und wenn die Seele noch ſo ſchreit: 

ſie fuͤhrt zum Wahnſinn, dieſe Seligkeit: 

dann, du, dann — er ſtammelt ploͤtzlich, lauſcht — 


das Weib in Sonnetrunkenheit 
jauchzt berauſcht: 


dann iſt der Wahnſinn eben Seligkeit — — 


und faͤhrt zuſammen: ein Schatten faͤllt 

in ihre nackte Glut herab 

wie aus einer fremden Welt: 

Sand rutſcht, und uͤbern Huͤgel tappt 

ein Herr in Reiſetracht, ſteht ſtarr — o Graus: 
zwei Menſchen lachen einen aus. 


36. 


Und bis in ihre Leuchtturmklauſe 

ſucht das Walten der Welt ſie auf. 

Unten pocht und ſchwebt im Dunkeln des Meeres Gebrauſe; 
und den kleinen Tiſch deckt bunt ein Haufen 

Briefe aus aller Herren Laͤndern. 

Der Mann ſteht leſend; das Weib ſpielt zaudernd 

mit den abgeriſſenen Raͤndern. 

Endlich ſagt ſie, wie planlos plaudernd: 


Lux, ich glaube: koͤnnten die Menſchen erraten, 
mit welcher Eintracht wir uns begluͤcken, 


235 


236 


ja, ich glaube, fie teilten unſer Eutzuͤcken, 

die ſelbſt, denen wir Leides taten. 

Denn gelt: auch Dir doch wuͤrd'es gelingen, 
dieſem Gluͤck alles Andre zum Opfer zu bringen? 


Er ſchweigt — ſie ſucht ſeinen Blick — ihr graut: 


ſein Mund bewegt ſich, aber die bleichen 
Lippen geben keinen Laut. 

Er ſtarrt auf ein Blatt mit ſeltſamen Zeichen. 
Die Chiffern ſchwanken. Ihr droͤhnt das Meer. 
Fremd toͤnt ſeine Stimme zu ihr her: 


Es hat eine Seele ſich befreit — 

ich hielt ihr Gluͤck einſt in Haͤnden. 

Ich verſprach ihr lauter Seligkeit — 

das iſt nun alles zu Ende. 

In williger Demut ſchien ſie's zu dulden; 

es war Stolz — ſtolz ſchwieg fie zu meinem Verſchulden. 
Ja: hier ſteht es von Helfershand geſchrieben: 
ich habe ſie in den Tod getrieben. 

Ich ließ die Verzweiflung uͤber ſie kommen. 
Ich hab meinem Kind die Mutter genommen! 
Verlangſt du noch Opfer? — Ich glaube: nit! 
Mir ſcheint, Mutter Iſis: wir ſind quitt. 


Er ſetzt ſich, ſonderbar gelaſſen. 

Unten ſchwebt und pocht im Dunkeln des Meeres Gebrauſe. 
Stechend bebt das Licht der einſamen Klauſe. 

Zwei Menſchen ſuchen ſich zu faſſen. 


Dritter Umkreis 
— Die Klarheit — 


* 
Eingang 


Schweb ſtill, ſchweb ſtill, triebſeliger Geiſt, und dehne 
dich uͤber alle Kreiſe aus! 

ſieh: mit der Sehnſucht der geſpannten Sehne 
greifſt du nun ein ins Weltgebraus. 

Sie ſchnellt zuruͤck, zuruck zu ihrem Bogen, 
berührt ihn, ſchwirrt noch, deckt ihn nie — 
doch was ſie mußte, wirkte ſie: 

der Pfeil iſt frei zum Ziel geflogen. 2 
Such's nicht etwa bei Deinesgleichen, 

ſehne dich nicht in Dich zuruͤck! 

denn es gilt, o Menſch: das Gluͤck, 

oh das Weltgluͤck zu erreichen. 


* 
Vorgaͤnge: III, 1—36 


T. 


Zwei Menſchen gehn durch nebelnaſſen Hain; 
er faßt einen alten Friedhof ein. 

Die feuchten Blaͤtter haͤngen ſchwer herab, 

ſo ſchwer, als moͤchten ſie die Zweige brechen; 
ſie haͤngen um ein friſches Grab. 

Ein Mann beginnt ſich auszuſprechen: 


Nach dieſen Trennungstagen, 
die einen Andern aus mir machten, 
will ich mein wahres Trachten 


237 


nicht langer halb im Dunkeln vor dir tragen. 
Eh ich die Leiche liegen ſah, 

hatt ich den Traum, ihr ſtilles Antlitz truͤge 
den Mut der Tat zur Schau; der Traum war Luͤge. 
Ich ſah in ihre zerlittenen Zuͤge: 

dem Wahnſinn ſchien die ſtarre Maske nah. 
Ich habe vor dem Anblick nicht gebebt: 

da lag ein Herz, der Einſamkeit erlegen. 

Ich ſtand und fuͤhlte das Geſetz: wer lebt, 
hilft toͤten, ob er will ob nicht. 

Und aus dem gramvollen Geſicht 

ſchlug kalt die Mahnung mir entgegen: 
Keinen zu brauchen, gottgleich allein 

williges Herz der Welt zu ſein! 


Er neigt ſich, um die tropfenſchweren 
Blaͤtter von ſich abzuwehren. 
Mitwehrend ſpricht ein Weib in ihn hinein: 


Wie du geſtanden haſt an ihrer Bahre, 
erkenn ich aus dem Büfchel grauer Haare, 
der fruͤher nicht an deiner Schlaͤfe drohte. 
Wozu nun noch verſtorbnes Leid auffriſchen! 
Das Leben wird dir's ebenſo verwiſchen 
wie hier dies Zeichen — ſieh: ich geb's der Toten. 


Sie legt ihre Hand wie ſegnend auf das Grab; 
ſie druͤckt ſich tief im feuchten Erdreich ab, 

ein Tropfen ſchimmert in dem ſchwarzen Ballen. 
Zwei Menſchen ſtehn, als ſei ein Schwur gefallen. 


2. 
Durch hohe Pappeln fingert grell der Mond, 
legt harte Schatten vor ein kleines Haus; 


238 


* 


N 


2 


88 


fern hockt der Großſtadtdunſt, glanzuͤberthront. 

Zwei Menſchen ſinnen in die Nacht hinaus. 

Oer Dunſt der Felder ſchleicht, das Mondlicht daͤmpfend. 
Ein Weib ſagt zoͤgernd, mit ſich kaͤmpfend: 


Die Frau, die du beſtattet haſt, 

hat uns befreit von einer Laſt; 

ich weiß ihr Dank! und will ihn offenbaren. 

Wo iſt ihr Kind! Dein Kind! — gib mir's bei Zeiten; 
noch koͤnnen wir's zu unſerm Gluͤck anleiten. 

Was planſt du immer wieder Heimlichkeiten! 

ſoll's etwa ſo ein Freund dir aufbewahren? 


Der Mann am Fenſter blickt ins bleiche Land; 
er wirrt in ſeinen grauen Schlaͤfenhaaren. 
Er ſpricht verhalten, abgewandt: 


Vorlaͤufig darfſt du dir den Dank erſparen. 

Auch wird kein Freund in deinem Gluͤck dich ſtoͤren; 
die Tote wußte nichts von dieſen Leuten. 

Mein Kind wird meine Mutter mir verwahren; 
ich ſchwieg nur, um dein freies Wort zu hoͤren — 
nun laß dir Eins dazu bedeuten: 

Mir haben mehr als eure beiden Seelen 

ihr ganzes Gluͤck geoffenbart; 

in jeder ſchien ein Stuͤck zu fehlen, 

es lag in mir wie aufgeſpart. 

Wohl band an Jene mich ihr Leidensfrieden, 
wohl riß zu Dir mich deine Lebensluſt, 

doch immer blieb mir frei bewußt: 

mir hat die Welt ein reicheres Gluͤck beſchieden. 
Vielleicht entdeckſt auch Du dies Gluͤck bei Zeiten 
und leruſt mein Kind zu feinem Gluͤck anleiten! 


239 


Er kehrt feine Stirn bruͤsk gegens Licht; 

fern hockt der Großſtadtdunſt, glanzuͤberthront. 
Sie laͤchelt eigen; er ſieht es nicht. 

Zwei Menſchen blicken einfam in den Mond. 


3. 
Sonne lacht; die Stoppelfelder ſchimmern. 
An verfaͤrbten Blaͤttern zupft der Wind, 
Fruͤchte luͤpfend. Heimlich Leben ſpinnt 
weiße Faͤden; rings im Blauen flimmert's. 
Scheinbar taͤndelnd hat ein Mann 
einem Weibe ſolch ein zart Geflechte 
um ihr ſchwarzes Haar gewunden — 
nun ſtreckt er ſeine narbige Rechte: 


Was doch die Seele brav lernen kann, 

hats nur der Koͤrper erſt fuͤr gut befunden! 
Kaum hab ich mir die eine Hand lahm geſchunden, 
ſchon ſtellt ſich meine Linke geſchickter an 

als je die Rechte. Selbſt auf der Jagd: 

wie hat mein Vater mich neulich ausgelacht, 
als ich ſo ſchießen wollte — und dann: 5 
keinen Fehlſchuß tat ich beim Keſſeltreiben. 
Ich kann auch wieder heimlich ſchreiben; 

falls dirs vielleicht mal zuviel Muͤhe macht, 
Frau Fuͤrſtin, meine Sekretaͤrin zu bleiben — 


keichthin hat er das Spinngewebe 
wieder ihrem Haar entnommen, 
leichthin haͤlt er's in der Schwebe; 

bis es wegſchwebt, flimmernd, wehend. 
Wie mit Willen nicht verſtehend 

ſagt ſie, nur ihr Atem geht beklommen: 


Ar 


a az Bu. 


Ou tuſt ſehr gluͤcklich mit deinem Spiel. 
Faſt wie Gaukler, die ſich ſchaͤmen, 
Lux, ein Ungluͤck ernſt zu nehmen. 


Scheint dieſe Muͤh dir nicht zuviel? — 


Doch den reichen Seelen 
muß das Gluͤck wohl fehlen, 
das ſie Andern zeigen als ein Ziel — 


gelt? — Er ſchweigt. Rings luͤpft der Wind 
Fruͤchte; heimlich Leben ſpinnt 

weiße Faͤden uͤber Zaun und Dach. 

Zwei Menſchen ſchaun dem fliehenden Sommer nach. 


4. 


Abendroͤte ruht auf alten Wegen. 
Stille Muͤhlen ſtehn im kahlen Land 
wie gebannt; 

hohe Baͤume gluͤhn der Nacht entgegen. 
Wo der daͤmmergraue Park ſich lichtet, 
unweit einer Grabkapelle, 

gehn zwei Menſchen, Hand in Hand. 
Und als ſei ein Streit geſchlichtet, 

weiſt ein Weib ins Freie, Helle: 


Du mußt nit meinen, ich ſei ſo ſchickſalsblind, 
daß ich am Himmel niemals Wolken ſeh. 

Hier birgt noch jeder Strauch mein einſam Weh: 
hier ſahſt du kalt auf mein getoͤtetes Kind. 

Jetzt aber, wo dein Leben mich durchrinnt, 

ſo warm, als klopfe unter meinem Herzen 

Dein Herz mit allen Wonnen, allen Schmerzen, 
jetzt will ich kaͤmpfen, bis ich vor dir ſteh 


241 


242 


N 
re 


fo lauter wie ein wolkenloſer Tag. 
Wer ſind nun deine dunkeln Freunde? ſag! 


Abendroͤte ruht auf alten Wegen; 

durch die gluͤhenden Kiefernkronen 

graut der Nacht ein fahles Haus entgegen, 
hoch mit eiſernem Balkone. 

Ein Mann ſagt willig, ſagt mit Hohn: 


So laß dir denn erwidern: 

ſchon biſt du ſelbſt im Bunde. 

Von allen ſeinen Gliedern 

iſt keins ſo reif wie du zur Stunde. 

Denn dieſen Bund hat nur die Sehnſucht geſtiftet, 
nichts wider Willen mehr mitanzuſehen. 

Man darf ſogar Verrat begehen; 

das Schlimmſte iſt, man wird vielleicht vergiftet. 
Es folgen alle nur dem einen Satze: 

dort, lieber Freund, ſcheint Ihre Kraft am Platze. 


Abendroͤte ruht auf alten Wegen; 
Wolken gluͤhn zwei Menſchen wirr entgegen. 


5. 
Morgennebel brodelt auf fernen Seeen. 
Gelbes Laub tanzt uͤber abgemaͤhte 
Wieſen und zerfahrne Chauſſeen 

zur Mufit der Telegraphendraͤhte; 
ſturmbetroffen ſtockt ein Menſchenpaar. 
Jaͤh iſt eine Wanderſchaar 

Schwalben durch die brauſenden Pappeln 
und die Draͤhte hingeſchoſſen, 
unbekuͤmmert um die zerfetzten Genoſſen, 
die im Graſe abgeſtuͤrzt zappeln. 


16˙ 


x 


Der Mann kürzt ihre Qual mit einigen Streichen. 
Nun weiſt er auf die kleinen Leichen: 


Ja, Mutter Iſis: blick nur betroſſen her! 

kannſt du noch fliegen, Seele? und allein!? 

Oein Auge hat ſehr ſtolzen Schein — 

dann iſt es gut: dann brauchſt du mich nicht mehr. 
Zugvoͤgeln gleich: da ziehn ſie, planvoll verbunden, 
und denkt doch keiner an Ich und Du — 

ſchon find fie, ſchau nur nach, im Nebel verſchwunden 
von einer Heimat der andern zu — 

zum jammervollſten Tod bereit 

in ihrer Sehnſuchtsherrlichleit — — 

komm weiter! 


Er winkt in den Sturm, ſein Stock zuckt wie ein Degen. 
Da tritt das Weib ihm voll entgegen: 


Lukas! Nun haſt du deutlich genug geſprochen! 
kennſt du das Wort Selbſtherrlichkeit? 

Haͤltſt du die Fuͤrſtin Lea fuͤr ſo gebrochen, 

daß ſie ſich umſieht, was ihr Halt verleiht? 

Nun will ich frei ſein! frei auch vom letzten Band, 
das mich noch feſſelt an jene Welt der Gecken. 
Frei, weil mirs ziemt; nicht Dir zum Unterpfand. 
Dann biet ich dir vielleicht die Helfershand. 
Warum nicht fruͤher, das wirſt du bald entdecken. 


Sie nimmt ſeinen Arm; ſie ſieht, er laͤchelt eigen. 
Zwei Menſchen fuͤhlen, wie's ſtuͤrmt, und ſchweigen. 


6. 


Truͤber Tag und dunkle Ahnenbilder, 
Gaslichtſlammen, roſtige Wappenſchilder, 


243 


und hohe Spiegelwaͤnde. Und inmitten 
ſtehn zwei Menſchen mit hoͤflich kuͤhlen 
Mienen neben den ſteifen Stuͤhlen 

und begruͤßen einen Dritten. 

Dieſer nickt und ſieht voll Schonung 
und gelangweilt in die Welt. 

Und nachdem man Platz gewaͤhlt, 

ſagt ein Weib mit merklicher Betonung: 


Hoheit, ich danke fuͤr Ihr Entgegenkommen. 

Und da Sie guͤtigſt in die Scheidung willigen, 

und da uns das Geſchick den Erben genommen, 
und um Verwickelungen zuvorzukommen, 

moͤchte ich fragen, ob Sie's voͤllig billigen, 

daß mir auch jetzt, das heißt nach Bruch der Ehe, 
die Haͤlfte meiner Mitgift noch zuſtehe; 

ſonſt will ich mich trotz meines Anſpruchs verpflichten 
ſo weit wie moͤglich zu verzichten. 


Jener wehrt mit gnaͤdiger Bewegung; 

hierauf hoͤrt man nur das Gaslicht raunen. 
Und nach fluͤchtigem Erſtaunen 

nimmt ein Mann das Wort, faſt mit Erregung: 


Hoheit, auch mich verlangt es, Dank zu ſagen — 
ich leg ihn nicht mit leeren Haͤnden nieder; 

hier bring ich die Archivpapiere wieder, 

die ich gewillt war zu unterſchlagen. 

Ich moͤchte aber nicht, daß Hoheit glauben, 

ich ſei aus Leichtſinn zu der Tat geſchritten; 

ich trat mein Amt an mit dem Zweck, zu rauben. 
Ich moͤchte nur, daß Hoheit mir erlauben, 

als Menſch den Menſchen um Verzeihung zu bitten. 


Er legt erroͤtend ein Bündel auf den Tiſch; 
Jener wehrt, als ob er Staub wegfaͤchelt. 
Wieder hoͤrt man nur das Gasgeziſch. 
Zwei Menſchen fuͤhlen: der Dritte laͤchelt. 


7 
Ein Stuͤbchen ſchwimmt voll Zigarettenduft; 
zwei Menſchen hauchen Ringe in die Luft. 
Immer umwoͤlkter blickt und ſinnt der Mann 
das Weib an: 
ihren herriſchen Wuchs, ihr ſorgſam ſchlicht Gewand, 
ihr ſchwer zu glaͤttendes Haar, die große Hand, 
den kuͤhnen Hals, das ſanft geſchwungene Kinn — 
Endlich wirft er gezwungen hin: f 


Du haſt es aͤußerſt talentvoll angeſtellt, 
dich mir als reiche Frau zu entpuppen; 
ich hoffe, daß mirs immer oͤfter wie Schuppen 
von den verliebten Augen faͤllt. 
Ich bin dir dankbar für das charmant poſierte 
Schauſpiel der Armut, das du mir geboten; 

| beinah fo dankbar wie der Toten, 

. die mir zu Liebe Demut ſimulierte. 

! Nur glaube nicht, mit allerhand geſchickten 
Kuͤnſten ſei Klarheit zu erzielen; 
im Leben fuͤhrt das Rolleſpielen 

f zu arg verwirrenden Konflikten. 

f Da wird die Wahrheit denn ſtatt Ziel 

ein offenherzig Luͤgenſpiel. 


Sein Blick wird ſchaͤrfer; fie halt ihn aus. 
Sie ſcheucht den Rauch weg, ſie ſagt klar heraus: 


Wundert dich das, du freier Mann? 


rr A Le El 
9 8 * — 


245 


ji 


. 


Du wollteſt doch, ich ſollt dir zeigen, 

ob ich verſtuͤnde, planvoll zu ſchweigen; 

du ſchuldigſt deine eignen Kuͤnſte an! 

Was unterſchied mich denn von einer Dirne, 

bevor ich glauben durfte, wir ſind Eins? 

Der Schutz des Reichtums! nicht des ſchoͤnen Scheins 
ich biete aller Welt die Stirne. 

Die Tote aber lehre uns fuͤrs Leben: 

nur volles Selbſtgefuͤhl kann voll ſich ſelbſt hingeben! 


Sie blickt ins Freie; er hat die Augen geſchloſſen. 
Zwei Menſchen ſitzen rauchumfloſſen. 


8. 


Die Georginen ſchuͤtteln ſich im Wind; 

gefallnes Obſt liegt auf den Gartenſteigen. 

Am Straßenzaun ſteht ſcheu ein armes Kind 
unter den brauſenden Pappelzweigen 

vor einer Frau; ſie ſchenkt ihm von den Fruͤchten. 
Selig rennt's weg, als muͤßt es fluͤchten. 

Sie tritt zu einem Mann, ſie ſagt gelind: 


Jetzt ſtand gewiß dein Toͤchterchen vor dir, 
ob ich wohl reif ſei, ihm zuzureden 

zu feinem Gluͤck — o glaube mir: 

ein rechtes Kind vergißt fuͤr jeden 

Apfel den ganzen Garten Eden, 

drum iſt es gluͤcklicher als wir. 

Wir ſchwelgen ewig im Geiſt und putzen 
zu Vorbildern einander aus, 

Einbildung traͤumt von ihrem Nutzen, 
bis wir verdutzt im Lebensbraus 

zum Sinn des alten Gebots erwachen: 


du ſollſt dir kein Bildnis noch Gleichnis machen! 
Statt uns getroſt an allen neuen 
Reizen wie Goͤtter frei zu freuen — 


Ein fallender Apfel macht ſie ſtocken. 
Er liegt zerplatzt. Der Mann ſagt trocken: 


Du haſt ſehr reizend gepredigt — aber 
mich ſticht nicht mehr der Goͤtterhaber. 

Im Geiſt zwar gehts ſchoͤn glatt vom Fleck 
auf dem beliebten hohen Pferde; 

aber der Leib liebt halt die Erde, 

und eh mans denkt, liegt man plattweg 
— pardon — im Dreck. 

Bis wir nicht lenkbare Lufthaͤuſer bauen, 
wohnen wir nicht auf Wolkenauen; 
inzwiſchen zeigt uns jeder Kinderdrachen, 
der Menſch muß Alles zum Gleichnis machen. 


Die Georginen ſchuͤtteln ſich im Wind. 
Zwei Menſchen ſpuͤren: der Herbſt beginnt. 


9. 
Die Sonnenblumen beugen ſich im Regen; 
zuweilen rauſcht's vom Dach wie Geiſterklopfen. 
Der wilde Wein haͤngt ſchlaff dem Sand entgegen, 
die roten Blaͤtter ſcheinen Blut zu tropfen. 
Oer Mann ſteht trommelnd an der Fenſterſcheibe. 
Ploͤtzlich ſagt er zu dem Weibe: 


Ich will dir einen Traum erzaͤhlen. 

Wir ſtanden feierlich in einem Saal, 

als ſollten wir vor Zeugen uns vermaͤhlen. 
Ich hielt und bot dir einen vollen Pokal, 


247 


248 


um durch den Trunk den Trauſchwur zu beſiegeln. 
Mit einem Mal 

ſeh ich tief unten in dem dunkeln Wein, 

wie hoch von oben her, vollkommen rein 

ein laͤchelndes Geſicht ſich ſpiegeln: 

die Tote lebt. Sie ſchwebt. Sie laͤchelt wieder. 
Sie nimmt ein Flaͤſchchen Gift aus ihrem Mieder. 
Sie traͤufelt es in unſer Kelchglas nieder. 

Und ich: ich laͤchle mit — und laſſ dich trinken — 
und trinke ſelbſt — mir weiten ſich die Glieder — 
ich fuͤhle fern mich in die Welt verſinken. 


Und ich — beginnt das Weib zu überlegen 
und ſtarrt abweſend in den rauſchenden Regen — 


ich ſtand heute Nacht allein im Traum: 

ich war ein leuchtender Schneegloͤckchenbaum. 

Aber fern kam furchtbar ein Funkeln an, 

als wollt's mich zerſtoͤren: ein ſturmgeſtraͤubter Tann, 
ein Wald wilder Lichter, braungolden, gruͤn, blau, 
wie ein rieſenhaft ſich ſpreizender Pfau, 

und mir gehts bis ins Mark, ſo eilt das Ungeheuer. 

Da wird aus mir ein einziges Bluͤtenfeuer; 

von weißen Flammen ſtiebt die ganze Au 

und flammt frei hoch mit mir, hoch, immer freier — 
und unten praſſelt der verbrennende Pfau. 


Und wieder rauſcht's vom Dach wie Geiſterklopfen. 
Zwei Menſchen hoͤren's wie Herzblut tropfen. 


Io, 


Licht kampft mit Wolken uͤber Forſt und See. 
Durchs Waſſer jagen Schatten, gleich Kentauern 


5 
Be 
1 


aufbaͤumend an den duͤſtern Kiefernmauern, 
die rings im Bodenloſen ſchauern; 

durchs Uferdickicht rauſcht ein fluͤchtendes Reh. 
Zwei Menſchen treten aus der Waldesruh. 
Innig ſchaut ein Weib dem Lichtkampf zu. 


Ich fange an, dein maͤrkiſches Land zu lieben; 
es liegt wie wartend, was der Himmel bringt. 
Und wenn ich ſeh, wie dort die Winde ſtieben 
und hier die Stille mit ſich ſelber ringt, 

und wie ſich all die Sehnſucht nach dem Licht, 
die aus dem grauen Waſſerſpiegel bricht, 

paart mit der Sehnſucht in die Nacht 

des Weltenſchooßes, drin die Sonne wacht, 
und ſelbſt die Baͤume beben, als ob ſie ringen 
den Umſchwung der Geſtirne mitzuſchwingen: 
dann geht mir auf, was uns ans Leben bannt 
und doch uns lockt, dem Tod anheimzufallen, 
und immer freier ſtreckt ſich meine Hand 

nach deinen Freunden, nach den Menſchen allen. 


Und gleißend oͤffnet ſich ein Wolkenſpalt; 

den See durchfaͤhrt ein ſchlangenhaftes Blenden, 
hinſchillernd an den ſtarren Kiefernwaͤnden, 

die rings ins Bodenloſe enden — 

ein Mann ſagt kalt: 


Jawohl, es iſt im Himmel wie auf Erden. 
Was ſich noch unfrei fuͤhlt, das ſehnt ſich frei 
und moͤchte immer freier werden; 

fuͤr mich iſt dies Geluͤſt vorbei. 

Ich lernte meine Sehnſucht ſtillen; 

ich bin ſo gotteins mit der Welt, 


249 


250 


daß nicht ein Sperling wider meinen Willen 
vom Dade fällt. 


Grell greift ein Sonnenſtrahl ins Waldesgrauen; 
zwei Menſchen muͤſſen zu Boden ſchauen. 


II, 


Die Nacht der Großſtadt ſcheint ins Land zu wogen: 
Laternen lauern bleich den Fluß entlang. 

Gleich trunknen Nixen zucken ſchwank 

die Widerſcheine unterm Bruͤckenbogen, 

vom Takt der Stroͤmung hin und her gezogen; 

zwei Menſchen bleiben ſtehn am Uferhang. 

Ein Mann, wie von dem Zerrſpiel mitgezwungen, 
weckt ſchwanke Erinnerungen: 


Ellewelline tanzt Serpentine — 

o, wie war der Maitag wunderbar! 

als der Herr Eidechs im Sonnenſchein erwarmte, 
als ich im Weib noch die Welt umarmte; 

da hatt ich noch kein graues Haar. 

Da hatt ich blaue Himmelſchuh an 

und war ein ſchoͤn feuriger Reitersmann; 

jetzt zieh ich durch die Nacht im Hundetrott. 
Und koͤnnt doch ſpornſtreichs, wie ruͤſtige Witwer duͤrfen, 
aus „allen neuen Reizen“ Freude ſchluͤrfen — 
gelt, Fuͤrſtin? freier als ein Gott! 


Er lacht. Er lacht ſie an. Sie ruͤhrt ſich nicht. 

Es zuckt wie buhlend in den Waſſergruͤften. 

Sie wills nicht ſehn — wegblicken — Nein, nicht — o Licht: 
heilig ſtroͤmt's über — fie flammt, fie ſpricht, 
ſchauernd bis in die ſchwangern Huͤften: 


un 


Ich bin nicht mehr Fuͤrſtin! ich bin dein Weib 

ich trage dein Blut in meinem Leib! 

Du wirſt Mein bleiben! du wirſt mich nicht ſchaͤnden! 
du haͤltſt mein nacktes Leben in Haͤnden! 

Das iſt die toͤtlichſte Schmach fuͤr ein Weib, 
verſchmaͤht ein Mann ihren willigen Leib! 

Das wars, was Jene zum Nußerſten trieb; 

was ihr nicht ahntet, wie Wir jetzt, Wir! 

drum gingſt du pflichtlos, ſchuldlos von ihr. 

Mich aber haſt du blutpflichtig lieb! 


Sie zittert; ſie will ſeine Haͤnde faſſen. 
Er ſtarrt; er wehrt ihr. Zwei Menſchen erblaſſen. 


12. 


Der Mond erleuchtet ſcheu ein kleines Zimmer; 
das Licht durchranken Schatten, viele, viele. 

Ein Mann umſchreitet ſchweigend, wie zum Spiele, 
die ſchwarzen Fenſterkreuze auf der Diele. 

Doch nun, als loͤſe ſich ein Blatt vom Stiele, 
bebt eines Weibes Stimme durch den Schimmer: 


Ich trag ein Kind — von Dir, von Dir — 

ich tu meine Wonne auf vor dir — 

o trag ſie mit mir! gemeinſam! grenzenlos! 

Du mußt ja; fuͤhl's doch! ich weiß es und ich ſag'es, 
mit jedem Pulsſchlag ſagt mirs Herz und Schooß: 
Wir Beide, wir ſind Eines Schlages! — 

Was auaͤlſt du uns! o denk an die Nacht zuruͤck, 
als ſich's erfüllte, dein Weisheitswort vom Gluͤck! 
Ja: alle Torheit, alles Leid 

ſind Ausgeburt der Einſamkeit. 


251 


252 


Die Stimme ſchweigt; der Raum ſchweigt mit, wie leidend. 
Die Fenſterkreuze flehn ins kahle Feld; 8 

doch druͤber ſchwebt die fremde fahle Welt. 

Der Mann ſagt ſchneidend: 


O, ich denke an viele Nächte zuruͤck; 

jede war voll Wonne — doch Gluͤck? iſt Das Gluͤck? 
Dein Schooß, ich hab ihn nicht erſchloſſen: 

ein Andrer hatte ihn vor mir genoſſen. 

Und dein Herz — ich wollt mich nicht danach fragen, 
aber wieder und wieder mußt ich mir ſagen: 

die reinſte Gluͤckſeligkeit zwiſchen Uns Beiden 

iſt die zwiſchen Heiden — 

und daß dein Leib dir nicht heilig geweſen iſt, 

das zu vergeſſen vermag nur ein Chriſt! 


Er ſtiert ploͤtzlich: es war, als flog 

jaͤh ein Glanz hoch, uͤberirdiſch ſchlank. 

Da machts ihn aufſchrein: Lea! — Sie wankt — 

will fliehn — Er — Licht, Schatten, Alles ſchwankt — 
er ſchwankt ans Herz ihr: ich log, ich log! — 

Zwei Menſchen weinen — o Gluͤck! — o Dank! — 


13. 
Nun kruͤmmt das welke Laub ſich ſacht zum Falle; 
nun bringt's die lange verhuͤllten Fruͤchte alle 
in Feld und Garten voll zu Ehren. 
Die Ebereſche ſchwenkt die hundert ſchweren 
hochroten Buͤſchel kuͤhn vorm Ziegeldache, 
Nur des Hollunders purpurſchwarze Beeren 
betrauern ſich am dunkelgruͤnen Bache, 
zu dem fie laſtend niederſchwellen. 
Ein Mann verfolgt die Bilder in den Wellen: 


Eins greift ins andre — keins ruht — nichts ruht — 

o hilf ein Ziel ſehn! — wie's lockt, wie's warnt, dies Drängen! 
Es bringt kein Gluck, du, ſtill Bruſt an Bruſt zu hängen; 
ſo trieb's die Tote — das fraß an ihrem Blut. 

Ich war ihr Vampyr. Du wirſt der meine, 

wenn ich noch laͤnger in dir ruh. N 

Schon immer banneuder werfen deine 

Augen mir ihre Blicke zu. 

Dann kreiſt die Welt mir, als will ſie mich befreien, 

als ſind auch Wir nur einſam zu zweien. 


Im dunkeln Waſſer kreiſt Bild in Bild. 
Er faßt das Weib an, wie innerſt aus den Gleiſen. 
Sie neigt ſich zu ihm, muttermild: 


Du Ungeſtuͤmer — ſo laß die Welt doch kreiſen — 
ſie kreiſt durch mich wie dich; was wehrſt du ihr! 
Bald wirſt du dankbar das Wunder preiſen, 

daß dir die Tote auferſteht in mir. 

O Du! wie lag ich einſt voll Grauen, 

vom Geiſt der Unterwelt durchwuͤtet; 

da lehrteſt Du mich, ihm vertrauen, 

der Luſt wie Leid zur Reife bruͤtet. 

Nun ſieh, wie dort ums Dach die Fruͤchte lachen, N 
rot uns ins Herz, ſtill wirkende Gebote! 

Heute fuͤhlſt du nur das Rote; 

morgen wirſt du froh erwachen. 


Leis umweht ihr Haar ihm Bart und Wangen. 
Zwei Menſchen ſehn die Welt gen Himmel prangen. 


14 
Doch bei Halblicht, grau um etwas Dunkles, 
hocken Menſchen in einem Raum, der dumpf iſt, 


253 


254 


wie Kaninchen um eine Schlange. 

Denn da läßt von allen möglichen Geiſtern 

ein beruͤhmtes Medium ſich bemeiſtern, 

und man lauſcht ihm immer neugierbanger. 
Und nun zuckt die Schlafende, wimmert, roͤchelt; 
und ein Weib, das eben ſtolz noch laͤchelte, 
rauſcht zum Saal hinaus, blaß, fliehend, 

haſtig einen Mann mitziehend. 

Draußen, tief ausatmend, haucht fie gluͤhend: 


Empoͤrend — ſchamlos — dieſe entmenſchten Augen! 
Nun weiß ich, daß ich nicht zum Vampyr tauge; 
verzeih mein Bitten, dies Schauſpiel zu beſehn! 
Erniedrigend! Noch fuͤhl ich mein Herz mitpochen 

mit dieſem Weibsbild, als koͤnnt's mich unterjochen — 


und Dich? Auch? Sprich doch! — Sie ſpaͤht ihn an im 
Gehn; 

um ſie brauſt die Weltſtadt, zur Nacht auf, lichtd urch⸗ 
brochen. 

Mich? fragt er ruhig und bleibt hell ſtehn: 


Was ſchiert mich dieſe feile Verzuͤckte, 

was dieſe gefliſſentlich Verruͤckten, 

die wichtig tun mit dem Geſchaͤfte, 

den uͤberirdiſchen Geiſt zu faſſen, 

um dann vom Dunſt der irdiſchen Saͤfte 
ihr bißchen Geiſt noch benebeln zu laſſen. 
Hol ſie der Teufel, die hirnſchwachen Troͤpfe, 
die mit dem Anſpruch gottgleicher Geſchoͤpfe 
vor lauter Tiefſinn danach gieren, 
zuruͤckzukehren zu den Tieren! 

Ein Pferd, das Nachts die Ohren ſpitzt, 


wo Wir, die's lenken, froh find Nichts zu hören, 
weiß mehr von derlei Geiſterchoͤren 

als ſolch ein Menſch, das Od ausſchwitzt. 
Komm, faſſe dich! Das Unfaßbare 

bedeutet nur: bring Dich ins Klare! 


Zwei Menſchen ſchreiten weiter, lichtumblitzt. 


15. 
Windfackeln lodern. Rot rauſchen die Baͤume 
um ſcharrende Pferde, bunt blinkernde Zaͤume; 
hoch leuchten die Blaͤtter in der Umnachtung. 
Hoch Wimpel und Seile! und druͤber die Sterne! 
ſo zeigen die fahrenden Leute gerne 

die Kuͤnſte ihrer Todesverachtung. 

Froh ſtaunt das Dorfvolk unten im Kreiſe. 
Abſeits lehnt ein Paar. Ein Mann ruͤhmt leiſe: 


Ja, ſie tun mir wohl, dieſe Vogelfreien, 

mit ihrer Geiſtesgegenwart. 

Als ob eine uralte Mannszucht ſie feie: 

jeder Griff bedacht, zielbedacht, willenshart. 

Nur auf ſich bedacht — klar im Wirbel des Traums 
der Mitgefuͤhle: nur die Tat gilt, die Tat! 

So uͤben ſie auf ſchwankem Draht, 

im Flitter der Armut Beherrſcher des Raums, 

die großen Tugenden der Zeit; 

Gefaßtheit und Gelaſſenheit! 


Und erregt, als ob er mitſchwingen moͤchte, 
umſpannt ſein Blick ihr Spiel immer funkelnder. 
Und des Weibes Blick ſchwankt immer verdunkelter. 
Heftig faßt ſie ſeine vernarbte Rechte: 


255 


256 


Lux! was ſchwaͤrmſt du! — Scheinen dir deine Ziele 
auf einmal nur noch Traͤume und Spiele? 

bin Ich's, die dein Gefuͤhl entzweit? 

Ich denke anders von deinen Handlungen! 

Mir winkte ſtrahlend aus all deinen Wandlungen 
die große Tugend der Ewigkeit: 

die Kraft, den Willen der Welt zu faſſen 

und nichts, rein nichts beim Alten zu laſſen! 

Und da iſt mein Stern ſtill dem deinen genaht: 
wie du mich fuͤhlſt, iſt das nicht meine Tat?! 


Und da ſchmettern Trompeten und Trommelton, 
und das Volk klatſcht Beifall den kuͤhnen Springern; 
und ſie bitten ſtolz um den kleinen Lohn. 

Zwei Menſchen geben mit haſtigen Fingern. 


16. 


Rauch und Funken fluͤſtern im Kamin: 

Unruh iſt, wo Feuergeiſter hauſen, 

Unruh, wo die kuͤhlen Wolken ziehn — 

horch, die halbentlaubten Pappeln brauſen. 

Horch — da legt ſich das Gemurr der Flammen, 
ein Weib nimmt all ihr Selbſtgefuͤhl zuſammen: 


Mir ſagt der Geiſt, wir wollen Ruhe haben! 
Und ſperr ich dir den Weg zur Tat, nun gut: 
du ſollſt nicht ſagen, ich ſei dein Wankelmut: 

geh hin, ſei frei! und nimm mein Hab und Gut 
in deinen Dienſt wie andre Freundesgaben! — 
Was ſtehſt du nun und ſtaunſt mich laͤchelnd an? 
Lukas! — welch Raͤtſel biſt du, Mann — 


Sie will in ſeinen Augen leſen; 
es blaut ein Glanz darin wie nie zuvor. 


Die Flammen geiftern hell und laut empor. 
Ein Mann bekennt ſein ſtillſtes Weſen: 


Ja, ſtaun ihn an, den Mann — hier ſteht er, lacht, 
der einſt mit furchtbar heiligem Ernſt gedacht: 
ich bin boͤs gut, ich bin ein Geiſt, 

an dem die Überlebten ſterben, 

verfuͤhrt von ihm, ſich vollends zu verderben, 
damit der Weltlauf ſchneller kreiſt — 

ſo macht ſich der gebrechlichſte Verbrecher 

im Handumdrehn zum Richter und zum Raͤcher, 
bis ihn die Welt in ſeine Schranken weiſt. 

Das wars; drum hatt ich Helfershelfer vonnoͤten. 
Drum ſteh ich jetzt und beichte mit Erroͤten: 
Gewichtige Mittel zu nichtigen Zwecken, 

das iſt die Taktik der Gaukler und Gecken; 

ein einzig Fuͤnkchen neue Tugend wecken 

frommt mehr, als tauſend alte Suͤnder toͤten. 
Und biſt du jetzt noch mein mit Hab und Gut, 
dann, Fuͤnkchen, ſieh: hell lacht die Glut! 


Die Flammen murmeln eine Wunder⸗Erzaͤhlung: 
zwei Geiſter feiern ihre Vermaͤhlung. 


17. 


Und ſie ſtaunen ins Land: es atmet Glanz ohne Ende. 
Mittagsnebel wandern und weiten alle Grenzen; 

aus jedem der tauſend Schleier ſcheint die Sonne zu glaͤnzen. 
Und der Mann beruͤhrt des Weibes gefaltete Haͤnde: 


Alſo morgen geh ich uns mein Toͤchterchen holen. 
Du wirſt dich wundern, Lea — vielleicht auch nicht: 


* 11. 17 257 


258 


ſie wird dein Ebenbild — Gang, Haltung, Geſicht 
nur daß ſie blond iſt wie ein Goldfuchsfohlen. 
Ja, Meine, du haſt mir ſchon im Geiſt geſchlafen, 
bevor ſich unſre wachen beiden Koͤrper trafen; 

und nun begreifſt du wohl mein Mannesbangen. 
Der Geiſt, der Alles antreibt, in Eins zu gehoͤren, 
der ſtrebt das Einzelgeſchoͤpf zu zerſtoͤren; 


A 


denk, wie wir todesluͤſtern am Meer uns umſchlangen! 


Da jauchzten wir den irreſten Lebens trieben; 

da haͤtte die Liebesgier uns aufgerieben, 

haͤtt ich nicht Botſchaft von der Toten empfangen. 
Jetzt ſeh ich dort die Nebelgeiſter walten 

und freu mich unſrer feſteren Geſtalten. 


Es wogt; und blaß, wie ferne Inſeln, erſcheinen 
die Waͤlder durch die leuchtend wehenden Falten. 
Das Weib legt ſchwer die Haͤnde in die ſeinen: 


So laß uns denn den Leib recht heilig halten; 
die Seele weiß ſich ſchon allein zu frommen. 
Mir ahnt ohnehin, uns wird von deinen alten 
Geiſtesfreunden noch Unheil kommen. 

Nimms nicht fuͤr Furcht! O, umſo ſtolzer bin ich, 
daß du nicht loskonnteſt von mir. 

Und umſo demutwilliger weiß ich innig, 

daß ich nicht laſſen kann von Dir. 

Und ſo, leibhaftig, iſt dein Kind auch mein; 
ich will ihm eine Mutter ſein, 

als haͤtt's in meinem Schooß geruht, 

es iſt ja Blut von Deinem Blut. 


Und blaß und blaſſer wehn die Nebel ins Leere. 
Zwei Seelen ſegnen ihre Erdenſchwere. 


18. 


Doch funkeln Sterne wie von je. 

Der Nachtwind irrt ums Haus mit Sehnſuchtsrufen 
und ruͤttelt an den morſchgewordenen Stufen; 

die Pappeln brauſen wie die See. 

Ergriffen lauſcht das Weib den hohen Baͤumen, 

ein Maͤdchenſeelchen ruht vor ihr in Traͤumen; 

ſie daͤmpft beſorgt das Lampenlicht. 

Sie tritt ans Fenſter zu dem Mann. Sie ſpricht: 


Lieber! wir muͤſſen nun wohl ſtreben, 

dem kommenden Geſchlecht zu leben. 

Wenn meine ſchwere Stunde naht, 

dann iſt kein Raum hier. Noch kann ich reiſen, 
und — gelt? uns wird auf jedem Pfad 

das Wunder der Ehe ſich neu erweiſen, 


r T e 


g beim alleroffenherzigſten Treiben 

= uns doch ein reizend Geheimnis zu bleiben — 

. und drum: frei heraus, Lux: ich möcht, wir fahren 
1 nach den Inſeln, wo wir ſelig waren! 

. Da kann keine fremde Hand uns hindern, 

4 ein Paradies zu bauen mit unſern Kindern. 

N Und deine alten Eltern, ſo ſehr ſie jetzt grollen, 
4 ich glaube, dann werden fie mitbauen wollen. 

A 

“ Die Sterne funkeln wie von je. 

Der Nachtwind rauſcht ums Haus wie Vogenrollen. 
5 Der Mann blickt lächelnd auf die dunkle Chauffee: 
4 

1 Und wenn die alten Eltern nun niemals wollen? 
4 kannſt du die Welt zu Deinem Glüd bekehren? 

5 Willſt du den kommenden Geſchlechtern lehren, 

2 man brauche Inſeln, um felig zu fein? 


17 259 


er 


Ja, komm, wir reifen! hoch ſteht dein Schloß am Rhein! 
Da rauſcht das Leben rings kreuz und quer, 

an dem alles Menſchenſtreben ſich mißt! 

Wer in der weiten Welt nicht ſelig iſt, 

der wirds auf einer Inſel nimmermehr. 


Und horch: da dehnt ein Hauch den engen Raum — 
zwei Menſchen ſehn: ein Kind laͤchelt im Traum. 


19. 


Und es glaͤnzt ein Strom im Tal; Rebhuͤgel ſteigen 
von kleinen Staͤdten zu Berg und Burg empor. 
Herbſtfeierlich in letzter Prunkſucht umzweigen 

die Waͤlder ſie mit hundertfarbigem Flor. 

Am Schloßteich ſpielt ein Maͤdchen im Sonnenſchein 
und ſchmuͤckt ſich mit den ſterbebunten Blaͤttern; 
ihr goldrot Haar huſcht durch den alten Hain — 


Huſch — lacht der Mann — gleich wird's ein e ſein 
und uͤber uns im Efeu klettern. 

Und der Himmel, ſchau, wie hochzeitsblau! 

ich moͤcht am liebſten, wir gingen beide 

in edlem Sammet und lautrer Seide, 

wie deine Ahnen einſt hier ſchritten. 

Wir duͤrftens wagen, aus dieſem Freiherrnbau 

die Toten alle heraufzubitten 

zur Feier der Freiheit, die Unſern Bund umſchwebt: 
Vivat, ihr Herrn! wie ſchwarz das Grab auch nachtet, 
Erinnrung ſchimmert, und wer's recht betrachtet, 
der hat das Leben hundertmal gelebt; 

hier ſoll der Odem eines Gluͤckes wehn, 

das Macht hat, tauſend Tode zu beſtehn! 


260 


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Das Weib laͤchelt; ſie hat das Wappen beſehn, 
das unterm Efeu niſtet uͤberm Tor. 
Sie weiſt empor: 


Schau dort: da lugt dasſelbe Gluͤck hervor: 

fuͤr dieſen Sternſchild hat manch Herz gelodert, 
das einſt die Welt zu ſtuͤrmen ſich verſchwor, 

und das jetzt unter unſern Fuͤßen modert. 

O Lux, hier rührt mich jeder Strauch und Baum, 
und jeder raunt mir doch: die Welt iſt Traum. 
Nur Du, du biſt wie ich ſo wirklich mir; 

du lebſt, du leibſt, du liebſt mit mir. 


Da raſchelt's. Blaͤtter flattern; durchs Buſchwerk ſchluͤpft 


das Kind, den Lockenkopf umrankt mit Reben. 
Bin ich nicht ſchoͤn?! jubelt's und huͤpft es. 
Zwei Menſchen oͤffnen beide Arme dem Leben. 


20. 


Und Kerzen ſchimmern; und ſtill ins Schlafgemach 
duͤrfen die Traͤume Ewigen Lebens treten. 
Rings im gebraͤunten Schnitzwerk beten 

Engel aus Erz und huͤten immerwach 

die Sterne auf den ſilberblauen Tapeten. 

Die hohen Spiegel ſtehn gleich Lichtportalen, 
aus denen, in verklaͤrte Schatten getaucht, 

die Leiber zweier ſeliger Geiſter ſtrahlen — 

das Weib haucht: 


Bin ich nicht ſchoͤn? O wie das liebreizend klang, 
als unſer Eichkaͤtzchen ſo vor uns ſprang; 
ich ſah uns nackt vor Gott in Wonne ſtehn — 


261 


262 


wie jetzt. O Meiner! Uns hat mit Urgewalt 
das Meer getraut! Und dieſe Muttergeſtalt, 
nicht wahr, du kannſt ſie fromm beſchauen 
wie Meiſter Duͤrers benedeiete Frauen, 

und ſie darf jubeln: in Himmelshoͤhn 


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1 — gg 2 
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brennt keine Scham mehr! — ſag: Bin ich noch ſchoͤn? — 


Die Schatten beben; die Kerzenflammen wehn. 
Es flimmern Menſchenſterne rings im Blauen. 
Des Mannes Blick ſcheint uͤber weite Auen 


hinzugehn: 


Als du auf wildem Meer mit mir 

wogteſt im Boot, ſahſt weg von mir, 

ſahſt unter uns das Grab hinſchwanken 
und uͤber uns den grauen Himmel wanken 
und bebteſt nicht — da warſt du ſchoͤn. 
Jetzt aber, hier, vor dieſem klaren Spiegel, 
wo jeder deiner Makel mir ein Siegel 

auf meine eignen Haͤßlichkeiten druͤckt, 

und ſiehſt mich an und fuͤhlſt nun, wie wir rangen, 
bis wir das wuͤſte Element bezwangen, 
und bebſt begluͤckt — 

o Du, jetzt ſind wir mehr als ſchoͤn! 


Es ſchimmern Erzengel aus Lichtportalen. 
Zwei Menſchen ſtrahlen. 


21. 


Und Kerzen wehn noch in den hellen Tag; 
entzuͤckte Lipoen gluͤhn, verſchaͤmte Wangen. 
Geburtstagsblumenſtraͤuße prangen. 


2 
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4 
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Das Kind hat feinen Gluͤckwunſch aufgeſagt; 
nun darf's mit Gaͤrtnersmann und Magd 

und mit dem rieſigen Roſinenkuchen 
wohlgemut das Weite ſuchen. 

Und waͤhrend draußen Tanz und Trubel lacht, 
nimmt zart der Mann des Weibes Blick gefangen: 


Komm, Seele — weißt du noch? heut jaͤhrt ſichs grad, 
als ich, ein Lohnmenſch, vor dich trat 

und deinen Blick empfing, der Ketten ſprengte. 
Und nun, in dieſem freien Turmgemach, 

an dieſem lichterloh gekroͤnten Tag, 

der dir und mir dein Leben ſchenkte, 

der jedes Wort belebt zum Dankausruf, 

daß uns die Welt zu denkenden Weſen ſchuf, 

daß wir uns nicht mehr dumpf im Urnebel drehn, 
daß wir zu weinen und zu lachen verſtehn, 

nicht mehr in Suͤmpfen uns ungetuͤmlich plagend, 
nicht mehr wie Bruͤllaffen mondſuͤchtig klagend, 
auch nicht mehr wie ſolch Kindlein handelnd, 

das ſich, von jeder Laune betoͤrt, 

ſein eignes Himmelreich verſtoͤrt — 

wir, Adam und Eva, gen Eden wandelnd — 
Komm —: Siehſt du dort den Schieferberg im Tann? 
da ließ dein Ururahn ſechs Knechte henken! 

Willſt du mir dieſen kahlen Berg heut ſchenken, 
der hundert freie Menſchen naͤhren kann, 

wenn wir ſie mitmenſchlich zum Werk anlenken?! 


Sie blickt den Berg, ſie blickt den Himmel an: 
er ſcheint ſich auf ein Zukunftsland zu ſenken. 
Sie blickt zu Tal, wie uͤbermannt vom Denken — 


ſie lacht: hab Dank, mein Herr und Lehensmann! 


263 


Und talher prangt voll Sonnengold der Fluß. 
Zwei Menſchen tauſchen einen Feſttagskuß. 


22. 


Und eine Mondverfinſterung beginnt; 

den blanken Ball beſchleicht ein ſcharfer Schatten. 
Oer Schatten ſchwillt und macht mit ſeinem matten 
Erdſchwarz den Himmelskoͤrper blind. 

Der kahle Burghain ſteht um Turm und Erker 

wie ein Geſpenſterſchwarm um einen Kerker. 

Das Weib ſinnt: 


Es hat eine Seele ſich befreit: 

ſie band ſich ſelber die Haͤnde. 

Da kam die Ruhe: Nun biſt du gefeit. 

Ich halt dich umfangen wie Raum und Zeit: 
unſer Band hat nicht Anfang noch Ende. 
Nun ſeh ich ohne Sehnen und Bangen 

um unſre Sterne das ewige Dunkel hangen; 
wir wiſſen ungeblendet heimzufinden. 

Und ſelbſt der Mond, der alte Boͤſewicht 

mit ſeinem unheimlich geborgten Licht, 

kann uns das Sonnenband nicht mehr entwinden. 


Im Mond der Schatten ſchwillt und ſchwillt; 
im dunkeln Weltraum blinkt immer befreiter 
das Licht, das von den Sternen quillt. 

Der Mann ſinnt weiter: 


Und man erkennt: Verbindlichkeit iſt Leben, 
und Jeder lebt ſo innig, wie er liebt: 

die Seele will, was ſie erfuͤllt, hingeben, 
damit die Welt ihr neue Fuͤlle giebt. 


264 


> al. 1 


Dann wirſt du Gott im menſchlichen Gewuͤhle 
und ſagſt zu mir, der dich umfangen haͤlt: 

du biſt mir nur ein Stuͤck der Welt, 

der ich mich ganz verbunden fuͤhle. 

Bei Tag, bei Nacht umſchlingt uns wie ein Schatten 
im kleinſten Kreis die große Pflicht: 
wir alle leben von geborgtem Licht 
und muͤſſen dieſe Schuld zuruͤckerſtatten. 


Im Mond der Schatten ſchickt ſich an zu weichen; 
zwei Menſchen ſehn den Himmel voller Zeichen. 


23. 


Und immer kuͤhner greift der Morgen wind 

durch Wolken in die nebelvollen Taͤler; 

die Wolken fluͤchten immer ſchneller, 

die Nebel eilen ſtromgeſchwind. 

Von Berg zu Berg wehn breite Sonnenſtraͤhnen. 
Der Mann ſteht auf von Rechnungen und Plaͤnen: 


Sieh, jetzt im Zwielicht kannſt du deutlich ſehn, 
wie maͤchtig unſer Zukunftsland ſich ſtreckt; 
wenn wir im Fruͤhjahr an den Schachtbau gehn, 
iſt ſchon zum Herbſt das Lager aufgedeckt. 

Dann ſoll mein Grubenvoͤlkchen bald verſtehn, 
daß freies Land noch freiere Leute heckt, 

auch ohne die ſoziale Republik; 

und unſern Kindern wird ein Licht aufgehn, 
wozu ſich da vom Schornſtein der Fabrik 

die Rauchfahne der Arbeit reckt, 


wenn hier zum Turm her Sonntags laͤngs des Fluſſes 


von Huͤtte zu Huͤtte auf allen Hoͤhn 
die bunten Wimpel des Genuſſes 


266 


um dein Sternenbanner wehn. 
Gelt, das wird ſchoͤn? und mehr als ſchoͤn! 


Er legt beide Faͤuſte auf ſeine Plaͤne. 

Die Nebel eilen ſtromgeſchwind. 

Die Sonne ſtreift mit ihrer Strahlenmaͤhne 
die kleinen Staͤdte unten, Schiffe, Kaͤhne. 
Mit ſtrahlt das Weib, hell lacht der Wind: 


Es wird! Wo kreiſend die Sterne ſich ruͤhren, 

da greift jeder Bannkreis in andre ein! 

Und wenns ſtatt Hundert nur ein Dutzend ſpuͤren, 
dann wird das Dutzend unermeßlich ſein! 

Und mitgebannt mit dir in alle Sphaͤren, 

o Mann, ich helf dir Freiheit gebaͤren! 


Sie lehnt ſich an ihn muttergroß. 

Die Berge ſchwellen im Morgenduft. 

Es ragt ſein Haupt, es wogt ihr Schooß. 
Zwei Menſchen ſchaun wie Goͤtter in die Luft. 


24. 
Doch erdſchwer ſtockt die weiche Luft und laͤßt 
noch manch verblichnes Blatt zu Boden ſchauern; 
der alte Hain ſteht bis ins Mark durchnaͤßt, 
der Nebel trieft vom Moos der Mauern. 
Das Weib, die Haͤnde unters Herz gepreßt, 
unterdruͤckt ein froͤſtelnd Trauern: 


Du meinſt, du haſt mehr Willen als ein Baum? 
Und lernte nun dein eigen Kind uns haſſen 

mit unſerm herriſchen Freiheitstraum? 

Lux — unſer Eichkaͤtzchen — dir zeigt ſie's kaum — 


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weiß ſich vor Heimweh nicht mehr zu laſſen! 
Ich haͤtt's im zehnten Jahr auch ſchlecht ertragen, 
ſo jaͤhlings in ein ander Land verſchlagen; 


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dann wird ſie einſt wie Wir ſo herriſch traͤumen, 
ſo frei von Weiberlaunen — gelt?! 


wir aber koͤnnen allerorten beſtehn. 

Du kannſt jedwedem Erdfleck Zukunft fpenden; 
und halt ich erſt mein Muttergluͤck in Haͤnden, 
4 dann laß uns heim in Deine Heimat gehn! 
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0 Sie ſieht, er nickt — ſchwer, ohne aufzuſehn; 
1 er ſtreicht den grauen Fleck in feinen Haaren — 
f Meinſt du, mir fei dies Leid nie widerfahren? 
. Bei deinen Worten hoͤrt ich fern am Rhin 
; die Schnitter ihre Senſen dengeln 
- und ſah zum Hammerſchlag gleich Engeln 
4 die Nebel durch die Haide ziehn. 
‚4 Ich lief vor Heimweh noch mit fünfzehn Jahren 
3 fünf Meilen weit in einer Nacht nach Haus. 
Da, Morgens, trat mein Vater zur Tuͤr heraus: 
Du?? Marſch, zuruͤck! — Und da: ich habs halt muͤſſen: 
. da lernt ich zaͤhneknirſchend mit wunden Fuͤßen 
4 in jedem Straßenbaum die Heimat grüßen; 
3 und ſo — fo muß auch mein Kind durch die Welt! 
4 Ihr kleiner Wille möge ſich nur baͤumen; 


Er ſieht, ſie nickt — ſie atmet auf im ſtillen. 
Zwei Menſchen baun auf ihren Willen. 


25. 


Und rauher wetterts uͤber die Berge herab. 
Die hohen Tannen fangen den Wind und juchen; 


267 


aus den Taltiefen langen die kahlen Buchen, 
als ob ſie oben Kraͤfte zu ſchoͤpfen ſuchen, 
ſo ſehnig ſchlank. Der Mann weiſt hinab: 


Da ſieh, wie's waͤchſt, wo Leidenſchaften ſich draͤngen! 
Hier reckt ſich jeder Baum mit kuͤhnerer Kraft; 

wie rieſige Schlangen, die ſich im Kampf hochzwaͤngen. 
O, ich erfuhr's, wie man nach Raum ringt im Engen, 
immer beſtaͤrkter vom Leid der Leidenſchaft! 

Wer's aber zu erſticken verſucht, 

dies tieriſch Truͤbe, goͤttlich Klare, 

von Luft und Liebe Unloͤsbare, 

der iſt von Anfang an verflucht: 

verdammt zur Ohnmacht: verruͤckt, verrucht, 

wird er an jedem Gluͤck zum Diebe, 

zu ſchwach zum Haß ſelbſt — aus Liebe zur Liebe. 


Er ruͤhrt das Weib an, weiter zu ſchreiten. 

Sie ſteht wie wehrend; und ſonderbar 

baͤumt ſich im Wind ihr ſchwarz ſchlaͤngelnd Haar. 
Sie glaͤttet's. Ihr Blick flammt wie vor Zeiten: 


Wem ſagſt du das? Kam mir je ein Leid, 
das ich nicht hinnahm mit ruͤſtigen Haͤnden?! 
Wußt ich nicht jedes in Luſt zu wenden, 
ſeit wir einander eingeweiht: 

derſelbe Geiſt eint und entzweit — 

ich ſeh ihn walten nun aller Enden. 

Ich ſehe im Geiſt ſogar die Zeit, 

da wird ſich Menſchenwitz getrauen, 

die Erde aus ihrer Axe zu biegen 

und anders um die Sonne zu fliegen — 
ich ſehe das Eis der Pole tauen, 


268 


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der Blitz wird uns auf Wolken wiegen — 
doch bis in alle Ewigkeit 
wird Haß und Liebe alldem obſiegen! 


Zwei Menſchen ſchuͤttelt ein Wonnegrauen. 


26. 


Doch ruhig geht der Schein der Sonne unter. 
Durchs Rebgelaͤnde kriecht der Abendrauch 

der kleinen Talſtadt und der Moderhauch 

des welken Laubes wie verzagt. 

Ein Baum wirft ſacht ein letztes Blatt herunter. 
Das Weib fragt: 


Doch die dort unten? ſind ſie je zu belehren, 

daß ihnen unſer herriſcher Wandel dient? 

Einſt ritt der Held gepanzert und geſchient; 

heut muß ſich Jeder wie ein Handelsjud wehren. 
Ich will an deinem menſchlichen Zukunftsglauben 
nicht mit Zweifelsfingern klauben, 

aber glaͤubiger huͤt ich unſer goͤttlich Gluͤck. 

Die Welt befeindet“s. Denk dich zuruͤck: 

dein naͤchſter Freund, wie hat er's uns erſchwert! 
Scheint er dir jetzt nicht haſſenswert? 


Ihre Stirn treibt Schatten in die Flucht; 
in ihrem dunklen Blick zuckt erwachend 
ein Irrlicht alter Eiferſucht. 

Der Mann ſagt lachend: 


Er iſt mir doch zu gottvoll zum Haſſe: 
ein ſo urdeutſcher Menſchheitstyrann, 


269 


daß nur der Vollblutjude Liebermann 


ihn malen koͤnnte: ſo ſchoͤn voll Raſſe. 

Was ſind denn haſſenswerte Kreaturen? 
Vorwand fuͤr unſer eigen haͤßlich Weſen! 

Der Deutſche reißt am Zopf des Chineſen, 

den Britten wurmt der Eigennutz des Buren. 
Du fuͤhlſt, wir leben widerſittig — 

doch laß uns drum den Gott nicht ſchmaͤhen, 
mit dem die Sittſamen ſich blaͤhen; 

uns treibt er zum Aufſchwung mit feinem Fittig. 
Wir haben durch ihn den Weg zur Liebe gefunden! 
Ich haſſe nur in meinen ſchwachen Stunden. 


Da glaͤnzt ihre Stirn auf wie die Abendflur. 
Zwei Menſchen ſchweben uͤber ihrer Natur. 


27. 


Und an fernen Daͤchern und Kirchen hin wie an Saͤrgen 
fliegt der Morgen mit phoͤnirgoldnem Schweif. 

Die Nebel loͤſen ſich von den kalten Bergen 

und ſchmuͤcken die Tannen mit reinſtem Reif. 

Und im Geiſt aufgehend in den verklaͤrten Landen, 
ſagt der Mann dem Weib, als ſei aller Kampf uͤberſtanden: 


Sieh, Seele: ſo werd ichs immer wieder ſpuͤren, 
und bin ich noch ſo menſchenmuͤd, Du: 

nur dein Blick braucht ſonnig mich anzuruͤhren, 
dann fliegen mir Gotteskraͤfte zu. 


Nicht ſo wie damals, als wir uns noch 


270 


hochtrabende Goͤtternamen gaben — 
die hab ich mit der Toten begraben; 
jetzt tragen wir willig das Menſchenlebensjoch. 


Jetzt weiß unſer Wille erſt recht die Fluͤgel zu breiten, 
jeden Augenblick kann er hinaus über Raͤume und Zeiten; 
denn ſelig Seel in Seele ergeben 

begreifen wir das Ewige Leben, 

das Leben ohne Maß und ziel, 

ſelbſt Haß wird Liebe, ſelbſt Liebe wird Spiel. 

Dann iſt der Geiſt von jedem Zweck geneſen, 

dann weiß er unverwirrt um ſeine Triebe, 

dann offenbart ſich ihm das weiſe Weſen 

jedweder Torheit — durch die Liebe. 


Er ſucht ihren Blick; er will ihr Dunkelſtes leſen. 
Sie ſteht, als hoͤre ſie ferne Glocken klingen. 
Sie ſpricht, als ſei ſie in der Zukunft geweſen: 


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Dann wird uns Segen aus jedem Werk entſpringen. 
Dann lebſt du nicht mehr mit dem Leben in Streit. 
Dann kann uns ganz die Luſt der Allmacht durchdringen. 
Nicht Mann, nicht Weib mehr wird um die Obmacht ringen. 
Klar uͤber aller Menſchenfreundlichkeit 

ſteht Menſch vor Menſch in Menſchenfreudigkeit! 


Sie oͤffnet die Arme, als will ſie die Welt umſchlingen. 
Fern flammt der Himmel in goldner Herrlichkeit. 
Mit flammt ein Seelenpaar auf Geiſtesſchwingen. 


28. 


Doch weit und hoch und funkelnd ſpannt die Nacht 
ihr Grauen aus um Turm und Hain und Garten. 
Im Tal bezeugt ein Lichtlein ihre Macht. 

Die Stadt ſchlaͤft, von den Sternen bewacht. 

Und uͤber die Wipfel deutend, die froſterſtarrten, 
fragt das Weib mit Vorbedacht: 


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271 


272 


Doch wenn nach unſern goͤttlichen Augenblicken 
die menſchlichen Stunden das Herz beſchleichen? 
koͤnnen wir uns wie dieſe Eichen 

mit ſichern Wurzeln in jedes Schickſal ſchicken? 
Das Kind kanns noch — da ſprachſt du wahr; 
fie denkt ſchon dran, hier Spielgefaͤhrten zu finden. 
Sie kann ihr Herz noch frei an Alles binden; 
ſelbſt ihren Büchern bringt ſie's dar. 

Wir aber, die wir nicht mehr einſam ſind 

und doch den Zwieſpalt dieſer Welt empfinden, 
duͤrfen wir traͤumen wie ein Kind? 


Das Licht im Tal erzittert; fie ſehn's verſchwinden. 
Des Mannes Laͤcheln wird ſeltſam wild. 

Es iſt ein Laͤcheln, das allem Schickſal gilt. 

Sein Blick erhebt ſich in die naͤchtigen Fernen, 

als leſe er die Antwort aus den Sternen, 

ſeltſam mild: 


Es iſt in uns ein Ewig Einſames — 

es iſt Das, was uns Alle eint. 

Es tut ſich kund als Urgemeinſames, 

je eigner es die Seele meint. 

Sie wurzelt rings im grenzenlos Alleinen; 
ſie liebt es, ſich im Weltſpiel zu entzwein, 
um immer wieder ſelig ſich zu einen 

durch Zwei, die grenzenlos allein. 

So lebt die Liebe; das iſt kein Traum. 
So, Herz, erlebſt du's mit am duͤrrſten Baum, 
was ihm wie dir wohl oder wehe tut; 


nur leiſer, ferner, nicht ſo nah dem Blut. 


Zwei Menſchen laͤcheln uͤber Zeit und Raum. 


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29. 


Und der Wald ſchweigt wie von Andacht gepackt; 
der erſte Schnee liegt tief und ſchwer. 

Aus Höfen und Scheunen vom Talgrund her 
toͤnt gedaͤmpft der Dreſchertakt. 

Fern, groß, im weißen Sonnenglaſt, 

ſteht eine Baͤurin und worfelt Korn; 

zuweilen blitzt ihr Sieb auf wie voll Zorn, 

dann flattern Spatzen. Der Mann macht Raſt: 


Dieſes Schauſpiel ergreift mich immer, 

als ſei's der Mutter Menſchheit Bild. 

Da ſteht das rieſige Frauenzimmer, 

ihre Worfel ſchuͤttelnd, wild, ſchaffenswild, 

die Koͤrner huͤtend mit harten Tatzen, 

vor Eifer gluͤhend, vor Freude rot: 

tanzt auch manch leichtes zu den Spatzen, 

die ſchweren geben Menſchenbrot. 

Und jetzt auf einmal fuͤhl ichs mit Beben: 
deines Schooßes Frucht iſt der Allmacht vonnoͤten! 
Und kaͤme auch dieſes Kind blind ins Leben 
und du haſt nicht wieder die Kraft, es zu toͤten, 
dann will ich glauben, du haſt die hoͤhere Kraft, 
die Licht aus tiefſtem Dunkel ſchafft. 


Er will ſie kuͤſſen — ihm ſtockt das Herz: 
fie ſteht wie weit hinweggetragen. 

Ihrem Blick entquillt ein Licht in ſein Herz: 
das ſtillt alle Wonne, allen Schmerz: 

ein Licht goldner Ruhe — er hoͤrt ſie ſagen: 


Bei deinen Worten hat dein Kind 
die Augen in mir aufgeſchlagen — 


273 


es wird nicht blind. 

Es ſah mich an wie aus tiefem Bronnen. 
Seine Augen waren zwei blaue Sonnen. 
Es wird wie Du durchs Leben gehen. 

Ich hab's geſehen. 


Traumhaft fluͤſtert ſie: Dein Kind und meins. 
Traumhaft ſchauern zwei Herzen in eins. 


30. 


Und die Sonne kuͤßt den Schnee vom Dach, 
und leiſe ſummt die Glut in den Kaminen. 
Laͤchelnd tritt das Weib ins Turmgemach; 
breit vom Morgenglanz beſchienen 

ſinnt der Mann auf ſeine Arbeit nieder. 

Er blickt nicht auf. Sie laͤchelt wieder. 

Leiſe naht ſie ihm in heller Freude, 

weich umwogt vom Mutterhoffnungskleide: 


Lukas — mir war ſo froͤhlich eben: 

ich ſaß und dachte in dich hinein: 

der Name, den wir unſerm Kind bald geben, 
ſoll auch der Name deines Bergwerks ſein. 
Und mir kam ein Wort, das wie vom Himmel 
nimm all dein Schickſal als Kinderſpiel! 

Denn gelt: den reichen Seelen 

darf das Gluͤck nicht fehlen, 

das ſie Andern zeigen als ein Ziel — 


Da blickt er auf — ſie fuͤhlt ſich erbleichen: 
ſeine Augen gleißen, Spott niſtet drin. 
Seine Hand weiſt auf einen Bauplan hin: 


274 


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18* 


da liegt ein Brief mit ſeltſamen Zeichen. 
Die Chiffern wogen ihr wie ein Meer. 
Rauh kommt ſeine Stimme zu ihr her: 


Ja, ein Spiel - nenn's Schickſal, nenn's Gluͤck, Gott, Welt — 
nur: lerne verlieren, willſt du gewinnen! 

Ich werde mein Werk hier nicht beginnen. 

Du wirſt bald allein hier auf Namen ſinnen; 

was du ahnteſt, hat ſich eingeſtellt. 

Hier: aus alter Freundſchaft hat man mir dieſen 
gnaͤdigen Wink „von oben“ verſchafft: 

binnen vier Wochen bin ich verhaftet 

oder verbannt — auf amtsdeutſch: landesverwieſen. 
Nun heißt es, ſtolz an neue Arbeit gehn, 

damit wir vor dem Gott in uns beſtehn! 


Aus ſeinen Augen weicht aller Spott. 
Zwei Menſchen beugen ſich vor Gott. 


7 


Und es tanzt der Schnee; kalt flimmern die Flocken 
wie Sterne im ſchwachen Sonnenſchein. 

Immer ſtiller ſtarrt das Weib landein. 

Aber wärmer immer, als will er fie feien, 

ſtreicht der Mann ihre ſchwarzen Locken: 


Wir haben einſt als Menſchen gefehlt, 

nun kommt die Menſchheit und will uns ſtrafen. 
Aber ſieh: ihr Geiſt hat uns ſo beſeelt, 

daß wir wie Kinder, wenn Mutters Schlaͤge trafen, 
nur umſo lieber an Mutters Herzen ſchlafen, 

der eignen Unvollkommenheit entruͤckt, 


275 


276 


vom Gluͤck aller Seelen mitbegluͤckt. 

Und gleich den Flocken, die irrend vom Himmel tanzen 
und findet doch jede ihr irdiſch Ziel, 

laß uns nun hingehn, als ſeis zum Spiel, 

und in fremdes Land deutſche Edelſaat pflanzen. 
Denn im blutigen Ernſt deiner ſchweren Stunde 

— o, ich fuͤhls, ich ſehs: dann liegſt du allein — 
aber eilend winkt dir jede Sekunde: 

bald wirſt du wieder bei mir ſein, 

wie unſre Kinder mit leichtem Schritt, 

und bringſt mir die Heimat in jede Ferne mit 

O ſchweig nicht laͤnger — ja blick mich an: 

ſieh, hilfebittend ſteht hier ein Mann, 

den keine Einſamkeit mehr quält, 

langſam durch heißen Haß zur Liebe geſtaͤhlt, 

und dem nun heimlich die Heimwehwunde klafft — 
o ſage mir ein Wort voll tiefer Kraft! 


Und er ſieht, er fuͤhlt: er muß niederknien — 
und ein Blick, eine Stimme, ſo unermeſſen 
wie rings die Stille, kommt uͤber ihn: 


Haſt du das Machtwort „Wir Welt“ vergeſſen? — 


Und es tanzt der Schnee, und die Flocken wehn 
wie Saat des Lichts von Himmel zu Erden. 
Keine Grenze mehr. Zwei Menſchen ſehn 

ihr Vaterland unendlich werden. 


32. 


Doch eine Nacht kommt, da drohn die Weiten; 
da hat der Mond Macht. Grauſig rein 


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erleuchtet ſein erlauchtes Licht den Hain. 
Und das Weib ſchluchzt auf, wild auf, wie vor Zeiten: 


Ich trag ein Kind — o Du, von Dir — 

ich tu meine Schwachheit auf vor dir! 

Du haſt meine Seele von mir befreit, 

nun kommt leerer als je die Einſamkeit! 
Wenn du gehſt, und ich taſte nach einer Hand 
in meiner jammervollen Stunde — 


Und ſie wirft ſich an ihn mit ſtammelndem Munde, 
und mit ſchmerzgekruͤmmten Fingern umſpannt 
ſeine lahme Rechte ſie hart wie Stahl 

und rafft ſie auf aus ihrer Qual: 


Dann laß mein Toͤchterchen bei dir ſtehn! 
Dann wirſt du ſtark ſein! laß ſie es ſehn! 
ſehn, wie das Mutterwehe dich ſchuͤttelt! 

daß ſie's mit heiligem Schrecken durchruͤttelt! 
daß ſie bei Zeiten lernt, ſich dem Leben 
opferherrlich hinzugeben! 

daß unſre Kinder einſt einfach handeln, 

wo wir noch voller Zwieſpalt wandeln, 
einfaͤltig lieben oder haſſen, 

mit ganzem Willen die Welt umfaſſen, 

ſich heimiſch fuͤhlen ſelbſt zwiſchen den Sternen 
und mit jedem Feuer ſpielen lernen! 

Und wehrt mir der Tod, euch wiederzuſehn, 
dann laß mich in dir verklaͤrt auferſtehn! 

Und lebt dir ein Sohn, dann lehr ihn mit Lachen 
aus jeder Not eine Tugend machen! 

Und unſre Maͤdchen, die leite an: 

das Recht der Frau iſt der rechte Mann! 


277 


278 


Allen Beiden aber leg ins Herz 
die Macht der Liebe über den Schmerz! 


Und es leuchtet wie ſeines ihr Geſicht. 
Zwei Menſchen ſehn ſich eins mit allem Licht. 


33. 


Und es ſprießen wohl Sterne aus der Erde, 
ſo ſtrahlt der Schnee im Mittagsglanz, 

ſo ſind die Berge Ein Silberkranz. 

Aber ſtrahlender noch als all der Glanz 
wird nun des Mannes Blick und Geberde: 


Nun ſchau und lauſche, ganz wie wir ſind, 

ganz Geiſt in Leib, nicht trunken blind, 

klar aufgetan bis ins Unendliche, 
Unuͤberwindliche, Unabwendliche, 

bis wir im Schooß alles Daſeins ſind: 

und du wirſt ſehn, Herz, daß die Erde 

noch immer mitten im Himmel liegt, 

und daß Ein Blick von Stern zu Stern genuͤgt, 
damit dein Geiſt zum Weltgeiſt werde. a 
Es iſt ihm eingefuͤgt jeder Leib, 

vom kleinſten Staͤubchen bis zum herrlichſten Sterne, 
verknuͤpft noch in verloreuſter Ferne, 

Weltkoͤrper alle, auch wir, mein Weib! 

Und ſo, ſchon jetzt durchkreiſt vom Schwung 

der einſt im Tod uns ureins wirrenden Triebe, 
aus innerſter Erinnerung 

im Leben eins durch wiſſende Liebe, 

ſieh mich nun ſtehn in ferner Nacht, allein, 
vom Anſchaun der Geſtirne ſo durchglutet, 


wie wenn die Wonnewelle zwiſchen uns flutet: 

in dieſem Anſchaun bin ich Ewig Dein 

und kann dir treuer als je mir ſelber ſein. 

5 Ja, neige dich her — o Mein — o wunderbar: 
Y nun ſchmuͤckt auch Dich ein erſtes graues Haar — 


Er ſchlingt es los aus ihrer Lockennacht; 
ihm ſcheint kein Schnee ſo zart und rein 
wie dieſes Silberfadens Schein — 


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Sie nickt und fluͤſtert wie erwacht: 
es iſt bis in die Seele Gottes Dein — — 


Und Sterne ſprießen, ſoweit die Sonne ſcheint. 
Zwei Seelen wiſſen, was ſie eint. 


34. 


Doch die Stunde des Scheidens naht und naht, 
wie wenn die Zukunft eilender rollte. 

Und ſie gehn noch einmal den ſteinigen Pfad, 
wo das Werk ihres Geiſtes wachſen ſollte. 

Und inmitten der kahlen, vereiſten Flaͤchen 

muß das Weib einen alten Zweifel ausſprechen: 


Wenn ich ſpuͤre, wie's waͤchſt, mein Fleiſch und Blut, 
und ſtill neuen Sinn ins Daſein tut, 

als faſſe der Menſch das Goͤttliche nur 

kraft ſeiner tieriſchen Natur, 

als huͤlle, was wir reden, nur Handlungen, 

die wir im Grunde nicht verſtehen, 

und was wir lehren, nur Verwandlungen, 

die waͤhrenddem mit uns geſchehen — 

dann frag ich mich: blickt nicht der bloͤdeſte Tor 
gottvoller noch als wir zu Gott empor? 


279 


280 


Und ſchauernd ſinnt fie nach: zu Gott — 
Da ſagt der Mann mit mildem Spott: 


Zu welchem? Zu dem bibliſchen Erdaufſeher? 

Ja, dem tats not, Weltweisheit zu verbieten; 

die Hunde meines Vaters find ihm näher 

als alle Prieſter und Leviten. 

Wir aber, wir Menſchen der wachſenden Einſicht, kennen 
ihn anders, den Gott in unſrer Bruſt, | 
dank jenem Geiſt allruͤhriger Liebesluſt, 

den ich nicht wage „Gott“ zu nennen. 

Gott iſt ein Geiſt, der klar zu Ende tut, 

was er zu Anfang nicht gedacht hat — 

dann ſieht er Alles an, was Ihn gemacht hat, 

und ſiehe da: es iſt ſehr gut! — 

Und beugſt du dann vor ihm das Knie 

und weihſt ihm willig deinen Menſchenſchmerz, 

dann ſpricht der heilige Geiſt des Fleiſches: ſieh, 

ſo ſpielt Gott mit ſich ſelbſt, o Herz! 


Und kindlich laͤchelnd, goͤttlich klar, 
ſchweigt Herz an Herz ein Geiſterpaar. 


35. 


Und Seel in Seele neu begnadet 

umſchreiten ſie die alte Ahnengruft. 

In den verſchneiten Waͤldern badet 

ein goldenblauer Morgenduft. 

Und Hand in Hand vorbei an Baum und Baum 
erzaͤhlt der Mann dem Weib einen Traum: 


Es war, als ging ich irr auf Schickſalswegen, 
und nur das Eine wußte ich: 
ich kam vom Tod und ging dem Tod entgegen — 


da fand ich in der dunkeln Wuͤſte Dich. 

Dein Haupt beſchirmend hob zur Sternenzone 
ein Palmbaum ſeine ſtarre ſchwarze Krone; 
doch eins der Blaͤtter neigte ſich, 


0 als ſollten wir's auf einen Friedhof bringen. 
N Und da wir's nun zu uns herniederzwingen, 
a da fängt es an zu kniſtern und zu gluͤhen, 

h und feine zitternden Adern ſpruͤhen 


ein leuchtendes Gefaͤßnetz aus. 

Und von dem Atherglanz mit dir umſchlungen, 
N entſchweb'ich, aller Irrſal hell entrungen, 

0 ſtill heimathin durchs Weltgebraus. 


i Und Hand in Hand vorbei an Baum und Baum 
1 erzaͤhlt das Weib: Es muß dein Traum 
A in meinen Schlaf geleuchtet haben: 


ö Ich ſchwebte uͤber einem breiten Graben, 
und jenſeits, hoch am grauen Himmelsſaum, 
ſtand deine ſtrahlende Geſtalt, doch ſchlief, 
bewacht von ſieben dunklen, die ſich beugten. 
“ Und während fie im Waſſerſpiegel tief 

mir ihre Ahnlichkeit mit dir bezeugten, 
begannen ſie in dich hinein zu ſchwinden. 
Und du, erwachend, ſprachſt, mir beigeſellt: 
wir ſind ſo innig eins mit aller Welt, 

daß wir im Tod nur neues Leben finden. 


— 


Und ringsher traͤumt die Waldung, weiß verkleidet. 
Zwei Menſchen fuͤhlen, daß der Tod nicht ſcheidet. 


36. 


Und Tal und Berge ruhn in bleicher Pracht; 
groß bluͤhn die Sterne durch die Baͤume, 


EEE ͤ f 0 


— 


281 


GGG 


282 


und lautlos über Raum und Raͤume 
erdehnt ins Leere ſich die blaue Nacht. 

Und nun iſt bald das Schwere vollbracht; 
ſchon ruͤhrt ſich fern durchs Land, als ſchluͤge 
ein Herz im Schnee mit dumpfer Macht, 
eiſern das Bahngeraͤuſch der Zuͤge. 
Und heiß, mit einem Laͤcheln heiliger Luͤge, 
haucht das Weib: Nun magſt du gehn — 


hier, wo wir noch durch unſern Himmel ſchreiten, 
ſag ich dir ruhig — — Sie bleibt jaͤh ſtehn, 
ihre Stimme bricht, ihre Haͤnde gleiten 

ihr ſchuͤtzend unters Mutterherz, 

ihre Lippen zwingen ſich zum Scherz: 

in guter Hoffnung auf Wiederſehn — 


Da muß weit der Mann die Arme breiten: 


Nicht aber ſo! — ja weine, weine — 

o ſieh: aus tiefſter Quelle klar 

quillt meine Traͤne heiß in deine — 

und mich verklaͤrend mit dem Glorienſcheine 
um dein nachtentſproſſen Haar, 

ſteh ich hier vor dir und ſchwoͤr dir: Nie 
wird dieſe Klarheit enden! — Sieh: 

es legt das Dunkel ſich in meine Haͤnde, 
als ob es Zuflucht ſuchte und nun faͤnde: 
zu Sternen heb'ich meinen ſichern Blick! 
Da — o Gluͤck: 

ahnſt du ſie, die Pflicht der Welt? 

Ja: von Sphaͤren hin zu Sphaͤren 

muß ſie Saat aus Saaten gebaͤren, 
bringt ſie uns das Licht der Welt: 


a 


rieſelnd wie aus dunklem Siebe 
ſaͤt es Liebe, Liebe, Liebe 
von Nacht zu Nacht, von Pol zu Pol — — 


Zwei Menſchen ſagen ſich Lebwohl. 


Ausgang 


Leb wohl, leb wohl — du haͤltſt dich ſelbſt in Haͤnden. 
Du ſahſt, o Menſch, zwei Weſen deinesgleichen 

im kleinſten Kreis Unendliches erreichen. 

Auch Dein Gluͤck wird ins Weltgluͤck enden. 


283 


Zah 


Pa 


Der Kindergarten 


Gedichte Spiele und Geſchichten 
Auswahl 


Gaͤrtnerſpruch 


Alle Frucht der Welt 

iſt nur des Keims Gewand. 
Pflege das Land, 

auf das dein Same fällt! 
Mag Gott es huͤten 

vor tauben Bluͤten. 


RS 


Mutterſprache 


Kinderſinn und Vaͤtergeiſt: 
Mutterſprache iſt ihr Band. 
Wirket, daß es nicht zerreißt, 
all ihr Geiſter, Hand in Hand! 


Vatergruß 


Wandre, wandre, Seelenklang: 
Berge werden Huͤgel. 

Wird die Wandrung dir zu lang, 
gibt mein Herz dir Fluͤgel. 


Gibt dir Fluͤgel wundergut, 
die kann niemand hindern: 
meinen ganzen Lebensmut! 
bring ihn meinen Kindern! 


Der Vogel Wandelbar 
Ein Maͤrchen 


War einſt ein Voͤglein Wandelbar, 
an dem faſt alles ſeltſam war. 
Ein rechter Wildfang wollt es ſein 
und hatte doch ein Humpelbein 
und viel zu krumme Fluͤgel. 


Allein die Fluͤgel ſah man kaum, 

fo ſchoͤn war fein Gefieder; 

das ſchimmerte wie Purpurſchaum, 
und auf der Bruſt der weiche Flaum 
wie ein Perlmuttermieder. 


283 


Vom vielen Zwitſchern eigner Art 
bekam's ein Schnaͤblein ſilberzart; 
und Augen trug's im Koͤpfchen 
fo lieblich-launiſch⸗glitzerblau 

wie morgens die Tautroͤpfchen. 


Das gab dem Voͤglein Wandelbar 
ein Ausſehn, ſonderlich fuͤrwahr. 
Doch was das Sonderlichſte war: 
tief innen trug's un wandelbar 
ein Herz von lautrem Golde. 


Und Alles war dem Voͤglein gut, 
wie's humpelte und glaͤnzte; 
und Jeder nahm's in ſeine Hut, 
ſolang es brav im Hofe ſaß, 
der hoch ſein Neſt umgrenzte. 


Bis unſer Voͤglein endlich 

ein Vogel wurde; ei der Daus, 
da lief es aus dem ſichern Haus 
allein ins weite Land hinaus, 
und da ergings ihm ſchaͤndlich. 


Die Andern liefen gar ſo ſchnell, 
das Ihre zu erjagen; 

da kommt mit ſeinem Wackelſchritt 
ſolch armes Entlein nicht gut mit, 
und muß den Spott noch tragen. 


Sie ſtießen es und traten es 
und rupften es geſcheit; 
und in dem wilden Draͤngen 


II. 19 


blieb bald ſein ſchoͤnes Schimmerkleid 
an Buſch und Dornen haͤngen. 


Zwar mancher blieb auch ſtehen; 
vermahnten dann und ſchalten 

den ungeſchickten Wandelbar, 

und wußten doch, wie lahm er war, 
und — blieben ſelbſt die alten. 


Doch ſchließlich war es ihm gegluͤckt, 
mit letzten Kraͤften, arg zerpfluͤckt, 
ein Baͤumlein zu erſchwingen; 

da dacht er heimlich auszuruhn 

und ſich in Schutz zu bringen. 


Verwandelt war nun ganz und gar 
der arme Vogel Wandelbar; 

nur hier und da noch glaͤnzte ein 
zerſchliſſnes Purpurfederlein 

in ſeinem grauen Kittel. 


Und auch der Augen helles Licht 
war blaß, wie welk Vergißmeinnicht 
nur noch das Silberſchnaͤbelein 

war ihm geblieben, blank und rein, 
wenn's auch recht klaͤglich zirpte. 


So ſaß er weitab vom Gewuͤhl 
und fragte ſich voll Wehgefuͤhl, 
warum er ſo verlaſſen; 

und wußte doch, daß Lahme nicht 
zu ſoviel Schnellen paſſen. 


Ein Rabe aber kam vorbei; 
den aͤrgerte die Melodei 


289 


und auch das Silberſchnaͤbelein. 
Er ſchrie: „Ich mag nicht ſolch Geſchrei! 
marſch, lamentier wo anders! 


Ich will mir hier mein Neſt her baun, 
und für uns Beide iſt lein Raum!“ 
und ſtieß das Voͤgelchen vom Baum 
und riß ihm aus dem Kleide 

auch noch ſein letzt Geſchmeide. 


Da war ihm aller Mut dahin, 
der Mut ſogar zum Klagen. 

Mit ſeinem muͤden Humpelbein 
lief's weinend in die Nacht hinein 
und dachte voll Verzagen: 


Jetzt iſt rein garnichts mehr an mir, 
jetzt kann ich nur gleich ſterben; 

jetzt will ich in die Wuͤſtenei, 

wo Keinen aͤrgert mein Geſchrei, 
und ſtill fuͤr mich verderben. 


Ja, garnichts, garnichts mehr war ſein 
von all dem ſchoͤnen bunten Schein; 
ſogar das Schnaͤblein hatte ganz 
verloren ſeinen Silberglanz 

von all den vielen Traͤnchen. 


Und als das Voͤglein Das geſehn, 
iſt faſt ſein Herz gebrochen. 

Zum Sterben hat ſich's hingeſetzt. 
Da kam der goldne Mond zuletzt 

und hat zu ihm geſprochen: 


„Du armes Voͤglein Wandelbar, 
was graͤmſt du dich denn immerdar 
um deine paar Juwelen? 

Du dummes Voͤglein Wandelbar, 
vergaßeſt du denn ganz und gar, 
was Keiner dir kann ſtehlen! 


Haſt du denn nicht viel mehr in dir 

als dieſe ganze Luſt und Zier, 

worauf die Andern ſinnen? 

Was weinſt du denn und machſt dir Schmerz? 
denkſt du denn garnicht an dein Herz 

von lautrem Gold tief innen!“ 


Da ward dem Vogel Wandelbar 
auf einmal alles licht und klar, 
und lebte gerne weiter; 

da pfiff er bis an ſeinen Tod 
auf allen Spott, auf alle Not, 
unwandelbarlich heiter. 


Kutſcher Tod 


In einem Wagen, einem ſchoͤnen Wagen, 
fahren zwei Menſchen ſeit vielen ſchoͤnen Tagen. 
Sie fahren bei Regen wie bei Sonnenſchein 
immer gradaus ins Blaue hinein. 

Auch das ſchlechteſte Wetter iſt ihnen nicht grau; 
hell lacht der Mann, warm laͤchelt die Frau. 
Sie ſchaukeln das Gluͤck auf ihren Knien, 

und an einem Sommertag fragt ſie ihn: 


Wenn wir ſo immer weiter reiſen 
und laſſen den Weg uns einzig vom Himmel weiſen, 


19* 291 


kuͤmmern uns um kein irdiſch Ziel, 

treiben nur mit dem Gluͤck unſer Spiel, 

aber endlich wird's uns vom Kutſcher Tod weggenommen — 
was meinſt du wohl, wohin wir kommen? 


Der Mann blickt nach den milchweißen Kuͤhen, 
die den bunten Wagen ruhig ziehen, 

er blickt nach dem Kutſcher, der Augen macht 
ſo unergruͤndlich ſchwarz wie die Nacht — 
dann ſagt er heiter: 


Ich meine, wir kommen immer weiter! 


Der Kutſcher nickt. Der Himmel iſt blau; 
warm laͤchelt der Mann, hell lacht die Frau. 
Und die weißen Kuͤhe ſagen ſich beide: 

zwei Menſchen fahren auf lebensgruͤner Weide. 


Triumphgeſchrei 


Alle kleinen Kinder 

ſchrein Hurrah, Hurrah. 
Mutterchen liegt ſtill zu Bett, 
Kindchen ſchreit Hurrah. 


Vater ſteht daneben, 

ſteht und brummt: ja ja, 
iſt ein ſchweres Leben. 
Kindchen ſchreit Hurrah. 


Mutterchen brummt garnicht, 
ſelig liegt ſie da. 

Denn das kleine Menſchenkind 
ſchreit Hurrah, Hurrah. 


Schnurrige Predigt 


Na lach doch, Kind! Dein Zuckerſchneckchen, 
ſchwarz Sammetjaͤckchen, rote Baͤckchen, 
dein ausgeſtopftes Haͤschen, f 

dein Maͤulchen, Haͤndchen, Naͤschen 

hat all der liebe Gott gemacht. 

Ei, Herzekindchen, raſch: zerbeiß, 

zerreiß, zerſchmeiß — 

hei, wie der liebe Gott nun lacht! — 


Kaͤuzchenſpiel 


Kinder, kommt, verzaͤhlt euch nicht, 
Jeder hat zehn Zehen; 

wer die letzte Silbe krigt, 

der muß ſuchen gehen. 

Suche, ſuche, warte noch, 

Kauzchen ſchreit im Turmloch, 
macht zwei Augen wie Feuerſchein, 
die leuchten in die Nacht hinein, 
fliegt aus ſeinem Haͤuschen, 

ſucht im Feld nach Maͤuschen, 
huſch, huſch, huh, 

das Kaͤuzchen, das — biſt — du! — 


Fliegerſchule 


Kommt, wir lernen fliegen! 
Woher denn Fluͤgel kriegen? 
Von den achtzig Winden. 
Wo ſind die zu finden? 
Übern ewigen Eiſe. 


293 


294 


Wer bezahlt die Reiſe? 

Da oben ſteht ein goldner Stern, 

der belohnt die Sieger gern; 
holt euch nur die Preiſe! 


Der Reitersmann 
Von Paula und Richard Dehmel 


Schimmel, willſt du laufen, 
will ich dir was kaufen! 
Heißa, lauf nach Mexiko, 

da kaufe ich dir Bohnenſtroh; 
laufe nach der Mongolei 

da kauf ich mir ein Oſter⸗Ei. 


Eile, Schimmel, eile, 

oder du krigſt Keile! 

Hopßa, lauf nach Hindoſtan, 
da kaufe ich mir Marzipan; 

laufe nach Kap Morgenrot, 

da kauf ich dir ein Dreierbrot. 


Geſchaͤftsleutchen 


Lottchen will Jahrmarkt ſpielen, 
Muſik iſt ſchon beſtellt. 

Nur ach, es fehlt die Warenbude; 
der Peter hat kein Geld. 


Ach, hab dich nicht! ſagt Lottchen; 
als ob das noͤtig waͤre. 

Wir nehmen Vaters Sorgenſtuhl, 
jetzt ſind wir Millionaͤre. 


Geburtstagsgeſchenke 


I 


Lieber Vater! ich kann dir garnichts ſchenken, 
blos mein kleines Herz und alle meine Kuͤſſe, 
und — eins, zwei, drei, vier, fünf Hafelnüffe, 
dabei kannſt du dir 

was. Wunderſchoͤnes denken. 

Du kannſt dir denken, jede Nuß 

hat ein kleines Herz, noch kleiner als das meine; 
und haͤtte ſie auch zwei kleine Beine, 

liefe ſie auf dich zu und gaͤb dir einen Kuß, 
einen wundervollen, herzhaften Geburtstagskuß! 


II 


Liebe Mutter! Du zaͤhlſt ſie gerne, 

alle deine vielen Geburtstagsſterne. 

Hier ſtehn ſie ſtrahlend; und daneben 

ſiehſt du zwei ſilberne Halbmonde ſchweben. 
Das ſind zwei Lampen fuͤrs Klavier, 

eine von Vater, die andre von mir. 
Kommt nun der Abend mit muͤden Beinen, 
dann laͤßt du deine Monde ſcheinen 

und ſpielſt; und wir, wir hoͤren und traͤumen 
von den hohen himmliſchen Raͤumen, 

von deinem Sternenringelreihn — 

Vater wacht noch, ich ſchlafe ein. 


Abendgebet 


Muͤde bin ich, geh zur Ruh; 
lieber Himmel, deck mich zu! 
Laß die Sterne alle dein 

meines Schlafes Huͤter ſein! 


295 


296 


Schick im Traum ihr Licht mir zu, 

daß mein Herz in Reinheit ruh! 

Flecken, die der Tag gemacht, 

loͤſch ſie gnaͤdig aus, o Nacht! 
Amen. 


Freund Huſch 
Von Paula und Richard Dehmel 


Huſch, huſch, huſch, 
ich putze meinen Buſch. 
Der Mond iſt da, der Mond iſt hell; 
der Mond, der iſt mein Spielgeſell, 
huſch. 


Huſch, huſch, huſch, 
ich ſchluͤpfe aus dem Buſch. 
Ich ſtecke mein Laternchen an, 
ich zuͤnde uns die Sternchen an, 


huſch. 


Huſch, huſch, huſch, 
ich ſchuͤttel meinen Buſch. 
Die Kinderchen ſind all zur Ruh, 
ich ſchuͤttel ihnen Traͤume zu; 
die haben wir vergangne Nacht, 
der Mond und ich, uns ausgedacht, 


huſch. 


Huſch, huſch, huſch, 
ich ſchluͤpfe in den Buſch. 
Ich puhſte mein Laternchen aus, 
ich ſuche mir ein Sternchen aus, 


A 


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2 


* 
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— 3 2 


das laſſ ich droben Wache ſtehn, 
nun kann ich ruhig ſchlafen gehn, 
huſch, huſch, huſch, 
im Buſch. 


Das Maiwunder 
Von Paula und Richard Dehmel 


Maikoͤnig kommt gefahren, 

in ſeinem gruͤngoldnen Wagen, 
mit Saus und Geſinge. 

Seine Zuͤgel ſind Sonnenſtrahlen; 
große blaue Schmetterlinge 
ziehn ihn uͤber Buſch und Bach, 
daß die weißen Bluͤtenglocken 
in ſeinen Locken 

ſchwingen und ſpringen. 

Und Hans kuckt ihm nach 

und hoͤrt ſein Lied: 

wer zieht mit? zieht mit? 


Kommt das Maienweibchen, 
traͤgt ein weißes Kleidchen, 
traͤgt ein gruͤnes Kraͤnzchen, 
ſagt zu unſerm Haͤnschen: 

Eia, Hans, 

komm zum Tanz! 

Einen Schritt Frau Nixe, 
einen Schritt Herr Nix, 
Ringeldireih, Ringeldireih, 

Dienerchen, 

Knix! 


297 


298 


Puhſtemuhme 


Krauſe, krauſe Muhme, 

alte Butterblume, 

Puhſterchen, nanu? 

Wo haſt du denn dein Huͤtchen, 
dein gelbes Federſchuͤtchen? 
worauf warteſt du? 


„Warte aufs Kindchen, 
auf ein lieb Muͤndchen, 
ich alte grieſe 

Trauerlieſe, 

puh, puh, puh. 

Ach bitte, puhſt mich doch 
raſch in den Himmel hoch: 
tauſend kleine Nackedeys 
ſpielen da im Gras, 
tauſend kleine Nackedeys 
lachen ſich da was.“ 


Das große Karuſſell 


Im Himmel iſt ein Karuſſell, 

das dreht ſich Tag und Nacht. 

Es dreht ſich wie im Traum ſo ſchnell, 
wir ſehn es nicht, es iſt zu hell 

aus lauter Licht gemacht; 

ſtill, mein Wildfang, gib Acht! 


Gib Acht, es dreht die Sterne, du, 
im ganzen Himmelsraum. 

Es dreht die Sterne ohne Ruh 
und macht Muſik, Muſik dazu, 


8 


fo fein, wir hoͤren's kaum; 
wir hoͤren's nur im Traum. 


Im Traum, da hoͤren wirs von fern, 

von fern im Himmel hell. 

Drum traͤumt mein Wildfang gar ſo gern, 
wir drehn uns mit auf einem Stern; 
es geht uns nicht zu ſchnell, 

das große Karuſſell. 


Aurikelchen 


Aurikelchen, Aurikelchen 

ſtehn auf meinem Beet, 

und ſehn den blauen Himmel an, 
wo ſchon den ganzen Morgen 

die goldne Sonne ſteht. 


Aurikelchen, Aurikelchen, 

was guckt ihr denn ſo ſehr? 

Ihr ſeid ja ſelbſt ſo gelb wie Gold, 
und habt ein hellrot Herzchen, 

was braucht ihr denn noch mehr! 


Der Schatten 
Nach R. L. Stevenſon 


Ich hab einen kleinen Schatten; 
der geht, wohin ich geh. 

Aber wozu ich ihn habe, 

iſt mehr, als ich verſteh. 

Er iſt ganz ebenſo wie ich, 

blos nicht ganz ſo ſchwer; 


300 


und wenn ich in mein Bettchen huͤpfe, 
dann huͤpft er hinterher. 


Das Sonderbarſte an ihm iſt, 

wie er ſich anders macht; 

garnicht wie artige Kinder tun, 

huͤbſch alles mit Bedacht. 

Nein, manchmal ſpringt er ſchneller hoch 
als mein Gummimann; 

und manchmal macht er ſich ſo klein, 
daß Keiner ihn finden kann. 


Neulich ganz fruͤh, da ſtand ich auf, 
noch eh die Sonne ſchien, 

und ging ſpazieren durch den Tau, 

im Gras, und ſuchte ihn. 

Aber mein kleiner fauler Schatten, 

als wenn er Schnupfen haͤtt, 

lag wie ein altes Murmeltier 

noch feſt im Bett. 


Morgenlied 


Tapp tapp, wer kommt da querfeldein? 
Nur raſch, nur raſch, Herr Morgenſthein, 
trab trab! 

Die Jungfer Tauduft putzt ſich hier; 
ſie ſchlaͤgt den Schleier auf vor dir, 
klapp klapp! 


Klapp klapp, ſie laͤdt dich ein zum Tanz; 
nur hol erſt deinen goldnen Kranz, 
trab trab! 


Wer zu ihr will, muß früh aufſtehn; 
wers tut, dem patſcht fie auf die Zehn, 
ſchwapp! 


Der kleine Suͤnder 
Von Paula und Richard Dehmel 


Geſtern lief der Peter weg, 

ſpinnefix verſtohlen; 

ſetzt ſich Mutter den Baͤnderhut auf: 
wart, ich will dich holen! 
Sauſepeter, 

Flauſepeter, 

kleiner Suͤnder, wo biſt du? 


Hahnematz ſteht auf der Wieſe, 
„kiek ins Gruͤne!“ kraͤht er; 
ſag mir, bunter Kickeriki, 

wo iſt unſer Peter? 
Bummelpeter, 

Schummelpeter, 

kleiner Suͤnder, wo biſt du? 


Wie fie ſich im Garten umkuckt, 
iſt er nicht zu ſehen; 


3 | bleibt fie neben dem Spargelbeet 
* unterm Pflaumbaum ſtehen. 
9. Aber Peter, 


nirgends ſteht er; 
kleiner Suͤnder, wo biſt du? 


Hoͤrt ſie etwas lachen, horch, 
oben aus dem Baume; 


301 


302 


ſitzt der Peter ſeelenvergnuͤgt, 
pfluͤckt ſich eine Pflaume. 

Wirft ein Steinchen, 

ſchwenkt die Beinchen, 

wupptich —: Mutter, da bin ich! 


Fragefritz und Plappertaſche 
Von Paula und Richard Dehmel 


Fritz, ich moͤcht den Spaten haben. 
„Mutterchen, warum?“ 

Moͤchte eine Grube graben. 
„Mutterchen, warum?“ 


Moͤchte drin ein Baͤumchen pflanzen. 
„Mutterchen, warum?“ 

Wird mein Fritze drunter tanzen. 
„Mutterchen, warum?“ 


Wird das Baͤumchen Kirſchen tragen. 
„Mutterchen, warum?“ 

Ei, du mußt die Spatzen fragen, 

die ſind nicht ſo dumm! — 


Kommt die kleine Plappertaſche: 
„Mutterchen, nicht wahr, 

ich bin kluͤger als der Fritze, 
bin ſchon bald ſechs Jahr! 


Mutterchen, nicht wahr, der Fritze 
iſt ein Schaf, o jee! 

Ich kann ſchon bis zwanzig zaͤhlen 
und das A⸗B⸗C!“ 


A 


J, du kleine Plappertaſche, 
laß den Fritz in Ruh! 
Plappertaſche, wiſche waſche, 
halt das Maͤulchen zu! 


Übermorgen in acht Wochen 

kommt der Weihnachtsmann; 

wenn du dann noch immer plapperſt, 
was bekommſt du dann? 


Einen großen Maulkorb! — 


Furchtbar ſchlimm 


Vater, Vater, der Weihnachtsmann! 

Eben hat er ganz laut geblaſen, 

viel lauter als der Poſtwagenmann. 

Er iſt gleich wieder weitergegangen, 

und hat zwei furchtbar lange Naſen, 

die waren ganz mit Eis behangen. 

Und die eine war wie ein Schornſtein, 

die andre ganz klein wie'n Fliegenbein, 
darauf ritten lauter, lauter Engelein, 

die hielten eine großmaͤchtige Leine; 

und ſeine Stiefel waren wie Deine. 

Und an der Leine, da ging ein Herr, 

ja wirklich, Vater, wie'n alter Baͤr, 

und die Engelein machten hottehott; 

ich glaube, das war der liebe Gott. 

Denn er brummte furchtbar mit dem Mund, 
ganz furchtbar ſchlimm! ja wirklich! und — 


„Aber Detta, du ſchwindelſt ja; 
das ſind ja wieder lauter Luͤgen!“ 


303 


304 


Na, was ſchad't denn das, Papa? 


Das macht mir doch ſoviel Vergnuͤgen! 


„So? D Na ja.“ 


Fitzebutze 


Lieber ßoͤner Hampelmann, 
deine Detta ſieht dich an! 
Ich bin dhoß, und Du biſt tlein; 
willſt du Fitzebutze ſein? 
Tomm! 


Tomm auf Haterns dhoßen Tuhl, 
Vitzlibutzki, Blitzepul! 

Hater ſagt, man weiß es nicht, 
wie man deinen Namen ſp'icht. 


PR! 


Pſt, ſagt Hater, Fitzebott 
war eimal ein lieber Dott, 
der auf einem Tuhle ſaß 
und ſebratne Mengen aß. 


Huh! 


Huh, ſei dut, ich bin ſo tlein 

und will immer a'tig fein. 

Fitzebutze, du biſt dhoß; 

kleine Detta ſpaßt ja blos. 
Ja? 


Ja, ich bin dir wirktlich dut! 
Willſt du einen neuen Hut? 


II 20 


Tlinglingling: wer b'ingt das Band? 


Königin aus Mohrenland! 
Tnicks! 


Tnix, ich bin F'au Toͤnidin, 


hab zvei Lippen von Zutterroſin; 
Fitzebutze, ſieh mal an, 


ei, wie Detta tanzen kann! 


Hoppß! 


Hopßa, hopßa, hopßaſſa; 

Toͤnigin von Af'ika! 

Flitzeputzig, Butzebein, 

wann ſoll unſe Hochzeit ſein? 
Du! 


Du! Mein tleiner lieber Dott! 

Du?! ſonſt geh ich von dir fo't! — 

Ach, du dummer Hampelmann, 

ſiehſt ja Detta garnicht an! 
Marſch! — 


Kaͤferlied 


Maiker, Maiker, ſurr, 

bleib ſchoͤn ſitzen, burr! 
Breite deine Fuͤhler aus, 
mach zwei kleine Faͤcher draus, 
ſchwing ſie kreuz und quer, 
zaͤhle mir was her! 

Zaͤhle, ich will mit dir zaͤhlen, 
wieviel noch Minuten fehlen, 
bis Herr Heuſchreck wuppt 


305 


und mir auf die Naſe huppt. 
Maikaͤber, Maiker, 
ſonſt holt dich der Deiker. 


Die Reiſe 


Tipp, tapp, Stuhlbein, 
huͤh, du ſollſt mein Pferdchen fein! 
Klipp, klapp, Hutſche, 
du biſt meine Kutſche, 
wutſch! 


Wipp, wapp, zu langſam; 

hott, wir fahren Eiſenbahn! 

Alle meine Pferde, 

um die ganze Erde, 
rrrutſch! 


Tipp, tapp; zipp, zapp; 

halt, wann geht das Luftſchiff ab? 
Fertig, Kinder, eingeſtiegen! 
wollen in den Himmel fliegen! 


futſch! 


Die Schaukel 


Auf meiner Schaukel in die Hoͤh, 
was kann es Schoͤneres geben! 

So hoch, ſo weit: die ganze Chauſſee 
und alle Haͤuſer ſchweben. 


Weit uͤber die Gaͤrten hoch, juchhee, 
ich laſſe mich fliegen, fliegen; 


306 


und alles fieht man, Wald und See, 
ganz anders ſtehn und liegen. 


Hoch in die Hoͤh! Wo iſt mein Zeh? 
Im Himmel! ich glaube, ich falle! 
Das tut fo tief, fo füß dann weh, 
und die Baͤume verbeugen ſich alle. 


Und immer wieder in die Hoͤh, 

und der Himmel kommt immer naͤher; 
und immer ſuͤßer tut es weh — 

der Himmel wird immer hoͤher. 


Das richtige Pferd 
Von Paula und Richard Dehmel 


Wer ſchenkt mir ein lebendiges Pferd, 
mein Schaukelpferd iſt garnichts wert, 
es hat ſo ſteife Beine. 

Es ſtampft nicht, frißt nicht, wiehert nicht, 
und macht ſolch ledernes Geſicht; 

es weiß nicht, was ich meine. 


Wenn mir der Weihnachtsmann ein Pferd, 
ein wirklich richtiges Pferd beſchert, 

dann reit ich uͤber die Bruͤcke, 

und reite durch den Kiefernforſt 

nach Vehlefanz und Haſelhorſt, 

und noch fuͤnf große Stuͤcke. 


Dann bin ich mitten in der Welt; 
da ſuch ich mir ein Haberfeld 
und laſſe meine Pferdchen graſen. 


307 


308 


Und dann, dann reit ich ans Ende der Welt, 
wo der Rieſe den Regenbogen haͤlt, 
und — ſchick euch 'ne Anſichtspoſtkarte. 


Die ganze Welt 


Wo haͤngt der groͤßte Bilderbogen? 

Beim Kaufmann, Kinder! ungelogen! 

Man braucht blos draußen ſtehn zu bleiben, 
kuckt einfach durch die Ladenſcheiben, 

da ſieht man ohne alles Geld 

die ganze Welt. 


Man ſieht die braunen Kaffeebohnen; 

die wachſen, wo die Affen wohnen. 

Man ſieht auf Waſchblau, Reis und Mandeln 
Kameele unter Palmen wandeln, 

und einen Ochſen ganz bepackt 

mit Fleiſchextrakt. 


Man ſieht auch Zimmt und Apfelſinen, 
und Zuckerhuͤte zwiſchen ihnen. 

Man ſieht auf rot lackierten Blechen 
Matroſen mit Chineſen ſprechen; 

und manchmal ſteht ein bunter Mohr, 
der lacht, davor. 


Am Eingang aber lehnt 'ne Leiter 

mit Haſen, Huͤhnern und ſo weiter. 
Und manchmal haͤngt an ihren Sproſſen 
ein großer Hirſch, ganz totgeſchoſſen; 
dann kommt ſo'n Heiner Hundemann 

und ſchnuppert dran. 


Lazarus 
Nach R. L. Stevenſon 


Ich bin der kleine Lazarus, 

der ſtill zu Bette liegen muß; 

die Nacht iſt immer ſchrecklich lang, 
ich bin ſchon ſieben Tage krank. 


Ich weiß, im ganzen Hauſe gehn 
die großen Leute auf den Zehn; 
ich mach mir aber garnichts draus, 
ich packe ſacht mein Spielzeug aus. 


Ich ſchicke mein Soldatenheer 

durch meine Kiſſen kreuz und quer, 
von Tal zu Tal, bergauf bergab, 

und manchmal kommt ein tiefes Grab. 


Und auf dem Laken weiß wie Schnee 
ziehn meine Schiffe uͤber See; 

und um die Wellen geht ein Wall, 
da bau ich Burgen uͤberall. 


Ich bin der Rieſe groß und ſtill, 
der Alles tun kann, was er will, 
vom Bettberg bis zum Lakenſtrand 
im Reich der weißen Leinewand. 


309 


Der kleine Held 
Eine Lehrjungen⸗Dichtung 


Allen braven Trotzkoͤpfchen zugedacht. 
Bengels, daß ihr Kerls aus euch macht! 


Inhalt: 


Wie ein ganz armer Junge ſich ſagt 
was er alles werden kann. 


Anfang 


„Du biſt ein armer Junge“ 

ſagt Mutter oft und weint, 

wenn ich Herr Rittersmann ſpielen will. 
Aber Vater hat gemeint: 

„er iſt ein kleiner Held!“ 


Neulich nahm ich ganz einfach 

meinen Drachen mit als Schild, 

und dem reichen Kurt ſein Schweſterchen 
hat mich gekuͤßt wie wild: 

„du biſt ein kleiner Held!“ 


Ich ließ meinen Drachen ſteigen, 
dann ging es in die Schlacht; 

ich wollt meinen Schild blos zeigen, 
ich hab ihn ſelbſt gemacht, 

ich bin ein kleiner Held! 


Ich wills ſchon machen, daß Mutter 
nicht mehr weint um mich. 

O! ſie ſoll mal ſehn und lachen, 
was ich alles werden kann, ich 
kleiner Held! — 


310 


Ein Zimmermann 


Ich kann ein Zimmermann werden, 
dann zimmr'ich mir ein Haus; 
hoch uͤberm hoͤchſten Giebelbalken 
kroͤnt meinen Richtfeſtſtrauß 

— Achtung! — mein Meiſterhut. 


Dann zimmr'ich noch viele Haͤuſer; 
meine Richtſchnur knippſt und knappſt, 
die Spaͤhne ſchießen vor Angſt kobolz 
um meine blanke Art, 

und hurr, wie knirſcht meine Saͤge! 


Meine Saͤge knirſcht mit den Zaͤhnen: 
mir iſt kein Holz zu hart, 

ich werd's ſchon kirre kriegen, 

wart nur, wart nur, wart! 

So knirſcht meine große Saͤge. 


Fertig! Nun fix nach oben, 

wo der Wind mich kaͤmmt und kuͤßt; 
und mag er ruͤtteln und toben, 

ich fall nicht vom Geruͤſt, 

ich bin ein kleiner Held! 


Ein Dachdecker 


Ich kann ein Dachdecker werden, 

denn ich bin ſchwindelfrei. 

Ich kletter bis auf den Kirchturmhahn, 
und die Dohlen und Kraͤhn ſchrein: ei, 
was will der Herr denn hier? 


311 


312 


Der will die Kirchtuͤrme flicken, 

es tut ſchon lange not! 

Die Glocken, wenn mein Fahrſtuhl kommt, 
brummen: ßapperlot, 

da baumelt 'ne Himmelsleiter! 


Und unten kribbeln die Leutchen, 

und ſteigt kein Laut mir nach. 

Blos mein Freund, der Schornſteinfeger, 
ruft manchmal vom naͤchſten Dach: 
Komm, Bruder, es gibt ein Gewitter! 


Aber dann bleib ich lieber 

ruhig auf meinem Sitz 

und hoͤr, wie der Donner losbruͤllt: 
Bravo! Sieh, Bruder Blitz, 

das iſt ein kleiner Held! 


Ein Feuerwehrmann 


Ich kann Feuerwehrmann werden: 

kaum daß die Brandflamme praſſelt, 
kommt ſchon galopp mit Fackelgeſpruͤh 
unſer Wagen angeraſſelt, 

alle Mann wie auf Sprungfedern ſtehend. 


Wie mit Donner und Blitz um die Wette: 
unſre Fackeln ſind Rettungszeichen! 

Meine Pfeife gellt: beiſeit, beiſeit! 

und alle Menſchen weichen 

uns voll Ehrfurcht aus. 


Denn dort die gluͤhenden Fenſter — 
horch: durch den Qualm ein Schrei! 


— 


Da wird nicht lange gefackelt mehr: 
raſch den Rauchhelm auf, die Spritzen in Reih, 
und mit Beil und Seil wird gerettet! 


Vielleicht ein ſchoͤnes Maͤdchen; 
das wird dann meine Braut. 
Oder ein kleiner Betteljunge; 

der ſchießt dann wie ich ins Kraut 
und wird ein kleiner Held. 


Ein Schmied 


Ich kann Schmiedemeiſter werden; 
knuff! ſagt mein Hammer und ſauſt, 
dann ſpringen die Funken vor Freude 
um meine rußige Fauſt 

bis an den Blaſebalg. 


Herr Blaſebalg, was ſtoͤhnſt du? 
Nur zu! die Glut geſchuͤrt! 

Und laß die Schlacken nur ſpucken, 
wenn meine Zange drin ruͤhrt; 
gut Eiſen will auf den Ambos: 


Dem ſoll ich den Ruͤcken klopfen, 

dann lacht er und traͤllert ein Lied: 
Lieb Hammergelaͤut, lieb Hammergelaͤut, 
gut Eiſen dankt dem Schmied, 

er klopft es hart zu Stahl. 


Drum ſtreut's vor Freude Funken 
und huͤpft bei jedem Streich; 

die Heuchler und Halunken, 

die klopft er windelweich, 

knuff, der kleine Held. 


313 


314 


Ein Maſchinenbauer 


Ich kann Maſchinbauer werden; 

da ſtraͤubt ſich manchem das Haar. 
Das iſt viel toller als Maͤrchenſpuk, 
da hauſen wirklich wahr 

tauſend Zauberkraͤfte. 


Die toben, wirbeln, krachen 
mit Kolben, Kurbeln, Gelenken, 
mit feuerſchnaubenden Rachen, 
man muß an die Hoͤlle denken, 
an die großen Tiere der Urzeit. 


Und ſind viel ſtaͤrker als Rieſen; 

was koͤnnen ſie alles tun! 

Bergwerke bohren, Dampfſchiffe treiben, 
Bahn brechen mit eiſernen Schuhn; 
weh dem, der ihnen zu nah tritt! 


Schnurſtracks reißt Schwungrad und Riemen 
die taͤppiſche Hand in Fetzen. 

Mit ſolchen Ungetuͤmen 

auf guten Fuß ſich ſetzen 

lernt nur ein kleiner Held. 


Ein Eiſenbahner 


Ich kann Eiſenbahn⸗Zugfuͤhrer werden; 
nein, Lokomotivofuͤhrer lieber. 

Dann bin ich kleiner Menſchenknirps 
der groͤßten Maſchine uͤber, 

die tauſend Pferdekraft ſtark iſt. 


Und tauſend andre Menſchen 
regiert Ein Griff meiner Hand, 
tagein tagaus, bei Nacht, bei Nebel, 
im Sturm von Land zu Land; 
Bahn frei! ſchreit meine Maſchine. 


Bahn frei — was ſchreit da wider? 
im Dunkeln welch Geſtampf? 
Woher, wohin? Vorwärts, zuruͤck? 
Halt! bremſen! Gegendampf! 

jetzt gilts, Menſch: Einer fuͤr Alle! 


Und fliegt der Kopf vom Kragen, 

ſo ſtirbt ſichs ohne Graͤmen; 

dann braucht man ſich doch wenigſtens 
des Lebens nicht zu ſchaͤmen! 

So denkt ein kleiner Held. 


Ein Weltreiſender 


Ich kann Weltreiſender werden, 
wo keine Eiſenbahn geht: 

wo uͤberm ewigen Eismeergrab 
die Nordlichtkrone ſteht, 

die Krone der ganzen Erde. 


Oder wo heiß die Wildnis 

nur Grüße Gottes haucht, 

und wo die liebe Seele 

keinen andern Wegweiſer braucht 
als Sonne, Mond und Sterne. 


Und treff ich mal auf Menſchen, 
die ſind wohl nicht wie ich; 


315 


316 


ihr Gott, der heißt wohl Fitzebutze, 
ihr Haͤuptling Duckedich — 
hurra, das gibt einen Hauptſpaß! 


Ich ducke ſie noch ein bißchen 
tiefer zum Schabernack; 

und wollen ſie's übel nehmen, 
dann los! habt Mut, ihr Pack! 
hier ſteht ein kleiner Held! 


Ein Koͤnig 


Ich kann ein Koͤnig werden; 

nicht etwa bei uns, i wo! 

Bei uns, da muß man Kronprinz heißen, 
dann wird man's ſowieſo. 

Ich werd bei den Negern Koͤnig! 


Die fragen nicht nach dem Taufſchein, 
wenn man nur orndtlich regiert. 

Erſt zaͤhm ich mir ein Dutzend Loͤwen, 
dann komm ich ankutſchiert, 

acht Zebras vorgeſpannt: 


Was lauft ihr weg wie die Affen? 
Mein Reich iſt vogelfrei! 

Wer ſtark iſt, darf's erobern helfen; 
die Klugen ſind ſtark fuͤr zwei! 
Kommt, Kinder, dankt euerm Herrgott! 


Ihr habt einen Koͤnig und Prieſter, 
der braucht keinen Polſterthron, 
keinen Feldherrn, Hofherrn, Miniſter 
und ſonſtige Dienſtperſon; 

euch fuͤhrt ein kleiner Held! 


Ein Tierbändiger 


Ich kann Tierbändiger werden, 
ich bin den Beſtien gut; 

ſie wuͤrden gerne Menſchen ſein, 

nur Qual iſt ihre Wut, 

drum ſind ihre Augen ſo traurig. 


So wie in Wahnſinn verſunken, 

ſo glaͤſern manchmal, ſo ſtier. 

Aber man braucht ſie blos zu lieben, 
das fuͤhlen ſie ganz wie wir 

und lernen Vernunft annehmen. 


Neulich am Raubtierkaͤfig 

bot ich dem Tiger die Hand. 
Er ſah mich lange ſchnurrig an, 
bis er mein Herz verſtand; 
dann ließ er ſich ruhig tatzeln. 


Er gaͤhnte wie im Zirkus 

und bog die Schwanzſpitze ſacht. 
Ich wette, den duͤrft ich karbatſchen, 
er daͤchte: Du haſt die Macht, 

du biſt ein kleiner Held. 


Ein Kunſtreiter 


Ich kann ein Kunſtreiter werden, 
das kann nicht jedermann; 

nur wer bis in die Zehenſpitzen 
ſich ſelber baͤndigen kann, 

bis in die Turnſchuhſpitzen! 


317 


318 


Hei, wenn beim großen Luftſprung 
meine ſtolzen Pferde ſich buͤcken! 

Die Herren Leutnants laͤcheln vor Neid, 
die Damen vor Entzuͤcken; 

ich laͤchle immer mit. 


Ich laͤchle, ihr ſchoͤnen Damen: 

Klatſcht Beifall! ſtill, Muſik! 

freut euch, gleich kommt der Doppel⸗Luftſprung. 
vielleicht brech ich's Genick! 

Ich werde auch dann noch laͤcheln. 


Dann kommt ihr angefahren 

mit Kraͤnzen und Trauermaͤrſchen; 
ich aber laͤchle noch im Sarg, 

ich kann mich ſelbſt beherrſchen, 
ich bin ein kleiner Held. 


Ein Jaͤgersmann 


Ich kann ein Jaͤgersmann werden, 
ich hab eine ſichre Hand; 

ich werde von der Schießbudenfrau 
immer „klein Tell“ genannt. 

Ich hab auch kaltes Blut. 


Ich zucke nicht mit der Wimper, 

druͤck ich die Knallbuͤchſe ab. 

Mir ſoll kein Wilddieb ins Handwerk pfuſchen; 
ich bringe ihn auf den Trab, 

und waͤr er ſchlau wie ein Teckel. 


Ich wuͤrde wohl ſelber wildern, 
haͤtt ich kein eigen Revier. 


So aber, Kerl: Mann gegen Mann, 
ich ſchuͤtze den Forſt vor dir, 
das iſt meine Pflicht, Halunke! 


Gewehr her! oder — gib Feuer! 
Auge in Auge! Laß ſehn: 

piff paff, wen's trifft, dem wird noch 
fein aͤrgſter Feind geſtehn: 

da liegt ein kleiner Held. 


Ein Gaͤrtner 


Ich kann ein Gaͤrtnersmann werden, 
mit allen Pflanzen vertraut. 5 
Mir ſchadet keine Treibhausluft 

und auch kein giftiges Kraut; 

ich bin ſo zaͤh wie ein Buchsbaum. 


Ich nutze die giftigen Kraͤuter, 
ich zuͤchte Heilkraͤuter draus, 
mitunter auch Kuͤchenkraͤuter; 
nur die Unkraͤuter reiß ich aus 
oder veredle ſie. 


Und meine Baumſchule, Leute, 
ſchmuͤckt alle Landſtraßen, ſeht! 
Jawohl, Herr Nachbar, es lohnt ſich, 
wenn man noch mehr verſteht 
als ſchoͤne Straͤuße zu binden! 


Mein Garten wird nicht verſchmachten, 
gefaͤllt er manchem ſchlecht. 

Er kann euern Beifall verachten, 

und euer Schimpfen erſt recht; 

ihn pflegt ein kleiner Held. 


319 


320 


Ein Ackersmann 


Ich kann ein Ackersmann werden; 

auch der muß tapfer ſein. 

Mit Himmel und Erde muß er kaͤmpfen, 
daß ſeine Felder gedeihn, 

ein Kriegsmann Schritt fuͤr Schritt. 


Um Haus, Hof, Heimat kaͤmpft er, 
potz Hagel, Blitz und Brand! 

Mit Gleichmut iſt ſein Herz gepanzert, 
mit Schwielen ſeine Hand, 

hart wie das Korn, das er ſaͤt. 


Und wills daheim nicht fruchten, 

um Deutſchland geht kein Zaun; 

noch manchen Urwald gibts zu lichten, 
da kann man Blockhuͤtten baun 

und neue Heimat ſchaffen. 


Vielleicht ſtoͤßt doch das Heimweh 
langſam das Herz ihm ab? 
Dann aber rauſchen die Ahren 
weithin um ſein Grab: 

hier ruht ein kleiner Held. 


Ein Seemann 


Ich kann ein Seemann werden, 
Kapitän oder Steuermann. 

Den macht ſein Steuerrad ſo ſtark, 
wie der Pflug den Ackersmann; 
kommt nur, ihr Wolken und Wellen! 


II. 21 


Der Wind pfluͤgt tauſend Furchen 
von einem zum andern Strand. 
Nur Eine Furche pfluͤgt mein Schiff: 
die bricht unſerm Vaterland 

nach allen Erdteilen Bahn. 


Ob noch ſo undurchdringlich 

ringsum der Nebel graut, 

daß ſelbſt die Sonne durch den Dunſt 
wie'n blindes Auge ſchaut: 

unſer Kompaß kennt den Weg. 


Wenn wir die Flagge hiſſen, 
du fremde Hafenſtadt, 

ſoll jeder Matroſe wiſſen, 
der Ehre im Leibe hat: 

dir naht ein kleiner Held! 


Ein Lotſe 


Ich kann auch Lotſe werden; 

da, wo die Schiffbruͤche drohn. 

Ich darf das Sturmboot kommandieren, 
wenn vor der Wachtſtation 

plotzlich der Notſchuß droͤhnt. 


Los, Jungens! an die Riemen! 
Und in den ſchwarzen Braus 
ſpruͤht der Raketen⸗Apparat 
Leuchtſchnur auf Leuchtſchnur aus; 
grell klafft die Nacht ums Wrack. 


Mit bruͤllendem Rachen ſchnappen 
die Sturzſeen über Deck. 


321 


Die Mannſchaft reißt die Paſſagiere 
vom krachenden Maſtbaum weg: 
der Giſcht fegt ihn von Bord. 


Und in den bleichen Haufen 
praſſelt mein Rettungstau; 

da kriegen auch die Feigſten Mut, 
und manche ſchwache Frau 

wird ein kleiner Held. 


Ein Taucher 


Ich kann ein Taucher werden, 
einſam auf Meeres Grund. 

Da koͤnnt ihr Stuͤrme nicht hinab; 
ſtill wie in Todes Schlund 

tu ich mein kuͤhnes Werk. 


Lautloſe Wirbel ſchauern 

uͤber und unter mir; 

mit dunklen Fangarmen lauert 
heimtuͤckiſches Getier 

zwiſchen den grauen Riffen. 


Da muß ich die Schaͤtze heben, 
die fuͤr die Menſchen taugen; 
geſpenſtiſche Weſen ſchweben 
mit bunten Phosphor⸗Augen 
um meine Glocke hin. 


Und hab ich ſie gehoben, 
dann ſperrt wohl noch ein Hai 
ſein ſchiefes Maulwerk nach mir auf. 


21* 


Oem bringt's mein Fußtritt bei: 
hier ſchwebt ein kleiner Held! 


Ein Goldgräber 


Ich kann ein Goldgraͤber werden 
und des Erdgrunds Schaͤtze ſchuͤrfen. 
Mutter Erde ſpendet immer mehr, 
je mehr die Menſchen bedürfen; 
mein Lehrer hats geſagt. 


Wohl koſtets Schweiß in Stroͤmen, 
den Bergſchutt auszuſchmelzen, 
oder tief aus unterirdiſchen Fluͤſſen 
den Schlamm heraufzuwaͤlzen, 
der die paar Goldkoͤrner birgt. 


Aber endlich iſts ein Klumpen, 
blitzblendeblank gewaſchen! 

Nun kann ich Vater, Mutter und Alle 
zum Geburtstag uͤberraſchen; 

auch den reichen Kurt! 


Mutter Erde ſoll ſich wundern, 

wie meine Schatztaler ſpringen: 
Hand auf! nehmt hin den Plunder, 
ich kann mir mehr erringen, 

ich bin ein kleiner Held! 


Ein Bergfuͤhrer 


Ich kann ein Bergſteiger werden, 
der die andern alle fuͤhrt. 
Pfade, wo nie ein Schritt erklang: 


323 


wer hat fie aufgeſpuͤrt? 
Das tat meine Herzensluſt! 


Die treibt mich hin zu den Gipfeln, 
uͤber Schnee, durch Wetterſchlag, 

am Sturzbach hin, am Gletſcherrand, 
hinauf! Nun klettert nach, 

ihr andern Wagehaͤlſe! 


Mir nach mit gluͤhendem Herzen, 
hinauf ins freie Eis! 

Wer ſtuͤrzt, den ſchmuͤckt im Paradies 
die Blume Edelweiß! 

Kommt! jauchzend gruͤß ich euch. 


Aber am liebſten ſteh ich 

hoch oben ganz allein, 

mitten im ſtillen Himmelskreis, 
und hoͤre die Adler ſchrein: 
gruͤß Gott, du kleiner Held! 


Ein Luftſchiffer 


Ich kann ein Luftſchiffer werden, 
immer hoͤher ſchlaͤgt mein Herz: 
da fliehn die Fluͤſſe unter mir 
wie duͤnne Adern Erz, 

meine Gondel ſteigt und ſteigt. 


Die Luft wird immer reiner; 
das wirre Erdgewuͤhl 

wird alles klein und kleiner, 
wird alles wie ein Spiel. 
Ich gleite druͤber hin. 


Hin, wo die Wolken ſchweigen; 
kaum noch ein Berghaupt blinkt. 
Ich fuͤhle mich nicht mehr ſteigen, 
nur die Erde ſinkt und ſinkt; 
mir traͤumt ein Schaukellied. 


Ich ſchwebe nur und ſchwebe, 

in die blaue Welt hinein. 

Wer weiß wohin — ade, ade — 
der Himmel wiegt mich ein: 
fahr wohl, du kleiner Held. 


Ein Dichter 


Ich kann ein Dichtersmann werden, 
ich weiß ſchon, was das heißt; 

das iſt ein Menſch auf Erden 

mit einem himmliſchen Geiſt, 

und der auf Leben und Tod pfeift. 


Er pfeift: mir lacht das Leben, 
weil ich unſterblich bin! 

Er pfeift: ich lache aufs Sterben, 
mir lebt ein Lied im Sinn, 

das geht ſo weit wie die Welt! 


So einen Dichter kenn ich; 

er ſtreicht mir manchmal die Stirn, 
und wie ein Fernrohr ruͤhrt ſein Blick 
hell an mein Gehirn, 

dann ſeh ich den Himmel offen. 


Da tanzen die Sterne und ſingen: 
Nur wen wir auserwaͤhlt, 


325 


326 


dem kann das Lied gelingen; 
wird er's wohl fertig bringen, 
unſer kleiner Held? 


Ein Engel 


Ich kann ein Engel werden, 

wenn ich geſtorben bin. 

Dann jagt wohl mit Wolkenpferden, 
die wir nicht ſehn auf Erden, 

meine Kraft durchs Luftmeer hin. 


Meine Fluͤgel ſind wohl die Stuͤrme, 
der Blitzſtrahl wohl mein Pfad. 

Ich weiß es nicht, ich leuchte nur; 
mich treibt ein Geiſt zur Tat, 

der braucht wohl meine Kraft. 


Ich leuchte in tauſend Geſtalten, 
vielleicht wo die Sonne loht, 
vielleicht wo Sterne erkalten, 

die bleich noch Nachtwache halten, 
vielleicht im Morgenrot. 


Da darf ich überall wirken; 

und bin doch vor dem Geiſt, 

der mich und all die andern Engel 
zu Seinem Werk hinreißt, 

nur ein kleiner Held. 


Schluß 


Ich kann noch manch andres werden, 
ſolang ich kein Engel bin. 


Aber immer trag ich armer Junge 
die eine Frage im Sinn: 
was wirſt du auf jeden Fall? 


Und trage in meinem Herzen 

manch eines Mannes Bild, 

der ſo beherzt war, daß er uns 

als großer Held nun gilt: 

Wilhelm Tell, Koͤnig Fritz, der Herr Jeſus. 


Dazu gehoͤrt nicht Reichtum 
noch lange Lebensfriſt. 
Mir hat mein Dichtersmann geſagt: 
jedes Kind auf Erden iſt 
ein kleiner Welterobrer. 


Das will ich an jeder Stelle 
ſein, ſo ſehr ich kann. 

Dann werd ich auf alle Faͤlle 
ein ganzer Mann — und dann 
vielleicht ein ganzer Held. 


327 


Knecht Ruprecht und die Ehriſtfee 


Ein Weihnachtsſpiel 


Knecht Ruprecht und dle Chrififee treten in die Weihnachtsſtube, während am Klavier 
die Chorwelſe „Tochter Zion, freue dich“ aus Händels „Judas Maktabäus“ ertönt. 


Ruprecht 
zu den Kleinen, nachdem es ſtill geworden iſt: 


Ich bin der alte Weihnachtsmann, 
ich hab ein'n bunten Wunderpelz an; 
mein Haar iſt weiß 

von Reif und Eis. 


Ich komm weit hinter Hamburg her, 
mit langen Stiefeln durchs kalte Meer, 
meinen Mummelſack 

huckepack. 


Er nimmt den Sack von der Schulter und ſtellt ihn vor ſich auf den Boden. 


Da ſind viel gute Sachen drin, 
Nuͤſſ und Apfel und große Roſin'n; 
ich bin ein lieber Mann, 

ſeht an! 


Er oͤffnet den Sack und langt dabei verſtohlen die Rute aus dem Guͤrtel. 


328 


Ich kann aber auch boͤſe ſein. 
Dann fahr ich mit der Rute drein 
und ſchuͤttel den Bart: 

na wart't! 


Nein, ſeid nicht bang; ſeid lieb und fein, 
ſeid wie mein ſchoͤn gut Schweſterlein! 
Iſt die euch hold, 

ſchenk ich, was ihr wollt. 


Die Chriſtfee 
in weißem Kleid und Schleier, mit Engelsflügeln und Sterndiadem, in der Anken 
einen Tannenzweig haltend, wendet ſich an die Großen: 
Ich bin aus einem hellen Lande; 
da waͤchſt und bluͤht ein Baum, um den 
wir all in ſtrahlendem Gewande 
mit ſilberweißen Fluͤgeln ſtehn. 


Der Baum iſt gruͤn, gruͤn ohne Ende, 
und ſeine Hoͤhe mißt kein Sinn; 

und ſeine Zweige ſind wie Haͤnde, 

die ſtrecken ſich nach Jedem hin. 


Der Baum traͤgt viele tauſend Kerzen, 
und jede iſt der andern gleich; 

und ihre Flammen ſind wie Herzen, 
die leuchten klar und warm und weich. 


Er haͤngt voll Gold bis an die Spitze, 
und ſeine Jahre zaͤhlt kein Mund; 
und ſeine Wurzeln ſind wie Blitze, 

die dringen in den haͤrteſten Grund. 


O komm, komm! Tauſend Fruͤchte warten, 
dein goldner Apfel pfluͤckt ſich leicht; 
denn Jedem oͤffnet ſich der Garten, 
wer ſinnt, wie man den Baum erreicht. 


Kommt, ſeht ihn ſchimmern! Heut aufs neue 
erfuͤllt ſich, was die Schrift verhieß: 

Einſt pflanzte, daß der Menſch ſich freue, 
Gott einen Baum ins Paradies. 


Ruprecht 
hat inzwiſchen die Teller der Kinder mit Pfefferkuchen, Nuͤſſen, Apfeln gefüllt 


329 


330 


und tritt nun zu der kleinen Veradetta: 


Moͤchteſt du wohl in den Garten, 
wo ſo ſchoͤne Apfel warten? 

Ja? — Dann mußt du fein 
ſittſam ſein. 


Mußt dich nicht ſo wild geberden, 
mußt ſo wie die Chriſtfee werden. 
Es iſt garnicht ſchwer; 

kuck mal her! 


Muß dir nur recht viel dran liegen, 
auch zwei Fluͤgelchen zu kriegen. 
Wenn du groß biſt, ah: 

dann ſind ſie da. 


Die Chriſtfee 
zum kleinen Peter⸗Heinz, eindringlich: 
Und Du, mein kleiner Heinzelmann, 
machſt dich gern zu wichtig. 
Sieh dir mal den Ruprecht an: 
ſiehſt du, der machts richtig. 


Jedem ſchenkt er was und lacht, 
aber hoͤchſt beſcheiden; 

daß man dumme Witze macht, 
kann er garnicht leiden. 


Und wer mault, den haut er ſehr, 
und dann ſagt er: ſchade! — 

So, nun ſag uns auch was her, 
und halt den Kopf huͤbſch grade! 


Heinz 
ſagt mit ſeiner verſchmitzteſten Miene 


folgende Schnurre (von Paula und Richard Dehmel) auf: 
Der Eſel, der Eſel, 
wo kommt der Eſel her? 
Von Weſel, von Weſel, 
er will ans ſchwarze Meer. 


Wer hat denn, wer hat denn 
den Eſel ſo bepackt? 

Knecht Ruprecht, Knecht Ruprecht 
mit ſeinem Klapperſack. 


Mit Nuͤſſen, mit Apfeln, 
mit Spielzeug allerlei, 
und Kuchen, ja Kuchen 
aus ſeiner Baͤckerei. 


Wo baͤckt denn, wo baͤckt denn 
Knecht Ruprecht ſeine Speiſ? 
In Island, in Island, 

drum iſt ſein Bart ſo weiß. 


Die Rute, die Rute, 

die iſt dabei verbrannt; 
heut ſind die Kinder artig 
im ganzen deutſchen Land. 


Ach Ruprecht, ach Ruprecht, 

du lieber Weihnachtsmann, 
komm auch zu mir mit deinem 
Sack heran! 


Ruprecht 
lachend, indem er in den Sack langt: 
Na! dann muß der Ruprecht wohl 
ſeine Rute raſch verſtecken; 


337 


332 


denn er hat die Jungens gern, 
die nicht gleich vor ihm erſchrecken. 


Hier, mein kleiner tapfrer Mann, 
ſchenk ich dir ein Spiel Soldaten. 
Noch eine Schachtel herausnehmend: 
Und in dieſem Kaſten ſteckt 
Handwerkzeug zu andern Taten. 


Peter Heinz! Soldat ſein heißt: 
fuͤrcht dich nit und lern brav hauen! 
Aber noch viel braver iſt es, 

lernſt du recht was Schoͤnes bauen. 


Jedes Werkzeug ſagt dir: lerne 
feſten Griff mit Fug und Fleiß — 


Die Chriſtfee 
neckend: ; 
denn das hat der Ruprecht gerne, 
daß man zuzugreifen weiß. 


Dann den andern Heinz auredend: 
Und Heinz Lux — ſieh blos mal her: 
Rehe, Hirſche und ein Baͤr, 
Huͤhner, Haſen, Fuͤchſe, Raben: 
gelt, die moͤchteſt du wohl haben? 


Ja? Dann mußt du aber balde 

wie der Jaͤgersmann im Walde 
aufmerkſam und achtſam werden, 
darfſt dich nicht wie'n Tapps geberden. 


Sonſt wird gleich der Eber hier 
dreimal groͤßer als die Tuͤr, 


kommt und ſtoͤßt dich mauſetot, 
ißt dich auf zum Abendbrot. 


Wenn du aber orndtlich biſt, 
bleibt das alles, wie es iſt; 
und dann kannſt du mit den vielen 
wilden Tieren ruhig ſpielen. 


Ruprecht: 


Na, und Du, Prinzeßchen da, 
Veradetta, ganz in Seide, 

kannſt wohl auch ein Liedchen? ja? 
Ei, dann mach uns mal die Freude! 


Detta 
die Hände faltend: 
Ihr Kinderlein, kommet, o kommet doch all, 
o kommet zur Krippe in Bethlehems Stall, 
und ſeht, was in dieſer hochheiligen Nacht 
der Vater im Himmel fuͤr Freude uns macht! 


O ſeht, in der Krippe, im naͤchtlichen Stall, 

ſeht hier bei des Laͤmpchens ſtill glaͤnzendem Strahl 
in reinlichen Windeln das liebliche Kind, 

viel ſchoͤner, viel holder, als Engel wohl find. 


Da liegt es, ach Kinder! auf Heu und auf Stroh; 
Maria und Joſef betrachten es froh, 

die redlichen Hirten knien betend davor, 

hoch oben ſchwebt jubelnd der himmliſche Chor. 


Ruprecht 
hat dem alten Lied mit Andacht zugehoͤrt, nickt und ſagt: 


Das war wirklich wunderſchoͤn, 
ja, das muß ich ſagen! 


333 


334 


Ein Geſchenk vorholend: 


Dafuͤr krigſt du, ſieh mal, den 
reizenden Kinderwagen. 


Die Chriſtfee: 


Und in lauter Silberflaum, 
ei, welch Engelspuͤppchen! 
Und da unterm Tannenbaum, 
ſieh nur, ſteht ein Stuͤbchen. 


O, wie wird ſich Puͤppchen freun, 
wenn du's da wirſt wiegen! 
braucht nicht wie arm Jeſulein 
in einem Stall zu liegen. 


Liegt und lacht, o ſieh doch, ganz 
wie klein Liſelotte, 

Schweſterchen im Lichterglanz, 
traͤumt vom lieben Gotte. 


Traͤumt von einer andern Welt, 
die wir hier nur ahnen; 

da ſaͤt Gottes Mutter hell 
ihren Sternenſamen. 


Ruprecht: 
Euer Mutting aber krigt 
dieſe bunte Schuͤrze, 
drin ein Buͤndel Scheren liegt 
jeder Laͤng und Kuͤrze. 
Damit ſoll ſie ſaͤuberlich 
Vaters Dichterflügel putzen 


P 
Be. 15 l 


und ihm, übereilt er ſich, 
ſeine wilden Federn ſtutzen. 
Er legt das Geſchenk auf den Weihnachtstiſch, greift dann welter in den Sack: 


Und fuͤr Onkel Mombert hab ich 

einen Leuchter aufgegabelt, 

in Geſtalt des raſenden Drachens, 

uͤber den die Sage fabelt, 

daß er einſt das ewige Licht 

losriß aus den finſtern Gruͤnden; 

mag er nun dasſelbe Licht 

dir im Kaͤmmerlein entzuͤnden! 
Dann eine Flaſche Benediktiner auspackend: 


Onkel Scheerbart — ha! — der krigt 
dieſen Seelenwaͤrmer; 

ſeht, ſchon macht er ein Geſicht 

wie'n religiöfer Schwaͤrmer! 


Hier koͤnnen, je nach Mehrbedarf, weitere Beſcherungsreime eingeflickt werden; wie 
uberhaupt die Einzelheiten der Beſcherung nur als Anleitung zu aͤhnlicem Mummen⸗ 
ſchanz gemeint ſind. 


Tante Lisbeth, brumm brum brumm, 
will ich lieber meiden; 

denn die kann, Gott weiß warum, 
den Weihnachtsmann nicht leiden. 


Aber unſre Guſte hier, 

unſer Hausmamſellchen, 

daß ſie nicht beim Ausgehn frier, 
krigt ein warmes Fellchen. 


Er nimmt ſich die Pelsjade von der Schulter und hängt fie dem Dienſtmadchen uͤber. 
Steht nun in einem abgetragenen blauen Arbeitskittel da und ſagt zur Chriſtfee: 


Na, und jetzt, mein Schweſterlein, 
koͤnnen wir wohl gehen. 
Oder faͤllt dir noch was ein? 


335 


Siehſt mir gar ſo ernſthaft drein. 
Warum bleibſt du ſtehen? 


Die EChriſtfee: 


Ich hab ein Wort vernommen, 
das laͤßt mich nimmer los. 

Ich mag zum Armſten kommen, 
und ſei er ganz beklommen, 

ich ſage immer blos: 

liebe! 


O — dann atmet Jeder waͤrmer; 
war doch Er noch viel, viel aͤrmer, 
der das Wort einſt ſprach. 

Selbſt die ſtummſte Menſchenſeele, 
ob ihr jeder Laut ſonſt fehle, 
ſtammelt heimlich nach: 

ich liebe. 
Aller Orten, aller Zungen, 
Jedem iſt es ſchon erklungen, 
ſelig oder ſcheu. 


Jedem wohnt das Bluͤmlein inne, 


dem ich jetzt ein Lied beginne, 
Lied ſo alt wie neu: 


Nachdem auf dem Klavier die Weiſe angeſchlagen iſt, ſpricht die Chriſtfee jede Zeile 


einzeln vor und Alle ſingen Zeile fuͤr Zeile nach: 


Es iſt ein Reis entſprungen 
aus einer Wurzel zart; 

wie uns die Alten ſungen, 
vom Himmel kam die Art. 
Und hat ein Bluͤmlein bracht, 


maa.itte im kalten Winter, 
Sal wohl zu der halben Nacht. 
Das Bluͤmlein war ſo kleine 
3 und doch von Duft fo ſuͤß; 
mit ſeinem milden Scheine 
verklaͤrt's die Finſternis. 
Und bluͤht nun immerdar, 
troͤſtet die Menſchenkinder, 
holdſelig, wunderbar. 


Ein Stern mit hellen Gleiſen 
hat es der Welt verkuͤndt, 

den Kindlein und den Weiſen, 
wie man dies Bluͤmlein findt. 
Nun iſt uns nicht mehr bang, 
ſeit aus der dunklen Erde 

ſolch leuchtend Reis entſprang. 


Ruprecht 
nach kurzem Schweigen: 
Amen! — Ja, geliebte Kinder, 
voller Wunder iſt die Welt; 
ſolch ein Lied iſt doch noch ſchoͤner 
als das ſchoͤnſte Spielzeug, gelt?! 


Die Chriſtfee 
| zu den Großen gewendet: 
* Fuͤhlt denn, wie aus zweien Landen 
Bruder ſich und Schweſter fanden; 
Ruprecht, gib mir deine Hand! 


Ich aus Morgen, Er aus Abend, 
Ich im Silberkleid, Er trabend 
N in verwittertem Gewand. 
ö lk 5a i 337 


A 


3 


8 


Beugt euch Ihm, dem Überlegnen: 
er kann wirken, ich nur ſegnen, 
er bringt Frucht, ich will nur Licht. 
Ich aus Suͤden, Er aus Norden, 


ſeine Welt iſt ſtark geworden — 


Ruprecht 
ihr den Mund zuhaltend: 
ja, daß ſie mich faſt unterkrigt; 
Schweſterherz, blamier mich nicht! — 


Dann wieder zu den Kleinen: 


Und nun wuͤßtet ihr wohl gerne, 
wer das iſt, der Weihnachtsmann — 
ſich den weißen Bart und alten Hut abnehmend: 
das iſt euer lieber Vater, 

ſchaut ihn euch nur naͤher an! 


Und die Chriſtfee mit den Fluͤgeln — 
ihr den Schleier und das Diadem abnehmend: 


das iſt eure Mutter, ſeht! 
Und ſo iſts mit all den Wundern, 
die ihr anfangs nicht verſteht. 


All das Schoͤne auf der Erde, 
das ihr einzuſehn begehrt, 

wird von Vater oder Mutter, 
wenn es zeit iſt, euch erklaͤrt. 


Auch die Englein, Mond und Sterne, 
und das liebe Jeſuskind, 

und der gute Gott im Himmel, 

und was ſonſt fuͤr Maͤrchen ſind. 


a a. 


Denn das alles, Kinder, alles, 
was die Erde ſchoͤner macht, 
iſt von lieben, guten, klugen 
Menſchen langſam ausgedacht. 


Iſt drum aber nicht gelogen; 
nein, was Haupt und Herz verklaͤrt, 
Abglanz iſt es einer wahren 
Zauberkraft, die ewig waͤhrt, 


die von Stern zu Stern geheime 
Lichtbefehle traumhaft ſchickt 

und euch weihnachtshell begeiſtert, 
wenn ihr glaͤubig aufwaͤrts blickt. 


Nachdem er ſeine Kinder der Reihe nach auf die Stirn gekuͤßt hat: 


So, nun ſpielt und freut euch ſehr! 
Übers Jahr erzähl ich mehr. 


Vom Klavier ertoͤnt aufs neue die Chorweiſe „Tochter Zion, freue dich!“ 


339 


a et 2 


Das Dichterſpiel 


Jedes Jahr am Sylveſterabend machte die kleine Urſula bei 
Tante Li und Onkel Ri Befuch, und dies mal hatte fie ihren Vetter 
Heinz Peter und ſeinen Freund Heinz Lux mitgebracht, die 
beide ſchon etwas groͤßer waren. Es ſollte das Dichterſpiel 
geſpielt werden; und die Urſel, die nun bald dreizehn Jahre 
alt wurde, war ganz aufgeregt vor Spannung, ob ſie wohl auch 
einen Preis kriegen koͤnnte, oder ob ihr die großen Bengels, 
die immer alles beſſer wußten, wieder eine lange Naſe drehn 
wuͤrden. 

„Zu dem Dichterfpiel”, erklaͤrte der Onkel Ri, „gehört nichts 
weiter, meine Herrſchaften, als die noͤtige Menge Papier und 
Bleiſtifte, ein bißchen Zeit und ein bißchen Grips. Jeder von 
uns ſagt zwei Hauptwoͤrter, und die ſchreiben wir alle auf. 
Dann muß jeder um dieſe Woͤrter herum eine kurze Geſchichte 
dichten und natuͤrlich auch aufſchreiben, innerhalb einer be⸗ 
ſtimmten Friſt. Da wir fuͤnf Dichter ſind, kommen zehn Woͤrter 
ins Spiel; ſetzen wir alſo zehn Minuten Friſt! Nachher lieſt 
jeder ſeine Geſchichte vor, und wir ſtimmen ab, wer die beſte 
erſonnen hat; der darf ſich als Preis ein Licht vom Weihnachts⸗ 
baum holen. Wer den Abend uͤber die meiſten Lichter gewinnt, 
der iſt Sieger und krigt den Sternpreis, wenn der Weihnachts⸗ 
baum gepluͤndert wird.“ 

Der Sternpreis, das war ein Stern mit fünf Zacken, der 
in jedem Jahr auf der Baumſpitze ſtak; und an den Zacken hing 
immer allerlei Suͤßes, wie die Urſel aus Erfahrung wußte. 
Ach, ob ſie wohl heute ſiegen wuͤrde? Waͤre ſie blos nicht ſo 
dumm geweſen, die zwei Bengels mitzubringen, ſtatt wieder 
ein paar Freundinnen. Grips genug hatte ſie ſelbſtverſtaͤndlich, 
aber an Fixigkeit waren die Buben ihr uͤber. Was fuͤr aus⸗ 
gefallene Woͤrter ſie gleich bei der erſten Aufgabe nahmen! 
Krauskopf, Bewußtſein, Element, Sportkoſtum. 


340 


b % Dann ſagten die Tante und der Onkel: Ufer, Bruͤcke, Jagd, 


Pfeil. Und zuletzt die Urſel: Spitze, Stern. Und o weh: 


als die zehn Minuten vorbei waren, hatte ſie richtig ihre Ge⸗ 
ſchichte hoͤchſtens erſt dreiviertel fertig. Aber ein Troſt war es 
wenigſtens, daß nach der Abſtimmung keiner der Heinze das 


% erſte Licht vom Baum holen durfte, fondern einſtimmig ges 


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wann Tante Li. Ihre Geſchichte lautete: 

Ich ſtand einmal vor einer Bruͤcke. Über dieſe Bruͤcke jagte 
auf einem Rappen eine junge Negerin, umflattert von einem 
weiten buntwollenen Mantel. Hoch in der rechten Hand, über 
ihrem Krauskopf, hielt ſie einen langen Pfeil. Ihr ganzer Koͤr⸗ 

per war Aufgeregtheit. Sie trieb ihren Gaul zu raſender Hetz⸗ 
jagd an, und als fie die Bruͤcke hinter ſich hatte, ſtuͤrmte fie 
den Fluß entlang und ließ endlich ihren Pfeil in den Ufer⸗ 
ſand ſauſen. Sie hob ihn auf, und wieder gings wie ein ent⸗ 
feſſeltes Element über die Bruͤcke zuruͤck, dann jenſeits ein Stüd 
das Ufer entlang, und als Ende der Jagd: der Pfeil in den 
Sand. Es war in dieſem verbohrten Treiben eine ſo ſchrecklich 
ſinnloſe Wildheit, daß ich immer noch ſtand, als ſie noch einmal 
über die Bruͤcke heruͤberkam und wie beim erſten Mal umkehrte 
und abermals zuruͤckſtürmte. Da, als fie grad auf der Mitte 
der Bruͤcke war, geht mit ruhigen Schritten eine Dame ihr 
nach, ebenſo jung, aber weißhaͤutig, mit maisgoldnem Haar, 
ſehr hoch und ſchlank, gekleidet in ein ſchlichtes, ſchwarzes, eng 
anliegendes Sportkoſtuͤm. Sie trug auch einen langen Pfeil 
in der Hand, aber ganz leicht und unauffaͤllig. Als ſie dort 
angekommen war, wo vor ihr her die Wilde jagte, hielt ſie an, 
zielte einen einzigen Augenblick, aber mit aͤußerſtem Bewußtſein, 
ſchleuderte ihren Pfeil, und dieſer flog, ſcharf uͤber dem Kopf 
der Wilden hin, ſchneller als deren Pfeil, erſt gradaus, dann im 
Bogen uͤber die Bruͤckenecke, aber nicht in den Sand des 
Ufers, ſondern ihr Ziel war ein fünfsadiger Stern, der auf der 
Spitze eines Bootmaſtes ſtak. 


341 


Die Urſel war ganz blaß geworden und ſtrich ſich ihr Klon; 
des Haar aus der Stirn; ſie hatte gemerkt, worauf die Tante 
anſpielte, und nahm ſich vor, bei der naͤchſten Aufgabe vielviel 
ruhiger nachzudenken. Aber ſie wurde doch wieder nicht fertig, 
und das zweite Licht gewann der Heinz Lux. Diesmal hießen die 
Hauptwoͤrter: China, Bahnhofsuhr, Teppich, Karaffe, 
Kachel, Gardine, Elefant, Neptun, Schlafzimmer, 
Buͤffett — und dazu hatte der freche Lux folgende Geſchichte 
erfunden: 

Im Kaiſerreich China befindet ſich eine ſeltſame Bahnhofs⸗ 
uhr. Sobald ſie zwoͤlf zu ſchlagen anfaͤngt, ſpringt aus dem 
Zifferblatt eine flache Kachel, gemuſtert wie ein perfifcher 
Teppich, und darauf ſteht ein weißer Porzellan⸗Elefant. Wenn 
du dich auf den Elefanten ſetzt, traͤgt er dich ſo ſchnell im 
Kreiſe um die große Uhr herum, daß du die Beſinnung zu ver⸗ 
lieren glaubſt; bis er auf einmal ſtehen bleibt und dich in einer 
Meergrotte abſetzt. Nach dem erſten Erſtaunen erkennſt du, 
daß du im Schlafzimmer Neptuns biſt, des Gottes der Er⸗ 
trunkenen — und der Betrunkenen. Denn wenn du die Gar⸗ 
dine zuruͤckſchlaͤgſt, ſtehſt du einem unuͤberſehbaren Buffett ge⸗ 
genuͤber, in dem Karaffe neben Karaffe glaͤnzt, und jede Karaffe 
enthaͤlt einen Likoͤr, worin der tolle Gott die Traͤume jeder er⸗ 
trunkenen Seele aufbewahrt. Davon mußt du natürlich mal 
koſten; und in dem Augenblick, wo du den erſten Tropfen 
ſchmeckſt, kommſt du wieder zur Beſinnung, und die Uhr tut 
den letzten der zwoͤlf Schlaͤge. 

Nur die Urſel hatte dagegen geſtimmt und bei dem Wort 
„Betrunkenen“ pfui gerufen; wofuͤr ihr der Peter Heinz einen 
Puff verſetzte, wofuͤr ihm der Onkel Ri das Punſchglas entzog. 
„Jetzt wollen wir aber,“ fuhr der Onkel fort, der bis dahin 
auch noch nichts fertig gebracht hatte oder vielleicht auch blos ſo 
tat, „die Sache ein bißchen ſchwerer machen. Jedes der aufge⸗ 
gebenen Woͤrter darf nur Einmal gebraucht werden; dafuͤr 


342 


3 
5 
5 
* 
4 
& 
x 
* 


darf aber jeder drei Woͤrter aufgeben, und die Friſt dauert 
fünfzehn Minuten.“ Dabei plinkte er der Urſel zu, ſodaß fie 
guten Mut faßte. Es kamen folgende Woͤrter ins Spiel: 
Schehreſade, Karamelle, Zitadelle, Abenteurer, Pro— 
phet, Gazelle, Winternacht, Sommer mittag, Para; 
dies, Wuͤſtenſand, Palaſt, Feuer, Braut, Lied, Quelle 
— aber die Urſel wurde wieder nicht fertig. Doch diesmal 
machte ſie ſich nichts draus, denn Onkel Ri hatte jetzt in Verſen 
gedichtet, da konnte natuͤrlich kein Andrer ſiegen; und wenn der 
Onkel oder die Tante den Sternpreis bekaͤmen, dann wuͤrden ſie 
ihn nachher doch ihr ſchenken. Nun las er vor: „Morgenlaͤndiſches 
Preislied“ — und indem er die Tante ſonderbar anſah, ſchob er 
erſt noch die Bemerkung ein, daß ihm am heutigen Abend ein 
Hymnus auf die orientaliſche Phantaſie ſehr angebracht ſcheine, 
weil ja das Weihnachtsfeſt und die Neujahrsfeier aus dem 
Morgenland zu uns gekommen ſeien. Hierauf deklamierte er: 


O Schehreſade, Fee der Nacht, 
in der die Wunderſchelle klingt, 
o Fee, welch Lied iſt hold genug, 
die hohe Wonne anzuſtimmen, 
die uns zu deiner Schwelle zwingt — 


ſo hold, wie durch den Palmenhain 
im Fruͤhling die Gazelle ſpringt, 
fo hold, wie aus dem Wuͤſtenſand 
am duͤrren Sommermittag ploͤtzlich 
durchs Dorngeſtruͤpp die Quelle dringt — 


ſo hold, wie durch die Winternacht 
die Glut der Feuerſtelle ſingt, 
wenn unterm dichtverhaͤngten Zelt 
dem heimgekehrten Abenteurer 
die Braut die Lagerfelle bringt — 


343 


fo hold, wie der Prophet den Mond 
auf Allahs Zitadelle ſchwingt 

und dann beim goldnen Sternetanz 

feucht aus dem Mund der ſchoͤnſten Huri 
die Honigkaramelle ſchlingt — 


ſo, Fee der tauſendzweiten Nacht, 

die uns zu Deiner Schwelle zwingt, 
ſo haͤlt uns dein Palaſt im Bann, 
bis deinen bunten Zauberteppich 

die roſige Morgenhelle ſchminkt — 


bis uns das ganze Firmament 
wie eine Wunderſchelle klingt, 

bei deren Ton das Paradies 

ſamt allen Wonnen dieſer Erde 
in jede aͤrmſte Zelle ſinkt! — 


Aber der Onkel bekam den Preis nicht. Tante Li erklaͤrte 
mit ſtrenger Miene das Gedicht fuͤr „unverſtaͤndlich“; und die 
Urſel merkte, wie ſich die beiden Heinze unterm Tiſch mit den 
Beinen anſtießen, und daß der Lux dem Peter was ins Ohr 
flüfterte, worin das Wort „unanſtaͤndig“ vorkam. Da fuhr 
ſie aber entruͤſtet dazwiſchen: „Was! Ihr? Erſt vorgeſtern 
hab ich euch alle beide an meinem Bonbon mitlutſchen laſſen, 
und das hat euch ſehr nach mehr geſchmeckt! Und uͤberhaupt 
ſind die Gedichte von Onkel Ri genau ſo verſtaͤndlich, wie die 
von Onkel Goethe und Schiller! Und Tauſendundeine Nacht 
hab ich auch geleſen!“ Die Heinze waren krebsrot geworden, 
und der Peter brummelte: „dummes Joͤhr!“ Aber die Tante 
legte ihm die Hand auf den Mund, und mit der andern Hand 
fuhr ſie der Urſel liebkoſend uͤber die heißen Backen. Dann 
ſagte ſie zu Onkel Ri, der ſtill in ſein Punſchglas hineinlachte: 
„Es iſt aber gegen die Spielregel, daß du uns hier mit Verſen 


344 


den Kopf verdrehfts alſo hat diesmal keiner gewonnen. Von 
jetzt an wird wieder blos zehn Minuten gedichtet, und in ebenſo 


g einfacher Sprache, wie Schehreſade gedichtet hat. Ich glaube, 
das Einfache iſt das Schwerſte; andre Schwierigkeiten ſind 


uͤberfluͤſſig. Wers am einfachſten kann, krigt das naͤchſte Licht.“ 
Die zehn Hauptwoͤrter lauteten nun: Trauerweide, Vogel, 
Rock, Huͤtte, Arbeit, Spieldoſe, Kinderjubel, Pfauen⸗ 
auge, Prinz, Bettler. Und wirklich: die Urſel wurde zur 
rechten Zeit fertig, ſogar ſchon eine Minute zu fruͤh, waͤhrend On⸗ 


N kel Ri mit gerunzelter Stirn noch allerhand verbeſſerte und 
die beiden Buben noch lauter Unſinn klierten. O, wie ſie die 


Bengels verachtete! beſonders aber den frechen Heinz Lux! 
Freilich, das Licht gewann ſie drum doch nicht. Sondern, wie 
ſie ſichs ſchon gedacht hatte, da der Onkel ſich ſolche Muͤhe gab: 


die Tante holte ihm ſelbſt das Licht, er hatte eine richtige Fabel 


gedichtet: 

Neben einer Huͤtte ſtand eine Trauerweide; darunter ſaß 
ein alter Mann und flickte ſeinen zerlumpten Rock. Da flog ein 
Pfauenauge voruͤber, ohne daß der Mann es bemerkte; und 
aus der Krone des Baumes kam ein Vogel und verfolgte den 


3 Schmetterling. Zugleich begann im Innern der Hüfte eine 


. 
n 


Spieldoſe zu klingen, fo entzuͤckend wie ferner Kinderjubel, ſo⸗ 
daß der Mann von ſeiner Arbeit aufſah, und da verſchlang der 
Vogel den Schmetterling. Der Mann aber, der das mitanſah, 
dachte: Weil ich ein alter Bettler bin, moͤchte ich ſterben wie 
dieſes Pfauenauge; wenn ich ein junger Prinz waͤre, wollte ich 
leben wie dieſer Vogel. 

Die naͤchſte Aufgabe hoͤrte ſich luſtiger an. Sie beſtand aus 
den Wörtern: Löwe, Strohwiſch, Strumpfband, Tür, 
Bart, Igel, Hampel mann, Tintenwiſcher, Badehoſe, 


Kaͤſeſtulle. Da machte die Urſel ſich wenig Hoffnung; da wuͤrde 


gewiß der ulkige Peter gewinnen. Er kam auch gleich als erſter 


ziuum Vorleſen dran, und feine Geſchichte war wirklich gelungen: 


345 


Einſt ſchlief ich am MeihnachtssHelligabend über meinen 
Spielſachen ein. Nach etlicher Zeit erwachte ich und ſah das 
Zimmer in ſehr veraͤndertem Licht. Die Waͤnde waren blutrot 
tapeziert, und durch den Fußboden floß ein blanker, durch und 
durch himmelblauer Fluß, an dem lauter knallgruͤne Baͤume 
ſtanden, einer genau wie der andere. Auf einmal oͤffnete ſich 
die Tuͤr, und mein alter Hampelmann trat mir entgegen, in 
einer nagelneuen Uniform, und hinter ihm her ein ganz Regi⸗ 
ment Soldaten. Die Soldaten waren aber nicht etwa Blei⸗ 
ſoldaten, ſondern Igel in Kuͤraſſier⸗Uniform, die auf gepanzer⸗ 
ten Loͤwen ritten. Es ſollte großes Manoͤber fein; darum hatte 
ſich jeder Igel an ſeiner Waffe einen Tintenwiſcher oder auch 
Strohwiſch angebracht, um nur ja niemand zu verletzen. Jeder 
Löwe hatte außer dem Panzer noch eine Badehoſe an, von der 
ein Strumpfband als Ordensband herabhing. Nun gab der 
Hampelmann ein Zeichen, und die Soldaten ſtellten ſich zu 
beiden Seiten des Fluſſes auf, ſchlugen ſich und ſchoſſen ſich und 
machten koloſſal viel Muſik dazu. Bald darauf war Fruͤh⸗ 
ſtuͤckspauſe, und jeder aß eine Kaͤſeſtulle. Ich hatte mich immer⸗ 
fort geaͤrgert, daß mein Hampelmann als Soldat keinen 
Schnurrbart trug. Jetzt in der Pauſe bemerkte ich plotzlich, daß 
ihm aus ſeinen Naſenloͤchern ein rieſenhafter „Es iſt erreicht“ 
wuchs. Davon krigte ich ſolchen Schreck, daß ich nun wirklich 
aus meinem Traum erwachte. 

Die beiden Heinze ſahen ſehr ſiegesbewußt aus, denn Onkel 
Ri hatte mehrmals Beifall genickt, und der Lux war natuͤrlich 
ſofort bereit, dem Peter ſeine Stimme zu geben. Aber ihre 
Geſichter veraͤnderten ſich, als jetzt die Tante ihre Geſchichte 
vorlas: 

Mitten in der Nacht, denkt mal, erſcheint neulich bei ver⸗ 
ſchloſſener Tuͤr ein Hampelmann vor meinem Bett. Kinder, 
Kinder, wie ſah der aus! Ein gruͤner Bart — denkt nur: ein 
gruͤner Bart — hing ihm von den Augenwimpern bis auf fein 


346 


gelbes Strumpfband herab, das er aber nicht ums Bein, 
ſondern um den Hals trug. Von feiner übrigen Kleidung läßt 
ſich wenig erzählen, denn er hatte nichts weiter an als eine 
weiße Badehoſe. Und auf was kam das Maͤnnlein dahergeritten? 
Ihr denkt auf einem Strohwiſch? Falſch. Ihr denkt auf einem 
Igel? Noch falſcher. Auf einem Löwen kam er daher! Aber 
der Löwe war fo fanft, als Hätte er niemals Menſchen und Tiere 
gefreſſen, ſondern als waͤre er mit Kaͤſeſtullen großgefuͤttert 
worden. So glich denn auch fein Haarſchmuck mehr einem 
Tintenwiſcher, als einer koͤniglichen Maͤhne. Aber jetzt öffnete 
er ſeinen Rachen; ſogleich riß der Hampelmann auch ſeinen Mund 
auf, beide rollten wie raſend die Augen, ſie verknaͤulten ſich in⸗ 
einander, und ich wuͤßte meiner Treu nicht zu ſagen, ob der 
Löwe den Hampelmann oder der Hampelmann den Löwen ver⸗ 
ſchlungen hat, denn ſchon im naͤchſten Augenblick war von 
Beiden keine Spur mehr uͤbrig. 

Heinz Peter erklaͤrte ritterlich, dagegen ſei feine Geſchichte 
ein Quark; und nun ſtimmte der Lux auch fuͤr Tante Li. Aber 
da ſagte Onkel Ri, indem er laͤchelnd ſein eignes Blatt zer⸗ 
riß: „Aber Peters Geſchichte iſt einfacher!“ Worauf die Tante 
ebenſo laͤchelte und ihre Stimme dem Peter gab. Alſo ſtand die 
Entſcheidung bei der Urſel, und ſie ging ſchon mit ſich zu Rate, 
ob ſie wirklich großmuͤtig ſein und als dritte fuͤr ihn ſtimmen 
ſollte, als er plotzlich großſpurig auftrumpfte, er wolle nicht 
aus Gnade gewinnen. Worauf der Onkel ihm erſt die Schulter 
klopfte und ihm dann das Punſchglas gefuͤllt zuruͤckgab. „Da 
alſo“, fuͤgte der Onkel hinzu, „wieder keiner gewonnen hat, 
wollen wirs jetzt noch einfacher machen, d. h. ſo ſchwer wie 
irgend möglich. Außer den aufgegebenen Wörtern darf kein an⸗ 
deres Hauptwort benutzt werden; jedes aufgegebene Wort 
darf nur einmal verwendet werden und nur in der vorge⸗ 
ſchriebenen Reihenfolge. Je knapper die Saͤtze ſind, deſto 
beſſer.“ 


347 


Die Urſel war nahe daran, zu weinen; der Onkel Ri hatte 
ſicher gemerkt, daß fie den Bengels den Sternpreis nicht goͤnnte, 
darum ſtellte er ſo verſchmitzte Spielregeln auf, die ihr den Kopf 
ganz wirblig machten. Und noch dazu wurden auch diesmal 


wieder lauter Ulkwoͤrter vorgeſchlagen; ſogar ſie ſelber nannte 


ſolche, ſie wußte garnicht wieſo eigentlich. Die zehn Woͤrter 
ſtanden in folgender Reihe: Elefantenkuͤken, Ballettdame, 
Aquavit, Hundekuchen, Stricknadel, Menſchenfeind, 
Roſenkranz, Pfropfenzieher, Monokel, Kiſte. Da konnte 
doch wirklich kein artiges Maͤdchen, das eine richtige Dame werden 
wollte, einen vernuͤnftigen Sinn hineinbringen. Trotzdem brachte 
ſie zu ihrem Erſtaunen eine ganz huͤbſche Schnurre zuſtande, worin 
das Elefantenkuͤken, die Ballettdame und der Menſchenfeind 
mit all den andern Dummheiten in eine große Kiſte gepackt 
und ſo lange geſchuͤttelt wurden, bis der Menſchenfeind ſich zu 
beſſern verſprach. Sowohl der Onkel wie die Tante waren ſehr 
zufrieden damit; blos das Wort Menſchenfeind hatte ſie zwei⸗ 
mal gebraucht. Und das Licht gewann doch der Peter Heinz, er 
trug im Leutnantston Folgendes vor: > 

Ah, wiſſen ſchon? Elefantenkuͤken. Ah: verliebt in Ballett 
dame. Sie abjeſchnappt, er ſich in Aquavit beſoffen und Hunde⸗ 
kuchen dazu jefreſſen; aͤh, mit Stricknadeln notabene, janz ver; 
ruͤckt. Menſchenfeind dabei jemimt; aͤh, Roſenkranz jebetet, 
Pfropfenzieher jeſchluckt, Monokel injeklemmt, krepiert. Dolle 
Kiſte. 

Da mußten ſie alle ſo kreuzvergnuͤgt lachen, daß er ein⸗ 
ſtimmig das vierte Licht bekam. „Und nun,“ ſprach der Onkel 
Ri mit erhobenem Zeigefinger, „nachdem wir nun zur Genuͤge 
gelernt haben, worauf es bei dem Dichterſpiel ankommt, darf 
ſichs jeder wieder ſo leicht machen, wie ihm der Schnabel ge⸗ 
wachſen iſt, nur muß es nachher auch allen Andern ebenſo 
leicht in den Schnabel paſſen; das naͤmlich iſt das Allerſchwerſte. 
Und deshalb darf ſich diesmal jeder zwanzig Minuten Zeit 


348 


laſſen.“ Ader das ließ die Urſel nicht gelten; was follte denn 
der Lux von ihr denken! „Hoͤchſtens fünfzehn Minuten,“ rief 
ſie beharrlich; denn ſie wußte ſehr wohl, daß Onkel Ri blos ihret⸗ 


wegen zwanzig vorſchlug, und daß die Buben ſie beim Nach⸗ 


hauſeweg immerfort damit foppen würden. Und dann nahm 


ſie ſich ſo maͤchtig zuſammen, daß ſie garnicht mehr an den 


Sternpreis dachte und ſchon nach neuneinhalb Minuten als 
aallererſte fertig wurde. Die aufgegebenen Woͤrter hießen: 


Buͤcherſchrank, Drehorgel, Roaſtbeef, Schnapsflaſche, 


Radieschen, Blauſchwänzchen, Kirchturm, Gemuͤſe⸗ 


wagen, Puppentheater, Glasfabrikation. Und ſiehe 


da: das fuͤnfte Licht wurde auf Antrag der beiden Heinze ein⸗ 
ſtimmig der Urſel zugeſprochen. Ihre Geſchichte lautete: 

Ein Blauſchwaͤnzchen hatte Freundſchaft mit einem Ra⸗ 
dieschen geſchloſſen. Sie waren aber beide ſehr arm, und das 
Blauſchwaͤnzchen litt manchmal großen Hunger. Das Ra⸗ 
dieschen, deſſen Kuſinen oͤfters auf dem Gemuͤſewagen zur 


Stadt gefahren waren, ſagte zu dem Blauſchwaͤnzchen: Fliege 


n 


doch auch mal in die Stadt, da gibt es Roaſtbeef und Leipziger 
Allerlei. Aber das Roaſtbeef war zu grob fuͤr das Blau⸗ 
ſchwaͤnzchen, und das Leipziger Allerlei war verſalzen. Da 
wollte es ſich bei einem Puppentheater als Singvoͤgelchen an⸗ 
ſtellen laſſen; aber es kam nur ein Mann mit einer Schnaps⸗ 
flaſche, und eine Drehorgel wurde geſpielt, und auf der Buͤhne 
ſtand ein Buͤcherſchrank, aber zu effen gab es nichts. Der Mann 


war der Theaterdirektor und ſagte zu dem Blauſchwaͤnzchen: 


Ich rate dir die Glasfabrikation zu erlernen, dabei kann man 
viel Geld verdienen und ſich die feinſten Sachen kaufen. Aber 
die Glasfabrikation war fuͤr das Blauſchwaͤnzchen eine viel zu 
heiße Arbeit. Da flog es auf den Kirchturm hinauf und ſah 
ſich nach allen Seiten um und flog wieder zuruͤck aufs Feld; und 
weil es noch immer hungrig war, fraß es das kleine Radieschen 


auf. Als es aber damit fertig war, fiel dem Blauſchwaͤnzchen 


349 


ploͤtzlich ein, daß das Radieschen fein Freundchen gewefer war; 
und nun graͤmte es ſich ſo ſehr, daß es wie unſinnig hin und 
her flog und ſich endlich zu Tode flog. Dicht bei dem Kirchturm 
in der Stadt iſt es aus der Luft heruntergefallen. 

Die Urſel konnte es garnicht faſſen, daß die Andern die 
Geſchichte ſo lobten. Und kaum hatte der Heinz Lux ihr das 
Licht geholt, als die Uhr Mitternacht zu ſchlagen anfing, und 
draußen auf der Straße wurde „Proſt Neujahr“ gerufen. Nun 
ſtießen ſie alle mit den Punſchglaͤſern an, und da fiel der Urſel 
der Sternpreis wieder ein, denn nun wurde ja gleich der Weih⸗ 
nachtsbaum gepluͤndert. Merkwuͤrdig, daß ihr jetzt auf einmal 
garnichts mehr an dem Leckerkram lag; es war doch eigentlich 
das Schoͤnſte, daß ſchließlich jeder geſiegt hatte. Aber da ſprach 
der Onkel Ri: „Jeder von uns, meine Herrſchaften, hat heute 
Abend ein Licht gewonnen, aber die Urſula iſt die Juͤngſte und 
weiß noch am wenigſten von der Welt; alſo hat ſie am meiſten 
aus ſich ſelbſt erſonnen, und deshalb gebuͤhrt der Sternpreis ihr.“ 

Und als nun die Heinze ganz ehrlich Beifall klatſchten, da 
ſtieg ihr die Gluͤckſeligkeit ſo ſiedend heiß in die Augen hoch, 
daß ſie der Tante Li um den Hals fiel, damit die Andern das 
Traͤnchen nicht ſehen ſollten. Und fie nahm ſich vor, die leder; 
ſten Zacken beim Nachhauſeweg den Buben zu geben, beſonders 
aber dem frechen Heinz Lux, den fie doch eigentlich garnicht lei⸗ 
den konnte. 


Der Allerſeelenſpiegel 
Eine Traumgeſchichte 


Es fing ſchon an dunkel zu werden, und Liſelotte ſaß noch 
immer ganz alleine in dem großen Hauſe, in dem es ſo ſchaurig 
nach Eſſig roch und weißen Blumen. Denn vorgeſtern Nacht 
war der Großvater geſtorben, und jetzt waren Alle hinaus nach 
dem Friedhof, um ihn begraben zu helfen; darum ſaß ſie allein. 


350 


Sie fuͤrchtete ſich aber garnicht. Denn fie war ſchon faft 
ſieben Jahre alt, und Großvater hatte immer geſagt: wer ſich 
fürchtet, der kommt nicht in' n Himmel. 

Blos hungern tat ſie ein bißchen. Aber von Tante Agathens 

Topfkuchen, der in der dunklen Stube ſtand, mochte ſie lieber 
nichts nehmen heute: weil alles ſo ſehr nach Eſſig roch. Alſo ſah 
ſie zum Fenſter hinaus. 
i Sie traute ſich aber nicht aufzumachen: weil ſonſt auch 
deer ſchoͤne Blumengeruch mit wegging. Darum legte ſie nur 
das Kinn auf das Fenſterbrett, und ſah hinunter uͤber den Fluß, 
und druͤben den ſchwarzen Bergwald hinauf, wo oben der 
runde Mond ſchon glaͤnzte, ganz ſtill wie ein Spiegel. 

Wenn der nun auf einmal herunterrollte! den hohen Berg 
und ins Waſſer. Denn Großvater hatte immer geſagt, es 
ſei gar kein Spiegel; es ſei eine ſchwere ſteinerne Kugel, viel 
ſchwerer als ein Zentner. 

Die wuͤrde dann alſo alles totſchlagen: die Baͤume, die 
Schiffe und die Haͤuſer, und Großvaters Lehnſtuhl, in dem ſie 
ſaß. Und Liſelotte machte die Augen zu: weil ſie ſich doch nicht 
fuͤrchten wollte. 

Denn er konnte ja garnicht herunterrollen. Er war ja feſt⸗ 
gebunden an den Himmel, vom lieben Gott, mit unſichtbaren 
Ketten. 

Wenn er nun aber doch herunterrollte? — Da faltete ſie 


die Haͤnde zuſammen, und machte die Augen noch feſter zu, 


und betete heimlich ein Lied, das Großvater ihr gedichtet 
hatte: 


Ich heiße Liſelotte, 

ich will zum lieben Gotte. 

Ach, Mondchen, leuchte mir empor 
und öffne mir das Himmelstor, 
ich bin ſo ſehr alleine! 


351 


Ich will dir auch was ſchenken: 
lila Bulabenken. 

Die wachſen hinter Wundertal 
alle hundert Jahre mal; 

ſuch, dann ſind ſie deine! 


Und als fie das gebetet hatte, kam ihr der Mond auf ein 
mal ſo wunderlich vor, daß ſie die Augen garnicht mehr auf⸗ 
machen mochte, wie im Traum. Ganz hell und offen ſtand 
der goldne Kreis da oben, daß man nur einfach hineinzugehn 
brauchte, dann war man im Himmel. 

Blos großen Hunger mußte er auch wohl haben; noch 
groͤßeren als ſie ſelber. Denn ſolchen großen dunkeln Mund, 
wie er in ſeinem blanken Geſicht jetzt machte, hatte ſie nie im 
Leben geſehen. 

Aber von Tante Agathens Topfkuchen konnte ſie ihm doch 
wirklich nichts bringen; da waren ja nicht einmal Mandeln 
drin. Alſo nahm ſie ihr neues Handkoͤrbchen mit, das ſilberne, 
und ging durch den Garten die Gaſſe hinunter, wo der Kon⸗ 
ditor Friedrich Zerwes wohnte, und kaufte zwei Stuͤckchen 
friſche Nußtorte; davon wollte ſie ihm eins abgeben. 

Als ſie nun immer weiter wanderte, uͤber die Bruͤcke den 
Berg hinauf, kam ſie auch an dem Friedhof vorbei, in dem der 
Großvater begraben lag; dicht neben Mutterchen, hatte Vater 
geſagt. Und auch ihr Schweſterchen Liſelore lag da; das hatte ſie 
aber nicht mehr gekannt. Und als ſie durch das dunkle Gitter⸗ 
tor ſah, da brannten lauter Lichter auf all den Graͤbern, und 
weiße Blumen bluͤhten dazwiſchen, denn es war Allerſeelentag. 

Da wollte ſie ſchnell noch erſt nachſehen, ob Großvaters 
Seele wirklich noch lebte; denn neulich hatte er ihr erzaͤhlt, 
daß man die Seele nicht mitbegraben koͤnne. Aber da ſuchten 
ſchon ſo viel fremde Leute nach Seelen, daß ſie ſich zwiſchen 
den tauſend Lichtern verirrte; und als ſie endlich muͤde beiſeite 


352 


ging, da war auch der Mond oben weggegangen, und Keiner 
kuͤmmerte ſich um fie. 

So ſtand ſie traurig mit ihrem Koͤrbchen im Dunkeln, da 
wo die Graͤber der Armenkinder ſind, und wollte faſt ſchon zu 
weinen anfangen, ſo ſehr alleine war ihr zumute. 

Auf einmal regte ſich etwas hinter ihr, und als ſie erſchrak 
und ſich umdrehte, kam zwiſchen den Graͤbern ein kleines Maͤd⸗ 
chen auf ſie zu, mit einem geflickten Roͤckchen an und einer lila 
Schürze darüber. Das hatte ſolche goldigen Augen, daß Liſe⸗ 
lotte im ſtillen dachte: noch ſchoͤner als mein ſilbernes Koͤrbchen. 

Das arme Maͤdchen aber ſprach leiſe: ich habe nichts weiter 
fuͤr mein Schweſterchen — und dabei holte es unter der Schuͤrze 
einen kleinen kreisrunden Spiegel hervor und ſtellte ihn auf 
ein kahles Grab. 

Da wollte doch Liſelotte fie troͤſten, und ſtreichelte freundlich 
den kleinen Huͤgel und kniete wie ſie vor dem Spiegelchen nie⸗ 
der. Als ſie nun aber hineinblickte ſo: ſiehe, da waren die 
tauſend Lichter des ganzen Friedhofs darin zu ſehen, und alle 
die weißen Blumen dazwiſchen, daß ihr das Koͤrbchen faſt hin⸗ 
fiel vor Staunen, und war Ein Glanz und Eine Herrlichkeit. 

Das arme Maͤdchen aber laͤchelte nur und nickte Liſelotten 
ſtill zu; und ganz gluͤckſelig zeigten ſich beide, wie reich nun das 
Grab des Schweſterchens war, viel reicher als irgend ein an⸗ 
deres. 

Und manchmal kamen auch fremde Leute vorbei; die merk⸗ 
ten, wie ſehr ſie ſich freuten zuſammen, und wollten nun ſehen, 
warum und wieſo, und buͤckten ſich neugierig uͤber das Huͤgel⸗ 
chen. 

Aber mit ihren dicken Koͤpfen, ſobald ſie dem Spiegel zu 
nahe kamen, ſahen fie nichts als ihr eignes Geſicht, als ob fie 
ſelbſt da im Grabe fäßen, bis an den Hals. Da krigten fie 
Furcht vor dem armen Maͤdchen, und alle liefen raſch wieder 
weg. 


11. 23 353 


Blos Liſelotte, die niemals fich fuͤrchtete, blieb wie im Him⸗ 
mel neben ihr ſitzen, und ſtrich ihr das Roͤckchen glatt und ſagte: 
Wie wird ſich nun aber dein Schweſterchen freuen, daß alle 
Seelen vom ganzen Friedhof in ihrem Spiegel beiſammen 
find! Mein Großvater iſt auch darunter! und Mutterchen! 

Dann machte ſie heimlich ihr ſilbernes Koͤrbchen auf und 
wollte die Nußtorte mit ihr teilen, und dabei fragte ſie: Wie 
heißt du denn? 

Da laͤchelte wieder das arme Maͤdchen, und blickte noch 
goldiger vor ſich hin, und ſagte leiſe, als ob ſie traͤumte: 


Ich heiße Liſelore. 

Ich komm vom Himmelstore. 

Ich ſah mein Schweſterchen hier ſtehn, 
es wollte in den Mond hingehn, 

es ſtand ſo ſehr alleine. 


Es wollt dem Mond was ſchenken: 
lila Bulabenken. 

Komm, Schweſterchen, nach Wundertal 
in den Allerſeelenſaal: 

ſieh, nun ſind ſie deine! 


Und waͤhrend ſie das ſagte, war ſie aufgeſtanden, und 
hatte ihr lila Schuͤrzchen abgebunden, und ſchwenkte es hoch 
im Kreiſe mit beiden Händen über ſich. Und plotzlich war fie 
gar kein kleines Maͤdchen mehr, ſondern eine große lila Blume; 
die neigte ſich tief zu Liſelotte hernieder und nahm ſie mit den 
Blaͤttern zu ſich hoch und ſetzte ſie ſanft in ihren Bluͤten⸗ 
ſchooß. 

Und als nun Liſelotte nach dem Spiegelchen ſah, da wurde 
es groͤßer und immer groͤßer, viel groͤßer als der Mond vorhin, 
und ſtand weit offen wie ein goldener Saal, und drinnen be⸗ 


354 


wegten fich leuchtende Säulen; die waren durchſichtig wie Lichter 
im Waſſer, viel tauſend tauſend und immer mehr, als ob ſie 
mit einander tanzten. Und ploͤtzlich ſchrie ſie laut auf vor Schreck 
und mußte weinen vor Seligkeit; denn ganz weit hinten kam auch 
ihr Mutterchen her und leuchtete heller als alle die andern. 

Und als ſie die Augen noch weiter aufmachte, ſtand Vater 
im Mondſchein neben Großvaters Lehnſtuhl, und Tante 
Agathe wiſchte die Traͤnchen vom Fenſterbrett, und Alle lobten 
die kleine Liſelotte, wie ſchoͤn allein ſie zuhauſe geblieben war, 
und daß ſie ſich garnicht gefuͤrchtet hatte. 


Kleinkindergeſchichten 


1) Tippel und Tappel 


Iſt euch ſchon einmal langweilig zumute geweſen? Dann 
paßt mal auf, wie luſtig man mit ſich ſelber ſpielen und ſich 
die Zeit vertreiben kann! 

Auf dem Dachsfell vor Großvaters Schlafſtube ſaß der 
kleine Peter, und hatte ſeine Schuhchen ausgezogen, und beſah 
ſich ſeine dicken, drallen, roſablanken Beinchen mit den blau und 
rot geſtreiften Socken dran. Auf einmal aber waren es gar 
keine Beinchen mehr, ſondern er legte ſich auf den Ruͤcken und 
hob ſie in die Luft, da waren es zwei große richtige Soldaten, 
und der eine hieß Tippel, der andere Tappel. 

Tippel hatte eine rote Naſenſpitze, und Tappel eine blaue; 
denn ſie waren eben erſt von draußen gekommen, und draußen 
war es furchtbar kalt. 

Nun kommandierte der kleine Peter: rruͤhrt euch, marrſch — 
ganz wie der große Herr Leutnant auf dem Exerzierplatz. Und 
da ſchwenkte erſt Tippel die rote und dann Tappel die blaue 
Naſenſpitze hin und her, und hatten wunderſchoͤne blau und rot 
geſtreifte Jacken an, und Peter kommandierte immerfort: 
rrechts ſchwenkt, llinks ſchwenkt — rechts ſchwenkt, marſch! — 


23* 355 


Oas ging fo eine ganze Weile lang; bis Tippel und Tappel 
wuͤtend wurden. Denn fie waren waͤhrenddem warm ges 
worden, und waren nun beide eigentlich muͤde, und wollten dem 
kleinen Peter nicht mehr recht gehorchen. Alſo fingen ſie an zu 
zappeln und zu ſtrampeln. 

Halt! ſchrie da ploͤtzlich der kleine Peter, ganz wie der große 
Herr Leutnant auf dem Exerzierplatz. Denn er war nun auch 
warm und wuͤtend geworden und wollte Großvaters lange 
Flinte aus der Schlafſtube holen und die beiden faulen Soldaten 
totſchießen. N 

Aber da krigten die ſolchen Schreck, daß fie bautz zuruck auf 
das Dachsfell fielen; und da waren es wieder zwei kleine dicke 
Beinchen mit blau und rot geſtreiften Socken dran. 


2) Der Sonnenſtrahl 


Ganz hoch oben uͤber den Wolken wohnte einmal ein Son⸗ 
nenſtrahl, ein richtiger Spinnefix; dem war die Zeit zu lang, und 
deshalb ging er immer mit den Wolken ſpielen. Ich ſage euch, 
ganz prachtvoll kann man damit ſpielen! Morgens ſpielte er 
Ball mit ihnen, oder Greifen, und Abends Schaukelpferd; 
und manchmal ließ er ſeine langen gelben Beine bis auf den 
Mond herunterbaumeln, oder er ſchoß kobolz, quer uͤber die 
blaue Himmelsrutſchbahn. Und wenn er einmal hinpurzelte, 
dann tat es garnicht weh; denn wißt ihr, Wolken ſind noch 
viel, viel weicher als ein Federbett. 

Eines Tages aber purzelte er nicht auf eine Wolke, ſondern 
zwiſchen zweien mittendurch, und fiel auf die Erde, in den 
Potsdamer Schloßpark; da lag er unter einer großen Kaſtanie, 
nachmittags um ſieben, ganz blaß und ſchmal, im gruͤnen 
Gras. Doch weil es ringsherum ſehr ſtill war, bekam er wie⸗ 
der Mut und fing ein luſtiges Liedchen zu ſummen an, das 
ſeine Mutter Sonne ihm eingelernt hatte: 


356 


Ich bin fo blank wie Butter, 

ich hab eine goldne Mutter, 

ich laufe ſchneller als alle Pferde, 
und manchmal fall ich auf die Erde; 
kribbel, krabbel, kringel, 

was wird nun aus dem Schlingel? 


Auf einmal kam der Baͤckermeiſter Paul Lommatſch an⸗ 
ſpaziert, der die ſchoͤnen gelben Prezeln zu backen verſteht, 
und ſah den blanken Sonnenſtrahl ſo durch den gruͤnen Schat⸗ 
ten krabbeln, und blieb ſtehen. Na! dachte der Sonnenſtrahl: 
was will denn der von mir? und machte ſich ganz klein vor 
Angſt. Der dicke Herr Lommatſch aber ſah ihn doch und 
brummelte vergnuͤgt: „Ei, was fuͤr'n ſchoͤner gelber Sonnen⸗ 
ſtrahl! Da wolln wir mal 'ne Prezel draus backen; und wenn 
ſo'n rechter braver Goldbub in meinen Laden kommt, dann 
krigt er die.“ Und grips⸗graps hob er den Sonnenſtrahl auf 
und ſteckte ihn in die Taſche. 

Nun braucht ihr aber nicht traurig zu ſein, weil einer von 
euch die Prezel vielleicht geſchenkt bekommt und den ſchoͤnen 
Sonnenſtrahl dann mit aufißt. Denn ſeht ihr, ich kenne den 
Herrn Lommatſch, und der hat mir neulich ins Ohr geſagt: 
das ſchad't dem blanken Spinnefir nir. Denn wenn ihr dann 
recht froͤhlich hinaufguckt in den blauen Himmel, dann wird 
der Sonnenſtrahl wieder lebendig und kommt aus euern hellen 
Augen herausgekrabbelt und ſpringt mit Einem Blutz auf die 
naͤchſte weiße Wolke hinauf und fliegt zuruͤck zu ſeiner goldenen 
Mutter. 


3) Die Pfauenfeder 


Jetzt will ich euch aber eine ganz, ganz wahre Geſchichte er⸗ 
zählen; die fängt auf einem Heuwagen an und hört im oberſten 
Himmel auf. f 


357 


Der Heumwagen nämlich kam von der Wieſe; und obendrauf, 
da ſaß der kleine Richard, mitten zwiſchen dem friſchen Heu, 
das ſuͤßer roch als Tee und Honigkuchen, und hatte eine gruͤne 
Sammtmuͤtze auf, mit einer herrlichen Pfauenfeder dran. 
Die hatte ſeine liebe Mutter ihm ſelbſt angenaͤht; und deshalb, 
und weil ſie gar ſo herrlich gruͤn und blau und goldbunt aus⸗ 
ſah, war ſeine Muͤtze ihm ſchrecklich lieb. 

Auf einmal, als er in dem ſuͤßen Heu ſchon beinah ein⸗ 
ſchlafen wollte, kam hui ein Wind uͤbers Feld, nahm ihm die 
Muͤtze mir nichts dir nichts aus den Locken und warf ſie auf die 
Erde. 

Der kleine Richard, der immer ſchon ein großer Wildfang 
war, bekam erſt einen maͤchtigen Schreck, dann ſprang er 
ſchnurſtracks ſeiner lieben Muͤtze nach, bautz von dem hohen 
Wagen herunter. 

Eine Weile lang ſah er nichts als ſchwarze Nacht und hoͤrte 
immerfort den Himmel brauſen. Die Erde fühlte er überhaupt. 
nicht mehr, blos einen furchtbaren Ruck im Kopf, der garnicht auf⸗ 
hoͤren wollte, als ob ein hohles Faß mit ihm durch einen dunkeln 
Keller rollte, und ſeine Beine lagen ganz weit weg von ihm. 

Endlich wurde es wieder etwas heller: viel tauſend ſilberne 
Sterne tanzten durch die ſchwarze Nacht. Und zwiſchen den 
Sternen ſah er ſeine Pfauenfeder fliegen, und ſah ſie groͤßer und 
immer groͤßer werden, und immer gruͤner, blauer und gold⸗ 
bunter funkeln, wie eine große goldbunte Schaukel. Und ploͤtz⸗ 
lich ſaß auf dieſer großen Schaukel ſeine liebe Mutter, und hatte 
hellblaue Engelsfluͤgel an, und flocht ſich ihre langen ſchoͤnen 
Haare, und ſchwebte immer hoͤher vor ihm her. 

Da fing der wilde Richard an zu weinen, weil ſeine liebe 
Mutter ihn garnicht dabei anſehen wollte; und ſo ſehr weh 
war ihm ums Herz, daß er die kleinen Arme hochheben mußte, 
immer hoͤher, bis uͤber die ſilbernen Sterne hoch — und da 
auf einmal wurde der ganze Himmel hell, denn feine liebe Mut⸗ 


358 


ter hatte ihn angeſehen, fo tief ins Herz, daß er die Augen zus 
machen mußte. 

Und wie er fie ſchuͤchtern wieder aufmachte, da hatte Mutter 
ihn auf dem Schooß und ſtreichelte ſeine heißen Locken, und 
ſagte weinend: du boͤſer, boͤſer Junge du! 

Im Graſe aber, neben ihr, lag ſeine ſchoͤne Sammet⸗ 
muͤtze mitſamt der Pfauenfeder; und als er nun verwundert 
danach langte, da ſah die liebe Mutter gleich wieder ebenſo 
ſelig aus, wie oben uͤber den Sternen, und kuͤßte ihn. Und 
ſeht ihr, da merkte der kleine Richard, daß er vom Heuwagen 
runtergefallen und dann im oberſten Himmel war, und daß 
der auf der Erde liegt. 


Das Maͤrchen vom Maulwurf 


Vor vielen tauſend Jahren, als die Menſchen noch keine 
Kleider trugen, lebte mitten in der Erde ein Zwerg, ſo tief un⸗ 
ten, daß kein Menſch etwas von ihm wußte. Und er ſelber 
wußte von den Menſchen auch nichts; denn er hatte ſehr viel zu 
tun. Er war ein Koͤnig uͤber die andern Zwerge, und ſchon fuͤnf 
maͤchtige Hoͤhlen hatte er ſich ausputzen laſſen, und war ganz 
alt und graͤmlich dabei geworden, ſo viel hatte er zu befehlen. 

Es war aber nicht dunkel da unten in den Hoͤhlen, ſondern 
eine glaͤnzte immer bunter als die andre, ſo viel Diamanten 
und Opale hatte das Zwergvolk drin aufgebaut, und die Waͤnde 
waren von blankem Kriſtall, jede in einer beſonderen Farbe. 
Und da ſaß nun der Koͤnig der Zwerge, in ſeinem Mantel von 
ſchwarzem Sammet, auf einem großen grünen Smaragdſtein, 
und faßte ſich an ſeine ſpitze Naſe und uͤberlegte mit ſeinen alten 
Fingern, ob auch alles hell genug waͤre. Er fand es aber durch⸗ 
aus nicht hell genug. 

Da machten ihm die andern Zwerge eine ſechſte Hoͤhle zu⸗ 
recht, mit Waͤnden von lauter Rubinen, die wie ein einziger 


359 


Feuerſchein gluͤhten, und das dauerte tauſend Jahre; aber er 
fand auch Das noch nicht hell genug. Als er nun immer trau⸗ 
riger wurde in ſeinem ſchwarzen Sammetmantel, kamen die 
andern alle zuſammen, und die Juͤngſten ſagten zu den Alten: 
kommt, laßt uns eine blaue Hoͤhle machen! 

Dafuͤr waͤren ſie beinahe totgeſchimpft worden, denn bis 
dahin hatte das Zwergvolk die blaue Farbe nicht leiden koͤnnen. 
Weil aber alle andern Farben in den ſechs Hoͤhlen ſchon durch⸗ 
probiert waren, ſagten endlich auch die aͤlteſten Zwerge ja und 
gaben den jungen die Hande. Dann gingen alle an die Arbeit 
und putzten heimlich eine ſiebente Hoͤhle aus, mit Waͤnden von 
echten Tuͤrkiſen, die ſo hell und blau wie der Himmel waren, und 
das dauerte wieder tauſend Jahre. 

Die gefiel nun dem Koͤnig wirklich, und der alleraͤlteſte 
Zwerg, der faſt ſo alt wie der Koͤnig ſelbſt war, ſchoß vor Ver⸗ 
wunderung einen Purzelbaum. Darauf trugen ſie den großen 
Smaragdſtein in die neue Höhle hinein, und der König ſetzte 
ſich auf ihn und freute ſich, wie ſchoͤn ſein ſchwarzer Sammet⸗ 
mantel zu den hellblauen Waͤnden paßte. Nachdem er aber 
fuͤnfhundert Jahre ſo geſeſſen hatte, fand er auch Das nicht 
mehr hell genug; er wurde trauriger als je zuvor und ſeine 
Naſe immer ſpitzer. 

Fuͤnfhundert Jahre ſaß er noch und uͤberlegte ſeinen Kum⸗ 
mer, ſodaß er ſchon ganz fett zu werden anfing. Endlich ertrug 
er das nicht länger, ließ ſich die jüngften Zwerge kommen und 
ſagte: macht mir eine Hoͤhle, die ein Licht hat wie alle Farben 
in eine verſchmolzen! Das aber verſtanden auch die allerjuͤng⸗ 
ſten nicht, und glaubten, ihr Koͤnig ſei verruͤckt geworden. 

Da beſchloß er, ſie zu verlaſſen und ſelbſt nach ſeinem 
hellen Lichte zu ſuchen. Er ſtieg herunter von ſeinem Smaragd⸗ 
ſtein, und ſchnitt den ſchwarzen Sammetmantel etwas kuͤrzer, 
ſodaß er Haͤnde und Fuͤße frei bewegen konnte, und fing an zu 
graben. Weil aber unten in der Erde die Andern ſchon alles 


360 


abgeſucht hatten, fo meinte er, das Licht, wonach er ſolche Sehn⸗ 
ſucht fuͤhlte, muͤſſe wohl weiter oben liegen, und grub ſich in 
die Hoͤhe; und weil das Zwergvolk damals den Spaten noch 
nicht erfunden hatte, ſo mußte er die Finger zum Wuͤhlen neh⸗ 
men. Das tat ihm nun ſehr weh, denn er war das nicht ge⸗ 
wohnt; aber er hatte ſolche Sehnſucht nach dem Licht. 

Dreitauſend Jahre wuͤhlte der König der Zwerge und grub 
ſich hoͤher und hoͤher hinauf. Die Haut um ſeine Finger war 
ſchon ganz dünn davon geworden, ſodaß die kleinen Haͤnde ganz 
roſarot aus ſeinem ſchwarzen Sammtmantel kuckten; aber immer 
ſah er das Licht noch nicht. Nur tief von unten ſchimmerte noch 
ein blaues Puͤnktchen zu ihm herauf, aus ſeiner ſiebenten Hoͤhle 
her; aber um ihn und uͤber ihm war alles ſchwarz. Auch etwas 
magerer war er geworden, und die Naſe noch ſpitzer. 

Da uͤberlegte er, ob er nicht lieber zu ſeinem Volk zuruͤck⸗ 
kehren ſollte; aber er fuͤrchtete, dann wuͤrden ſie ihn abſetzen 
und wirklich in ein Irrenhaus ſperren. Alſo ging er aufs neue an 
die Arbeit mit ſeinen roſaroten Zwerghaͤnden, und grub nochmals 
dreitauſend Jahre lang, und es wurde immer dunkler um ihn 
her, bis ſchließlich auch das blaßblaue Puͤnktchen tief unten hinter 
ihm verſchwand. Als er nun garnichts mehr ſehen konnte, 
hoͤrte er auf zu wuͤhlen und ſprang in die Hoͤhe und wollte ſich 
den Kopf einſtoßen, ſo furchtbar traurig war ihm zumute. 

Da ging auf einmal die Erde entzwei uͤber ihm, und er 
ſchrie laut auf vor Entzuͤcken und ſchloß die Augen vor hellem 
Schmerz, ſo viele Farben gab es da oben, als ob ihn tauſend 
bunte Meſſer ſtaͤchen, bis ins Herz. Denn hoch im Blauen 
uͤber der Erde, viel hoͤher als er gegraben hatte, ſo hell wie 
alle Farben in eine verſchmolzen, ſtand eine große ſtrahlende 
Kugel, und Alles war Ein Licht. 

Als er es aber anſehen wollte und ſeine Augen wieder auf⸗ 
ſchlug, da war er blind geworden und fiel auf die Stirn. Und 
er fuͤhlte, wie ſchwach ſein Koͤnigsherz war, und wie ſein ſchwarzer 


361 


Mantel vor Schreck mit ihm zuſammenwuchs, und daß er 
kleiner und kleiner wurde und ſeine Naſe immer ſpitzer, und 
plotzlich rutſchte er zuruͤck in die Erde. 

Seit dem Tage gibt es Maulwuͤrfe hier oben, und darum 
haben ſie ein ſchwarzes Sammetfell und roſarote Zwerghaͤnde 
und ſind blind. Und manchmal, wenn die Sonne recht kraͤftig 
ſcheint, dann ſtoßen ſie ein Haͤufchen Erde hoch und ſtecken die 
ſpitze Naſe an die Luft, vor Sehnſucht nach dem Licht. 


Die bekuͤmmerte Loͤwenkroͤte 
Ein Maͤrchen fuͤr kleine und große Leute 


Nun will ich euch eine Geſchichte erzaͤhlen, die mir einmal 
vor einem Schaufenſter eingefallen iſt, als ich eine kleine chi⸗ 
neſiſche oder vielmehr koreaniſche Porzellandoſe betrachtete, die 
in ſonderbarer Verſchnoͤrkelung einen ſchwermuͤtigen Löwen 
vorſtellte. Ich tue es nur, damit ihr Luſt krigt, euch bei merk⸗ 
wuͤrdigen Dingen, die ihr ſeht, ſelber allerlei Neues zu denken. 
Wenn ihr das dann mit rechter Lebendigkeit Andern mitteilt, 
kommt ihr in den Ruf, daß ihr furchtbar tiefſinnig ſeid und 
ſchreckliche Dinge in euerm Herzen beherbergt, die ihr nur des⸗ 
halb den Leuten auf binden wollt, damit fie euch für ein Wunder⸗ 
tier halten. Und außerdem habt ihr noch das Vergnuͤgen, daß 
ihr ſo klug bleibt, wie ihr wart, waͤhrend die Andern ſich ſo die 
Koͤpfe uͤber euch zerbrechen, daß ſie manchmal rein dumm da⸗ 
von werden. Alſo paßt auf! 

In einem aſiatiſchen Urwald lebte zu Olims Zeiten ein 
großes Tier, wie vorher noch keins zur Welt gekommen war 
und wohl auch nie mehr eins wiederkommen wird, von ſo er⸗ 
ſtaunlicher Mißgeſtalt. Es hatte den Kopf eines Löwen und den 
Leib einer Kroͤte, das heißt einer Rieſenkroͤte, ſodaß es noch 
groͤßer war als ein gewöhnlicher Löwe. Dabei war es nicht etwa 
ein boͤsartiges Tier, obwohl es mit feinem gewaltigen Rachen 


362 


und feiner dicken Panzerhaut allgemeines Entſetzen erregte; 
ſondern weil es eben den Magen einer Kroͤte hatte, naͤhrte es 
ſich wie alle Kroͤten von unnuͤtzen kleinen Kriechtieren. Beſon⸗ 
ders den Giftſchlangen ſtellte es nach, trieb ſie aus ihren 
Schlupfloͤchern und ließ ſich ihre Eier ſchmecken. Sonſt machte 
es von ſeinen Raubtierkraͤften nur dann Gebrauch, wenn ir⸗ 
gend ein anderes großes Tier ſich einmal gar zu dreiſt auf⸗ 
ſpielte; dann brachte es ihm Mores bei, war alſo im ganzen 
den Urwaldbewohnern recht nuͤtzlich. 

Auch war es durchaus kein haͤßliches Tier. Seine harte 
runzlige Kroͤtenhaut ſchimmerte goldbunt wie ein Paradies⸗ 
vogelfittig, mit großen tiefblauen Tupfen geſprenkelt, wovon 
ſich die hellbraune Loͤbenmaͤhne in majeſtaͤtiſchen Locken abhob. 
Nur etwas ſchwerfaͤllig war es gebaut; der breite Leib war zwar 
nicht ſo plump wie bei den gewoͤhnlichen Rieſenkroͤten, druͤckte 
aber die mächtigen Löwentagen beim Gehen doch etwas zu 
Boden, und das bekuͤmmerte ſein Gemuͤt. Es gelang ihm 
wohl, rieſige Spruͤnge zu machen, die ſelbſt die Spruͤnge der 
Loͤwen uͤbertrafen, aber richtig rennen konnte es nicht und ge⸗ 
maͤchlich laufen auch nicht recht; und das traurige Untier meinte 
immer, wenn es das koͤnnte, wuͤrde es luſtig werden. 

Je aͤlter es wurde, umſo bekuͤmmerter wurde es, weil es 
immerfort druͤber nachdachte, was es wohl mit ſich anſtellen 
ſolle, um einmal recht luſtig lachen zu koͤnnen. Beſonders wenn 
es fruͤhmorgens hoͤrte, wie der ganze Urwald vom Gelaͤchter 
der Affen und Papageien zu ſchallen begann, ſtierte es eifrig 
aus ſeiner Hoͤhle nach den Zweigen hinauf in den blauen Him⸗ 
mel, als muͤſſe ihm dorther die Erleuchtung kommen. Aber ſo 
ſehr ihm der Himmel auch in die Augen lachte: jedesmal wenn 
es meinte, nun werde das Herz ihm vor Freude ſchwellen, 
und luſtig ins Gruͤne hinausrennen wollte, dann konnte das 
langſame Kroͤtenherz mit dem raſchen Loͤwengehirn nicht mit, 
und der ganze Tag war ihm verleidet. 


363 


Endlich fragte die Loͤwenkroͤte einen alten Papageien um 
Rat, der kluͤger als die andern zu ſein ſchien und nur in ſeltenen 
Faͤllen lachte, dann freilich umſo kraͤftiger. Weil ſie ſich aber 
nicht verraten wollte, da ſie befuͤrchtete ausgelacht zu werden, 
ſtellte ſie ihre Frage ſo: Wie kommt es denn, daß du ſo ſelten 
lachſt? und warum lachſt du dann ſo kraͤftig? 

Weiß nicht! kraͤchzte der Papagei; frag mal das heilige 
Kameel! Und dann lachte er wie beſeſſen. 

Daraus merkte die Loͤwenkroͤte, daß der alte Papagei naͤrriſch 
war. Denn von dem heiligen Kameel war allgemein im Ur⸗ 
wald bekannt, daß es nicht im geringſten lachen konnte, nicht 
einmal laͤcheln; und laͤcheln konnte die Loͤwenkroͤte, wenn auch 
nur ziemlich muͤhſam. Bei naͤherer Überlegung bedachte ſie 
aber, daß die Narren mitunter geſcheitere Einfaͤlle haben, als 
ſie ſelber in ihrer Narrheit wiſſen. Vielleicht verſtand ſich das 
heilige Kameel im ſtillen wirklich ſehr gut aufs Lachen und 
hatte ſich's nur abgewoͤhnt aus irgend einem triftigen Grunde. 
Alſo begab ſie ſich auf den Weg nach dem Tempel, wo das 
Kameel ſich verehren ließ. 

Das heilige Tier erſchrak nicht wenig, als es das fremde 
Untier erblickte. Dann jedoch witterte es wohl, daß ſich das 
bunte Rieſenvieh in freundlicher Abſicht näherte, dachte wohl 
auch an das ſchuͤtzende Gittertor, ſteckte daher den Kopf heraus 
und fragte von oben herab feierlich: Was wuͤnſchen Sie? 

Die Loͤwenkroͤte, da ſie nicht zu befuͤrchten brauchte, von dieſer 
ernſten Perſon belaͤchelt zu werden, erwiderte treuherzig: Ich 
moͤchte gern wiſſen, Euer Hochehrwuͤrden, wie ich wohl lachen 
lernen kann. 

Das heilige Kameel, das wohl nicht recht gehoͤrt zu haben 
glaubte, oder nicht wußte, ob es die Frage ernſt nehmen ſollte, 
ſteckte den Kopf noch ein bißchen weiter heraus und ee noch 
feierlicher: Wie meinen Sie? 

Da bruͤllte die Loͤwenkroͤte: lachen! ich will BR lernen, 


364 


Ehrwuͤrden! Und nun zog das Kameel raſch den Kopf zuruͤck; 
denn nun wußte es, daß es ernſt gemeint war. 

Es beſah ſich durch die Gitterſtaͤbe die unwirſche Miß⸗ 
geburt genauer, nahm eine teilnehmende Miene an, wobei es 
feinen hoͤckrigen Rüden noch etwas krummer machte als ſonſt, 
und bog und wiegte den langen Hals nachdenklich hin und her. 
Dann ſagte es noch viel feierlicher: Beſaͤnftige dich, betruͤbte 
Seele! Da wird uns der Himmel auf meine Bitte wohl an 
den Weg der Erleuchtung fuͤhren. Da wirſt du entweder ganz 
ein Löwe oder ganz eine Kroͤte werden muͤſſen. 

Das hab ich ſchon ſelbſt gewußt — knurrte die Loͤwenkroͤte. 
Aber wie hab ich das anzufangen?! 

Das heilige Kameel bog nochmals den Hals gewichtig hin 
und her, machte den Buckel noch krummer und ſagte: Auch 
dazu wird uns das himmliſche Licht den rechten Weg der Er⸗ 
leuchtung weiſen. Da wirſt du aber dem guͤtigen Himmel erſt 
eine kleine Opfergabe darbringen muͤſſen. Du darfſt fie einſt⸗ 
weilen zu meinen Fuͤßen, der ich der Diener des Lichtes bin, 
vor dieſem Gittertor niederlegen. 

Die Loͤwenkroͤte beſann ſich ein bißchen, was ſie dem Him⸗ 
mel wohl Wohlgefaͤlliges darbringen koͤnnte, und fragte dann 
ſchuͤchtern: Willſt du vielleicht ein paar Giftſchlangenkoͤpfe? ich 
babe heut Mittag ein ganzes Neſt voll getötet. 

Nein — ſagte das heilige Kameel und ſchuͤttelte ſich von oben 
bis unten — Giftſchlangen ſind hier nicht am Platze, inſonder⸗ 
heit keine getoͤteten; denn des Himmels Gnade laͤßt auch die 
Giftſchlangen leben. Aber zuweilen ſollen ſich in den Neſtern 
der Schlangen koſtbare Edelſteine finden; wenn du deren viel⸗ 
leicht eine kleine Portion geraubt haben ſollteſt, die wuͤrden dem 
Himmelslicht angenehm ſein! — Und ganz verklaͤrt verdrehte 
das heilige Tier bei dieſen Worten ſeine Augen. 

Da fiel der Loͤwenkroͤte ein, daß ihr am Mittag, als fie den 
Schlangen die Koͤpfe abbiß, etwas ſehr Hartes ins Maul ge⸗ 


365 


raten war, das fie nicht hatte zerknacken können, und das ihr 
noch immer im Rachen ſteckte. Das ſpie ſie nun ſchleunigſt durch 
das Gitter dem Diener des Lichtes vor die Fuͤße. 

Das Kameel, als ihm der heftige Strahl ſo ploͤtzlich ent⸗ 
gegengeſchleudert wurde, tat erſt wieder einen entſetzten Satz. 
Als es aber vor ſich im naſſen Sande den großen Edelſtein 
funkeln ſah, gewann es ſeine Faſſung zuruͤck, nahm wieder eine 
wuͤrdige Haltung an und ſprach mit gnaͤdiger Halsneigung: 
Es iſt zwar nur ein einziger Edelſtein, aber dem Himmel iſt 
auch Geringes willkommen, wenn es aus willigem Herzen 
kommt; ich werde für deine Erleuchtung beten. 

Alſo werd' ich nun endlich Antwort kriegen? brauſte die 
Loͤwenkroͤte auf, die ſchon vor Ungeduld zitterte. 

Sobald ich gebetet habe — ſprach das Kameel und zog ſich 
etwas tiefer in ſeine Zelle zuruͤck, den Edelſtein mit dem Fuß 
an ſich ſcharrend. Dann ließ es ſich umſtaͤndlich, wie die Kameele 
zu tun pflegen, auf beide Vorderkniee nieder, den Hoͤcker ſo 
krumm wie nur moͤglich machend, und die Loͤwenkroͤte 
mußte warten, obgleich ihr die Maͤhne ſchon ſchwoll vor Zorn. 
Endlich erhob ſich das heilige Tier, blieb weihevoll im Hinter⸗ 
grund ſtehen und ſagte mit prophetiſcher Stimme: Der Him⸗ 
mel hat mein Gebet erhoͤrt. Er laͤßt dir durch ſeinen Diener 
ſagen: wenn du wiſſen willſt, wie dein Leib ſich verwandeln 
ſoll, damit deine Seele zum Preiſe des Lichtes lachen lerne, dann 
mußt du dich auf den Weg machen und entweder die Loͤwen oder 
die Kroͤten danach fragen — 

Aber das wollt ich ja grade nicht! bruͤllte die Loͤwenkroͤte 
verzweifelt. Warte, du ruppiges buckliges Bieſt! Und damit 
ſprang fie in voller Wut gegen das Tor der Tempelzelle. 

Aber auf ſolche Überfälle mußte dies wohl ſchon einge⸗ 
richtet fein; denn trotz ihrer Rieſenkraͤfte vermochte die wuͤtende 
Loͤwenkroͤte das eiſerne Gitter nicht zu ſprengen, nur ein paar 
Staͤbe verbogen ſich. Und das Kameel blieb ruhig im Hinter⸗ 


366 


grund ſtehen, beſah ſich das raſende Ungetuͤm, als könne es 
deſſen Grimm nicht begreifen, und ſagte nur mit tiefſter Ent⸗ 
ruͤſtung: du undankbare Kreatur! Dann wandte es langſam 
dem Gitter den Rüden zu, und die Loͤwenkroͤte hatte den Ein; 
druck, als ob ſich's nun wirklich im ſtillen die Hucke voll lachte. 

Das brachte ſie wieder zur Beſinnung. Und da ihr nichts 
andres mehr uͤbrig blieb, faßte ſie jetzt in der Tat den Entſchluß, 
bei den gewöhnlichen Löwen und Kroͤten fo hoͤflich wie möglich 
ihr Gluͤck zu verſuchen. Ihr braves Kroͤtenherz ſchaͤmte ſich 
ſchon des loͤwenhaͤuptigen Wutanfalls, und ſie verzieh dem 
gekraͤnkten Kameel ſeine unertraͤgliche Redſeligkeit. Vielleicht 
hatte es doch fein dummes Getue von A bis z voͤllig ernſt ger 
meint und hielt ſich nur in feiner Dummheit für einen Aus bund 
von himmliſcher Weisheit. 

Mit ſolchen Gedanken kam ſie an den Sumpf, in dem die 
Rieſenkroͤten hauſten, und hoͤrte richtig ſchon von ferne ihr 
gluckſendes Lachen durchs Roͤhricht tönen. Halt! ſagte fie ſich 
in ihrem Loͤwenſinn: da brauch ich vielleicht erſt garnicht zu 
fragen, ſondern ſehe, was ſie ſo froͤhlich macht. 

Vorſichtig ſchlich ſie im Roͤhricht naͤher und ſpaͤhte durch 
die dichten Halme. Da ſaß eine ganze Kroͤtengeſellſchaft um 
ein rieſiges Waſſerpflanzenblatt, auf dem es von kleinen 
Schnecken und Wuͤrmern, Maden und Schlammkaͤfern wim⸗ 
melte, und die Kroͤten gluckſten vor Vergnuͤgen uͤber die fette 
Abendmahlzeit und patſchten ſich die feiſten Baͤuche, daß der 
Sumpfboden davon wackelte. 

Nein! dachte unſer trauriges Untier in ſeinem vornehmen 
Loͤwenſinn: Wenn das ihre ganze Freude iſt, dann will ich 
lieber darauf verzichten; das iſt denn doch zu ekelhaft! — Alſo 
beſchloß es, die Loͤwen aufzuſuchen. 

Inzwiſchen war die Nacht angebrochen, und im Urwald 
herrſchte bereits tiefe Stille, ſodaß die Loͤwenkroͤte ſchon meinte, 
den Beſuch bis morgen aufſchieben zu muͤſſen. Aber es war 


367 


eine helle Mondnacht, und plöglich erſcholl durch die Damme; 
rung ein ſo gewaltig donnerndes Lachen, daß es nur von mehre⸗ 
ren Loͤwen herruͤhren konnte, und zugleich ein e eh 
Geſchrei. 

Unſer Untier kroch durch das dunkle Dickicht ſo raſch wie 
moͤglich der Stelle zu, wo der ſeltſame Laͤrm ſich erhoben hatte, 
und kam an eine ſchmale Lichtung, die ganz verklaͤrt vom Mond⸗ 
ſchein war. Da ſah es nun, wie vier große Löwen einen armen 
Affen an Haͤnden und Beinen gepackt hielten und ihn ſo bei 
lebendigem Leibe in vier Stuͤcke zerreißen wollten. Der ſchnitt 
natuͤrlich mit ſeinem Geſicht die fuͤrchterlichſten Grimaſſen dabei, 
und das machte den Loͤwen ſolchen Spaß, daß ſie wieder ihr 
bruͤllendes Lachen ausſtießen und fo den Gequälten ein wenig 
locker ließen; der ſchrie dann natuͤrlich noch jaͤmmerlicher, worauf 
ſie noch graͤßlicher an ihm riſſen und dazwiſchen wieder laut 
loslachten. 

Unſer Untier konnte nicht länger ſtill zuſehn; fein gutmuͤtiges 
Kroͤtenherz empoͤrte ſich ſchließlich bis in ſein wildes Loͤwenge⸗ 
hirn, und ploͤtzlich ſprang es mit einem Gebrüll, wie noch nie 
eins im Urwald erſchollen war, mitten hinein in den ſcheuß⸗ 
lichen Knaͤuel. Erſt ſchlug es den armen Affen tot, daß der ſich 
nicht laͤnger zu quaͤlen brauchte; dann fuhr es mit ſeinen klotzi⸗ 
gen Tatzen auf die verdutzten Loͤwen los. Der eine hatte vor 
Schreck gleich Reißaus genommen; die andern drei merkten 
nach einigem Katzbalgen, oder wußten auch ſchon von Hoͤren⸗ 
ſagen, daß ſie der bunten Panzerhaut der Loͤwenkroͤte nichts an⸗ 
haben konnten, und zogen ſich nach etlichen Maulſchellen, die 
ſie weniger ausgeteilt als empfangen hatten, mit reſpektvollem 
Grunzen ins Dickicht zuruͤck. 

Da ſaß nun das ſiegreiche Ungetuͤm in der vom Mond⸗ 
ſchein verklaͤrten Lichtung neben der blutigen Affenleiche; und 
da auf einmal — wie ihr euch denken koͤnnt — ging ihm durch 
Herz und Hirn zugleich eine unendliche Erleuchtung. Es konnte 


368 


1 


zwar immer noch nicht lachen; aber mit einem Laͤcheln gen 


Himmel, das jeder Traurigkeit hellen Hohn ſprach, ergab es 


ſich in fein Untierſchickſal, gern eine Loͤwenkroͤte bleibend. 
Und auch die Affen ſind Affen geblieben, die Papageien 
Papageien, und das heilige Kameel ein Kameel. 


Die Geſchichte vom alten Wodtke und Michel Kriſt 
oder der Weg uͤber den Balken 


Eine Geſchichte die wirklich einmal geſchehen ſein ſoll 


Naͤmlich, Jungens — die Leute waren ſchon jahrelang un⸗ 
zufrieden mit dem alten Wodtke, alle Leute in der ganzen 
Gegend. Er aber ſaß oben auf ſeinem Berge, in ſeinem ein⸗ 
ſamen Waͤrterhaͤuschen, und kuͤmmerte ſich nicht darum. 

Eigentlich haͤtte er tun muͤſſen, was die Leute unten im 
Land verlangten; ſo wenigſtens meinten dieſe ſelber, beſonders 
die reichen unter ihnen, denn die hatten ihn angeſtellt. Er 
ſollte die große Waſſerleitung in Ordnung halten, die oben auf 
dem Berge lag, und deren Roͤhren hinabliefen in alle Felder 
und Wieſen und Bauernhöfe, um alle richtig mit Waſſer zu 
verſorgen. Und er hielt ſie auch ganz gut in Ordnung; aber 
wenn einer mal viel Waſſer brauchte, dann meinte der Nachbar, 
er kriege zu wenig, oder wenn dieſer nun nachbekam, dann 
ſchrieen alsbald die andern Nachbarn, das ſei die reine Über⸗ 
ſchwemmung, und ſchließlich wars keinem recht gemacht. 

Darum hatte der alte Wodtke ſich eines Tages anders be⸗ 
ſonnen: hatte den Leuten den Zutritt verſperrt zu ſeinem 
amtlichen Gebiet und kuͤmmerte ſich um Niemandes Wuͤnſche 
mehr. Sondern er ſaß da hinter ſeinem Zaun, zwiſchen den 
maͤchtigen Waſſerbecken, die in Terraſſen uͤber einander lagen; 
und auf der oberſten Terraſſe, mitten im groͤßten der großen 
Becken, ſtand wie ein Turm ſein ſteinernes Haͤuschen, zu dem 


11.24 369 


nur ein langer ſchmaler Balken über das ftille Waſſer führte, 


Von dort aus beſah er mit ſeinem einen Auge — denn auf dem 
andern war er blind — durch ein Fernrohr die ganze Gegend, 
die Doͤrfer und das flache Land, bis dahin wo die Waͤlder an⸗ 
fingen und blaͤulich in den Himmel verſchwanden, und ließ 
zu jedermann ſoviel Waſſer laufen, wie's ihm von oben gut 
und noͤtig ſchien. 

Das gab nun zuerſt einen wahren Aufſtand unter den Leu⸗ 
ten ringsherum, obgleich ſie im ganzen nicht ſchlechter verſorgt 
wurden, vielleicht ſogar etwas beſſer als fruͤher; doch weil ſie 
nicht mehr dreinreden durften, fuͤhlte ſich jeder zuruͤckgeſetzt, 
und kamen in hellen Haufen herauf und wollten das Waͤrter⸗ 
haͤuschen ſtuͤrmen. Je naͤher ſie aber an den Zaun kamen, umſo 
ſtiller und ſtiller wurden fie; die großen Waſſerbecken, die alle den 
Himmel ſpiegelten, lagen da ſo feierlich, daß ſich keiner mehr laut zu 
reden traute. Blos etwa ein Dutzend der aͤrgſten Murrer, die 
kletterten dennoch uͤber den Zaun und naͤherten ſich dem ein⸗ 
ſamen Turm. 

Der alte Wodtke ſtand ganz ruhig in feiner weitgeoͤffneten 
Tuͤre, blickte erſt auf die Leute druͤben, dann auf den langen 
Balken vor ſich, und lachte in ſeinen grauen Bart; hinter ihm 
blitzten die hundert Haͤhne und Drehklinken der Leitungsroͤhren. 
Da merkte das Dutzend Stoͤrenfriede, daß man nur einzeln 
hinuͤberkommen koͤnne; und wie der Alte ſein eines Auge fun⸗ 
kelnd von Mann zu Mann richtete, hatte keiner den Mut dazu. 
Und ploͤtzlich erhob ſich in dem Turm ein ſeltſames Kreiſchen und 
Gekraͤchze, daß jeder verwirrt in den Himmel glotzte; worauf 
der Alte ihnen den Ruͤcken wandte und ſchließlich alle froh waren, 
daß ſie zum Zaun zuruͤcklaufen konnten. Dort ſagten ſie den 
Wartenden, es gehe hier nicht mit rechten Dingen zu, der alte 
Wodtke habe den Zauberblick und ſtehe mit boͤſen Geiſtern im 
Bunde; und alſo zog der ganze Haufen wieder hinunter ins 
flache Land. 


370 


48 
2 


Es gab aber doch verſchiedene Schlaukoͤpfe, die an den 
Geiſterſpuk nicht recht glaubten, und meinten, ſie wuͤrden den 
Alten ſchon unterkriegen; das waren natürlich die Unzu⸗ 
friedenſten. Die ſchlichen jetzt oͤfters allein um den Zaun, weil 
keiner dem andern das Waſſer goͤnnte, und dachten jeder dem 


alten Bären einen beſonderen Vorteil abzuluchſen. Sie hatten 


auch bald herausgekundſchaftet, daß er Nachmittags gewoͤhnlich 
ein Schlaͤfchen machte, und was es mit dem Gekreiſch und Ge⸗ 
kraͤchze fuͤr eine einfache Bewandtnis hatte. 

Vollkommen einſam naͤmlich lebte der alte Wodtke nicht. 
Sondern er hatte ſich zwei Voͤgel gezaͤhmt, einen weißen und 
einen ſchwarzen, eine Moͤwe und eine Kraͤhe. Die ſaßen meiſtens 
bei ihm im Turm; nur wenn er bei der Arbeit war oder bei 
ſeinem Nachmittagsſchlaͤfchen, dann flogen ſie uͤber den großen 
Waſſerbecken wie eifrige Waͤchter hin und her. Sie flogen dann 
ganz leiſe und lautlos, immer im Zickzack ſchwarz und weiß, als ob 
ſie Tod und Leben ſpielten. Ich habe ſie ſelbſt mal ſo fliegen 
ſehen, als ich vorbeiging und uͤber den Zaun kuckte; doch braucht 
ihr drum nicht etwa zu denken, ich haͤtte hinuͤberklettern wollen, 
denn ich bin mit dem alten Wodtke niemals unzufrieden ge⸗ 
weſen. 

Die unzufriedenen Schlaukoͤpfe aber, wenn fie ſich auch 
bei Nacht nicht hinauftrauten, weils ihnen mit den wachſamen 
Voͤgeln doch nicht recht geheuer ſchien, die wollten ſich ſeine 
Nachmittagsruhe heimtuͤckiſch zunutze machen und ihn dabei 
uͤberrumpeln und zwingen. 

Wenn dann ſo einer — ich habe von weitem mal zugeſehen 
und ſage euch, es war ſehr komiſch — vor den langen Balken 
kam, dann ſtand er zuerſt wie angewurzelt und ſah ſich furcht⸗ 
ſam um wie ein Dieb. Er faßte ſich aber doch ein Herz und 
ſetzte einen Fuß vor den andern, bis etwa in die Mitte des 
Balkens. Wenn er dann aber ins glatte Waſſer ſah, wo ſich tief 
unten der Himmelkreis ſpiegelte, und ſah ſich ſelbſt da im Waſſer 


24 371 


Hängen, den Kopf nach unten, am ſchmalen Balken, und nir⸗ 
gends ein Halt im tiefen Luftraum, und plotzlich kamen die 
ſtillen Voͤgel mit Kreiſchen und Kraͤchzen herbeigeſchoſſen, ihm 
immer kreuz und quer um den Kopf, und unten im Himmel 
ebenſo, bis alles ihm drunter und druͤber ging und ihm vorm 
Tod wie vorm Leben ſchwindelte: da wollte er wohl die Au⸗ 
gen ſchließen, lag aber plumps ſchon drin im Waſſer. Und 
während er pruhſtend mit Mühe und Not ang Ufer des Beckens 
zuruͤckſchwamm, erſchien der alte Wodtke wieder in ſeiner weit⸗ 
geoͤffneten Tuͤre, und lachte daß das Echo droͤhnte, und 
ſtreichelte ſeine beiden Voͤgel, die ſich auf ſeine Schultern ſetzten. 

Ein Einziger hat es einmal verſucht, bei Nacht uͤber den 
Balken zu kommen; das war der dicke Herr Landgendarm. Der 
hatte eigentlich gar kein Recht, ſich um die Waſſerleitung zu 
kuͤmmern, beſonders da der alte Wodtke ſelbſt eine Art Polizei⸗ 
perſon war und ohne Aufſeher uͤber ſich. Aber der dicke Herr 
Landgendarm hatte die Andern immer gefoppt, wenn ſie ſo 
pudelnaß vom Berge kamen, und wollte den Bauern mal be⸗ 
weiſen, daß er der ſchlauſte von allen ſei; dachte vielleicht auch 
eine Belohnung zu kriegen, wenn er den alten einaͤugigen Kerl 
mal orndtlich bei den Ohren naͤhme und ihm die Hochmuts⸗ 
mucken austriebe. 

Alſo faßte er den Plan, nicht aufrecht uͤber den Balken zu 
gehen, ſondern rittlings bei Nacht hinuͤberzurutſchen, indem er 
meinte, dann ſchliefen die Vögel. Die Vögel ſchliefen aber nur 
abwechſelnd; und als er mit ſeinen dicken Beinen in der Mitte 
des Balkens ſaß, weckte die Moͤwe den alten Wodtke. Schwapp, 
kippte er den Balken ein bißchen. Und der erſchrockene Herr Gen⸗ 
darm, den ſeine enge Uniform und der ſchwere Saͤbel am 
Schwimmen verhinderten, waͤre beinahe elendig ertrunken, 
wenn nicht im letzten Augenblick der alte Wodtke den Hahn ge⸗ 
dreht und das Waſſer des Beckens haͤtte ablaufen laſſen; da 
konnte der zappelnde Reitersmann, naß wie er war, zuruͤckwaten. 


372 


2 


7 


Fr 
5 


Seit der Zeit meinten die Leute im Ernſt, die Moͤwe und 


5 Kraͤhe ſeien zwei boͤſe Geiſter, und da begann erſt der Schaber⸗ 
nack arg zu werden. Wenn der Alte bei ſeiner Arbeit war, gingen 
ſie hinterruͤcks an den Zaun und warfen mit Steinen nach 


feinen Voͤgeln. Die Vögel konnte zwar keiner treffen, weil fie 
zu hoch und zu ſchnell im Zickzack flogen; aber die Steine fielen 


herunter und ſchlugen in ſeine Gartenbeete, die rings um die 


a 
7 
18 
4 


Waſſerbecken lagen. Anfangs nahm er es ruhig hin und warf 


fie einfach zuruͤck übern Zaun; das machte die Leute aber nicht 


friedlicher, ſondern im Gegenteil nur noch erboſter, und ſie 
ließen ſich einen Geiſterbeſchwoͤrer kommen, der ihm die Vögel 
wegfangen ſollte. Na! den beſpritzte der alte Wodtke fo gruͤnd⸗ 
lich mit einem kalten Strahl, daß er ſchleunigſt wieder nach 
Hauſe reiſte; und nun erging es den Bauern ſchlimm. 


Denn der Alte vom Berge — ſo nannten ſie ihn jetzt — 


war durch die ewige Einſamkeit allmaͤhlich menſchenfeindlich 


geworden, und beſchloß es ihnen mal einzutraͤnken. Er ließ auf 
einmal am naͤchſten Tag ſo maͤchtig viel Waſſer ins Land 
laufen, daß nun wirklich eine Uberſchwemmung entſtand, und 
die dauerte von Oſtern bis Pfingſten. Mancher bekam dadurch 
ein Einſehn, aber grade die reichſten nicht; denn die meinten, 
ſie haͤtten den groͤßten Schaden, und warfen ihm Briefe uͤber 
den Zaun, worin ſie drohten ihn abzuſetzen, trotzdem ſie ihn 
lebenslaͤnglich angeſtellt hatten. Worauf er einfach ſofort den 
Haupthahn abſtellte und gar kein Waſſer mehr laufen ließ, 
ſodaß eine ſchreckliche Duͤrre eintrat. Und Niemand wußte mehr 
aus noch ein, denn in der ganzen Gegend war Keiner, der von 
der Waſſerleitung genug verſtand, um raſch ſein Nachfolger 
werden zu koͤnnen. 

Da lebte nun dort in einer Huͤtte ein armer kleiner Hirten⸗ 
junge. Seine Eltern ſtammten aus einer fremden Gegend 
und hatten deshalb kein eigen Land, und er mußte den Bauern 
die Schafe huͤten. Er war an Heiligabend geboren und letzte 


373 


Weihnacht zwoͤlf Jahre alt geworden; und mit Namen hieß er 
Michel Kriſt. Es konnte ihm eigentlich gleichgiltig ſein, daß es 
den Bauern jetzt ſo ſchlecht ging; denn er war das Hungern und 
Durſten gewohnt, auch wenn ſie gute Ernten hatten. Aber es 
tat ihm trotzdem leid, wenn Menſchen und Tiere jammerten, 
beſonders wenn ſeine Schafe bloͤkten auf den vertrockneten 
Weidefeldern. 

Dem war es nun immer ein Raͤtſel geweſen, warum ſich 
der alte einaͤugige Mann ſo einſam auf ſeinem Berge hielt, 
und warum die Leute ihn ſchimpften und aͤrgerten, und warum 
er ſie dann noch aͤrger aͤrgerte. Denn Michel Kriſt hatte zwei 
helle Augen, die in jedermann etwas Gutes entdeckten; und 
wen er mit dieſen Augen anlachte, der mußte unfehlbar mit⸗ 
lachen, ſelbſt wenn man ihm vorher boͤſe ſein wollte. Drum 
hatte er auch vor boͤſen Geiſtern nicht die geringſte Furcht im 
Leibe; ihm waren noch niemals welche begegnet, obwohl er ſehr 
oft im Dunkeln allein war, und kannte alle Voͤgel des Him⸗ 
mels, wie ſie bei Tag und bei Nacht herumfliegen. Und uͤber 
einen Balken zu gehen, ſchien ihm erſt recht kein gefaͤhrliches 
Kunſtſtuͤck; denn er war von klein auf barfuß gegangen, und 
an den breiten Wieſengraͤben, wo ſeine Heerde am liebſten 
weidete, lief er tagtaͤglich zum Zeitvertreib, ohne daß ihm je 
ſchwindlig wurde, uͤber die laͤngſten Bruͤckengelaͤnder. 

Als die Graͤben nun immer mehr austrockneten, kam er 
zuletzt auf den Gedanken, den Alten vom Berge mal zu be⸗ 
ſuchen und ihn einfach zu fragen und zu bitten, ob er nicht wieder 
gut ſein wolle. Alſo begab er ſich eines Morgens in aller Fruͤhe 
auf den Weg; ging aber erſt auf einen Acker und grub ſich einen 
Engerling aus. Den wollte er der Kraͤhe mitbringen; denn 
unſer kleiner Michel wußte, daß Kraͤhen die Engerlinge gern 
eſſen. Und aus einem Gemuͤſegarten nahm er ſich eine recht 
fette Schnecke mit; die ſollte fuͤr die Moͤwe ſein. 

Damit ſie ihm nicht die Taſche beſchmutzten und unterwegs 


374 


® nicht etwa erſtickten, wickelte er die zwei kleinen Tiere ſaͤuberlich 
in ein großes Kohlblatt und trug ſie behutſam in der Hand. 
Naturlich, Jungens, wie ihr euch denken koͤnnt, tat es ihm auch 
etwas leid um ſie, daß ſie lebendig aufgefreſſen werden ſollten. 
Aber der kleine Michel wußte, daß alles Lebendige einmal ſterben 
muß auf Erden; und ſeine halbverdurſteten Schafe und die 
vielen unzufriedenen Menſchen taten ihm doch noch etwas mehr 
leid als ſo ein haͤßlicher Engerling und eine ſchleimige Garten⸗ 
ſchnecke. Und er wollte doch auch den Voͤgeln was zukommen 
laſſen. 
So kam er oben auf dem Berge an und brauchte garnicht erſt 
uͤber den Zaun zu klettern, weil er die Pforte offen fand; denn 
die hatte neulich der Geiſterbeſchwoͤrer mit ſeinen Geheim⸗ 
ſchluͤſſeln gluͤcklich aufgekrigt, und der alte Wodtke hatte vers 
geſſen, ſie nach der Beſpritzung wieder zu verriegeln. 

Michel Kriſt ſah die beiden Voͤgel fliegen, und als er an 
den Balken kam, wickelte er das Kohlblatt auf, nahm den 
Engerling in die rechte Hand, die Schnecke in die linke, und ging 
mit ausgebreiteten Armen ruhig der Tuͤr des Tuͤrmchens zu. 
Als die Vögel in feinen flachen Haͤnden die fetten Gewuͤrme 
kribbeln ſahen, vergaßen ſie ihren Zickzackflug, womit ſie den 
Leuten immer die Koͤpfe verwirrt hatten, dachten auch nicht 
an Kreiſchen und Kraͤchzen, ſondern freuten ſich uͤber die Lecker⸗ 
biſſen, und die Kraͤhe flog rechts, die Moͤwe links neben dem 
kleinen Michel entlang, bis er auf einmal druͤben ſtillſtand und 
ihnen die kribbligen Dinger reichte. Dann trat er in das Waͤrter⸗ 
haͤuschen. 

Der alte Wodtke war grade dabei, ſeine Leitungshaͤhne und 
Klinken zu putzen, und wunderte ſich natuͤrlich nicht wenig, 
als ploͤtzlich der barfuße Junge vor ihm ſtand, begleitet von 
ſeinen zahmen Voͤgeln. Und ehe er noch den Putzlappen weg⸗ 
legen konnte, gab Michel Kriſt ihm ſchon die Hand und ſagte da⸗ 
zu mit lachenden Augen: Guten Morgen, lieber Vater Wodtke! 


375 


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Vater Wodtke brummte guten Morgen, legte den Lappen 
an ſeinen Platz, ſah ſich mit ſeinem einen Auge den kleinen Michel 
durch und durch an, griff dann in ſeinen weißen Bart und fragte 
etwas weniger brummig: Was willſt du denn hier oben bei 
mir? 

Unſer Michel hatte den funkelnden Blick mit ruhigem Her⸗ 
zen ausgehalten und gab ganz einfach und wahr zur Antwort: 
Ich wollte blos fragen, warum du boͤſe biſt, und warum du 
von den Menſchen nichts wiſſen willſt, und ob du nicht wieder 
gut ſein moͤchteſt?! Ich will dir auch helfen die Haͤhne putzen. 

Der alte Wodtke lachte grimmig, und ſein Blick wurde 
dunkler, waͤhrend er ſprach: Sie wollens nicht beſſer haben, 
die Menſchen! Wenns ihnen zu gut geht, werden ſie uͤbermuͤtig! 
genau ſo wie deine Schafe im Fruͤhling. 

Eine Weile wußte Michel Kriſt auf dieſe Worte nichts zu 
erwidern und ließ den Kopf ein bißchen haͤngen. Dann aber 
hob er wieder die Stirn und blickte mit ſeinen zwei hellen Augen 
den Vater Wodtke groß an und ſagte: Ja aber, ich laſſe doch 
meine Schafe, wenn ſie verbieſtert ſind, ruhig bloͤken, und 
treibe ſie nicht weg von mir, und laufe auch nicht weg von 
ihnen! Laß doch die Menſchen zu dir kommen, und wehre ihnen 
nicht zu reden; du kannſt ja nachher doch tun, was du willſt! — 
Und dabei mußte er leiſe lachen. 

Und als Vater Wodtke nun mitlachen mußte, nahm Michel 
Kriſt ihn wieder beim Arm und fuhr mit rechter Bitte fort: 
Und wenn du's ihnen nicht ſelber geſtehen willſt, dann laß mich 
hinuntergehen zu ihnen und ihnen ſagen, du biſt wieder gut! 
Ich werds ſchon alles ſo ausrichten, daß ſie ſich gerne mit dir 
vertragen — genau ſo wie meine Schafe mit mir. 

Da mußte der alte Vater Wodtke ſo furchtbar laut und herz⸗ 
lich lachen, daß ſeine beiden zahmen Voͤgel verſchuͤchtert zum 
kleinen Michel huͤpften. Und waͤhrend er ſich heimlich ein Traͤn⸗ 
chen aus ſeinem einen Auge wiſchte, ſchrie er und ſchlug mit der 


376 


Br: 


andern Fauſt an feine größte Leitungsroͤhre: Junge, du ſollſt 


mein Nachfolger werden! — 

Und Michel Kriſt ging hinunter ins Land und richtete alles 
richtig aus. Und Sonntags kam er immer herauf und durfte 
die Haͤhne putzen helfen, bis er ſich bald auf die Waſſerleitung 
ſo gut verſtand wie ſein Lehrvater ſelber. Und als der ſchließ⸗ 
lich ſterben mußte, zog er wirklich ſtatt ſeiner hinauf in das 
Waͤrterhaͤuschen, und die Leute ſind heut noch zufrieden mit 
ihm. Den alten einaͤugigen Wodtke aber, trotzdem ſie ſich mit 


ihm verſoͤhnt und ihn in Ehren begraben haben, halten fie doch 


noch fuͤr einen Hexenmeiſter; und manche behaupten, er lebe 
noch heimlich. 


377 


Überſicht 


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Weib und Welt 
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378 


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über frei Feld 


Lein Bleiben 
Heimweh in die Welt 


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+ 


Der Frühlingsfafper . 


Entladung 
Anbetung 
Ausblick 
Ideale Landſchaft. 


WSW. 


Geſang vor Nacht. 
Klarer Tag. 
Dunkle Gewalt 


= 


= 


+ 


+ 


+ 


+ 


* 


5 


„ 


„Ballade von der wilden Welt 
Dee end Herrinn 
Ballade vom Kuckuck 


Vorſpiel 
Wellentanzlied 
Bewegte See 
Der Sturm . 
Merklärung . 
Das Schloß 

»Der Schwimmer . 
Beſchwichtigung 
Lied an den Mond 
. 
Aufglanz 
Morgenſtunde 
Beruͤckung 
Wirrſal i 
Nach einem Regen 
Der gute Hirte 


+ 


* 


5 


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Stimme im Dunfeln 


über den Suͤmpfen 
Erwartung 
Im Reich der Liebe 
F 
Mannesbangen 


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381 


Zwei Menſchen 


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Eingang zum erſten Umkreis 


Leitlied 


Eingang zum zweiten Umkreis 
Eingang zum dritten Umkreis 


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Der Kindergarten 


Gaͤrtnerſpruc h. 
»Mutterſprache 


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Der Vogel Wandelbar 
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Triumphgeſchreem 
Schnurrige Predigt 
Kaͤuzchenſpit » 
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Der Reitersmaunn 
Geſchaͤftsleutchen 


Geburtstagsgeſchenke 
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Freund Huſch 
Das Maiwunder 
Puhſtemuhme 


Das große Karuſſe ll 

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Der kleine Suͤndeee 
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Die Reiſe 


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Das richtige Pferd 


Die ganze Welt 


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Das Maͤrchen vom Maulwui ff 5 
Die bekuͤmmerte Löwenkröte 2: 2: 2 22200. NR 
Der alte Wodtke und Michel Kriſe 0 00 


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