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Full text of "Gesammelte Werke"

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John Henry Mackay 
Geſammelte Werke 


Siebenter Band 


Gefammelte Werke 
John Henry Mackay 


Grfter Band: 
Gedichte 


Zweiter Band: 
Gedichte (Schiuß) — Neue Gedichte 
| Dritter Band: 


Be TR TERN? 


Moderne 3 2 Menſchen 
der Ehe 


Fünfter Band: 
Die letzte Pflicht und Albert Schnells 
Untergang 
Sechſter Band: 
Zwiſchen den Zielen 
Siebenter Band: 
Der Schwimmer 


Achter Band: 


Dieſe Geſamt⸗Ausgabe wurde im Sommer des | 
jet: in der Buchdruckerei von Wilhelm Hecker * 

Graͤfenhainichen in einer Auflage von 1200 Exemplaren 
ruckt. Davon wurden 0 Exemplare auf hand⸗ es 
ihöpftem van Gelder (in acht Ganzlederbaͤnden ges 
unden zu 120 Mark) abgezogen, die — handſch 8 
vom Verfaſſer numeriert und igniert — nur direkt von = 
| den Verlage Bernhard Zack in Treptow bei Berlin, 
8 Kiefholzſtraße 186 zu beziehen find, 1 N 


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Geſammelte Werke 


von 


John Henry Mackay 


In acht Baͤnden 


Siebenter Band: 


Der Schwimmer 


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Treptow bei Berlin 


Bernhard Zacks Verlag 
1911 


Der Schwimmer 


Die Gefchichte einer Leidenſchaft 


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John Henry Mackay 


Treptow bei Berlin 


Bernhard Zack“ Verlag 
1911 


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Aulie Rechte vorbehalten 


Der Schwimmer 
Die Geſchichte einer Leidenſchaft 


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ann er ſchwimmen gelernt hatte? — Man haͤtte 
ihn ebenſogut fragen koͤnnen, wie und wann er 
gehen gelernt habe. 

Er wußte nicht mehr, wann er das erſte Mal ins 
Waſſer gegangen war; aber feine erſten Kindheitserinne⸗ 
rungen waren mit dem Waſſer verknuͤpft, das fein Ele⸗ 
ment war und in dem er lag, wie er auf der Erde ging. 

Er war ein geborener Schwimmer. 


2, 


Er hieß Franz Felder und war der Sohn ſehr braver 
2 ſehr armer Eltern in Berlin O., der fünfte unter 
. Alle waren es ſtaͤmmige Kerle mit dunklen 
Haaren und klaren Augen, und beide Eltern hatten voll⸗ 


15 auf zu tun, die hungrigen Maͤuler vom Morgen bis 


zum Abend zu ſtopfen, von denen mindeſtens eines immer 
nach einer Stulle aufgeſperrt war. Sie taten es redlich 
und gern, und zu hungern brauchte keines. Aber damit 
war auch der Kreis ihrer elterlichen Pflichten geſchloſſen, 


2 und fobald wie nur möglich blieben die Kinder einander 


und ſich ſelbſt überlaffen und mußten ſich mit durchs 
Leben helfen, ſo gut oder ſo ſchlecht, wie es eben ging. 

Der Alteſte lernte eben aus, als der kleine Franz 
geboren wurde, und nach dieſem kamen dann noch drei, 
de — wie er vordem den vorhergegangenen älteren — 
ſo nun ſeiner Obhut mit anvertraut wurden, ſobald er 
ſelbſt auf den Fuͤßen ſtehen konnte. Ohne viel Worte 


und ohne jede Zaͤrtlichkeit herrſchte immer ein gutes Zu⸗ 


ſammenhalten zwiſchen den Bruͤdern. Es aͤußerte ſich 
hauptſaͤchlich ebenſowohl in derben Pruͤgeleien, wie in 


ſolidariſchem Durchhelfen bei allen kleinen und großen 3 


Faͤhrlichkeiten ihrer im ganzen und großen recht muͤh⸗ 
ſeligen, aber nicht ungluͤcklichen Jugend. 


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3, 


Er hatte das Schwimmen nie „gelernt“; wenigſtens 
konnte er ſchwimmen, ſolange er zuruͤckzudenken vermochte, 
und das war etwa bis in ſein viertes Jahr. Damals 
fiel er auf einer Landpartie, deren Hoͤhepunkt eine Kahn⸗ 

fahrt bildete, ins Waſſer — die Frauen kreiſchten und 

die Maͤnner fluchten, waͤhrend er herausgeholt wurde; 
aber ihm machte die Sache Spaß, und er lachte feelen- 
vergnuͤgt, ſo daß jemand ſagte: „Der faͤllt uns gleich zu 
85 feinem eigenen Vergnügen noch mal hinein ... —” was 
die entſetzte Mutter veranlaßte, ihren RR für diefen 
Tag wenigſtens nicht mehr von der Seite zu laſſen. 
Aber das war eine jener Erinnerungen, die nur des⸗ 
halb ſo ſtark in uns zu liegen ſcheinen, weil wiederholte | 
Erzählungen anderer fie ſtuͤtzen und halten. 

4 In Wirklichkeit ſah ſich Franz Felder in feinen Ges 
‚ donken zuerſt als kleinen Jungen von fünf Jahren lange, 
eee warme Sommernachmittagsſtunden am Ufer der 
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bei Treptow. Seine Eltern wohnten damals in 
. zwei kleinen, heißen Zimmern in einem Hinterhauſe der 
Fruchtſtraße, aber der Vater hatte es zum großen Jubel 
4 ganzen Familie fertig gebracht, fuͤr den Sommer auf 
einem der Felder am Treptower Bahnhof eine der vielen 
id R Lauben“ zu mieten, und man hatte nun ein winziges 


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Stückchen Erde, auf dem man einige Kohlkoͤpfe ziehen 
und zu dem man hinauspilgern konnte in dem ſtolzen 
Gefuͤhl eigenen Beſitztums. 

Der Vater und der eine oder andere der Älteren 
Brüder, die ſchon arbeiteten, kamen erſt des Abends; 
aber die Mutter, welche kraͤnkelte, verbrachte oft mit den 
Juͤngſten ganze Tage auf dem reizloſen Fleck, wo ſie 
wenigſtens in freier Luft war. 

So oft er nur konnte, ruͤckte Franz aus. Erſt klagte 
und ſchalt die Mutter, dann ließ ſie ihn laufen, da es 
doch nichts half, ihn zurückhalten zu wollen. 

Eine beſondere Anziehungskraft hatte für ihn ein 
großer Holzplatz an der Spree. Seit er einmal, dort 
umherſchlendernd, fuͤr den Zimmermeiſter eine Weiße ge⸗ 
holt hatte, ſtand ihm der Zutritt gegen Leiſtung gelegent⸗ 
licher gleicher und ahnlicher kleiner Dienſte offen, und 
nichts hinderte ihn, zwiſchen den Balken und Staͤmmen 
herumzuklettern, fo viel er wollte. 

So wurde der Holzplatz feine Heimat für dieſen 
Sommer. Aus Spaͤnen kleine Kaͤhne zu bauen, ſie mit 
einem Knopf oder irgend etwas anderem zu „befrachten“, 
ſie dem großen Waſſer anzuvertrauen und zu ſehen, wie 
es fie hintrieb und verſchlang, wurde er nie müde; oder 
Gräben und Buchten zu bilden und das Waſſer hinein⸗ 
zuleiten und herumzupantſchen und zu mantſchen, bis 
der Feierabend allen ſeinen Spielen fuͤr dieſen Tag ein 
Ende machte. 

Ein befonderes Feſt war es jedesmal, wenn er in 
einem wirklichen großen Boote, das von der anderen 
Seite herübergekommen war und anlegte, ein Stuck mit⸗ 


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genommen wurde oder etwa gar ſelbſt eine Paͤtſchel 
fuͤhren durfte. 

Aber am meiſten von allem lockte ihn das Waſſer 
ſelbſt; und ſechsmal an heißen Sommertagen mindeſtens 
warf er Hemde und Hofe in den Sand und tauchte fich 
in die braune, traͤge, lauwarme Flut. Er ſchwamm ſchon 
wie ein Fiſch. Er ging auf den Grund und holte Steine 
aus dem Schlamm herauf. Er glitt unter den Floͤßen 
durch und verſchwand hier, um dort in die Hoͤhe zu 
kommen. — Und er lernte ſeinen erſten Sprung, den 
einfachen Kopfſprung. Erſt von dem Rand des Floßes, 
dann von dem des Nachens, endlich von dem des großen 
Spreekahnes plumpſte er — den Kopf voran und mit 
ausgeſpreizten Beinen — wie ein Froſch ins Waſſer. 

Ach, und wie war es ſchoͤn, den naſſen Koͤrper in 
das heiße Saͤgemehl zu werfen, ſich auf Bauch und 
Rüden darin herumzuwaͤlzen und dann den weißen Pelz 
mit einem Sprunge wieder abzuwaſchen! ... Und ſtunden⸗ 
lang in der Sonne zu liegen und die Kaͤhne und Dampfer 
mit feſtlich geputzten und froͤhlichen Menſchen auf der 
Spree voruͤberziehen zu ſehen, waͤhrend die roten Waͤnde 
der Fabriken und die weißen der Villen im Glanz des 
Sommertages aus dem Grün der Ufer hervorleuchteten 
und der blaue Himmel ſich über alles ſpannte, über die 


75 nahe Eiſenbahnbruͤcke die Ringbahnzuͤge donnerten und 
unter ihr die Dampfer pfiffen und laͤuteten ... 


Es war ein großer Sommer fuͤr den kleinen Kerl, 
der von den Arbeitern auf dem Platz, die ſich nur 
ſelten und nur bei uͤbergroßer Hitze ins Waſſer wagten, 
wie ein kleines Wundertier angeſtaunt und ihre „Otter“ 

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im Waſſer lag und feine erſten, kleinen Kunſtſtücke 
In Herbſt dieſes Sommers war er braun wie ven 9 


Neger, geſund und immer hungrig wie ein Haifiſch, und 
er been bereits, ſich etwas einzubilden auf ſeine Fre 
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4. 


Mit ſechs Jahren kam er, wie jeder andere Berliner 
Junge, in die Volksſchule, um bis zu ſeinem vierzehnten 
Jahre, dem der Einſegnung, in ihr zu bleiben. In dieſen 
Jahren lernte er ſchreiben, rechnen und leſen und einige 
allgemeine, elementare Kenntniſſe, das heißt, Franz Felder 
lernte auch hiervon nur das allernotwendigſte. Seine 
Schrift behielt immer die klobigen Formen der Ungewandt⸗ 
heit, und man ſah ihr an, wie muͤhſam es ihm wurde, 
die Feder zu führen; fein Rechnen ging gerade fo weit, 
um zur Zuſammenzaͤhlung ſeiner kleinen Ausgaben und 
Einnahmen zu dienen; und ſein Leſen — ach, der arme 
Franz Felder hat in ſeinem kurzen Leben wenig mehr 
geleſen, als hier und da den „Lokalanzeiger“ und eine 
Annonce an der Litfaßſaͤule, denn es iſt ihm ewig un⸗ 
verſtaͤndlich geblieben, wozu Buͤcher uͤberhaupt anders 
eriftierten, als um den Überfluß an Zeit zu beſeitigen. 

Er brachte ſich muͤhſam durch die acht Klaſſen bis 
zur erſten hinauf. Zweimal blieb er ſitzen, und drei⸗ 
mal half ihm ſein „gutes Betragen“ durch. Auch die 
guten Schuͤler konnten es nicht weiter bringen, denn bis 
zum vierzehnten Jahre mußten ſie alle miteinander in 


der Schule bleiben. Dann begann für fie alle das 


Leben —: die Arbeit. 
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2 begriff das wenige, was er zu ge batte, 12 
ver und manches gar nicht; aber was er einmal in 
ch aufgenommen hatte, war auch ſein geworden. RE 
Im allgemeinen war ihm die Schule hoͤchſt gleich⸗ 


tig; er ging bin, weil es nun einmal fein mußte. 


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Aber nicht allein durch die Schule, ſondern auch durch 
die Notwendigkeit fruͤhen Verdienens wurde ſeine Zeit in 
Anſpruch genommen, und je mehr, deſto älter er wurde. 

Zwar folgten auf jenen erſten Sommer frohen Um⸗ 
hertummelns und ſorgloſen Genießens. noch einige andere 
gleich und aͤhnlich ſchoͤne, aber immer oͤfter hieß es: „Du 
mußt dies und das tun und holen“ — und ein jeder 
ſolcher Befehle vernichtete einen Wunſch. Es kam auf 
jeden Groſchen an, der verdient werden mußte, und zu⸗ 
dem verlangten die juͤngeren Bruͤder Beaufſichtigung und 
Fuͤrſorge von den aͤlteren, wie er ſie ſelbſt von den Vor⸗ 
aufgegangenen genoſſen. 

Dennoch gab es immer noch viele Stunden ungetruͤbter 
Seligkeit fuͤr den Knaben, wenn er hinaus konnte ins 
Freie zum Baden. 

Es waren die Stunden, fuͤr die er lebte, an die er 
ſtets und ſtaͤndig am Tage dachte und von denen er des 
Nachts traͤumte — feine größte Freude und fein durch 
kein anderes uͤbertroffenes Vergnügen. 

Im Sommer mußte einmal am Tage wenigſtens 
gebadet werden, das war ſelbſtverſtaͤndlich, und der Tag 


verloren, an dem es nicht ſein konnte. Aber nicht etwa 
baden, was die anderen ſo nannten: aus den Kleidern 


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ins Waſſer und wieder hinein — ſondern hinein und 


hinaus und in die Sonne, und wieder und wieder ins 
Waſſer, und am liebſten ſo den ganzen Nachmittag. Und 
ſchwimmen und ſpringen und tauchen und im Waſſer 
wühlen wie ein Seehund — das nannte er baden. Als 
er noch ein kleiner Kerl war, gab es überall an der Spree 
Gelegenheit, ſplitternackt ins Waſſer zu ſpringen, wenn 
man nur aufpaßte, daß kein Schutzmann in der Naͤhe 
war. Aber als er älter wurde, ging es doch nicht mehr 
ſo gut außerhalb der Badeanſtalt und ohne Badehoſe. 
Vor dem Schleſiſchen Tor war ein großes Stuͤck 
Spree am Ufer durch einen hohen Zaun abgetrennt. Auf 
ſeiner Innenſeite zog ſich ein Gang an allen Seiten hin 
und es liefen Baͤnke an ihm entlang, über denen Nägel 
zum Aufhaͤngen der Kleider eingeſchlagen waren. Außer: 
dem gab es noch ein wackeliges Sprungbrett auf einer 
Art Turm, von dem man „bei Strafe“ hinunterſpringen 
mußte, wenn man ihn betreten hatte, und im Waſſer 
lag ein Kreuz aus Balken zur Beluſtigung der Badenden. 

Das war die große Schwimm⸗ und Badeanſtalt 
„Oſten“, die groͤßte Berlins. Die Balken und Bretter 
waren ſchwarz und morſch vor Alter und die Nägel ver⸗ 
roſtet, und nie wurde ein neuer eingeſchlagen, denn das 
haͤtte ja Koſten und Muͤhe verurſacht. Alles war ver⸗ 
wahrloſt, aber Raum gab es hier in Fülle, und an 
allen heißen Sommertagen waren die Gaͤnge vom Morgen 
bis zum Abend dicht beſetzt mit vielen Hunderten von 
nackten, ſchwitzenden Koͤrpern, und der Laͤrm in und 
außer dem Waſſer nahm kein Ende, ob am Nachmittag 
die barfuͤßige Jugend des Oſtens oder am Abend die 


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ſchwarze Arbeiterſchaft nach ihrem Tagewerk anrüdte, 
Das Bad koſtete einen Groſchen, und den ganzen Sommer 
konnte man hier fuͤr einen Taler baden. Was aber Franz 
Felder vor allem reizte, das war, daß man hier nie oder 
doch nur ganz ſelten herausgeſchmiſſen wurde, auch wenn 
man die formell vorgeſchriebene Badezeit von einer Stunde 
laͤngſt uͤberſchritten hatte. Bei der ungeheuren Menge von 
Badenden war es den Bademeiſtern ganz unmoͤglich, 
irgendeine Kontrolle auszuuͤben, und es war ihnen auch 
ganz gleichgültig, mochten ſich die Körper in und außer 
dem Waſſer ſtoßen und draͤngen und die Kleider uͤber— 
und die Stiefel durcheinander geworfen werden — To 
lange man ſich nur nicht pruͤgelte oder einer am Er⸗ 
trinken war und herausgeholt werden mußte, ruͤhrte ſich 
keiner vom Flecke. 

Franz beſchloß, hierher die Staͤtte ſeiner ſommer⸗ 
lichen Taͤtigkeit zu verlegen und daher mußte er den 
Taler haben. Das war ſehr viel Geld auf einmal, aber 
unmoͤglich ſchien es ihm nicht, ihn für ſich zuſammen⸗ 
zubringen, ohne daß die Mutter es merkte; denn die 
hätte natürlich geſagt, einmal in der Woche zu baden 
ſei genug — (ſo viel verſtand die davon!) — und haͤtte 
ihm das Geld abgenommen. Im Maͤrz fing er an zu 
ſparen: Sechſer fuͤr Sechſer und Groſchen fur Groſchen, 
und er hatte ein wundervolles Verſteck auf dem Dach⸗ 
boden des Hauſes in einem alten Strumpf und in einer 
Ecke, wo nie jemand hinkam, da kein anderer im ganzen 
Hauſe ſo geſchmeidig war, ſich bis dahin durch Bretter, 
Balken und Geruͤmpel durchzuwinden. Aber im Mai 
wurde der Vater krank, und eines Abends kroch Franz 


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voll Edelmut, aber nicht ohne Bitterkeit hin zu feinem 
Schatz und trug ihn in die Apotheke. 

Jetzt mußte er von neuem anfangen, und er tat es: 
er trug des Morgens Fruͤhſtuͤck aus, bevor er zur Schule 
ging, und lauerte am Nachmittag auf die Reiſenden am 
Schleſiſchen Bahnhof, denen er hier und da ein Stüd 
Gepaͤck trug, und als im Juni nach einem kalten Fruͤh⸗ 
ling der herrliche, geliebte Sommer und ſeine Sonne 
kam, lag er im Waſſer und ſchwamm, daß es eine Art 
hatte. Dieſe Sommer-Nachmittage waren noch fein — 
in dieſen und in den naͤchſten Jahren — ſo lange er 
auf der Schule war. Er ließ ſie ſich nicht verkuͤrzen. 
Nach dem Eſſen ruͤckte er aus und kam am Abend 
wieder, mochten ſie daheim ſagen, was ſie wollten. 
Zwiſchen dieſen vier ſchwarzen, haͤßlichen Bretterwaͤnden, 
die alles, nur nicht den Himmel verſperrten, verbrachte 
er die langen Stunden ungezaͤhlter Nachmittage. Hier 
war die Welt, in der er lebte. Hier lernte er ſeine erſten, 
kunſtgerechten Sprünge, und hier bildete er feinen kleinen 
Körper in unausgeſetzter Übung zu der Kraft aus, die 
ihn ſpaͤter zu den Leiſtungen ſeiner Siege befaͤhigen ſollte. 

Solange er noch nicht eingeſegnet war, brachte er es 
fertig, ſich für jeden Sommer feinen Taler zuſammen⸗ 
zuſparen, und dieſe Sommer vergingen ihm faſt wie ein 
einziger, langer, warmer Sonnentag, den er — durch⸗ 
ſchwamm. — 

Aber auch die Winter dieſer Jahre ſeiner fruͤhen 
Kindheit waren nicht ohne alle Freuden. Die Stadt 
Berlin hatte nach langem Zoͤgern im Oſten ein großes, 
rotes Gebaͤude errichtet: eine Volksbadeanſtalt mit muſter⸗ 


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hafter Einrichtung, die neben den mancherlei Arten von 
Wannen⸗ und Brauſebaͤdern als Mittelpunkt auch eine 
große Schwimmhalle umfaßte, die Sommer wie Winter 
geöffnet war und das Schwimmen zu jeder Jahreszeit 
ermöglichte. 

Es war die zweite ſtaͤdtiſche Anſtalt dieſer Art. Bisher 
hatten ſich in Berlin nur zwei oder drei andere Privat⸗ 
Anſtalten mit Schwimmbaſſins muͤhſam zu halten ver⸗ 
mocht, da die wenigſten Menſchen uͤberhaupt von der 
Möglichkeit, „im Winter zu ſchwimmen“, keine Vorſtellung 
hatten und die Exiſtenz ſolcher Schwimmhallen ihnen da= 
her einfach unbekannt und unverſtaͤndlich war. 

Fuͤr Franz Felder waren dieſe privaten Anſtalten des: 
halb nicht in Betracht gekommen, einmal weil ſie viel 
zu entfernt lagen, und dann, weil das Baden in ihnen 
viel zu teuer war. So war die neue Anſtalt der Stadt 
wie für ihn gebaut, und wenn er auch im Sommer an 
dem ſchmucken Gebäude mit Verachtung vorbei und in 
den großen Kaſten an der Spree lief, ſo wandte ſich 
ihm doch ſeine ganze Aufmerkſamkeit zu, als der „Oſten“ 
ſich hinter ihm als dem letzten Badenden bis zum naͤchſten 
Sommer ſchloß und der alte Bademeiſter, als er ihn 
endlich endguͤltig hinausſchmiß, halb brummend, halb 
lachend gemeint hatte: „Na, weeßte, du haft ooch mehr 
an uns als wir an dir verdient!“ 

Franz brachte es fertig, Eintritt auch in das neue 
Ziel feiner Wuͤnſche zu erlangen. Es war allerdings nicht 


an ein Abonnement für den ganzen Winter zu denken — 


eine unerſchwingliche Summe, die er weder zuſammen⸗ 


1 gebracht haͤtte, noch gewagt haben wuͤrde, ſelbſt fuͤr 


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dieſen Zweck zu verwenden, auch wenn er im Winter die 
Zeit gehabt haͤtte zu taͤglichem Baden; ſchon die ein⸗ 
zelnen Baͤder waren fuͤr ihn teuer. Aber ſie waren doch 
zuweilen erſchwingbar, und außerdem wurden von der 
Gemeindeſchule aus die jüngeren Schüler ein⸗ oder zwei⸗ 
mal woͤchentlich vom Lehrer hierher gefuͤhrt, und bei dieſer 
Gelegenheit überfam Franz eine Ahnung von dem Zweck 
und Nutzen der Schule. Dieſe Freibäder verſoͤhnten ihn 
mit mancher anderen langweiligen und laͤſtigen Stunde. 
Das einzige, was ihm dieſe Freibaͤder im Winter zu 
verkümmern vermochte, war die Kürze der vorgeſchriebenen 
Zeit, in der die Kinder im Waſſer verweilen durften, und 
ob auch der Lehrer, ſelbſt ein großer Schwimmer und 
gütiger Freund feiner Kleinen, bei Franz ein Auge zus 
druckte, wenn dieſer ſelbſt durch die Schnelligkeit, mit 
der er ſich in ſeine Kleider warf, ein paar Augenblicke 
laͤngeren Verweilens in dem geliebten Naß zu ergattern 
vermochte, ſo war es Franz doch immer, als ſei er kaum 
einmal untergetaucht, und er hatte im Grunde ſeines 
Herzens für dieſe Art von Schwimmerei immer nur das 
eine Wort tiefer Verachtung: „Det is ja jarniſcht!“ — 
Und trotzdem haͤtte er ſelbſt dieſe in ſeinen Augen ſo 
flüchtigen Augenblicke nicht miſſen können und wollen, 
denn immer ſeltener wurden die Male, in denen er allein 
dieſe wunderbare, warme Halle, die ihm der Inbegriff 
aller Weite und Schönheit war, beſuchen und mit dem 
Aufgebot aller Schliche ſo lange als irgend moͤglich in 
ihr verweilen konnte; und immer ſeltener und begehrter 
zu Hauſe wurden die Groſchen, die er ſich durch kleine 
Beſchaͤftigungen, wie das Brotaustragen am frühen, kalten 


9 


Morgen vor der Schule und den Verkauf von kleinen 
Straßenwaren in den Weihnachtstagen und durch ſtetes 
Aufpaſſen auf jede andere moͤgliche Gelegenheit zu ver⸗ 
dienen wußte. 

Früh wurde fein junges Leben muͤhſam und ernſt. 
Aber ungluͤcklich war er nicht, denn er konnte ja ſchwimmen, 
Sommer wie Winter ſchwimmen. Ungluͤcklich waͤre er 
nur geworden, wenn man ihm dies ſein einziges Ver⸗ 
gnuͤgen ganz genommen haͤtte. Aber daran dachte keiner, 
denn keiner verſtand, wie es ein jo großes Vergnügen 
ſein konnte. 

So erreichte Franz Felder ſein vierzehntes Lebensjahr. 


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6. 


Bisher hatte er von feinem Schwimmen nichts ges 
habt, als fein Vergnügen. „Brotloſe Kuͤnſte!“ ſagte fein 
Vater eines Tages, als Franz wieder einmal ſein Fort⸗ 
bleiben an einem ganzen Nachmittag und einem halben 
Abend mit nichts anderem zu entſchuldigen wußte, und 
dieſer konnte ſich nur mit dem Gedanken über dieſen 
Ausſpruch tröften, daß fein Vater eben auch nichts vom 
Schwimmen verſtehe. Er bedauerte ihn deshalb tief, 
denn für ihn gab es nur zwei Arten von Menſchen: 
ſolche, die ſchwimmen, und ſolche, die nicht ſchwimmen 
konnten. Die letzteren waren für ihn eine untergeordnete 
Klaſſe von Menſchen, jedes Mitleids wuͤrdig. 

Nun aber — er ſtand in ſeinem dreizehnten Lebens⸗ 
jahre — brachte ihm ſeine Faͤhigkeit den erſten Erfolg 
in den Augen der Menſchen, und einen ſchoͤnen. — 

Es war an einem Sonntag⸗ Nachmittag, und Franz 
lag im Graſe an der Spree nahe der Kirche in Stralau, 
die ihren grauen Turm aus alten Linden und Ulmen 
heraus neugierig in den wolkenloſen Himmel ſtreckte. 
Franz war ganz allein. Seinen Freunden, die ihn zu 
einer Waſſerpartie nach Sadowa überreden wollten, hatte 
er einen Korb gegeben — einmal, weil ein paar mit⸗ 
machten, die ihm nicht paßten, da fie ihm zu rüdig 


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waren, und ſodann, weil er nur drei Sechſer in der Taſche 
hatte, uͤber die bereits anderweitig fuͤr morgen verfuͤgt 
war. Zudem war er ganz gern allein, und die Paͤtſchelei 
machte ihm nur dann Vergnuͤgen, wenn ſie mit einem 
regelrechten Bade verbunden war. 

Franz alſo lag in dichtem Graſe, ſog an ausgerupften 
Halmen und ließ in augenblicklicher Ermangelung eines 
Beſſeren einen um den anderen ſeiner nackten Fuͤße ins 
Waſſer haͤngen. Erſt hatte es ihm Spaß gemacht, nach 
den Sommergaͤrten von Treptow, die alle ſchwarz von 
Menſchen waren, und auf die Spree, wo ſich Unmengen 
von kleinen Booten, Kaͤhnen und Seglern herumtrieben, 
hinauszuſchauen, und er hatte ſich vorgenommen, einmal 
aufzupaſſen, wie lange es wohl dauern wuͤrde, bis eine 
dieſer meiſt von den ungeuͤbteſten Haͤnden gelenkten 
Schalen in den Kurs eines der ſchwerfaͤlligen Dampfer 
kam, die einer nach dem andern menſchenuͤberladen und 
unter ohrbetaͤubendem Geklingel ſpreeauf- und abwärts 
an ihm vorbeifuhren. Denn alle Sonntage kamen hier 
einer oder mehrere Unfaͤlle vor, und das Gottvertrauen, 
mit dem der Handlungsgehilfe aus NO. und der Friſeur 
aus SW., denen doch ſonſt vor jeder Berührung mit 
dem Waſſer inner⸗ und aͤußerlich graute, die Boote mit 
ihren Schönen beluden und direkt auf die Dampfer los: 
fuhren, hatte etwas Ruͤhrendes. Aber, wie es immer iſt: 
wenn wir auf ein Ereignis warten, kommt es nicht, und 
jo wurde auch Franz bald müde, auf die Waſſerflaͤche 
hinauszublinzeln, und er ſah zur Abwechſlung hinauf in 
den Himmel, indem er ſich auf den Ruͤcken warf. 


Od es wohl ein Waſſer gab, das fo tief und fo 


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blau war, wie dieſer Himmel dort oben? Was mußte 
das fuͤr eine Luſt ſein, darin zu baden! — Er dachte 
an einen ſeiner Lehrer, der einmal von einem Maͤrchen 
erzaͤhlt hatte. In dem kam ein Bergſee vor, der ſollte 
„No tief wie das Meer und jo blau wie der Himmel“ 
ſein. Aber Franz konnte ſich keine rechte Vorſtellung von 
einem Bergſee machen, und außerdem war es ja ein 
Maͤrchen, das der Lehrer erzaͤhlte. Die Spree war immer 
dunkelbraun und ſchmutzig, und auch in dem Volksbad 
konnte man nicht auf den Grund ſehen, auch dann nicht, 
wenn das Baſſin gereinigt und mit friſchem Waſſer ge⸗ 
füllt war. Aber es mußte doch wunderſchoͤn fein, eins 
mal in einem ſo ganz klaren, durchſichtigen Waſſer zu 
baden 

Und da empfand Franz auch ſchon mit heftigem Un⸗ 
behagen, daß er heute noch gar nicht im Waſſer geweſen 
war. Wenn er es wagte? Aber das waͤre doch wohl 
eine zu große Frechheit geweſen, am Sonntag, hier vor 
allen Leuten — wenn ihn da ein Schutzmann erwiſchte, 
wuͤrde es ſchoͤne Senge abſetzen, und nicht die allein. 
Nein, er mußte ſchon warten, bis es dunkel geworden 
war, und dann auf dem Heimweg noch ſchnell einmal 
irgendwo hineinſpringen. Weshalb waren doch nur alle 
Badeanſtalten am Sonntag nachmittag geſchloſſen — 
das war doch zu dumm! — Wo alle anderen Ver⸗ 
gnuͤgungslokale geoͤffnet waren, blieben die, wo es das 
allergrößte gab, zu! — — — 

Und wenn er nun doch jetzt ſein Bad naͤhme! — 
Er getraute es ſich, ſeine Kleider abzuwerfen und ſo 
lautlos ins Waſſer zu ſchluͤpfen, unter ihm hin eine 


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Strecke zu ſchwimmen, einmal aufzutauchen, um Atem 
zu ſchoͤpfen, dann ſo lautlos wieder zuruͤckzuſchwimmen, 
daß kein Menſch ihn bemerken ſollte. Aber eine boden: 
loſe Frechheit waͤre es doch geweſen und wenn wirklich 
ein Schutzmann in der Naͤhe war — und immer war 
ein ſolcher Kerl irgendwo in der Naͤhe! — und die 
Kinder ein Geſchrei erheben würden... 

War da ſchon einer? — Schrien die Kinder oder 
wer ſchrie ſo? — Franz ſprang in die Hoͤhe. Hatte er 
es nicht gleich geſagt? — Na ja, gleich der ganze Kahn 
um und alles ins Waſſer! — Und ein Geſchrei und Ge⸗ 
rufe und ein Laufen — jetzt aber raus aus dem Hemde 
und ins Waſſer! — Er fuhr durch das Waſſer wie nie 
in kurzen, kraͤftigen Stoßen. Er wollte ſchon auf den 
Kahn zu, als er — noch ein Stuͤck von ihm entfernt — 
etwas auf dem Waſſer kaͤmpfen und unterſinken ſah: 
einen Jungen, ein paar Jahre ‚jünger nur, als er ſelbſt. 
Er erreichte ihn noch gerade und packte ihn beim Arm. 


Aber der klammerte ſich auch gleich an ihm feſt, und 


Franz hatte Muͤhe, wieder loszukommen. Denn ſo ging 
das ja nicht. Er ſchrie ihm zu, ganz ruhig zu ſein, er 
bringe ihn ſchon ans Land. Aber der andere war ſchon 
wieder mit dem Kopfe unter Waſſer und hoͤrte nichts 
mehr. 

Da ließ ihn Franz einen Augenblick ganz los, griff ihn 
dann feſt unter dem Arm und brachte nun den ſich nicht 
mehr Straͤubenden — denn der hatte einſtweilen genug 
Waſſer geſchluckt — langſam, aber in ſicheren und kraͤftigen 
Stoßen ans Land. 

Dort ſtreckten ſich ſchon hundert Haͤnde aus — nicht 


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nach dem Retter, um den kümmerte ſich keiner — ſondern 
nach dem andern, und Franz war froh, daß man ihn in 
Ruhe ließ. Er ſuchte nach ſeinen Kleidern. Alles lag 
noch da, aber ſeine Jacke fehlte. Er ſuchte und ſuchte, 
ohne ſie finden zu koͤnnen. Erſt wollte er Skandal 
machen. Doch dann haͤtten ſich alle die Menſchen, die 
ſich dort um den Geretteten bemuͤhten oder ihn neu⸗ 
gierig umſtanden, nach ihm gewandt und ihn ausgefragt. 
Fragen aber war ihm ein Greuel. Und es nuͤtzte ja doch 
niſcht! — der ſeine Jacke mitgenommen hatte, der 
Halunke, war jetzt doch ſchon über alle Berge! 

Er machte beſſer, daß er fort kam, denn er glaubte, 
einen Lehrer am Ufer erkannt zu haben. Nur keine Quat⸗ 
ſcherei! 

Er ſah noch gerade, daß der Junge wieder aufrecht 
ſtand, den er herausgeholt; dann rannte er, was er konnte. 
Aber als wirklich der Lehrer ſich nach ihm umſah, war 
Franz laͤngſt verſchwunden. 

Er trottete in Hemdsaͤrmeln nach Hauſe. Sein Bad 
hatte er ja nun gehabt. Aber als er mit geſenktem Kopf 
an den Scharen der ſonntaͤglichen Spaziergaͤnger die lange 
Straße laͤngs der Spree nach Hauſe trabte, mußte er 
einmal doch die aufſteigenden Traͤnen hinunterſchlucken, 
als er daran dachte, daß er nun ohne Jacke nach Hauſe 
kam, und an den Skandal, den es abſetzen würde. Denn 
ſagen, wie es wirklich geweſen war, das konnte er 12 


nicht. 


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K 


1 Er hatte die ganze Sache laͤngſt vergeſſen, und auch 
deer Laͤrm um die Jacke zu Haufe war verhallt, als ihm eines 
Tages in der Schule die Eroͤffnung wurde, daß ihm „fuͤr 
ſeine mutige Tat“ die Medaille verliehen werden und 
daß er ſie am Tage der Entlaſſung aus der Schule in 
Öffentlicher Feierlichkeit erhalten ſollte. 

Er wußte zuerſt nicht, was er dazu ſagen ſollte, und 
hoffte die Sache damit zu erledigen, daß er nicht daran 
glaubte. Das war auch nur wieder ſo eine Quatſcherei 
— wegen ſo was! Aber er irrte ſich. Die Medaille war 
ihm wirklich zuerkannt, und zwar auf Betreiben desſelben 
Lehrers an ſeiner Schule, der zufaͤllig an jenem Sonntag 
in der Naͤhe geweſen war und vergebens nach ſeinem 
Schuͤler geſucht hatte, nachdem er durch ſeine praktiſchen 
Anordnungen den Geretteten wieder ſo weit gebracht, daß 
er Luft ſchnappen konnte. 

Franz machte dieſe Feier kein Vergnuͤgen. Es war ihm 
unangenehm, ſo vorgerufen und von allen Augen angeſtaunt 
zu werden, als habe er Gott weiß was getan, und er 
. haͤtte ſich am liebſten in die Erde, oder noch weit lieber: 
ins Waſſer verkrochen. Aber das ging nun einmal nicht. 
Der Rektor hielt eine Rede, von der er wenig ver⸗ 


ſtand, da er nicht zuhoͤrte. Dann mußte Franz vortreten 
vn 3 


Er > 


vor die andern Schüler und die Herren in ſchwarzen 
Röcken hin, und er fühlte, daß er rot wurde, als ihm 
die kleine, braune Bronze⸗Medaille an die Bruſt geſteckt 
wurde. Aber trotz aller Unbehaglichkeit durchdrang ihn 
doch in dieſem Augenblicke ein Gefuͤhl großer Gehoben⸗ 
heit, etwa aͤhnlich dem, das er empfand, wenn er ganz 
allein draußen auf ſeinem Elemente ſchwamm und fuͤhlte, 
wie er es beherrſchte. Und dies Gefühl mußte ſich in 
ſeinen Augen widerſpiegeln, mit denen er jetzt aufſchaute 
zu dem ſonſt ſo gefürchteten Rektor. Denn als dieſer 
den Ausdruck ſtummer Begeiſterung in den blauen, ehr⸗ 
lichen Augen des Knaben ſah, ihm ſo ungewohnt bei 
feinen fühlen, fruͤh lebensklugen Berliner Kindern, legte 
er noch einmal ſeine Hand auf den kurzgeſchorenen Kopf 
vor ihm, und ſich etwas niederbeugend, fügte er feinen 
Worten noch hinzu: 

— Du wirft gewiß einmal ein ſehr tuͤchtiger Schwimmer 
werden 

Da aber antwortete Franz mit einer ſeiner ſonſtigen 
Schwerfaͤlligkeit ganz fremden Ploͤtzlichkeit und Schlag⸗ 
fertigkeit — und wieder ſtand das ſeltſame Leuchten in 
ſeinen Augen: 

— Das bin ich ſchon! 

Der Rektor lächelte, # 

— Aber ja. Sonſt hätteft du dir das da nicht verdient. 
Ich meinte auch nur, daß du dich noch weiter ausbilden 
kannſt; das willſt du doch gewiß? 

Franz war wieder der alte, und er antwortete mit 
ſeiner eben zu der Einſegnung eingelernten Verbeugung, | 


ER 


die das einzige war, was ihm von der ganzen Geſchichte 
„dieſer heiligen Handlung“ geblieben war, nur: 

— Jawohl, Herr Rektor! 

Die Feierlichkeit war zu Ende und keiner froher daruͤber, 
als Franz, der ſofort nach der Volksbadeanſtalt ſtuͤrzte 
und ſie gerade noch lange genug offen fand, um im Waſſer 
für eine halbe Stunde zu vergeſſen, was auf der Erde 
um ihn vorging. 

Acht Tage vorher war er eingeſegnet worden, und ſo 
waren die beiden groͤßten aͤußeren Ereigniſſe ſeiner bis⸗ 
herigen kindlichen Jugend zuſammengefallen. 

Die Einſegnung ſelbſt hatte ihn ganz kalt gelaſſen und 
er hatte mit dem beiten Willen nicht die üblichen Tränen 
hervorquetſchen koͤnnen, die bei dieſer Gelegenheit erwartet 
wurden. Aber die Verleihung der Medaille hatte ihn doch 
etwas innerlich erregt, da die anderen ſo viel Weſens 
davon machten und ihn anſtaunten, wo er ging und ſtand. 
Den tiefſten Eindruck machte es ihm, daß ſein Name in 
den Zeitungen ſtand, und als an einem Abend dieſer 
Woche der Onkel Sattlermeifter aus der kleinen Markus: 
ſtraße in dem elterlichen Keller erſchien und mit droͤh⸗ 
nender Stimme bei verſchiedenen Weißen die Notiz im 
„Lokal⸗Anzeiger“ uͤber feinen Neffen vorlas, da war dieſer 
faſt jo glücklich, wie einige Tage ſpaͤter, als derſelbe Onkel 
ihn „zur Einſegnung“ mit einer ſilbernen Taſchenuhr 
beſchenkte. 

Jetzt war er von der Schule endguͤltig frei, die er 
im letzten Jahre geradezu gehaßt hatte. Er war nun 
darauf angewieſen, auf eigenen Fuͤßen zu ſtehen, Geld zu 
verdienen, um feinen Eltern ein Koſtgeld zu zahlen, mit 

3 


zꝛuſammengehalten und gefucht, ſich das Leben gegenfeitig, 


f einem Wort: ſich durchs Leben zu ſchlagen, ſo gut es 


entſcheiden. 


vierzehn Jahre alt geworden war, erklaͤrten die Eltern, 


ſelbſtaͤndig gemacht, d. h. geheiratet hatten oder in die 


1 


Fuͤr einen beſtimmten Beruf konnte er ſich noch nicht 


Die beſſeren Berufsarten, die der Mechaniker, In⸗ 
genicure uſw., bei denen ein Lehrgeld in der Hoͤhe von 
mehreren hundert Mark zu bezahlen war, waren uͤberhaupt 
ausgeſchloſſen, da ſein Vater nie in der Lage geweſen 
waͤre, auch nur hundert Mark auf einmal fuͤr einen ſeiner 
Söhne aufzutreiben. Aber auch die Lehrſtellen, bei denen 
ein Lehrgeld nicht gefordert wurde, die nur die drei⸗ oder 
vierjaͤhrige Verpflichtung unentgeltlicher Kraft verlangten 
oder nach einiger Zeit und ſogar von Anfang an ein 
kleines, von Jahr zu Jahr um etwas hoͤher werdendes 
Gehalt auszahlten, waren ihm verſagt, denn jetzt, wo er 


ihn nur bei ſich behalten zu können, wenn er wöchentlich 
feinen Beitrag für Wohnung und Eſſen beiſteuerte. 
Alle ſeine Brüder hatten das getan, bevor fie ſich 


Fremde gegangen waren, und Franz waͤre der letzte unter 
ihnen geweſen, der nicht eingeſehen haͤtte, wie berechtigt 
die Forderung war. Die Familie Felder hatte immer 


zu erleichtern; daß es ſo ſchwer war, nahmen alle als 
eine unabaͤnderliche Notwendigkeit, und Franz machte 
keine Aus nahme, wenn er nicht Darüber nachdachte, warum 
es eigentlich für fie alle jo ſchwer war 

Er ging ohne Zaudern daran, ſich Arbeit zu ſuchen. 
Er ſchreckte vor keiner zurück. Im Winter war er Lauf⸗ 


ee 1 


burſche und Austräger in verſchiedenen Geſchaͤften, hatte 
dann eine Stelle als Bote in einem großen Zigaretten⸗ 
Importgeſchaͤft, zu dem er in einer auffallenden Uniform 
und in einer Muͤtze mit Aufſchrift gehen mußte; und im 
darauffolgenden Sommer zog er fuͤr eine Papeteriewaren⸗ 
handlung mit einem Karren und einem Hunde, meiſt allein, 
zuweilen aber auch mit einem zweiten Jungen, vom Morgen 
bis zum Abend in der ganzen Umgegend von Berlin herum, 
um Waren abzuliefern. So brachte er es fertig, waͤhrend 
dieſes ganzen Jahres nie weniger als zehn Mark die Woche 
zu verdienen, und meiſtens noch etwas mehr, bis zu 
dreizehn und ſelbſt vierzehn, die Trinkgelder eingerechnet. 


8. 


Alles, was er an Geld und Zeit erübrigen konnte, 
gehoͤrte bis auf die letzte Minute und den letzten Pfennig 
feiner erſten Liebe: dem Waſſer! — 

Immer brachte er es fertig, auf ſeinen Geſchaͤfts⸗ 
gaͤngen — und mußte er ſich noch ſo ſehr vorher und 
nachher beeilen — jo viel an Zeit zu erübrigen, daß er 
in das zunaͤchſt gelegene Schwimmbad eilen konnte auf 
ein kurzes, oder, wenn es irgend anging, auf ein langes 
Bad. Im Sommer faſt taͤglich: da befand er ſich meiſt 
in den Vororten von Berlin, und ſtatt der wenigen 
Winter⸗Schwimmbaͤder der Stadt fand er Überall ein 
Sommerbad. Und mochte er in Reinickendorf oder 
Steglitz, am Ploͤtzenſee oder in Rirdorf ſein — im Sommer 
wenigſtens durfte kein Tag vergehen, an dem er nicht 
in die Fluten tauchen konnte, die ſein Element waren. 
Er verzichtete auf die Mittagsruhe unter einem Baum 
auf dem Felde; er uͤberredete feinen Kameraden, mit dem 
Wagen eine halbe Stunde auf ihn zu warten, und ver⸗ 
ſuchte es auf alle Weiſe — ſelbſt durch Beſtechung mit 
einem Sechſer oder mit einem Glas Bier; er ſtellte den 
Wagen bei Bekannten, die er überall machte, fuͤr eine 
Stunde unter, nur um auf fein Vergnügen nicht ver: 
zichten zu muſſen. Sonſt fo ſchwerfaͤllig, wurde er ſchlau 


gg! 

4 
0 

1 


— 8 


in der Anwendung der Mittel, die ihn zu ſeinem Ziele 
fuͤhren konnten: ſeinem taͤglichen Bade. 

übrigens fand er im Sommer meiſt Zeit. Bei dieſen 
weiten, tagelangen Fahrten konnte ſein Fortbleiben vom 
Geſchaͤft aus nur ſelten ſo genau kontrolliert werden, 
wie im Winter; wenn er abends, und mochte es auch 
ſchon ſpaͤt ſein, mit dem leeren Wagen nach Hauſe kam 
und nur alle Beſtellungen abgeliefert waren, war der 
Chef zufrieden, um ſo mehr, als Franz ſehr zuverlaͤſſig 
und ehrlich war, ſo daß ihm oft große Summen zur 
Einkaſſierung anvertraut wurden. 

Auch die paar Groſchen fuͤr das Bad fand er immer. 
Sie waren ſeine einzige Ausgabe. Er hatte ſonſt kein 
Beduͤrfnis und verzichtete lieber auf ſein Glas Bier, als 
auf ſein Bad. Er konnte hungern und durſten — und 
oft genug tat er beides —: aber ſein Vergnuͤgen ließ er 
ſich nicht nehmen. Auch war es ja ein ſo billiges Ver⸗ 
gnügen. Da er ſich immer noch in vielen Faͤllen auf 
ein Kinderbillet durchſchmuggelte, ſo koſtete ihm ſein 
Hallenbad nicht mehr als zwanzig, ſein Sommerbad meiſt 
aber nur zehn Pfennig. Das konnte er ſich ſchon leiſten. 
Nur ſprach er nicht mehr fo viel von feinem Vergnügen, 
Die Mutter haͤtte ſelbſt uͤber die kleine Ausgabe geklagt, 
und ſeine Freunde verſtanden ſeine Leidenſchaft doch nicht 
fo, wie er fie fühlte. So umgab er fie mit der ganzen 
Heimlichkeit einer wirklich erſten Liebe und ſtahl ſich zu 
feinem einzigen und größten Vergnügen wie zu einem 
Stelldichein. 

Seine kleine Badehoſe, die zuſammengerollt nicht 
großer war als feine Fauſt, trug er mit ſich, wo er ging 


Re und ſtand. Und mehr als fie, den Groſchen und eine 
Stunde Zeit, brauchte er ja nicht. 

Es war eine harte und freudlofe Kindheit, die dem 
Knaben beſchieden war. Aber eine große Freude, die 
ſchon jetzt etwas von der alles in ihm beherrſchenden, 
verzehrenden Leidenſchaft ſpaͤterer Jahre an ſich hatte, 


bͤbbergoldete ihre graue Nüchternheit, ließ ihn Müdigkeit 


und Entbehrungen vergeſſen, und dieſe Freude war es, 


KR in der er feine ganze Jugend auslebte und auskoſtete in 


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* 


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ihrer erſten Kraft und in ihrem erſten unendlichen Ge⸗ 
nießen. 


* 
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9. 


Ihm war das Schwimmen noch keine Kunſt. Er 
ahnte noch nicht einmal, daß es als eine ſolche betrachtet 
werden konnte. Wohl wußte er von der ſportlichen Aus⸗ 
bildung der Schwimmer, aber dieſe reizte ihn nicht. Sie 
war ihm fremd. 

Wie als kleiner Kerl von fuͤnf Jahren, ſo tummelte 
er ſich auch jetzt noch im Waſſer, nur daß er mit ſeiner 
zunehmenden Kraft gelernt hatte, es jetzt völlig zu be⸗ 
herrſchen. 

Als nochmals ein Sommer zu Ende ging, da gab es 
fuͤr den jungen Burſchen kein Waſſer in der ganzen 
naͤheren Umgebung von Berlin, wenn es nur ebenſo groß 
war, daß man in ihm baden konnte, in dem er nicht 
geſchwommen haͤtte. Berlin war eine große Stadt mit 
vielen Straßen und unzaͤhligen Haͤuſern, aber ihre Be⸗ 
deutung beſtand doch nur darin, daß um ſie herum die 
Teiche und Seen lagen und daß ſie der dunkle Fluß 
durchzog 

Er ſchwamm nur zu ſeinem Vergnuͤgen und nur 
zu eigener Luſt. Sein einziger Wunſch war, den 
ganzen Tag im Waſſer zu liegen, und er war gluͤck⸗ 
lich uͤber die langen Sonntag⸗Nachmittage, an denen er 
es konnte. 


3 

Mit ſeinen kurzen, ſtaͤmmigen Beinen, ſeinen feſten 
Armen, an denen ſich die Muskeln auszubilden be⸗ 
gannen, beherrſchte er das Waſſer mit vollkommener 
Sicherheit. 

Es war ſein Freund, zu dem er unbedingtes Vertrauen 
hatte — ſein beſter, ſein einziger Freund. An ſeiner Bruſt 
vergaß er alle Muͤhſeligkeiten ſeines jungen Lebens, und 
wenn er bei ihm ſein durfte, war er gluͤcklich. 

Und das Waſſer vergalt ihm ſeine Liebe. Es war 
wie ein Aufſchrei der Freude ſeiner Wellen, wenn es ihn 
umfing, und es trug ihn ſicher und freundlich, wie er 
nur wollte. Sie ſpielten, ſie rangen miteinander, wie 
Knaben es tun, um ihre Kraft zu meſſen, aber ſie ver⸗ 
trugen ſich immer. 

Ach, und wie der Knabe es liebte! 

Wie andere Kinder den weißen Sand, mit dem ſie 
ſpielen, durch die Haͤnde gleiten laſſen, ſo nahm er oft, 
auf dem Rücken liegend, das fluͤſſige, raͤtſelhafte Element, 
um es zu faſſen, in die Haͤnde, und es zwiſchen den 
Fingern zerrinnen zu ſehen in flüchtigen Blaſen. 

Wie andere Kinder zu ihrer Mutter gehen mit ihren 
Klagen und Wünſchen, fo kam er zu ihm, um ſich troͤſten 
zu laſſen. 

Sein ganzer, kleiner Körper zitterte vor Aufregung, 
wenn er das Waſſer ſah, und er ſuchte den koͤſtlichen 
Augenblick zu verlaͤngern, in dem er hinein durfte. 

Lag er dann im Waſſer, ſo rollte er ſich zunaͤchſt 
förmlich über die Fläche hin, uͤberſchlug ſich vor Wonne 
und kugelte ſich zuſammen, ging unter und kam wieder 
hervor, ſtreckte die Glieder in unendlichem Wohlbehagen 


2 Pr 


+ 
4 


1 


und glitt auf der Oberfläche hin, wie eine Schlange, bis 
er zu ſchwimmen begann. 

Dann ſchwamm er, ruhig, langſam und lautlos, fait 
andaͤchtig; oder in voller Kraft auf ein Ziel los, daß das 
Waſſer rauſchte. 

Er ſchwamm, und er wurde nie muͤde. 

Er tauchte, und feine kleine Bruſt weitete ſich mühelos. 

Er ſchwamm und ſchwamm, wo und wann er konnte. 
— Es war ein heißer Sommer, ein langer Sommer, ein 
arbeitsvoller Sommer. 

Aber es war doch ein Sommer voll Freude. 

Viel noch ſollte Franz Felder in ſeinem Leben ſchwimmen. 

So ſorglos, ſo unbekuͤmmert vielleicht nie mehr. 


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* 


J. 


Auch dieſer Sommer war vorbei, und wieder war es 
zu kalt geworden, um im Freien zu baden. Die offenen 
Sommeranſtalten ſchloſſen ſich. Franz Felder hatte ſeine 
Stelle aufgeben muͤſſen, da im Geſchaͤft nicht mehr genug 
zu tun war, und ſuchte nun nach einem geruͤhrten Ab⸗ 
ſchied von Caͤſar, dem treuen Gefaͤhrten ſo vieler ſchoͤner, 
heller Sommertage, nach einer neuen Stelle für den 
Winter. Einſtweilen nahm er mit, was er kriegen konnte. 

So oft er konnte, ging er nun wieder in das große 
Volksbad, deſſen hohe, warme Halle ſich das ganze Jahr 
über nur an den zweiten Feiertagen ſchloß und immer 
weniger beſucht wurde, je kaͤlter es draußen wurde. 

Es war ja nicht dasſelbe, ſagte Franz zu ſich, wie 
das Baden im Freien. Aber es war doch wenigſtens ein 
Waſſer, in dem man ſchwimmen konnte. 

Als er eines Abends ſo mit ſeinen Kameraden im 
Baſſin tummelte und ſie gerade in einer kleinen race 
auf SO Meter ſpielend geſchlagen hatte, kam ein Herr 
auf ihn zu, den er ſchon oft geſehen, und fragte ihn, 
ob er denn nicht Luſt habe, in einen Schwimmverein 
einzutreten. 

Es war nicht das erſtemal in letzter Zeit, daß an 
den Jungen dieſe Frage geſtellt wurde, und ſchon wollte 


A er ſagen, daß er einſtweilen noch etwas warten wolle, 


als er hörte, was der Herr weiter fagte: 8 

— Sie muͤſſen wiſſen, wir nehmen nicht jeden in 
unſere Jugendabteilung, ſondern nur Kraͤfte, von denen 
wir uns etwas fuͤr unſeren Verein verſprechen. 

Und plotzlich ſchoß es Franz durch den Kopf: der 
Herr gehoͤrte ja zum „Schwimmklub Berlin von 1879“, 
— dem aͤlteſten und angeſehenſten Schwimmverein Berlins, 
dem ſo viele Meiſterſchaftsſchwimmer entſtammten, der 
die großen Feſte gab, und in den einzutreten überhaupt 
eine Unmöglichkeit ſchien ... und noch etwas außer 


Atem und ganz hochrot fragte er faſt unglaͤubig: 


— Schwimmklub Berlin von 1879? — 
Der Herr lächelte. — Jawohl. Sie wiſſen vielleicht, 


unſere Beiträge find um etwas höher, als in den anderen 


Vereinen, aber wir ſind nicht rigoros in dieſer Beziehung, 
und der gute Wille zaͤhlt hier mit, wenn es einmal nicht 
ſo geht. Übrigens haben Sie ſo viele andere Vorteile 
bei uns, beſonders wenn Sie viel baden, daß ſich das 
ſchon machen laſſen wird 

Als er ſah, daß Franz noch immer nicht antwortete, 
laͤchelte er wieder und machte eine Bewegung: 

— Ich will Sie übrigens nicht uͤberreden .. Sie 


können ſich die Sache ja überlegen — 


Aber da ſagte Franz haſtig, als koͤnne ihm das 
unerwartete Gluͤck wieder entgehen: 

— Nein, nein, ich will ſchon gern — 

Der Herr zog ſein Notizbuch hervor: 

— Alſo, der Name 

— Franz Felder — 


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— Adreſſe? 

— Berlin O., Muͤnchebergerſtraße 102, und etwas 
zoͤgernder: — Hof — im Keller — 

Der andere ſchrieb alles auf. Dann reichte er ihm 
die Hand: „Unſere ubungsſtunden für die Jugendabteilung 
kennen Sie wohl? — Jeden Dienstag und Freitag abends 
acht Uhr.“ 

Franz nahm die dargebotene Hand, machte eine tiefe 
und reſpektvolle Verbeugung, wie er ſie vor ſeinem Pfarrer 
und ſeinem Rektor gemacht hatte, ſah, wie der Herr weg⸗ 
ging, und fuͤhlte zugleich einen freundſchaftlichen Rippen⸗ 
ſtoß in der Seite: 

— Du, wat hat denn der von dir jewollt? 

Er ſah ſeine Freunde um ſich und ſagte nur von 
oben herab: 

— Ich bin aufgefordert worden, dem „Schwimmklub 
Berlin 1879“ beizutreten, und ließ ſie ſtehen. 

Nun, da er es ausgeſprochen hatte, glaubte er es ſelbſt, 
und eine unbaͤndige Freude ergriff ihn. 

O, er wollte Ehre einlegen! — Und die ſiebzig 
Pfennige Monatsbeitrag wollte er ſchon aufbringen und 
ſo puͤnktlich zahlen, daß man ihm deshalb nie einen 
Vorwurf machen ſollte, wenn er auch einſtweilen noch 
nicht wußte, wie ſie aufzutreiben waren. 

Im Geiſte ſah er ſich ſchon in dem blaugeſaͤumten 
Trikot und der Badehoſe, die in Blau die geſtickten 
Anfangsbuchſtaben und die Zahl 1879 trug, und er machte 
vom Sprungbrett einen Freudenſprung, aber ſo ungeſchickt 


in ſeiner Aufregung, daß er nur durch eine gewandte 
vn 4 


Ri 


Wendung im letzten Moment es verhinderte, flach auf⸗ 
zuſchlagen. 


Daran, daß es ihm nie als ein beſonderes Vergnügen 
erſchienen war, einem Verein anzugehoͤren, daß er den 
Zwang der Stunde, das Schwimmen-Muͤſſen um beſtimmte 
Laͤngen, dabei unter ſchaͤrfſter Aufſicht und ſteter Kritik, 
daran, daß ihn das ganze Klubleben, ſoweit er es kannte, 
mit einem Wort: das „offizielle Schwimmen“ nie an⸗ 
gezogen hatte, an all dies dachte er nun nicht mehr. 
Sein Ehrgeiz war angeſtachelt. Man hatte ihn bemerkt 
und ſo ausgezeichnet, ihn zur Mitgliedſchaft an dem erſten 
und aͤlteſten Schwimmverein Berlins aufzufordern. 

Er gehoͤrte von heute ab dem „Schwimmklub Berlin 


1.870% an, und allen, die es hoͤren wollten, und ſehr 


vielen, die es nicht hoͤren wollten, erzaͤhlte er die ihm 


ſelbſt unglaublich erſcheinende Tatſache, tief entrüftet über 


die Gleichgültigkeit, mit der fie allgemein aufgenommen 
wurde. 


2, 


Es gab kein jugendliches Mitglied des Vereins, das 
puͤnktlicher zu den Übungsabenden gekommen wäre, keines, 
daß ſich williger und begeiſterter jeder Anordnung an 
dieſen Abenden gefuͤgt haͤtte, als Franz Felder. Man 
merkte es bald, und er erwarb ſich manche Bekanntſchaft 
im Klub dadurch auch von ſolchen, die der Einfuͤhrung 
von Mitgliedern, und noch ſo verheißungsvollen, aus, wie 
ſie es nannten, „anderen Verkehrskreiſen“, fremd, ja feind⸗ 
lich gegenuͤberſtanden. Bei faſt allen von ihnen erwarb 
ſich der neue Ankoͤmmling Achtung und Sympathie, einmal 
wegen des leidenſchaftlichen, fait komiſch-weihevollen 
Ernſtes, mit der er die Sache betrieb, und dann wegen 
der Beſcheidenheit und Ehrlichkeit ſeines Weſens, das ſich 
nie vordraͤngte. Man ſetzte bald große Hoffnungen auf 
ihn und ließ ihn nicht aus den Augen. 

Das naͤchſte große Ereignis, das ſein Eintritt in den 
Klub zur Folge hatte, war eine Lehrſtelle in einer großen 
mechaniſchen Werkſtaͤtte, die ihm durch einen ſeiner neuen 
Sportsfreunde dort verſchafft wurde. Er ſollte gleich 
von Anfang an einen Wochenlohn erhalten und erhielt 
die Zuſicherung ſorgfaͤltiger und vollſtaͤndiger Ausbildung. 
Da unterdeſſen auch ſeine Bruͤder in beſſeren Stellungen 
waren und die Einſegnung eines jüngeren bevorſtand, 

4* 


7 


9 


trat er die Stelle an. Er blieb bei feinen Eltern wohnen 


und der groͤßte Teil ſeines woͤchentlichen Verdienſtes 
wanderte nach wie vor in ihre Haͤnde. Was er fuͤr ſich 
behielt, brauchte er dazu, um am Sonntag auf den Aus⸗ 
flügen mit feinen Kameraden ein Glas Bier zu trinken, 
und für die erſten paar Mark, die er eruͤbrigte, ſchaffte 
er ſich ein tadelloſes Trikot an, eine Sportsmüge und 
das Klubabzeichen, ein kleines Schild, das auf dem Rock⸗ 
aufſchlag getragen wurde. 

Er ging nun völlig auf in dem Leben des Vereins. 
Die Vergnügungen des Klubs waren feine Erholungen, 
ſeine Arbeit die ſeine. Die Sportskameraden waren 
ſeine Freunde, mit denen er alles teilte. Die Arbeit 
des Tages in der Fabrik tat er, weil ſie getan werden 
mußte, und er tat ſie gut und fleißig. Seine Familie 
ſah er nur, wenn es unbedingt nötig war, bei den 
unerlaͤßlichen Geburtstags: und anderen Feiern; mit den 
paar Freunden ſeiner Kinderzeit verkehrte er faſt gar 
nicht mehr. 

Seine Dankbarkeit gegen ſeinen Klub wuchs allmaͤhlich 
ins Ungemeſſene. Er konnte ſie einſtweilen nur durch 
völlige Hingabe beweiſen. Aber immer wieder ſchwur 
er ſich ſelbſt zu: ſeinem Klub Ehre zu machen in jeder 
Beziehung, Ehre um jeden Preis. Er ſollte keinen Un⸗ 
würdigen in ihm aufgenommen haben. 

Er wußte, daß er Über eine Kraft verfügte, die ig 
vielleicht einmal zu Siegen führen konnte, wenn er ſie 
ſtaͤhlte und übte. Nicht für ſich wollte er dieſe Siege 
erringen, daran dachte er nicht. Doch er traͤumte bereits 
im ſtillen davon, um den alten Namen des Vereins 


— — 


neue Lorbeeren zu ſchlingen, die er ſelbſt in heißem Kampfe 
erfochten. 

Er ſchwamm nicht mehr nur ausſchließlich zu ſeinem 
Vergnügen, er ſchwamm um ein Ziel, und begeiſterter 
ſchwenkte keiner die Sportsmuͤtze, lauter ſchrie keiner mit, 


wenn das „Gut Naß! — Hurra! Hurra! hurra!“ erſcholl, 


als Franz. 


6 


3. 


Seine Fortſchritte waren rapide und ſetzten ſelbſt ſeine 
neuen Lehrer in Erſtaunen. Bei all ſeinen Faͤhigkeiten 
und all ſeiner unvergleichlichen Liebe zur Sache war es 
doch ein rohes Material, das hier in Ausbildung ge⸗ 
nommen wurde. 

Dieſes jüngfte Mitglied der Jugend⸗Abteilung — zu 
der die jungen Leute meiſt aus der Knabenabteilung mit 


ihrem vierzehnten Jahre kamen und in der ſie etwa bis 
zu ihrem ſiebzehnten blieben — war bei ſeinem Eintritt 
ein guter Schwimmer geweſen, aber ſonſt auch nichts. 


Stil und Form bekam ſein Schwimmen erſt jetzt unter 
der ſteten und ſtrengen Bewachung an den Übungsabenden. 
Aber wie bald wurde die Form ſchoͤn und ſein Stil ſicher! — 
Nach ein paar Wochen ſchon war Felder der anerkannt 
beſte Schwimmer ſeiner Abteilung. 

Auf dem internen Wettſchwimmen des Klubs, das 
alljaͤhrlich im Winter in der Schwimmhalle des Volks⸗ 
bades ſtattfand und auf dem mit Ausnahme eines 
Gaſtſchwimmens befreundeter Klubs nur Klubmitglieder 
ſchwammen, holte ſich Franz ſeinen erſten Preis: den im 
Junioren⸗Schwimmen über SO Meter. Es war ein kleiner, 
einfacher Lorbeerkranz mit bedruckter Schleife, den er nach 
Hauſe trug. 

Es war nicht das erſtemal, daß er ein Schwimm⸗ 


Te, 5 eh 


Hi feſt ſah, denn er war in letzter Zeit oft zu ſolchen mit⸗ 
genommen und hatte mit tiefer, innerer Erregung den 


Wettkaͤmpfen zugeſehen, an denen er ſich noch nicht be⸗ 
teiligen durfte. Nun ſchwamm er zum erſten Male mit. 


Er wußte, daß er ſiegen würde, denn er kannte ja alle 


ſeine Gegner und hatte jeden einzelnen bei den uͤbungen 
wieder und wieder geſchlagen. Dennoch war er aufgeregt 
und freute ſich, als es vorbei war. 

Befangen, wie damals, als ihm der Rektor das 
Rettungszeichen an die Bruſt heftete, nahm er ſeinen 
erſten, kleinen Siegerpreis in Empfang. 

Aber im Grunde war er doch maͤchtig ſtolz, als er 
den Kranz zu Hauſe in dem gemeinſchaftlichen Schlaf⸗ 
zimmer über dem ſchmalen Bett aufhing, iu dem er mit 
einem juͤngeren Bruder den feſten, traumloſen Schlaf der 
geſunden Jugend ſchlief, und bei Strafe unermeßlicher 
Schlaͤge verbot er der ganzen Geſellſchaft, auch nur ein 
Blatt zu beruͤhren. 

Der Kranz wurde erſt angeſtaunt, blieb haͤngen und 
wurde dann über höheren und reicheren Ehrungen vers 
geſſen, verdorrte und verſtaubte, und war doch der erſte 
Lorbeer, der dieſe junge Stirn beruͤhrt hatte. 


4, 


Wieder folgte für Franz Felder auf feinen erſten 
kleinen Sieg ein Jahr ernſten Strebens. Es galt jetzt 
nicht mehr, ſich mit ſeinen Klubgenoſſen zu meſſen, 
ſondern ſeine Kraͤfte an weitere, außenliegende Ziele zu 
wagen. 

Er war ſehr in die Hoͤhe geſchoſſen, und die Schlank⸗ 
heit ſeines Koͤrpers verriet nicht, wie groß die Kraft war, 
die in ihm lag. Aus dem ſtaͤmmigen, dicken Jungen 
mit den behaglichen, etwas ſchwerfaͤlligen Gliedern wurde 


ſchnell ein ſehniger, junger Mann. Nur das Geſicht 


blieb noch ganz dasſelbe: die blauen, treuherzigen Augen, 
die vollen, roten Lippen und Wangen und die eigenwillige 
Stirn, über die das ſchwarze Haar jetzt immer in einem 
Büfchel niederfiel, fo daß es alle Augenblicke zurück⸗ 
geſtrichen werden mußte, waren dieſelben — das un⸗ 
ſchuldige, vertrauensvolle Geſicht eines Kindes, das noch 
vom Leben nichts erlebt hatte. Und derſelbe blieb auch 
der Blick dieſer Augen. Es war der gedankenloſe, etwas 
traͤumeriſche Blick eines Menſchen, in deſſen Gehirn mit 
hartnaͤckiger Zaͤhigkeit immer und immer wieder nur eine 
Idee wiederkehrt — eine Idee, die in der Zukunft lebt, 
einer Zukunft voll großer Erfüllung verſchwiegener, noch 


unausgeſprochener, nicht einmal erkannter Wuͤnſche - 


4 


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Felders Zeit war jetzt voͤllig eingeteilt. Kam er von 
der Arbeit des Tages, ſo war am Abend immer etwas 
los: entweder es fanden Übungsſtunden ftatt, oder 
Sitzungen, oder es galt Vorbereitungen fuͤr irgendein 
Feſt zu treffen — immer nahm ihn ſein Klub in Be⸗ 
ſchlag. Auch die Sonntage gehoͤrten nach wie vor aus⸗ 
ſchließlich dem Verkehr mit den Sportgenoſſen — der 
Beſuch fremder Schwimmfeſte, anderer ſportlicher Ver⸗ 
anſtaltungen, geſelliger Vereinigungen zu Muſik und Tanz, 
im Sommer Ausfluͤge in die Umgegend, Kahnpartien 
und vor allem die langen Bäder (überall da, wo Waſſer 
war) fuͤllten ſie aus und waren ſeine Freude und ſeine 
Erholung. Franz Felder blieb ſtill, wie er ſchon als 
Kind geweſen war, und beteiligte ſich hoͤchſtens an den 
Geſpraͤchen uͤber ſchwimmſportliche Fragen. Sie waren 
auch die einzigen, die ihn intereſſierten. Fuͤr keinen 
anderen Sport hatte er das geringſte Intereſſe; in keinem 
anderen dachte er auch nur daran, ſich zu verſuchen. Er 
kannte nur einen einzigen, neben dem alle anderen ver⸗ 
blaßten und gleichguͤltig erſchienen. 

Es dauerte ziemlich lange, bis er ſich heimiſch in dem 
neuen Kreiſe fuͤhlte. Wenn er auch nie Gefallen an den 
ruͤden und lauten Beluſtigungen feiner früheren Schul⸗ 
kameraden und Altersgenoſſen gehabt hatte, ſo waren ihm 


doch die Verkehrsart und der Ton ſeiner neuen Bekannten 


zu fremd, als daß er ſich haͤtte ſo leicht in ſie finden 
koͤnnen. Aber dieſe neuen Freunde hatten ihn wirklich 
gern und taten ihr Beſtes, indem fie ihn überall hin 
mitnahmen und jetzt ganz als den Ihrigen betrachteten. 
Langſam trat ſo eine Wandlung nach der anderen in 


8 8 — 


in 


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ihm ein. Auch in feinem Außeren. Er war nicht mehr 
der arme Junge in geflickten Kleidern und dem offenen 
Hemde, ſondern ein ſauber, oft mit ziemlich geſchmack⸗ 
loſer Eleganz gekleideter junger Mann, deſſen regelmaͤßige, 


wenn auch einſtweilen nur geringe Einnahmen ihm er⸗ 


laubten, etwas auf ſich zu halten. 

Vermochte er auch nie eine gewiſſe Schwerfaͤlligkeit 
und Langſamkeit zu überwinden, fo beeinflußte ihn doch 
in allem der gute Ton ſeines Klubs zum Guten. Er 
lernte ſich in Lebensformen fuͤgen, die ihm bisher un⸗ 
bekannt geblieben waren und die ihn zwanglos das eine 
tun und das andere laſſen ließen — Dinge, an die er 
bisher überhaupt nicht gedacht hatte. Jene unaus⸗ 
bleiblichen Streitigkeiten des Sportlebens mit Ernſt und 
Freundlichkeit zu ſchlichten, auch laute Froͤhlichkeit nie in 
Roheit und Zank ausarten zu laſſen, und vor allem 
das Prinzip der Schwimmkunſt als eines edlen, den 
Menſchen durch und durch erfriſchenden und veredelnden 
Sports, hoch zu halten — das war von jeher die Auf⸗ 
gabe dieſes Vereins mit dem einfachen Namen und der 
ſtolzen Vergangenheit geweſen, der mehr als irgendein 
anderer dazu beigetragen hatte, das Intereſſe fuͤr eine 
Sache zu wecken, die überhaupt bis vor kurzem noch 
als keine Kunſt, ſondern faſt allgemein nur als Mittel 
zu der zeitweiligen, notwendigen Reinigung des Korpers 
betrachtet wurde. | 3 


War — vielleicht nicht zum wenigſten infolge der N 
ſtrengen Befolgung dieſes Prinzips, das mehr im allge 


meinen für die Sache des Schwimmens zu wirken ver⸗ 
ſuchte, als auf Züchtung großer Erfolge und mit ihnen 


Bee 1 


verbundener Namen ausging — der „Schwimm-Klub 
Berlin 1879“ in den letzten Jahren etwas in den Hinter 
grund getreten und an Mitgliederzahl und aͤußerer Be: 
deutung von dem einen oder anderen neueren Verein 
übertroffen, fo war er doch durchaus nicht gewillt, auf 
ſeinen alten Ruf, erſtklaſſige Schwimmer und Springer 


phinauszuſenden, zu verzichten und ſtets bereit, neue Lor— 


beeren zu den alten zu fuͤgen. Die naͤchſten Jahre ſollten 
auch nach außen hin wieder zeigen, daß der Klub in keiner 
Weiſe zuruͤckgeblieben war — dahin gingen die Wuͤnſche 
der Mitglieder einſtimmig. Sie ſollten beweiſen, daß 
man nicht ſchlief, wenn man auch nicht immer mitfchrie, 

Man ſetzte, wie geſagt, große, noch unausgeſprochene 
Hoffnungen auf Franz Felder. Wenn irgendeiner, ſo war 
er es, der zu außergewoͤhnlichen Erfolgen zu befaͤhigen 
ſchien. Derſelbe Herr, der zuerſt ſtillſchweigend auf den 
kraͤftigen Jungen aufmerkſam gemacht hatte, der ſich mit 
ſo erſtaunlicher Sicherheit und ſo unbaͤndiger Wonne im 
Waſſer herumwaͤlzte, war und blieb ſein treuer Berater. 
Er wachte mit faſt aͤngſtlicher Sorgfalt uͤber ſeinen 
Zoͤgling. Bernhard Nagel, von Beruf Chemiker, war ſeit 
zwei Jahren wieder Schwimmwart des „S.⸗K. B. 1879%, 
Selbſt in fruͤheren Jahren ein beruͤhmter Schwimmer, 
lange Zeit der unangefochtene Inhaber fo mancher Meiſter⸗ 
ſchaft, ein ausgezeichneter Turner auch heute noch und 
von jeher ein allbeliebtes Klubmitglied, hatte ſich — 
gerade zur rechten Zeit, auf ſeiner Hoͤhe — von jeder 
aktiven Taͤtigkeit zuruͤckgezogen und fein Name erſchien 
ſchon lange nicht mehr oͤffentlich in den Programmen 
der Schwimmfeſte. 


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Damit aber war fein Intereſſe an feinem Klub um 
nichts vermindert. Seine Kraft gehoͤrte jetzt mehr als 
je den Fortſchritten der Sache, und ſeine Taͤtigkeit er⸗ 
ſtreckte ſich vor allem auf die Ausbildung der Jugend: 
abteilung. Wie ſein ſcharfes Auge gleich in dem 
unbekümmerten, waſſerfrohen Knaben den geborenen 
Schwimmer erkannt hatte, ſo nahm er ſich nun ſeiner 
von der erſten Stunde hilfreich an. Er war ein ſtrenger 
Lehrmeiſter, der ſcharf aufpaßte und ſo leicht nichts durch⸗ 
gehen ließ. Bei Felder hatte er indeſſen eigentlich mehr 
zu zügeln, als anzuſpornen, denn deſſen hauptſaͤchlichſter 


Fehler beſtand darin, daß er immer gleich zu heftig ins 


Zeug ging, um dann am Schluß eines Rennens den An⸗ 
ſtrengungen, denen fein Körper noch nicht gewachſen war, 
und ſomit erfahrenern und geübteren Schwimmern gegen: 
über zu unterliegen. Aber das gab ſich von Woche zu Woche, 
und Franz lernte allmählich mit ſeiner Kraft haushalten. 
Er vergalt das Intereſſe ſeines Schwimmwarts mit un⸗ 
begrenzter Dankbarkeit. Nicht nur, daß er dieſem Manne 
den Eintritt in den Klub und damit in ein fuͤr ihn ganz 
neues Leben, ſowie die Stellung verdankte, die ihn der 
Not um fein tägliches Brot enthob — er fühlte ganz 
gut, daß jener Hoffnungen auf ihn ſetzte; und immer 
wieder ſchwur er ſich im ſtillen zu, ihm ſeine Dankbar⸗ 
keit eines Tages auch durch Taten zu zeigen. Daher 
börte er auf jedes Wort des Tadels und der Ermutigung, 
wie auf ein Gebot, und das eine konnte ihn ebenſo be⸗ 
ſeligen, wie ihn das andere niederzudruͤcken vermochte. 


Schweigſamkeit, die felten das erſte Wort fand, um fih 


2 


A TE: 


auszudrucken, ſchloß er ſich nur ſchwer und langſam 
an feine anderen Kameraden an und ließ fie lieber zu 
ihm kommen, als daß er ſich ihnen von ſelbſt genaͤhert 
hatte. So kam es, daß er zwar mit den meiſten in 
gutem und freundlichem Einvernehmen ſtand, aber doch 


keine näheren Freundſchaften ſchloß. Unter den Jugend⸗ 


mitgliedern, feinen Altersgenoſſen, hatte er manchen 


Gegner — ſchon jetzt, wo es noch keine beſonderen Er⸗ 
folge zu beneiden gab. Davon merkte Franz nun zwar 
noch nichts. Seine gluͤckliche Unbekuͤmmertheit, ſeine 
reine Freude an der Sache uͤberhoͤrte oder verſtand die 
unausbleiblichen Bemerkungen nicht, die ſchon gemacht 
wurden, als er noch gar nicht oͤffentlich geſchwommen 
hatte. Er konnte ſich nicht denken, daß ſie ihm galten. 
Was war Überhaupt die Perſon! — Wenn nur der Klub 
ſiegte! — 

Dagegen fielen ihm zwei Freundſchaften zu, um die 
er ſich in keiner Weiſe bemuͤhte. Als er in den Klub 
trat, fand er unter den vielen fremden Geſichtern ein 
bekanntes — das eines Altersgenoſſen, der eine Zeitlang 
in demſelben Hauſe wie Franz gewohnt und mit ihm 
in dieſer Zeit auch oft geſprochen hatte. Koepke war 
ſeitdem Kaufmann geworden, faſt ſchon mit feiner Lehr⸗ 
zeit in einem großen Manufakturwarenmagazin zu Ende 
und ſah bereits ſeiner Anſtellung als wohlbeſtallter 
Kommis mit Selbſtgefuͤhl entgegen. Wie er in den 
Schwimmklub Berlin 1879 gekommen war, das war 
vielen der Juͤngeren ein Raͤtſel, denn er ſchwamm wie 
ein Klotz und befand ſich allem Anſchein nach auf dem 
Lande weit wohler, als im Waſſer. Aber die älteren 


— 'y Zee 


Mitglieder des Klubs wußten, daß fie ihn eines Vers 
wandten wegen aufnehmen mußten, der vor Jahren dem 
Verein große Dienſte geleiſtet und ſeinen Eintritt dringend 
gewuͤnſcht hatte. Man hatte ihn ſogar nicht einmal 
ungern aufgenommen. Es gab in jedem Schwimm⸗ 
verein Mitglieder, die — wenn ſie es auch ausuͤbend 
zu nichts brachten — ſich doch ganz gut gebrauchen 
ließen, um in der „Verwaltung“ taͤtig zu ſein, wo es 
immer genug zu rechnen und zu ſchreiben gab, und die 
ſich ſehr wohl fuͤhlten, wenn ſie von ihrem Schreibzeug 
aus die Intereſſen des Klubs mit Leidenſchaft wahr⸗ 
nehmen durften und nicht ins Waſſer brauchten. Koepkfñe 
war dazu die rechte Perſon. Voll Dienſteifer ſtuͤrzte er 
ſich auf jede ihm zugeſchanzte Arbeit. Seine Leidenſchaft 
für das Waſſer aus der Ferne war zudem über jeden 
Zweifel erhaben, und atemloſer verfolgte kein Zuſchauer 
die Wettkaͤmpfer, feierlicher notierte keiner die Zahlen in 
das Programm, als er. 

Als er Franz zum erſten Male im Klub ſah, kam 
er ihm gleich entgegen und begruͤßte ihn als alten Be⸗ 
kannten aus der Jugendzeit. Er war ein gutmuͤtiger und 
in keiner Weiſe überheblicher Menſch. Daß ſein Spiel⸗ 
kamerad in ſeinen einfachen Arbeitskleidern vor ihm, dem 
geſchniegelten Kommis, ſtand, merkte er ebenſowenig, 
wie er es ihn früher irgendwie hatte fühlen laſſen, daß 
ſeine Eltern im erſten Stock des Vorderhauſes und die 
Franz Felders im Hof wohnten. Der letztere — immer 
in dieſer Beziehung zum Mißtrauen geneigt — merkte es 
gleich wieder. Man ſchuͤttelte ſich die Hand. Als Franz 
aber ſeinen erſten kleinen Sieg erfochten, beſaß er einen 


2 


ergebenen und ihn ſchon ſehr bewundernden Freund an 
dem „zweiten Schriftfuͤhrer“ des Vereins. 

Bei einem anderen Klubgenoſſen bedurfte es fuͤr ihn 
nicht erſt dieſes Sieges, um in ihm einen ausgeſprochenen 
Goͤnner zu haben. 

Der dicke Brüning war der letzte Inhaber der Haupt⸗ 
ſchwimmeiſterſchaften im Klub geweſen und ſein fabel⸗ 
hafter Stoß hatte die Gewaͤſſer der halben Welt durch⸗ 
furcht. Nach ſeinem Ruͤcktritt war in dem Siegeslauf 
des Klubs die große Pauſe eingetreten, die heute noch 
waͤhrte. Übrigens waren in dieſen Jahren auch ſonſt 
keine Siege im Schwimmſport zu verzeichnen, denen die 
Bruͤnings aus früherer Zeit nicht mindeſtens ebenbürtig 
geweſen waͤren. Daruͤber freute er ſich noch heute. 

Einer reichen Charlottenburger Familie entſtammend 
und im Beſitz eigenen Vermoͤgens konnte er es ſich 
leiſten, ſeine Jugend dem Vergnuͤgen eines Sports zu 
widmen, und nachdem er erſt in Deutſchland uͤberall 
geſiegt, war er auch außerhalb jahrelang zu allen großen 
Feſten auf ſeine eigenen Koſten gereiſt, um uͤberall ſich 
und den Farben ſeines Klubs Ehre auf Ehre zu erobern 
und dem Namen des „S.⸗K. B. 1879“ eine internationale 
Berühmtheit zu verſchaffen. Das konnte und wollte ihm 
ſein Klub nie vergeſſen, und allein ſein Name bedeutete 
heute in ihm noch eine Tat — einen Sieg, ſo friſch, 
als waͤre er erſt geſtern erfochten. 

Jetzt war der Meiſter dick geworden und ſchwamm 
nur noch „zu ſeinem eigenen Vergnuͤgen“, wie er ſagte. 
Wenn er ins Waſſer ging, ſah ihm noch jeder nach. 
Aber nur bei der Älteren Generation lebte noch die Er⸗ 


** 


1 
innerung an jenen furchtbaren Schwimmer, der mit der 


phaͤnomenalen Kraft und Wucht ſeiner Leiſtungen ein⸗ 


fach alles andere totgeſchlagen hatte. Brüning ſelbſt hatte 
ohne großes Bedauern ſeinen Erfolgen Lebewohl geſagt, 


ſich dem Sportsleben im allgemeinen zugewandt und 


ließ jetzt rennen. Übrigens verſtand er nichts von Pferden. 

Zuweilen noch, aber doch nur ſelten, erſchien er an 
einem Übungsabend oder auf einer Veranſtaltung ſeines 
alten Klubs. Wenn er kam, erhob ſich ein allgemeines 
Hurra, denn er war allgemein beliebt, weil er ein nobler 
Kerl war: immer luſtig und aufgelegt, immer bereit zu 
helfen mit Geld und Rat und rieſig freigebig, wenn es 
galt, die Zeche zu bezahlen. Bei den Juͤngeren hieß er 
nur der „Sektonkel“, aber die Alteren hielten große 
Stücke auf ſein erprobtes und unbeeinflußbares Urteil. 

Als er eines Abends in der Schwimmhalle neben 
dem Schwimmwart Nagel ſtand, machte ihn dieſer auf 
das neue Mitglied aufmerkſam, das gerade ſtillvergnuͤgt 
für ſich hundert Meter ſchwamm. Brüning kniff die Augen 
etwas zuſammen, wie es ihm eigen war, wenn er das 
tat, was er nachdenken nannte, ſagte aber noch nichts. 
Als Franz aus dem Waſſer kam, muſterte er ihn, wie 
er feine Pferde pruͤfte. Das Reſultat war ſehr zufrieden⸗ 
ſtellend. Er gratulierte Nagel zu feiner Akquiſition, ſchuͤttelte 
Franz kameradſchaftlich die Hand, und dieſer hatte ſich 
von dem Tage an ſeiner ausgeſprochenen Protektion zu 
erfreuen. Mit der Zeit erklaͤrte ihn Brüning unter vier 


Augen als den einzigen im ganzen Klub, der vielleicht 


eines Tages fein ebenbürtiger Nachfolger werden 9 
„wenn er hielt, was er verſprach“. 


ne 


Das Intereſſe Nagels vergalt Franz mit unausloͤſch⸗ 
licher Dankbarkeit; die Freundſchaft Koepkes ließ er ſich 
gefallen; an das Wohlwollen Bruͤnings aber glaubte er 
lange Zeit nicht. Als er dann ſah, wie ſtetig und warm 
es war, freute er ſich ſehr; und er blieb immer einer 
der wenigen, die die Freigebigkeit des Sektonkels nie 
mißbrauchten. 


vu 5 


5, 


Die Kunſt des Schwimmens iſt eine junge Kunſt. 
Man kann von ihr als ſolcher erſt im vorigen Jahr⸗ 
hundert ſprechen, und recht eigentlich erſt in ſeiner letzten 
Haͤlfte. 

Das Schwimmen als koͤrperliche Übung iſt von jeher 
geübt, wenn es auch nie wieder zu der allgemeinen Not: 
wendigkeit wurde, die es in jenen Tagen des Altertums 
war, von deren Schoͤnheitsfreude noch heute die gigantiſchen 
Thermentrümmer der Alten in beredſamem Schweigen 
zeugen. In Deutſchland kam fie erſt wieder in Aufe 
nahme, als an der Spree durch die Initiative eines 
preußiſchen Generals die große Anſtalt entſtand, die noch 
heute feinen Namen trägt. Bedeutet der Name von Pfuel 
fo ein Wiedererwachen langverlernter Übung, fo kann von 
einer Kunſt des Schwimmens doch noch kaum geredet 
werden, als ſich in den ſechziger Jahren die erſten Hallen⸗ 
ſchwimmbaͤder in Deutſchland oͤffnen, ſondern mit Recht 
erſt dann, als ſich die erſten Schwimmer zuſammentun, 
um ihre Kraͤfte unter⸗ und gegeneinander zu meſſen. 

Erſt ſpaͤrlich und faſt unbeachtet — einer der erſten 
unter ihnen der S.⸗K. B. 1879 — wachſen und ver⸗ 
mehren die Schwimmvereine ſich nur langſam, Fämpfen 7 
wohl ſchon zu Beginn der achtziger Jahre ihre Meiſter⸗ 


— 2 1 


ſchaften aus, gelangen aber erſt um die Haͤlfte dieſes 
Jahrzehnts zu allgemeinen Wettſchwimmbeſtimmungen, 
auf die hin ſie ſich einigen. Aber von da an geht es 
ſchneller. Mit den Winterſchwimmbaͤdern in vielen Staͤdten 
entſtehen uͤberall auch Schwimmvereine, die ſich erſt unter 
ſich und dann in dem großen Verbande zuſammenſchließen, 
deſſen Ziel es iſt, alle Vereine und Unterverbaͤnde zu 
einer gemeinſamen Beſtrebung fuͤr die neue Sache zu 
vereinigen. 

Ein Jahrzehnt ſpaͤter, und auch die Kunſt des Waſſer⸗ 
ſpringens hat ihre Wertungsform gefunden. 

Man hat geſiegt. Das juͤngſte Stiefkind des Sports 
hat ſich Beachtung und Achtung errungen. Weit mehr 
gebunden, als irgendein anderer Sport an beſtimmte 
Bedingungen, hat er ſich kuͤhnlich neben jeden anderen 
geſtellt; und eines hatte er vor jedem voraus: er feierte 
ſeine Feſte Sommer und Winter. Im Sommer unter 
blauem Himmel in jedem Waſſer, deſſen Ausdehnung es 
erlaubt; im Winter unter den hohen Woͤlbungen von 
Eiſen und Glas. 

Natürlich bleibt der Sommer die Hauptſaiſon und 
die groͤßten und wichtigſten Feſte fallen in ſeine Zeit. 
Doch kam es auch vor, daß die wichtigſten internen 
Veranſtaltungen einzelner oder vereinigter Klubs in den 
Winter fielen, da der Sommer zu viel von auswärtigen 
Intereſſen in Anſpruch genommen wird. 

Jetzt gibt es nicht mehr nur vereinzelte Vereine in 
einzelnen Staͤdten. Wie die Pilze wachſen die Klubs aus 
der Erde — ihre Namen mit Vorliebe den alten Waſſer⸗ 


göttern und allem möglichen Waffergetier entlehnend — 
5* 


3 
vereinigen und — bekaͤmpfen ſich untereinander, erbittert 
und leidenſchaftlich; jetzt draͤngen ſich die kleinen und 
großen Feſte Sonntag auf Sonntag, und kaum einer 
im Jahre iſt frei von einem ſolchen Feſte in einer Stadt 
wie Berlin. 

Es iſt die Zeit des reichſten Wachstums und damit 
der ſtuͤrmiſchſten Gaͤrung, der der alte „S.⸗K. B. 1879“ 
faſt allein ruhig zuſehen kann, da beides bereits hinter 
ihm liegt; und es iſt die Zeit, als Franz Felder in ihm 
in unablaͤſſigem Training um feine erſten Siege ringt. 

Der Verlauf der Schwimmfeſte iſt im allgemeinen 
ein ziemlich gleicher, und ſie unterſcheiden ſich weſentlich 

nur durch ihre Ausdehnung. Von den kleinen, internen 
. der Klubs unter ſich an den Sonntag⸗ 
nachmittagsſtunden angefangen erſtrecken ſie ſich bei den 
großen nationalen und internationalen Meetings oft über 
zwei Tage. Auf dreierlei Art wird auf allen gekaͤmpft: 
im Schwimmen, im Springen und im Tauchen. 

Geſchwommen wird um kuͤrzere oder längere Strecken, 
und zwar iſt entweder der Stil freigeſtellt oder als 
Bruſt⸗, Seiten: und Ruͤckenſchwimmen vorgeſchrieben. Ge: 
ſchwommen werden kann in ſtromfreiem Waſſer, Seen 
und künſtlichen Baſſins; oder auch in Stroͤmen mit zu 
uͤberwindendem Waſſerwiderſtand. 

Die Zahl der Sprünge iſt naturgemäß eine begrenzte. 
Die Sprungtabelle des Deutſchen Schwimm⸗Verbandes 
von 1892 weiſt deren fuͤnfunddreißig auf, die nach den 
Punkten O05 und dem Schwierigkeitsgrade 1—6 ge⸗ 
wertet werden. Von dem einfachen Abfallen und dem 
Abrenner, den einfachen und ſchwierigeren Kopfſpruͤngen 


8 


ſteigen fie langſam auf zu den Hecht: und Schlußſpruͤngen | 
in ihren verfchiedenen Drehungen des Körpers. Aber es 
herrſcht eine große Mannigfaltigkeit unter ihnen. Die 
Höhe des Sprungbrettes wechſelt von einem zu drei und 
ſechs Metern. Viele Sprünge koͤnnen ebenſowohl aus dem 
Stand, als mit Anlauf gemacht werden; und bei vielen tritt 
hinzu, daß fie ſowohl vor⸗, als auch ſeit⸗ oder auch ruͤck⸗ 


eines Preisrichters fuͤr das Springen kein leichtes und 


die Tiefe nach Tellern (Sieger iſt, wer in der kuͤrzeſten 
Zeit die größte Anzahl hervorholt), oder in die Länge: 
das Hechttauchen — man ſchwimmt unter dem Waſſer, 
und die dort in gerader Richtung erreichte Meterzahl gibt 
den Ausſchlag. 

Auf jedem Feſte findet auch ein Mehrkampf ſtatt, der 
meiſt ſehr intereſſant verlaͤuft: gekaͤmpft wird in allen 


die hoͤchſte Punktzahl erreicht. 

2 Die Preiſe werden entweder Eigentum des Siegers 
oder gehen in den Beſitz feines Klubs uͤber. Sie beftehen 
bei den großen Meiſterſchaften oft in wertvollen Gegen 


oder in Medaillen, Ehren⸗Urkunden und dem einfachen 
er, Lorbeer mit den farbigen Schleifen, die in goldenen Lettern 
von dem heißerrungenen Ruhme erzaͤhlen — unvergeß— 
liche Andenken! — Es gibt Preiſe, die dem Sieger ſofort 


waͤrts ausgeführt werden koͤnnen. Daher ift das amt Di 
H erfordert langgeuͤbte und intime Kenntnis der einzelnen A x 
Sprünge und ihrer Werte. Auf den Zeiten gibt es chem 


ſowohl Konkurrenzen für Pflicht⸗, wie für Kuͤrſpruͤnge. Bi: 
Das Tauchen iſt einfach. Man taucht entweder n 


rei Arten, und Sieger bleibt, wer durchſchnittlich in allem 


ſtäͤnden, die die Veranſtalter oder auch die Stadt ſtiften ; 


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— 70 — 


zufallen; aber es gibt auch Wanderpreiſe, die erſt nach 
mehrmaligem ſchwererſtrittenen Sieg erringbar ſind und 
mehrere Jahre hintereinander ausgefochten werden muͤſſen, 
ehe ſie in den Beſitz des Siegers uͤbergehen oder Klub⸗ 
ceeigentum werden. a 
er Was ſonſt die Feſte noch zeigen, dient mehr zu 
ihrer aͤußerlichen Bereicherung und Ausſchmuͤckung. Das 
Schwimmen „älterer Herren“, die die Zeit der hoͤchſten 
Ausbildung ihrer Staͤrke bereits hinter ſich, wie die eine 
leitenden Schwimmen der Knaben und Junioren, die fie 
noch nicht erreicht haben, dieſe Troſt⸗ und Ermunterungs⸗ 
Schwimmen konnen bei weitem nicht das Intereſſe er⸗ 
wecken, das die jungen Leute vor oder nach ihrem zwanzig⸗ 
ſten Jahre in der hoͤchſten Leiſtungsfaͤhigkeit ihrer Kraft 
bieten, und deren Namen daher mit Recht in der Mitte 
aller Programme ſtehen. Groteske und luſtige Waſſer⸗ 
pantomimen ſollen ſo manchen geduldigen Zuſchauer, der 
wenig oder nichts von den für den Nichtkenner oft ein⸗ 
tönigen Kämpfen verſteht, entſchaͤdigen, und ein lautes, 
lebhaftes Waſſer⸗Polo, in dem Klub gegen Klub ſich mißt, 
fehlt heute auf keinem als Abſchluß. 
N Die Preisverteilung findet am Abend des Feſtes ſtatt. 
Muſik und Tanz „halten die Teilnehmer noch lange zu⸗ 
ſammen“, wie es ſtets am Ende aller Berichte heißt. 
— Gut Naß! — Hurra! Hurra! Hurra! 


F ee 


6. 
Auf der Meldeliſte des „Schwimm⸗Klub Berlin 1879% 


fuͤr das diesjaͤhrige große Wettſchwimmen des Berliner 


Schwimmerbundes ſtand zum erſten Male der Name Franz 
Felder. Der Inhaber dieſes Namens war gemeldet fuͤr 
das Schwimmen um die Meiſterſchaft der Stadt Berlin. 

Es war Bruͤnings gewichtiges Wort geweſen, das, 
fuͤr das junge Mitglied in die Wagſchale gelegt, ſie in 
der langen Beratung endlich zu Felders Gunſten ſinken ließ. 

Franz vergaß es ihm nie. Er war erſt faſt beſtuͤrzt, 
als er von der Entſcheidung hoͤrte, trotzdem ſie kaum 
anders haͤtte ausfallen koͤnnen, wollte der Klub ſich uͤber⸗ 
haupt beteiligen. Dann ergriff ihn einfach ein Freuden⸗ 
taumel. 

Sein Klub ſandte ihn hinaus auf das große Schwimm⸗ 


feſt des Winters, um auf ihm um eine Meiſterſchaft, 


um die Meiſterſchaft der Stadt Berlin uͤber die kurze 
Strecke von 100 Metern zu ringen! — Er ſollte ſich auf 


dem jaͤhrlichen Wettſchwimmen des großen Berliner 


Schwimmer⸗Bundes mit erſten Schwimmern — unter 
ihnen alte Sieger — im Kampf um die ſilberne Medaille 
meſſen?! 

Es war nur die Meiſterſchaft um eine Stadt, nicht 


die um ein Land oder gar um einen Erdteil, aber es war 
immerhin die Meiſterſchaft um die Hauptſtadt, in der 


Br ER 


— 2 — n 


wie in keiner anderen der ganzen Welt der Sport des 


Schwimmens gruͤnte und bluͤhte, die uͤberallhin die beſten 


und gefuͤrchtetſten Kräfte ſtellte, wo es galt, erſte Erfolge 
zu erzielen. Eine Meiſterſchaft im Berliner Schwimmer⸗ 


bunde, der den größten Teil der Berliner Schwimm- 
vereine umfaßte, der im Allgemeinen deutſchen Schwimm⸗ 4 


verbande die erſte Stelle einnahm, war ein großer Sieg 


— ein Sieg erſten Ranges, vielumſtritten und heiß⸗ 
begehrt 

Und ſein Klub ſandte ihn, den jungen, unbekannten 
Franz Felder, hinaus, dieſe Meiſterſchaft zu erfämpfen! — 
Sein Klub, der vor vielen Jahren zuerſt die Initiative 
zur Gründung eben dieſes Schwimmerbundes gegeben 


hatte, fein Klub, der aͤlteſte und angeſehenſte Berlins, 
mit deſſen ſchlichtem und doch fo beruͤhmtem Namen die 
ſo vieler erſter Schwimmer der Welt unausloͤſchlich ver⸗ 


bunden waren, der nicht nur für ſich und feine Mit⸗ 
glieder, ſondern für die ganze Sache des Schwimmens 
von jeher ein unnachahmliches Beiſpiel geweſen war — 
der „S.⸗K. B. 1879“ entſandte ihn zum diesjaͤhrigen 
Wettbewerb! 2 

Wenn er fein junges Mitglied in dieſer Weiſe allen 
anderen vorzog, ſo wußte er, was er tat. Dann war es 
ohne Zweifel ſein beſter Schwimmer. Aber was mehr 
war, als dieſe Äußere Anerkennung feiner Kraft, war die 
innere: der Klub hätte nie ein Mitglied hinausgeſandt, 
von deſſen innerlicher Zuſammengehoͤrigkeit mit den 
Beſtrebungen und Zielen des Klubs — und das waren 
in der Sache unbedingt die hoͤchſten — er nicht uͤber⸗ 
zeugt geweſen waͤre. Er hatte ſich jahrelang von den 


Feſten zurückhalten koͤnnen, ſtolz auf alte Erfolge und 
unbekuͤmmert um neue, als die alten Kräfte, die ſich 
ziuruͤckziehen mußten, nicht ſogleich durch neue von gleicher 
Staͤrke erſetzt werden konnten; und er würde ſich Zeit 
genommen haben, im noͤtigen Falle nochmals jahrelang 
zu warten, denn nicht um kuͤnſtliche Zuͤchtung einzelner 


um die allgemeine Hebung der Sache war es ihm ſtets 


Kranze 

5 Felder war ſich uͤber all dies durchaus nicht klar. Er 
fühlte nur, wie ſehr man ihn auszeichnete, nicht nur als 
Schwimmer, ſondern auch als Menſchen, indem man 
ſeinen Namen als Vertreter ſeines Klubs zum erſten Male 
oͤffentlich nannte; er wußte, man vertraute ihm die Ehre 


Klub zu erfechten. Er fuͤhlte, er mußte ihn erringen! 
1 Er war ſehr ſtolz und ſehr gluͤcklich. Aber er hatte 
Angſt, richtige Angſt — zum erſtenmal in feinem Leben. 


ſie empfunden. Aber nun ergriff fie ihn. Es war das 
Kanonenſieber des Soldaten, der zum erſten Male in die 
4 Schlacht geht. 


zweiten, dritten oder überhaupt keinen Preis erhielt? — 


1 Größen und die Erlangung lauter Triumphe, ſondern 


Er wußte bisher nicht, was Angſt war. Nie hatte er 5 a 


Denn wenn er unterlag? — Wenn er nur einen 


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in erſter Linie zu tun geweſen. Entſchloß man fih daher 
heute zu neuer aktiver Beteiligung, ſo mußte man des 
Sieges ziemlich gewiß ſein — und nicht nur dieſes einen 
Sieges, ſondern eines neuen Ruhmesblattes in dem alten 


des Klubs an, nicht nur einen neuen Erfolg. Weiter 
ſah er noch nicht. So ging fein ganzer Ehrgeiz einfte 
weilen dahin, dieſen Sieg, auf den es ankam, für ſeinen 


Karat Sb nn FE 


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dia ede wohl. Zeit: alle Fame er Siehe 
* 


den Schwimmfeſten geſehen und bewundert. 


holt 
Aber mit keinem hatte er ſich bisher je gemeſſen. — 


Außer dem ſeinen ſtand nur noch ein neuer Name unter 
den Meldungen. Und er war der Juͤngſte von allen! — 
Wohl ſchlug er ſchon die Alteſten ſeines Klubs über 
die kurze Strecke. Aber ſein Klub hatte, ſo lange er in 
ihm war, keine Meiſterſchaften mehr aufzuweiſen. Was 
wollte es alſo ſagen, daß er, Franz Felder, ſein beſter 
Schwimmer war? — Nicht allzu viel. | 
Nagel, der feine innere Aufregung ſah, redete ihm 
wiederholt ernſtlich zu. Er war beſorgt um ſeinen Zoͤgling 
— nicht, weil er fuͤrchtete, daß er unterliegen koͤnne, 
ſondern weil er ſah, in welcher verzehrenden Unruhe er 
umherging und uͤbte. Er warnte ihn, allzu viel Wert 
auf dies Rennen zu legen. Was war es denn, wenn 


er auch unterlag? — Was heute Niederlage war, konnte 


morgen zum Siege werden, und umgekehrt. Er hatte 
das mitangeſehen, viele Male, und es an ſich ſelbſt er⸗ 
lebt; und auch Franz würde das erleben. Das war nicht 
das erſte und letzte Schwimmen, gewiß nicht — und 
immer wiederholte der gute und erfahrene Freun: 

— Schwimm fo gut, wie du kannſt. Kuͤmmere dich 
um nichts, als um dein Ziel. Mehr kannſt du nicht 
tun, als was deine Kraft dir erlaubt, zu tun. Damit 
ſei zufrieden 

Felder bene hem erſten Male ſeinem greund nur halb zy 

Sein Klub hatte ihn hinausgeſandt. In ſeinen 
Haͤnden lag ſeine Ehre. Er durfte ihm keine Pr | 
machen; er mußte ſiegen — er mußte! — 


abendlich trainiert. Geſtern war er früh zu Bett gegangen, 


Strecke geſchwommen — nur einmal . .. aber das wurde 


in untaͤtiger Ungeduld. Er aß maͤßig und trank faſt 
nichts. 


der Lindenſtraße gegeſſen und ſpielte nun gemuͤtlich im 5 2 


aber es wurde ihm diesmal nicht leicht, ruhig zu bleiben. 1 
Er ging von Tiſch zu Tiſch, bis ihn eine plögliche Müdig⸗ 24 
keit überfiel und er vor ſich hindruſelte. 7 
ſich hinter dem großen Tiſch auf dem alten, knarrenden 
ratungen der Vorſitzende ſaß. Nach zwei Minuten ſchlief 


* 
Er 2 


7. 


So kam der Sonntag des Feſtes heran. Franz hatte Br 
in der legten Woche nach der Arbeit des Tages noch alle 2 


aber er hatte wenig ſchlafen können. a N 
Am liebſten Hätte er am Morgen noch einmal die 


ihm natuͤrlich nicht erlaubt. So . der Vormittag 


Man hatte in dem Reſtaurant des Klublokals in 3 


Sitzungszimmer einen Kaffeeſkat an verſchiedenen Tiſchen. BE 
Franz, der keine Karte anrührte, ſah wie gewöhnlich r N We 


— Leg’ dich doch hin, wir wollen dich ſchon wecken, 1 
wenn es Zeit iſt! rief Brüning ihm zu, und Franz rollte 


Sofa zuſammen, auf dem ſonſt bei den feierlichen Be 


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Allmaͤhlich leerten ſich die Tiſche; man ging zum 
Feſt. Der, an dem Nagel und Brüning ſaßen, ſpielte 
ruhig weiter. N 
Um halb vier warf Brüning die Karten zuſammen 


und zog ſeine goldene Uhr: 


— Maſſenhaft Zeit noch! — Aber wollen doch lieber 


gehen 


; Er und Nagel ſtanden vor dem Sofa, auf dem 

Franz noch immer ſchlief. Er lag da wie ein Kind, und 
fein Atem ging ſtill und friedlich durch die etwas ge⸗ 
öffneten Lippen. Sicherlich traͤumte er jetzt von keiner 


Niederlage. 
Brüning betrachtete ihn mit faſt zaͤrtlichem Lächeln, 


„Wie ein junger Gott, was? — Und noch das reine 
Kind! — Aber wecken wir unſeren jungen Sieger!“ 


— Er iſt es noch nicht, ſagte Nagel und ruͤhrte den 


| Schlafenden bei der Schulter. 
Franz fuhr in die Höhe, und fein erſter Griff war 


nach der Uhr. 


— Aber wir verſaͤumen das Schwimmen, rief er 


außer ſich, als er ſah, daß fie bereits über halb vier 
zeigte. 


Die enorme Halle des großen Schwimmbaffins der 


Waſſerfreunde war feftlich geſchmuͤckt. Der weite Raum 


mit den hohen, gotiſchen Wölbungen war bis in den 


letzten Winkel durch die großen, elektriſchen Bogenlampen 


erleuchtet, denn durch die bunten Fenſter drang nur noch 


das trübe Licht eines frühdunflen Wintertages. Die ſonſt 


| Die anderen lachten ihn aus, packten ihn in eine 
D.roſchke und fuhren mit ihm zum Felt. — 


8 


Er — 


Ruͤckwand hingen von der Decke bis zur Galerie die 
langen Fahnen der veranſtaltenden Vereine herab und 
verhüllten die weiße Fläche der Mauern mit ihren bunten 
Farben. An den Langſeiten zogen ſich von Pfeiler zu 
Pfeiler in langen Reihen hunderte von winzigen, auf 
Seile gezogene Faͤhnchen in buntem Farbengemiſch, und 
hoch von der Woͤlbung der Decke hernieder ſchwebte 
regungslos uͤber der Mitte des Baſſins die maͤchtige 


weiße Fahne des „S.⸗K. B. 1879“ mit dem blauen 
Rande und dem blauen Namenszuge in der linken Ecke. 


An der Eingangsſeite bei dem großen, ſechs Meter hohen 
Sprungbrett ſpielte — hinter grünem Blattwerk ver⸗ 
borgen — die Muſik. 
Die Seiten des Baſſins und die breiten Galerien 
waren dicht mit Zuſchauern beſetzt, die ſich geſpannt 
vornüber beugten, um beſſer die Waſſerflaͤche unter ſich 
überſchauen zu koͤnnen, in der die Wettkaͤmpfe ſtatt⸗ 
fanden. Die engen Reihen boten ein buntes Bild: jung 
und alt — alles ſaß hier durcheinander, und unter die 
dunklen Roͤcke der Herren miſchten ſich die feſtlichen 


Toiletten der Damen und gruppenweiſe die weißen, bunt⸗ 


geraͤnderten Mutzen der zahlloſen Sportgenoſſen. Alle 
Schwimmvereine Berlins waren vertreten und ſcharten 
ſich ihrer Zuſammengehoͤrigkeit nach hier und dort zus 
ſammen. 

In den Pauſen und zu Beginn jedes neuen Rennens 
waren alle Augen auf die Eingangswand gerichtet. Dort 
ſaß unter der Galerie an einem mit Papieren bedeckten 

Tiſche der Ausſchuß des Feſtes: die Preis: und Ziel 


Aare. > 


richter, die beiden Schiedsrichter und in ihrer Nähe 
einige hervorragende Gaͤſte, Vertreter der Stadt Berlin 
und einiger Behoͤrden. Hier befanden ſich auch die 
reſervierten Plaͤtze fuͤr die Vorſtaͤnde der Vereine, denn 
hier nahmen die Rennen ihren Anfang. 

Als Felder und ſeine Begleiter ankamen, mußten ſie 
ſich an der Aufgangstreppe, wo an der Kaſſe die uͤb⸗ 
lichen fünfzig Pfennig als Entree erhoben und von Sports 
kameraden die Programme verkauft und die Beſucher 
empfangen wurden, bereits durch dichte Menſchenmaſſen 
arbeiten und hatten Mühe, ſich durchzudraͤngen, um zu 
den Auskleideraͤumen zu gelangen. 

Es war gerade eine Pauſe, und die Woͤlbung hallte 
wider von dem erregten Sprechen und Lachen der vielen 
Menſchen. Es war bereits erſtickend heiß. Über der noch 
vom letzten Rennen her leiſe bewegten Waſſerflaͤche zogen 
ſich leichte, weiße Streifen, und die ganze Halle dampfte 
von dem Dunſt des Waſſers und der Menſchen. 

Die Uhr wies uͤber die vierte Stunde hinaus. Man 
naͤherte ſich den großen Wettkaͤmpfen. Laͤngſt war die 
ſtereotype Eröffnungsrede des Vorſitzenden des Berliner 
Schwimmerbundes, eines redegewandten und liebens⸗ 
würdigen Herrn, in feiner bekannten eleganten Weiſe ges 
halten und der Erdffnungsreigen geſchwommen. Bereits 
war das Schwimmen der Knaben und Junioren, der 
Kleinen bis zum 14. und der Knaben bis zum 17. Lebens⸗ 
jahre vorbei, und kuͤnftige Meiſter hatten den erſten Ans 
hauch ihrer Erfolge auf der heißen Stirn geſpuͤrt. — 
Auch die aͤlteren Herren, die uͤber dreißig, hatten ge⸗ 
ſchwommen und vielleicht zum letzten Male die Hand 


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nach dem Siegeskranze geſtreckt. Endlich war bereits ein 
intereſſanter Mehrkampf ausgefochten worden, uͤber deſſen 
unerwartetes Reſultat noch lebhaft hin und her geredet 
wurde. 
f Nun kam ein Bruſtſchwimmen und ein großes Teller⸗ 
tauchen mit unzaͤhligen Konkurrenzen an die Reihe. Es 
konnte alſo noch lange dauern, bevor die Meiſterſchaft 
Berlins ausgefochten werden ſollte — fuͤr alle Kenner 
der Clou des Tages. 

Felder wollte ſich ausziehen, aber Nagel riet ihm ab. 
Wozu? — Man hatte noch lange Zeit. Man geſellte ſich 
alſo noch zu den Klubgenoſſen, die eine ausgezeichnete 

Ecke am Anfang der Galerie erobert hatten und beſetzt 
hielten. Hier war man unter ſich, unter lauter Be⸗ 
kannten und Freunden, denn auch die Damen, die heute 
mitgekommen waren, waren von ſo vielen geſelligen Ver⸗ 
anſtaltungen des Vereins her alte Bekannte. Es war 
wie eine große Familie, dieſe Ecke. Koepke empfing 
Franz mit der gewohnten Lebhaftigkeit. Er war ſo er⸗ 
regt, als ſolle er ſelbſt um den Preis ſchwimmen. Er 
1 war natuͤrlich wieder voll von Neuigkeiten, von denen 
kein Menſch etwas wußte. Georgy vom S.⸗K. „Spree“ 
ſollte nicht mitſchwimmen infolge eines Zerwuͤrfniſſes mit 
10 ſeinem Klub. Aber Wenzel war da; und Hoffmann, der 
{ gefürchtete vom „Triton“, auch. Hatte Franz ihn ſchon 
geſehen? — Dort unten ſtand er, der lange mit der 
Hakennaſe und den mächtig vielen Bändern Über der 
5 Bruſt. — Und Rieſecker war da, der heute zum erſten 
Male ſeit zwei Jahren wieder mitſchwamm. Aber es 
würde ihm wohl nichts helfen . 


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Felder hörte kaum auf das Geſchwaͤtz. Er hatte feinem 
Freunde das Programm aus der Hand genommen, und 
inſtinktiv ſuchte er feinen eigenen Namen. Er brauchte 
in dem kleinen Heft nicht lange zu blaͤttern. Da ſtand es: 


IX. Schwimmen um die Meiſterſchaft 
der Stadt Berlin. 
Offen für alle Mitglieder. Bahnlaͤnge 100 Meter 
gleich 4 Längen. 
1. B. Rieſecket (1. Berliner Amaten-S.:R.) ſchwarze Kappe. 


2. K. Wenzel (S.⸗K. „Poſeidon“) gelbe * 
3. W. Georgy (SR. „Spree”) rot⸗weiße „ 
4. F. Felder (S.⸗K. Berlin 1879) blaue * 
5. P. Hoffmann (S. -K. „Triton“) weiße „ 


6. W. Hofſtetter (Berl. S.⸗Sport⸗K. von 1888) rote 1 
Darunter war der Raum freigelaſſen zum Einzeichnen 


der Sieger: 
R ˙ or Zeit: Min. . Sek. 
„ Zeit: Min. . Se. 


Da ſtand fein Name, Noch keine Stunde würde vers 
gangen ſein, und die Entſcheidung war erfolgt. Welcher 
unter dieſen ſechs Namen würde eingetragen werden in 


die kleine leere Stelle? — Der ſeine? — 


Er hielt es nicht mehr aus. Der Gleichmut ſeiner 
Freunde erregte ihn. Ahnten ſie, wußten ſie denn nicht, 
was auf dem Spiele ſtand? — Warum lachten fie noch? 
Außer dem dummen Koepke ſchien keiner von der Größe 
des Augenblicks erfüllt zu ſein. 

Das Tauchen hatte begonnen. Es wuͤrde bei der großen 
Beteiligung mindeſtens eine halbe Stunde dauern. Aber 
Franz ertrug es nicht laͤnger, ihm untaͤtig zuzuſehen. Die 


ſchien ihm endlos. 

Er ſtahl ſich weg und ſuchte einen der hinten ges 
legenen Auskleideraͤume auf. In dem erſten, den er bes 
trat, hatten ſich bereits ſechs oder ſieben der Teilnehmer 
ausgezogen. Ein wuͤſtes Durcheinander herrſchte in dem 
engen Gelaß. Der Boden triefte von Naͤſſe und Schmutz, 


lagen herum, die nicht zueinander paßten, und Kleidungs⸗ 
ſtuͤcke verſchiedenſter Art waren wahllos übereinander ges 
worfen — friedlich vereinigten ſich hier die toten Dinge, 
waͤhrend ſich draußen ihre Beſitzer ſo bitter bekaͤmpften. 
Felder bemerkte das alles kaum. Er war es nicht anders 
gewohnt. 

Er war zufrieden, noch einen freien Haken zu finden, 
und kleidete ſich langſam aus. Er war ganz allein in 
dem abgelegenen Raume, in dem ein truͤbes Dunkel herrſchte, 
da man vergeſſen hatte, hier Licht anzuzuͤnden. Durch 
die engen Fenſter ſah mit ihrem letzten Schein die fruͤh 
erloͤſchende Winterſonne, und nur von ferne drangen vers 
lorene Rufe aus der Halle bis hierher. 

Als er das Trikot angelegt hatte und daruͤber die 
weiße Badehoſe mit dem blauen Rande ſtreifte, uͤberkam 
ihn wieder die zeitweilige Mutloſigkeit der letzten Tage. 
Er huͤllte ſich in ſein Badetuch und ſetzte ſich in eine 


Zeit war, und es war ihm ganz lieb, daß man ihn bis 
dahin allein ließ. 


Es war eine Vermeſſenheit von ihm, zu ſchwimmen; und 
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5 Zeit, in der die erſten beiden unter Waſſer blieben, er⸗ 


unter den Lattenbelaͤgen ſtanden Waſſerlachen, Stiefel * 


Ecke. Er wußte, daß man ihn rufen wuͤrde, wenn es 


Er glaubte nicht mehr daran, daß er ſiegen konnte. 


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es war mehr als eine ſolche von ſeinem Klub, ihn zu dieſem 


Wagnis verleitet zu haben. Auf ihn fiel die Schmach, 


wenn er unterlag. Und er mußte ja unterliegen — wenn 
nicht gegen die anderen, ſo doch gegen Wenzel. War 
‚überhaupt jemals ein Menſch gegen den aufgekommen? 
Und gerade heute nach einjaͤhriger Pauſe ſchwamm der 


wieder mit! 


Er ſah trübe vor ſich hin. 1 

Plötzlich wurde er aus feinem Sinnen geriffen. Zwei 
naſſe Geſtalten ftürzten herein und ſuchten laͤrmend nach 
ihren Kleidern, waͤhrend ſie laut miteinander uͤber das 
eben beendete Tauchen ſprachen. 

Hinter ihnen her Koepke. 

— Wo bleibſt du denn, Menſch? — Jetzt wird es 
aber wirklich Zeit. So komm' doch — alle warten ſchon 
auf dich! 

Felder ließ ſein großes Badetuch von den Schultern 
gleiten und folgte dem wieder Forteilenden langſam. Als 
er ſich mühſam durch die immer enger zuſammengepreßte 
Menſchenmenge zu ſeinen Leuten durchgerungen hatte, kam 
eben der letzte Taucher, mit ſeinen zwanzig Tellern be⸗ 
laden, blaß und ſchweratmend an die Oberflaͤche. 

Es herrſchte an der Eingangsſeite ein unglaubliches 
Gedraͤnge. Alles ſtieß ſich durcheinander: Herren vom 
Wettſchwimm⸗Ausſchuß in ſchwarzen Fraͤcken; Kellner mit 
gefüllten Bierglaͤſern; Bademeiſter in hellen, friſchge⸗ 
waſchenen Leinwandanzuͤgen; Klubmitglieder in Muͤtzen 
und Abzeichen, viele die Bruſt mit Medaillen und Schleifen 
überfät, freundlich oder feindlich gefinnt, und ſich ent⸗ 
weder herzlich begruͤßend oder hoͤflich ausweichend; und 


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Gaͤſte des Feſtes, jeden Alters und Standes und Ge: 
ſchlechtes — alles mußte hier durch, um hinaus oder zu 
ſeinem Platz zuruͤck zu gelangen, und kaum wurde den 
Schwimmern ausgewichen, die triefend von Waſſer durch 
ſie alle hindurch und zu ihren Kleidern zu gelangen ſuchten. 
Die Halle droͤhnte wieder von dem Durcheinanderlaͤrmen 
zahlloſer Stimmen. 

Man machte vor dem Hauptrennen des Feſtes die 
kurze Pauſe um einige Minuten laͤnger, waͤhrend welcher 
die Starter verſuchten, einen kleinen Raum um die Sprung⸗ 
bretter herum zu ſchaffen. 

Felder ſtand eingekeilt in einer Ecke. Nagel hatte 
ihm ſelbſt die blaue Kappe uͤbergezogen, die ihm das 
Los beſtimmt hatte, und erinnerte ihn noch einmal an 
ſeine Platznummer: „Du haft alfo Nr. 3 und ſchwimmſt 
in der Mitte zwiſchen zwei Gegnern!“ Er hoͤrte Bruͤnings 
ſpoͤttiſche Stimme, der über den „Bloͤdſinn des über: 
triebenen Tauchens“ ſprach und fuͤhlte dabei, wie ſein 
Blick aufmerkſam auf ihm ruhte. Als er ihm begegnete, 
verſuchte er, ſorglos zu laͤcheln, aber er konnte es nicht. Er 
hatte nur den einen Wunſch, daß alles vorbei fein möchte, 

Dann ſah er, wie der Starter auf das eine der unteren 
Sprungbretter trat und ſeine Fahne ſchwang. Der Laͤrm 
in der Halle verminderte ſich, Rufe um Rufe wurden 
laut, und eine klare Stimme tönte bis in den fernſten 
Winkel des Raumes: 

— Neunte Konkurrenz: Schwimmen über hundert 
Meter um die diesjaͤhrige Meiſterſchaft Berlins. Herr 
Wenzel vom Schwimmklub „Poſeidon“ ſchwimmt wegen 
plotzlich eingetretenen Unwohlſeins nicht mit. 

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4 
$ Wort verſtanden. Er fühlte ſich plöglich vorwärts ge 
ſtoßen und ſah, wie der Raum vor ihm frei wurde. Er 4 


trat vor. 


Ein Wurmeln der Überrafchung erhob ſich auf ver⸗ 


Maſſen ſchnell einige helle, nackte Geſtalten und ſprangen 
mit kurzem Ruck in das Waſſer. Felder hatte kein 


Einen Augenblick — eine kurze Sekunde — ſtand 


. feine jugendlich⸗ſchlanke, ebenmaͤßige Geſtalt allein über 


dem Baſſinrand in der Mitte unzaͤhliger Blicke und uͤber⸗ 
ſtrahlt von dem grellen Lichte der Bogenlampen, als 


konne ſie ſich nicht entſchließen, den Sprung zu tun — 
dann ſtreckte Felder die Arme aus, neigte ſich vor und 
ging mit glattem Sprunge in das Waſſer unter ihm. 


And in demſelben Augenblick, als ſein heißes Geſicht 


* * ua Der 94 
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4 


in die kühle Flut tauchte und feine Hand nach der 


Stelle des Brettes griff, wo ſeine Nummer ſtand, da 
war es ihm, als muͤſſe er aufſchreien vor Luſt, und 
er fühlte nichts anderes in dieſer Minute mehr, als 
die maßloſe Seligkeit, ſchwimmen, jetzt losſchwimmen 
zu dürfen! — Endlich im Waſſer war er jetzt wieder 
Herr ſeiner ſelbſt und ſeiner ganzen Kraft, und den 


Blick geradeaus auf die glatte Flaͤche vor ſich geheftet, 
bioͤrte er die Stimme des Starters auf dem eren 


über ſich: | 
— Sind die Herren bereit? — 
Der Platz neben Felder lag leer. Aber dieſer hatte keine | 
Zeit, darüber nachzudenken, denn ſchon erklang Über * N 
wieder die feſte Stimme: ö 
— Achtung! — — Fertig! 


ſchiedenen Seiten. Dann loͤſten ſich aus den ne, = 


Und fofort danach mit dem gleichzeitigen ec 8 
der Fahne durch die Luft: 5 


— Los! — — 


Fünf Hände ließen das Brett los und fünf Geſtalten 
durchſchnitten mit raſender Geſchwindigkeit das Waſſer. 


Die Muſik ſetzte ein und es wurde ſo ſtill unter der 


ungeheuren Wölbung, daß man außer ihr nur das 
Rauſchen des Waſſers unter den peitſchenden Schlaͤgen 
der Arme und Haͤnde vernahm. Eine atemloſe Spannung 
ergriff ſelbſt die Fernſitzenden unter den Zuſchauern und Be: 
allen teilte fich etwas von der inneren Erregung mit, die 5 


von dieſem Kampfe ausging. 
Die erſte Laͤnge von fuͤnfundzwanzig Metern wurde 


faſt gleich genommen. Beim Wenden legte der Tritone 


in weißer Kappe ſich vor und blieb ſo liegen bis faſt an 
das Ende der zweiten Laͤnge, wo er ſeinen Vorſprung 
gegen drei der Gegner, unter ihnen Felder, wieder verlor. 
Wieder ſtießen faſt gleichzeitig vier der Schwimmer zur 
dritten Länge ab; der fuͤnfte war zuruͤckgeblieben und blieb es. 
Die vier Körper lagen nun faſt nebeneinander. Bei 


jedem Stoß verſchwanden die Köpfe mit den bunten 


Muͤtzen unter der Waſſerwoge, die uͤber ſie wegging; dann 
ſah man, wie ſich die Arme wieder hoben, um zu neuem 


Schlage auszuholen und die Körper, von neuem, maͤchtigem 1 
Stoße der Beine getrieben, vorwaͤrts flogen, als würden 


ſie gezogen 

Gegen ende der dritten Laͤnge ſchien es, als ſchwaͤmmen 
die vier auf einen beſtimmten Punkt zu, ſo ſehr naͤherten 
ſie ſich einander. Aber dann gingen ſie wieder aus⸗ 
einander und jeder auf ſeine Nummer los. Wieder er⸗ 


An 
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folgte der Anſchlag fait gleichzeitig; doch hatten ſowohl 


die rotweiße, wie die rote Kappe eingebuͤßt, da ihnen die 
Richtung ein wenig verloren gegangen war. So kam 


es, daß Felder zuerſt, oder doch faſt gleichzeitig mit dem 
Traͤger der ſchwarzen, wenden konnte. 


Die Muſik ſchwieg ploͤtzlich und die erſten vereinzelten 
Rufe der Teilnahme und der Ermutigung wurden laut. 
Auf der Galerie waren die Zuſchauer aufgeſtanden und 


überall drängten ſich die Köpfe fo weit wie nur moͤglich 


vor. Die Spannung erreichte den hoͤchſten Grad. 

Die erſten Laͤngen hatte Franz geſchwommen wie er 
immer ſchwamm: ohne Aufbietung feiner letzten Kraft. 
Er war fo glücklich, ſchwimmen zu koͤnnen, daß er faſt 
vergeſſen hatte, um was es ſich handelte. Nun erwachte 
er plotzlich wie aus einem Traum: er hörte die Rufe und 
ſah dicht neben ſich den langen Rieſecker, der ſich eben 
wandte und ihm mit dem naͤchſten Stoß ſchon voraus 
war. Da packte ihn eine fuͤrchterliche Wut. Er wußte 


wieder, wo er war — und tief Atem holend, ſtieß er 


ſich ab. Ganz einerlei jetzt — ob er ſiegte oder nicht; 
aber leicht wollte er jenem den Sieg nicht machen! Er 
griff in das Waſſer und ſchoß in ihm hin; er kaͤmpfte 
mit ihm wie mit einem perſoͤnlichen Feinde, außer ſich 
vor Wut und Raſerei. 1 
Die Zuſchauer ſahen wie ſich die zu Anfang der End⸗ 
länge nicht mehr gerade Linie der vier Köpfe wieder 
ſchloß — wie der zweite dem erſten wieder naͤher und 
naͤher kam und wie ſich ihm die beiden anderen zu- 
geſellten. In der Mitte des Baſſins lagen die Schwimmer 
faſt ſo wieder zuſammen, wie zu Anfang des Rennens. 


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Die Aufregung der Zuſchauer ſtieg ins maßloſe. Man 
rief nicht mehr, man ſchrie den Schwimmern von allen 
Seiten zu, und jeder ihrer vier Namen erklang auf: 
munternd, anfeuernd — drohend von uͤberallher . 
Franz nahm ſeine letzte Kraft zuſammen. Er hoͤrte 
und ſah nichts mehr. Er wußte nicht mehr, wohin er 
ſchwamm, ob er uͤberhaupt noch in einer Richtung ging. 
Neben ihm peitſchte irgend etwas mit beiden Armen wie 
ein Ertrinkender das Waſſer — er ſah und hoͤrte nichts 
mehr. Er fuͤhlte kaum, wie ſeine Finger das Holz des 
Brettes beruͤhrten ... Er wußte nicht einmal mehr, war 
es nun zu Ende oder nicht 
Dann vernahm er das frenetiſche Jubelgeſchrei, das 
die Halle durchbrauſte und das den Tuſch der Muſik 
völlig uͤbertoͤnte. Über ſich ſah er erregte Geſichter und 
neben ſich fuͤr einen Augenblick ſeine Gegner — er⸗ 
ſchoͤpft wie er. Wie ſie holte er noch einmal tief 
Atem. Dann tauchte er unter und ſchwamm mit einem 
Stoß auf die Leiter zu. Er hatte ſich vollkommen aus⸗ 
gegeben. 
Er hoͤrte nicht, was die Umſtehenden ſagten. Er hatte 
nur das eine Bedürfnis ſich jetzt hinſetzen zu dürfen, 
0 Er drängte ſich aufs Geratewohl durch die Menſchen, die 
ihm keinen Platz machten. Man hatte ihm ein Tuch 
übergeworfen, wie einem Pferde nach dem Rennen die 
Decke. Er huͤllte ſich feſt hinein, um das Zittern ſeiner 
Glieder zu verbergen, und machte ſich ruͤckſichtslos Platz. 
So gelangte er zu dem Raum, wo ſeine Kleider hingen, 
j und ſetzte ſich, noch immer keuchend, in eine Ecke. 
11 Sie draͤngten ſich ihm alle nach, ſeine Freunde, lachend 


6 


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über feine eilige Flucht und fein boͤſes Geſicht, und ver⸗ 
ſuchten, ihm die Hand zu druͤcken. 

Als er ſie alle vor ſich ſah, die bekannten Geſichter, 
wurde er noch boͤſer: 

— Aber warum denn? — Ich war doch nicht erſter! — 

Er ſah, wie ſie wieder lachten. 

— Wer denn ſonſt? fragte Bruͤning. 

Franz ſah von einem zum andern. Ohne Zweifel, 
ſie lachten ihn aus. 

Dann erblickte er ſeinen Schwimmwart und ſah ihn 
an. Und eine Ahnung ſtieg in ihm auf, daß es wahr 
fein konne. Wenn Nagel es ſagte, dann glaubte er es. 

Und als auch dieſer nickte und ſagte: 

— Mit Sekunden etwa ... da war ihm, als loͤſe 
ſich von ſeiner Bruſt der ungeheure Druck und eilig ſprang 
er auf, um nach ſeinen Kleidern zu greifen. 

Haſtig riß er Badehoſe und Trikot herunter und warf 
ſich in ſeinen Anzug. Um ihn herum ließen die Mit⸗ 
glieder des S.⸗K. B. 1879 jetzt ihren Gefuͤhlen freien 
Lauf. Lebhaft wurde das eben beendete Rennen beſprochen. 
Allgemein ſtimmte man darin uͤberein, daß es ein ganz 
außergewoͤhnliches Rennen geweſen war, „wieder einmal 
eines von jenen, bei denen alles anders gekommen war...“ 
Am außergewoͤhnlichſten ſicherlich das Endreſultat. 

Nur einer war ganz zurückgeblieben; einer hatte nicht 
mitgeſchwommen. Die übrigen vier waren faſt gleich⸗ 
zeitig durchs Ziel gegangen. Es konnte ſich bei ihnen 
nur um ein paar Sekundenfuͤnftel handeln. Aber Felder 
hatte unbedingt zuerſt angeſchlagen. Sie alle hatten es 
geſehen. Gleich nach ihm hatte Rieſecker die Hand an⸗ 


gelegt, und es hatte ſich vielleicht nur um dies Anlegen 
der Hand gehandelt; dann Georgy vom „Spree“-Verein, 
und wieder faſt gleichzeitig mit dieſem der junge Erſt⸗ 
lingsſchwimmer Hofſtetter, dem das kein Menſch zu⸗ 
getraut haͤtte. Hoffmann, der beruͤhmte Hoffmann vom 
„Triton“, der Meiſter des Vorjahres, war uͤberhaupt ganz 
ziuruͤckgeblieben und hatte zu Ende der dritten Länge ſchon 
ganzlich ausgeſetzt. 

1 Das an den Richtertiſch geſandte Mitglied, wo unters 
deſſen die Zeit feſtgeſtellt und bekannt geworden war, 
kam zuruͤck und beſtaͤtigte faſt jede Einzelheit. Die 
hundert Meter waren geſchwommen in der Zeit von 
1: 23% bis 1:25 Minuten. Rieſecker hatte den zweiten 
Preis mit 24¼; der dritte hatte mit 24% abgeſchnitten 
und mit ½ Sekunde ſpaͤter der junge Hofſtetter. 
Der Rekord für Deutſchland betrug 1:18 Minuten. 
Er war alſo keineswegs erreicht, wie uͤberhaupt in den 
0 letzten Jahren nicht mehr. Was aber die Leiſtung Felders 
zu einer fo außergewoͤhnlichen machte, war die Jugend 
des Siegers. Wenn man ſie in Betracht zog, war es 
ein Erfolg, faſt einzig in feiner Art. 

| Neueintretende erzählten von der allgemeinen Ver: 
bluͤffung. Der ganze Amateur-Schwimmklub fei in Auf: 
ruhr und wolle das Reſultat anfechten, da zwiſchen 
ſeinem Mitglied und Felder ein totes Rennen ſtatt⸗ 
gefunden habe: man habe ganz genau geſehen, daß 
Mieſecker und Felder zu gleicher Zeit angeſchlagen hätten, 
und man habe es von ihrem Platze aus beſſer ſehen 
konnen, als von dem Tiſche der Richter. 

Die Freude der Mitglieder wurde durch die Nachricht 


Br 
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EST 


* von dem Ärger der anderen natürlich nur erhöht, and 
maan freute ſich im voraus auf die nicht ausbleibenden 
RMleeibereien der naͤchſten Zeit. ö 


4 
: Nur Franz war merkwürdig ſtill geworden. Jetzt, 
2 wo er wirklich dieſen ſo heißerſehnten und noch immer 
\ unbegreiflichen Sieg fein eigen nannte, erſchien ihm fo 
” wenig, was er errungen. Die Unruhe und Angſt der 
E- letzten Zeit waren vorbei. Aber geſchwunden war auch 
* zugleich mit ihnen und wie mit einem Schlage das 
4 Gefühl des Angeſpanntſeins, das einer inneren Gehoben⸗ 
5 heit trotz aller Verzagtheit ... Was hatte er getan? — 
5 Wofür wurde er gelobt? — Er hatte geſchwommen, wie 
. ſchon hundert Male, von Rand zu Rand der Waſſer⸗ 
. fläche — etwas beſſer, nicht viel ſchlechter heute, als 
2 ſonſt. Nur hatte er diesmal etwas getan, was andere 
* nicht gekonnt: um den Bruchteil einer Sekunde, um 
= einen Augenblick früher hatte er die Hand zum An⸗ 
1 ſchlagen erhoben, und dieſe eine, dieſe einzige Bewegung 
5 der Arme und der Hand erhob ihn ploͤtzlich ſo, daß ihn 
2 alle anſtarrten wie ein Wundertier. Wäre er unterlegen, 
2 ja, wäre er nur zweiter geworden, kein Menſch würde 
5 ſich um ihn kümmern, niemand feinen Namen nennen 
2 Außerdem: Wenzel hatte nicht mitgeſchwommen. Waͤre 
5 er Ae erkrankt, ſo haͤtten ſie alle miteinander einpacken 
und zuſehen koͤnnen! 
* Er wollte wiſſen, wie er geſchwommen hatte. Nagel 
ee würde es ihm jagen. Er drängte ſich zu ihm, als er 3 
N, fertig war, und ging mit ihm hinaus, 5 
Dann hörte er es. „Ein ſchoͤner Sieg, weil er jo 7 
ſchwer errungen wurde. Wie du geſchwommen haſt? — 


Dee erſten drei Längen ganz gut. Bei der letzten haft 
3 du natürlich den Stil verloren und bift über deine 
Kraͤfte hinausgegangen. Sonſt haͤtteſt du auch nicht ges 
ſiegt. — Freu' dich nur ruhig. Wir freuen uns auch.“ 
Jaa, Franz freute ſich, als er dies hörte, und zog ſich 
ſeine Sportmuͤtze über die noch naſſen Haare. Jetzt erſt 
freute er ſich wirklich! — 

Mit den anderen ging er hinaus, und eine Weile 
noch ſtanden alle in ihrer Ecke der Galerie, wo der Sieger 
mit neuen Gluͤckwuͤnſchen empfangen wurde. 

Die ſchwuͤle Hitze in der Halle hatte noch zugenommen. 
Der Dunſt des warmen Waſſers und der vielen Menſchen 
war erdruͤckend. Überall ſah man rote Geſichter, auf 
denen der Schweiß ſtand, und alles verſuchte die innere 
Glut mit großen Glaͤſern Bier zu loͤſchen. Aber noch 
immer erſchienen die Reihen der Zuſchauer ungelichtet. 
Man blieb, weil man einmal da war, oder auch, weil 
man noch das Waſſerpolo und die luſtige Pantomime 
am Schluß nicht aufgeben wollte. Die letzten Rennen 
gingen unter allgemeiner Intereſſeloſigkeit voruͤber. Selbſt 
ein langes, aber vortreffliches Kürfpringen vermochte es 
kaum mehr aufrecht zu erhalten. Wie immer, raͤchte ſich 
an dieſen letzten Nummern die offenbar unvermeidliche 
Aberladung des Programms. 

AJVgn der Ecke der 79 er drängte Brüning feine näheren 
Freunde zum Aufbruch, endlich „dies verfluchte Schwitz⸗ 
bad“ zu verlaſſen. Er koͤnne es nicht mehr aushalten, 
und wenn ſie noch zehn Minuten laͤnger hierblieben, 


Feſteſſen geplant und den immer bereiten Koepke (der 
als Belohnung dafür mit eingeladen wurde) in ein bes 
nachbartes Weinreſtaurant geſchickt, wo die Ner 
ſeines Namens und kurze Angaben genuͤgten, um e e 
gemütliche Niſche und ein ausgeſuchtes kleines Sou 
für ſechs Perſonen nach einer Stunde bereit zu finden. 
Die Geladenen verabſchiedeten ſich für ein paar Stun⸗ 
den von ihren Leuten und verließen, von vielen W 
gefolgt, die heiße Halle. — 
Bei Tiſch herrſchte die lebhafteſte Froͤhlichkeit. F 
ſaß zunaͤchſt dem Gaſtgeber, neben ihm ein ä 
Schwimmer mit großem Namen, und ihm gegenuͤber 
ſein verehrter Schwimmwart. Er war aͤußerlich ſtill, wie 
immer, aber innerlich war jetzt alle Sorge von ihm ge⸗ 
nommen, und er ließ ſich alle die guten und ungewohnten 
Dinge, die auf den Tiſch kamen, mit dem ganzen un 
verdorbenen Appetit ſeiner jungen Jahre ſchmecken. 
Aber als Brüning zum Schluß, als der Sekt kam, 
das Glas in die Hand nahm und — halb ernſthaft, 
halb launig, wie es ſo ſeine Art war — eine Rede auf 
ihn hielt und alle aufſtanden, um auf den heutigen 
alle künftigen Erfolge mit ihm anzuſtoßen, da 
mannte ihn faſt die Ruͤhrung über fo viel und 2 
Freundſchaft. Ein großer Entſchluß keimte in ihm auf, 
und waͤhrend die anderen ſchon weiteraßen und weit 
lachten, ſtand er plotzlich auf und ſagte g 
ſchauend und ganz ſchnell: 
— Es lebe der Schwimmklub Berlin 1879. Ich d 
ihm, daß er mich aufgenommen hat, und ich werde mich 
anſtrengen, ihm immer ſo Ehre zu machen, wie heute 


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Das war ein kurzer Toaſt, aber ein guter, und alle 
wunderten ſich, daß er ihn ſo zuſtande gebracht hatte; 
Bruͤning nannte ihn ſogar einen Beweis fuͤr „die un⸗ 
vermutet glaͤnzende Rednergabe unſeres lieben Mitgliedes 
Franz Felder“. 

Aber das ſtoͤrte dieſen nicht weiter, und aͤußerlich 

ſtill, aber innerlich gluͤcklich blieb er den ganzen Abend: 
waͤhrend der Droſchkenfahrt nach dem Lokal, wo die Preis⸗ 
verteilung ſtattfand; waͤhrend dieſer ſelbſt, als er — noch 
einmal der Zielpunkt aller Blicke — die ſilberne Medaille 
und die Urkunde, die ihn den Meiſter von Berlin fuͤr 
das kommende Jahr nannte, erhielt; und waͤhrend der 
langen Stunden, die ſich noch durch die halbe Nacht 
zogen, als man an den Tiſchen zu ſeiten des großen 
Saales ſaß, in dem unermuͤdlich getanzt wurde, und 
als immer wieder und wieder von allen Seiten alte und 
neue Bekannte kamen, um mit ihm anzuſtoßen, zu 
trinken und ein Wort zu wechleln .. . 
5 Und gluͤcklich war er, als er endlich durch die helle 
und kalte Winternacht heimwaͤrts ging. Denn wie der 
Himmel dort oben, ſo war auch ſeine Zukunft voll lichter 
Sterne, und ein jeder von ihnen war ein neuer, ein 
großer und ein immer größerer Erfolg! 


8. 


Er durfte ſeinen Sternen vertrauen. Einer nach dem 
anderen neigte ſich gegen ihn und fiel nieder in feine 
jungen, hoch emporgeſtreckten Hände — Sieg um Sieg! — 

Die Meiſterſchaft der kurzen Strecke fuͤr Berlin hatte 
Franz Felders Namen mit einem Schlage bekannt ge⸗ 
macht. Jetzt konnte im Klub kaum mehr daruͤber ge⸗ 
ſtritten werden, wer zu den naͤchſten Schwimmkonkurrenzen 
entſandt werden ſollte; es handelte ſich nur noch darum, 
an welchen Schwimmen er ſich beteiligen konnte, und 
bei welchen es beſſer war, von einer Beteiligung noch 
abzuſehen. Das galt natürlich in erſter Linie bei den 
langen Strecken, für die es im Klub kein Mitglied gab, 
das ſich mit den Meiſtern dieſer Jahre über ſie haͤtte 
meſſen konnen. Aber man konnte ſich nach dem un⸗ 
verhofften Triumphe feines jungen Mitgliedes jetzt nicht 
mehr zurückziehen, um ſo weniger, als man neben Felder 
einen ausgezeichneten Springer, Grafenberger, heran⸗ 
gebildet hatte, der ſich auf dem Bundesſchwimmen einen 
zweiten Preis geholt, und auf den man als Springer 
ebenſolche Hoffnungen zu ſetzen begann, wie ar delsen 8 
als Schwimmer. 

So war der alte Schwimmklub Berlin von 18 N 
mit einem Schlage wieder in den Vordergrund des Inter⸗ 


| 
| 


9 


Eh 


eſſes getreten, und ſeine alten Mitglieder ſahen wohl 
ein, daß fie dem Drängen der jüngeren nicht länger 
widerſtreben durften und konnten, ſondern verpflichtet 
waren, das Eiſen zu ſchmieden, das wieder zu gluͤhen 
begann. 


Mit der Hoffnung auf neue, rege Beteiligung an der 


Pffentlichkeit und mit der begründeten Ausſicht auf neue 


Siege begann ein neues, friſches Leben in den Sitzungen, 
wie auf den Übungsabenden ſich zu entfalten, und nie 
war der Ton bei den Zuſammenkuͤnften ſo frei und 
froͤhlich geweſen, wie zu Beginn dieſes Sommers 

Felder uͤbte unablaͤſſig. Als der laute Tag vorbei⸗ 
gerauſcht war, der ihm ſeinen jo heißerſehnten Sieg ges 
bracht, erſchien es ihm wieder ſo wenig, was er getan, 
daß ein tiefes Gefühl der Unbefriedigtheit ihn faſt nicht 
mehr verließ. Ja, er hatte geſiegt — aber war das ein 
Sieg geweſen, wie er zu wuͤnſchen war? — Weder war 
beine Zeit eine beſondere geweſen, noch ſein Stil bis zu 
. rein geblieben; dabei hatte er feine Kraft völlig 
verausgabt; und endlich hatte Wenzel, der Meiſtgefuͤrchtete, 


N nicht teilgenommen. Alles das beeinträchtigte den Wert 


j 1 


feines Sieges in feinen Augen bedeutend und er war 
ungeduldig nach neuen Kaͤmpfen. 

Er übte unermüdlich. Er erreichte es zunaͤchſt, die 
hundert Meter in derſelben Zeit, wie auf dem Bundes⸗ 
ſchwimmen, aber in glatt durchgefuͤhrtem Stil zu 
ſchwimmen; dann verbeſſerte er ſeine Zeit von Woche 
zu Woche um ein weniges. 

Als der Frühling kam und die erſten Ausſchreibungen 
fur die Sommerfeſte erlaſſen wurden, begann er, das 


„ 


frühere Training für Strecken über drei⸗ und fuͤnfhundert 
Meter wieder aufzunehmen. Seine Fortſchritte ſetzten 


ſelbſt ſeine Klubgenoſſen in Erſtaunen. Sogar Nagel, 


der ihn unausgeſetzt beobachtete, ſagte nichts mehr. Nach 
außenhin bewahrte der Klub abſolutes Stillſchweigen. 

Dann kamen die Siege dieſes Sommers, einer nach 
dem andern: er ſiegte zweimal auf den internen Ver⸗ 
anſtaltungen ſeines Klubs gegen ſeine eigene Mann⸗ 
ſchaft, war deſſen erklaͤrter beſter Schwimmer über alle 
Strecken und in jeder Stilart und verzichtete damit fuͤrs 
erſte auf die Beteiligung an Kaͤmpfen mit ſeinen eigenen 
Leuten. Er ſchlug auf dem ſchoͤnen Feſt des „Delphin“ 
deſſen beiten Schulſchwimmer im Bruſtſchwimmen über 


150 Meter; er holte ſich ein Diplom in Reinickendorf 


und einen Ehrenpreis in Halenſee. Und er erlebte einen 
anderen, in feiner Art merkwuͤrdigen Triumph. Er ers 
reichte auf dem diesjaͤhrigen großen Verbandsſchwimmen 
im Kochſee, auf dem er zu dem großen 500 Meter⸗ 
ſchwimmen um den Hauptpreis nicht gemeldet war, da 
diesmal die abmahnenden Stimmen ſeines Klubs, die 
vor allzu haſtigem Vorgehen warnten, im Übergewicht 
geweſen waren, er erreichte auf dieſem Feſt im Junioren⸗ 
ſchwimmen über dieſelbe Strecke, bei dem er natürlich 
ſtartete, eine Zeit, die ſo nahe an die des Siegers im 
Hauptſchwimmen heranreichte, daß alle Gegner ſchweigen 
und denen recht geben mußten, die ſchon fuͤr dieſes Jahr 
ungeſtuͤm eine Beteiligung Franz Felders an erſten 
kurrenzen gefordert hatten. — Das war auch ein Sieg, 
und nicht der ſchlechteſte! 

Dazu kamen noch in dieſem Sommer ſeine erſten 


8 


Reiſen. Sie wurden uͤber den Sonntag gemacht, da er 
zur feſtgeſetzten Zeit wieder bei ſeiner Arbeit ſein mußte. 
Im Fluge hin, im Fluge zuruͤck; oft im Morgengrauen 
zur Bahn, eine lange Fahrt, ein haſtiger Sieg, ein Tele⸗ 
gramm an den Klub, und ſchon wieder zum Bahnhof 
zuruͤck . .. Nur einmal konnte er ein paar Tage Urlaub 
benutzen, um nach Stuttgart zu gehen, wo er zwei Tage 
blieb. Auf dieſen ſeinen erſten Reiſen, die mehr Aus⸗ 
fluͤge waren, unternommen auf Koſten ſeines Klubs und 
ſtets in Begleitung irgend eines Kameraden, kam er nach⸗ 
einander nach Magdeburg, Hamburg und Stuttgart und 
im Spaͤtherbſt nochmals nach Hamburg, wo er den 
ſchoͤnſten aller feiner bisherigen Siege errang: in dem 
deutſchen Schulſchwimmen einen Ehrenkranz mit Gra⸗ 
vierung fuͤr ein tadellos durchgefuͤhrtes Bruſtſchwimmen 
von hundert Metern gegen und hundert Metern mit 
dem Strom, bei dem die Art des Schwimmens, nicht 
nur die Schnelligkeit gewertet wurde. In Stuttgart holte 
er ſich den zweiten Preis im Wettſchwimmen über ein: 
hundert Meter, in Magdeburg den erſten im Hindernis: 
ſchwimmen: ein in feiner kuͤnſtleriſchen Ausführung wirk⸗ 
lich wertvolles Diplom. 

5 Und dann hatte ſich Felder im folgenden Winter in 
ö feiner Meiſterſchaft von Berlin im Schwimmerbund uber 
die kurze Strecke zu behaupten: diesmal gegen Wenzel 
vom „Poſeidon“ und die beſten Berliner Schwimmer, 
und er tat es in einer Weiſe, die deutlich zeigte, welche 
Sicherheit ihm bereits die ſommerlichen Siege verliehen 
hatten — er ſchwamm die kurze Strecke nicht nur in 
reinſtem ſpaniſchem Stil und verbeſſerte feine eigene Zeit 

vn 7 


in eye 


gegen das Vorjahr nicht nur um fat drei Or 1 
ſondern er ſchlug den gefuͤrchtetſten feiner Gegner, der 
alles daran ſetzte, die verlorene Meiſterſchaft wieder an 1 
gewinnen, um eine ganze Sekunde. 4 
Zum zweiten Male war er Meiſter von Berlin ge⸗ 
worden. Kaum war ein kurzes Jahr vergangen, und 
doch: welcher Unterſchied nicht zwiſchen heute und damals! 
Als er — umſtanden von ſeinen jungen und alten 
Klubfreunden — ſein Trikot uͤberzog und der immer be⸗ 
haͤbiger werdende Brüning den anderen in feiner fpdttifche 
gutmütigen Art erzählte, wie fie ihn damals vom Sofa 
aufgeweckt und den Mutloſen in einer Droſchke hierher 
gebracht, dachte Felder ſelbſt einen Augenblick an die 
trübe, einſame Viertelſtunde, in der er hier allein nieder⸗ 
gedrückt bei dem grauen Zwielicht eines trüben Winters 
tages geſeſſen, faſt verzweifelnd an ſich und ſeiner Zukunft. 
Heute zweifelte er nicht mehr. Er dachte überhaupt 
wenig mehr an Siegen und an Unterliegen. Die heitere 
Zuverſicht der Ruhe, erworben in fo manchen ernſten 
Kaͤmpfen des letzten Jahres, war uͤber ihn gekommen, 
und kaum ließ die Erwartung jetzt fein Herz hoͤher 
ſchlagen, wenn ein neuer Sieg ihn reizte. Er wußte, 
er tat, was er konnte, und er tat es in erſter Linie für 
ſeinen geliebten Klub. Er hatte ihm bereits Ehre ge⸗ 
macht. Er wußte es, und er war ſtolz darauf. Als 
das Diplom des Bundesſchwimmens, das ſeinen Namen 
trug, in dem alten, gemuͤtlichen Klubzimmer der Linden⸗ 
ſtraße, wo der Klub nun ſchon ſeit faſt einem Jahrzehnt 
tagte, dieſer Stätte fo zahlreicher, erregter Debatten, ſoſ 
zahlloſer freudiger und gehobener Stunden, zwiſchen den 


wm Eu 


Unmenge Ehrengeſchenke und Urkunden vergangener Tage 
ſeinen Platz fand, da wich zum erſten Male recht eigentlich 
das Gefuͤhl einer gewiſſen Fremdheit, das ihn nie ganz 
verlaffen hatte, von ihm: denn jetzt hatte der Arbeiter: 
ſohn aus dem Oſten angefangen, ſeine Schuld zuruͤck⸗ 
zuzahlen, und man brauchte es nicht mehr zu bereuen, 
den armen Jungen unter ſich aufgenommen zu haben. 
Und er ſchwur ſich damals und viele Male ſpaͤter, immer 
und immer wieder zu: ganz und bis aufs letzte die in 
ſeinen Augen ſo unermeßliche Schuld zuruͤckzuzahlen, und 
vielleicht nicht nur das, ſondern dem S.⸗K. B. 1879 mit 
Zinſen und Zinſeszinſen zu vergelten, was er an ihm getan. 
Daher freute er ſich an jedem ſeiner Erfolge, nicht 
nur fuͤr ſich, ſondern auch fuͤr ſeinen Klub mit. Und 
fo gluͤcklich er auch war, einen Preis nach Haufe tragen 
zu duͤrfen und die Ehrenzeichen und Medaillen auf ſeiner 
Bruſt ſich vermehren zu ſehen — lieber war es ihm 
doch noch und groͤßer ſeine Siegerfreude, wenn er ſeine 
Preiſe in den Beſitz des Klubs uͤbergehen und dort die 
Wand zieren ſah, waͤhrend ihm ſelbſt nur eine einfache 
Urkunde — gewiſſermaßen als Westen — zuteil 
wurde. 
So rein und ehrlich war ſeine Freude, daß er faſt 
noch keine Neider hatte, wenigſtens nicht unter ſeinen 
Leuten. Er war noch ganz der, als den ſie ihn damals 
4 aufgenommen hatten, wenn er auch aͤußerlich ein junger, 
eleganter Mann geworden war, der es lernte, Wert auf 
ſein Außeres zu legen. Auf ſeinen Lippen zeigte ſich der 
. Flaum, aber ſein Korper — obwohl Felder auch 
im letzten Jahre tuͤchtig in die Hoͤhe sehpoflen war — 


233 
et 


ru 99 N 2% . 9 * ni n — 
Fi er 4 . 


zeigte noch immer die unentwickelten Formen des Knaben, 
und wenn er an den Start ging, verſchwand ſeine Ge⸗ 


mehr heimiſch in dieſem Leben, das mehr als je faſt jede 
ſeiner nicht der Tagesarbeit gewidmeten Stunde in Anſpruch 


100 


ſtalt faſt neben denen der anderen. Wer ihn nicht kannte, 
prophezeite ihm vor ſeinen meiſt voll entwickelten, musku⸗ 
loͤſen Gegner ſicher nicht den Sieg, bis er ihn mit kurzen 
und ficheren Schlägen das Waſſer teilen und den ſchmaͤch⸗ 
tigen Schwimmer ſchnell allen vorauseilen ſah. Ä 

Dieſe Liebe zu feinem Klub, dieſe faſt kindliche Freude 
an ſeinen erſten Triumphen, dieſe faſt beſcheidene und 
doch ſelbſtbewußte Zurückhaltung und Ruhe, die Felder 
eigen war, erhöhte feine Beliebtheit im Klub von Tag 
zu Tag; und wann immer er kam, woran er auch teil⸗ 
nahm, immer war er gern geſehen und fuͤhlte ſich mehr und 


nahm. Noch immer waren und blieben die beſten ſeiner 
Freunde die alten: Nagel, der treue und ernſte Berater; 
Brüning, deſſen ausgeſprochener Schügling er blieb und 
der, ſo oft er nur konnte, den Unerfahrenen auf ſeinen 

Reifen begleitete und natürlich ſtets alles zahlte; und 
Koepke, der Unzertrennliche, ſein Schatten, der bei jedem 


neuen Siege von neuem aus dem Haͤuschen geriet un Ei 


ihm Erfolge vorausſagte, über die Felder ſelbſt einftweilen 
nur lächelte. Aber auch an manchen anderen Klubgenoſſen 
hatte er wahre und aufrichtige Freunde, die verlernt hatten, 
ſich an ſeiner Schwerfaͤlligkeit und Wortkargheit zu ſtoßen 
und ihm naͤher ſtanden, als Felder es ſelbſt wußte. 

Und noch eines trug dazu bei, ſeine Beliebtheit zu 
erhöhen: trotz feiner erſtaunlichen Fortſchritte und dern 
in Anbetracht feiner Jugend außergewoͤhnlichen Siege 


oe 


drängte er fich doch nie zu den Konkurrenzen, und immer 


war es der freie Entſchluß ſeines Klubs, der ihn — vor 
der von Brüning und einigen anderen gelenkten Majoritaͤt 
ſich beugend — hinausſandte. So ließ er ſich ruhig 


4 mitnehmen in die fremden Städte, uͤberwand ſchnell 
das anfaͤngliche Unbehagen der haſtigen und uͤberſtuͤrzten 
Fahrten, und tat fein Beſtes, ſich für die Kämpfe moͤglichſt 


friſch zu erhalten, indem er geduldig die Ratſchlaͤge ſeiner 
Begleiter über ſich ergehen ließ und aß und ſchlief, wenn 
dieſe es fuͤr noͤtig erachteten, und nicht, wenn er hungrig 
und muͤde war. Die Reiſen ſelbſt intereſſierten ihn wenig: 
er ſah wohl hier und da eine Sehenswuͤrdigkeit der 
fremden Stadt, wenn es zufaͤllig eine freie Zwiſchenſtunde 
erlaubte, auch machte das neue und bunte Hafenleben 
Hamburgs einigen Eindruck auf den Binnenlaͤnder, aber 
im allgemeinen drehten ſich ſeine Erinnerungen an dieſe 
Reiſen doch nur um deren Zweck und Ziel: um die Wett⸗ 
laͤufe am Nachmittag und die Preisverteilung am Abend, 
und die glichen ſich alle mehr oder minder, mochte es 
nun in Hamburg fein oder in Stuttgart oder Berlin. 

Aus dieſem Jahre, vielleicht dem gluͤcklichſten ſeines 
kurzen Lebens, ſtammte eine Photographie, auf der er ſich 
zum erſten Male bildlich im Schmucke ſeiner Sieges⸗ 
zeichen zeigte. Die kleine, braune Rettungsmedaille war 
faſt nicht mehr ſichtbar unter den ſechs bis ſieben großen 
Silbermünzen, die bereits eine ganze Reihe auf der linken 
Bruſtſeite bildeten; und um den Hals trug der junge 
Meiſter bereits das breite Band mit der kleinen, ver⸗ 
goldeten Medaille, das in leuchtenden Buchſtaben den 
frühen Ruhm feines Trägers verkuͤndete. 


2 r e 


Sportblatt der ganzen Welt, Felder um ſein Bild bat und 
es zu Ende dieſes Winters ſeinen Leſern zeigte, ſchrieb 
es dazu: 1 
rg „Wenn wir heute — entgegen unferer fonftigen Ger 
wiohnheit — unſeren Leſern das Bild eines jungen Schwime 
| mers zeigen, deſſen Name, obwohl bereits ruͤhmlich ber 
5 kannt in feinen Kreifen, doch noch keine eigentlich nationale 
5 Geltung erlangt hat, fo tun wir es in der ſicheren Über 
zeugung, daß der Name Franz Felder eines, vielleicht nicht 
2 einmal fernen Tages über die Grenzen feines Vaterlandes 
bhinaus genannt werden wird. Was uns zu dieſem Aus: 
ſfrwruch treibt, find nicht fo ſehr die in Anbetracht feiner 
Jugend allerdings außergewoͤhnlichen Leiſtungen und ſtau⸗ 
nens wert ſchnellen Fortſchritte dieſes Schwimmers, ſondern 
vor allem die Beobachtung der ganz nur auf ein Ziel 
gerichteten Energie dieſes jungen Mannes, mit der er von 
früh auf ſich ſelbſt geſteckte Ziele raſtlos und unbekuͤmmert 
zu verfolgen ſcheint ... Wir wußten unter allen deutſchen 10 
Schwimmern der Nangeren Generation keinen, der er ER 
fo zu den hoͤchſten Hoffnungen berechtigt erfcheint, wie 
Franz Felder, der Meiſter von * über die kurze Strecke * 
der letzten beiden Jahre 1 
Als an einem 8 des Klubs die Nummer R = 
herumgereicht und von allen Seiten mit launigen nd 
fpöttifchen Bemerkungen über den Schreiber begleitetwurde, 
war es wieder nur Nagel, der ernſt blieb. Indem er 
verſtohlen das Bild mit dem ihm ſeit Jahren eu 
Geſicht verglich und Zug für Zug hier wiederfand, was 
er dort ſo gut kannte: die niedrige, trotzige Stirn, den 


— 103 — 


Mund mit den ausdrudsvollen, gewoͤlbten Lippen, das 
energiſche Kinn und die oft fo unnatuͤrlich ernſthaft blickenden 
blauen Augen mit den ſcharf gezogenen Brauen daruͤber 
D da mußte er innerlich dem gewiegten und in allen Lebens⸗ 
$ fätteln gerechten Menſchenkenner des großen Sports: 

blattes recht geben und feiner Beobachtungsgabe Be⸗ 
wunderung zollen. Aber was jenen, den gleichguͤltigen 
Kritiker, zu fo uͤberſchwaͤnglichen Prophezeiungen begeiſterte, 
erfüllte ihn mit heimlich⸗banger Sorge um ſeinen Schuͤtz⸗ 
ling. 

Er ſprach nicht aus, was er dachte. Man wuͤrde ihn 
mitverlacht haben. Denn fuͤr die meiſten anderen lag 
alles dies, was er in dieſem Augenblick in voller Schaͤrfe 
ſah, noch verborgen unter der Weichheit der Jugend, die 
in dieſen Zuͤgen noch nichts Hartes hervortreten ließ und 
gerade in dieſer Stunde, in dieſem luſtigen Kreiſe, unter 
dieſen ihm ſo vertrauten und lieben Menſchen, kam alles, 
was in Felders Natur an unbekuͤmmerter Froͤhlichkeit, 
an ſich und anderen vertrauender Güte und natürlicher 
Liebenswuͤrdigkeit lag, hervor. Mit den anderen lachte 
er über die Überſchwenglichkeiten des Reporters, denn 
wenn je in ihm die Stimme des Ehrgeizes geſchwiegen 
hatte, ſo tat ſie es jetzt. Seine erſten Siege hatten ihn 
beruhigt. Wenn es ſo leicht war, zu ſiegen — nun, 
dann wollte er noch oft ſiegen. Aber wozu daruber 
nachdenken? — Das wuͤrde alles ſchon kommen, wie es 
kommen ſollte. Fuͤr ihn war die Hauptſache, daß er 
ſeinem Klub Ehre und Freude machte. Hier hatte er 
die Heimat feiner knabenhaften Wünfche gefunden, und 
hier wollte er bleiben. Sein Klub wuͤrde ihn leiten und 


Aue SE ET 


. Nen 


9. 


Sie waren eine glückliche Zeit für den jungen 
Schwimmer — die Jahre dieſes rapiden, ſicheren und 
doch nicht uͤberhaſteten Aufſtiegs. 

Aber nie ſchien ein Sommer in Franz Felders Leben 
ſo voll Sonne zu werden, wie dieſer naͤchſte, der ſeines 
achtzehnten Lebensjahres, in dem er ſeine Lehrzeit be⸗ 
endete und in dem er in einer Fuͤlle anderer erſtklaſſiger 
Siege, die ſich Schlag auf Schlag in faſt beaͤngſtigender 
Schnelle folgten, auch ſeine erſte, ganz große Meiſter⸗ 
ſchaft und mit ihr die große goldene Medaille erfocht: 
die Jahresmeiſterſchaft von Deutſchland uͤber die große 
Strecke von 1000 Metern — den ſchoͤnſten und reinſten 
aller ſeiner bisherigen Siege. 

Der Wunſch, ſich an dieſem hoͤchſten Wettkampf zu 
beteiligen, um den alle erſten Schwimmer Deutſchlands 
Jahr fuͤr Jahr mit ihrem beſten Koͤnnen rangen, hatte 
lange in ihm gelegen, bevor er ſich hervortraute. Die 
kurze Strecke, uͤber die er ſich Meiſter fuͤhlte, reizte ihn 
ſchon nicht mehr. So kam es, daß er ſich mehr und 
mehr auf die langen Strecken legte und im. Frühjahr 
dieſes Jahres wochenlang überhaupt nur noch über 
tauſend Meter trainierte, bis er auch hier Zeiten erreichte, 
die ſich kuͤhnlich neben anderen ſehen laſſen konnten. 


Aus dem unübertrefflichen Flieger war ein e 5 


Steher geworden. Als daher die Beratungen über die a 
jährliche Beteiligung begannen, konnten die ſchwachen 
und vereinzelten Einwaͤnde meiſt älterer Mitglieder gegen 


ihn nur ſeiner Jugend gelten, und ſie wurden von dem 
allgemeinen lebhaften Verlangen des Klubs nach neuen 
und größeren Siegen auf neuem Gebiet glatt uͤberſtimmt. 


Das große Schwimmen des „Allgemeinen deutſchen J 
Schwimmverbandes“ ſollte in dieſem Jahre beſonders 
großartig ausgeſtaltet werden, jede Art von Konkurrenz 


im Schwimmen, Springen und Tauchen umfaſſen und 
ſich über zwei ganze Tage erſtrecken, einen Sonnabend 
und einen Sonntag im Juli. Als Ort war diesmal 
Grunau gewählt, der allbekannte Sportplatz an der Dahme, 
der „wendiſchen Spree“, dem Heim der großen Regatten. 
Seit Jahren waren keine zahlreicheren und bedeutſameren 


Meldungen aus allen Orten Deutſchlands eingetroffen, 
und die geſamte Schwimmwelt blickte den entfcheidenden 
Tagen mit außergewoͤhnlicher Spannung entgegen. Dr 
„Schwimmklub Berlin 1879“ hatte neben Felder, der I 


am erſten Tage in einem Zweihundertmeterſchwimmen, 


am zweiten ſich an dem großen Schwimmen beteiligen 

ſollte, ſeinen ausgezeichneten Springer, Grafenberger, und 
zu den kleineren Wettkaͤmpfen mehrere verheißungsvolle 
Kräfte gemeldet, jo daß er ſchon nach der Zahl feine 


Meldungen im Vordergrund des Intereſſes ftand, — 


Der Eröffnungstag, der Sonnabend, war nicht vom 
Wetter begünftigt und verlief auch ſonſt unbefriedigend. 
Grafenberger hatte feinen ſchlechten Tag, und ſogaet 
Felder holte ſich nur einen zweiten Preis, indem er 5 


— 107 — 


gegen den Meiſterſchwimmer Weſtdeutſchlands aus Frank⸗ 
furt uͤber die Zweihundertmeterſtrecke unterlag. Man 
trennte ſich unter ſtroͤmendem Regen fruͤh, um ſich zu 
dem Haupttage durch ausgiebigen Schlaf zu ruͤſten. 

Um ſo zahlreicher und auserleſener war am Sonn⸗ 
tag die Zuſchauermenge, die in dichten Reihen die Holz⸗ 
baͤnke an dem ſanft aufſteigenden Ufer zu vielen Hun⸗ 
derten ſchon vor der angeſetzten dritten Stunde des 
Beginnes beſetzt hielt, waͤhrend von einem wolkenloſen, 
blauen Himmel die Sonne in vollſter Pracht auf Waſſer, 
Waͤlder und ſie, die Menſchen, herniederſtrahlte. 

Faſt alles, was in der Welt des Schwimmſports einen 
Namen hatte, war vertreten. Man ſah mehr bunte Muͤtzen 
und Farben, als je zuvor, und aus der Zahl der Zuſchauer 
und der Vertreter und Deputierten oͤffentlicher Behoͤrden 
konnte man erſehen, welchen Aufſchwung das Schwimm⸗ 
weſen in den letzten Jahren genommen und wie ſehr es 
an Intereſſe in weiteren Kreiſen gewonnen haben mußte. 

Von Anfang an wurden alle Rennen mit allgemeinſter 
Aufmerkſamkeit verfolgt, und ſelbſt ſolche, die ſonſt nur 
Ermuͤdung und Langeweile bei den Zuſchauern hervor— 
zurufen pflegten, wurden mit Beifall begleitet. 

Als dann aber das Hauptſchwimmen kam, als die 
ſchlanke, ebenmaͤßige Geſtalt Felders die Flut mit der 
Regelmaͤßigkeit und Kraft eines Dampfers durchſchnitt, 
als er erſt den beſtaunten Koloß der Hamburger, dann 
den Meiſter der langen Strecke von Suͤddeutſchland, end: 
lich in der letzten Laͤnge auch den bisher als unbeſieglich 
geltenden Karl Becker, den Sieger des Vorjahres, hinter 
ſich ließ und vor allen ebenſo ruhig aus dem Waſſer 


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Antwort zu ſtehen, ſuchte er ſich ihnen moͤglichſt bald zu 


3 5 Grunau hinausgemacht“, um „einmal zu ſehen, auf welche 


hoͤchſte geſtiegene Spannung in einem nicht endenwollenden 


belegt. „Einen recht großen, denn es würden noch mehrere 


fieg, wie er hineingegangen war, da löſte ſich die aufs 


Jubel. Es war ein Sieg, ſo rein und ſchoͤn erfochten, 
daß jedes Maͤkeln und Deuteln vor ihm verſtummte; 
und ſo einfach und ungezwungen war die Haltung des 
Siegers (als habe er das Selbſtverſtaͤndlichſte der Welt 
getan), daß man nicht anders konnte, als ihn denn * 
und lieben zu gleicher Zeit. 0 
Felder konnte ſich vor den Begluͤckwuͤnſchungen tam 
retten. Da es ihm bei ſeiner Schwerfaͤlligkeit noch immer 
Ang wer. det ſe dialen fremden Mienſchen Nee 1 


entziehen. Heute hatte er einen guten Grund. 
Seine ganze Familie hatte heute ausnahmsweiſe „nach 


Weiſe er denn zu all dieſen ſchoͤnen Geſchenken und den 
Medaillen kaͤme“. Franz hatte zuerſt proteſtiert. Was 
fiel ihnen plotzlich ein? — Er wollte fie nicht da haben. . 
Sie follten ihre eigenen Wege gehen, wie er die feinen 
ging. Aber er konnte ihnen ſchließlich nicht verbieten, 
unter den Zuſchauern zu ſein und zuzuſehen. So hatte 
er ihnen denn moͤglichſt gute Plaͤtze verſchafft und im 
benachbarten Reſtaurant einen großen Tiſch am Waſſer 


* 
8 BI Er 
— er 


dabei fein”, meinte fein Vater. 

Jetzt kam ihm dieſe ganze Familiengeſchichte gerade 1 
recht, um ſich auf eine Stunde den anderen zu entziehen. 
Auch war er ganz zufrieden, daß die Seinen nun end? 
lich einmal geſehen hatten, was aus ihm geworden war, 
wenn ſie auch nicht viel davon verſtanden. Denn mehr 5 


ä 
= un. 


e 


als je zerfielen fuͤr ihn die Menſchen in die zwei Klaſſen: 
in die, die rg konnten, und in die, die es nicht 
konnten 

Als er — die Bruſt bedeckt mit ſeinen Siegeszeichen 
— an den Tiſch trat, fand er auch bereits ſeine Familie 
faſt vollzaͤhlig vor: die Geſchwiſter, verheiratete und un⸗ 
verheiratete, waren da, die Kinder der erſteren und andere 
Verwandte. Außerdem befreundete Familien, von denen 
er nur einzelne Mitglieder kannte — alle bunt durch⸗ 
einander. 

Man hatte ihm einen Ehrenplatz oben am Tiſche 
aufgehoben. Er ſah ſich fluͤchtig um. Zu ſeiner Linken 
ſaß ein junges Maͤdchen, das ihm fremd war, zur Rechten 
ſeine alte Mutter. Ein paar Plaͤtze von ihm entfernt 
machte ſich ein beleibter Herr mit einer maͤchtigen Bowle 
zu ſchaffen. Überall bekannte Geſichter. 

Franz nickte ſeiner Mutter zu. 

Mit einem ſchwachen und ſeltenen Verſuch, zu ſcherzen 
— ſein neuer Sieg hatte ihm Mut gemacht — meinte er: 

— Na, Mutter, heute ging es ja noch mal gut; aber 
das naͤchſte Mal ertrinke ich dann ſicher. Die alte Frau 
glaubte naͤmlich noch immer, ihr Franz muͤſſe eines 
ſchoͤnen Tages ſeinen Tod im Waſſer finden. Ins Waſſer 
gehen, bedeutete für fie, ſich ganz unndͤtigerweiſe einer 
Gefahr ausſetzen; und wenn ſie in letzter Zeit auch be: 
griff, weshalb ihr Sohn das tat — denn er brachte doch 
die ſchoͤnen Preiſe nach Hauſe — ſo war ſie doch immer 
noch nicht aller Sorge ledig. So antwortete ſie denn 
nur: „Wenn du auch ſchwimmen kannſt, ertrinken kannſt 
du doch!“. 


— 110 — 

Man lachte ſehr uͤber ihre Antwort, und Franz lachte 
mit, obwohl er ſich ein wenig uͤber das Unverſtaͤndnis 
der alten Frau aͤrgerte. 1 
Da hoͤrte er ſich ploͤtzlich von links her angeſprochen: 1 


— Kennen Sie mich denn wirklich nicht mehr, Herr 


Felder? — 
Er ſah feine Nachbarin überrafcht an. Schon als er 
fich ſetzte, war fie ihm aufgefallen, und er hatte gedacht, 


wer fie wohl ſei. Sie war noch ganz jung, etwa in 


ſeinem Alter, und ſehr elegant gekleidet: ein weißes 
Sommerkleid mit rotem Beſatz, einen großen Strohhut, 
blonde Haare und ein Stumpfnaͤschen, ſehr huͤbſch und 
ſchon recht ſelbſtbewußt — ſo kam ſie ihm vor. Er ſah 
ihr nun gerade ins Geſicht; dann ſagte er aufs Gerate⸗ 
wohl: 
— Aber gewiß, Fraͤulein, voriges Jahr auf dem 
Er hatte ſie nie geſehen. Es kam überhaupt ſelten 
vor, daß er mit Damen ſprach. Hoͤchſtens auf den 
Vereinsvergnügungen oder auf den Schwimmfeſten, wo 


er von den Damen, die den Sieger in der Naͤhe ſehen 1 


wollten, zum Tanze geholt wurde, machte er eine flüchtige 5 


18 
1 
3 
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: 
E 


— 111 — 


als wir noch Kinder waren. Wiſſen Sie denn nicht 
mehr, in der Fruchtſtraße, im Hof, da wohnten wir 
doch. Vatern gehoͤrte doch dazumalen das Haus 

Ja, jetzt erinnerte er ſich dunkel, aber auch nur ganz 
dunkel. So oft, wie ſie ſagte, „immer“, konnten ſie 
uͤbrigens nicht zuſammen geſpielt haben, denn er war 
doch meiſt fort geweſen, am Waſſer. Aber daß ſie ſich 
als Kinder gekannt hatten, war ſchon richtig, denn er 
erinnerte ſich jetzt ſogar ihres Namens: Eliſe Heinecke. 

— Na, Sie haͤtte ich aber nicht wiedererkannt, Fraͤu⸗ 
lein Heinecke! 

— Ja, glauben Sie, ich Sie? — Aber als wir 
neulich Ihren Namen im „Morgenblatt“ laſen, meinte 
Vater, ob das wohl dieſelben Felders ſind, die dazumal 
in der Fruchtſtraße bei uns gewohnt haben; und da er 
doch alles kennt, iſt er denn gleich zu dem Herrn Faß⸗ 
bender, was doch der Vorſitzende von Ihrem Verein iſt, 
gegangen, und der hat ihm geſagt, wenn wir uns über: 
zeugen wollten, brauchten wir nur heute nach Gruͤnau 
zu machen, da wuͤrden wir Sie ſchon in Ihrem Glanze 
ſehen. „Machen wir!‘ fagte Vater, und auf dem Bahn⸗ 
hof haben wir denn auch gleich Ihre Eltern getroffen. 
Nein, koͤnnen Sie aber ſchwimmen! 

Die letzte Bemerkung machte Franz warm. Überhaupt, 
er wußte nicht, was es war, aber ſie gefiel ihm aus⸗ 
nehmend. Es war ſo leicht, ſich mit ihr zu unterhalten. 
Sie fragte und verſtand immer Dinge zu fragen, auf welche 
er Antwort zu geben wußte. Und wenn er keine gab, 
fo ſprach fie gleich weiter und nahm es nicht weiter übel. 

Das Schwimmen war voruͤber, und der große Garten 


füllte fich bis auf den letzten Mag mit Sportsfreunden 


und Zuſchauern. Überall an den Tiſchen gruppierten ſich 


die durſtigen Mitglieder der vielen Vereine und ihre zahl⸗ 


reichen Angehörigen. Ganz dicht am Waſſer an der anderen 


Seite hatte ſich der S.⸗K. B. 1879 — heute der Mittel⸗ 
punkt aller anderen — einen langen Tiſch reſerviert. 
Als Felder, bereits von allen Seiten vermißt, von 
feinen Leuten gefunden und fortgeholt wurde, war er 
erſtaunt, zu hoͤren, wie ſchnell die Zeit vergangen war. 
Er mußte verſprechen, nach der Preisverteilung wieder⸗ 
zukommen, um teil an der Bowle zu nehmen, und der 
alte Heinecke, ſtolz auf ſein gelungenes Werk, ſagte ihm 
mindeſtens dreimal, ſie ſei nur ihm zu Ehren angeſetzt. 
Wichtiger aber war fuͤr Franz, was auch die Tochter ſagte, 
als er ging: „Ja, Herr Felder, kommen Sie bald wieder. 


x Sie muͤſſen mir noch viel über Ihre Siege erzählen“, 


Er dachte an ſie, als er unter ſeinen Freunden ſaß, 
und zum erſten Male, ſolange er denken konnte, haͤtte 
er eine andere Geſellſchaft, als die ſeines Klubs, vor⸗ 
gezogen, und immer wieder blickte er nach dem Tiſche 
hinüber, von wo ein weißes Kleid wie gruͤßend zu ihm 
heruͤberſchimmerte. 

Als jedoch die Preisverteilung in dem großen Saale 
des Reſtaurants ſtattfand, als er aus den Haͤnden des 
erſten Verbandsvorſitzenden die ſchoͤne große Medaille 
von Gold erhielt und ihm das breite, dreifarbige Band, 
an dem ſie hing, um den Hals gelegt wurde, als an 
fein Ohr die Worte ſchlugen, die ihm galten — —: „Wohl 
noch nie iſt ein Sieg, wie der heutige, von einer ſo jungen 
Kraft errungen worden. Was aber ſeinen Wert noch 


— 113 — 


erhoht, iſt die tadelloſe Art, in der er gewonnen wurde. 
Indem ich Ihnen, Herr Franz Felder, daher hiermit den 
großen Preis Ihres Sieges, den von allen deutſchen 
Schwimmern am heißeſten begehrten, uͤberreiche, kann ich 
keinem anderen Wunſche Ausdruck geben, als dem: Moͤchten 
alle Ihre kuͤnftigen Siege, mein junger Meiſter von Deutſch⸗ 
land, fo rein und ſchoͤn fein, wie dieſer heutige...“ 
— als dieſe Worte an Felders Ohr klangen und ihn 
dann wieder der ungezuͤgelte Jubel des ganzen Saales 
umtoſte, da hatte er alles, alles in der Welt vergeſſen, 
bis auf ſeinen geliebten Sport, und nur ein Wunſch, 
eine Sehnſucht hielt ihn wieder gefangen: ſich immer 
wuͤrdig zu zeigen der hohen und großen Ehre dieſes 


a So ſehr hatten ihn die einfachen, warmen Worte 

des alten Herrn ergriffen, daß er lange Zeit brauchte, 
um ſich zu ſammeln. Jeder wollte mit ihm ſprechen, 
jeder ihn und ſein Ehrenzeichen ſehen. Man zog ihn 
an dieſen Tiſch und an jenen, überall wurden ihm offene 
Haͤnde und gefüllte Glaͤſer entgegengeſtreckt; er mußte 
antworten, anſtoßen und mittrinken, und als er ſich end» 
lich feines Verſprechens erinnerte und an den Tiſch zuruͤck⸗ 
keehrte, wo ihn die Bowle, ſeine Familie und ein junges 

Mädchen erwarteten, da begannen bereits die erſten 
Schatten des Abends zu fallen. 

Wie er ſie wiederſah, war er gleich wieder in dem 
Bann dieſer braunen, luſtigen Augen. Er nahm die 
Gluͤckwunſche feiner Familie und eine lange, ſchwuͤlſtige 
Rede des dicken Hausbeſitzers hin, weil es ſo ſein mußte, 
aber er ſprach faſt nur mit ihr. 
vn 5 


— 114 — 


Sie ſchmollte erſt ein wenig mit ihm, daß er nicht 
eher gekommen war, aber ſie begriff doch, daß er an 
einem ſolchen Tage viele Verpflichtungen habe; denn 
wenn ſie auch, wie ſie lachend meinte, wohl ſeine aͤlteſte 
Bekannte hier im Garten ſei, ſo kannten ihn doch alle 
anderen beſſer als ſie. Sie erzaͤhlte ihm, wie ſie im 
Saale geweſen ſei und ganz dicht bei der Tribune ges 
ſtanden habe, ſo daß ſie jedes Wort gehoͤrt habe. Sie 
bewunderte nach Gebühr feine neue Medaille und las 
Wort für Wort die Inſchrift auf dem Bande, wobei 
ſie es, wie liebkoſend, durch die Hand gleiten ließ. 
Dann kam ſie auf die vorhin unterbrochenen Erklaͤrungen 
feiner anderen Preiſe zuruck, und von neuem mußte 
Franz ihr Herkunft und Bedeutung eines jeden erklaͤren. 
So erfuhr ſie von allem, was ſeinem Leben bisher 
Inhalt und Wert gegeben, und es ſchien ſie auf⸗ 
richtig zu intereſſieren, ſo daß ſich Felder ſagte: das 
iſt nicht nur ein ſchoͤnes, ſondern auch ein kluges 
Maͤdchen. 

Spaͤter gingen ſie miteinander durch den Garten, 
und wieder ſtellte ſie Fragen, die ihm Freude machten 
zu beantworten. Sie wollte wiſſen, wer die an dieſem 
und die an jenem Tiſche waren, ob es befreundete oder 
fernſtehende Vereine waren. Sie fragte nach den Namen 
von ſolchen, deren Bruſt ſie, wie die ſeine, mit Preiſen 
bedeckt ſah. — Waren es Springer oder Schwimmer, 
wie er? — Hatte er ſchon mit ihnen gekaͤmpft und 
hatte er ſie geſchlagen? 

Es machte ihr offenbar Freude, ſo an ſeiner Seite 
durch die Reihen der Tiſche zu gehen, zu ſehen, wie 


— 15 — 


Felder überall von Grüßen und Zurufen begleitet wurde, 
und dabei mit angeſehen zu werden. 8 

In demſelben Saale, in dem die Preisverteilung 
ſtattgefunden, wurde jetzt getanzt. Als ſie hoͤrte, daß er 
zwar etwas tanze, ſich aber nichts daraus mache, meinte 
ſie auch, es koͤnne kein beſonderes Vergnuͤgen ſein, in 
dem heißen und uͤberfuͤllten Raume ſich herumzudrehen, 
wo es doch draußen jetzt ſo ſchoͤn kuͤhl geworden ſei. 

Die Bowle war faſt geleert, und uͤberall im Garten 
brannten die Lichter, als ſie von ihrem Rundgang an 
ihren Tiſch zuruͤckkehrten. Man war natürlich wieder das 
geweſen und hatte nach Franz gefragt. Die alten Leute 
waren muͤde geworden und wollten nach Hauſe. Die 
Kinder ſchliefen ſchon zum Teil, und man brach auf, da 
man dem koloſſalen Gedraͤnge der letzten Zuͤge und der 
Gefahr, uͤberhaupt nicht mehr mitzukommen, entgehen 
wollte. So brach die ganze Geſellſchaft zuſammen auf. 
Franz wollte fie noch bis zum Bahnhof begleiten, bes 
vor er ſich endlich wieder zu ſeinen Kameraden geſellte. 

Man ging in einer langen Reihe durch den Kiefern⸗ 
forſt zu der etwa zehn Minuten entfernten Station. 

Es kam wie von ſelbſt, daß der junge Mann und 
das junge Maͤdchen die letzten wurden. 

Als die Lichter der Haͤuſer in Gruͤnau hinter ihnen 
lagen, umgab ſie die Dunkelheit des Waldes, und ſie 
konnten nur noch die Zurufe der vor ihnen Gehenden 
hoͤren, ohne die Geſtalten mehr recht zu unterſcheiden. 

Die beiden gingen dicht nebeneinander, ſo ſchmal 
war der Weg. Unſicher über feine Richtung in dem 


tiefen Dunkel unter dem dichten Nadelholz, kam es, daß 
8* 


. 
* . G 2 


— 116 — 


ſich beruͤhrten, wenn ſie ihn mit ihren Schritten 

Sie war ſtumm geworden, und er, nicht mehr 
ihr gefragt, wußte nicht, was er ſagen ſollte. Sie 
mußten ziemlich weit zuruͤckgeblieben fein, denn das 
Sprechen und das Gelaͤchter der Ihren toͤnte zu ihnen 


zurück wie aus weiter Ferne. 
Wieder 


ſtießen ſie in der Dunkelheit aneinander, und 
er hoͤrte, wie ſie lachte. Ihr Lachen machte ihm Mut, 
und er fragte: 

— Soll ich Ihnen nicht meinen Arm geben, Fraͤu⸗ 
lein? Sie werden ſonſt noch fallen. 

— Nehmen Sie mich bei der Hand, gab ſie zur 
Antwort, und er fuͤhlte ihre weichen, warmen Finger in 
den ſeinen. 

Und dann — wie es kam, wußte er nicht — blieben 
N Er legte ſeinen Arm um ihre Taille 
und beugte fich nieder, um fie zu kuͤſſen. Er ſtieß erſt 
gegen ihren breiten — berührte ihre Wange 
e Sie hielt 
ſtill. 


Dann ſagte ſie „ 


er nicht zu ha fie hob n 
empor, und er kuͤßte fie wieder und wieder und wieder, 
und er taͤuſchte ſich nicht, wenn er fuͤhlte, wie ehe men 
ſeinen Mund immer von neuem ſuchte. 

Endlich aber wich fie von ihm zurück. 


— 117 — 


Sie gingen Hand in Hand ſo ſchnell wie moͤglich, 
aber keines von ihnen ſprach ein Wort. Sie war es, 
die vorwaͤrts trieb. Bevor ſie in die vor ihnen heller 
und heller aufleuchtenden Lichter hinaustraten, ſuchte er 
ſie noch einmal an der Hand zuruͤckzuhalten. Aber ſie 
ſagte: 

— Nein, nein. Wir muͤſſen uns eilen. — Und ſie 
gingen weiter. 

Sie wurden von der ganzen Geſellſchaft geſehen, 
wie ſie aus dem Walde traten. Sie warteten alle vor 
dem Bahnhof auf den Abgang des Zuges. Der alte 
Heinecke machte ein boͤſes Geſicht und ging auf ſeine 
Tochter zu. Man ſuchte den Warteſaal auf. Der Zug 
hatte natuͤrlich Verſpaͤtung. 

Dort, in der graͤßlichen Enge und Hitze des voll⸗ 
gedraͤngten Raumes, ſuchte ſich Felder dem Maͤdchen 
vergebens noch einmal zu naͤhern. Nur, als endlich alle 
auf den Bahnſteig ſtroͤmten, gelang es ihm, ihr noch 
einige Worte zu ſagen. „Sie werde doch ganz ſicher in 
acht Tagen auf das Kochſeefeſt kommen?“ 

— Vater ſei ſehr böfe, fluͤſterte fie zurück, — aber fie 
wolle ſehen ... Der Ausdruck ihres Geſichtes erſchien 
ihm ganz veraͤndert, wie ſie an ihm vorbeiging. Alle 


Freundlichkeit ſchien aus ihm geſchwunden;z es war eine 


ganz andere, als die, welche er noch eben in ſeinen 
Armen gehalten. 

Als fie alle in dem bereits Überfüllten Zuge unter⸗ 
gebracht waren — die einen hier, die anderen dort, aber 
alle auseinander geriſſen — und er Eltern und Ver⸗ 
wandten Adieu geſagt, fuchte er fie noch einmal mit den 


er a ee a 


A 


Augen. Aber er fand die Abteilung nicht mehr, wo jie 

eingeſtiegen war. 

Eilig ging er den Weg zum Garten zurück. er fühlte 

ſich fo leicht und glücklich, wie nie zuvor in feinem Leben. 
Als er unter ſeine Freunde trat, wurde er mit Jubel, 

aber auch mit unmutigen Bemerkungen über fein Fern: 

bleiben empfangen: 

Ob er wohl lange genug Familie gefimpelt habe? — 
Und ein anderer rief über den Tiſch hin: „Laßt ihn, Franz 
hat eine Braut 
Felder kuͤmmerte ſich um nichts, ſondern griff nach 
einem Glaſe. Er war durſtig, durſtig und gluͤcklich, und 
er wurde ſelbſt nicht boͤſe, als ihm ein Dritter in 
taͤppiſcher Vertraulichkeit zuflüfterte: 

„Du, die kleine Heinecke muß du dir feſthalten. Der 
Alte hat Moneten wie Heu. Zwei Holgplaͤtze im Norden ...“ 

Ob er ſich wohl darum gefümmert hatte! — Er 
wußte nicht einmal, was der Alte war. Aber das hatte 
er ſich ſchon gedacht, daß die Bemerkungen nun nicht 
ausbleiben konnten. 

Ein Übermut ergriff ihn, der ihm ſonſt ganz fremd 
war. Er hörte nicht, was die anderen ſagten. Er lachte 
und trank und ließ ſie reden. Ein ſchoͤnes Maͤdchen, 
ein kluges Mädchen, und wie fie kuͤſſen konnte! 

Es war ein wunderbarer Sommerabend, weich und 
warm. Die breite Waſſerflaͤche lag ſtill und ſchwarz 
und nur vom anderen Ufer her blinkten noch einige Lichter. 

Die Baͤnke und Tiſche wurden leerer und leerer. Aber 
noch gegen Mitternacht, als ſich der Schwarm verlaufen 
hatte, kamen an dem Tiſche der 79 er einige der am 


10 


geſehenſten Sportskameraden zuſammen, um unter fich 

bei einem letzten Glaſe nochmals den Sieg des heutigen 
Tages zu feiern und unter allen Ehrungen dieſes und 
aller vorhergehenden Feſte war keine ſchoͤner und wert⸗ 
voller fuͤr den jungen Sieger, als die einfache und neidloſe 
Bewunderung, die ihm die Beſten ihrer Kunſt in dieſer 
ſpaͤten Stunde darbrachten, indem ſie ſich zu ihm ge⸗ 
ſellten. Wieder wurde er ganz der Schwimmer, der er 
mit Leib und Seele war, und wieder fuͤhlte er ſich hier, 
nur hier unter den Seinen, und zu Hauſe wie ſonſt 
nirgends auf der Welt. 

Erſt als ſie lange nach Mitternacht Bruͤnings Motor: 
boot beſtiegen und das ficher gelenkte, elegante Fahrzeug 
lautlos an den flachen Ufern voruͤber glitt, waͤhrend ſich 
die Muͤdigkeit über die in den Ecken Hockenden und 
Liegenden breitete, kehrten ſeine Gedanken noch einmal 
zu dem jungen Mädchen zuruck, das er heute in feinen 
Armen gehalten und das feine Küffe fo willfaͤhrig und 
ſo innig erwidert hatte, und er konnte in dieſer ſtillen 
Stunde dem ſehnſuͤchtigen Wunſche nicht wehren, nur 
noch einmal wieder dieſe Lippen mit den feinen zu bes 
ruͤhren, dieſe weichen Lippen, die ſo verſtaͤndnisvoll zu 
fragen, fo freundlich zu lächeln und fo heiß zu kuͤſſen 
verſtanden. 


10, 


Acht Tage ſpaͤter ſchwamm er auf dem Feſte des 

„Deutſchen Wettſchwimmkartells“. ; 
Zum erſten Male, folange Felder ſich an den Kämpfen 
beteiligte, waren ſeine Gedanken nicht ganz und ungeteilt 
bei ſeiner Aufgabe, obwohl es durchaus kein ſicheres 


Schwimmen für ihn war. Es galt einen vielbegehrten 


Wanderpreis, der erſt nach dreimaligem Jahr auf Jahr 
errungenem Siege in den Beſitz des Klubs überging, 
den Preis der Stadt Charlottenburg, zum zweiten 
Male zu gewinnen, und Felder wußte ganz gut, daß ſein 
großer Sieg des letzten Sonntags die Gegner nur noch 
hitziger gemacht hatte. War doch der Sieger des vor⸗ 
letzten Jahres, Biedermann vom „Erſten Charlottenburger 
Schwimmklub /, unter feinen Gegnern und brannte darauf, 


ihm heute den bereits einmal erſtrittenen, dann wieder 


verlorenen Preis ſeiner eigenen Stadt ſtreitig zu machen. 
Er wußte alſo gut, daß er ſich zuſammenzunehmen hatte. 

Aber er konnte nicht ſo ruhig ſein wie ſonſt. Immer 
wieder überflog fein Auge die Menſchenmengen, die an 
dem abgegrenzten Ufer des Waſſers langſam die Zuſchauer⸗ 
reihen der Baͤnke zu fuͤllen begannen, ohne unter ihnen 
das weiße Kleid mit dem roten Beſatz und den großen 
Hut erkennen zu konnen. Selbſt als ſein Schwimmen 


— 121 — 


begann, und er an den Start ging, ſuchte noch ſein Blick 
in, dem dichten Gewühl eine Geſtalt zu unterſcheiden, 
ohne daß es ihm gelang. War ſie gekommen, wie ſie 
verſprochen? Oder nicht? — 
Er dachte immer wieder daran, als er im Waſſer 
lag und die erſten Laͤngen ſchwamm. Und ſo kam es, 
daß er in der Mitte der vierten plöglich dicht vor ſich 
den Charlottenburger und neben ſich einen zweiten Geg⸗ 
ner ſah, von dem er nicht einmal wußte, wer es war, 
ſo wenig hatte er die Konkurrenzen im Gedaͤchtnis. Ein 
gewaltiger Schrecken durchfuhr ihn. Mit maͤchtigem 
Schlage ausholend, ließ er erſt den neben ihm Liegenden 
hinter ſich, erreichte Biedermann, ſchlug kurz vor ihm an 
und glaubte geſiegt zu haben. Aber waͤhrend er ſich 
ruhig an dem Balken hielt und den Abſtieg ſuchte, ſah 
er zu ſeinem grenzenloſen Erſtaunen alle beide, erſt den 
einen, dann auch den anderen, die neue Länge beginnen 
Vund als es ihm plotzlich klar wurde, daß er ſich um 

eine ganze Laͤnge geirrt hatte, waren ſie ihm bereits um 
ein paar Meter voraus und die übrigen teils ſchon neben 
| ihm, teils ebenfalls am Ende dieſer Länge. Da aber 
hatte Felder auch alles andere vergeſſen, und ſich feſt auf 
die Seite legend und tief Atem holend, ſah und dachte 
er jetzt nur noch eines: ſein Ziel! — Waͤre die Laͤnge 
75 ftatt 100 Meter geweſen, es wäre ihm nie möglich 
geworden, die ſo leichtſinnig und nutzlos verlorene Zeit 
wieder einzubringen. So aber — und infolge feines 
ausgezeichneten, nie verſagenden Trainings — dachte er 
keinen Augenblick daran, den Sieg ſchon verloren zu 
geben; und waͤhrend die Richter bereits glaubten, daß er 


e 1 er er A Be et 
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* — 2 — 


freiwillig ausgeſetzt habe, ſahen fie ihn jetzt wieder näher 
und naͤher kommen, dann an der Seite des zweiten, 
gleich darauf an der des erſten Gegners liegen und end? 
ich in einer faſt unglaublichen Anſtrengung dicht vor 
8 dieſem anſchlagen 
nn Bon toſendem Beifall umhallt, von erregten Fragen 
4 über das Geſchehene beſtürmt, wurde Felder erft jetzt fein 
unbegreiflicher Irrtum recht klar. Der Schrecken lag ihm 
i noch in den Gliedern und er hatte ſich vollſtaͤndig aus⸗ 
1 gegeben. Er winkte den Freunden ab, die ſich um ihn 
3 bemühten, und mußte ſich im Ankleideraume ſofort ſetzen, 
ſo erſchoͤpft war er. Als er wieder ruhiger atmete, 
Er ſchaͤmte er ſich. Das konnte ihm, ihm paffieren, ſich in 
. den Längen zu irren! — Und das alles, dieſes leicht 
N ſinnige Aufsſpielſetzen eines wenn heute verlorenen, erſt 
2 in Jahren wieder einbringbaren Sieges, dies alles nur 
E darum, weil er nicht aufgepaßt hatte! — weil er an ein 
. kleines Mädchen dachte, ſtatt an feine verdammte Pflicht 
und Schuldigkeit. Er haͤtte ſich ſelbſt ohrfeigen moͤgen, 
fo wütend war er. 
Er wurde nicht ruhiger, als er Nagel vor ſich ſoh, 
der ihn heftig anfuhr: 10 
* — Du faͤngſt ja ſchon an, es dir bequem zu machen. 
Du paßt wohl ſchon nicht mehr auf? — Na, weißt du, 
ſo leicht iſt die Sache denn doch nicht, und ſolche Scherze 
ſollteſt du einſtweilen noch unterlaſſen! ... Sonſt koͤnnten 
fie doch boͤſe Folgen für uns haben! Geſchwommen haft 4 
du natürlich zuletzt wie ein Schwein! — 
Felder ſagte kein Wort. Er ſaß da, w). (1 
der von feinem Lehrer beftraft wird, 


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— 123 — 


Er wurde erſt ruhiger, als er ſich nach dem Ankleiden 
— er trug heute einzig und allein die große goldene 
5 Medaille ſeiner Deutſchland⸗Meiſterſchaft auf der Bruſt 
unter feine Freunde miſchte und die Erregung wahr: 
nahm, die nach ſeinem unglaublichen Endſpurt unter 
ihnen immer noch nachzitterte. Keiner habe auch nur 
E einen Pfennig mehr um feinen Sieg gegeben, verficherte 
man ihm, als man ihn in der letzten Länge fo weit 
hinter Biedermann liegen ſah. Ob er mit Abſicht zuruͤck⸗ 
geblieben ſei, um zu zeigen, was er konne? — Ob ein 
Krampf ihn befallen habe? — Ob er ſich in den Laͤngen 
verzaͤhlt habe? — ſo beſtuͤrmten ihn die Frager von allen 
Seiten, bis Felder von neuem aͤrgerlich wurde und ſie 
ſtehen ließ. 
Er nahm Koepke auf die Seite. Er moͤge doch ein⸗ 
1 mal nachſehen, ob der alte Heinecke mit feiner Tochter 
nicht da ſei, ja? — Und er moͤge ihm Beſcheid in den 
Garten bringen. 
7 Koepke rannte fort wie ein getreuer Hund, aber die 
I Antwort, die er nach einer halben Stunde brachte, war 
nicht geeignet, Felders Laune aufzubeſſern. Er habe alle 
Reihen durchgeſehen, meldete Koepke, aber er habe don 
1 den Geſuchten nichts finden koͤnnen. 
Jaeetzt war es klar, daß fie nicht gekommen war. 
. war der Alte ſchuld daran, der ſie nicht gelaſſen 
% hatte. Wie follte er es jetzt anfangen, fie fo bald wieder: 
zuſehen? — 
2 Mißmutig ſaß er vor feinem Biere in einer Ecke des 
 Bartens und ließ feine Freunde ſchwatzen, fo viel fie 
wollten, ohne ihnen zuzuhbren. Mißmutig und noch 


ſchweigſamer als fonft blieb er auch den Reſt des Nach⸗ 
mittags. Er wartete nur noch die offizielle Bekanntgabe 
der Reſultate ab, dann ſchloß er ſich einem Klubfreund 
an, der fruͤh nach Haufe wollte, da er morgen fruͤh an 

die Arbeit mußte. f 

Das einzige, was ihn einigermaßen über feine eigene 
Dummheit troͤſtete, waren ein paar Worte, die Bruͤning 
ihm zugerufen, als er im Garten an ihm vorbeigegangen 
war: „Menſchenskind, du kannſt ja viel mehr, als wir 
alle wiſſen und du ſelber ahnſt. Wer das fertig bringt, 
was du eben getan haſt, der kann ſich ſchon einen Scherz 
erlauben”. Und er hatte ihm zugenickt und war mit 
feiner Maͤtreſſe fortgefahren. — — Ja, Brüning hatte 
recht: er konnte weit mehr, als alle und er ſelbſt wußten. 

Zu Hauſe warf ſich Felder aufs Bett und verſchlief 
die Erinnerung dieſes Ungluͤckstages, wie er ihn nannte, 
in zehnſtuͤndigem Schlaf. 

Die ganze naͤchſte Woche nagte es an ihm, daß ſie 
nicht gekommen war. Im Grunde war es weniger die 
Sehnſucht, ſie wiederzuſehen, als eine gewiſſe Unruhe, 
dieſem ihm ſo unbekannten Gefuͤhl ein Ende zu machen, 
das ihn für einen Abend, ſtatt zum Schwimmen, in der 
Naͤhe ihrer Wohnung auf und ab gehen ließ, in der 
Hoffnung, ſie ausgehen oder heimkehren zu ſehen und 
zu ſprechen. Nachdem er faſt eine Stunde vergeblich 
herumgelaufen war, ſah er nicht ſie, ſondern eine ihrer 
Freundinnen, die er ebenfalls vom vorigen Sonntag her 
kannte, aus dem Hauſe treten, gluͤcklicherweiſe allein. 
Er ließ ſie bis zur naͤchſten Straßenecke e ri = 
redete fie dann an. u 


— 15 — 


Die kleine Dicke ſtieß erſt einen erſtaunten Schrei 
aus, als ſie Felder erblickte, war es dann aber gleich 
ſelbſt, die ſeinen Fragen zuvorkam. 

O, Lieschen hatte ſie ja in alles eingeweiht — wie 
gut es war, daß ſie ihn ſah, denn ſie habe ja Nach⸗ 
richten fuͤr ihn! — Er habe ſie wohl zufaͤllig geſehen? 
— Habe er auf Elife hier gewartet? — Nein? — Alſo: 
ob er denn noch gar nicht wiſſe, daß fie fort ſei? — 
Nein? — Ach, es war ja eine ganze Geſchichte. Der 
alte Heinecke ſei wuͤtend geweſen am Sonntag vor acht 
Tagen, daruͤber, daß ſie den ganzen Nachmittag zu⸗ 
ſammengeſeſſen haͤtten, und dann, daß ſie im Dunklen 
im Wald zuruͤckgeblieben ſeien. Schon auf der Ruͤck⸗ 
‘ fahrt habe er angefangen — wenn fie ſchon daran 
dachte, wuͤrde ihr noch ganz ſchlecht, ſo geſchimpft habe 
der Alte. An einem der naͤchſten Tage ſei ſie denn auch 
gleich hingegangen, um von Eliſe zu erfahren, was denn 
eigentlich vorgegangen ſei. Aber die Freundin habe nur 
geweint — o ſo geweint! — und immer nur geſagt, ſie 
* doch ſo gern am Sonntag kommen, um Sie noch 
1 einmal zu ſehen. Als ſie aber endlich Mut gefaßt und 
ihrem Vater das geſagt habe, da ſei die Geſchichte von 
| * losgegangen, und um ihr ein Ende zu machen, 
ſei ſie noch in derſelben Woche nach Poſen geſchickt, zu 
er Tante, um dort ein Jahr zu bleiben und die Haus⸗ 
zu lernen. Sie habe Eliſe noch vor ihrer Ab⸗ 
reiſe geſehen, und dieſe habe ihr ausdruͤcklich aufgetragen, 
doch Herrn Felder noch recht fchön zu grüßen und ihm 
au ſagen, daß er doch nicht böfe fein folle, wenn fie am 
1 nicht kommen könne, denn es ſei doch nicht 


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— 126 — 


möglich, daß daraus etwas würde, und fo ſei es denn 
ſchon das Beſte, wenn fie ſich fuͤgten nnd Be 
gaͤßen . 
So ſchwatzte die Dicke darauf los, ſelig, ihre Wiſſen⸗ 
ſchaft loszuwerden und einen fo guten Zuhoͤrer zu haben. 
Denn Felder ging neben ihr her, durch die Menſchen⸗ 
ſtroͤme, und erwiderte keine Silbe. 
Heute abend ſei ſie nun oben geweſen — ſo ging 
es weiter — um zu ſehen, ob noch kein Brief von Eliſe 
da ſei. Ja, ſie habe ſchon geſchrieben: es gefalle ihr 
ganz gut in der Stadt, in der ſie jetzt ſei, und in vier⸗ 
zehn Tagen ſei ein Ball im Kaſino, wo auch 
hinkaͤmen, und ſie haben die Tante gebeten, hinge 
zu durfen, und die Tante habe es ihr erlaubt. \ 
Der Alte ſei auch ſchon ganz beruhigt, und er habe 
heute abend ſogar gelacht, als er davon ſprach, daß ſeine 
kluge Eliſe ſchon nicht fo töricht ſei, zu denken, daß 
„daraus“ etwas Ernſthaftes werden koͤnne, denn wenn 
er — Felder — auch ein vorzüglicher Schwimmer ſei, 
fo feien das doch nur brotloſe Künfte, und er 
doch ſein einziges Kind nicht einem jungen M 
verſprechen, der eben erſt aus der Lehre ſei und kei 
ſichere Zukunft vor ſich habe 5 
Weiter kam ſie nicht. Denn Felder blieb pl 
ſtehen und fragte: | 
— Hat fie Ihnen keinen Brief für mich gegeben 
Nein, keinen Brief. Aber ſie habe ihm doch geſag 
daß Elife ihn recht ſchoͤn grüßen laſſe und es fo 
Dann ſtand ſie wieder allein auf der Straße 


— 


den vorbeieilenden Menſchen. Ihr Begleiter hatte ganz 
unverhofft ſeinen Hut gezogen, ganz kurz guten Abend 
gewuͤnſcht und war verſchwunden. Nicht einmal bis 
nach Hauſe brachte er ſie! — 

Felder dachte nicht einmal daran. Was ging ihn die 
dumme Gans an! — Er dachte an das Mädchen, das 
mit ihm erſt geſpielt und ihn dann ſo leichten Herzens 
— mit einem fluͤchtigen Gruß — aufgegeben. Aber es 
war viel mehr das Gefuͤhl einer erlittenen Beleidigung, 
als das des Schmerzes, unter dem er in dieſer Stunde 
litt. Daß man ihn, den Meiſterſchwimmer von Deutſch⸗ 
land, ſo behandeln konnte, das war es, was ihn wurmte, 
und einen bitteren Groll in ihm entfachte. Und mehr 
als alles hatte ihn das Wort des reichgewordenen Holz⸗ 
h haͤndlers von der brotloſen Kunſt getroffen. Er biß die 
Lippen aufeinander vor Wut, wenn er daran dachte, waͤhrend 
er die Straße hinunterlief und ſich ruͤckſichtslos durch die 
Reihen der Fußgaͤnger ſtieß. Als ob er je daran gedacht 
haͤtte, dieſes Mädchen zu heiraten! — Er hatte uberhaupt 
an nichts gedacht, dieſer alte Geldprotz konnte ganz ruhig 
ſein. Das Maͤdchen hatte ihm gefallen, am meiſten die 
unverhohlene Bewunderung, die er in ihren Augen ge— 
leſen, und bei deren Blick ihm ſo warm geworden war. 
Aber ihm geſchah ja ganz recht. Warum hatte er 
ſeine Leute verlaſſen und war an den Tiſch gegangen. 
Was gingen ihn die Frauenzimmer an. Er hatte ſich 
1 bis jetzt nicht um ſie gekümmert und ſie nicht entbehrt, 
ſo würde er wohl auch noch dieſes dumme Ding vers 
1 geſſen, um deſſentwillen er heute abend ſein 5 
N Foerfäumte und faft einen Sieg verloren hätte . 


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Er ſah nach der Uhr. Aber es war ſchon zu ſpaͤt. 
Und mit einer Bewegung des Argers ſchuͤttelte er dieſe 
ganze dumme Geſchichte, die ihm ſchon viel zu viel Kopf⸗ 
zerbrechen gemacht hatte, von ſich ab und ſchlug den 
Weg nach ſeinem Klublokal ein, wo er noch den einen 
oder anderen ſeiner Kameraden beim Biere zu finden 
hoffte 1 

Von diefem Abend an dachte er nur noch zuweilen 
an das Mädchen, aber immer wallte von neuem das 
Gefühl verletzten Stolzes in ihm auf, und blieb in ihm 
zurück — wie ein Reſt von Bitterkeit allen Frauen gegen: 
über. 

Mit verſtaͤrkter Genugtuung genoß er die zahlreichen 
Triumphe dieſes Herbſtes, von denen faſt jeder Sonntag 
ihm einen neuen einbrachte: dieſer die Odermeiſterſchaft 
und mit ihr die große ſilberne Medaille; der naͤchſte zum 
zweiten Male den großen Staatspreis in Hamburg; und 
bereits der üͤbernaͤchſte den vielumſtrittenen Preis im Bruſt⸗ 
ſchwimmen, den die vereinigten weſtdeutſchen Schwimm⸗ 
klubs gaben — einen ſilbernen Pokal für feinen > 
fo groß und wertvoll, wie dieſer wenige beſaß. 

Bevor der Winter begann, nahm er ſich dann br be 
Fabrik, in der er noch ein Jahr nach ſeiner Lehrzeit bleiben 
wollte, ſeinen erſten achttaͤgigen Urlaub und machte das 
große Wettſchwimmen des „I. dfterreichiihen Amateur⸗ 
Schwimmklub Wien“ mit, auf dem er am erſten Tage 
Anton Riegler, den Meiſter Oſterreichs Über die kurze 
Strecke, zum erſten Male ſchlagen durfte; und am zweiten 
den großen Derbypreis über die lange gegen die Teil⸗ 
nehmer dreier Staaten: Italien, Oſterreich und Deutſch⸗ 


18 — 
land, unter ungeheurer Erwartung aller beteiligten Kreiſe, 
erſiegte. 
F So griff der junge Meifter von Deutſchland mit 
dieſen Siegen raſch und beherzt nach den Lorbeeren des 
Auslandes, nachdem er die ſeines eigenen, weiten Vater⸗ 
landes bereits ſein eigen nannte. 
Die Fahrt nach Wien, ſeine erſte Auslandreiſe, war 
zugleich eigentlich die erſte, an der er wirklich Vergnuͤgen 
empfand. Er machte ſie mit Bruͤning und zwei anderen 
Mitgliedern ſeines Klubs, alten Freunden und luſtigen 
Brüdern, war Gaſt in der herrlichen Villa eines reichen 
oͤſterreichiſchen Sportsfreundes, der ſich die Ehre nicht 
nehmen laſſen wollte, den deutſchen Meiſterſchafts⸗ 
ſchwimmer bei ſich zu beherbergen, ließ ſich den ganzen 
Tag und die halbe Nacht durch alle Vergnuͤgungen der 
ſchoͤnen „Kaiſerſtadt an der Donau“ ſchleppen und es 
ſich wohl ſein unter den leichtlebigen Menſchen mit dem 
ſorgenloſen Weſen und der gemütlichen Sprache. Noch 
nirgends hatte er ſich ſo wohl gefuͤhlt wie hier, und als 
endlich die acht Tage mit ihren Ausflügen, ihren froͤh⸗ 
chen Mahlzeiten, bei denen es an feſchen Maͤdchen nie 
fehlte, ihren Fiakerfahrten, den Ronacherabenden und den 
durchjubelten Nächten zu Ende waren, da war er wie 
betaͤubt. Neben dem großen Preiſe für feinen Klub, dem 
Ehrenſchilde, und den eigenen Ehren brachte er unvergeß⸗ 
liche Erinnerungen nach Hauſe und unter ihnen war nicht die 
9 letzte die an die Liebe, die er ebenfalls in Wien erſt kennen 
lernen ſollte: die reue- und ſchmerzloſe Liebe fluͤchtiger Stun⸗ 
den, lachend geboten und ohne Beſinnen genoſſen, erfriſchend 
wie ein Trank und füß wie eine vollſaftige Frucht. 


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Berlin kam ihm nuͤchtern vor, und er brauchte einige 
Zeit, um ſich wieder an feine eintönige Tagesarbeit zu 
gewoͤhnen, nach dieſen Tagen, in denen er geehrt worden 
war wie ein König und gelebt hatte wie ein Millionaͤr “. 

Der Winter verging ſtiller. Beim Hauptſchwimmen 
Berlins mußte er ausſetzen. Er war völlig übertrainſert. 
— Was ſchadete es? wenn er ſich auch aͤrgerte. In 
feiner Bruſt regten ſich neue Wuͤnſche des Ehrgeizes, 
und heimliche Traͤume erzaͤhlten ihm von Siegen, die 
noch nicht die ſeinen geworden waren. 


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11. 


Wieder ging ein Winter und wieder kam ein Sommer. 
Und wie alles in dieſen letzten Jahren im Leben Franz 
Felders nur ein raſtloſes Eilen von Erfolg zu Erfolg ge⸗ 
weſen war, fo kamen mit dem naͤchſten Sommer jene 
Siege, die ihn auf eine Höhe führten, über die hinaus 
kein Weg mehr ging: neben einer Reihe anderer erſtet 
Siege fiel ihm die der Europameiſterſchaft zu und mehr 
als das — er behauptete dieſe Meiſterſchaft auf jener 
glotreichen Reiſe nach England, wo er ſie in einem in 
der Geſchichte des Schwimmens einzig daſtehenden Rennen 
gegen die engliſchen und auſtraliſchen Meiſter verfocht, 
die größten und beruͤhmteſten Schwimmer der Welt. 
1 Die Europameiſterſchaft über die lange Strecke von 
1500 Metern erſchwamm er in Grunau auf einem Feſte, 
das der große deutſche Verband, zu dem jetzt faſt alle 
Schwimmvereine des deutſchen Reiches gehörten, in Vers 
bindung mit den größten außerdeutſchen Vereinen und 
Verbaͤnden abhielt, zu dem Schwimmer faſt aller Lander 
des Kontinents erſchienen, und das ſich zu einem Wett⸗ 
1 ſchwimmen geftaltete, wie es in dieſem Umfang und 
dieſer Bedeutung in Deutſchland überhaupt noch nicht 
ſtattgefunden hatte. Es war nicht nur für Berlin, ſon⸗ 
dern auch für die geſamte Schwimmerwelt Deutſchlands 
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das große Ereignis des Sommers, hinter dem alle an⸗ 


deren Veranſtaltungen weit zuruͤcktraten. Noch nie hatte 


man einem Meeting mit ſolcher Erwartung entgegen⸗ 


geſehen, noch nie hatte die Spannung eine ſolch fieber⸗ 


hafte Höhe erreicht 

Einmütigfeit herrſchte unter allen Berliner Vereinen, 
ſelbſt unter denen, die ſonſt nie muͤde werden konnten, 
ſich zu bekaͤmpfen: galt es doch, Berlin wuͤrdig nach 
außenhin zu vertreten, dem alten Ruhme, ſeit Jahren 
die eigentliche Heimat der Schwimmerei zu ſein, keine 
Schande zu machen. Daher wurden weder Muͤhe noch 
Koſten geſcheut und viele Wochen vorher begannen die 
Delegiertenverſammlungen, um das lange Programm der 
Tage zu durchdenken und bis in feine letzten Einzelheiten 


feſtzuſetzen. 


Nie war aber auch die Beteiligung an den Mel⸗ 
dungen eine ſo rege und ſo aufregende geweſen. Mit 
Ausnahme Englands waren ſolche aus faſt allen Laͤn⸗ 
dern des Kontinents, von Italien bis Schweden, von 
Holland bis Oſterreich eingelaufen, und faſt kein in den 
letzten Jahren genannter Name blieb unvertreten: neben 
den berühmteſten Schwimmern die erſten Springer, die 
gekroͤnteſten Mehrkampfmeiſter Europas. 4 

Natürlich waren im Schwimmen alle größten Hoffe 
nungen auf den Meiſter von Deutſchland geſetzt. In 
ſeinen Haͤnden lag vor allem der Ruhm Berlins, die 
Ehre Deutſchlands. Wenn er unterlag, ſo unterlag Berlin; 
wenn er nicht ſiegte, ſo blieb die Meiſterſchaft von Deu 
land in den Haͤnden des Auslandes. # 

Und Felder wußte es wohl! — Es gab keinen, der 


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— 133 — 


N ſo uͤberzeugt wie er ſelbſt von der Wichtigkeit dieſes 
Sieges geweſen waͤre. Er fuͤhlte, daß diesmal andere 


Dinge auf dem Spiele ſtanden, als ſein eigener Ruhm 


und der ſeines Klubs, um die er bis jetzt gekaͤmpft. Die 


Stadt, in der er geboren war, und ſein ganzes Vater⸗ 
land, das weite deutſche Reich, ſahen auf ihn an dieſem 
Tage. Er konnte ihnen keine Schande machen — es 
durfte nicht ſein! — 

Er trainierte mit beiſpielloſer Ausdauer und Sorg⸗ 
falt. Da nun auch das Jahr, das er nach feiner Lehr⸗ 
zeit noch in der Fabrik blieb, zu Ende war, wollte er 
mit dem Eintritt in eine neue Stelle warten, bis das 
große Ereignis vorüber war. Bei feiner Sparſamkeit 


hatte er vermocht, etwas zuruͤckzulegen. Auch ſtanden 


ihm genug Boͤrſen wohlhabender Klubfreunde und Ber: 
ehrer offen, aber Felder war viel zu ſtolz, um auch nur 
das geringſte anzunehmen. Er haͤtte am liebſten ſeine 
Sportsreiſen ſelbſt bezahlt, aber das konnte er natürs 
lich nicht. Außerdem war ſein Klub reich genug, um 
Opfer ſolcher Art nicht von ſeinen Mitgliedern erwarten 
zu brauchen. 

Da Felder ſomit voͤllig Herr ſeiner Zeit geworden 


war, hinderte ihn nichts in feinem Training. Die Er⸗ 
fahrung des letzten Winters hatte ihn klug gemacht, und 
er hütete ſich wohl, des Guten zu viel zu tun. Er hielt 


ſich ſelbſt in ſtrengſter Selbſtkontrolle und goͤnnte ſich 
kein Vergnügen, das über die zehnte Abendſtunde waͤhrte, 
wo er todſicher bereits im Bett lag. Einige fanden ſeinen 
Ernſt oft laͤcherlich; er ließ ſie lachen. 

Eine Art finſterer Entſchloſſenheit bemaͤchtigte ſich 


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feiner in dieſer letzten Zeit. Er wurde noch wortfarger 
und verſchloſſener, als er ſonſt ſchon war. Zugleich 
ſchien auch die ſchoͤne und ſonnige Ruhe, die nach den 
Siegen der letzten Jahre uͤber ihn gekommen war und 
mit jedem neuen Siege mehr und mehr das Schroffe 
und abweiſend Inſichgekehrte ſeines Weſens gemildert 
hatte, von ihm zu weichen. Er glich jetzt wieder mehr 
dem armen und unbekannten Knaben von damals, mit 
der unjugendlichen Stirn und dem trotzigen Munde, der 


Und es war ihm in der Tat ſo, als habe er noch 
nichts erreicht, als ſei erſt dieſer Sieg über Europa 
allein alles Strebens wert, erſt die eigentliche Kroͤnung 
eines Gebäudes, zu dem alle anderen Erfolge nur als 
Stufen führten. Wenn er hier unterlag, er, auf dem 
die ungeheure Verantwortlichkeit der Repraͤſentation eines 
ganzen, großen Volkes lag, ſo war alles andere um⸗ 
ſonſt geweſen, ſo — in feinen bereits überhitzten Ge: 
danken redete er es ſich ein — ſo war nicht nur Berlin, 
ſondern das ganze deutſche Reich dem Spott des mit 
dem Preiſe davonziehenden Auslandes preisgegeben. 

Denn daß es auch einem anderen deutſchen Schwimmer 
gluͤcken könne, den Preis über „die Fremden“ davonzu⸗ 
tragen, daran dachte er nicht einmal — ſo ſehr betrachtete 
er ſchon ſich ſelbſt als den unbeſiegbaren Meiſter ſeines 
Vaterlandes. Aber er hatte Furcht vor dieſen Aus⸗ 
laͤndern, vor dieſen Gegnern, die er nicht kannte, von 


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— 15 — 


denen er ſich mit den wenigſten gemeſſen, über deren 

Kräfte er nichts Beſtimmtes wußte. Und ein Gefühl 
der Unruhe und der Angſt, hier, auf ſeinem eigenen 
Boden, den er ſich gewiſſermaßen Meter für Meter in 


dieſen Jahren erkaͤmpft hatte, geſchlagen zu werden, 
ließ nicht von ihm und verſcheuchte jede unbefangene 


Freude ... Es war kein Genuß mehr, mit ihm zu ver⸗ 


kehren und ihn uͤben zu ſehen, und ſein feierlicher Ernſt, 
mit dem er kam und ging, ſteckte die anderen an. Es 
war wie in den Tagen vor einer Schlacht 

Er ſiegte. 

In den letzten Tagen wich alle Unruhe wieder von 
ihm. Eine große Entſchloſſenheit leuchtete aus ſeinen 
Augen, als muͤſſe er ſiegen um jeden Preis. Er wies 
alles von ſich ab, er wollte nichts mehr hoͤren und ſehen 
von dem, was alle um ihn herum beſchaͤftigte. Was 
gingen ihn alle dieſe fremden Namen und Menſchen an 
— ob er ſie kannte oder nicht, er ſchwamm darum nicht 
beſſer. Er wußte nur eines: daß er ſiegen mußte! 

Und gleich als wenn die Kraft ſeiner Muskeln ſeinem 


Willen gehorchen muͤſſe, ſo geſchah, was er wollte. 


Er ſiegte. 

Er ſchlug den berühmten Holländer, den gefuͤrchteten 
Oſterreicher, er ſchlug den rieſigen Norweger, einen Huͤnen 
an Geſtalt und Kraft, er ſchlug die Beſten ſeines eigenen 


Vaterlandes zum zweiten und dritten Male, und er ſiegte 
über ſeine eigene Zeit vom Vorjahre mit mehr als drei 


Minuten. 
Ein unbeſchreiblicher Tumult entſtand, als er an⸗ 
ſchlug. Die Zuſchauer raſten. 


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Seine Freunde erdruͤckten ihn fait. Voͤllig Fremde 
umarmten ihn. Man trug ihn mehr, als er ging, durch 
die Reihen von Menſchen, die ihre Plaͤtze verlaſſen hatten. 

Deutſchland hatte geſiegt. Und in Deutſchland Berlin! 
— Und dieſe kuͤhlen Berliner, ſo gern ſtets zu ver⸗ 
kleinernder Kritik geneigt und ſo abhold jeder Gefuͤhls⸗ 
uͤberſchwenglichkeit, waren kaum wieder zu erkennen in 
dem Jubel und der Freude über den Sieg ihrer Stadt. 

Unglaublich, dieſer Felder! — hoͤrte man allenthalben, 
was der will, das kann er auch. N 

Und die Begeiſterung wollte ſich nicht legen ... 

Am ruhigſten waren noch Felder ſelbſt und — Nagel. 
Der ſagte ſchon lange nichts mehr, und nur ein Haͤnde⸗ 
druck zeigte, daß er mitfühlte in dieſem Moment. Bei 
ſich dachte er: Jetzt, jetzt wird es ſich zeigen — daran, 
wie er dieſen Sieg ertraͤgt. — Bruͤning rannte umher 
wie beſeſſen und ſchrie nach Sekt, und Koepke war völlig 
unzurechnungsfaͤhig. Er ſprach nur noch in Hyperbeln. 

An Felders Ruhe, die zudem viel mehr eine aͤußer⸗ 
liche als eine innerliche war, hatte ubrigens eine gewiſſe 
ſeeliſche wie koͤrperliche Abſpannung ihren Hauptgrund. 
Jetzt, als alles vorüber war, merkte er erſt, wie er ſich 
in den letzten Wochen innerlich verzehrt hatte — in dem 
einen Wunſche. 4 

In demſelben Garten, in dem im vorigen Jahre 
ſeine Meiſterſchaftserklaͤrung für Deutſchland erfolgt war, 
wurde ihm nun die hoͤchſte aller Ehrungen zuteil und 
unter dem achtungsvollen Schweigen a dne 
nahm er den Weltmeiſterpreis entgegen . 1 


— 137 — 


Die ganze warme Sommernacht hindurch dauerte 
wieder das Feiern um ihn herum. Er lebte ganz in 
dieſen Stunden. Er dachte nicht zuruck. Er dachte auch 
nicht in die Zukunft. Die Stimmen in ihm ſchwiegen. 
Zum erſtenmal vielleicht in ſeinem Leben ſchwiegen ſie 
ganz. Er hatte erreicht, nicht was er gewollt: nein, 
viel mehr als das. Sie mußten heute ſchweigen, dieſe 
Stimmen, denn ſie wurden uͤbertoͤnt von dem einmuͤtigen 
Jubel um ihn her. Die ſtillen Sterne leuchteten her⸗ 
nieder; der Atem der weichen Nacht ſpielte um die er⸗ 
hitzten Koͤpfe und vom Waſſer her kam die friſche Kuͤhle, 
die alle dieſe Menſchen nicht muͤde werden ließ, zu 
ſprechen, zu trinken, ſich zu berauſchen am Leben, an 
Freude und an der eigenen Kraft. 

Und Felder trank — trank — trank — alles, was 
man ihm bot: Sekt, Bier und Wein, aber am ſuͤßeſten 
ſchmeckte ihm der berauſchende Trank des Erfolges. 

Alles andere hatte er vergeſſen. 

Selbſt als er inmitten ſeiner wildeſten Bewunderer 
wie berauſcht endlich zum Bahnhof ging, zog auch nicht 
ein Erinnern durch ſeine muͤden und wirren Gedanken, 
das ihm ein weißes Kleid, einen jungen Leib oder einen 
warmen Mund wachgerufen haͤtte. 

Muͤde ſaß er in einer Coupcéecke und während die 


4 anderen um ihn herum ſich noch immer uͤber den heutigen 


Tag ereiferten, ſchlief er ein; und den Sieger uber feinen 


Siegen vergeſſend, dachten ſie erſt wieder an ihn und 


weckten ihn erſt, als der Zug in die von der Morgen⸗ 
daͤmmerung erhellte Halle des Goͤrlitzer Bahnhofs ein 
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12. 


Der Glanz dieſes Tages konnte ſelbſt durch die Reiſe, 
die Felder wenige Wochen ſpaͤter nach England unter⸗ 
nahm, um dort in dem gelobten Lande des Sports ſeine 
Meiſterſchaft Europas gegen ihre erſten bisherigen Meiſter 
zu behaupten, kaum erhoͤht werden. 

Die Reiſe war nie geplant. Es war an ſie nie ge⸗ 
dacht. Sie war einfach eine natürliche Folge dieſes letzten 
Sieges. 

Waͤhrend die Sportszeitungen des Kontinents einig 
waren in der Anerkennung dieſes Sieges, verhielten ſich 
die engliſchen, an Zahl und Bedeutung gleich und im Ton 


| | immer überlegen, dem Siege gegenüber ſkeptiſch, und ers 


hoben den Einwand, daß England ſich nicht beteiligt habe, 
daß aber England in Sportsſachen (wie auch in anderen 
Dingen) Europa ſei, und daß Felder ſich erſt einmal mit 
engliſchen Schwimmern gemeſſen haben müßte, ehe ihm 


ie wirklich der nur kuͤnſtlich gemachte Titel des Europas 


meiſters gebühre. Natürlich verwahrte man ſich gegen 
dieſe Beſchuldigung und erflärte fie für laͤcherlich. Man 
hatte die erſten Schwimmer Europas eingeladen, auch 
die Engländer. Sie waren nicht gekommen, weil fie 
eben nie kamen. Und weil ſie hochmuͤtige Narren waren, 
die ſich einbildeten, man muͤſſe zu ihnen kommen. 


eingebildete Überlegenheit zu brechen. Wenn wir ihnen 


2 ö jede Entſchuldigung nehmen, ſo werden ſie ſich bequemen 


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muͤſſen, von ihrem Piedeſtal herabzuſteigen, auf dem fie 


ſchon viel zu lange geſtanden, dann iſt Beteiligung an 
kontinentalen Feſten oder aber endguͤltiger Verzicht die 


unausbleibliche Folge. 


Als dann auch der letzte Einwand: der der zu hohen 
Koſten dadurch kurz abgeſchnitten wurde, daß ſich Bruͤning, 
der ſich jetzt ſogar um feine Pferde nicht mehr kuͤmmerte, 

erbot, fie ſaͤmtlich zu tragen und Felder nach England 


zu begleiten, wurde deſſen Beteiligung beſchloſſen. — 


Wenn Felder ſpaͤter an dieſe Reiſe nach England zu⸗ 
ruͤckdachte, jo kam fie ihm vor wie ein Traum. Ein 
wirres Durcheinander von Bildern aller Art zog an ſeinem 


Auge vorüber. Zunaͤchſt weite Landſchaften, die im Fluge 
an dem dahinraſenden Zuge vorbeizogen. Die dunkle 


Regennacht auf dem Schiffe: das Meer, das er zum 
erſten Male ſah — ein Waſſer, wie er es nie geahnt, 
Wogen von einer Kraft, gegen die das maͤchtige Schiff 
rang, wie ſein Körper rang gegen die ſtille Flut ſeines 
heimatlichen Fluſſes, und an der menſchliche Einzelkraft 
zerbrechen mußte, wie ein Streichholz unter dem Schlage 
eines Hammers. Waſſer, nur Waſſer, dasſelbe Waſſer, 
das er kannte und liebte, wie kein anderer — und doch 
ein ganz anderes Element. Nicht das, welches ihm ver⸗ 


Daher waren auch erſt wieder manche Stimmen gegen 
die Reiſe Felders nach England. Ein Entgegenkommen 
dieſer Art war ein Zugeſtaͤndnis, eine Erniedrigung. f 

Aber andere ſagten: Man muß es ihnen zeigen! — 
Jetzt iſt die Gelegenheit da, ihre angemaßte und nur 


traut war von Jugend auf, ſondern eine fremde, un⸗ 
heimliche Kraft, mit der zu meſſen er ſich nie getraut 
haͤtte, vor der ihm graute, da er der Schwaͤchere, ein Nichts 
war vor ihr ... das war das Meer! ... Elend, ganz 
zermalmt von der laͤcherlichen und doch ſo maͤchtigen 
Krankheit der See, atmete er erſt auf, als er wieder Land 
unter den Fuͤßen fuͤhlte — er, der es ſonſt nur wider⸗ 
ſtrebend betrat, da er ſein geliebtes Waſſer verlaſſen 
mußte — und nur mit Schaudern dachte er an das Ge⸗ 
bruͤll, die Feindſeligkeit, die ganze Furchtbarkeit des 
fremden Weſens zuruͤck, das ihn behandelt hatte wie den 
erſten Beſten, eine Katze, die ein Tiger geworden war, 
ein Freund, ploͤtzlich verwandelt in einen Feind, der die 
Mas ke fallen gelaſſen, und ihn niedergeworfen, um ihn 
zu ermorden! . 

Dann, noch die Angſt vor dem gerettenen Leben in 
den Gliedern, die Ode und Unermeßlichkeit der in ewigen 
Dunſt gehuͤllten Stadt, vor deren Grenzenloſigkeit ihm 
ſein Berlin wie ein Dorf erſchien. Endlich, in ſchaͤrfſtem 
Kontraſt dazu, die Tage der Races an dem ſtillen, um⸗ 
buſchten Ufer der Themſe, wo der Himmel wieder lachte 
und der Frieden wieder in den verſteckten weißen Haͤuſern 
zum wohnen ſchien, wo er feinen Mut wiederfand, den 
Mut, ſich daran zu errinnern, weshalb er hierher gekommen 
war, und die Kraft, zu ſiegen, ſich wirklich den erſten 


Preis zu holen, weil er ſich hier endlich wieder daheim 


fühlte, daheim im Waſſer 

And die Bilder nach dem Siege. 
: Der Jubel diefer ihm erft fo ernſt, fo fteif erfchienenen 
Menſchen, gegen den der Beifall von Grünau wie ein 


. 


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— 142 — 


Murmeln war. In ſeinem ganzen Leben zuſammen hatte 
er nicht ſo vielen Menſchen die Hand geſchüttelt, wie an 
dieſem Tage. Man renkte ihm faſt den Arm aus. Und 
dann ſchleppte man ihn zwei Tage lang von einer Feſt⸗ 


lichkeit zur andern, durchzog in Reihen von zwanzig Cabs 


— in denen nur je einer ſitzen durfte — wie in einer 
Prozeſſion die endloſen Straßen Londons, behandelte ihn 


wie einen Fürften und überſchüttete ihn in beiſpielloſer 


Generofität und Gaſtfreundſchaft mit Gaben jeder Art. 
Am letzten Tage überreichte ihm irgend jemand, deſſen 


Namen er nicht einmal wußte, ein Ehrengeſchenk von 


150 Pfund, da man gehort hatte, daß er vollig auf die 
Arbeit feiner Hände angewieſen war. Es wurde mit fo 
viel Achtung und Selbſtverſtaͤndlichkeit angeboten, daß 
Felder es unmoglich ausſchlagen konnte. Er war ganz 
gerührt. Er hatte gedacht, dieſe Engländer würden es 
gewaltig übel nehmen, wenn ein Ausländer daherkam 
und ſie auf ihrem Grund und Boden ſchlug, und nun 
ſah und fühlte er überall nichts, als die neidloſeſte Bes 
wunderung und eine Verehrung, wie ſie ihm in ſolchen 
Formen noch ganz unbekannt war. 


Und doch — war es die fremde Sprache oder was 


war es? — fo gemütlich wie in Deutfchland oder gar 
in Wien waren dieſe Tage nicht. Alles ging in ewiger 
Haft, von einem zum andern. Nie ſetzte man ſich zu 
einem Glas Bier zuſammen, um in Ruhe alles zu be⸗ 

ſprechen. Getrunken wurde zwar genug — und was nicht 
alles durcheinander! — aber alles im Fluge, im Stehen, | 


und von einer Hand ging er in die andere, faſt wie eine 


Sache, an der jeder ein Anrecht hatte. Jeder wollte ihm 


— 43 — 


die Hand geſchuͤttelt und mit ihm getrunken haben 
Und immer wieder mußte er trinken und Haͤnde ſchuͤtteln, 
bis er am Abend ſo muͤde war, daß er die rechte nicht 
mehr von der linken zu unterſcheiden wußte. 

Nein, fo gemütlich wie zu Haufe war es nicht, und 
Felder war faſt froh, als es an die Heimreiſe ging. 
Eigentlich haͤtte er ſich nicht fremd zu fuͤhlen brauchen, 
denn Bruͤning und ein anderer Klubgenoſſe waren ſtets 
mit ihm, und der erſtere war der beſte Reiſemarſchall, 
den man ſich denken konnte: überall zu Haufe, in allen 
Sprachen gerecht, praktiſch und erfahren, dabei in uns: 
erſchoͤpflich guter Laune und den ſchwerfaͤlligen Felder 
uͤber jede Verlegenheit ſpielend hinübertragend. Man 
kam aus dem Lachen mit ihm gar nicht heraus. 

Aber Felder wurde nie ganz froh. Denn ohne es 
ſich ſelbſt einzugeſtehen, fuͤrchtete er ſich vor dieſer Heim⸗ 
reiſe. Wieder ſollte er — und diesmal einen ganzen 
Tag — ſich dem furchtbaren Element anvertrauen, wieder 
ihm machtlos und jaͤmmerlich gegenuͤberſtehen und ſich 
in elender Ohnmacht vor dieſem Waſſer kruͤmmen, das 
er ſonſt ſiegreich packte, wo immer er es traf 

Er haͤtte ſich nicht zu fuͤrchten brauchen. Als ſie 
nach einer letzten, halb durchjubelten und durchtrunkenen 
Nacht am Morgen von Queensborough abführen, war er 
fo müde, daß die Freunde ihn faſt aufs Schiff trugen, 


i F und kaum auf ihm angelangt, ſchlief er wie ein Toter 


bis zu dem Augenblicke, wo fie ihn in Vliffingen wieder 
aufweckten. 
N Das war ſeine Reiſe nach England. 

Alles war herrlich, glorreich, einzig geweſen. Aber 


— 


3 


er war froh, als er wieder in Berlin war, wieder die 
heimatlichen Laute um ſich herum vernahm, und das 
Schreckgeſpenſt vergaß, das ihn angegrinſt hatte, wie der 
leibhaftige Tod. 

Denn er hatte es ſich jetzt klar gemacht: das Meer 
war das Meer, und das Waſſer war das Waſſer. Aber 
dasſelbe waren beide nicht! — Nie wollte er das Meer 
wiederſehen. 

Haͤtte er es geſehen, wie es in ſtahlblauer Pracht 
dalag, ruhig, verſchwiegen, lockend, wie ein tiefer See, 
und nur leiſe erzitternd unter den Strahlen der Sonne, 
wie es liebreich und verſoͤhnt den Sieger heimtrug auf 
ſeinem breiten Rücken, er hätte es wiedererkannt als fein 
Element, und nicht geruht, bis er ſich ſeiner ſalzigen 
Flut anvertraut und die Wonnen ſeiner Umarmung ge⸗ 
noſſen. 


13. 


deren Triumph nun die Zeitungen berichteten: ein wirres 


Berichte recht deutlich zum Bewußtſein gebracht wurde 
den Sieg über die erſten Gegner der Welt, die von 
keiner Seite fuͤrs erſte mehr beſtrittene Meiſterſchaft von 
7 Europa, die hoͤchſten erreichbaren Auszeichnungen, und ein 
Ruhm, der ſeinen Namen von jenem Tage an fuͤr alle Zeiten 
unvergeßbar in die Annalen des Schwimmſportes eingrub. 
Er hatte erreicht, was er gewollt. 
Was er erſehnt, war Erfuͤllung geworden. 
Er konnte etwas, was kein anderer Menſch außer 
ihm konnte. 
Er war der Meiſter des Waſſers. 
14 Er hatte feinem Klub zu feinem alten Anſehen ver 
holfen. Mehr: er hatte feinen Namen mit dem eigenen 
berühmt gemacht weit uber die bisherigen Grenzen. Seine 
Schuld war beglichen. 
ö Aus dem armen Knaben war ein junger Menſch ge⸗ 


worden, auf den alle mit Stolz und Bewunderung ſahen, 


der keine Not mehr zu leiden brauchte, ſo viele waren 
der hilfreichen Haͤnde, die ſich ihm entgegenſtreckten. 
vun 10 


Das war Franz Felders Reiſe nach England, von 


Durcheinander von Bildern aller Art, und leuchtend nurn 
die Erinnerung an ſeinen Sieg, der ihm erſt durch dieſe 


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Nein, es war nicht richtig, daß er erreicht, was er 
gewollt. Nie hatte er ſo hoch gewollt. Er war dahin 
getragen, wohin er ſich nie zu ſehnen gewagt. l 

Und ſo hoch war er getragen, daß er ſich fragen 


mußte: wohin nun? — So viel hatte er erreicht, daß 


ihm nichts mehr zu wuͤnſchen übrig blieb. 
Welcher Weg fuͤhrte noch uͤber die Hoͤhe hinaus, auf 
der er ſtand? — Denn ſich dort zu behaupten erſchien 
ihm ſelbſtverſtaͤndlich. ö 
Die Welt nannte ſeinen Namen. 2 
Er vergaß nur zweierlei: daß die Welt, die er fo nannte, 
nur ein unendlich kleiner Teil der wirklichen weiten Welt 
wat — wenn es auch die Welt war, in der er lebte; 
und daß ſelbſt dieſer kleine Teil von Menſchen, die ihn 
heute anſtaunten und bejubelten, ſich ſeiner vielleicht morgen 


noch erinnern, ihn aber ganz ſicher uͤbermorgen vergeſſen 


haben würden, . 

Aber wie ihm ſeine Sache von jeher allein nur als 
die einzig wichtige erſchienen war, ſo konnte er die Welt 
nie richtig meſſen, weil ihm von jeher jeder andere Maß⸗ 
ſtab gefehlt hatte. So war er allmaͤhlich dahin gekommen, 
ſie nur unter einem einzigen Geſichtspunkt zu ſehen, und 
jetzt folgerichtig dahin, ſich als ihren Mittelpunkt zu be⸗ 
trachten. 3 

Das einzige, was er ſich noch wirklich klar machte, 
war, daß er jetzt die Hoͤhe ſeiner Kraft erreicht hatte. 
Über fie hinaus konnte er nun nicht mehr. 

Übertraf ihn, ja erreichte ihn nur irgendein anderer, 
ſo war es aus. i 

Es galt daher, ſich auf dieſer Hoͤhe zu erhalten. Das 


— 41 — 


mußte nun fein nächites Ziel fein. Aber es war kein 
Ziel mehr, das ihn reizte. 

Daher war er jetzt, auf der Hoͤhe, nicht mehr ſo 
glücklich, wie er geweſen war, als er fie erklommen und 
jede ſeiner Bewegungen von tauſend Augen verfolgt ſah. 
Aber gluͤcklich war er doch noch. a 

Daß einmal ein Tag kommen mußte, mochte er ſich 
auch noch ſo lange behaupten, an dem er herabſteigen 
mußte, um einem anderen Platz zu machen, das wußte 
er. Daruͤber gab es keine Taͤuſchung. Das war ſo 
ſicher wie der Tod. 

Aber er dachte nie an dieſen Tag. Er wollte es 
nicht! — 

Er ſtand oben und ſah hinab auf den Weg, den er 
gemacht. Und aus der Tiefe zu ihm herauf klang be⸗ 
rauſchend Jubel und Neid gleich ſtark in ſeine Ohren. — 

In dieſer Zeit brachte jenes größte und angeſehenſte 
Sportblatt der Welt, das ſeinen Namen „Welt⸗Sport“ 
daher nicht mit Unrecht fuͤhrte, ſein Bild und erzaͤhlte 
ſeinen Leſern die einfache Geſchichte ſeines Lebens und 
die beiſpielloſe Geſchichte ſeiner Erfolge. 

Die Biographie konnte nicht mehr ſein, als die ein⸗ 
fache Wiedergabe ſchlichter Tatſachen. Das Bild war 
die Reproduktion nach einer vorzuͤglichen Photographie. 
Sie zeigte den Meiſter von Europa im Bruſtbild, be⸗ 
kleidet, und neben den allerhoͤchſten Ehrungen nur die 
eine kleine, ſchlichte — und doch vielleicht die hoͤchſte 
von allen — kaum erkennbar neben den ſchweren Mer 


daillen von Gold und Silber, die kleine Muͤnze, die er 
10⁵ 


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| | ſich als erſte Ehre einft, vor langen Jahren, geholt, 


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dem er das Leben eines Menſchen gerettet. 4 

Das Bild ſelbſt zeigte ein ernſtes, ſchoͤnes und ſtolzes 
Geſicht. Es war nicht mehr das Geſicht des Knaben. 
Derſelbe war nur noch der ſeltſame Zug von Entſchloſſen⸗ 5 
heit um den Mund und unveraͤndert war noch die etwas 
niedrige, trogige Stirn. Aber die Weichheit, die Rundung 
der Wangen und des Kinns, und vor allem der gute | 
mutige, vertrauende Blick der blauen Augen waren ver⸗ 
ſchwunden und einem fruhernſten Ausdruck gewichen, fo 
daß das Geſicht an Bedeutung gewann, was es an 
Liebenswürdigkeit verloren hatte. Es war das Geſicht 
eines Menſchen geworden, der ruhig, ſelbſtbewußt und 
entſchloſſen in ſteter Wachſamkeit um ſich und in die 


Ferne blickt, damit ihm niemand zu nahe komme: der 


Ausdruck einer ſtets bereiten Abwehr, der in feiner furchts 
loſen Kühnheit erſetzte, was dem Geſicht an tieferer 
geiſtiger Intelligenz mangelte. In dem Augenblick der 
Aufnahme war er ſo lebendig geworden, daß er es eigen⸗ 
tümlich belebte und intereſſant machte. 

Es war noch immer ein ſympathiſches Geſicht, aber 
das liebenswürdige, gute Geſicht des Knaben war es 
nicht mehr. 

Ein anderes Bild aber — aus derſelben Zeit — 
das den Meiſterſchwimmer in voller Figur und im Trikot 
zeigte und auf dem das Geſicht gegen den Körper zuruͤck⸗ 
trat, ftörte in keiner Linie. Es war das Bild einer 
wundervoll ſicher und gleichmaͤßig entwickelten, vom Leben 
noch völlig unangetaſteten, ganz einzigen Kraft in der 
Sieges ſicherheit ihrer Jugend. | 


2 
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14. 


Mit ſchweren Fuͤßen gehen wir uͤber die ſchwere Erde. 
Ewig iſt in uns die Sehnſucht, uns uͤber ſie erheben zu 
koͤnnen, und noch im Tode bitten wir, ſie moͤge uns 
leicht ſein. Denn ſchwer iſt ſie uns, wie das Leben. 

Aber wir koͤnnen nicht fliegen. Neidvoll ſehen wir 
— Vögeln nach, die ſich in die Luft erheben, die ven 

uns zu leicht ift. 

Zu ſchwer die Erde, zu leicht die Luft. 

Aber wir koͤnnen ſchwimmen. 

Zwiſchen Himmel und Erde wiegt uns das Waſſer. 
Halb zieht es uns hinab, halb traͤgt es uns hinauf. 

Wir ſind noch nicht oben, aber wir ſind nicht mehr 
unten. Es gibt uns das Vergeſſen: das Vergeſſen der 
Erde und die Ahnung, im Himmel zu ſein, wenn es 
uns trägt, 

Wir haben keine Fluͤgel, aber wir fuͤhlen die Schwere 


der Erde nicht mehr. 


Wunderbares Element! — Warum haben wir uns 
aus dir, das unſer aller Heimat und Wiege war, auf 
die Erde geflüchtet? Warum find wir nicht in deinen 
ſtillen, traumloſen, ſeligen Tiefen geblieben, ſtatt in das 
Getöſe, den Staub und den Kampf der Erde zu treten? 


— 


— 150 — 


— Warum keuchen wir aus ſchweren Lungen, ſtatt 
mühelos aus leichten Kiemen zu atmen? — 

Weil wir Waͤrme, Licht und Leben brauchten? — Ach, 
die Waͤrme der Erde iſt ſengende Glut, ihr Licht blendet 
unſere Augen, und unertraͤglich iſt uns meiſten das Leben. 

Dort unten war Kühle, Daͤmmerung und Traum. 


Aber wir wollten hinauf: aus den Tiefen hinauf auf 


die Erde. Und dann wollten wir hoͤher und hoͤher: von 
der Erde in den Himmel. Und wir koͤnnen es nicht. 
Und verzehren uns nun in der ewigen Sehnſucht, die 
nicht hinauf kann und nicht mehr hinab. 

Wunderbares Element! — Die meiſten haben dich 
vergeſſen. So fremd biſt du ihnen geworden, daß ſie 
Furcht vor dir haben. Und ſtatt ſich dir anzuvertrauen, 
blicken ſie mit angſtvollen Augen auf dich und zittern 
vor der Berührung mit dir. Mit dir! — Mit dir, das 
du ſie traͤgſt und wiegſt und ihnen neues Leben geben 
möchteft, das du ihnen den Staub aus den Augen und 
die Qualen vom Herzen waͤſcheſt und ſie nur ſinken laͤßt, 
wenn ſie, dumm und ungeberdig, dich mißhandeln mit 
plumpen Geberden und ungeſchickten Faͤuſten, und, das 
Unmoͤgliche heiſchend, in dir den Himmel ſuchen. Sie 
alle, die vergeſſen, daß du nicht wie ein Sklave be: 


handelt ſein willſt, und es dir verdenken, wenn der Freie 


ſich im Zorn empoͤrt und die ungebetene Laſt von ſich 
abſchuͤttelt und begraͤbt. N 
Aber nicht alle haben dich vergeſſen. 
In einigen lebt noch die Sehnſucht nach dir fort, 
wie das Verlangen nach der Reinheit aus dem Schmutze, 
und wenn ſie zu dir kommen, ſo nimmſt du ſie in die 


— 151 — 


Arme, wiegſt ſie, kuͤſſeſt ſie und vergiltſt tauſendfach 
jede ihrer noch jo ungeſchickten Liebkoſungen. Und wer 
ſich dir einmal ſo zu eigen gab, der begehrt den Himmel 
nicht mehr und kehrt nur auf die Erde zuruͤck, weil ihr 
Staub ihn gebar und ihn naͤhrt, der kehrt zu dir zuruͤck, 
wann immer er kann, der iſt dein eigen geworden für 
Lebenszeit 

Einer von dieſen Wenigen war Franz Felder. Als 
ſich kaum die kleinen, dicken Kinderfaͤuſte von der Mutter⸗ 
bruſt geloͤſt, hatte ihn das erſte, ſelbſtaͤndige Lebensver⸗ 
langen nicht auf das weite Feld der Erde, ſondern in die 
ſtummen Tiefen des Waſſers gezogen. Und das Waſſer 
hatte ihn empfangen wie ſein eigenſtes Kind, hatte ihn 
unterwieſen in der Kunſt des Lebens, ihn verhaͤtſchelt, 
ihn auf alle Weiſe der gehaßten Erde zu entreißen ver⸗ 
ſucht, die Sehnſucht nach ſich auf alle Art genaͤhrt, bis 
er ſein eigen geworden war mit Leib und Seele. 

So war es ſein erſter Spielkamerad geweſen und ſein 
einziger geblieben. So war es ſein erſter Freund ge⸗ 
worden, und in der Stunde, als er, noch faſt ein Kind, 
bei einem allzu haſtigen Sprunge ſich eine tiefe Fleiſch⸗ 
wunde an einem Nagel, den er ſtreifte, in den Arm riß 
und ſein Blut ſich mit dem Waſſer miſchte, das es trank, 
war zwiſchen ihnen die Blutsbruͤderſchaft entſtanden, die 
ſich erſt loͤſen konnte mit ſeinem Leben. Die Wunde war 
geheilt, das Waſſer heilte ſie wie von ſelbſt, aber die 
Freundſchaft zwiſchen ihnen hatte gewiſſermaßen ihre 
Weihe erhalten, und jede ſeiner kleinen Schmerzen und 
Wunden trug Franz fortab zu ſeinem Freunde und ließ 
ſie von ihm heilen, die offenen und die verſchwiegenen. 


— 152 — 


Nun war das Waſſer ſein Gegner geworden. | 
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liche Spiel mehr des Augenblicks, vergeſſen im naͤchſten. 
Aus der knabenhaften Balgerei war ein ernſthaftes Meſſen 
der Kraͤfte geworden. Aber es war noch immer der 
achtungsvolle Kampf zweier Gegner, die ſich vor und 
nach ihm die Hand ſchuͤtteln und voneinander gehen 
ohne jeden Groll. 7 

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zwiſchen ihnen. a 


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Franz Felder wohnte noch immer bei ſeinen Eltern. 
Zwar nicht mehr in dem dumpfen Keller, in dem er 
einen Teil ſeiner Jugend verbracht, aber doch immer 
noch in einer Hofwohnung, ohne viel Licht und Waͤrme. 
Er hatte ſein eigenes Zimmer. Hier hingen alle ſeine 
Trophaͤen. Die Ehrenpreiſe, die in Gegenſtaͤnden be⸗ 
ſtanden und nicht in den Klubbeſitz uͤbergegangen waren 
und dort das Vereinszimmer ſchmuͤckten, hatte er zum 
Teil feiner Mutter überlaffen, die mit ihnen die dürftige 
Armut der vorderen Wohnſtube zu verdecken ſuchte. Dort 
ſtand das große Bierſervice, die Fruchtſchale aus Cuivre, 
der Rauchtiſch und manches mehr — Dinge, die oft mehr 
dem guten Willen, als dem Geſchmack ihrer Stifter Ehre 
machten. Aber alles, was er ſich ſonſt errungen in ſeinen 
vielen Kaͤmpfen, hing hier in ſeinem eigenen kleinen 
Zimmer in Geſtalt dorrender Lorbeerkraͤnze und mehr 
„oder minder kuͤnſtleriſch ausgeführter Diplome an den 
Waͤnden, und von den bunten Schleifen leuchteten goldene 
Inſchriften. Bis an die niedrige Decke hinauf hingen ſie, 
und über dem Bette war faſt ſchon kein Platz mehr für 
neue Ankömmlinge. Auch hatte Felder es laͤngſt aufs 
geben muͤſſen, ſich alle feine Urkunden einrahmen zu 
laſſen. 


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Auf der Kommode in einem großen Glaskaſten — N 


dem Geſchenk eines Klubfreundes, eines Schreiners, zu 8 


Weihnachten — lagen auf roter Sammetunterlage alle E 
feine Medaillen, goldene und filberne, große und kleine, 


alle an ihren Schleifen, eine ganze Sammlung von 
nicht geringem Wert. Sie war fein hoͤchſter Stolz! — 
Mit welcher Liebe nahm er nicht zu den Feſten Stuck 


für Stuck heraus, um es, eins nach dem anderen, auf 
ſeiner Bruſt zu befeſtigen; mit welcher Sorgfalt legte er 
nicht jedes einzelne an feinen rechten Platz zuruck! — 
Bei jedem neuen Siege verruͤckte der neue Erwerb den 
Platz und die Stellung der anderen, und in immer 
neuer Gruppierung lagerte ſich um die ſchweren, goldenen 
Rundſtuͤcke erſter Siege die Schar der kleinen Trabanten, 
alle gleich gekannt, alle gleich geliebt. Denn an jeden 


knüpfte ſich eine unvergeßliche Erinnerung. 


So viele waren ihrer geworden, daß ſie laͤngſt nicht 


| he auf der breiten Bruſt des Meiſterſchwimmers Platz 


fanden. Auf ſeiner letzten Photographie trug er daher 
nur die wichtigſten ſelbſt — die breiten Bänder um den 
Hals und die großen goldenen und ſilbernen Muͤnzen 
auf den Rockſchlaͤgen; die anderen waren auf einem 
Schilde reihenweiſe geordnet, das auf einer Art Staffelei 
neben ihm ſtand, auf die er die Hand legte. Das ganze 
Bild des beutebeladenen Siegers erſchien ebenfalls als⸗ 
bald in einer Sportzeitung und übte ſtellenweiſe auf un: 
wiſſende Laien eine erheiternde Wirkung aus, die keines⸗ 
wegs beabſichtigt war. 

Auch dieſes Bild prangte in der kleinen Stube, und 
was außer ihm an Bildern dort noch zu ſehen war, es 


— 157 — 

ſtellte immer nur ihn dar: Franz Felder. Da war er 
als kleiner Junge mit ſeiner Rettungsmedaille auf der 
Bruſt, dick und ernſt; als junges Mitglied des S. -K. 
B. 1879 mit der hellen Muͤtze und dem Zeichen ſeines 
erſten Sieges auf der Bruſt; ein Jahr ſpaͤter als neu⸗ 
gebackener Berliner Meiſter — noch ohne Band um den 
Hals, aber doch ſchon gekrönt mit einem erſten Preiſe 
und jenem ſeltſamen Zug um den Mund, der auf keinem 
der ſpaͤteren Bilder mehr fehlte. Endlich all dieſe Bilder 
der ſpaͤteren Jahre, aufgenommen in all den verſchiedenen 


Staͤdten, wo man ihn mit zum Photographen genommen er. 


oder ihn beim Feſt ſelbſt noch ſchnell vor den Kaſten 
geſtellt, ehe er ins Waſſer ging, immer um ein paar 
Zoll größer, immer etwas ſelbſtbewußter in der Haltung, 
je mehr die Zahl der Zeichen auf ſeiner Bruſt wuchs — 
da waren ſie alle bis auf dies letzte, wo die Zahl der 
Ehren ſo groß geworden war, daß er ihre Laſt nicht mehr 
ſelbſt tragen konnte ... Und da waren die anderen Bilder, 
die Gruppenaufnahmen, auf deren keinem er fehlte: erſt 
mehr an der Seite, faſt verſteckt unter den anderen, 
dann immer mehr in die Mitte geruͤckt, bis ſeine Perſon 
die Mitte ſelbſt bildete — dieſe Aufnahmen, ausgefuͤhrt 
zum größten Teile von irgend einem Amateurphoto⸗ 
graphen, mehr oder minder gut gelungen, aber jede ein⸗ 


zelne eine liebe Erinnerung an die fröhlichen Stunden 


eines Ausfluges, einer Veranſtaltung des Klubs, erfüllt 
von Gelaͤchter und immer Überftrahlt von der unverſieg⸗ 
baren Fröhlichkeit der Jugend. 

Und endlich die Bilder, die ihn darſtellten unter ſeinen 
Mitſchwimmern bei den Konkurrenzen, Aufnahmen, wie 


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fie in letzter Zeit bei den wichtigſten Hauptſchwimmen 
gewöhnlich gemacht wurden, bevor man an den Start 
ging. Alle Namen, die uͤberhaupt in der Schwimmer⸗ 
welt in den letzten Jahren genannt wurden, waren da 
vertreten, alle die mehr oder minder gefaͤhrlichen Gegner, 
alle, mit denen er, Franz Felder, gerungen, alle, die er 
beſiegt hatte ... Er kannte fie alle und lächelte, wenn 
ſein Blick auf ihren Geſichtern ruhte. Im Momente der 
Aufnahme noch ruhig, faſt gleichgültig — wie verändert 
waren ſie alle wenige Minuten ſpaͤter, wo es drauf und 
dran ging! — Wie verſchieden waren dieſe nackten, nur 
mit dem Trikot bekleideten Geſtalten: der eine lang und 
hoch aufgeſchoſſen, wie ein Turm, und ſehnig, wie ein 
Pferd; der andere kurz und unterſetzt mit maͤchtigen 
Schenkeln und einer phaͤnomenalen Bruſtweite; der dritte 
ebenmaͤßig und ſchlank, in nichts faſt ſeine Kraft ver⸗ 
ratend; und immer war es Felder, der dieſem Dritten 
glich. Auf allen Bildern ſtand ſeine ſchoͤne, ſchlanke 
Geſtalt hoch aufgerichtet und ruhig unter den anderen, 
und ſeine ernſten und mutigen Augen verliehen ſeinem 
Geſicht einen Zug von Leidenſchaftlichkeit und Intelligenz, 
den man vergebens auf denen der anderen ſuchte 

Schließlich fuͤllte eine Ecke des Zimmers ein großer 
Stoß von Programmen und Zeitungen: die Programme 
der Wettſchwimmen, an denen er teilgenommen, und die 
Zeitungen, die über fie berichtet hatten. Es war ſchon 
ein ganzer Haufen, und Felder hatte ihn ſorgfaͤltig ge⸗ 
ſammelt. Koepke hatte ihm dabei geholfen und ſorgte 
dafür, daß nichts fehlte. 

So hatte er alles um ſich herum in dem kleinen Raum, 


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* 


— 159 — 


5 was ſeines Lebens ganzen Inhalt ausmachte, und darum 


fuͤhlte er ſich wohl in ihm. 

Seine Familie bedeutete ihm ſchon ſeit langem nur 
ſo viel, als ſie ihm dieſe Heimat erhielt. Ihre Intereſſen 
waren nur noch in wenigen aͤußerlichen Dingen die ſeinen. 
Jeder ging ſeine eigenen Wege, und man war es beider⸗ 
ſeits zufrieden. Wenn er feiner Mutter zur Ausſchmuͤckung 
des Vorderzimmers die Wertpreiſe uͤberließ, ſo tat er es 
nicht nur, weil ſie ihn in ſeinem kleinen Zimmer be⸗ 
engten, ſondern hauptſaͤchlich, weil er auf ſie weit weniger 
Wert legte als auf ſeine Diplome und Medaillen. Er 
wußte nichts mit ihnen anzufangen. 

Ganz Herr ſeiner ſelbſt, mit eigenem Schluͤſſel zu 
eigenem Eingang, kam und ging er, wie er wollte, 
und laͤngſt war jeder Anſpruch ſeiner Familie an ſeine 
Zeit verſtummt. Von den heranwachſenden Geſchwiſtern 
zeigte keiner beſondere Luſt zu ſeinem Sport; daher inter⸗ 
eſſierten ſie ihn nicht. Sie gehoͤrten fuͤr ihn zu dem 
„anderen Teile“ der Menſchheit. . 

So war die einzige Veraͤnderung in ſeinem aͤußeren 


Leben eigentlich nur die, daß er ſeine Stellung aufgegeben. 
Als ſeine Beteiligung an den auslaͤndiſchen Konkurrenzen 


immer wieder die Bitte um Urlaub noͤtig machte, wurde 
der ſonſt ziemlich geduldige Chef unwirſch, und vor Felders 
engliſcher Reife ſagte er ihm, er möge zwar ein großer 
Schwimmer ſein, aber das koͤnne ihm doch fuͤr ſeinen 
eigentlichen Beruf nichts nuͤtzen, und er möge lieber feinem 
Sport etwas weniger Zeit opfern ... Wie der kleine 
Junge vor Jahren unter den Worten des Rektors, ſo baͤumte 
ſich jetzt der gefeierte Meiſterſchwimmer auf; aber er war 


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zu ſtolz geworden, um uͤberhaupt ein Wort der Entgegnung 


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zu verlieren. Er ging. Wenn man nicht wußte, wer er 


war, ſo ſollte man es bleiben laſſen oder es lernen. 
— Daß er zeitweilig ohne Stellung war, kuͤmmerte ihn 
wenig. Als er dann von England kam, war er durch 


die ihm gebotene Ehrenſumme jeder augenblicklichen Rot 
enthoben, und er arbeitete von da an nur, e | 
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Größer war die innerliche Veraͤnderung, die mit ihm 
vorgegangen war in dieſem Jahre. Als er von England 
als der unangefochtene Meiſter Europas zurückkehrte, fiel 
ſie zum erſten Male ſeinen Klubbruͤdern auf. Ernſt und 
ſchweigſam war er eigentlich immer geweſen, aber nie 
hatte ſich feine große Gutmuͤtigkeit und Freundlichkeit ver⸗ 
leugnet. Jetzt war etwas Strenges und Hartes in ſein 
Weſen gekommen, das ihm nicht eigen geweſen war. Wie 
er gegen ſich war, ſo wurde er auch nun gegen andere. 

Auch ſeine Unbefangenheit war nicht mehr dieſelbe. 
Er wußte, was er feiner Würde ſchuldig war, und war 
eiferfüchtig auf ſie. Er verlangte, daß fie reſpektiert werden 
ſollte, und hatte angefangen, darauf zu achten. Leichtig⸗ 
keit im Umgang hatte er nie beſeſſen, aber die Schwer⸗ 
faͤlligkeit ſeines Weſens war nie ſo hervorgetreten, wie 
jetzt, wo er nicht mehr im Hintergrunde ſtand. Bei den 
Sitzungen glaubte er an den Beratungen teilnehmen, in 
die Verhandlungen eingreifen zu muͤſſen. Da ihm die 
Gabe der Rede jedoch voͤllig abging, ſo vermochte er ſich 
nur unbeholfen auszudrucken, und man fand allgemein 


mit Recht, daß er beſſer taͤte, zu ſchweigen, wie bisher. 


Dennoch hatte man ſo viel Achtung vor ihm und ſeinem 


— 161 — 


leidenſchaftlichen Ernſt, ſeiner hingebenden Liebe zur Sache, 


daß man ihn geduldig anhoͤrte. 

Eine bisher fremde Ungeduld hatte ihn ergriffen; er 
wollte immer weiter und weiter, ohne doch recht zu 
wiſſen, wohin noch. Bei den meiſten Mitgliedern des 
Klubs aber, beſonders bei den aͤlteren, machte ſich eine 
gewiſſe Ermuͤdung nach ſo vielen großen und lauten 
aͤußeren Erfolgen geltend, und ſie verlangten mit groͤßerer 
Entſchiedenheit nach einer einheitlichen Ausbildung des 
Ganzen, nach einer ruhigeren Entwickelung, als bisher. 

Noch hatte Felder nichts an Freundſchaft und Achtung 
verloren. Im Gegenteil: feine Siege hatten ihm bes 
geiſterte Bewunderer erworben, die mit ihm durch dick 
und duͤnn gingen und bei denen er alles galt. Aber 
man fand den Verkehr mit ihm nicht mehr ſo bequem, 
wie fruͤher. Man fuͤhlte, hier mit Bedauern, dort mit 
Unmut, daß er nicht zufrieden war. 

Und ſo war es auch: in dieſer Zeit, die nach bei⸗ 
ſpielloſen Erfolgen die gluͤcklichſte und ſchoͤnſte ſeines 
Lebens hätte fein muͤſſen, war er nicht glücklich. 


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Ein Winter der Ruhe ſollte dieſem aufgeregten Sommer 
voll hoͤchſter Triumphe folgen. Der Verein hatte nach 
langen Debatten beſchloſſen, Felder nur auf ein einziges 
Winterfeſt zu ſenden, auf dem er den Wanderpreis der 
Stadt Charlottenburg zum dritten Male erkaͤmpfen mußte. 
Sonſt ſollte er ruhen, nicht trainieren und, wie Bruͤning 
laͤchelnd ſagte, ſich „in ſeinem eigenen Glanze ſonnen“. 
„Im naͤchſten Sommer wuͤrde es ſchon genug Arbeit 
geben, um das Gewonnene mit Ehren zu behaupten“, 
fügte Nagel in feiner bedaͤchtigen Weiſe hinzu. Er hatte 
ſich übrigens verlobt und fein Amt als Schwimmwart 
niedergelegt. 

Auch Bruͤning war in dieſem Winter meiſt von 
Berlin fort, und ſo war Felder mehr als vorher auf 
die Geſellſchaft feiner anderen Klubbruͤder angewieſen. 
Obwohl er mit allen mehr oder minder vertraut war, 
ſo verband ihn doch mit keinem eigentlich die enge 
Freundſchaft, wie mit jenen beiden, und ſein Vertrauen 
genoß nur noch Koepke. Aber der war immer da und 
zaͤhlte nur mit, wenn Felder ihn gerade brauchte. 

Eine der ſtuͤrmiſchen Klubſitzungen war vorüber. Es 
hatte irgendeine Streitigkeit mit einem anderen Vereine 
gegeben, bei der die Mitglieder verſchieden Partei ergriffen. 


— 163 — 


Obwohl Felder von der ganzen im Grunde gleichguͤltigen 
Geſchichte wenig begriff und ſie ihn obendrein nicht be⸗ 
ſonders intereſſierte, glaubte er es doch ſeiner Wuͤrde 
ſchuldig zu ſein, ein paar Worte mitzureden, und die 
waren wieder ſchlecht genug ausgefallen. Daß man ſeine 
unklaren und unbeholfenen Auseinanderſetzungen ſo ruhig 
und ohne zu laͤcheln hingenommen hatte, verdankte er 
nur ſeinem Ruhm 

Nun ging es noch in ein Café mit zwei anderen, denn 
man war noch viel zu erhitzt und aufgeregt, um ſchlafen 
zu koͤnnen. Es war das uͤbrigens fuͤr Felder in letzter 
Zeit eine Gewohnheit geworden, an die er vor einem Jahre 
noch gar nicht gedacht hatte. Jetzt aber: Geld hatte er 
ja, und ausſchlafen konnte er morgen auch 

Man ſaß in einem Cafe in der Leipziger Straße. 
In Felder nagte noch der Arger über ſich ſelbſt, und er 
ſprach kein Wort mehr. Um ſo lauter waren die beiden 
anderen; in leidenſchaftlicher Debatte ſuchten ſie ſich gegen⸗ 
ſeitig zu überzeugen, 

Felder hatte ſich eine Zeitung geben laſſen, las aber 
nicht, ſondern ſah ſich bewundernd um. Er war zum 
erſten Male hier. Er war nicht mehr der unerfahrene 
Junge aus dem Oſten Berlins, der nichts außer ſeinem 
Stadtteil kannte, ſondern ein gereiſter Mann, der Ver⸗ 
gleiche anſtellen konnte. Aber dies ſchien ihm doch eines 
der ſchoͤnſten Cafes zu fein, das er je geſehen hatte. 
Überall Gold und Marmor und Spiegel bis an die Decke 
hinauf; und dazu ſtimmte die Eleganz des Publikums, 
der ruhig⸗ vornehme Ton, der hier herrſchte und der ſelbſt 
ſeine Kameraden zwang, ihre lauten Stimmen zu daͤmpfen; 

115 


und die leiſe Art der Kellner, die in ihren blendend⸗ 5 f 
25 ee Schuͤrzen kamen und gingen, W 2 daß man es 


1 85 waren nicht ſehr viele Gaͤſte außer ihnen in dieſem 


Teil des Saales. An einem Tiſch unweit von ihnen 
ſaß ein Herr mit einer Dame, deſſen Geſicht er nicht 


ſehen konnte, da er ihm den Ruͤcken zudrehte. Die Dame 
war ſehr elegant gekleidet, ſaß zuruckgelehnt in ihrem 
Stuhl, und waͤhrend Felders Blick von der Betrachtung 
des Saales zu ihr zurückkehrte, bemerkte er, wie fie ihn 
anſah. Er blickte fort. Als er dann zufaͤllig nach einer 
Weile wieder zu dem Tiſch hinuͤberſah, ſah er noch immer 
ihre Augen auf ſich gerichtet, ſo feſt und unverwandt, 


bi 5 daß jeder Irrtum ausgeſchloſſen war, und er konnte ſich 


des Gedankens nicht erwehren, daß ſie ihn waͤhrend dieſer 
ganzen Weile ſo angeſehen haben mußte. Diesmal wandte 
er ſich noch ſchneller ab und betrachtete noch aufmerkſamer 
die Decke, die Wände und die übrigen Gaͤſte. Es war 
ihm unbehaglich, jo angeſtiert zu werden. q 

Dann — als er nach einigen Minuten wieder hin⸗ f 
ſchaute, überzeugt, dem eigentümlich feſten und ruhigen 
Blicke nicht mehr zu begegnen, ſah er die Dame un⸗ 
verändert wie vorher zuruͤckgelehnt in ihrem Stuhle figen 
und ihre Augen unverwandt auf ſeinem Geſichte ruhen. 
Diesmal begegneten ſich ihre Blicke: der Felders unruhig, 
herausfordernd⸗fragend, der der Fremden unveraͤndert 
ruhig, überlegen, faſt gleichgültig, als ſei es ſelbſtver⸗ 
ſtaͤndlich, daß ſie ihn in dieſer Weiſe muſtere; und ohne 
die geringſte Veraͤnderung, wie ihr Blick, blieb auch der 
Ausdruck ihrer Zuͤge. 


— 15 — 


Er wurde unruhig. Jetzt wußte er, daß er ſich nicht 
taͤuſchen konnte. 

Er ergriff eine Zeitung, ſtarrte verſtaͤndnislos auf eine 
politiſche Karrikatur der „Luſtigen Blätter“ und war ent⸗ 
ſchloſſen, nicht mehr aufzuſehen. 

Was ſollte denn das eigentlich heißen? — 

Warum ſtarrte die ihn denn ſo an? — 

So viel hatte er geſehen, daß ſie außergewoͤhnlich 
ſchoͤn war und koſtbar gekleidet. Sie trug ein über und 
uͤber beſticktes graues Seidenkleid und einen Hut mit 
großen Federn von gleicher Farbe. Auch glitzerte es uͤber⸗ 
all von Steinen an ihr — an ihren Haͤnden, in ihren 
Ohren, auf ihrer Bruſt. 

Er wollte nicht aufſehen, um nicht nochmals ihrem 
Blick zu begegnen. Als er aber dann, wie neugierig, ſich 
nach den anderen Tiſchen umſah und feine Augen eben: 
falls ſcheinbar gleichguͤltig uͤber den ihren ſchweifen ließ, 
ſah er, wie fie ſich zur Seite gewandt hatte, da ihr Be⸗ 
gleiter mit ihr ſprach und ſie ſich ihm zuwenden mußte, 
um zu antworten. Nun konnte er der Verſuchung nicht 
widerſtehen, ſie zu betrachten, und er ſah, daß ſie noch 
weit ſchoͤner war, als er dachte. Er hatte noch nie 
ein ſo ſchmales, feines Geſicht geſehen, ſolche zarte 
Haut, die weiß ausſah, wie gepudert und ſolch eigen⸗ 
tuͤmlich rote, ſchoͤn geſchwungene Lippen, dabei ſo 
viel Selbſtbewußtſein und zugleich Gleichguͤltigkeit in 
der aufrechten Haltung des Körpers ... Er konnte 
nicht fortſehen, ſo ſeltſam ſchoͤn erſchien ſie ihm, und 
er ließ ſie nicht mehr aus den Augen, wie ſie ſich 
jetzt etwas vornuͤberbeugte, um irgendeine Stelle in 


ee 1 ER 


2 beſſer zu ſehen, auf die ihr Begleiter ſie 
Als wenn fie fühle, daß er fie anblickte, ſah fie ploͤtz⸗ 
lich wieder auf, und wieder begegnete dem ſeinen der 
Blick dieſer großen, dunklen, von langen, ſchwarzen 


Wimpern beſchatteten Augen, die wieder ruhig und pruͤ⸗ 


fend, ohne Frage, aber mit durchaus unverhohlenem 
Intereſſe auf ihm ruhten. Diesmal ſtieg eine jaͤhe Roͤte 
in ſein Geſicht, und mit einer haſtigen Bewegung, die 
nur zu deutlich zeigte, wie ſehr er ſich erraten ſah, wandte 
er ſich ab. | 
Er war verlegen und aͤrgerte ſich. Er wäre am liebiten 
fortgegangen, wenn es möglich geweſen wäre ohne die 
anderen, die unbekuͤmmert weiter ſchwatzten. a 
Von jetzt an ſchaute er nur von Zeit zu Zeit auf, 
und jedesmal begegnete er dem Blicke dieſer Augen, der 
immer größer und immer willensfeſter zu werden ſchien, 
als wollte er ſagen: ich erkenne dich N 
Eine ſchwüle Beklemmung ſtieg in dem jungen Manne 
empor, wie er ſie noch nie empfunden. Er fuͤhlte, daß 
dieſe Frau etwas von ihm wollte. — Aber was? — 
Wer war ſie? — War der Herr mit den ergrauten 
Haaren ihr Mann? — Ihr Freund? — War ſie eine 
anſtaͤndige Frau oder war ſie — etwas anderes? 
Eine anftändige Frau war fie ſicherlich nicht. Eine 
anſtaͤndige Frau ſah einen fremden Mann nicht ſo an, 
aber eine oͤffentliche noch weniger. Die wäre Übrigens 
gar nicht in dieſes Café eingelaſſen worden. | 
Einerlei wer fie war. Er war er, Franz Felder, und 
er wußte, wer er war, und er ließ ſich nicht ſo anſehen. 


— 167 — 


Mit einer faſt veraͤchtlich⸗ausdrucksvollen Geberde kehrte 
er ſich ab und dem Geſpraͤch ſeiner Freunde zu. Man 
ſprach jetzt laut und ohne Ruͤckſicht auf die Ruhe des 
Cafes vom naͤchſten Schwimmfeſt. 

Felder hatte ſich feſt vorgenommen, uͤberhaupt nicht 
mehr nach dem Nachbartiſche hinzuſehen. Mochte die 
ihn doch anſtarren, ſo viel ſie wollte! — Er konnte es 
ihr nicht verbieten, aber er wollte ihr ſchon zeigen, was 
er von ihrem Benehmen dachte! 

Aber dann, nach einer Weile, waͤhrend der er ver⸗ 
gebens verſuchte, ſich am Geſpraͤch zu beteiligen, vernahm 
er ein Geraͤuſch: ein Kellner hatte einen Löffel fallen 
laſſen — das ihn auf und nach der Seite ſehen ließ, 
und unwillkuͤrlich ſtreifte fein Blick wieder den ihren wie 
vorher. Und jetzt ſah er, daß ſich der Ausdruck ihrer 
unbeweglichen Zuͤge geaͤndert hatte: es war ihm, als hoͤbe 
ſich die Bruſt unter der grauen Seide, als haͤtte ſich der 
feſtgeſchloſſene rote Mund ein wenig gedffnet, nur fo 
weit, daß er die weißen Zaͤhne durchſchimmern ließ, und 
als ſei in dieſe dunklen, kalten Augen das Feuer eines 
heimlichen Begehrens getreten, das nach ihm verlangte... 
Und jetzt war ihm nicht mehr ungemuͤtlich, ſondern ploͤtz⸗ 
lich unheimlich zumute. 

Wieder ſah er fort und wieder auf: abermals hatte 
der Ausdruck dieſes fremden, raͤtſelvollen Geſichtes ge⸗ 
wechſelt und an die Stelle drohenden Begehrens war der 
triumphierender Freude getreten, der zu ſagen ſchien: 
Aha, jetzt fürchteſt du mich ſchon! 

Er konnte es nicht mehr ertragen. 
Schon wollte er das Geſpraͤch ſeiner Genoſſen unter⸗ 


8 5 2 es und ſagen, er ſei müde und wolle fort, als er 
ſah, wie fich der alte Herr halb erhob und ſich fragend 
N * feine Begleiterin wandte, die bejahend den Kopf neigte. 


Er blieb ſitzen. Jetzt wuͤrde es kommen. Beim 


Hinausgehen würde er irgendein Zeichen von ihr em⸗ 1 
pfangen, und an ihm wuͤrde er erfahren, was fie von 


ihm wollte. 


Aber nichts von dem allen geſchah. q 
Ruhig ſtand fie auf, ließ ſich den koſtbaren Pelz um 
die Schultern legen, und ging hochaufgerichtet und mit 
leichten Schritten, und ohne ihn anzuſehen, an ihm vor⸗ 
über: Felder ſah auf, aber ihr Blick ging gleichgültig 
über ihn weg, und nur leiſe ſtreifte ſeinen Stuhl die 


Schleppe ihres Kleides, waͤhrend der ſtarke Duft eines 


ſeltſamen Parfuͤms von ihr ausging. Hinter ihr her der 


| 3 alte Herr, mager und ftraff, der Typus eines hoch: 


mutigen, ariſtokratiſchen Roués, mit feinen kalten und 
leeren Zügen, unnahbarer noch als fie... 

Felder blieb ganz verdutzt ſitzen. Er hatte ſo beſtimmt 
irgend etwas erwartet — was, wußte er ſelbſt nicht, 
aber irgend etwas Ungewoͤhnliches. Aber ſo: erſt ſtarrte 
ſie ihn eine halbe Stunde lang mit ihren ſchwarzen 
Augen an, wie ein Wundertier, ſich foͤrmlich an ihm feſt⸗ 
ſaugend, und dann ging fie fort und ſah über ihn hin⸗ 
weg, als ſei er Luft — Luft — Luft! — 

Unbewußt war ſeine Eitelkeit geſchmeichelt und nun 
fühlte er ſich ploͤtzlich in ihr verletzt. Sie ſaßen noch 
lange im Café, die drei, aber Felder war noch mißge⸗ 
ſtimmter als vorher, und faſt grob. In der Nacht, unter 
den heißen und ſchweren Kiſſen, traͤumte er von ihr: 


— 169 — 


von ihrer ſchlanken Geſtalt in dem grauen Seidenkleide, 
ihren drohenden Augen und dem ſeltſamen Rot ihrer 
gemalten Lippen 

Und noch nach Tagen glaubte er zuweilen den Duft 
zu ſpuͤren, der von ihr ausgeſtroͤmt war, als ſie an ihm 
vorbeiſchritt, dieſen ſtarken Duft eines ihm unbekannten 
Parfuͤms. 

Dann hatte er bald die „ganze blödfinnige Geſchichte“ 
vergeſſen, denn ein anderer Gedanke begann ihn zu be⸗ 


herrſchen — ganz und gar 


3, 


In dieſer Zeit, die die glücklichſte feines Lebens hätte 


fein müffen, war Franz Felder nicht glücklich. 


Alles, was er je in feinen kuͤhnſten Träumen kaum 
zu hoffen gewagt, hatte er erreicht; alle Siege, die uͤber⸗ 
haupt erlangbar waren, waren ihm zugefallen; was keinem 


Ie zuteil Dee: höchſte Ehren in fo frühen Jahren, 
e beſaß ſie 


Dennoch war er nicht zufrieden. 
Alles konnte er ertragen, nur nicht dieſe Ruhe nach 


bſolchen Siegen. 


Ihn dürſtete nach neuen und größeren Erfolgen, 


| wie der Trinker, deſſen Durft ſich mit jedem neuen 


Glaſe vermehrt — er begehrte etwas Neues, noch nie 

Dageweſenes 5 
Groͤßere Siege gab es nicht, ſo konnten es nur außer⸗ 

gewoͤhnlichere ſein. f 
Eine Idee tauchte wieder in ihm auf, die ihn ſchon 


oft beſchaͤftigt und ließ ihn nicht mehr los. 


Er war Schwimmer, ausſchließlich Schwimmer. Als 


Schwimmer war er vom beften feines Klubs allmaͤhlich 


der Meiſter Europas geworden. 
Ein ausgezeichneter Taucher war er ſchon als kleiner 
Kerl geweſen, und er wuͤhlte immer noch zuweilen unter 


— 171 — 


dem Waſſer herum, um die Kraft ſeiner Lungen zu er⸗ 
proben und aus reiner Luſt. Aber an den Konkurrenzen 
der Teller⸗ und Hechttauchen hatte er nie teilgenommen. 
Sie waren ihm immer als etwas Minderwertiges vor⸗ 
gekommen. 

Im Springen dagegen hatte er es uͤber den glatten 
und ſchoͤnen Kopfſprung, mit dem er ſtets ins Waſſer 
ging, nicht herausgebracht. Andere Spruͤnge hatte er 
früher wohl gekonnt und noch manchmal verſucht — 
aber immer nur ungern, und dann war er regelmaͤßig 
ſo aufgeſchlagen wie alle anderen, die ſie nicht ſtaͤndig 
übten. Endlich waren ſie gaͤnzlich gegen ſein Schwimm⸗ 
training zurückgetreten und über ihm in Vergeſſenheit 
geraten. Er konnte keinen einzigen mehr ordentlich. 

Daher hatte er ſich an den Mehrkaͤmpfen im Schwimmen, 
Springen und Tauchen, aus denen der als Sieger hervor⸗ 
geht, der die groͤßte Anzahl von Punkten in allen drei 
Arten aufweiſt, nie beteiligt und nie daran denken konnen, 
es zu tun. Aber nie hatte er in den letzten beiden Jahren 
ſeiner beiſpielloſen Triumphe ein Gefuͤhl des Mißmuts 
ganz unterdrücken konnen, wenn er ſehen mußte, wie 
bei den Preisverteilungen noch andere als er zu Meiſtern 
ernannt wurden, zu Meiſtern im Mehrkampf und Springen, 
und gleiche, wenn auch nie ſo beiſpielloſe Ehren genoſſen 
wie er. Beſonders ſtark war dieſes Gefuͤhl — mehr ein 
Gefühl der Unbefriedigung, kein Gefühl des Neides, denn 
kleinlich war er nicht — im letzten Jahre geworden, wo 
es dem Verwoͤhnten ſchwerer und ſchwerer wurde, mit 
anderen zu teilen. 

Sein Ehrgeiz ließ den Gedanken nicht ruhen und 


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= — 172 — 


ſchürte ihn immer von neuem: ſollte es denn nicht moͤg⸗ 1 


lich ſein, auch dieſes Gebiet für ſich zu erobern, auf ihm 
gleiche oder doch aͤhnliche Triumphe zu erlangen, wie 
auf ſeinem eigenſten, und wenigſtens einzelne Mehr⸗ 
kampfpreiſe an ſich zu reißen? — Im Tauchen würde 


es ihm leicht gelingen, ſich durch einfache Übung ohne 


große Anſtrengung ſo lange „unter Waſſer zu halten“, 
wie die anderen; Übung und eine normale Lunge ge: 
nügten hier vollkommen. Und erſt die feine! — 

Aber im Springen?! — Er hatte bei ſeiner Ein⸗ 
ſeitigkeit die anderen Sports ſo gaͤnzlich vernachlaͤſſigt, 
z. B. nie geturnt; er war kein Knabe mehr, deſſen 
Muskeln noch weich und nachgiebig gegenüber allen Ans 
forderungen, ſich auszubilden, waren — und hier kam 
nicht nur Ausdauer und Übung in Betracht, ſondern 
jene ſpezifiſche Begabung, die ihn gerade auf feinem 
Gebiet zu dem einzigen Schwimmer gemacht hatte. — 

Die Frage war: konnte ein erſter Schwimmer uͤber⸗ 
haupt ein erſter Springer ſein, und umgekehrt? N 

Die Erfahrung ſprach dagegen. Es gab erſtklaſſige 
Schwimmer, die hervorragend gute Springer waren, und 
umgekehrt. Die einen oder anderen waren es gewoͤhn⸗ 
lich, die ſich daher die erſten Mehrkampfpreiſe holten, 
indem ſie durch die eine Fertigkeit erſetzten, was ihnen 
an der anderen fehlte, und nur ſelten verſcherzte ſich 
einer von ihnen durch ſchlechtes Tauchen den Preis. 
Aber daß ſich ein und derſelbe auf einem Feſte an zwei 
erſten Einzelkonkurrenzen auf verſchiedenen Gebieten be⸗ 
teiligt hatte, das war wohl noch faſt nie dageweſen, 
und haͤtte jedenfalls mit der ſicheren Niederlage auf dem 


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= einen der beiden Gebiete geendet. Daher fielen die Preiſe 


hierhin und dorthin, und der Klub genoß die hoͤchſte 
Ehre, dem es gelungen war, nicht nur erſte Schwimmer, 
ſondern auch erſte Springer heranzubilden. So beſaß 
der S.⸗K. B. 1879 neben dem Meiſterſchwimmer Felder 
den unübertrefflichen Springer Grafenberger. 

Felder wußte dies alles ganz wohl. 

Aber er kam von ſeinem Gedanken nicht mehr los. 


Es nutzte alles nichts. Er ertrug es ſchon nicht Länger, 


andere neben ſich als ebenbuͤrtige Meiſter gleich gefeiert 
zu ſehen — einmal, einmal mußte er das Hochgefuͤhl 
ganz auskoſten, allein, ganz allein unter dem Jubel 
des Tages dahin zu ſchreiten —: keinen neben, alle 


hinter ſich. 


Wenigſtens mußte er verſuchen, ob es ihm nicht ge⸗ 
lang, durchzuſetzen, was er plante. - 
Mit der alten, zaͤhen Entſchloſſenheit, der ganzen 
Verbiſſenheit in ſein neues Ziel, ging er auch diesmal 
ans Werk. Er wollte vorab nichts verlguten laſſen. Ein⸗ 
mal, weil er nicht ausgelacht werden wollte, wenn die 


Sache mißlang; dann aber, weil er ganz gut wußte, 


daß mit feinen beiſpielloſen Erfolgen ihm überall Neider 
entſtanden waren, die es ſicher an gehaͤſſigen Bemerkungen 
nicht fehlen laſſen würden, wenn fie ſahen, wie er, immer 


noch nicht zufrieden, weiter und weiter die Haͤnde nach 
den Lorbeeren anderer ſtreckte .. 


überhaupt war es ganz ausgeſchloſſen, daß er ſich 


unter aller Augen ploͤtzlich im Springen verſuchte. Er 


konnte ja nicht mehr im Bade erſcheinen, ohne daß man 


ihm auf Schritt und Tritt nachging und jede feiner Be: 


wegungen verfolgte. Beim Schwimmen ftörte es ihn 
nicht, und er hatte ſich laͤngſt an die leiſe gefluͤſterten 
Worte und die neugierigen Blicke gewöhnt. Aber bei 
dem, was er jetzt vorhatte, haͤtte es jeden Verſuch von 
vornherein vereitelt. 

Er mußte einen Ort ausfindig machen, an dem er 
ungeftört feine neuen Übungen anſtellen und ſich fo weit 
ausbilden konnte, um mit einiger Sicherheit vor ſeinen 
Klub an den Übungsabenden hintreten zu konnen. Das 
war nicht einmal ſchwer. Berlin, ſo arm an Winter⸗ 
ſchwimmhallen, beſaß neben ſeinen am meiſten beſuchten 
Volksbadeanſtalten und den ein, zwei großen privaten 
Hallen in dem einen oder anderen Stadtteil noch ein 
oder zwei Baſſins, unbrauchbar fuͤr die Schwimmfeſte 


ihrer Kleinheit wegen, gekannt nur von wenigen alten 


Stammgaͤſten und gehalten von ihren Beſitzern nur als 
unfruchtbarer Anfang zu ihren Etabliſſements, weil ſie 
nun einmal da waren. Ein ſolches Bad lag ganz im 
Suͤden der Stadt, jenſeits des Halleſchen Tores — vers 
laſſen von aller Welt und als Schwimmbad ſeit langer 
Zeit vergeſſen und kaum mehr genannt. Ob es noch 
exiſtierte, wußte ſelbſt Felder nicht, der hier vor Jahren 
einmal geweſen war, um der kleinen Veranſtaltung 
irgendeines laͤngſt eingegangenen Klubs beizuwohnen. 

Das war, was Felder jetzt brauchte, und eines Abends 
unternahm er eine heimliche Orientierungsreiſe nach dem 
Süden der Stadt. 

Er fand ein dunkles, tiefes Loch, gefuͤllt mit einer 
ſchwarzen, kalten Fluͤſſigkeit, völlig ungeeignet zum 
Schwimmen, da Felder es mit einem einzigen ſeiner 


— 15 — 


Stöße in die Länge und einem halben in die Breite 
durchmaß, aber von genuͤgender Tiefe, ſelbſt fuͤr die ge⸗ 
raden Spruͤnge, und leidlich erhaltenen Sprungbrettern 
in zweifach verſchiedener Hoͤhe. Einmal in der Woche 
uͤbte hier der Schwimmklub einer Schule, der mit ſport⸗ 


lichen Kreiſen in keiner Beruͤhrung ſtand; ſonſt badeten 


nur morgens ganz fruͤh und abends nach der Arbeit ein 
paar Taͤglichſchwimmer hier, die es „nicht laſſen konnten“, 
wie der verſchlafene Bademeiſter meinte, der Felder nicht 


einmal den Namen nach kannte. 


Dieſer entſchloß ſich ſogleich, nachdem er einige Ver⸗ 


ſuchsſpruͤnge gemacht hatte. Hier würde ihn ſicher nie⸗ 


mand finden. Wenn er allwoͤchentlich einmal auf den 
Übungsabenden (wenn hier die Lehrer mit ihren Schülern 
hierherkamen) und ein anderes Mal auf den Sitzungen 
ſeines Klubs erſchien, wenn er zudem nach wie vor die 


Sonntage mit ſeinen Leuten verbrachte, ſo konnte es nicht 
weiter auffallen, daß er regelmaͤßig die vier anderen 
Abende fortblieb. Außerdem erwartete jetzt auch kein 


Menſch mehr von ihm, daß er wie bisher weitertrainierte. 
Und ſchließlich war er doch eben auch der beruͤhmte Franz 


EL Felder, der tun und laſſen konnte, was er wollte, und 


den ſo leicht keiner mehr danach fragen durfte. 
Zuſtatten kam ihm, daß die Arbeitszeit in der großen 


mechaniſchen Werkſtaͤtte, in der er jetzt wieder eine Stelle 
angenommen hatte, nur bis ſechs Uhr dauerte. Wenn 


er auf den Weg eine Stunde rechnete, ſo konnte er um 
ſieben am Halleſchen Tor ſein. Die Kaſſe des Bades 


* ſchloß um acht; das Bad ſelbſt um neun Uhr. Es blieben 


ihm alſo zwei Stunden — viel zu viel für jeden ans 


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> X 9 “ * * 
= — 1 1 
RS R noch zu wenig für ihn und für das, was er 1 


vorhatte. N 
Vom Entſchluß zur Ausführung war für Felder nur 
ein Schritt. Die ganze Hartnaͤckigkeit ſeines Willens 
zeigte ſich jetzt von neuem. Viermal die Woche, jeden 
Montag und Dienstag, jeden Donnerstag und Freitag, 
machte er nach der Arbeit den weiten Weg nach dem 
Süden, uͤbte friſch, als wenn er nicht von der Arbeit, 
ſondern aus dem Bette kaͤme, feine Sprünge, von den 
einfachſten allmaͤhlich zu den ſchwierigeren uͤbergehend, 
und endlich die ſchwierigſten — treu, unermüdlich, taͤg⸗ 
lich von neuem die Kraft feines Körpers in dem fremden 
und ungewohnten Kampfe erprobend, und nie beruhigt 
über feine Fortſchritte, nie zufrieden. 
Wie er früher geſchwommen und nur geſchwommen 
hatte, ſo ſprang und ſprang er jetzt. Alles Gelernte 
durchging er jeden Abend von neuem, um ſicher zu ſein, 
nichts gegen geſtern eingebüßt zu haben, und täglich ging 
er einen Schritt weiter. Zunaͤchſt wiederholte er die ein⸗ 
fachen Sprünge, die er als kleiner Knabe dort draußen 
in dem Kaſten an der Spree halb im Spiel gelernt, 
aber faſt vergeſſen hatte, und ſah mit Freude, daß er ſie 
noch konnte: das einfache Abfallen und den „Abbrenner“, 
ſowie die leichteſten Formen der Kopfiprünge, in ihren 
verſchiedenen Arm⸗ und Beinhaltungen, das Anlegen, 
Anziehen, Strecken, Spreizen derſelben. Dann dieſe ſelben 
Kopfſprünge in ihren verſchiedenen Drehungen, der viertel, 
halben und ganzen Drehung um die Laͤngsachſe, vor⸗ 
waͤrts und ruͤckwaͤrts, und wiederum dieſelben mit An⸗ 
legen oder Hochheben der Arme, alle dieſe ſogenannten 


— 17 — 


„Schrauben.“ Alsdann die Hechtſpruͤnge, die Bohrer, 
bei denen man ins Waſſer ſchoß wie ein Pfeil, und auch 
dieſe in ihren mehrfachen Armhaltungen und Drehungen 
beim Niedergehen. Endlich die „Schlußſpruͤnge“, dieſe 
ſchwierigen Spruͤnge mit ihren wunderbaren Drehungen 
um die Breitenachſe, die bis zur eineinhalb, ja zwei⸗ 
einhalbfachen Drehung des ganzen Koͤrpers gingen, die 
ſo beruͤhmten „Saltos“, bei denen der Springer ſich in 
der Luft um ſich ſelbſt dreht wie ein Ball, Spruͤnge, 
die in ihrer Vollendung von ungeheurer Schwierigkeit 
e ſind und daher ſelten mit der hoͤchſten Nummer ſechs 
gewertet werden konnten, da ſie nur dem Geuͤbteſten 
A gelangen. Ganz zuletzt noch die Spreizſpruͤnge, jene ſo⸗ 
genannten Auerbachiprünge, bei denen das regelrechte 
Spreizen der Beine die Hauptſache war... 

Daneben aber galt es einen großen Teil aller dieſer 
unendlich verſchiedenfachen Sprünge zu üben in ihren 
wiederum ſo verſchiedenen Anſaͤtzen: aus dem Stand oder 
1 mit Anlauf; und ſodann die aus dem Stand in ihrer 
beim Abſpringen angenommenen Haltung: vorwaͤrts, 

ruͤckwaͤrts, ſeitwaͤrts. Endlich aber fie noch zu beherrſchen 
von verſchiedener Sprungbretthöhe aus, der niedrigen von 
einem, der mittleren von drei, der hohen von ſechs 
Metern aus. 

» Selbſtverſtaͤndlich war es ein Unding, alle dieſe 

14 Spruͤnge in allen ihren verſchiedenen Ausfuͤhrungsarten 
ſich zu eigen zu machen. Kein Menſch konnte das, und 
Felder dachte auch gar nicht daran. Worauf es ihm an⸗ 

kam, war nur, ſich einige der ſchwierigen, und wenn 
möglich die ſchwierigſten, bis zur Sicherheit einzulernen, 
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7 — 178 — 


vbveeoer allem die, welche bei den Konkurrenzen gewöhnlich 
verlangt wurden; und ſich ſodann einige andere ebenfalls 
dis zur Vollendung zu eigen zu machen, um fie als 


ſelbſtgewaͤhlte Sprünge, im „Kürſpringen“, ins Treffen 


wu führen. 


Borerft durfte er an die Erreichung dieſes Zieles noch 
gar nicht denken und mußte froh ſein, wenn er die ein⸗ 
fachen Sprünge, die, „welche jeder konnte“, lernte. Denn 
eigentlich konnte er noch gar nichts und war ſich auch 
ganz klar darüber. 

So übte er einſtweilen und war froh, es ſo unge⸗ 
ſtört und unter den Augen ſeiner eigenen Kritik tun zu 
konnen. . | 

Denn feine Berechnung taͤuſchte ihn nicht. Er konnte 


Be: ruhig fein, daß ihn hier niemand fuchte und fand. Die 


Schwimmklubs hatten ſaͤmtlich ihre beſtimmten Abende 
in den anderen Baͤdern, an die ſich ihre Mitglieder hielten, 
und ſonſt waren es immer dieſelben paar Gaͤſte, die den 
alten müuͤrriſch⸗ſchweigſamen Bademeiſter abends aus 
feinem Winterſchlaf für eine Weile aufftörten: ein fana⸗ 
tiſcher Naturmenſch, der durch den tiefſten Schnee in 
bloßen Sandalen herkam, um ſich unter der kaͤlteſten 
Duſche zu erwaͤrmen; ein uralter Doktor, Medizinal⸗ 
rat uſw., der auf den Schlag der Stunde kam, ſich ge⸗ 
raͤuſchlos entkleidete und feinen duͤrren Körper für genau 
zwei Minuten am unterſten Ende des Baſſins ins Waſſer 
tauchte, wobei er ſich krampfhaft an der Leiter feſtklam⸗ 
merte; ein kleiner Judenjunge, der auf den Befehl feiner 
Eltern kam, die es offenbar fuͤr ſehr geſund hielten, wenn 
er ſich nach langem Zaudern endlich entſchloß, ins Waſſer 


— 179 — 


zu ſpringen, einmal herumzuſchwimmen, und dann eine 
bhalbe Stunde lang noch bebend vor Angſt und zitternd 
vor Froſt mit bloßen Füßen auf dem kalten Steinboden 
rn zu ſtehen, und mit großen, ſtaunenden Augen Felders 
Sſpruͤngen zuzuſehen; und dann noch einer oder zwei 
von denen, die es „nicht laſſen konnten“ — keine großen 
Schwimmer, aber paſſionierte Waſſerratten, denen dieſe 
koͤſtliche Erfriſchung einer täglichen Hautreizung Bedürfnis 
geworden war. 
1 Keiner von ihnen allen wußte, wer Felder war und 
was ihn hierher brachte. Er trug ein einfaches Trikot 
und eine Badehoſe ohne jedes Abzeichen, die er ſich zu 
dieſem Zwecke gekauft hatte — das erſtemal feit für ihn 
undenkbarer Zeit, daß er die blauweißen Farben feines 
Klubs nicht führte... 

Ein ſeltſames Bild, dieſes jeden Abend: der nicht 
große, aber hohe Raum halb im Dunkeln, nur ſchlecht 
beleuchtet von ein paar flackernden Gasflammen, und 
unregelmäßig, oft kaum erwärmt. Das ſchwarze, ſtille 
Waſſerbecken, eine hohle Tiefe ohne Grund. Hier und 
da hinter den verhaͤngten Niſchen ein vereinzelter Bade: 
gaſt, der ſich langſam auszieht, langſam ins Waſſer geht 
und langſam wieder heraus. Kein Rufen und Laͤrmen, 
wie ſonſt in allen Baͤdern — kaum ein Geſpraͤch; ein 

eiſiges, unheimliches Schweigen, einzig unterbrochen zus 
weilen durch das ploͤtzliche Schnauben des Dampfes, der 
an einer fehlerhaften Stelle der Waͤrmeroͤhren pfeifend 
herausſchießt, um wie eine Sommerwolke ſchnell zu ver— 
fliegen. Dann kommt Felder, greift raſch mit einem 


kurzangebundenen „Guten Abend“ nach feinen Sachen, 
12˙ 


# und nach wenigen Minuten bereits hallt und rauſcht 
das Waſſer unter ſeinen erſten Spruͤngen. Da gibt es 
nicht erſt lange Abkühlung und Abreibung und bedaͤchtiges 
Überlegen: ein einziges Emporſtrecken der Arme, ein 
Diehnen des dampfenden Körpers, dann ein feſtes Auf- 
8 ſetzen und er iſt in ſeinem Element. Und nun bebt und 
droͤhnt für die naͤchſte Stunde das Sprungbrett wieder 
und wieder unter den unermüdlichen Füßen, und das 
ſchlafende Waſſer gurgelt und grollt leiſe bei den Sprüngen, 
die gelingen, wenn der Koͤrper es wie ein Pfeil durch⸗ 
ſchneidet; und es knallt und ſpritzt hoch auf zu den 
Waͤnden bei denen, die mißlingen und die ihn flach auf⸗ 
ſchlagen laſſen, wie ein Breit ... und es hat nicht Zeit 
mehr ſich zu beruhigen, bis Felder endlich atemlos, rot 
wie ein Krebs und völlig erſchoͤpft — eine Pauſe machen 
muß, in der er in irgendeiner Ecke auf einer Bank liegt 
N und, die Hände unter dem Kopf gefaltet, zu dem ſchmutzigen 
Glas dach emporſieht. u 
Kaum wieder zu Atem gekommen, beginnt er das 
Spiel von neuem und von neuem: immer ſchwieriger 
3 werden feine Sprünge, immer intenſiver die Anſpannung 
ſeiner Muskeln und immer peinlich⸗genauer ihre Aus⸗ 
führung, und wieder gellt und ſchreit das Waſſer unter 
den Schlaͤgen dieſer Haͤnde, und grollt und ſchaͤumt und 
. murrt noch, wenn Felder ſchon wieder auf dem Brett 
ſteht, waͤhrend der kleine Junge zitternd vor Kaͤlte mit 
"TR feinen immer erſchrockenen Augen den rätjelhaften Springer 
= verfolgt und in der Ecke faͤuchend 1 
Minute aus der zerplatzten Röhre ſchießt. 1 


a ce Er 


n 3 — dauerte dieſes neue er und 125 
ſeltſame Training: in den erſten Wochen ſprang Felder 
ſtets allein, denn es kam ihm zunaͤchſt darauf an, ſeine 
Glieder fuͤr die neuen Anforderungen gelenkig zu machen. 
Dann, als er von den einfacheren zu den ſchwierigeren 
Spruͤngen übergehen mußte und fie nicht mehr il 5 ® 
kontrollieren konnte, brauchte er jemand, der ſie men, 
einigermaßen zu bewerten vermochte, und er vertrau 
ſich nach Abnahme eines heiligen Ehrenwortes feinem ges 5 
treuen Koepke an. Der hatte ſich ſo lange im Schwimmer⸗ 
leben umhergetrieben, daß er wenigſtens etwas von der 
Sache verftand; und daß er Feuer und Flamme für die neue 75 
Idee war, verſtand ſich von ſelbſt — erwartete er doch Ze 
| immer das Unmoͤglichſte von feinem großen, genialen 
Freunde. Von da an mußte Koepke faſt alle Abende 
dabeiſtehen, wenn Felder ſprang, und er tat es mit 
Wonne. * 
Vorher machte Felder indeſſen noch eine neue de en 
kanntſchaft. ü 


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4, 


Er hatte wieder ein Ziel und war wieder glücklich, - 

Was ihn eine Zeitlang in ſeinen Strudel gezogen, 
der Rauſch ſeines Ruhmes und fremder, lauter Ver⸗ 
gnügungen, war in dieſer Zeit faſt von ihm vergeſſen 
und lag unbegehrt hinter ihm. Zuweilen vergaß er ganz, 
wer er war, und im Klub fand man wieder, daß er den 
„Meiſterſchwimmer“ nicht mehr ſo ſtark herauskehre, 


wie nach ſeiner Rückkehr von England. So ſtellte ſich 
bald das alte, trauliche Verhaͤltnis mit ſeinen Genoſſen 
wieder her und die feſtlichen Veranſtaltungen des Winters 
ſtrahlten auch auf Felder ihre alte Froͤhlichkeit aus. Daß 


er nicht mehr ganz fo oft wie früher unter „den Seinen“ 
erſchien, fiel nicht weiter auf; ſelten, daß er gefragt wurde 
und eine ausweichende Antwort geben mußte. 
Noch hatte er ſein Geheimnis auch an Koepke nicht 
verraten. | 
Abend für Abend machte er nach der Arbeit den weiten 
Weg vom Norden der Stadt nach dem Süden, fuhr erſt 
eine Zehnpfennigſtrecke mit der Pferdebahn und ging dann 
den Reſt des Weges mit ſeinen feſten elaſtiſchen Schritten 
die breite Lindenſtraße hinunter, an den glaͤnzenden Laͤden 
und den Staͤtten der Erholung und Freude, wie an ſeinem 
eigenen Klublokal vorüber, feiner neuen Arbeit zu — mit 


. 


Au HER a = 
. — 183 — 


dem Ausdrucke innerer Entſchloſſenheit in den Zügen, als 
ginge es ſchon zu neuen Siegen. 
Mit dem Streben nach ſeinem neuen Ziel war er 
wieder ganz zu der Einfachheit der Gewohnheiten ſeiner 
beduͤrfnisloſen Jugend zuruͤckgekehrt. Nie hatte er feine 
Tagesarbeit unverdroſſener und ftiller getan und nie waren 
ſeine Gedanken weniger bei aͤußerlichen Vergnuͤgungen 
und Zerſtreuungen geweſen, als jetzt. Wie fruͤher trug er 
ſein Abendbrot, ein paar belegte Stullen, in der Taſche 
mit ſich und verzehrte es beim Ankleiden oder auf dem 
Heimweg aus der Hand. Das war das Einfachſte und 
das Billigſte und es nahm ihm nichts von ſeiner Zeit. — 
Obwohl er zu feinen heimlichen Übungen kam und 
ging, ohne ſich umzuſehen, machte ſich eine Bekannt⸗ 
ſchaft ſchon in den erſten Wochen wie von ſelbſt. Unter 
den paar abendlichen Stammgaͤſten erſchien auch ziem- 
lich regelmaͤßig ein Arzt, Dr. Koͤnig, wie ihn der Bade⸗ 
meiſter nannte. Ein guter Schwimmer, nahm er ſein 
Bad der Geſundheit wegen, ließ ſich Zeit beim An⸗ und 
Auskleiden, und nachdem man ſich erſt den guten Abend 
gewuͤnſcht und der Doktor des oͤfteren ſtillſchweigend den 
rraͤtſelhaften Spruͤngen Felders zugeſehen hatte, wechſelten 
ſich die erſten Worte ohne viel beiderſeitiges Zutun. 
Dann traf es ſich das eine Mal, daß man zuſammen 
hinausging, und ein anderes Mal, daß der Doktor Felder 
traf, wie er in dem dunklen Torweg des Hauſes ſeine 
Stulle aus der Taſche zog und kraͤftig hineinbiß. Nach 
ein paar Tagen ſtellte es ſich heraus, daß der Doktor 
wußte, wer Felder war, da er die Sportzeitſchriften las 
und ihn nach den Bildern erkannt hatte, worauf Felder 


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& . in dieſem entlegenen Bade zu erklaͤren und die 

Bitte auszuſprechen, ſie einſtweilen geheim zu halten. 
Geiß haͤtte Felder nach feiner gewohnten, unveraͤndert 
mißtrauiſchen und zuruͤckhaltenden Art dieſe unfreiwillige 
Beekanntſchaft von vornherein abgeſchnitten, wenn ihm 
die einfache und freundliche Art des Doktors nicht ſym⸗ 
pathiſch geweſen wäre. Dazu kam das große Intereſſe, 
das dieſer an ſeinem Plane faßte. Kurz, nachdem ein 
1 Wort das andere gegeben und zu einer ftetigen Untere 
haltung geworden war, war es nur natürlich, daß man 
dein paarmal das Stüc des gemeinfchaftlichen Heimweges 
jiuſammen ging und gelegentlich noch irgendwo ein Glas 
Bier trank. So konnte es auch Felder nicht abſchlagen, 
als ihn der Doktor in feiner liebenswuͤrdigen Weiſe eines 

Abends bat, ſein Abendeſſen in einem Reſtaurant zu teilen 
wovon der Stulle war nie die Rede geweſen), und eben: 
ſowenig mehr nein ſagen, als aus dieſer Einladung ein 
naͤchſtes Mal die zu einer Taſſe Tee in des Doktors 
eigener Wohnung wurde. Dieſe Einladung wiederholte ſich 
dann im Laufe des Fruͤhjahres noch einige Male. 

Zum erſten Male tat Felder einen Blick in die ihm 
völlig fremde Welt einer höheren Lebensführung, erfüllt 
von geiſtigen Intereſſen und gelenkt von ſicherem Geſchmack. 
Denn der Dr. König war ein weitgereiſter Mann, ein 
tuchtiger Arzt von Ruf und ein guter Pſychologe, der 
die freie Zeit ſeines Lebens auf jede Art zu einer Art F 
Kunſtwerk zu geſtalten beftrebt war. = 

Er erfannte natürlich bald die ungeheure Einfeitigkeit 
Felders und daß man mit ihm eigentlich nur über eine 


5 Sache ernſtlich reden konnte. Fuͤr alles andere taub und 
1 blind, exiſtierte es einfach nicht fuͤr ihn, ſetzte er jeder 
anderen Unterhaltung das Schweigen abſoluter Intereſſe⸗ 
lloſigkeit und eines geradezu kraſſen Unverſtaͤndniſſes ent⸗ 
gegen, und war erſt wieder zugaͤnglich, wenn die Rede 
wieder auf jenes Eine zuruͤckkam, oder er ſelbſt ſie naiv oder 
bruͤsk dahin zuruͤckgezwungen hatte. Das hätte den fo viel: 
ſeitigen Älteren und Erfahreneren bald langweilen muͤſſen, 
ſollte man meinen. Aber im Gegenteil: der Doktor war, 
wie geſagt, Pſychologe, und ihn haͤtte dieſe unglaubliche, 
auf ſo eiſernen Willen geſtuͤtzte Beſchraͤnktheit intereſſiert, 
auch wenn ſie ſich nicht auf dies ſpezielle Gebiet erſtreckt 
haͤtte, für das er ſelbſt eine beſondere Vorliebe hegte und 
dem er als Arzt eine fo große Bedeutung in der Ge: 
ſundheitspflege zuſchrieb. 

So gab er denn ſchon nach wenigen Geſpraͤchen jeden 
Verſuch auf, mit dem „Meiſterſchwimmer“ uͤber irgend 
etwas anderes zu ſprechen, als was ihn und ſeine Kunſt 
betraf, und beſchraͤnkte ſich darauf, ihm gutmuͤtig zu⸗ 
zuhören, wenn er in weitſchweifiger Weiſe von feinen 
Erfolgen ſprach; oder zu verſuchen, den Horizont des jungen 
Mannes wenigſtens auf feinem eigenſten Gebiete zu er 
weitern, indem er ihm von der Entwickelung des Bade: 
weſens in früheren Epochen erzaͤhlte. Über dieſe Zeiten 
fehlte nun zwar Felder jeder Begriff; aber er hoͤrte doch 
mit geſteigertem Intereſſe zu, wenn der Doktor in ſeiner 
ruhigen Weiſe und vertieft in die Erinnerung an feine 

Reiſen nach jenen klaſſiſchen Staͤtten, erſt von dem Leben 
jener alten Römer ſprach, die den halben Tag in ihren 
wunderbaren Baͤdern verbrachten; wenn er ſie in an— 


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2 


ſchaulicher Schilderung aus ihren braunen Trümmern 


wiedererſtehen ließ: die unerhoͤrte Pracht jener Thermen 
des Caracalla und des Diokletian, die in jener Zeit zu 
Öffentlichen Wohnſtaͤtten geworden waren, in denen die 
Römer den größten Teil ihres Lebens lebten und die fie 
zuletzt nur noch verließen, um ſich zu ihren uͤppigen 
Mahlzeiten und den blutigen Schauſtellungen der Arenen 
und des Koloſſeums zu begeben. Das mußte eine Zeit 
nach Felders Herzen geweſen ſein, und er wuͤnſchte, in 
ihr gelebt zu haben: den ganzen Tag im Bade und den 
halben im Waſſer — was konnte es Schöneres geben! — 
Und er hoͤrte dem Erzaͤhler weiter zu, wenn dieſer 
von dem waſſerſcheuen Mittelalter mit ſeiner Verpoͤnung 
des freien Badens und den langen Jahrhunderten des Da: 
niederliegens des Schwimmens ſprach und ſo gemach auf die 
Wiederbelebung der Schwimmkunſt am Anfange des eigenen 
Jahrhunderts und hier in Berlin kam, um endlich bei der 
Jetztzeit und damit, wie von ſelbſt, bei ihm, Franz Felder, 
gewiſſermaßen als der Krone des Ganzen, zu enden 
Wenn es ſo weit gekommen war, wurde auch der 
Zuhörer warm, und ein Geſpraͤch über alle möglichen 
die Schwimmkunſt betreffenden Fragen entſtand zwiſchen 
den beiden, das ſich bei einer Taſſe Tee oder einem Glaſe 
Bier in dem gemütlichen, warmen, von dem Duft des Karbol 
leicht durchzogenen Zimmer des Arztes oft bis zur Zeit 
von Felders letzter Pferdebahn nach dem Norden hinzog. 
Man war ganz zufrieden miteinander: Felder hatte 
jemand, der ihm freundlich zuhdrte, und der Doktor 
machte eine pſychologiſche Studie, von der der ewe 5 
allerdings nichts ahnte. 2: 


. 


4 Es war die Bekanntſchaft mit Dr. König, die für 
Felder eine zweite nach ſich zog. Eines Abends erſchien 
im Bade ein großer, ſtarkknochiger Herr in guter, aber 
ſchlechtſitzender Kleidung, mit großen Haͤnden und ſcharfem 
Blick, den der Doktor als ſeinen Freund vorſtellte. Er 
badete nicht ſelbſt, ſah aber den Spruͤngen Felders mit 
hoͤchſtem Intereſſe zu und ließ ihn nicht aus den Augen, 
ſo daß dieſer ſchon wieder mißtrauiſch geworden wäre, 
wenn der Fremde ihm nicht als Bildhauer vorgeſtellt 
worden waͤre. Man trank noch zu dritt ein Glas Bier 
zuſammen, plauderte uͤber allerhand und ging ausein⸗ 
ander. 

Das naͤchſtemal, als fie wieder allein waren, er⸗ 
fuhr Felder den Zweck dieſes Beſuches. Der Fremde 
war ein alter Bekannter des Doktors und einer der bes 
deutendſten, wenn auch nicht beruͤhmteſten Kuͤnſtler Deutſch—⸗ 
lands. Eines Tages war die Rede in feinem Atelier auf 
feine neuen Werke und damit auf die Modellnot ges 

kommen. 

Der Bildhauer trug ſich ſeit Jahren mit der Idee der 
Darſtellung eines jugendlichen Laͤufers, verzweifelte aber 
immer von neuem an der Ausführung, da es ihm vollig 
an einem Modell fehlte, das auch nur einigermaßen 


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ſeinen Anfprüchen entiprach. Dr. König hatte von feinem 
jungen Freunde erzählt, und der andere war aus reiner 
Neugier mitgegangen, um ihn ſich einmal anzuſchauen. 
Er war Feuer und Flamme — ja, das wäre ein 
Modell! — Aber er wiſſe wohl, daß nichts daraus wer⸗ 
den koͤnne. Einmal werde Felder ſich wohl nie zum 
Modellſtehen hergeben, und dann habe er ja auch keine 
Zeit. — Nun frug der Doktor, mitleidig mit der faſt 
komiſchen Verzweiflung des Kuͤnſtlers, behutſam bei Felder 
an: er erzählte ihm von der Würde und der Größe echter 
Kunſt, von dem unausgeſetzten Ringen einer vornehmen 
Kuͤnſtlerſeele, ihren Kaͤmpfen und ihrem Streben, das 
nur zu oft an nichtigen, aͤußerlichen Umſtaͤnden vor dem 
Ziele ſcheitert, von der harten und unbelohnten Arbeit 
ſeines Freundes, und es gelang ihm, beſſer und ſchneller 
als er gehofft, in Felder Intereſſe und Verſtaͤndnis zu 
erwecken. So deutete er denn einmal an, wie ſehr er ſelbſt 
zum Gelingen eines ſolchen Werkes beitragen koͤnne. 
Felder war durchaus nicht abgeneigt, doch machte 
auch er gleich den Mangel an der nötigen Zeit geltend. 
Einen Verſuch koͤnne man ja an den freien Sonntagen 
einmal machen, meinte er naiv ... Als dann aber der 
Doktor mit feinem letzten Trumpf herausruͤckte und da⸗ 
von ſprach, wie beim Gelingen des Werkes ſein Ruhm 
ſich mit dem des Kuͤnſtlers verbinden und beider Name 
in einer unvergaͤnglichen und vielleicht unſt 
Schöpfung weiterleben würde, da war Felder bereits ga 
gewonnen, und nun war er es, der den Vorſchlag zur 
weiteren Beſprechung der Sache machte. Was 
Zeit anbelangte — nun, er hatte ja ausgelernt und 


— 8 — 


ſein eigener Herr, und wenn er ſeine Arbeit wieder fuͤr 
einige Wochen (laͤnger wuͤrde die Geſchichte wohl nicht 
dauern) aufgaͤbe, ſo waͤre das nicht ſo ſchlimm; er faͤnde 
danach ſchon wieder andere. 

N Er wuͤrde reichlich entſchaͤdigt werden, verſicherte 
Dr. Koͤnig. Da aber empoͤrte ſich der Stolz des Meiſter⸗ 
ſchwimmers. Davon koͤnne keine Rede ſein. So ſei es 
bei ihm nicht, „wie bei armen Leuten“. Wenn er ein⸗ 
willige, ſo tue er es um der Kunſt willen und des Ruhmes 
wegen. Der Doktor konnte nichts darauf erwidern, und 

man traf ſich im Atelier des Kuͤnſtlers. 

Als Schwimmer, der er war, muͤſſe er dargeſtellt 
werden, meinte Felder, waͤhrend der Bildhauer nicht von 
ſeiner urſpruͤnglichen Idee des Laͤufers laſſen wollte. Ein 
Schwimmer? — wie ſich Felder denn das denke? — In 
welcher Lage denn? — liegend wohl? — Und das Waſſer? 
— aus blauem Glaſe, nicht wahr? — Und dabei der 
Körper aus Marmor? — Felder nahm das für Ernſt, 
und es gefiel ihm. Aber der Künftler wurde wütend, — 
Dann wiederholte Felder zum zwanzigſten Male: er ſei 
der Meiſterſchwimmer von Europa und kein Läufer... 
Keiner wollte nachgeben, und die Sache war auf dem 
beſten Wege, an der Hartnaͤckigkeit der beiden zu ſcheitern, 
als der lachende Doktor den Vorſchlag des Springers 
machte. Er gefiel. So wurde der eine beruhigt durch 
die Idee, daß die Geſtalt des Körpers im Moment des 
Abſpringens ſich nicht zu ſehr von der des Laͤufers im 
Augenblick des Anlaufs unterſcheide; und der andere, 
daß, wenn er auch noch nicht der Meiſterſpringer ſei, er 
es doch unzweifelhaft werden würde, und daß die Zeit 


WU 0 


3 N 


feines erſten Triumphes als folcher, wenn alles gut 
ging, mit der der Ausſtellung ſeiner Statue vor den 
Augen der Welt zuſammenfallen koͤnne | 

Die Sitzungen in dem großen Atelier in Wilmers⸗ 
dorf begannen. Obwohl Felder nicht mehr arbeitete und 
mehr Ruhe und Schlaf hatte, als vorher, war er doch 
ſchon gegen Abend, wenn er zu ſeinem Training ging, 
von den ausgedehnten Stunden der Sitzungen und von 
den langen Fahrten nach dem Vorort muͤder, als je 
zuvor. 

Er hatte nie gedacht, daß er fo müde werden konne. 
Erſt hatten ihn die langwierigen Vorarbeiten intereſſiert, 
das neue der Umgebung und die ganze Art des Kuͤnſtlers. 
Dann ſah er ſich ſelbſt mehr und mehr aus dem rohen 
Ton hervortreten, immer gleicher und aͤhnlicher werden. 
Als dann aber die ſtundenlangen, muͤhſamen Aus⸗ 
arbeitungen des einzelnen begannen, ohne daß er mit 
ſeinen ungeübten Augen irgendeinen Fortſchritt wahr⸗ 
nehmen konnte, da hatte er oft die ganze Kraft ſeines 
Willens noͤtig, um auszuhalten. Er hatte ſich vor⸗ 
genommen, ſo lange zu ſtehen, bis der andere ſelbſt das 
Holz aus der Hand legte; aber wenn der Künftler — 
nach einer, nach zwei Stunden — ganz in ſein Werk 
vertieft und völlig entrückt, keine Miene machte, eine 
Pauſe eintreten zu laſſen, dann war Felder oft ei 
fo erfchöpft, daß er plöglich abbrach. Erſtaunt Über 
Zeit, die verfloſſen war, brummte der Bildhauer etwas, 
das wie eine Entſchuldigung klang, und beide warfen 
ſich in irgendeinen Seſſel, froh, nicht miteinander ſprechen 
zu brauchen. 


Denn zu einer rechten Unterhaltung kam es nie 
z wiſchen ihnen. Dieſe beiden ſo verſchloſſenen, nur mit 
ſich und ihren eigenen Zielen lebenden Menſchen, von 
denen keiner die Leichtigkeit und Freundlichkeit des Dr. 
König beſaß, hatten ſich nichts zu jagen. Wohl entſtand 
ab und zu ein Geſpraͤch, da man, um keine Zeit zu ver⸗ 
lieren, jetzt des oͤfteren auch draußen in einem maͤßigen 
Reſtaurant zuſammen aß. Aber wenn der eine oder der 
andere nach fo viel Stunden ſchweigenden Beiſammen⸗ 
ſeins in dem naturlichen Bedürfnis, ſich zu aͤußern, dieſer 
von ſeinem Werk und ſeinen Hoffnungen, und jener eben⸗ 
falls von ſeinen Plaͤnen und ſeinen Hoffnungen anfing, 
dann konnten ſie beide ſicher ſein, daß ſie aneinander 
vorbeiſprachen und keiner dem andern auch nur zu⸗ 
- hörte... Denn was wußten, was verſtanden fie von⸗ 
einander? — beide ſo einſeitig, beide ſo verloren in ihre 
Ziele: ungleich in ihrer Weite und Größe, gleich nur in 
ihrer Außergewoͤhnlichkeit und der Energie, mit der ſie 
verfolgt wurden. In einem aber verſtanden ſie ſich ganz, 
und dieſes eine hielt ſie dieſe lange Zeit — weit laͤnger, 
als vorausgedacht — zuſammen. 
Felder bewunderte den raſtloſen Eifer, die unwillige 
und doch ſo gaͤnzliche Hingabe des Kuͤnſtlers an ſein 
Werk; er verſtand insgeheim dies ſchmerzliche, heiße 
Ringen um ein Letztes, nie ſich Erfuͤllendes, und die Art, 
in der es ſich aͤußerte: in fieberhafter Arbeit, ewigem 
Gemurr und wilden Fluchen ... Und dieſer, der Kuͤnſtler, 
war ſich voͤllig daruͤber klar, daß er nie ein Modell wie 
dieſes je gefunden hatte und wiederfinden wuͤrde, das ſo 
mit ihm bis zur beiderſeitigen Ermattung ging und in⸗ 


= — 192 — 


ſtinktiv mit ihm arbeitete ... Er haͤtte es nie gejagt, 
vielleicht nicht einmal zugegeben, aber in ſeiner Art und 
Weiſe ſprach ſich deutlich ſeine Dankbarkeit aus: ob er 
Felder eine Zigarette drehte oder ihm von den Tiefen 
feiner Künftlerfehnfucht ſprach, die er vor jedem anderen 
ſcheu verſchloß. Gegen Ende der Sitzungen ging ihm 
ſogar eine Ahnung davon auf, an was dieſer junge 
Menſch ſein Leben geſetzt hatte und was die naͤchſte 
Zeit für ihn bedeutete. Durch Abgründe in ihren Zielen 
voneinander getrennt, verſtanden ſie ſich in dem, worin 
fie gleich waren: in dem ungeſtuͤmen Drang, dieſe Ziele 
zu erreichen. 
Zwei Flammen ſchlugen ineinander, und ſo entſtand 
ein wundervolles Werk, an das fie beide ihre Kräfte 
gaben. 
Es kam zu Ende. Es gelang. — — — 
Auch Felder kam ſeinem Ziel naͤher und naͤher. Seine 
Sprünge wurden ſicherer und ſicherer. 
In ſeinem Klub ſprach er weder von dem einen, * 
von dem anderen. Ein Erzählen des einen wäre ein 
Preisgeben des anderen geweſen. 
Er ſchwieg, verſchloſſener und unzugaͤnglicher, als je 
zuvor, f 


- 6. 


Eines Tages hielt er feine Stunde für gekommen. 
Er erſchien — ſeit langer Zeit zum erſten Male wieder 
— auf dem Übungsabend des Klubs. Die enorme Halle 
der Waſſerfreunde war noch hell erleuchtet, aber außer den 
Mitgliedern des S.⸗K. B. 1879 waren faſt keine fremden 
Gaͤſte mehr anweſend. Die letzten kleideten ſich eben an; 
die Kaſſe war bereits geſchloſſen und niemand wurde mehr 
zugelaſſen. 
überall ſah man die weiß⸗blauen Farben. Das Baſſin 
gehoͤrte fuͤr den Reſt des Abends ausſchließlich dem Klub, 
der es zweimal wöchentlich für feine Mitglieder mietete. 
Felder zog ſich aus und trat an das eine der kleinen 
Bretter, wo Grafenberger, der Meiſterſpringer Deutſch⸗ 
lands, eben übte. 
Eine Weile ſah er ihm ſtillſchweigend zu. 
Grafenberger machte einen Salto ruͤckwaͤrts mit halber 
Drehung. 
— Das kann ich auch, ſagte Felder. 
Der andere lachte: 
— So leichte nu nich! — 
Aber Felder ließ langſam das Tuch von feinen Schul⸗ 
tern gleiten und trat an die aͤußerſte Kante des Brettes. 
Er ſtand mit dem Rücken dem Waſſer zu. Leicht hob 


vu 13 


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„ 


| 8 ſich fein Körper auf den Zehen in die Höhe, feſt legten 
ſſich die Arme an die Schenkel, und ſich tief hintenüber⸗ 


neigend, tat er den Sprung. a 

Als er aus dem Waſſer ſtieg, ſah er in lauter er⸗ 
ſtaunte und verblüffte Geſichter. Am erſtaunteſten war 
Grafenberger ſelbſt. 

Und nun ging dieſer eine Reihe unbe oder minder 
ſchwieriger Sprünge durch, und jedesmal, wenn er aus 
dem Waſſer ſtieg, ſtand Felder bereits auf dem Brett 
und machte den Sprung nach, einen nach dem andern. 
Das Erſtaunen wurde immer größer und die meiſten 
wollten gar nicht glauben, was ſie ſahen. N 

Von dem kleinen Sprungbrett ging man zu dem 
großen über, und alle ſtiegen die Treppe zu der Galerie 
empor. Dort ſtand bald der ganze Klub bis auf den 
letzten Mann um feine berühmten Mitglieder herum und 
verfolgte in atemloſer Spannung Sprung auf Sprung. 
Und es gab nicht einen unter allen, den der Schwimmer 
dem Springer nicht nachgemacht haͤtte. Freilich dachte 
in dieſer Stunde keiner an die Wertung der Leiſtungen, 
und nur wenige machten ſich klar, wie ſich die aͤußerlich 
gleichenden Sprünge der beiden doch in Sicherheit und 
Exaktheit himmelweit voneinander unterſchieden. M 
wollte jetzt nur ſehen, ob Felder überhaupt imſtande war, 
die Sprünge auszuführen, und man geriet bei jeden 
neuen in immer größere Aufregung, die ſich bald in 
Lachen, Zurufen und lauten, wie leiſen Bemerkunge 
jeder Art Luft zu machen ſuchte. a 

Felder genoß das Vorgefuͤhl kommender Triumphe 
und ſetzte allen Fragen ſein geheimnisvolles Sch 


Be 


entgegen. Aber als der Springer meinte: „Na, dann 
5 kann ich ja naͤchſtens an zu ſchwimmen fangen!“ laͤchelte 
er bedeutſam. — Nur Nagel aͤußerte wieder kein Wort. 
Als jedoch Felder an ihm vorbeiging und vor ihm ſtehen 
blieb, ſagte er kurz: „Du kannſt ſie alle. Wo du ſie ge⸗ 
lernt haft, weiß ich nicht, und es geht mich ja auch nichts 
an. Aber glaube nur nicht, daß du auch nur einen 
ordentlich kannſt, fo wie er fein ſoll ...“ worauf Felder 
blaß wurde und weiter ging. Er vermochte nur noch 
zu erwidern: „Das werden wir ſehen!“ — Seine Freude 
174 war dahin fuͤr dieſen Abend und er begann ſeinen alten 
Freund und Lehrer zu haſſen. 
4 Schon auf der naͤchſten Sitzung trat er mit feiner 
Forderung hervor, bei der naͤchſten Gelegenheit im 
Springen um eine bedeutende Meiſterſchaft gemeldet zu 
werden. Man hielt fie erſt für Scherz; dann erhoben 
ſich von allen Seiten Proteſte. So viel hatte man ſchon 
geſehen, um zu wiſſen, daß ein ſolches Vorhaben ganz 
ausſichtslos war. War es auch erſtaunlich, was er bei 
feinem geheimen Training — man wußte jetzt ganz 
genau, wo und wie er dazu gekommen war — in ſo 
kurzer Zeit zuſtande gebracht hatte, fo reichte das alles 
doch noch lange nicht aus, um mit erſten Meiſtern in 
Konkurrenz zu treten. Dazu gehörte vor allem eine 
jahrelange, ſtetige, ſorgſame Ausbildung unter den Augen 
von Kennern — das Au er, der Sportsmann, doch 
wohl am beſten wiſſen ... Von allen Seiten redete man 
b; auf ihn ein, fuchte ihn 0 überzeugen, aber es war alles 
= 3 ee Man ſprach zu Ohren, die uͤberhaupt nicht 
. zuhoͤrten. 


13* 


| Felder beſtand hartnäckig auf feiner Forderung. We 
er gefragt wurde, zu welcher Schwimmnummer er ges 
meldet werden wollte, antwortete er: zum Springen um 
die Meiſterſchaft ... und je dringender die Frage wurde, 
um ſo mehr klang dieſe Antwort als Drohung: entwede 
— oder 
Man lachte nicht mehr. Dazu war die Sache * 
ernſt. Zuviel ſtand in dieſem Sommer im Schwimmen 
auf dem Spiel: die Meiſterſchaft Deutſchlands ſollte bes 
hauptet, die größte über Europa zum zweiten Male g 
wonnen werden; der große Staatspreis Sachſens und der 
Stadtpreis Breslaus, zum dritten Male durch Felder er⸗ 
obert, in den endgültigen Beſitz des Klubs uͤbergehen; 
unzaͤhlige Anforderungen von allen Seiten nach des 
jungen Meiſters Teilnahme an den diesjährigen Schwimm⸗ 
kaͤmpfen mußten beantwortet werden — und dieſer 
Menſch, was tat er? 4 
Statt in dieſem Sommer feine glorreichen Siege zu 
erneuern, mühelos und ehrenvoll, verbohrte er ſich in 
eine Idee, Auf die noch kein anderer vor ihm gekommen 
war und auf die auch nur er verfallen konnte. Je r 
man auf ihn eindrang, von ſeinem ausſichtsloſen Vor⸗ 
haben abzuftehen, deſto erbitterter wurde er. Da er die 
Gründe gegen feine Meldung nicht verſtand, da er f 
nicht begreifen wollte, ſah er in ihnen nur den Aus fluß 
einer feindſeligen Stimmung gegen ſich und ganz all⸗ 
maͤhlich in den guten, alten Kameraden und 5 
Freunden feines Klubs Gegner feiner Perſon und dami 
der Sache. 9 
Denn daß er der Sache mit ſeinem Vorhaben ſch 


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7 2 2 * N 12 


197 3 


Eecche ſchaben! 
3 Man begriff, daß nicht mit ihm zu reden war, als 


Debatte einfach das Zimmer verließ. 
2 Dann ſprach Nagel, und was er fagte, wurde als 
das richtige empfunden. Er ſchloß feine Ausführungen, 
in denen er ein kurzes und klares Bild von Felders 
Entwickelung gab, mit den Worten: „Tun wir ihm ſeinen 
Willen; denn was er nötig hat, um ihn zur Beſinnung 
zu bringen, find nicht neue Siege, ſondern es iſt eine 
gründliche Niederlage.“ — 
So wurde der Meiſterſchwimmer von Europa von 
ſeinem Klub auf dem erſten diesjaͤhrigen Eroͤffnungs⸗ 
ſchwimmen der vereinigten Berliner Klubs nicht nur zu 
ſeiner alten Meiſterſchaft Berlins uͤber die kurze Strecke, 
ſondern auch zu dem Haupt⸗Mehrkampf im Schwimmen, 
Springen und Tauchen, ſowie zum Hauptſpringen ges 
meldet, und dieſe Meldungen wurden mit grenzenloſem 
Erſtaunen, aber unbeanſtandet angenommen. 


N Enne, daran dachte er nicht einmal. Er — und der 


er an einem anderen Abend nach langer, vergeblicher 


* 4 2 Fi 1 
1 1 / 
Ne mE - 

Ze I y+z a 4 fr. 


8 


# 
N 


55 Sonntag, einen klaren, aber noch friſchen Fruͤhlingstag. — 
für ihm werden, ſo dachte Felder, der Tag, der allen 


anderen der letzten Jahre die Krone aufſetzen, ſeinen 
Ruhm vor den Augen einer Welt verkünden ſollte, 


aufreibenden Hilfe beim Gelingen einer fremden. 5 


— 
1 


Eine gruͤndliche Niederlage! 
Und die erlebte er. — 1 
Das erſte große Schwimmfeſt Berlins in dieſem Sommer 

— veranftaltet von dem Bund der Berliner Vereine — fiel 

zuſammen mit der feierlichen Eroͤffnung der diesjährigen 

Kunſtausſtellung im großen Glaspalaſt, beides auf einen 


Es ſollte der Tag hoͤchſten und beiſpielloſen Triumphes 


keiner vor ihm: hier in einem unvergleichlichen Siege, 
dort dieſer Sieg bereits verkoͤrpert in einem hohen Werke, 
das feinen Namen trug; der Tag, um den er gekaͤmpft 
hatte, wie um keinen anderen, monatelang, mit b 
Ausdauer — nicht nur in der eiſernen Arbeit eig 
Übung, ſondern faſt noch mehr in der muͤhſamen 


Es kam alles anders, wie er es ſich dachte. — 

Der Morgen brachte die erſte Enttaͤuſchung. 

Sie waren hinausgefahren nach dem Glas 
Lehrter Bahnhof, er und zwei ſeiner Sportsfreunde, N 
mit der Karte des Bildhauers unbeanſtandet Eintritt er 


* 
— 


* 
* 


8 — 
Halten und drängten mit der feſtlich gekleideten Menge — 
allem, was Berlin an geiſtigem Leben beſaß — der 
großen Eingangshalle zu. Sie fanden dort leicht, was 
ſie ſuchten. Denn um den „Springer“ herum ſtand bei 
reeits ein dichter Haufen von Menſchen, alle ergriffen von 
der Schoͤnheit und Kraft des Werkes, und in der erſten 
Stunde bereits ſeinen Ruhm mit ihrer einſtimmigen W 
wunderung beſiegelnd. 
0 Und es war ein herrliches Werk, das hier, faſt in 
der Mitte der großen Halle, in dem leuchtenden Weiß 
ſeines Marmors vor dem ſattgruͤnen Hintergrunde hoher 
Blattpflanzen ſtand: 

erſt zum Sprunge ſich anſchickend, noch nicht ganz 
zu ihm bereit, erhob ſich die jugendliche Geſtalt des 
„Springers“ in vollendet ebenmaͤßiger Schoͤnheit leicht 
auf den Zehen empor, ſtreckte wie flehend die ſchlanken 


Arme in die Hoͤhe, um dem Koͤrper Schwung zu ver⸗ 


leihen, und hielt die Augen feſt und entſchloſſen in die 


Ferne gerichtet — gewiß des Gelingens, ſicher des nahen 


Sieges ... Über der ganzen Geſtalt aber lag zugleich 
bei aller Kraft eine ſolche Anmut, eine ſolche Friſche, 
daß man den kuͤhlen Duft dieſes vielleicht eben erſt dem 


Waſſer entſtiegenen Koͤrpers zu ſpuͤren glaubte, der ſich 
nun zu neuem und ſchwierigerem Sprunge anſchickte, 
und den das Trikot nur wie ein dünner Schleier um: 


ſchloß, hinter deſſen zartem Gewebe jeder Muskel, ja die 
Adern erkennbar hervorzutreten ſchienen; und obwohl 
zum Teil mit dieſem Schleier bekleidet, erſchien auf den 
erſten Blick der ganze Körper wie nackt, bis man die 
1 unſaͤglich feine Arbeit des Meiſters gewahrte, für den 


= die leichte Hülle kein Hindernis geweſen war, das nad 
Leden in ſeiner Waͤrme zu bilden. 


ſeelt“ — „raffiniert ſchlicht“ — „einfach antik“ — „wo 


ſelbſt war zum erſten Male in einer Kunſtausſtellung, und 


—„Klaſſiſch ſchoͤn und doch von modernem Geiſte . 


kann er das Modell herhaben?“ — „ein Meiſterwerk, 
ganz ohne Zweifel“ — das waren die Ausdrücke, die 
mit vielen anderen Namen und Vergleichen, von denen 
er nichts verſtand, Felders Ohren umſchwirrten, als er 
ſich mit ſeinen Begleitern naͤher herangedraͤngt und nun 
faſt vor der Statue ſtand. Er fühlte ſich ſehr unbehaglich. 
Alles war ihm hier fremd. Selbſt dieſes Werk, ſein 
anderes Ich, das er doch ſo genau kannte, erſchien ihm 
nicht mehr dasſelbe. War er das? — So trat er doch 
nicht auf das Brett, wenn er ſprang? — | 
Er allein unter all den Anweſenden vielleicht ſtand 
der Schönheit des eigenen Körpers verſtaͤndnislos gegen⸗ 
über, er und feine Freunde. Sie, fo ſehr an den taͤglichen 
Anblick nackter Geſtalten gewöhnt, hatten nie uͤber deren 
Schönheit und Haͤßlichkeit nachgedacht, und von der Kunſt, 
die hier zu ihnen redete, verſtanden ſie nichts. Felder 


der Blick auf die vielen anderen Marmorwerke in 1 
hohen Halle, in die lange Flucht der Saͤle, von der 
Waͤnden herab die Farben unzaͤhliger Gemaͤlde dect, 
machte ihn wirr und betaͤubte ihn. 

Zudem aͤrgerte er ſich zu ſehr, als daß er ſich ruhig 
irgendeiner Betrachtung haͤtte hingeben koͤnnen. Er 1% 
ſich dieſen Morgen ganz anders gedacht. Wie, das wußte 
er wohl ſelbſt nicht, aber etwa ſo: daß er mit dem 
Künftler vor der Statue ſtehen wurde, aller Augen auf 


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ſich gerichtet, als auf das Modell uſw. ... So aber ge: 
ſchah nichts dergleichen. Kein Menſch kuͤmmerte ſich um 
ihn, man druͤckte und ſtieß ihn von allen Seiten, und 
wenn ihn zufaͤllig jemand anſah, ſo hatte er das Be⸗ 
wußtſein, mit dieſem Blicke gefragt zu werden: Was 
wollen Sie denn hier? 

Wie haͤtte aber auch irgend jemand in dem modiſch 
gekleideten jungen Mann mit dem hohen Hemdkragen 
und dem ſteifen Hut, der ausſah wie ein Kommis von 
Hertzog oder Wertheim, das Urbild dieſes Hellenen⸗ 
juͤnglings erkennen ſollen, deſſen Schönheit die Gedanken 
der Beſchauer weit zuruͤckfuͤhrte in die ſeligen Zeiten 
goͤttergleicher Menſchen? 

Unmutig forderte Felder feine Freunde zum Weiter⸗ 
gehen auf; er wollte verſuchen, den Bildhauer und 
Dr. König zu finden. Die beiden anderen waren gern 
bereit: der eine hatte Durſt nach einem Fruͤhſchoppen, 
und der andere fand auch, daß er eine ſolche Stellung 
bei einem Springer noch nie geſehen habe. 

Da — waͤhrend ſie ſich hinausſtießen — fuͤhlte Felder 
plotzlich, wie er angeſehen wurde. Der ſtarke Duft eines 
ſeltſamen Parfuͤms, den er irgendwo und irgendwann 
ſchon einmal geſpuͤrt hatte, umwehte ihn, und aufſehend, 
erblickte er dicht vor ſich jene Dame aus dem Cafe, die 
ihn den ganzen Abend ſo auffallend angeſehen hatte und 
nun ihren Blick mit demſelben feſten Ausdruck forſchen⸗ 
den Intereſſes auf ſeinem Geſicht ruhen ließ, wie an 
jenem Abend. Wieder war der alte Herr mit ihr, und 
wieder trug ſie ein Kleid von heller Seide und einen 
auffallend großen Rembrandthut mit ſchwarzer Feder. 


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; Felder hatte kaum Zeit, fie zu ſehen; im naͤchſten Augen⸗ 
blicke ſchon war fie weiter gegangen, und viele Menſchen 
hatten ſich zwiſchen fie und ihn geſchoben. Er hätte 
Fdꝛuruckkehren müffen, um fie wiederzufinden. } 
Er dachte noch an fie im Weitergehen, als er am 
Ausgang auf den Bildhauer traf, der ebenfalls in einer 
3 dichten Menſchenmenge ſtand. Er machte ſich ſofort los 
und kam auf Felder zu, als er ihn ſah, und man ging 
daurch den Garten in langem Zuge nach der Oſteria. 
Diort wurde nun Felder genug und von allen Seiten an⸗ 
7 geſehen, als die Kuͤnſtler erfuhren, wer er war, aber er 


wurde nie das Gefühl los, daß alle dieſe fremden 
Menſchen in ihm nur das Modell ſahen, und keine 
Ahnung davon hatten, wer er eigentlich war... Nach 
Dr. König ſah er ſich vergebens um; er war wohl noch 
in den Saͤlen oder Überhaupt noch nicht gekommen. Der 
Bildhauer, aͤußerlich borſtig und wortkarg wie immer, 
war doch durch ſeinen großen Erfolg erregt und mußte 
ſich immer von neuem frei machen, um ein paar Worte 
mit Felder zu ſprechen. Dieſer wollte gerne wiſſen, ob 
fein Name auch im Katalog ſtüͤnde. Nein, dort ſtand 
nur „der Springer“ meinte der Künftler laͤchelnd, anders 
ginge es nicht, aber er wolle ſchon dafuͤr ſorgen, daß es 
in moͤglichſt vielen Zeitungen zu leſen fei, wer ihm 
Modell geſtanden — darauf koͤnne ſich Felder verlaſſen .. 
N „Und am Nachmittage komme ich zu Ihrem Siege!“ 
- — ſagte er noch, als Felder ſich mit feinem Freunde ver⸗ 
abſchiedete und, innerlich recht mißmutig, ging. 
Dieſer Nachmittag! Ber; 
Wieder einmal erglaͤnzte die weite Halle der Waſſer⸗ 


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1 ER in dem feſtlichen Schmuck der Fahnen und Faͤhn⸗ 


chen; wieder fuͤllten ihre Galerien bis auf den letzten 
Platz die dichten Reihen einer bunten Zuſchauermenge; 
wieder bot ſie das bis in die Einzelheiten immer ſich 
gleichende, unveraͤnderte Bild eines „Schwimmfeſtes“ .. 
Und in eintoͤniger Gleichfoͤrmigkeit verlief Nummer 
um Nummer des wiederum viel zu lang ausgeſponnenen 
Programms. Das ganze Intereſſe der engeren Kreiſe 
konzentrierte ſich heute nicht auf die Schwimmkonkurrenz 
— Felders Sieg war ganz ſicher — ſondern auf deſſen 
Beteiligung am Springen. Laͤngſt hatte ſich uͤber die 
Grenzen des S.⸗K. B. 1879 hinaus herumgeſprochen, wie 
gaͤnzlich ausſichtslos und vermeſſen ſie war, und uͤber⸗ 
all, in allen Ecken, lauerte das ſuͤßeſte und reinſte der 
menſchlichen Gefühle, die Schadenfreude, auf feine Ges 
legenheit. 
Nur Felder ſah und hoͤrte nichts von allem. Still 
und ernſt wie immer ſtand er unter ſeinen Leuten, und 
feine Augen blickten fo ruhig und ſiegesgewiß wie immer. 
Heute, heute war ſein großer Tag, und kein Zweifel 
durfte in ihm aufkommen; kein Zweifel der anderen das 
eigene, felſenfeſte Vertrauen ſtoͤren. Er fühlte nur ins 
ſtinktiv die Feindſeligkeit um ſich herum an der Art, wie 
man ihn allein ließ oder ihn dies oder jenes fragte, 
Was kümmerten fie ihn? — Nach einer Stunde würde 
er ſie beſiegt haben, und ſelbſt die Widerſtrebendſten 
lagen bezwungen zu feinen Füßen! ... 
Als er daher feinen Namen hoͤrte und auf das 
Sprungbrett trat, um den erſten der fuͤr den Mehr: 
meiſterkampf vorgeſchriebenen Sprünge zu tun, hob er 


der ſchoͤnen Halle empor, und in feinen Augen lag dae 
niemand erkennbar) das alte Leuchten, tiefer und ſieges⸗ 
gewiſſer, als je zuvor. 3 
2 Dann ſprang er, und er ſprang nicht ſchlecht. Ein 
Murmeln nur begleitete ſein Ausſteigen aus dem Waſſer 
— Erſtaunen bei jenen unter den Sportsgenoſſen, die 
ihn zum erſten Male ſpringen ſahen, halber Beifall bei 
denen, die den Sprung an ſeinen eigenen Leiſtungen, die 
ſie ſeit einigen Wochen kannten, verglichen. Noch hatte 
die Schadenfreude keinen Grund, ſich zu aͤußern und 
wagte ſich noch nicht hervor. Weder beſonders gut, aber 
ebenfalls nicht ſchlecht waren auch die naͤchſten Sprünge. 
Jeder Kenner ſah indeſſen, daß fie einfach nur beſſer 
ausſahen, als fie in Wirklichkeit waren, und daß Felder 
jede Hoffnung auf einen Sieg hätte begraben muͤſſen, 
waͤre es auf dieſes Springen angekommen. So aber 
erledigte er nicht nur den zweiten Teil des Mehrkampfs, 
das Schwimmen mit einer Bahnlaͤnge von 180 Metern, 
in: ſeiner alten glaͤnzenden Weiſe, fo daß er hier die 
Hiochſtzahl der überhaupt erreichbaren Punkte erlangte, 
ſendern er ſtellte ſich auch im dritten Teile, dem Tauchen, 
8 ebenbürtig an die Seite ſeiner drei Gegner, indem er, 
wie ſie, alle zwanzig Teller hervorholte, und zwar in einer 
Zeit, die ſich nur unweſentlich von der ihren unterſchied. 
Keiner der Konkurrenten war vor Ablauf von 
32 Sekunden aus dem Waſſer geftiegen, Felder 45 unter 
im geblieben. Die Teller hatten bei ihm welt 4 
einander gelegen. 5 — 
3 Der Mehrkampfpreis wurde daher trotz der BE =: 


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Springen erreichten geringen Punktzahl — nicht ver⸗ 


gleichbar mit der der anderen — von ihm gewonnen. 


Seinem Verein fiel ein Ehrenpreis zu, ihm ſelbſt ein 
Andenken, und das eine der geſetzten Ziele war ſomit 
von ihm erreicht: in ſeinen Lorbeerkranz ein neues Blatt 
geflochten. Der Meiſter im Schwimmen nannte die er 
Mehrkampfmeiſterſchaft fein! — 

Aber das ſtille und erwartungsvolle Laͤcheln, das von 
den Geſichtern ſo manches Kenners unter den An⸗ 
weſenden nicht wich, zeigte, daß es noch nicht aller Tage 
Abend war. Vor allem das Lächeln Grafenbergers. 

Denn das Ereignis des Tages, das Hauptſpringen, 
ſollte erſt noch kommen. Und wenn Grafenberger fo 
laͤchelte, dann hatte er ſeinen Grund dazu. 

Heute mehr als je. Denn dieſes Hauptſpringen, das 
als dritte Konkurrenz nach der eben beendeten folgen 
ſollte, hatte eine ganze, vielbeſprochene Geſchichte in den 
letzten Wochen gezeitigt. Als Felder brüsf und ungeſtüm 
feine plöglihe Meldung zu dieſem Hauptſpringen im 
Klub aͤußerte, und als nach endloſen privaten und internen 
Debatten die Furcht vor ſeiner Drohung die Schale zu 


ſeinen Gunſten neigen ließ, da erklaͤrte Grafenberger 5 


ebenſo brüsf und mit weit größerer Berechtigung natürlich: 
wenn fein Klub denn fo unverhofft einen fo großen 
Springer in ſeinem bisherigen Meiſterſchwimmer „entdeckt“ 


habe und ihm denſelben vorziehen wollte, ſo moͤge er 0 


das doch tun; und da ſelbſtverſtaͤndlich jeder Klub nur 
einen Konkurrenten zu den Kaͤmpfen entſenden könne, 
ſo ſei es doch das beſte und einfachſte, wenn er, 
Grafenberger, aus: und in einen anderen Verein eintrete, 


Dann konne er ja mit Leichtigkeit beweiſen, wie lächerlich. 
eeine ſolche Bevorzugung ſei. So ſehr traf jedes feiner 


Worte den Nagel auf den Kopf, daß nur Übrig blieb, 
dem Empoͤrten klarzumachen, wie es ſich ja nur darum 

handele, Felder ad absurdum zu fuͤhren, wie er, dem 
an dieſer Beteiligung gar nichts gelegen ſein koͤnne, ja 
gerade durch Felders unvermeidliche Niederlage nur ſeinen, 
Grafenbergers, Ruhm als den des erſten Springers im 
S.⸗K. B. 1879 befeſtigen würde; und fo ſehr ſah dieſer 
ſelbſt auch den Grund aller Einwendungen ein, daß die 
Sache in aller Ruhe verlaufen wäre, wenn nicht — wie 
immer bei ſolchen Gelegenheiten — jo viel bisher Une 
ausgeſprochenes zutage getreten wäre, was dann endlich 


doch Grafenbergers Austritt zur unvermeidlichen Folge 


hatte. Er, eine weit weniger ernſte und vornehme Natur, 
als Felder, hatte einen Ton angeſchlagen, den der Klub 
unter keinen Umſtaͤnden dulden durfte, und ſo war er 
gegangen von dort, wo niemand gegen ſeinen Willen 
gehalten wurde. f 
Mit Jubel ſofort in einen anderen, ebenfalls alte 
angeſehenen Verein, in die „Privat⸗Schwimmgeſellſchaft 
von 1888“, aufgenommen, noch in letzter Stunde von 
ihm zu heute gemeldet, erwartete der beruͤhmte Springer 


nun im Kreiſe feiner neuen Klubgenoſſen das Haupt 


ſpringen mit innerlichſter Freude; und ſchaͤrfer und klarer 


als er hatte feiner Felders kümmerüche Sprünge beim 2 


Mehrkampf betrachtet und gewertet. 7 

Vergebens ſuchte er dem Blick feines früheren Ge 
noſſen zu begegnen, mit dem er ſo manche Jahre Schulten 
an Schulter um die Ehre des Klubs gekaͤmpft, und deem 


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er — wie oft nicht in denſelben Stunden desſelben Tages 
E gemeinſam mit ihm zu den hoͤchſten verholfen. 

Felder ſah ihn nicht. Nicht ſein Laͤcheln; nicht die 
boshafte Erwartung um ſich her; nicht die aͤngſtliche 
Sorge ſeiner wahren Freunde, Nagels und anderer. Er 
ſah uͤberhaupt nichts mehr von allem, was um ihn her 
vorging. Er fuͤhlte nur die große Erwartung um ſich 
herum, und als Koepke, der aͤußerlich Aufgeregteſte wieder 
unter allen, ihm mit irgendeiner unnuͤtzen Frage zu nahe 
kam, wies er ihn mit einem barſchen Wort zur Ruhe. 

Als das Hauptſpringen endlich begann, trat die atem⸗ 
loſe Spannung der Stille ein, die allen Entſcheidungen 
von Bedeutung vorausgeht, und teilte ſich unwillkuͤrlich 
auch dem Gleichguͤltigen unter den Zuſchauern mit. Fuͤnf 
Springer aus den erſten Berliner Klubs, unter ihnen 
drei mit bekannten Namen, waren gemeldet. Wie ſie 
ausgeloſt waren, kamen fie an die Reihe. Felder hatte 

die vierte Nummer und die weiße Kappe erhalten. 
14 Er ſah ſeine Vorgaͤnger auf das Brett treten, er 
hörte die Stimme des Starters, der Namen und Art 
des Sprunges verfündete, er ſah die Sprünge, er hörte 


14 das Waſſer klatſchen und rauſchen, das Murmeln und 


den Beifall der Zuſchauer; er trat ſelbſt hinter das Brett, 
ſäah vor ſich hin, vernahm die gleichmäßig ruhige und 
klare Stimme des Starters neben ſich, die rief: „Hecht⸗ 
ſſprung mit Anlegen der Arme und Anlauf, ein Meter. 
Herr Franz Felder ...“, lief, ſprang, tauchte unter und 
wieder auf, ging hinaus und hinauf zu dem hohen 
Brett, ſtellte ſich auf feine aͤußerſte Kante, hob den 
ganzen Körper auf den Fußſpitzen in die Höhe, ſah 


geradeaus, hörte wieder die Stimme, diesmal unter ſich: 


„Doppelſalto, rücklings, ſechs Meter, derfelbe ...“, ſprang 
ab, drehte ſich in der Luft um ſich ſelbſt, fühlte den 
Anprall des Waſſers wie glühendes Feuer, kam in die 
Höhe und ſtieg hinaus — aber worauf er lauſchte, die 
alten, ihm ſo vertrauten Laute des Beifalls vernahm er 
nicht. 

Stumm und ohne zu wiſſen, wie er geſprungen, miſchte 
er ſich unter ſeine Freunde. 

Nach den zwei vorgeſchriebenen Pflichtſpruͤngen kamen 
die zwei Pfoſtenſprünge an die Reihe, die an demſelben 
Tage aus den Schwierigkeitsgraden 5 und 6 ausgeloſt 
und jedem der Bewerber vor einer Stunde mitgeteilt 
worden waren. 

Auf Felder waren gefallen: 

Als erſter ein Seitlingsſprung mit Drehung um 
die Laͤngsachſe vorwärts, mit Hochheben beider Arme, bei 
einer Bretthoͤhe von 3 Metern: nicht allzuſchwer gut aus: 
zuführen; und als zweiter ein Schlußſprung mit ganzer 
Drehung um die Breitenachſe, ſchwierig bei genauer Durch⸗ 
führung und der 6 Meter⸗Hoͤhe des Brettes. Den erſten 
machte er gut; daß ihm der zweite nicht fo gelingen wurde, 
wie er mußte, war ihm ſeit einer Stunde bereits ganz 
klar, und er ſprang ihn infolgedeſſen völlig ſchlecht, fo 
daß das publikum zu lachen begann, waͤhrend es dieſelben 
beiden Sprünge der anderen des Öfteren mit Beifall 
begleitete. 

Felder ſah und hoͤrte noch immer nichts um ſich her. 
Auch dieſes Lachen nicht. Nur ein Zwiſchenfall erregte 
die allgemeine und damit auch ſeine Aufmerkſamkeit. Als 


der Nachſpringer Felders feine Sprünge ausführte, erſcholl 
von allen Seiten her, wahrſcheinlich mit infolge des vor⸗ 
hergegangenen, jo augenſcheinlich verungluͤckten Sprunges, 
lauter Beifall. Die Pauſe zwiſchen den Spruͤngen dauerte 
etwas laͤnger als ſonſt, und bevor der naͤchſte, letzte 


Springer an die Reihe kam, trat der Starter vorn auf 


das Sprungbrett und ſprach mit erhobener Stimme zu 
den | gewendet: 

„Die Herren Schiedsrichter laſſen die derehele 
ede, Damen und Herren, bitten, bei den Spruͤngen 
jedes Zeichen des Beifalls und des Mißfallens im Inter⸗ 
eſſe der Springer ſelbſt zu unterlaſſen, und den Herren 
Richtern in keiner Weiſe in ihrem Urteil vorzugreifen ...“ 

Ein Zwiſchenfall ſolcher Art war eine Seltenheit und 
wurde daher gebührend bemerkt. Einſtweilen aber ſchwieg 
der ganze Raum, und der dritte Teil des Hauptſpringens, 
die beiden Kuͤrſpringe, begannen unter allgemeiner Stille. 

Die „Kuͤrſpringe“, vom Springer nach freier Wahl „gekuͤrt“, 
bei denen er an keine Schwierigfeitsgrade und keine Art 
der Ausfuͤhrung gebunden iſt, und ſomit nur die Kraft 
und Faͤhigkeit, die er ſich ſelbſt zutraut, entſcheidet, ſind 
gewoͤhnlich lange vorher eingeuͤbte und in vollendeter 
Sicherheit ausgeführte Sprünge, die das Können des 
Springers in hellſtem Lichte zeigen. Da die Zuſchauer 
ihrem Beifall keinen Ausdruck mehr geben konnten, ver⸗ 
liefen die Spruͤnge der drei erſten Springer unter dem 
achtungsvollen Schweigen des Publikums, bis Felder an 
die Reihe kam. 

Statt daß dieſer — wie es nach der ganzen Art und 
der Kürze der Zeit feines Trainings eigentlich ſelbſtver⸗ 
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GE zierten Sprünge ausgefucht, fie in guter Ausführung ges 
F 5 zahl erreicht haͤtte, erlaubte es ihm ſein Ehrgeiz nicht, ſein 


Sſpruͤngen erſten Ranges zu zeigen, und unter dem Kopf⸗ 


aü,bereingekommen, ihn gewähren zu laſſen, und fo kam, 
was unausbleiblich kommen mußte, und wozu es keines 


 fiändlich geweſen wire — ſich zwei der — 
zeigt und damit wenigſtens in ihnen die hoͤchſte Wertungs⸗ 
neuerworbenes, noch ſo unſicheres Koͤnnen anders, als in 


ſchuͤtteln feiner Freunde, die indeſſen auf jede Einmiſchung 
verzichteten, hatte er zwei Sprünge gewählt, die ihm hier 
und da — wenigſtens zur Zufriedenheit Koepkes — ge⸗ 
lungen waren und die er in ſeiner grenzenloſen Verblendung 
auch heute vor den Augen aller ausführen zu dürfen 
glaubte. Kein anderer Klub haͤtte einem Mitgliede je⸗ 
mals etwas Ahnliches erlaubt. Aber der ſeine war 


Propheten bedurfte, es vorherzuſagen. 

Gereizt, erregt und wie im Fieber verlor Felder bei 
dieſen letzten Sprüngen jede Ruhe und jede Beſinnung. 
Er ſprang, wie er geſchwommen hatte in den Augen⸗ 
blicken hoͤchſter Anſtrengung, und vergaß vollkommen, 
daß, was dort noch zum Siege fuͤhren kann, hier, wo 
es einzig im gegebenen Moment auf Selbſtbeherrſchung 
und Ruhe ankommt, unrettbar zur Niederlage werden 
muß. 

Er ſprang, wie er ſchwamm: wie er zweimal, drei⸗ 
mal — es war ſchon lange her — geſchwommen hatte, 
um den enteilenden Sieg noch zu ergreifen —: mit dem 
Mut der Verzweiflung. Aber was er bot, das waren 
ſchon keine regelrechten Sprünge mehr, das hatte Über 7° 
haupt keine Ahnlichkeit mehr mit den Aufgaben, die er 


— 211 — 

ſelbſt gewaͤhlt und ſich vorgeſchrieben, das waren krampf⸗ 
hafte Verzerrungen des Körpers, ein unſchoͤnes ſich Über: 
ſchlagen in der Luft ohne jede Haltung der Arme mehr, 
die um ſich griffen, wie um ſich zu halten, und end⸗ 
lich ein wuͤſtes Aufklatſchen auf die Oberflaͤche des 
Waſſers 

Und waͤhrend die Richter auf jede Wertung mit dem 
Niederlegen ihrer Bleiſtifte uͤberhaupt verzichteten, waͤhrend 
ſich auf den Geſichtern der Umſtehenden erſt ſtarres Er⸗ 
ſtaunen ob ſolcher, nie geſehener Leiſtungen malte, das 
allmaͤhlich in offene Froͤhlichkeit uͤberging, waͤhrend Felders 
Freunde uͤberlegten, ob fie ihn nicht lieber an dem letzten 
der Sprünge hindern und der Blamage ein Ende machen 
ſollten, begann das Publikum, gereizt durch das Verbot 
des Beifalls, zu lachen. Es lachte erſt leiſe, dann ganz 


laut beim zweiten Sprunge, und als Felder aus dem 


Waſſer kam, da lachten ſelbſt die Sportsleute um ihn 
her, ja die eigenen Genoſſen, fo komiſch war der Kon⸗ 
traſt zwiſchen ſeiner ſiegesbewußten Miene und ſeinen 
klaͤglichen Leiſtungen geweſen . 

Felder hörte das Lachen, jetzt hörte und ſah er es, 


und er wurde totenblaß. Einen Augenblick ſchien es, 


als wolle er ſich auf den erſten beſten der Naͤchſtſtehenden 
ſtürzen, dann überzog eine dunkle Nöte fein Geſicht, 
und wortlos verließ er die Reihen, die ſich noch nicht 
beruhigen wollten, bis das naͤchſte Rennen die Auf⸗ 
merkſamkeit von dem beendeten abzog. 

Eine furchtbare Wut kochte in Felder, als er allein 
in einer Ecke des kleineren Damenſchwimmbades, das 


heute als Auskleideraum fuͤr die Beteiligten galt, ſaß. 
14* 


— 212 — 


Man hatte es gewagt und ihn ausgelacht — ihn, Franz 
Felder, den Meiſter Europas, ihn, ihn! — 

Er ging auf und ab, auf und ab, aber er wurde 
nicht ruhiger. Er wurde das Lachen aus ſeinen Ohren nicht 
los. Er würde es nie vergeſſen koͤnnen, das wußte er. 
Kein Beifall würde es jemals mehr ganz uͤbertoͤnen koͤnnen. 

Alles, was er tun konnte, war, die erlittene Wunde 
ſo unter neuen Lorbeeren zu verbergen, daß niemand ſie 
mehr gewahren konnte. 

Das aber wenigſtens wollte er, und als er — nach 
einer halben Stunde — geholt wurde und er zum letzten 
Male an dieſem Tage an den Start ging, nicht zum 
Springen mehr, ſondern zum Hauptſchwimmen über die 
250 Meter, da waren die Nebel von feinen Augen gefallen, 
und mit ſeinem alten, klaren Blick ſah er alles um ſich 


her, die Freunde und die Feinde, und jetzt war er e, 


der laͤchelte. 


Jetzt durfte er es allein, und wer es etwa noch wagen 
ſollte außer ihm, dem würde er das Lachen von den 


Lippen vertreiben! * 
Nicht wie ſonſt, ruhig, ſtet und uͤberlegen ſeine Bahn 


durchſchneidend, nichts als das Ziel im Auge, nicht fair 
und vornehm, wie man es an ihm gewöhnt war ſelbſt 


in den ſchwierigſten Kaͤmpfen, ſondern auf ſeine Gegner 
achtend, ſie herankommen und voraufgehen laſſend, ſie 
durch die eigene Ungleichmaͤßigkeit ftörend, um fie dann 
zuletzt ruͤckſichtslos, faſt brutal zu ſchlagen, fo ſchwamm 
er dieſes Rennen, und als er den Jubel über feine Wag 
halſigkeit und Überlegenheit in feinen Ohren erklingen hörte, ° 
war er wieder ganz er ſelbſt. Nie vorher hatte er ſo ges 


; ſchwommen, und er wußte es. Er wußte auch, daß er mit 


E * dieſem Siege keinen Beifall unter ſeinen Freunden finden 


wuͤrde. Aber das war es gerade, was er wollte. Sie 
hatten ihn ausgelacht, das verzieh er ihnen nicht. Jetzt 
war ihm auch an ihrem Beifall nichts mehr gelegen. 

Wie er zum letztenmal fuͤr heute ſich ſo die Leiter 
emporſchwang, bis zu der ſich die erſte Reihe der Zu⸗ 
ſchauer hinzog, da, wo die beſten Plaͤtze nahe dem Start 
waren, die man durch Auflegen von Leinentuͤchern gegen das 
Aufſpritzen des Waſſers zu ſchuͤtzen verſucht hatte, war es 
ihm wieder, als ſtiege der Duft eines ſeltſamen Parfums, 
den er ſchon einmal geſpuͤrt, zu ihm auf, und als er 


ſich zur Seite wandte, ſah er, daß der erſte dieſer Pläge, 


die er beim Hinausſteigen faſt ſtreifte, von der Dame 
beſetzt war, die er an jenem Abend im Cafe und heute 
morgen erſt wieder geſehen hatte. Fuͤr eine Sekunde 
begegneten ſich ihre Blicke: ſie hielt ihr Kleid mit der 
Hand zuſammen, damit es nicht naß werden ſollte, und 


lächelte leiſe, wie heimlich mit ihm triumphierend uͤber 


ſeinen Sieg. Ein neuer Ausdruck ſchien in ihrem Blicke 


zu liegen, etwa wie: wir kennen uns doch, nicht wahr? — 


Felder war ganz verwirrt und wandte ſich ab. 

Als er angekleidet wieder in die Halle trat, galt ſein 
erſter Blick dem Platze, wo ſie geſeſſen. Aber er war 
leer, und die ihn innegehabt, war nirgends mehr zu 
finden. — Was bedeutete das nun wieder? — Wie kam 


fie hierher? — Und warum? — Warum nur? — Es 


war ſeltſam, ſehr ſeltſam. 
Doch er hatte nicht lange Zeit, an den Vorfall zu 
denken. Zuviel wogte noch in ihm, und immer von neuem 


— 211 — 


kehrten ſeine Gedanken zu dem unverhofften Verlauf des 
Tages zurück. 

Erſt der Morgen. Dann der Nachmittag. Und der 
Bildhauer und Dr. König fielen ihm ein, die beide nicht 
gekommen oder ſchon wieder fortgegangen waren, da fie, 
ihm doch nicht Gluck wuͤnſchen konnten. 

Eines wie das andere — alles war umſonſt geweſen! 

Umſonſt die zaͤhe, eiſerne Mühe langer Monate; ums 
ſonſt die inneren, bitteren Kämpfe und alles heiße Ringen; 
umſonſt alle Kraft und Zeit, die er an dieſe Sache geſetzt! 

Deutlich hatte er heute die Grenze ſeiner Kraft erkannt, 
über die er ſich in unbegreiflicher Verblendung fo ſehr 
taͤuſchen konnte. 

Zum erſten und zum letzten Male in ſeinem Leben hatte er 
heute Öffentlich geſprungen. Nie würde er von jetzt an wieder 
einen Fuß auf das Sprungbrett ſetzen. Sein Traum war zu 
Ende. — Er war ganz erwacht, und er war ſich ganz klar. 

Aber nicht, daß er mit ſeinem Plan geſcheitert war, 
ſondern, daß er ſich lächerlich gemacht hatte — das war 


es, was Felder mit immer tiefer ſich einbohrender, inner 


licher Wut gegen ſich ſelbſt und gegen die andern er⸗ 
füllte. Er war ausgelacht worden. Er — Franz Felder! — 
Und er haßte ſie alle, die es gewagt hatten! — 

Aber er durfte jetzt nur noch den einzigen Gedanken 
haben, nicht zu zeigen, wie ſehr er ſich aͤrgerte. Das 


beſte war jetzt, zu tun, als habe er ſelbſt das Ganze als 


einen im Grunde nur ſcherzhaft gemeinten Verſuch bee 
trachtet, um zu beweiſen, daß es moͤglich ſei, in ganz 

kurzer Zeit faſt ſaͤmtliche möglichen Sprünge zu ele J 
auch ohne jahrelange Übung. 


u EDS TE 2 = 15 a 
9 


. Daher ging er nicht fort, wie er es am liebſten getan, 
Sondern blieb den ganzen Abend und die halbe Nacht 
unter ſeinen Kameraden, war ſo luſtig, wie es ihm uͤber⸗ 
haupt moͤglich war, nahm ſeinen erſten und auf immer 
einzigen Mehrkampfpreis ebenſo überlegen laͤchelnd und 
gleichgültig entgegen, wie die Schwimmeiſterſchaft für 
Berlin fuͤr dieſes vierte Jahr, und brachte es ſogar fertig, 
die Witze, die uͤber ihn als Springer gemacht wurden, 
= anzuhören, ja, auf fie einzugehen. 

Aber in ihm war etwas gebrochen an dieſem Tage 
der großen Enttaͤuſchungen. 
Er hatte geglaubt, daß ihm, der ſo vieles erreicht, nun 
alles möglich fein muͤſſe, woran er die Hand legte. Er 
batte ſich überzeugt, daß er fich ſchmaͤhlich getäufcht — 
daß es nur ein Gebiet gab, auf dem er Meiſter war, und 
daß er nichts anderes zu tun hatte, als moͤglichſt lange 
Meiſter auf ihm zu bleiben: ob es ihm nun gefiel oder 
nicht! 
Alles andere war ihm verſchloſſen. 

Und eine Ahnung daͤmmerte ihm auf, wie eng der 


h wußte. Ewig unerreichbar für ihn. 
Wohin nun aber ſollte er mit dieſer ungeftillten Sehn⸗ 


zufrieden war, wie ein Zirkuspferd im Kreiſe herum zu 
trotten? — Wohin mit ihr?! — 

Es war nur erſt eine Ahnung, die ihm gekommen 
war mit dem heutigen Tage. Aber ſchon begann fie ihn 
zu beunruhigen. 


Kreis ſeiner Welt war. Es gab andere, weitere Gebiete, 3 | 
von denen er nichts verſtand, von denen er nicht einmal 


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8. 


Alles ging wieder ſeinen alten Gang. 
Außerlich veränderte ſich zunaͤchſt nichts im Leben des 
Die Springerei Felders betrachtete man als eine 
Laune, einen verruͤckten Einfall, wert hoͤchſtens noch eines 
7. ſchlechten Witzes, haͤtte man nicht ſeine unbeſchriblche 
Aufregung und ploͤtzlich hervorbrechende Wut geſehen, g 
wenn jemand ihn gelegentlich zu machen verſuchte. So 
d rüuͤhrte man nicht mehr daran. 
Innerlich aber war zwiſchen Franz Felder und feinem 
Klub ein Riß entſtanden, den keine Ausſprache heilte und 4 
deer ſich faſt taͤglich mehr verſchaͤrfte. 
Entſtanden war er durch Felders eigenmaͤchtige Sande 3 
llungsweiſe. Wann war es je dageweſen, daß das Mit⸗ 
glied eines Klubs auf eigene Fauſt zu trainieren begann 
und daraus ſogar vor feinen eigenen Klubbrüdern ein 


Geheimnis machte? — Wenn man das wollte, l 1 
man keinem Klub anzugehören. Wäre es nicht 5 
und zudem die Idee nicht gar ſo abſurd a 
würde man ja der Sache noch auf andere Weiſe 1 
getreten fein. So aber... Außerdem würde er 
wohl lern eingeſehen haben, was er davon gehabt 
hatte! | 


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Man ſprach mit ihm nicht mehr darüber, aber Felder 
fühlte wohl, wieviel an Unmut und Mißtrauen gegen ihn 
zuruͤckgeblieben war. | 

Schlimmer aber war, daß er in den Zeitungen, die 
in dieſen Wochen ſo laut den Ruhm des Kuͤnſtlers, der 
nach ihm ſeinen „Springer“ gebildet, verkuͤndeten, als 
der „Meiſterſpringer von Europa“ bezeichnet wurde. Es 
war Felders ehrgeiziger Wunſch geweſen, daß ſein Name 
genannt werden ſollte; und der Bildhauer, von Dank⸗ 
barkeit gegen ſeinen ſelbſtloſen und treuen Helfer ges 
trieben, hatte alles getan, was in ſeinen Kraͤften ſtand, 
um ihn zu erfuͤllen. Daß dabei der Irrtum unterlaufen 
war, war zwar nicht ſeine Schuld, da er wohl wußte, 
daß Felder nur Schwimmer war, und da er ja ſelbſt 
ſeinem verungluͤckten Debut als Springer beigewohnt 
hatte; aber immerhin entſchuldbar bei den Kunſtſchreibern, 
die wenig von ſolchen Unterſchieden wußten und ſich 
beim Beſchauen der Statue wohl gedacht haben mochten, 
daß der, der als Springer dargeſtellt worden war, auch 
als ſolcher ſich ſeinen Meiſternamen erworben haben 
müßte. 

Wer Felder kannte, wußte, daß ihm am wenigſten 
an dieſem Irrtum irgendwelche Schuld beizumeſſen war. 
Er haͤtte ſich lieber die Hand abhauen laſſen, als einen 
Erfolg für ſich in Anſpruch zu nehmen, den er nicht 
voll verdient zu haben ſich bewußt war. 

Er war außer ſich uͤber das Verſehen. Er ließ ſich 
von dem Kimftler — noch einmal fuhr er zu dieſem 
Zweck den langen Weg nach Wilmersdorf hinaus und 
betrat das ſtaubige, nuͤchterne Atelier wieder, in dem 


= bereits an einem neuen, großen Werk gearbeitet ı wurd 
TE eine ſchriftliche Erklärung geben, daß er fich * 
nie gegenuber als etwas anderes ausgegeben habe, als 
was er wirklich war, und nahm zudem das Verſprechen 
mit ſich, daß alles getan werden würde, um den be⸗ 
dcdauerlichen Irrtum wieder gut zu machen. Das Papier 
ſtellte er zur Verfügung des Klubs und dieſer bewachten 
natürlich die Angelegenheit als feine eigene. 

Aber was half das alles! Felder haͤtte keine Feinde 
haben muͤſſen, fo zahlreich wie feine Erfolge, als daß 
das Verſehen nicht gegen ihn ausgenützt worden waͤre; 
und wenn man ihn auch nicht Öffentlich als den Urs 
bheber desſelben bezeichnete, fo gab es doch genug Stimmen 
in den feindlichen Lagern, die der Behauptung nicht wider⸗ 
8 ſprachen, daß er geduldet habe, was er ſo gerne als Wirk⸗ 
lichkeit geſehen hätte... 

2 Für die immerwaͤhrenden Streitigkeiten und Eifer 
ſüchteleien zwiſchen den Klubs war die ganze Sache DI 
ins Feuer, und ſie entbrannten zu Beginn dieſes Sommers 
öffentlich und heimlich heißer als je. Felder, der fo ftolg 
darauf geweſen war, daß feine Perſon nie den Anlaß zu 
irgend ſolchen gehaͤſſigen und die Sache ſchaͤdigenden 
Fehden gegeben, erlebte, daß ſie und ſein Name in ſie 
hineingeriſſen wurden und fürs erſte überhaupt von 
ihnen nicht mehr zu trennen waren. 7 

Immer wieder kehrte der Gedanke zuruck, der an jenem 
Abend, als er, äußerlich ruhig und laͤchelnd, aber innere 
lich aufs tiefſte erbittert uͤber ſeine Niederlage, Pe 7 
feinen Genoſſen ſaß und fich zum erften Male unter ihnen 
wieder fremd fuͤhlte, zuerſt in ihm aufgetaucht war: ei) 


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Gedanke des Austritts. Ein Austritt aus dem einen und 
der Übergang in einen anderen Verein war nichts Außer⸗ 
gewöhnliches. Es kam alle Tage vor, daß Träger be: 
kannter Namen aus irgendwelchen, oft ganz geringfuͤgigen 
Urſachen ihren angeſtammten Klub verließen und in 
einen andern uͤbergingen, gewoͤhnlich eine Anzahl anderer 
Mitglieder mit ſich ziehend und nicht ſelten eine Spaltung 
herbeifuͤhrend, die die Gruͤndung eines neuen Vereins zur 
Folge hatte. Eine ganze Reihe der wie Pilze aus der 
Erde ſchießenden Klubs war auf dieſe Weiſe entſtanden 
und hatte das Eingehen anderer, aͤlterer, verurſacht. Ja, 
es geſchah, daß manche die Gruͤndung ſolcher neuen Ver⸗ 
eine geradezu als Sport betrachteten, und es war vor⸗ 
gekommen, daß Traͤger von Namen, die zu den allererſten 
in der Schwimmerwelt zaͤhlten, im Laufe weniger Jahre 
drei, vier Vereinen angehoͤrten und ſie ganz nach ihrem 
Belieben wechſelten. 

Aber Felder konnte ſich doch noch nicht mit dem Ge 
danken eines Austritts vertraut machen. Es erſchien 
ihm noch immer als etwas Undenkbares, daß er den 
S.⸗K. B. 1879 verlaſſen ſollte, mit dem er verwachſen 
war mit jeder Faſer, dem er die gluͤcklichen Jahre 
ſeiner Entwicklung verdankte, und den er durch ſeine 
Siege wieder zum erſten und meiſtgenannten unter allen 
gemacht hatte. 

Noch liebte er ihn und alles, was mit ihm zuſammen⸗ 
hing. Noch konnte er nicht von ihm laſſen .. Er 
wehrte ſich gegen feine Gedanken.. 

Aber dann kam ein Tag, der gewiſſermaßen die Ent⸗ 
ſcheidung über ihn hinwegnahm. 


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Hamburg Geſchaͤfte hatte, ſchloß ſich ihm an, und Fel 
konnte es nicht hindern, daß waͤhrend der Fahrt die Re 


wurde er ganz ſtill. 


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* dort, er müfje krank fein; aber man ſah ihn ſchwimmen, 


ER, Felder reiſte nach Hamburg, um zum zweiten m . 
die Elbmeiſterſchaft ſich zu eigen zu machen. 


Ein älteres Mitglied, ein Kaufmann, der gerade in 


auf die Vorgaͤnge und allen Klatſch und Tratſch der 
letzten Zeit kam. So erfuhr er die Außerung Nage 
bei Beratung ſeiner Meldung zum Springen: „daß i 
ihm eine Niederlage wünfche, eine gründliche Nieder⸗ 
lage ...“ Das Wort traf ihn wie ein Schlag. Er ließ 
es ſich zweimal wiederholen, ehe er es glaubte. Dann 


Er ſprach kaum ein Wort mehr an dieſem Tage: 
nicht während der Fahrt, nicht während der Begrüßung 
in Hamburg, nicht während des Feſtes .. Man glaubte 


mit einer ſolchen verbiſſenen Wut und Kraft, daß die 
bloße Vermutung laͤcherlich ſchien. Sofort nach ſeinem 
Siege — und was für ein Sieg war es wieder! — ging 
er allein zum Bahnhof, ohne ſich von einem Menſchen 
zu verabſchieden, und fuhr mit dem Schnellzug nach 
Berlin zurück. vr 
Er ging ſofort in das Reſtaurant des Klublok 
wo er gewiß war, ſeine Leute zu treffen. Er 
einige von ihnen beim Billard. Auch Nagel. Er u 
bis die Partie zu Ende war, ohne auf irgendwelche 
Fragen Antwort zu geben. 79 
Dann gingen er und ſein alter Schwimmwatt 
das noch leere Klubzimmer, und hier, in dem 2 N 
der die Spuren jeder Etappe in Felders Laufbahn 


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irgendeinem Preisſtück, von dem einfachſten bis zu dem 
koſtbarſten, aufwies, hier erfolgte die Auseinanderſetzung 
zwiſchen den alten Freunden. 


Felder war maßlos erregt; Nagel blieb ruhig wie 


e immer. Und nichts reizte den anderen ſo ſehr, wie dieſe 
kuͤhle Ruhe. 


— Iſt es wahr, daß du mir eine Niederlage, eine 


Niederlage gewuͤnſcht haſt? — begann Felder, und die 


Antwort, die er bekam, brachte ihn außer ſich: 

— Ich habe ſie dir nicht gewuͤnſcht; aber ich habe 
geſagt, eine gruͤndliche Niederlage ſei das einzige, was 
dich noch zur Beſinnung bringen koͤnne. 

— Er ſei alſo nicht bei Beem 

— Er ſei ſeit einem halben Jahre ſo voͤllig von Ehr⸗ 
geiz und Ruhmſucht verblendet, daß er jede Direktive 
verloren habe und nach dem Unmoͤglichen ſtrebe. 

Und nun ſprach Nagel ruhig und lange, und wenn 
manches auch wahr war, was er ſagte, ſo war anderes 
doch auch einſeitig und unverſtaͤndig, und alles war hart 
und ſcharf und unfreundlich. Felder hoͤrte es bis zum 
letzten Worte. 

Er moͤge ſich doch nicht einbilden, ſetzte Nagel aus⸗ 
einander, daß man die Wandlung in ſeinem Weſen nicht 
ſchon ſeit langem und mit immer groͤßerem Mißfallen 


beobachtet habe. Daß er der Entwicklung in dem Aus⸗ 


bau des Klubs nie das noͤtige Intereſſe entgegengebracht 
habe, daruͤber war man ſich ja ſchon lange klar geweſen. 
Wann habe er ſich wohl jemals um die Entwicklung 
und den inneren Fortſchritt des Vereins gekuͤmmert? — 


Habe er z. B. jemals der Jugendabteilung in ihrer Aus⸗ 


Dann aber fei es mit feiner Entwicklung zu Ende, dann 


bildung geholfen? — Sei er auch nur ein einziges Mal 
einem der Jüngeren mit Rat und Hilfe zur Seite ger 
ſtanden? — Sei er nicht immer nur mit Widerſtreben 
an die Beteiligung bei dem Waſſerpolo gegangen, und 
nur dann, wenn es unumgaͤnglich noͤtig geweſen war? 
— Habe er nicht noch letzthin ſeine Beteiligung am 
Staffettenſchwimmen aus reinem Hochmut einfach ab⸗ 
gelehnt? — Immer habe er nur an ſich gedacht, ſchon 
als kleiner Junge, immer nur an ſich, und alles andere 
ſei ihm ſchnuppe geweſen. Auch mit den Kaͤmpfen des 
Vereins um ſeine Exiſtenz innerhalb der Bewegung (damit 
meinte Nagel die Streitigkeiten mit anderen Vereinen) 
habe er ſich nie befaßt, ſondern ſei immer gleichguͤltig 
und mürrifch nebenher gegangen, und wenn er ſich in 
letzter Zeit beteiligt habe, ſo ſei es nur geſchehen, um 
feine Perſon auch hier in den Vordergrund zu drängen, 
Denn im Vordergrunde muͤſſe er jetzt natürlich uͤberall 
ſtehen. Nicht zufrieden mit ſeinen unvergleichlichen Er⸗ 
folgen in Deutſchland und im Auslande als Schwimmer, 
habe er dann endlich ſogar ſeine Haͤnde nach den Lor⸗ 
beeren anderer geſtreckt und fie an ſich zu reißen verſucht. 
Das ſei ihm nun zwar nicht gelungen, und daruber freue 
er ſich, er, Nagel, der ihn immer gewarnt habe, ſeinem 5 
Ehrgeiz allzuſehr nachzugeben 4 
Denn wohin könne ihn dieſer jetzt noch führen? — 
Hoͤchſtens noch zur Spezialität, zum Berufsſchwimmer. 


ſei er kein Sportsſchwimmer mehr, ſondern nur noch . 
eine Abnormitaͤt. Ein Profeſſional, der feine Kunſt für 
Geld zeige. — Aber es fei nie der Zweck des Klubs ge: 


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er 


. weſen, dem anzugehören fie beide die Ehre hatten, ſolche 


hors-concours-Größen heranzuzuͤchten; fein Ziel und ein⸗ 


N ziger Zweck ſei die gedeihliche Pflege des Schwimmſportes, 


und nichts anderes 

So redete Nagel, und er ſprach noch in ſeiner weit⸗ 
ſchweifigen und langſamen Art, als die anderen von ihrem 
Billard aus dem Nebenzimmer und immer mehr Mit⸗ 
glieder, aͤltere und juͤngere, hereinkamen, ſich um den 
Tiſch ſetzten und geſpannt zuhoͤrten. 

Leider war Bruͤning nicht unter ihnen, Bruͤning, 
der einzige, der mit feiner Gemuͤtlichkeit, Erfahrung und 
ſeiner Lebenskenntnis, mit ſeiner Zuneigung fuͤr Felder und 
feiner allgemeinen Beliebtheit im Klub die Sache noch hätte 
ins rechte Geleiſe bringen koͤnnen. Er war nicht in Berlin, 
ſondern wieder einmal auf einer ſeiner ploͤtzlichen Reiſen. 

Felder ſaß ſtumm und blaß da. Jedes der Worte 
Nagels ließ den Groll und die Bitterkeit in ſeinem Herzen 
hoͤher und hoͤher ſteigen. Das war ja alles falſch und 
unrecht, was er da vorbrachte, und jeden der Vorwuͤrfe 
wies er im Innern von ſich, ſowie er fiel. Er haͤtte 
ſich nicht um das Gedeihen des Klubs gekuͤmmert, er, 
der nur fuͤr ihn, nur in ihm all dieſe Jahre gelebt hatte? 
— Zwar mit der Jugendabteilung hatte er ſich wenig 
befaßt, das war richtig; aber er verſtand nun einmal 
nicht, Anordnungen zu geben und zu lehren. Er war 
doch nicht der Schwimmwart. Aber war es nicht weit 
wichtiger geweſen, daß er ſelbſt in unermüdlichem Eifer 
ſich ausgebildet hatte? — Wie haͤtte er es denn ſonſt 
zum erſten Schwimmer der Welt bringen können? — 
Wie hätte er ſich dankbarer erweiſen koͤnnen, als dadurch, 


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daß er alle Erfolge mit feinem Verein teilte und d Von 
bhalbvergeſſenen Namen wieder zu Ehren brachte? — i 


habe ſich früher nicht an den Debatten beteiligt? — Auch 
das ſei wahr, aber dieſe kleinlichen Streitigkeiten ekelten 
ihn nun einmal an. Dafuͤr habe er geſchwommen, ge⸗ 
ſchwommen, ſiegreich geſchwommen! ... War das nicht 
mehr wert, als alle Worte? — br 

So wies er innerlich jeden der Vorwürfe, einen nach dem 4 
anderen, zurüc, und nur auf den letzten: den des Ehrgeizes 
nach einem fremden Ziele, fand er nicht die richtige Antwort, 
ſo daß er, als Nagel endlich geendet und er blaß und 
verwirrt aufſtand, um zu antworten, faſt alles vergeſſen 
hatte, was er, der Schwerfaͤllige, dem Redegewandten ent⸗ 
gegnen wollte. | 

Er brach los, aber was er vorbrachte, waren nur un⸗ 
zuſammenhaͤngende Worte und halbe Saͤtze. Er hatte 
nie verftanden, ſich auszudruͤcken — und auch in dieſer 
Stunde, wo ſein Herz ſo voll war, gingen ſeine Augen 
nur unruhig von einem der bekannten Geſichter zum 
anderen, als ſuchten ſie bei ihnen Hilfe gegen dieſe un⸗ 
erhoͤrten Beleidigungen und Anklagen, bis fie auf der 
Statuette des Springers hafteten, die dicht vor ihm auf 
dem Tiſche ſtand und die er in ſeiner Erregung erſt jetzt 
ſah. Sie war heute gekommen, waͤhrend er nach Ham⸗ 
burg gefahren war. Der Bildhauer hatte ſeiner Dank⸗ 
barkeit und Erkenntlichkeit für Felder einen Ausdruck geben 
wollen, und da dieſer ſo oft und mit ſolcher Liebe von 
ſeinem Klub geſprochen, hatte er gedacht, ihm eine Freude 
zu machen, wenn er dieſem eine kleine Nachbildung ſeines 
inzwiſchen fo berühmt gewordenen Werkes für das Ver 


— 225 — 


einszimmer ſtiftete ... Nun ſtand das wertvolle Geſchenk 
auf dem Tiſche vor Felder. 

Als dieſer begriff, was es war, ſtockte er von neuem, 
und abermals wallte ein maͤchtiger Groll in ihm auf. 
Immer und immer wiederholte er ohne Zuſammenhang 
das Wort von der Niederlage, und faſt ſinnlos vor Zorn 
ſchrie er endlich, als er in keinem der Geſichter um ſich 
her auch nur eine Spur von Verſtaͤndnis fuͤr ſeine Ge⸗ 
fühle fand, über den ganzen Tiſch hinweg: 

— Ja, Niederlagen wuͤnſcht ihr mir, aber meine Preiſe 
nehmt ihr gern! 

Das haͤtte er nicht ſagen duͤrfen, und er merkte es 
ſofort an der Stille, die dieſen Worten folgte. Dann unter⸗ 
brach fie eine ſcharfe, hoͤhniſche Stimme vom Tiſchende 
her, die eines alten Gegners: 

— Sogar von dem Meiſterſpringer 

Vor Felders Augen wurde es dunkel. Er wußte nicht 
mehr, was er tat. Er griff nach der Statuette, zog fie 
ſo heftig zu ſich heran, daß ſofort ein Arm abbrach, faßte 
ſie und ſchleuderte ſie mit ſolcher Heftigkeit zu Boden, 
daß ſie in tauſend Splitter zerbrach. 

1 Ohne fich umzuſehen, ging er hinaus. Niemand hielt 
ihn, niemand ging ihm nach. 

Als er im Torwege des Hauſes an der Straße ſtand 
fühlte er plotzlich, daß feine Augen naß waren. Er ſah 
nichts mehr und fuhr mit dem Handruͤcken über fie hin. 
iz Dann merkte er, daß es Tränen waren. Er wunderte fich. 
Es war das erſte und einzige Mal in ſeinem Leben, 


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Koepke zugleich mit ihm austrat, war ebenſo ſelbſtver⸗ 


Mitglieder zuſammen, ein Wort gab das andere, 


9. 


Koepke mußte den Brief aufſetzen, in dem Felder 
ſeinen Austritt anmeldete. Kein Entwurf genuͤgte dem 
im Innerſten Gekraͤnkten. Sogar der übliche „Schwimmer⸗ 
gruß“ am Ende mußte fortbleiben und wurde durch das 
ſteife „Hochachtend“ erſetzt. Endlich entſchied er ſich für 
die kürzeſte Faſſung. Trotzdem dauerten Vorbereitungen 
und Ausführung der Abſchrift faſt eine Stunde. — Daß 


ſtaͤndlich, wie nebenſaͤchlich. 3 
Es war kaum bekannt geworden, daß Felder den 
S.⸗K. B. 1879 verlaſſen wollte, als ſich bereits mehrere 
der erſten Berliner Schwimmvereine um ſeine Mitglied⸗ 
ſchaft bewarben. Alle waͤren ſtolz darauf geweſen, d 
Meiſterſchwimmer ihr eigen zu nennen. Aber Felder 
hatte bereits entſchieden, und es war mehr ein Zufal 
als Abſicht, der ihn den Klub „Hecht“ waͤhlen ließ. E 
traf eines Abends mit mehreren der ihm gut bekannten 


Felder war ſein Mitglied, ehe er ſich deſſen verſah. Es 
war kein beſonders hervorragender, aber geachteter und 
ſtrebſamer Verein, der ſich natürlich mit dem „S.⸗K. B. 
1879% in keiner Beziehung meſſen konnte, aber doch auch 
nicht zu jenen kleinen Klubs gehoͤrte, die lediglich aus 


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3 — 27 — 


Vereinsſimpelei entftanden waren und das Schwimmen 
nur ſo nebenbei betrieben. Er ſetzte ſich in ſeiner Herren⸗ 
abteilung meiſt aus kleinen Gewerbetreibenden und Be 
amten, in ſeinen juͤngeren Leuten aus deren Angehoͤrigen 
und Bekannten zuſammen und bildete gewiſſermaßen eine 
große Familie. 

Fuͤr Felder war die Art und Weiſe entſcheidend, mit 
der man ihm entgegenkam. Man betrachtete ſeinen Ein⸗ 
tritt als hohe Ehre und nahm die Gelegenheit ſofort 
wahr, den Tag als Feſt zu feiern, wie man uͤberhaupt 
in geſelligen Zuſammenkuͤnften groß war. 

Felder gebot von der erſten Stunde an unumſchraͤnkt 
in allem, was er wollte und wuͤnſchte. Das war nun 
zwar niemals mehr, als Beteiligung an jeder irgendwie 
bedeutſamen Schwimmkonkurrenz. Denn jetzt, wo er ſich 
endguͤltig auf dieſes, ſein Gebiet, beſchraͤnkte, war ſeine 
Eiferſucht, unumſchraͤnkt auf ihm zu herrſchen, größer 
als je. Keiner widerſprach feinen Wünfchen. Dafür ers 
wartete man Wunderdinge von ihm, als Geringſtes 
einen ganz neuen Aufſchwung des Klubs. 

Der Anfang war vielverheißend. Man leerte die Kaſſe 
willig, um Felder auf moͤglichſt viele auswaͤrtige Feſte 
ſenden zu konnen, und freute ſich kindlich an den ers 
oberten Preiſen, mit denen man das noch recht kahle 
Klubzimmer ſchmuͤckte. So ſiegte er im Laufe der Sommer⸗ 
monate nacheinander: im Schwimmen um die „Havel⸗ 
meiſterſchaft“, bei dem neben ihm nur noch einer ſtartete; 
in Magdeburg im Schwimmen um die „Elbmeiſterſchaft“, 
die er nun ſchon zweimal ſein nannte; in dem großen 
„Müggelſeeſchwimmen“, einem heißen Kampfe; in Hans 

15* 


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nover, wo er allein an den Start ging, und daneben in 
mehreren lokalen Veranſtaltungen der Berliner Klubs. 


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— 228 — 


Er unterlag eigentlich nur ein einziges Mal, als er auf 
dem Gaſtſchwimmen des „Triton“ ſich von dem Favorit 
dieſes Klubs im Bruſtſchwimmen zu deſſen eigenem Er⸗ 
ſtaunen ſchlagen ließ. 5 

Aber die Kämpfe dieſes Jahres ftanden unter keinem 7 
günftigen Zeichen und nicht auf der Höhe derer der Vorjahre. 

Die Europameiſterſchaft wurde nicht in England aus⸗ 
gefochten, ſondern in Wien. Als Felder im Auguſt dort 
hinreiſte, fand er weder von England, noch von Italien 
Konkurrenten vor. England hatte, wie gewoͤhnlich, keine 
entſandt, und der italieniſche Meiſter, mit dem er nun 
ſchon zweimal ſo erfolgreich gerungen und der Stein und 
Bein geſchworen, ihn beim dritten Male unterzukriegen, 
war nicht erſchienen. Er ſei krank, hieß es ... Deutſch⸗ 
land hatte uberhaupt keinen geſchickt außer ihm. Es 
konnte nichts Beſſeres tun. Aber die Freude an der 
diesjährigen Europameiſterſchaft war Felder getruͤbt. Er 
waͤre nur zufrieden geweſen, wenn er ſie gegen die erſten 
Meiſter der Welt auch diesmal haͤtte verteidigen koͤnnen, 
vor allem gegen jenen auſtraliſchen Schwimmer, von 
deſſen phaͤnomenalen Leiſtungen die internationalen 
Sportsblätter fo viel ſprachen, deſſen Rekord über die 
1000 Meter⸗Strecke den feinen um zwei Minuten Übers 
traf und deſſen Portraͤt deshalb in der letzten Nummer 
des „Sport im Bilde“ neben das ſeine geſtellt war. 
Aber der war nicht gekommen und auch nicht erwartet 
worden ... Er meſſe ſich nur in Auſtralien und Eng: 
land, hieß es. 


— 29 — 

Als Sieger kehrte er zuruͤck, mit Jubel empfangen. 
Als Sieger ging er auch aus dem diesjährigen großen 
Verbandsſchwimmen in Charlottenburg hervor, wo er 
einen doppelten Triumph davontrug. Denn hier fuͤhrte 
er zum erſten Male die neuen ſchwarz⸗gelben Farben gegen 
die blau⸗weißen ins Feld. Der S.⸗K. B. 1879 wagte es 
und hatte zum Schwimmen uͤber dreihundert Meter — wie 
früher ihn — ein Mitglied gemeldet. Felder lachte, als er 
es hoͤrte. — Gegen ihn! — Man wollte ihn erſetzen? — 
Man ſollte ſich taͤuſchen. Er wollte ihnen zeigen, was 
ſie an ihm verloren hatten. Und es machte ihm 
ein grauſames Vergnuͤgen, den fruͤheren Klubgenoſſen, 
mit dem er ſo manches Mal zuſammen im Spiel ge⸗ 
übt hatte, noch neben ſich liegen zu laſſen, als die an⸗ 
deren drei Konkurrenten ſchon laͤngſt hinter ihnen ges 
blieben waren, ihm zu erlauben, bis auf Körperlänge 
ans Ziel zu kommen, ſchon die Rufe zu hören, die 
früher ihm gegolten, und ihn dann unter dem toſen⸗ 
den Beifall der Schwarz⸗Gelben und aller Zuſchauer 
um dieſe eine Körperlänge zu ſchlagen, indem er mit 
ſeinem gefuͤrchteten und beruͤhmten Anſchlag ans Ziel 
ging 

An dieſem Abend, als er neben dieſem 300 Meter: 
Siege auch noch den neu geſtifteten „Kaiſerpreis“ für 
den „Hecht“ erwarb und ſeine neuen Genoſſen nicht genug 
tun konnten, ihm ihre Freude und Dankbarkeit zu be⸗ 
weiſen, waͤhrend der S.⸗K. B. 1879 in corpore das 
Lokal der Preisverteilung verließ, genoß er ganz das Ge⸗ 
fühl der Genugtuung geſaͤttigter Rache. 

Aber in naͤchſter Zeit, in den langen Tagen und 


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— 230 — 1 


Wochen zwiſchen den großen Feſten, ſonſt ſtets ſo aus⸗ 
gefuͤllt durch ruhige Arbeit und frohen Verkehr mit lieben 
Freunden, fuͤhlte er mehr als je, was er in dieſem 
Sommer verloren. Keinen der beiden Schlaͤge — die 


erſten, die er in ſeinem Leben empfangen, — vermochte 


er zu verwinden: weder die Niederlage im Springen, noch 
den Verluſt ſeines Klubs. Der eine hatte ihn noch 
trotziger und eiferſuͤchtiger gemacht, obwohl fie ihn tieß 
verletzt; aber an dem anderen litt er. Es war eine 
Wunde, die ſich nicht ſchließen wollte. 

Denn unter feinen neuen Genoſſen fühlte er ſich 
fremd. Wie als Knabe ſchon, war er auch jetzt noch 
nicht imſtande, ſich ſchnell an neue Menſchen anzu⸗ 
ſchließen und im Verkehr ſich leicht zu geben. Das wurde 
natürlich auf der anderen Seite ebenfalls empfunden 
und manche Verſuche vertraulicher Annaͤherung * 
von ſelbſt auf. : 

Felder war nicht mehr zufrieden und glücklich. 
ſtanden ſeine Siege ganz auf der Hoͤhe derer vom * 
jahre. Er ſchwamm noch ebenſo tadellos, ſein Stil war 
unanfechtbar, wie ſeine Siege, aber ſie machten nicht mehr 
dasſelbe Aufſehen wie bisher. Man hatte ſich an ſie 
gewohnt und erwartete nichts anderes von ihm. Er 


ſelbſt legte ihnen nicht den Wert mehr bei, wie fruher. — 


Manche ſagten, eine gewiſſe Gier und Rückſichtsloſigkeit 
habe ſich ſeiner bemaͤchtigt, die ihm fruͤher nicht eigen 
geweſen fei. ö 
Vielleicht taͤuſchten ſie ſich, weil er nicht mehr ſo ruhig 
war, wie fonft, nicht mehr mit derſelben frohen Unbes⸗ 
fümmertheit und Heiterkeit an den Start ging. Aber 


— 231 — 


in einem hatten ſie recht: Felder war wirklich ein anderer 
geworden. f 
Er war nicht mehr zufrieden, nicht mehr gluͤcklich. 
Außerdem beſchlich ihn jetzt zuweilen ein ganz neues 
Gefuͤhl, das er nie vorher gekannt hatte: er fühlte ſich 
einſam. 


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10. 


Es war nichts Beſonderes, daß ſich im Briefkaſten 
des Klubs Sendungen für Felder befanden. Gluͤckwuͤnſche, 
Einladungen zur Beteiligung an Schwimmfeſten, Anliegen 
aller Art, um Photographien, Lebenslauf und Autograph 


kamen alle Woche, und es war nicht das erſte Mal, daß 


ſich unter all dieſen geſchaͤftlichen Dingen, die ſaͤmtlich 
von Koepke mit rührender Sorgfalt und komiſcher Wich 
tigtuerei erledigt wurden, fo daß Felder nur feinen Nas 
men unter die Antworten zu ſetzen brauchte — es war 
nicht das erſte Mal, daß ſich unter den Eingaͤngen 
Schreiben von zarter Hand befanden, auf die der Emp⸗ 
faͤnger zwar nie reagierte und die er meiſtens dem Ge⸗ 
lächter feiner Freunde preisgab, Briefe, die ihn aber doch 
dazu veranlaßt hatten, ſeine Korreſpondenz erſt ſelbſt 
durchzuſehen, ehe er fie feinem getreuen Sekretaͤr aus⸗ 


lieferte. 


geſſenen Duft und ſchob ihn haſtig in die Taſche. So⸗ 


bald er allein war, oͤffnete er ihn. Erſt ſchien er ihm 
in einer fremden Sprache geſchrieben zu ſein, ſo fremd 
und ſeltſam kamen ihm die ſchlanken, eckigen Buchſtaben \ 


Eines Abends wurde ihm nur ein Brief gegeben, 
und kaum hatte ihn Felder in der Hand, als er wußte, 
von wem er kam. Er fpürte einen ſchwachen, unver⸗ 


1 


27 
— 233 — 


vor. Dann entzifferte er ihn nach und nach. Keine An⸗ 
rede, keine Unterſchrift. Was er las, waren nur dieſe 
Zeilen: 5 

„— Ich bitte Sie, mich zu beſuchen. Ich weiß, Sie 
werden kommen. Jeden Freitag abend um 8 Uhr wird 
man fie an der Ecke der Charlotten-⸗ und Taubenſtraße, 
der ſuͤdweſtlichen Ecke des Gendarmenmarkt, dort, wo die 
Litfaßſaͤule ſteht, erwarten, um Sie zu mir zu führen. 
Ich weiß, Sie werden kommen!...“ 

Felder war ganz verbluͤfft. Er nahm das Kuvert in 
die Hand: der Brief war an ihn. Er trug die Adreſſe 
des S.⸗K. B. 1879 und war durch deſſen Schriftfuͤhrer, 
wie ſchon ſo mancher andere, einfach an den „Hecht“ 
weitergeſandt worden. Es war kein Zweifel moͤglich. 

Und plotzlich, während er noch das Papier in der 
Hand hielt und nicht wußte, was er denken ſollte, ſtieg 
von ihm wieder der ſtarke, ſeltſame Duft eines beſtimmten 
Parfums auf und mit ihm die hohe, ſchlanke Geſtalt in 
grauer Seide mit dem kuͤhnen und feſten Blick. 

Das war ſie, die ihn damals im Café ſo unverwandt 
angeblickt, die er in der Kunſtausſtellung zum zweiten 
und an dem Nachmittag desſelben Tages — er biß die 
Zaͤhne zuſammen, wenn er an dieſen Tag dachte — zum 
dritten Male geſehen hatte, und dann nie wieder. 

Sie mußte es ſein, die dies ſchrieb. Es konnte nie⸗ 
mand anders ſein. Dieſer Brief war von ihr. 

Aber was fiel dieſer Perſon denn ein? — Das war 
ja der reine Wahnſinn, einem ſo zu ſchreiben: ohne Anrede, 
ohne Namen und in dieſem Ton! Aber ſie irrte ſich, 


11. 


So ging auch dieſer Sommer zu Ende, und Franz 
Felder war faſt froh daruͤber. Viele neue Ehren hatte 


er ihm gebracht, keine neuen, keine reinen Freuden mehr. 8 hr 
Alles war anders geworden gegen den vorigen. En 


kurzes Jahr, und welche Veraͤnderungen! — 

Getrennt von ſeinen alten Freunden, fremd und un⸗ 
heimiſch unter den neuen; nicht mehr dumpf in den 
engen Bezirk eines abgeſchloſſenen Lebens gebannt, ſondern 
beunruhigt durch Einblicke in die Lebensführung anderer 
Kreiſe, erworben auf weiten und abwechflungsreichen 
Reiſen beim Streifen weiterer Fernen; neben unerhoͤrten, 
nicht endenwollenden Siegen eine laͤcherliche, zweckloſe, 
einzig ſelbſtverſchuldete Niederlage — hatte er Gefühle 
von Bitterkeit, Groll und wiederum geſaͤttigter Rache 
kennen gelernt, die der ſchlichten, frohen Unbekuͤmmert⸗ 
heit ſeiner Jugend bisher voͤllig fremd geweſen waren. 


Er hatte die hoͤchſte Höhe erreicht. Keine bewundernden Ai 


Augen folgten feinem Aufſtieg mehr. 

Er ftand oben, ganz allein, wie er es gewollt, Nun 
ging es in ſchwindelnder Höhe von Grat zu Grat, und 
wer ihm nachſah bei feiner haſtigen Wanderung von 
Sieg zu Sieg, ohne Ausruhen, ohne Freude mehr, der 
konnte fich eines bangen Gefühles für ihn nicht erwehren. 


* 


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. 


Eines Tages würde er fallen in den Abgrund der 


Vergeſſenheit. 


Felder ſelbſt wußte es. Aber wie der tollkuͤhne Wage⸗ 
hals, der in atemloſer Haſt von Gipfel zu Gipfel eilt 
und keinen Blick ruͤckwaͤrts mehr in die Tiefe zu tun 
wagt, weil er fuͤrchtet, der Schwindel koͤnne ihn er⸗ 
greifen und niederreißen, ſo wollte auch er nicht mehr 
daran denken, woher er gekommen war, und nicht wiſſen, 
wohin er ging. 5 

Statt in ruhiger Wahl ſich die ſchoͤnſten der Fruͤchte 
von dem Baume zu pflücken und fie zu genießen, ruͤttelte 
er in unerſaͤttlicher Begierde an ihm und ließ fie zur 
Erde fallen, ohne ſich kaum noch die Muͤhe zu geben, 
ſie zu zaͤhlen. 

Die ſtille Wut des Gehetzten überfiel ihn zuweilen, 
von dem man das Unmoͤgliche verlangt und der doch 
über feine eigene Kraft nicht hinaus kann. 

Und doch war er es ganz allein, der ſich unaufhoͤr⸗ 
lich antrieb mit den quälenden Zurufen feines Innern: 
„Weiter! — weiter! — Immer weiter! — Nur kein 
Stillſtehen! “ 1 

Er ſchwamm nicht mehr, wie bisher. 

Er hatte keine Achtung mehr vor ſeiner eigenen Kunſt, 
weil ſie ihm nicht mehr die hoͤchſte Freude war. a 

Wie er angefangen, in ſeinen Gegnern ſeine Feinde 


zu ſehen, fo ſah er einen Feind jetzt auch in feinem 


Waſſer. 
Nie tummelte er ſich mehr in ihm, wie als Knabe 
im kindlichen Spiel; nie rang er mehr mit ihm, um die 


— 371 — 
Kraft des Juͤnglings in ehrenvollem Kampfe mit dem 
Gegner zu meſſen. 

Das Waſſer war ſein Feind geworden. Er kaͤmpfte 
mit ihm auf Tod und Leben — um ſein Leben! 

Und er behandelte es, wie einen Feind. Er gruͤßte 
es nicht mehr mit frohem, leuchtendem Blick, wenn er 
ſeine glitzernde Flaͤche ſah. Er koſte es nicht mehr mit 
warmer Hand und hielt keine vertrauliche, heimliche Zwie⸗ 
ſprache mehr mit ihm. 

Haſtig kam er, griff beim Sprunge mit den Haͤnden 
in die Flut, als wolle er fie würgend bei der Gurgel 
packen, ſchlug und mißhandelte ſie, wenn ſie ihn nicht 
ſchnell genug zum Ziele trug, und das Waſſer ſchien es 
zu fuͤhlen. 

Er bildete ſich ein, es ſetze ihm ſeit einiger Zeit einen 
geheimen und trotzigen Widerſtand entgegen, als truͤge 
es ihn nicht mehr ſo leicht wie bisher zu ſeinen Zielen, 
und raſend vor Wut mißhandelte er es mit den Faͤuſten, 
um es ſeinem Willen gefuͤgig zu machen. 

Und das Waſſer murrte und grollte und ſchrie unter 
dieſen ungewohnten grauſamen und rohen Schlaͤgen, und 
baͤumte ſich auf, und ließ ihn doch immer noch ge⸗ 
waͤhren, weil es ihn vor Allen ſo lange geliebt hatte und 
immer noch liebte. 

Aber Felder hoͤrte die heimliche Warnung der ver⸗ 
trauten Stimme ſchon nicht mehr. 


Vierter Teil 


Er war nicht mehr zufrieden und nicht mehr glücklich. 
| Es ſchien ihm, als habe fein Leben keinen Inhalt 
mehr. Was feine Freude geweſen war, war es nicht 
mehr. 
And ſtaͤrker und ſtaͤrker wurde das Gefühl der Ein⸗ 
ſamkeit in ihm. Er hatte zwar jetzt jeden Abend etwas 
vor, ging hierhin in ein Varietétheater, und dorthin zum 
Bier, aber wiewohl er in Geſellſchaft war, fuͤhlte er ſich 
doch allein. 
Eines Tages erhielt er einen zweiten Brief, auf dem: 
ſelben ſtarken, rauhen Papier mit dem unbeſchnittenen 
8 
„— Vergeſſen Sie nicht: jeden Freitag Abend um 
18 * erwartet man Sie an der Ecke der Tauben⸗ und 
Charlottenſtraße, dort, wo die Litfaßſaͤule ſteht, denn ich 
weiß, Sie werden kommen. Einmal werden Sie kommen 


E ganz ſicher! ...“ 

} Wieder knitterte er ihn zuſammen, und wieder faltete 
er ihn auseinander, um ihn abermals zu leſen. Die 

Geſchichte wurde ihm unheimlich. Der beſtimmte, uͤber⸗ 

legene Ton des Briefes ließ diesmal kein Lachen in ihm 

aufkommen. Wenn er noch feine alten Freunde gehabt 


Hätte, würde er einem von ihnen, z. B. Brüning, den 
om 16 


beſchaͤftigen. Dieſe geheimnisvollen Briefe — woher hatte 


und ſchamlos vor. Er wußte ganz gut, was ſie von ihm 


= EEE? 


Brief gezeigt haben. Unter feinen neuen war e 
dem er ſich anvertrauen mochte. N 
Er dachte zuweilen an die erſte Begegnung im Cafe 
und die beiden ihr folgenden. Manchmal, wenn er 
eine ſchoͤne Frau oder ein huͤbſches Maͤdchen ſah, kam 
ihm die Fremde ins Gedaͤchtnis, und immer fiel der Ver⸗ 
gleich zu ihren Gunſten aus. Immer dachte er auch 
daran, daß ſie an jenem Nachmittag ſeinem Unterliegen 
beigewohnt — weshalb war ſie damals gekommen, wenn 
nicht ſeinetwegen? — Wußte fie, wer er war? — und 
was mußte ſie nun von ihm denken? — 

Das Raͤtſelhafte der ganzen Sache begann ihn zu 


ſie ſeinen Namen erfahren, und den des Klubs? — Sie 
mußte ihn an jenem erſten Abend im Cafe gehört haben, 
anders war es überhaupt nicht moͤglich. 

Und dieſes Rendezvous? — Ecke Tauben⸗ und Char⸗ 
lottenſtraße. Das war am Schauſpielhauſe. Auf dem 
Gendarmenmarkte. Wer erwartete ihn dort? — Und wat 
wollte ſie von ihm? — Was konnte ſie von ihm wollen 
— — Nur eines! | 

Nie wäre er hingegangen, wenn er ſich nicht fo * 
ſam gefühlt hätte, wenn fie ihn nicht an jenem 2 a 
mittage geſehen und — wenn ſie nicht ſo ſchoͤn geweſen 
waͤre! 

Denn ſie war ſo ſchoͤn, daß er ſie nie vergeſſen hatte. 
Als er dieſen zweiten Brief bekam, fühlte er es; und er 
zerriß ihn nicht, ſondern ſteckte ihn zu ſich. 

Dann wieder kamen ihm dieſe Aufforderungen dumm 


— 243 — 
wollte. Er war kein kleiner Junge mehr, und zudem 
war er ein Berliner. Mit ihm „ſich amuͤſieren“ — das 
wollte fie! ... 

Schließlich, nachdem er den erſten Freitag und den 
zweiten hatte verſtreichen laſſen, beſchloß er, an einem 
naͤchſten einmal an der bezeichneten Ecke vorbei zu gehen. 
Er wollte doch einmal nachſehen, wer denn dort auf ihn 
wartete. Wahrſcheinlich niemand. ... Sie hatte es jetzt 
wohl aufgegeben, nachdem ſie einmal geſehen, daß „mit 
ihm nichts zu machen war“. — 

Um ſieben Uhr kam er von der Arbeit. Um acht war 
er an der Ecke. Er hatte recht: es war niemand da, 
um ihn zu „erwarten“. Er war doch ein rechter Eſel. 
Da, ſchon wandte er ſich zum Gehen, ſtand — wie aus 
der Erde gewachſen — dicht neben ihm eine alte, kleine 
Frau, in einen weiten Mantel gehuͤllt und den Kopf halb 
unter einer großen Kapuze verborgen, ſo daß Felder nur 
die ſcharfe Naſe und die dunklen, funkelnden Augen ſah, 
und ſagte mit einem fremden Akzent haſtig und beſtimmt: 
„Bitte mir nur zu folgen! — Nicht weit ...“ 

Wo war ſie ſo ploͤtzlich hergekommen? — Hatte ſie 
hinter der Saͤule geſtanden? — Oder war ſie aus einer der 
wartenden Droſchken geſtiegen? — Felder hat es nie erfahren. 
Aber er folgte ihr faſt willenlos, ſo uͤberraſcht war er. 

Die Alte ging ſchnell vor ihm her. Noch überlegte 
er, ob er nicht umkehren ſollte, als ſie bereits vor einem 
Haufe halt machte und die Tür oͤffnete. Er hatte nur 
Zeit, zu fragen: „Wohin fuͤhren Sie mich denn eigent⸗ 
lich?“ — Aber die Alte verſtand ſeine Frage offenbar gar 


nicht. Sowie er die erſten Worte ſprach, unterbrach ſie 
16* 


af Ale un a 


ae a ee re ala FORTE die 


nur zu folgen! — Gar nicht weit! — Schon hier!“ — 


Umgebung einer verwöhnten Frau. 


8 


ihn und ſagte wieder nur (und es war wie eine eingelernte 
Redensart) ſchnell und in hartem Deutſch: „Bitte mir 


Nochmals, als ſie dann die Treppen hinaufſtiegen und 
er immer weiter, wie gebannt, folgte, wollte er fragen 
und ſich wehren, aber wieder wurde eine Tür geoͤffnet, 
aus dem Entree ſtroͤmte es ihm hell und warm entgegen, 
und die Alte wiederholte, indem ſie ihn durch Gebaͤrden 
aufforderte, ſeinen Überzieher abzulegen und ihm dabei 
behilflich war: „Schon hier! — Schon hier!“ — 

Im naͤchſten Augenblicke ſtand Franz Felder in einem 
hohen, daͤmmerigen Gemach: ſchwere Teppiche auf dem 
Boden, ſchwere Portieren über den Türen und Fenſtern, 
ſchwere Fauteuils und Ruheſtaͤtten, aber ſonſt alles klein 
und leicht, die tauſend verſchiedenen Luxusdinge aus der 


In der Mitte des Zimmers ſtand ſie ſelbſt, in n 
dünnen faſt durchſichtigen Gewande ihn erwartend. Als 
ſie ihn ſah, ging ſie langſam auf ihn zu, bis ſie dicht 
vor ihm ſtand. Sie waren allein. Sie ſah ihn an, aber 
ganz anders, wie ſonſt: mit einem unbeſchreiblichen Laͤcheln. 
Sie legte ihre Arme um ſeinen Nacken und ihr Koͤrper 
preßte ſich dicht an den ſeinen. 

Dann küßte fie ihn, und es war wie ein Aufatmen, 
als fie dann das erſte Wort ſagte: „Endlich! ...“ | 

Er ſtand ganz ſtill. Er wußte nicht, was er tun 
ſollte. Aber das Blut ſtieg ihm zu Kopf: wie ſchoͤn ſie 
war! — Und der Duft, der fremde, ſeltſame Duft, der 
von ihr ausging, dieſer Duft, den er kannte, deen 
ihn und brachte ihn um ſeine letzten Sinne. 


1 Er 


Noch wollte er nicht. Aber er mußte. Wie ſchoͤn 
fie war! .... Er wußte ſchon nicht mehr, wo er war 
und was er tat. 

Sie ſah es. Sie empfand es. 

Und da regte ſich in ihr, die dieſen Augenblick ſeit 
Monaten mit verhaltener Gier erſehnt, und ihm, der ſich 
vor ihm, ohne es ſich klar zu machen, gefuͤrchtet hatte, 
die Luſt ihn zu verlaͤngern, und Auge in Auge, mit heißem 
Atem und gluͤhenden Haͤnden, maßen ſie ihre Staͤrke 
aneinander — dieſe ſchoͤnen Menſchen, beide in der u: 
einer in ſtetiger Ausdauer geuͤbten Kraft. 

Aber in ihm erwachte der Mann. Und da er der 
Staͤrkere war, nahm er ſie, wie ſie es wollte und gewollt 
hatte ſeit der Stunde, in der ſie ihn zum erſten Male 
geſehen und fuͤr ſich begehrt. 


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Fu A * 


ccc 
8 > ag * 7 ax 2 — . 7 * 5 — a 7 * es Wi = a. 


— * 


2. 


Sie wurde ſein Leben von da an. 7 
Sie wurde es fo ſehr, daß er über ihr ſogar fein 
Liebſtes vergaß. Er hätte es bisher für eine Unmoͤglich⸗ 
keit gehalten, mehr als zwei Tage vergehen zu laſſen, 
ohne im Waſſer zu ſein. Ganz ſelten war einmal einer 
gegangen, ohne daß er ſich in fein Element geftürgt hätte, 
und zwei wohl nie, ſolange er denken konnte. Nun 
geſchah es, daß drei oder vier vergingen, ſelbſt ohne daß 
es ihm in den Sinn kam, zu ſchwimmen. 
Er dachte nur noch an ſie: an ihren Mund, an ihre 
Augen, an jede Einzelheit ihres Körpers, der fein geworden 
war und es jeden Tag von neuem wurde. 2 
Es war ein ſeltſames Verhältnis. Als er eine Woche 
faft jeden Abend bei ihr geweſen war, wußte er noch 
nicht einmal ihren Namen; als er fie vier Wochen kannte, 
wußte er nicht viel mehr, als daß fie Georgette hieß,. 
Vielleicht nannte ſie ſich auch nur ſo. 7 
Erſt wollte er alles wiſſen. Er wollte ſchon dahinter 
kommen. Aber er gelangte ſelten dahin, eine Frage zu 
tun; und dann hatte ſie eine ſo eigentuͤmliche Art, a 
Fragen, die ihr nicht paßten, zu erwidern, ohne fie zu 
beantworten. Nie erfuhr er das, was er eigentlich wiſſen 
wollte. Und wenn ſie nicht mehr ausweichen konnte, 


— 247 — 


dann konnte ſie ſo leiſe bei ſeiner Frage lachen, als 
ſei dieſe Frage nur ein guter Witz von ihm. — Es kam 
nie zwiſchen ihnen zu einem Geſpraͤch. Er ſo ſchwerfaͤllig, 
ſo unerfahren und ſelbſt ſo ſchweigſam, war unfaͤhig, ein 
ſolches in Gang zu bringen; und ſie — entweder hatte 
ſie nur die kurzen, abgeriſſenen Worte der Leidenſchaft, 
oder fie lag ihm gegenüber, rauchend und ihn unverwandt 
anblickend, bis ſie aufſprang, die Zigarette fortwarf und 
ſich von neuem an ihn ſchmiegte. 

Etwas Fremdes haftete allem an, was ſie tat und 
ſagte. Ihre Sprache war kein reines Deutſch, ſondern 
ein Gemiſch von Ausdrucken, die fie auf ihren Fahrten 
durch aller Herren Laͤnder aufgeleſen. Denn ſie kannte 
alles, war uberall geweſen, hatte alles geſehen — und 
wenn dem jungen Manne hier und da einer der vielen 
fremden Gegenſtaͤnde, mit denen ihre Zimmer überladen 
waren, in die Augen fiel und er ſie nach ſeinem Urſprung 
fragte, dann geſchah es auch wohl, daß ſie eine Art von 
Geſchichte daran knuͤpfte: aber nie zuſammenhaͤngend, 
nie ſo, daß ſie ein Stuͤck ihres Lebens wurde. 

Und fo war und blieb fie: immer ſchlagfertig, immer 
bereit und im Grunde nie direkt ausweichend, aber 
doch nie und nichts wirklich gebend ... nichts, außer 
ſich ſelbſt . 

Sie ſelbſt fragte ihn nie nach irgend etwas. Aber 


5 fie unterbrach ihn auch nie und ſchien ſogar intereſſe⸗ 


voll zuzuhbren, wenn es einmal geſchah, daß er fein 
Schweigen brach und von ſich und ſeinen Erfolgen an⸗ 
fing zu erzaͤhlen. Lange hatte es ſchwer auf ihm ges 
legen, daß ſie ihn gerade an jenem Ungluͤckstage geſehen, 


an dem er feinen erſten und letzten Verſuch in der fremden 


Kunſt machte, und er * ihr weitfchweifig zu erklaͤren, 
wie alles gekommen war ... Sie begriff indeſſen durchaus 
nicht die Wichtigkeit, die er der Sache beilegte. Genuͤgte 
es nicht, daß er unbeſtrittener Sieger im Schwimmen 
war? — Kam ihm da einer gleich? — Was wollte er 
denn noch mehr? — Im Grunde ſagte ſie ihm das⸗ 
ſelbe, was ſeine Freunde ihm auch geſagt hatten. Ihr 
war er recht ſo. Er war ja ſo ſchoͤn, ſo jung und ſo 
ſtark — ah, fo ſtark! N 

Aber ſie verſprach ihm, dem naͤchſten großen Schwimmen 
beizuwohnen, „wenn es ihr möglich fein wurde“, wie fie 
hinzufuͤgte. 

Allmaͤhlich gab er es auf, zu fragen, als er ſah, daß 
er ihr durch keine Antwort naͤher kam. Er beruhigte ſich 
bei dem Bilde, das er ſich machte: | 

eine reiche Ausländerin, die in Berlin lebte, nach⸗ 


dem fie fruͤh Wittwe und völlig unabhängig geworden 


war (etwas derart hatte ſie einmal geaͤußert); die wohl 
Bekannte und Freunde hier hatte (natürlich nur Freunde 
in gutem Sinne, wie z. B. den alten Herrn, mit dem 
Felder ſie zuſammen geſehen); die ſich in ihn verliebt hatte 
und ihn liebte (das hatte ſie ihm in der erſten Stunde 
in neun verſchiedenen Sprachen geſagt, und ſagte es ihm 
täglich hundertmal in einem Gemiſch von dreien). 

Es war nicht viel, was er von ihr wußte, und er 
fühlte, daß es nicht das richtige Bild war, das er vor 
ſich ſah. Aber was wollte er machen, da es ſich ihm 
nun einmal nicht klarer, als in dieſen ſchatdenhaſten 
Umriſſen zeigte? — 1 


1 

Und er liebte ſi e! — 

Er liebte ſie, wie er ſeinen Ruhm lebte; er Sen 
das Gluͤcksgefuͤhl, die beide ihm gaben, nicht mehr ent⸗ 
behren. Sie hatte ihn gewonnen, weil es ſeinem Ehr⸗ 
geiz ſchmeichelte, von einer ſo ſchoͤnen und eleganten 
Frau begehrt zu werden, und weil ihr Wille der ſtaͤrkere 
geweſen war; und ſie hielt ihn feſt, indem ſie ſeine er⸗ 
regte Sinnlichkeit mit allen Kuͤnſten ihrer Erfahrung 
immer und immer wieder aufs neue anſtachelte. 

Er war in der erſten Zeit faſt alle Abende bei ihr. 
Dann mindeſtens drei-, viermal in der Woche. Nie 
durfte er ihre Wohnung ungerufen betreten. Immer, 
wenn er von der Arbeit kam, hatte er zuerſt auf dem 
Poſtamte in der Naͤhe nachzufragen: zuweilen war ein 
Brief da, der die Verabredung dieſes Abends auf den 
naͤchſten oder uͤbernaͤchſten verſchob; jedesmal aber mußte 
er an der Ecke der Straße erſt nach der Alten ſehen, be⸗ 
vor er zu ihr kam: war ſie da, ſo huſchte ſie ſchweigend 
vor ihm her, und er folgte ihr die Straße hinunter und 
die in ewiger Daͤmmerung liegenden, teppichbelegten Stufen 
der Treppen hinauf bis in das hohe, ſchwuͤle Gemach. 
Ofter und oͤfter jedoch kam es vor, daß er noch in dieſer 
letzten Minute durch ein haſtig ihm in die Hand ges 
ſchobenes Billett gebeten wurde, heute „nicht zu kommen“, 
da das bekannte „unvorhergeſehene Ereignis“ eine Zus 
ſammenkunft für dieſen Abend unmöglich machte. 

So wurde er in einer beſtaͤndigen Aufregung erhalten, 
ob er ſie ſehen wuͤrde oder nicht. Nach einer ſo ploͤtz⸗ 
lichen und ihn immer tief verſtimmenden Abſage lag der 
Abend zweck⸗ und inhaltslos vor ihm; und traf ſie nicht 


W * 
& _ 


2 


BERATEN — 


EN ſah er fie wirklich wieder, fo war ein Teil feiner 
Freude ſchon durch die Unruhe der Unbeſtimmtheit zerſtöͤrt, 
in der er den Tag bis zum Abend verbracht. 


So gewoͤhnte er ſich mehr und mehr daran, die leeren 
Abende durch Vergnuͤgungen auszufüllen, an die er bisher 
ſchon ihrer Koſtſpieligkeit wegen nur ſelten gedacht hatte. 
Er ging in den Wintergarten, an Orte, wo Laune und 
Leben herrſchten, nur um nicht allein zu ſein, trank in 
Cafés und Lokalen, die er bisher nie betreten, hier einen 
Kognak, dort ein Glas Bier, kam ſpaͤter nach Hauſe, 


als er wollte, und tat feine Arbeit am naͤchſten Tage 


widerwillig und in der ewig geſpannten Erwartung, ob 
ihm der Abend eine neue Enttaͤuſchung oder ſeinen Sinnen 
wieder die erſehnte Erfüllung und Beruhigung bringen 


würde. Er fühlte ſich nicht mehr einſam, aber unruhig, 


und konnte den Abend nicht mehr erwarten waͤhrend 
eines Tages, der ihm zu lang wurde 

Der Reſt der von England mitgebrachten Summe 
wurde oͤfter und oͤfter in Anſpruch genommen und 
ſchmolz immer mehr zuſammen, denn ſein Verdienſt reichte 
natürlich nicht entfernt aus, um die erhöhten Anfprüche 
des jetzigen Lebens zu befriedigen. Felder gab fuͤr ſeinen 
Schneider jetzt in einem Monat mehr aus, als ſonſt in 
einem Jahre, und doch wurde er nie das Gefühl los, 


nicht gut genug gekleidet zu ſein, wenn er zu ihr ging, 
obwohl er dort niemals einen anderen Menſchen außer 


ihr ſah und fie nie ein Wort uber fein Ausſehen verlor. 
Er achtete auch ſchon nicht mehr darauf, wieviel er der 
Sparkaſſe entnahm. Er brauchte ja nur nochmals nach 
England zu gehen, um einen neuen Fond heimzubringen. 


— 251 — 


überhaupt war es ein Skandal, daß er noch auf ſeine 
Arbeit angewieſen ſein mußte, waͤhrend die Meiſter der 
anderen Sports — die Radler z. B. — laͤngſt herrlich 
und in Freuden von den Einkuͤnften ihrer Siege lebten. 
Nur in ſeiner Schwimmſache gab es das nicht 

Ganz langſam und allmaͤhlich begann er, ſeine Kunſt 
auch von dieſer Seite aus zu betrachten. Fruͤher haͤtte 
er ſich deſſen geſchaͤmt. Und alles das, weil der Luxus, 
den er ſo ploͤtzlich taͤglich einatmete, in ſo ſchreiendem 
Gegenſatz ſtand zu feinem bisherigen Leben der Armut, 
Einfachheit und Genuͤgſamkeit. — 

Sie hatte ihn. 

Sie beſaß ihn, weil er ſie nicht mehr entbehren konnte. 

Sie aͤnderte ihn, ohne es zu wollen. Denn ſie hatte 
ihn fo gewollt, wie er geweſen war: friſch und unberührt 
und jung. 

Er war es nicht mehr in dieſer Leidenſchaft zu ihr. 

Er, der fruͤher ſo maͤßig geweſen war, trank jetzt, nicht 
regelmäßig, aber unbekuͤmmert, je nach Luft und Laune. 
Es tat ihm nichts. Er fuͤhlte keine Wirkungen. Sein 
Körper überwand die leichten Folgen ſchnell. 

Vielleicht war ſein Kopf etwas eingenommener. Aber 
er lebte jetzt überhaupt in einer dumpfen Schwere, in 
einem taͤglich neu erweckten Rauſch aller Sinne, durch 
deſſen Nebel er immer, wo er ging und ſtand, nur ihren 
braͤunlichhellen Körper ſah, ihre ſeltſam roten Lippen 
und ihr dunkles Haar, eingehüllt in die Duftwolke ihres 
aufreizenden Parfums, ein Nebel, ſuͤß und weich wie ihre 
Kuͤſſe, warm und weich und entnervend wie die weißen 
Dämpfe der Winterbaͤder im Schwimmbade. 


409 neee 
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5 83 


7 Er verlor feine ewige Sehnſucht nach friſchem, klarem 


Waſſer, nach kalter, reiner Luft in dieſer Atmoſphaͤre. Er 


verlor ſie, ohne es zu fuͤhlen, ohne es zu merken. Ganz 
allmahlich glitt er in fie hinein — in dieſe abgruͤndige 


Leidenſchaft, in die immer geoͤffneten, immer begehrenden 


Arme dieſer fremden Frau. Er, der nicht wußte, was 
Nerven waren, fühlte ſie erwachen und zittern unter den 


Liebkoſungen ihrer Haͤnde, und ehe ſie Zeit hatten, ſich 
zu beruhigen, wieder erwachen, bis ſie — von einem 


Tag zum anderen in ſteter Erregung gehalten — dieſen 
Reiz nicht mehr zu entbehren vermochten, wie der Trinker 


ſein Gift. 4 
Gewiß, er ſchwamm noch. Ja, er war jetzt wieder, 


wo ihre Abſagen ſich mehrten und immer oͤfter die un⸗ 
vorhergeſehene Abhaltung, nach deren Grund er nicht mehr 
zu fragen gewagt hätte, eintrat, die fluͤchtige Zeile, die 
ihn bat, „nicht zu kommen“, er war jetzt wieder mehr 


unter feinen neuen Klubbrüdern, als vorher, denn er 
konnte dieſe einſamen Abende nicht mehr ertragen, in 
denen er in unterdruckter Begierde nach ihr von Kneipe 
zu Kneipe lief, um den Schlaf zu finden, der nicht mehr, 
wie bisher in der Minute ungerufen zu ihm kam, in 
der er ſich auf ſein Bett warf. 

Aber er war kein guter Sportgenoſſe und kein an⸗ 
genehmer Geſellſchafter unter den „Hechten“. Sie wußten 
es vorher, hatten es oft genug gehoͤrt, als ſie ſich um 
ſeine Mitgliedſchaft bewarben, daß ſie im Grunde nur 
ſeinen Namen bekamen, und ſie ſahen ihm alles nach. 
Daß er ihnen ſo fremd bleiben wuͤrde hatten ſie wohl 
nicht gedacht. 


/ per A A 
CCC 
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Keiner hatte eine Ahnung davon, was ihn der Sports: 
ſache innerlich zu entziehen begann. Felder ſelbſt ſah 
und hoͤrte nicht, was um ihn her vorging. 

Er ſah nur noch Sie. 

Eines Abends gab ſie ihm ihr erſtes Geſchenk. Sie 
ſaßen ſich muͤde und ſchweigſam gegenuͤber und wußten 
nicht wovon ſie ſprechen ſollten. Sie zeigte ihm ihre 
Schmuckſachen und erklaͤrte ihm ihren Wert. Er ſah 
Dinge, die er nie geahnt hatte. Wenn er nach ihrem 
Urſprung fragte, lachte ſie mit ihrem uͤberlegenen Lachen: 
„O, das war, als ſie in Buenos-Aires geweſen war, der 
weiße Pflanzer“ — und dies Halsband kam aus London 
„von einem Herrn, der mit dem Prinzen von Wales ſehr 
befreundet war ... ja, dieſer Prince des Galles! ...“ 
. . . Und fo ging es weiter, und Felder verſtand nichts 
und begriff noch immer nichts und wollte auch nichts 
mehr begreifen. 

Sie legte ihm die Ketten und Spangen um, wie 
einem Kinde, mit dem man ſpielt. Und dann kam, was 
Felder ſo lange heimlich gefuͤrchtet, und was er ſo ent⸗ 
ſchloſſen war, ſchon beim erſten Verſuch energiſch abzu⸗ 
weiſen: dies Armband, das fuͤr ihr Gelenk etwas zu 
weit war und ſich ſo feſt um das ſeine ſchmiegte, dies 
goldene Band mit dem daran baumelnden Schloß ſollte 
er immer tragen als Andenken an ſie — ſo taten es 
jetzt die Maͤnner; und als ſie ſein Widerſtreben ſah, 
kam dieſer maßloſe Zorn über fie, den er nicht zum erſten 
Male an ihr ſah — ihre Augen blitzten, und ihre Lippen, 
die bebten, ſprachen fremde und unverſtaͤndliche Worte 
der Entrüftung und der Beſchimpfung, bis fie dann bei 


— „ 


feinen vergeblichen Verſuchen, es abzuſtreifen, ihre Wut 
ebenſo ſchnell wieder vergaß und in ein Lachen aus brach: 
„O, er mußte es ja behalten; er kam ja nicht los, ſie 


hatte ja den Schluͤſſel, und den bekam er nicht, nein, 
den Schluͤſſel nicht...“ Und er, erſchreckt durch ihren 
Zorn und gedemütigt durch ihr Lachen, wagte nicht mehr, 
ihr erſtes Geſchenk zuruͤckzuweiſen. Es ſollte nur ihr 
letztes bleiben, ſo beruhigte er ſich ſelbſt. 

Er trug es, das Armband von Gold. 

Nie hatte einer ſeiner Siege, ſelbſt der des Vorjahres 
in England nicht, ein ſolches Aufſehen gemacht, wie dieſes 
einfache Armband: nie ſprach man ſo viel von Felder, wie 
in dieſen Wochen, als er mit dem Goldreif am Arm an 
den Start ging und ſchwamm. Man lachte, man ſpottete, 


man ſchimpfte und forſchte nach; man empoͤrte ſich, man 
zꝛsñnckte die Achſeln, man machte Vorſtellungen und — 
man erriet ... Allerſeits aber war man ſich einig, daß 


es einfach laͤcherlich ſei fuͤr einen Mann wie Felder, die 
duͤmmſte und weibiſchſte aller Moden mitzumachen, die 
man den Gigerln und Narren überließ. Ein deutſcher 
Schwimmer und — ein goldenes Armband! — Es war 
der unerhoͤrteſte Widerſpruch! — 

Felder ſah und hörte nichts. Hoͤchſtens, daß er vers 
ächtlich laͤchelte, wenn die Blicke und Worte allzu zus 
dringlich auf ſeinem Handgelenk ruhten. 

Hoͤher als ſonſt ſtreckte er feinen Arm empor, unter 
die Augen der Zuſchauer: an ihm glaͤnzte der ſchmale 
Reif und leiſe klirrte das winzige Schloß beim Anſprung 
gegen die goldene Kette. 


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.. 


3. 


Er ftand noch nicht im Zeichen des Ruͤckganges, wie 
die boͤſen und durch „das Armband“ von neuem auf⸗ 
gereizten Stimmen behaupteten. Aber ſelbſt ruhigere 
Beobachter, die ſich durch aͤußere Dinge nicht oder doch 
nur wenig beeinfluſſen ließen, fanden ſeit einiger Zeit 
Felders Stil nicht mehr ſo ſicher, ſein Tempo nicht mehr 
ſo fließend wie bisher. 

Vor allem nicht mehr ſo rein. Er ſchien Ruͤckſichten 
auf ſeine Gegner uͤberhaupt nicht mehr zu kennen. Es 
genuͤgte ihm nicht mehr, ſeine Siege, wie bisher, in 
leichtem Kanter nach Hauſe zu bringen, ſondern er ſtrebte 
danach, ſie auch dem Publikum recht deutlich zum Be⸗ 
wußtſein zu bringen, indem er ihm ſeine Überlegenheit 
über die andern auf alle Weiſe zeigte. Darunter mußte 
fein Stil natürlich leiden. 

Er fuͤhlte es ſelbſt und ſogar einzelne Bemerkungen 
darüber kamen ihm zu Ohren. 

Er war zum zweiten Winterfeſt des Schwimmer⸗ 
bundes zu einem Seitenſchwimmen gemeldet. Es fiel 
in den Anfang des Februar. Felder hatte nicht die Ab⸗ 
ſicht, zu ſtarten; aber da er auf der Sitzung des „Hecht“ 
wieder einmal nicht anweſend geweſen war, hatte ſein 
Klub für ihn die Meldung erlaſſen, in der Überzeugung, 


ö . 


damit FR Wuͤnſchen — die nach moͤglichſter Be⸗ 
en ſtrebten — zu entſprechen. Er war aͤrgerlich. 
Wan haͤtte ihn doch wenigſtens fragen muͤſſen. Wann 
denn? — entgegnete man ihm. Man ſah ihn ja ſo un⸗ 
e Und wenn man ihn nicht gemeldet haͤtte, 
wäre er ebenfalls boͤſe geweſen und hätte von Zurüͤck⸗ 
ſetzung geſprochen. 

Er zog die Meldung nicht zuruck; es war ihm einerlei. 
Ein Sieg mehr, darauf kam es nicht an! Aber das ſagte 


1 er gleich: zu der langweiligen Preisverteilung und zu dem 


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1 war die ganze Nacht bei ihr geweſen, und auch am 


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noch langweiligeren Tanzvergnuͤgen nachher kam er nicht. 
Er hatte keine Zeit am Abend; er war eingeladen. 

Er war jetzt immer eingeladen, kein Menſch wußte, 
von wem. Aber man wagte nichts zu entgegnen und 
war froh, daß er keine weiteren Schwierigkeiten machte. 
Er erſchien, wie jetzt immer, ſpaͤt auf dem Feſt. Er 


Morgen wollte ſie ihn nicht fortlaſſen. Er blieb nur zu 
gern. Sie frühſtückten im Bett, ſpaͤt, und die Stunden 
wurden verſchleudert bis über den Mittag hinaus. 3 

Schnell kleidete er ſich aus und trat in die überfüllte 
Halle mit feinem hochmuͤtigen und finſteren Lächeln auf 
dem Geſicht. Dieſe Feſte hatten keinen Reiz mehr fuͤr 
ihn. Er fühlte weder Erwartung, noch Aufregung. Er 
nahm ſeine Mitwirkung jetzt nur als eine Pflicht, die 
von ihm erledigt werden mußte, da er nun einmal der 
Franz Felder war. Je baͤlder ſie getan war, deſto 8 
Um fo eher konnte er wieder bei ihr fein. 


Ungeduldig wartend ſtand er unter ſeiner Mannſchaft. 
Er hielt die Arme gekreuzt uͤber der Bruſt und an ſeinem 


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— 257 — 


rechten Handgelenk glaͤnzte herausfordernd das goldene 
Armband, als wolle er die Blicke aller darauf lenken. 
Kaum, daß er ſeinen Klubgenoſſen antwortete, wenn ſie 
mit einer Frage zu ihm traten .... Gleichguͤltig glitt fein 
Blick über die Waſſerflaͤche hin, wo eben ein Rennen zu 
Ende ging und ſchnaufende Geſtalten die Laͤnge des Baſſins 
durchkreuzten. 

Sonſt hatte Felder nie den Augenblick erwarten koͤnnen, 
in dem er ſelbſt ins Waſſer durfte. Heute kuͤmmerte er 
ſich nicht einmal mehr um ſeine Konkurrenten; er 
hatte ſich kaum die Zeit genommen, ihre Namen auf dem 
Programm zu leſen. 

Wie gewoͤhnlich jetzt, ließ er ſich Zeit waͤhrend det 
erſten Laͤnge. Bei der zweiten arbeitete er ſich vor; bei 
der dritten wollte er ſich dann nach den anderen um⸗ 

Er war gut in der Form heute, aber nicht ſo friſch 
wie ſonſt, fo ſchien es ihm. Er nahm daher ſchon die 
zweite Länge von Anfang an mit Ernſt. Bei der dritten 
wollte ihm der Vorſprung nicht gelingen. Irgend jemand, 

et wußte nicht wer, lag immer dicht neben ihm und blieb 
es bis ans Ende. Er konnte ihn nicht los werden, nicht 
mit aller Anſtrengung, und die ungewohnliche Erregung 
am Start brachte ihn zu der Überzeugung, daß ſein Sieg 
diesmal ſehr gefaͤhrdet worden war. 

r Aber es war noch mehr als das. Es war ein totes 

Rennen. Die Richter konnten ſich nicht einigen, und es 

blieb unentſchieden. 

Ein totes Rennen — das war weiter nicht ſchlimm. 


Ein totes Rennen war keine Niederlage. Aber es wurmte 
vn 17 


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3 


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f ihn doch, und er nahm ſich vor, in naͤchſter Zeit eber 


einmal zu trainieren. Sie erleichterte ihm ſeinen Vorſatz, 


da ſie ihm jetzt noch oͤfter abſagte, als bisher; ſo uͤbte 
Felder denn wieder faſt jeden Abend, teils fuͤr ſich allein, 


teils auch unbekümmert an den Übungsabenden des „Hecht“, . 
und er fuͤhlte ſich Herr ſeiner Kraft, wie immer. Sich 
die Zeit nehmen zu laſſen, verſchmaͤhte er. 

Er freute ſich beſonders auf das naͤchſte Meeting: 


auf dem Feſte des „Poſeidon“ wollte er feinem alten 


Gegner im Gaſtſchwimmen über die 200 Meter einmal 
wieder gegenüber treten und ihm — was er bisher gern 
vermieden — auf dem Feſt eines Brudervereins unter den 
Augen der Seinen den Lorbeer entreißen. N 

Eine Bemerkung Wenzels gelegentlich ſeines Spring⸗ 
debuts war ihm zu Ohren gekommen. Felder hatte ſie 
nicht vergeſſen, wie er nie etwas vergaß, was man ihm 
zugefuͤgt. Dies ſollte ſeine Rache ſein. 

Die Konkurrenz war merkwuͤrdig ſtark beſetzt: ſechs 
Schwimmer von ſechs bedeutenden Klubs rangen um 
den ehrenvollen „Poſeidonjahrespreis“. Felder freute ſich 
auf ſeinen Sieg; er freute ſich noch, als er an den Start 
ging, obwohl er ſich wiederum nicht ganz friſch fuͤhlte. 


Aber er war ſo ſicher wie immer. 


Dann, als er im Waſſer und in der zweiten Laͤnge 
lag, geſchah etwas, was er nie fuͤr moͤglich gehalten 
bätte: er fühlte, wie ihn eine ploͤtzliche Mattigkeit uͤber⸗ 
kam, und als er — gegen ſie mit aller Kraft ankaͤmpfend 
— etwa in der Mitte der dritten nicht nur Wenzel leicht 
vorauseilen, ſondern auch rechts und links je einen Gegner 
neben ſich liegen ſah, da hatte er zum erſten Male ſeit 


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Jahren das deutliche Gefühl, daß er diesmal nie als 
Erſter ans Ziel gelangen wuͤrde. Und mit gleicher Deutlich⸗ 
keit empfand er, daß es in dieſem Augenblicke nur einen 
Ausweg fuͤr ihn gab, dieſer unvermeidlichen Niederlage 
zu entfliehen: „Ausſetzen!“ — 

Ploͤtzlich im Schwimmen aufhoͤrend uud tief bis zum 
Grunde des Baſſins niedertauchend, ſchwamm er dort 
bis zum Fußende der Leiter, waͤhrend er uͤber ſich das 
Rauſchen des Waſſers unter dem haſtigen Wenden der 
Konkurrenten hoͤrte, und ſtieg an ihr hinter ihnen, die 
ihm feinen Sieg entführten, aus dem Waſſer unter die 
verbluͤfften Zuſchauer, ſeinem triefenden Koͤrper ruͤckſichtslos 

Platz ſchaffend 
f Er war an dieſem Abend nicht einmal böfe, um fo mehr, 
als er hoͤrte, daß nicht Wenzel, ſondern ein junger Magde⸗ 
burger vom dortigen „Neptun“, deſſen Namen bisher nie 
genannt war, Sieger geworden war. — Er hatte „aus⸗ 


geſetzt“. Nun, was war dabei weiter! — Das taten die 


größten Schwimmer aller Zeiten und Länder alle Augen⸗ 
blicke, und das Wunderbare bei ihm war nur das, daß es 
das erſtemal war. Und weil es das erſtemal war, ſo war 
er uͤber jeden Verdacht erhaben, daß er den alten, bekannten 
Kniff angewandt habe, um einer Niederlage zu entgehen. 

Er — Franz Felder — fuͤrchtete keinen Schwimmer 
der ganzen Welt und brauchte keinen zu fuͤrchten. Das 
wußte jeder. Aber ſelbſt er konnte einmal unpaͤßlich 


ſein, und das war er heute. Denn hätte er ſonſt wohl 


das Rennen aufgegeben? 

i Und den Triumph genoß er wenigſtens an dieſem 
Tage, daß keiner, auch ſein aͤrgſter Gegner nicht, es 
17* 


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wagte, den Verdacht dieſes Kniffs auszuſprechen. Die 
Mutmaßungen und Prophezeiungen indeſſen, in denen 
man ſich erging, hörte Felder gluͤcklicherweiſe nicht. Sonſt 
wäre ſeine Stimmung an dieſem Abend doch getrübt 
worden, die durch die ungeaͤußerte leiſe Enttaͤuſchung 
ſeiner Genoſſen vom „Hecht“ nicht beeintraͤchtigt, aber 
durch die Ausſicht auf das naͤchſte Schwimmen ſogar 
noch bedeutend gehoben wurde. 

Denn als Felder ſich die erreichten Zeiten des 200 Meter⸗ 
Schwimmens geben ließ, ſah er, daß die Leiſtung dieſes 
jungen, unbekannten Magdeburgers nicht nur mit Hin⸗ 
ſicht auf ſeine erſtklaſſigen Konkurrenten, ſondern auch 
in bezug auf die erreichte Zeit eine außerordentliche ge⸗ 
nannt werden mußte. Sie erreichte natuͤrlich nicht den 
von Felder vor zwei Jahren aufgeſtellten und ſeitdem 
ſelbſt nie wieder erreichten Rekord von J: 02, aber fie 
kam doch bedenklich nahe an ihn heran. 

Der junge Seubert hatte die 200 Meter in 3: 2% 
Minuten gemacht. 

Das reizte Felder. Da war das naͤchſte große Feſt, 
zugleich das letzte dieſes Winters, das erſte Jahres⸗ 
ſchwimmen des neugegründeten „Norddeutſchen Schwimm⸗ 
kartells“, das beſonders großartig und feierlich geſtaltet 
werden ſollte, um Zweck und Bedeutung dieſer natürlich 
wieder aus vielen eiferfüchtigen Fehden hervorgegangenen 
Neugründung recht zur Wirkung zu bringen, da war dies 
große Feſt jo recht die Gelegenheit, um ſich auch dies⸗ 
mal einen glaͤnzenden Abgang von der Saiſon zu ſichern 
und einmal wieder „ſich ſelbſt zu übertreffen”, das einzige, 
was er noch konnte. 


NE - = 


Er hatte ja nur nötig, etwas mäßiger zu leben und 
etwas mehr zu trainieren. Daß allerdings beides nötig 
war, leuchtete ſogar ihm ein. Dieſes ploͤtzliche Ver⸗ 
ſagen der Kraft heute konnte doch kein reiner Zufall 
ſein. Es durfte jedenfalls nie wieder vorkommen; denn 
er konnte wohl einmal „ausſetzen“, aber nun auch nicht 


wieder. — 


Er tat beides: er war jetzt nicht nur nicht enttaͤuſcht, 
ſondern begruͤßte es ſogar mit Befriedigung, wenn eine 
Abſage von ihr eintraf. Gab ſie ihm doch einen freien 
Abend der unausgeſetzten Übung, fo eifrig und ernſt, wie 
er ſeit langem nicht mehr betrieben. 

Daran, daß es doch eigentlich nur ganz bei ihm ſtand, 
ob er zu ihr gehen wollte oder nicht, daß er ihr ebenſo 
abſchreiben konnte, wie ſie ihm, daran dachte er nicht 
einmal. So groß war ihre Überlegenheit in jeder Be— 
ziehung und ſo ſehr verſtand ſie es, wenn er bei ihr war, 
ihn durch immer neue Liebkoſungen und Liebesbeweiſe 
an ſich zu feſſeln, daß ihm noch immer die Stunden 
die ſeligſten waren, in denen er in ihren Armen liegen 
konnte, und dieſen wundervollen, braͤunlichen Koͤrper, dieſes 
hohe, geheimnisvolle Gemach mit dem Glanz ſeiner Lichter 


und feinem verſchwenderiſchen Luxus, dieſe ſtillen, faulen 


Stunden des ſpaͤten Abends und der Nacht, ja, die leiſen, 
unmerklichen Dienſte der ſchattenhaft auf den ſchrillen 
Ruf der Gebieterin herein- und heraushuſchenden Alten 
ſein eigen nennen konnte; und alles, was er verſuchte, 


war, ſich in Augenblicken, wo ſeine traͤgen Gedanken, 


durch die Freude auf ſeinen naͤchſten Sieg und durch 
eine keinen Sportsmeiſter je ganz verlaſſende Angſt, feiner 


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i — 262 — 

Fe 


2 Sraft zu fehaden, aufgeſtachelt, in beklemmender Ahnung 
ſſich von ihr wandten, alles, was er vermochte, war: ſich 
dieſer unerfättlichen Leidenſchaft, dieſen erſchlaffenden um⸗ 


NW 


armungen einmal, nur für heute, zu entziehen 

Diecſe Frau, die ihm, ihm unter allen, ihre Liebe ger 
. ſchenkt hatte, wie er glaubte, und die er darum, darum 
vor allen wieder liebte — ſie war noch immer ſein Leben! 


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An dieſem Tage kam, was kommen mußte: b. Er 
erſte Niederlage — der Anfang vom Ende. 


er das letztemal bei ihr geweſen war, hatte er ſich A 
Umarmungen wortlos und entjchieden entzogen, ſo daß | 
ihr Zuſammenſein ein ganz kurzes war. Sie biß die 2 
Lippen aufeinander, aber fie ſagte kein Wort. * 
Felder kleidete ſich heute mit beſonderer Sorgfalt an 
und ließ ſeine Bruſt an Baͤndern und Muͤnzen tragen, u 
was fie nur faſſen konnte. Das Armband, bei der täglihen 5 
Arbeit ſo hoch wie moͤglich hinaufgeſchoben und von dem 
wollenen Hemde ſo bedeckt, daß es noch von niemand Br 
in der Fabrik entdeckt worden war, wurde auf das Hands 
gelenk heruntergezogen und abgerieben, ſo daß es slänge 2 
und funkelte. Re 
In dieſem bei allen fo verhaßten Zeichen wollte er gr 
heute fiegen, und fo wollte er ſiegen, daß nicht nur ds . > 


auch das andere Lachen, das, welches er noch immer u 
feinen Ohren fühlte, das Lachen jenes ſchrecklichen Tages, 72 
ſchweigen follte auf immer, um nie mehr gehört zu werden. 
Das erſte Feſt des „Norddeutſchen Schwimmkartells!s““ 
ſollte zugleich das erſte fein, das die neuerbaute Schwimm⸗ 85 . 


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— — 264 — 


5 halle der Stadt Charlottenburg erlebte, und man hoffte, 
es beſonders glänzend zu geſtalten, obwohl die groͤßten 
und angeſehenſten Berliner Vereine, unter ihnen der 


S.⸗K. B. 1879, wie überhaupt alle dem „Verbande“ an⸗ 


gehörenden Vereine naturgemäß fehlten. Aber es ſtand 


von Anfang an unter keinem guten Zeichen. Obwohl 
die Stadt Charlottenburg ihre Vertreter geſchickt hatte, 
war doch das große Publikum, das ſich offenbar an den 

Winterfeſten ſatt geſehen und die Sommerſchwimmen 
erwarten wollte, nur ſchwach vertreten und füllte kaum 
die erſte Reihe der weiten Galerien. Zudem war das 


Wetter miſerabel: ein naßkalter, grauer Maͤrztag, und 


mancher, der gekommen waͤre, war noch in letzter Stunde 
zu Hauſe geblieben. 
Felder war heute puͤnktlich und verlor ſich mit der 


. kleinen Mannſchaft der Gelb⸗Schwarzen in einer Ecke 


der weiten, ſchoͤnen Halle, in der bereits jetzt alle Bogen⸗ 
lampen brannten. 
Das Programm wickelte ſich langſam und ohne be⸗ 


ſondere Teilnahme von irgendeiner Seite ab. Nur gegen 


ſeine Mitte brachte ein unvorhergeſehener Zwiſchenfall 
etwas Leben unter die Anweſenden. Es war beim Tauchen 
nach Tellern. Dreißig flache Emailleteller waren bereits 
dreimal ſaͤmtlich aus einer Tiefe von vier Metern her⸗ 
vorgeholt worden — eine hervorragende Leiſtung — und 
es ſchien auch dem Vierten gelingen zu wollen, ſo lange 
blieb er unter Waſſer. 
Felder ſtand bereits ausgekleidet dicht neben dem 
Starter und ſah zu. Dann merkte er plöglich mit feinem 


erfahrenen Blick, daß irgend etwas dort unten nicht 


Da er at 
— 265 — 


in Ordnung war, und als er fragend den neben ihm 
Stehenden anſah, hoͤrte er auch ſchon deſſen halblaut 
hervorgepreßten beſtimmten Befehl: „Hinunter!“ — 
Er ging ſofort in die Tiefe und ſah dort den Taucher 
bereits bewußtlos mit dem Geſicht nach unten uͤber den 
zuſammengerafften Tellern liegen. Mit Felder war ein 
zweiter ins Waſſer gegangen, und beide hoben den leb⸗ 
loſen Koͤrper bis zur Leiter und an ihr hinauf zum Waſſer⸗ 


ſpiegel, wo er von vielen Händen ſofort in die Höhe 


gezogen und nach hinten getragen wurde. 

Als Felder, der erſt nach dem naͤchſten Lauf an die 
Reihe kam, dorthin folgte, war der Bewußloſe bereits 
unter den Haͤnden des Arztes wieder zu Atem gekommen, 
und Felder hoͤrte, wie ſeine erſte Frage der Tellerzahl galt, 
die er ans Land geſchafft zu haben glaubte. Als er ver⸗ 
nahm, was geſchehen war, wurde er auch noch boͤſe dar⸗ 
über, daß man ihn nicht länger drunten gelaſſen, denn er 
würde auch die letzten ſicher noch bekommen haben! ... 

Die anderen lachten und aͤrgerten ſich, aber Felder 
war es nicht ums Lachen. Soweit war es alſo gekommen, 
daß dieſen jungen Leuten ihr Leben ſchon nichts mehr 
galt, wenn es darauf ankam, ihren laͤcherlichen Ehrgeiz 
zu befriedigen — jo hörte er neben ſich einen alten Herrn 
zu einem anderen ſagen; und er mußte ſich unwillkürlich 
fragen: War es mit ihm anders? — Haͤtte er nicht auch 
ſein Leben um einen Sieg gegeben? — — 

Draußen hatte ſich die Stimmung der Anweſenden 
nach dem peinlichen Vorfall nicht gebeſſert, und man 
beeilte ſich mit der Abwicklung der naͤchſten Nummern, 
um die Aufmerkſamkeit abzulenken. 


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Dann kam das große Rennen des Tages mit feinem | 
unerwarteten, in feinen Reſultaten geradezu verblüffenden 


Verlauf, das Hauptſchwimmen über 175 Meter, in dem 
zwei der jüngften Schwimmer aus dem Nachwuchs die 


Preiſe errangen, waͤhrend nicht nur Wenzel vom „Po⸗ 
ſeidon“, und Karl Becker, der Meiſter Suͤddeutſchlands, 
ſondern auch Felder, Franz Felder, der vierfache Meiſter 
Berlins, der Meiſter Deutſchlands, der „Champion der 
, nicht nur zurück-, ſondern überhaupt unplaciert 


blieben! — 


Wie es geſchah, wie es geſchehen konnte, das Un⸗ 
erhoͤrte.— keiner begriff es recht. i 
Felders Vorſatz ging auf einen glatten Sieg in gutem 
Stil ohne voͤllige Kraftausgabe. Er hielt ihn inne waͤhrend 


der beiden erſten Laͤngen, gab ihn auf bei der dritten 


und vergaß ihn voͤllig bei der vierten. Aber es nutzte 
ihm alles nichts. 

Er kam nicht vorwärts. Er ſah immer die alten 
Gegner neben ſich, die neuen ſich voraus; dieſe beiden 
jungen Leute, von denen er den einen nur aus einem 
einzigen Schwimmen und den anderen überhaupt nicht 
kannte. Und als er zum letzten Male bei dem ploͤtzlichen 
Aufhören der Muſik wandte und mit ſeinem wahnſinnigen 
Seitenſchlage den einen faſt erreicht hatte, ſchlug der 
andere bereits an, und der Sieg war verloren. 

Er ging erſt ans Ziel gleich hinter dem zweiten. N 

Was geſchehen war, begriff er erſt recht, als er den 
jungen Seubert, keuchend, aber ſelig, die Gluͤckwuͤnſche 
in Empfang nehmen ſah und in das junge, gluͤckliche 
Geſicht blickte, das auch ihm zulaͤchelte, als erwarte 


— 267 — 


es auch von ihm ein freundliches Wort oder einen Hände: 
druck. 

So, ganz ſo, etwas verlegen, aber doch mit einer gewiſſen 
naiven Selbſtverſtaͤndlichkeit, als gehoͤre es ſich ſo, hatte 
er ſeine erſten Triumphe entgegengenommen und ſeinen 
beſiegten Gegnern ins Geſicht geſehen. 

Er dachte natuͤrlich nicht daran. Er fuͤhlte einzig nur 
die Schmach, die er — ſeiner Anſicht nach — in dieſem 
Augenblicke erlitt, wo er ſeinen Stern lautlos fallen und 
in den Tiefen verſchwinden ſah, und das harmloſe Laͤcheln 
auf dem Geſicht dieſes jungen Menſchen ſchien ihm nur 
Spott und Hohn zu bedeuten, ſo daß er am liebſten 
hineingeſchlagen haͤtte. 

Kein Menſch kuͤmmerte ſich um ihn, keiner trat, wie 
ſonſt immer, zu ihm und ſprach mit ihm. Mit haſtiger 
Wendung kehrte er ſich zu den anderen Schwimmern 
um, ſeinen alten Gegnern, mit denen er ſich in dieſer 
Minute faſt verwandt fuͤhlte. Denn ſie erlitten das gleiche. 
Aber kluger als er waren fie am andern Ende des Baſſins 
ans Land gegangen und ſo allen Eroͤrterungen entflohen. 

Da griff auch er nach ſeinem Tuch und eilte zu ſeinen 
Kleidern. Als er an der ganz beſtuͤrzten und heftig 
debattierenden Gruppe des „Hecht“ vorbeikam, wehrte 
er mit ungeduldiger Gebaͤrde jede Frage und Begleitung 
von ſich. 

f Er fühlte jetzt nur, daß er allein fein mußte. 

Er konnte niemanden um ſich haben. 

Ohne aufzuſehen und ohne ſich von einem Menſchen 
zu verabſchieden verließ er das Feſt. — 

Es war noch früh, aber auf den Straßen brannten 


3 * 


* 


S 


— * ging nieder wie Staub. 


Felder ging die breite, gerade Straße bis zum u 
garten, er durchſchritt ihn auf kotigen, dunklen Wegen, 


bis er ans Brandenburger Tor kam, ging die Allee der 
Linden herunter, verlor ſich in dem Straßengewuͤhl des 


Zentrums, immer noch ohne zu wiſſen, wohin er wollte, 
und ſah erſt auf, als der Regen ſein heißes Geſicht wie 
Schläge zu treffen begann. Er war zwei Stunden ger 
gangen wie zwei Minuten. Er wußte es nicht einmal. 
Er befand ſich in der Naͤhe des Moritzplatzes. 

Er mußte allein fein, ganz allein.. Schon die 
wenigen Menſchen um ihn herum auf den Straßen 
ſtörten ihn. Der Name einer alten Weinſtube in der 
Nahe fiel ihm ein. Er war dort ein⸗ oder zweimal 
fruher geweſen, mit ſeinen Freunden. Vielleicht war 
das Hinterzimmer frei. c 

Er traf es ſo. N 

Erſt als er eintrat und den Überzieher zuruͤckſchlug, 
wurde er gewahr, daß er ſich im Schmucke ſeiner Ehren⸗ 
zeichen befand, der haſtig beim Ankleiden Übergeftreiften 
Bänder und der Munzenmenge auf feiner Bruſt. Schnell 
verdeckte er ſie wieder, und waͤhrend er ſeinen Rock aus⸗ 
zog, ſtreifte er alles ab und verbarg es in den Taſchen, 
wie geraubtes Gut. N 

Er war ganz allein in ſeiner Ecke, nachdem ihm der | 
Wirt den Wein gebracht, Sogar im Vorderzimmer fpielten 
nur ein paar Stammgaͤſte, die fein Eintreten eee 3 
nicht bemerkt hatten, einen ftillen Skat. 

Er trank, ſah vor ſich hin und gruͤbelte nach. er 


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konnte es noch immer nicht begreifen, was geſchehe 
war! — 8 
Dann zog er zoͤgernd ein kleines, abgenuͤtztes, in 
braunes Leder gebundenes Buch aus der Bruſttaſche, das 
er ſtets bei ſich trug. Dieſes Buch war ihm nach einem 
ſeiner erſten Aufſehen erregenden Siege — wie lange 
war es ſchon her! — von einem älteren Mitglied ſeines 
alten Klubs geſchenkt worden, und der Geber hatte ihm 
dabei geſagt: „Immer koͤnnen Sie nicht ſiegen, aber ſo 
viele Seiten dieſes kleine Buch hat, ſo viele Siege wuͤnſche 
ich Ihnen und uns..“ Und Felder hatte wie zum 


\ Scherz die Seiten gezählt: 103. Koepke nahm das Buch 


mit nach Hauſe, und als er es Felder wiedergab, fand 
dieſer in tadelloſer Rundſchrift und mit kaufmaͤnniſcher 
Genauigkeit von Anfang an bis heute ſeine ſaͤmtlichen 
Beteiligungen an den Feſten des Schwimmſports ein⸗ 
getragen: ihren Tag und Ort, ihre Veranſtalter, die Art 
der Konkurrenz und wer an ihr teilnahm, ja die Stunden 
— alles war regiſtriert und ſeine Siege ſchoͤn unterliniert 
und mit roter Tinte praͤchtig hervorgehoben: ihre Art, 
die gemachten Zeiten, die errungenen Preiſe aufs ge⸗ 
naueſte verzeichnet ... Und jedesmal nach einer neuen 
Beteiligung oder nach einer Reiſe erhielt Koepke das kleine, 
braune Buch, um es am naͤchſten Tage wieder zurück⸗ 
zugeben, bereichert um ein neues Blatt, das in nüchternen 
Worten und Zahlen, aber doch ſo beredt von herrlichen 


Ir Mühen und herrlichen Siegen ſprach. 


Über kein Geſchenk hatte Felder ſich je fo gefreut, 


1 wie über dieſes. 


Oft hatte er in ſtiller Stunde in dem Buche geblaͤttert, 


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die Namen ſeiner Gegner — alle dieſe beruͤhmten, gefuͤrch⸗ 


teten Namen, die Blüten der Schwimmkunſt, aus allen 


Gegenden Deutſchlands und fo vielen Ländern Europas.. 


Und immer wieder fein Name über allen als Sieger! ... i 


Er blaͤtterte und blaͤtterte — jedes neue Blatt ein 
neuer Sieg: ein Lorbeerblatt mehr in einem dichten Kranze! 
— Faſt keine Niederlagen, hier und da ein zweiter Preis, 
ſonſt immer nur erſte, erſte, erſte . 

Er fing von vorn an und zaͤhlte die beſchriebenen 
Seiten: 82. Und er zählte die ſiegreichen: 73. 

Bis zur letzten! — Bis — heute! — 

Und auf dieſem leeren Blatt, den dreiundachtzigſten, 
ſollte zum dritten Male nacheinander nicht nur der rote 


Strich, ſondern fein Name überhaupt fehlen — oder es 1 


ſollte leer bleiben, leer ... Nein, das durfte nicht fein! — 


Der Schrecken griff plöglich wieder nach feinem Herzen, 


derſelbe Schrecken, den er vorhin empfunden, als er ſeine 
Gegner vor ſich ſah und fuͤhlte, wie ſeine Kraft verſagte, 
fie noch zu erreichen; aber nicht die Furcht Über die Ge⸗ 
fahr einer Niederlage war es geweſen, ſondern etwas 


anderes, ein Neues, ein Unbekanntes: das Erſchrecken über 


etwas Unglaubliches, Unerhoͤrtes — Über die unwillfaͤhrig⸗ 
keit ſeiner Kraft! — 


aber noch nie hatte er ſo ſorgfaͤltig Blatt um Blatt a 
wandt, vom erſten bis zum legten, wie heute. Selten 
erſt, dann immer oͤfter, endlich faſt auf jeder Seite zeigte 
ſſich die rote Linie unter feinen Namen, und immer oͤfter 

kehrten die Worte wieder: „Erſter: Franz Felder.“ 
Da ſtand ſein Name, immer und immer wieder als der 
Erſte, der Erſte .. „ der Erſte! — — und unter ihm ſtanden 


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— 271 — 
Was war das? — Was war das auf einmal, das fo 
plotzlich gekommen? — 

War er wirklich ſchon dort angelangt, wo es kein uͤber 
ſich ſelbſt Hinausgehen mehr gab? — Dann konnte jeder 
ihn ſchlagen, der ihm nur gleich kam! Dann war er ſchon 
am Ende. 

Alle duͤſteren Prophezeiungen ſeiner Gegner fielen ihm 
ein: „Schneller Aufgang, ſchneller Abſtieg ...“ Und 
ein Mahnwort Nagels: „Du haſt fruͤh angefangen, fruͤh 
wirft du deshalb aufhoͤren ...“ 

Bis heute hatte er daruͤber gelacht. Aber jetzt lachte 
er nicht mehr. Es war ihm nicht mehr ums Lachen. 
Denn er war ſich bewußt, in dieſen letzten Wochen nichts 
verſaͤumt zu haben. Es hatte ein totes Rennen gegeben, 
dann ein Ausſetzen — aber beides war erklaͤrlich, ſogar 
natürlich bei der Nachlaͤſſigkeit, mit der er in den ver⸗ 
gangenen Monaten ſeine Sache behandelt. Aber zu heute 
hatte er trainiert — trainiert wie immer ſonſt — was 
war das alſo?! — 

Er ſaß und gruͤbelte, und trank und gruͤbelte, und 
gruͤbelte 

Und wieder griff die Angſt nach ſeinem Herzen, die 
furchtbare, die unbekannte Angſt! — 

War es etwa ſchon mehr? — War es ſchon eine Ab⸗ 
nahme feiner Kraft? — War er ſchon nicht mehr der: 
ſelbe? — Blieb er ſchon hinter fich ſelbſt zuruck? — Uns 
moͤglich! — Mit zwanzig Jahren! — Da, wo die Kraft 
noch wuchs von Tag zu Tag. — 

Laͤcherlich! — Mit fünfundzwanzig wollte er anfangen, 
daran zu denken. — Aber bis dahin wollte er ſie, ſeine 


„ 


8 — 272 — 


Kraft, wachſen, wachſen und ſiegen ſehen über alles, was 
ſich ihr in den Weg ſtellte! 4 

Es war eine Indispoſition heute, 800 wer bas wehe | 
— Wer hatte die nicht zuweilen? Deshalb nutzten auch 
die verdammten Sinnirereien nichts; jetzt mußte geſchwom⸗ 
men werden, darauf kam es an. 

Er trank und klappte das Buch zu. Die Seite blieb 
nicht leer, das war ſicher: die dreiundachtzigſte. Auf der 
ſollte ein Sieg ſtehen. Und zwar bald! — 

Denn es konnte einfach ſchon deshalb nicht fein, weil 
es nicht ſein durfte! 

Wie Felder das Buch in die Rocktaſche ſchieben wollte, 
ſtopfte es ſich dort gegen kniſternde Papiere. Er zog ſie 
hervor und ſah, daß es ihre Briefe waren, Der ſuͤßliche, 
fahle Duft eines ſeltſamen Parfinns ſtieg zu ihm aus den 
zerknitterten Blättern auf, und er fühlte, wie es plötzlich 
wieder aus war mit ſeinem neuen Mut und ſeiner Friſche. 

Dieſer Duft machte ihn ſchwach, und es half ihm 
nichts, daß er die Blaͤtter zuſammenballte. Wie er ſie 
losließ, legte ſich das ſteife, engliſche Papier auseinander, 
und es entſtröͤmte ihm dieſer Duft, den er fo gut kannte, 
der allem anhaftete, was von ihr ausging: ihren Kleidern, 
ihren Handſchuhen, ihrem Atem, dieſem Papier — ihm 
ſelbſt!! — Ja, ihn ſelbſt hatte dieſer Duft förmlich durch⸗ 
traͤnkt in dieſen letzten Monaten, fo daß er ihn plotzlich 
verſpuͤrte, wenn er eines feiner Kleidungsſtücke zur Hand 
nahm. Et wurde ihn nicht mehrt los, dieſen Duft, 
der ihn uͤberall umgab, wo er ging und ſtand — lockend, 
begehrlich, geheimnisvoll und aufreizend wie ſie ſelbſt, 
fo daß er an fie denken mußte ohne Aufhören. 


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Was nuͤtzte es, daß er dieſe Papiere von ſich ſchob, 


dieſe Rufe nach ihm, die er nun ſchon Monate lang 


hoͤrte: erſt ſtuͤrmiſch und ſehnſuchtsvoll, erſt alle Tage, 
dann, je ſeltener ſie wurden, immer herriſcher und kuͤrzer, 
bis ſie nur noch der Befehl waren: „Heute abend um 
9 -“ oder: „Erſt morgen!“ — — — 

Welche Macht ſie uͤber ihn gewonnen, dieſe Frau, von 


der er noch immer nicht einmal wußte, wer ſie war! — 


Und wie Felder ſaß und gruͤbelte, und gruͤbelte, wurde 
ez ihm klar, warum er heute unterlegen war, warum 
er in der letzten Zeit nicht mehr die alte Kraft in ſich fuͤhlte, 
die unbeſieglich geweſen war; und eine maßloſe Wut 
kam über ihn gegen die, die ihm feine Kraft geraubt. 
Er ballte die Hand um den Rand des Tiſches, daß er 
ſich bog und das Glas klirrte. 

Und dann kam, blitzgleich, auch die wahre Erkenntnis 
dieſes Verhaͤltniſſes uͤber ihn. 

Was ſie begehrt hatte, das war ſeine Jugend, ſeine 
Kraft und ſeine Friſche geweſen. Und was ſie begehrte, 
hatte ſie ihm genommen: die Jugend, die Kraft und die 
Friſche feines Körpers! — Stuͤck für Stuck, in unerſaͤtt⸗ 
licher Habgier war ihm, ohne daß er es fuͤhlte und ahnte, 


eines nach dem anderen von ihr genommen, in unzaͤhligen 
Umarmungen, mit Kuͤſſen und Schmeicheln, bis fie ihn 
zu dem gemacht, was er heute war! 


Alles, was er beſaß, das einzige, das er ſein eigen 
nannte, hatte ſie ihm geraubt: ſeinen Ruhm! — Sein 


1 Ruhm aber war fein Leben. Sie hatte es zerſtöoͤrt. 


Er aber, er war ſo blind und ſo toͤricht geweſen, nicht 


| zu merken, was fie eigentlich von ihm wollte. Wie ein 


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— 274 — 


dummes Tier war er in die Falle gegangen; wie ei 
Hund war er ihr nachgelaufen; wie ein ... nein, er ver: 
mochte nicht weiter zu denken. l 
Denn jetzt wußte er auf einmal auch, wer ſie war. 
Eine große Abenteuerin, irgendwo in einem Winkel 
von zuſammengelaufenen Eltern erzeugt, fruͤh verdorben, 
früh gelehrt, ihre Schönheit als erſtes und eintraͤglichſtes 
Erwerbsmittel zu betrachten, fie gelehrig in unſtetem 
Wanderleben durch alle Laͤnder der Welt ſchleifend, und 
alles mitnehmend, was ſich ihr bot: hier die Alten und 
dort die Jungen. 
Die Alten, die ſie begehrten und bezahlten, und die 
Jungen, die von ihr ausgeſucht und bezahlt wurden! — 
Und einer von dieſen Jungen war er geweſen — er, 
Franz Felder! — 
Nicht mit ſolchen Worten ſagte er ſich dies alles, aber 
er empfand es alles fo und fühlte, daß es wahr war. Und 
er haͤtte ſchreien moͤgen, ſchreien vor Wut und dor Scham. 
Ihn, ihn hatte ſie nicht bezahlt, nein, das hatte ſie 
nicht gewagt! — Aber wie lange noch, und es waͤre auch 
dahin gekommen. Wieviel verſteckte Anerbietungen hatte 
ſie ihm nicht ſchon gemacht, wie oft nicht verſucht, ihm 
ſcherzhaft oder gleichguͤltig von Geld zu ſprechen, dieſem 
Gelde, das ſie verachtete, weil ſie es durch Arbeit nicht 
verdiente: damit er es nehmen ſolle von ihr als — Lohn 
War ihm ſelbſt nicht eines Tages, wenn auch nur 
ganz flüchtig, der Gedanke gekommen, eines dieſer An⸗ 
erbietungen, nicht anzunehmen, o nein, aber als Darlehen 
zu benutzen, da es mit ſeinem Gelde zu Ende ging, als 
Darlehen fir eine kurze Zeit, bis er ſich in England durch 


— 278 — 


neue Siege neues geholt? — Es war nicht dazu gekommen, 
es war bei dem fluͤchtigen Gedanken geblieben. Aber er 
hatte ihn doch gedacht 

Auch gegen Geſchenke hatte er ſich bis heute gewehrt. 
Das einzige, was er je angenommen, war das Band 
an ſeinem Handgelenk, die Kette von Gold. 

Aber ſie war nicht unzerbrechlich. Sie band ihn 
nicht an ſie. 

Er griff mit den Fingern der linken Hand zwiſchen 
ſie und das Fleiſch und verſuchte ſie abzuſtreifen, obwohl 
er wußte, daß es nicht ging. Und ſeine Wut ſtieg, als 
er ſah, wie vergeblich es war. 

Aber das ſollte ein Ende nehmen, jetzt gleich, noch 
heute abend! 

Er riß ſich aus dem Hinbruͤten auf und rief nach dem 
Wirt. Er hatte vier Stunden auf dieſem Fleck geſeſſen. 
Als er nach der Uhr ſah, war es gegen Elf. 

Der Regen draußen war ſtaͤrker geworden. Felder 
fühlte ihn nicht. Er ging der Friedrichſtadt zu. i 

Das Haus war offen. Natürlich: dieſes Haus war 
nachts immer offen, und die Treppen lagen in ihrem 
ewigen Zwielicht. Weshalb war ihm das nie ſo aufge⸗ 
fallen, wie heute? — 8 

Er klingelte an ihrer Tuͤr. Er klingelte nochmals. End⸗ 
lich hoͤrte er die ſchluͤrfenden Schritte der Alten und ihre 
Stimme. Er ſchlug gegen die Tuͤr und rief um Einlaß. 

Als fie ſich öffnete, ſchob er das Weib beiſeite, das 
bei ſeinem Anblick wie erſtarrt war. Es war das erſte⸗ 
mal, daß er unerwartet kam. Er kümmerte ſich nicht 
im geringſten um die Fragen und Beteuerungen, daß 

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— 276 — 


warten, ſagte er kurz. Sie würde ſchon kommen. 


Er riß die Tür zu dem großen Zimmer auf. es 
war beleuchtet und warm, wie immer. Aber ſie war 


nicht da. Sie war auch nicht im Schlafzimmer. 


„Ich werde Madame erwarten,“ ſagte er nochmals, 
und mit ſolchem Ausdruck in dem blaſſen Geſicht, daß 
ſich die Alte endlich mit Jammern und Wimmern zuruͤckzog. 


Felder merkte es nicht einmal. 

Er lief im Zimmer umher und warf überall ruͤckſichts⸗ 
los die Gegenſtaͤnde durcheinander. Er ſuchte den kleinen 
Schluͤſſel zu dem Armband. Als er nicht fand, was er 
ſuchte, begann er die Arbeit an ſeinem Handgelenk von 
neuem: er zerbrach eine goldene Hutnadel und eine Schere, 
er zerrte, bis ſeine Finger bluteten. Endlich gab er es 
auf, warf ſich in einen Seſſel und wartete. 

Wie lange? — Er hatte keine Ahnung. 

Das Licht der Ampel trieb das Dunkel in die Ecken 


des Gemaches und ein ſchwaches Rot auf ſeine Wangen, 


wie die Nöte der Scham. 
Ja, er ſchaͤmte ſich. O, wie er ſich ſchaͤmte! — 


Er haͤtte weinen moͤgen und konnte es nicht. Die 


innere Wut erſtickte ſeine Traͤnen. 

Er lag wie in einem Halbſchlummer. 

Plotzlich fuhr er empor. Er hörte draußen Stimmen: 
das klagende Wimmern der Alten und ihren herriſchen, 
empoͤrten Aufſchrei der Verwunderung. Die Tür wurde 


aufgeſtoßen, und ſie ſtand vor ihm: hochaufgerichtet, in 


Madame nicht zu Hauſe ſei. Er hoͤrte nicht hin, er 
verſtand das Kauderwelſch nicht. Er wollte Madame er⸗ 


— 277 — 
großer Toilette, die Arme und die herrlichen Schultern 
entblößt, Zorn in den Augen und auf den roten Lippen. 

„Wer iſt hier? — Du? — Was willſt du hier? — Wer 
hat dir erlaubt —“ 

Er ging auf ſie zu. Die ganze Raſerei dieſer Nacht 
brach in ihm los. Als ſie ſeine Augen ſah, wußte ſie 
alles. Aber ſie hatte keine Angſt. Sie kannte keine Furcht 
und ihre Lippen verzogen ſich leiſe und ſpoͤttiſch. 

Wie er das ſah, griff er ſie bei den Armen. Er wußte 
nicht, was er mit ihr tun ſollte, er wußte nur, daß er 
ſich raͤchen wollte an dieſem Geſchoͤpf, das ihn beraubt. 

Sie bog ſich wie eine Katze unter dem Druck ſeiner 
rauhen Haͤnde. Und auf dieſem ſelben Platze, auf dem 
ſie an jenem erſten Abend miteinander gerungen in be— 
gehrender Liebe, rangen ſie nun in widerſtrebendem Haß. 

Von ſeinem mißhandelten Handgelenk floß Blut und 
befleckte die Seide ihres Kleides und ihre weiche, braͤun⸗ 
liche Haut, während ihre Lippen unerhörte Beſchimpfungen, 
die er nicht verſtand, von ſich ſchleuderten. 

Immer wieder verſuchte er ſie niederzuzwingen, und 
immer wieder flog ihr ſchlanker Koͤrper empor wie eine 
Gerte unter ſeinen Haͤnden. 

Es war, als ob er ſeine Kraft an ſie gegeben habe 
in dieſen paar Monaten 

War es das, oder war es der Duft, der von ihr ausging 
und ihn betaͤubte, daß er ſie nicht niederkriegen konnte? — 

Kurz: er fühlte, daß er auch hier der Schwaͤchere ges 
worden war 

Da gab er ſie frei und taumelte hinaus, verfolgt von 
ihrem hoͤhniſchen und triumphierenden Lachen. 


5, 


= 3 in der Hand. 
Noch eine Stunde ging er durch die dden Gaſſen 


© EL dieser Gegend. Irgendwo ſchleuderte er das Armband 


deinem Brunnen die Hände, verband ſich das blutende 
Gelenk und trank in einer Deſtillation eine Taſſe Kaffee. 
um ſieben Uhr war er an feiner Arbeit. Den Morgen 


warf ſich auf fein Bett und ſchlief wie ein Toter. 
Als er erwachte, war ein neuer Tag angebrochen. 
Mit ihm begann ein neues Leben für Franz Felder. — — 


ſeinem neuen, großen Ziele der Springmeiſterſchaft ger 
führt hatte, ein einfaches und enthaltſames geweſen war 
ſo war das, welches er jetzt lebte, noch ſpartaniſch da⸗ 
gegen zu nennen. Es zerfloß zwiſchen Arbeit und Ruhe, 
und ſein einziger Zweck war flr Felder einſtweilen: die 


Bis zum Morgen ging er durch die Straßen. Als es 
1 ſchlug er die Richtung nach dem Norden ein. 

Um ſechs Uhr war er an den Toren der Fabrik und 
8 der erſte, der eintrat. Er ging in die mechaniſche Werk⸗ 
fſtaͤtte. An einem der Schraubſtöcke ſtand er eine kurze 


2 Weile. Als er zuruck kam, hielt er das geſprengte Arms = 


auf einen Kehrichthaufen. Dann erſt wuſch er fich an 
ütöber ſprach er kein Wort. Am Mittag fuhr er nach Hauſe, 


Wenn das Leben, welches er vor einem Jahre vor 


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— 279 — 


Wiedererringung ſeiner Kraft. Nicht deſſen, was andere 
Menſchen Geſundheit und Kraft nennen. Die allermeiſten 
haͤtten ihn um die ſeine beneidet. Nein, jener uͤberlegenen, 
herkuliſchen Kraft, die er noͤtig hatte. 

Daher ſtrich er von einem Tage zum anderen alles 
aus ſeinem Leben, wodurch er glaubte, ſie auch nur um 
ein Minimum vermindert zu haben: das Glas und die 
Frau, denn beides war Gift und Krankheit; jeden Ver⸗ 
kehr, denn der nahm ihm die Zeit zur noͤtigen Ruhe; 
jede Freude, denn er wollte von ihr nichts mehr wiſſen; 
und um ganz ſicher zu ſein, ſtrich er gleich alles auf einmal! 

Das einzige, was er ſich noch goͤnnte an Genuͤſſen, 
war eine moͤglichſt gute und nahrhafte Koft und zuweilen 
ein Glas ſtarken Weines. Und Schlaf, viel Schlaf! — 

Die Arbeit war ihm lieb. Sie hielt ſeine Kraͤfte im 


Gleichgewicht, ohne ſie zu verbrauchen. 


Außerdem verlieh fie feinem Leben die nötige Regel: 
mäßigfeit. Da er mit feinem Gelde zu Ende und ganz 
auf fie angewieſen war, huͤtete er ſich vor jeder unndtigen 
Ausgabe. Er kleidete ſich wieder wie fruͤher und achtete 
ſelbſt an den Feiertagen kaum auf ſein Hufieres. Wo⸗ 
zu auch? Es ſah ihn ja niemand mehr. 

Er nahm ſich nicht die Mühe, feinen Austritt aus dem 
Verein „Hecht“ dieſem anzuzeigen. Er ſandte gelegentlich 
ſein Trikot zuruck. Sie hatten feinen Namen wohl ber 


reits aus der Mitgliederliſte geſtrichen. Was lag ihm 


daran! — Er hatte nie Fuͤhlung mit dieſen Leuten ger 
habt, unter denen er fremd, denen er nur der Meiſter⸗ 


ſchwimmer Europas geweſen war, die ihn fuͤr Siege, aber 
nicht für Niederlagen gebrauchen konnten. 


ſchwiſtern, die darüber hoͤchſt erſtaunt waren. Aber auch 


Er ſah ſelbſt Koepke kaum mehr, und damit ver, 3 
auch das letzte Band, das ihn noch an fein fruͤheres 
Leben knüpfte. Wenn er ihn gelegentlich einmal traf 
tranken ſie ein Glas Bier zuſammen. Dann erzaͤhlte 
der alte Getreue Felder, wie er „ebenfalls der Schwimm⸗ 
ſache Valet geſagt habe“, da ſie ihm keinen Spaß mehr 
mache, ſeitdem Felder nicht mehr dabei ſei. Er war in 
einen kaufmaͤnniſchen und in einen Kegelklub eingetreten 
und ſpielte in beiden bereits ſeine alte Rolle des Laſt⸗ 
tieres mit unverhohlener Wonne weiter. a 

Felder lächelte krampfhaft. Alſo er hatte dem Schwim⸗ 
men Adieu gefagt! — Das ſagte man alſo von ihm! 
— Nun, man würde ja ſehen | 

Das neue Leben fiel ihm nicht ſchwer. Er dachte 
wenig und er fühlte ſich ganz wohl. 

Nur die langen Sonntage waren ſchlimm. Es waͤre 
ihm am liebſten geweſen, ſie haͤtten nicht exiſtiert. Wen 
er fie haͤtte durcharbeiten koͤnnen, alle dieſe Wochen, einen 
Tag wie den anderen, ihm waͤre es Recht, dachte er oft. 
Nun mußte er ſich mit den Sonntagen abfinden, dieſen 
endlos⸗langen Nachmittagen, mit denen er nichts mehr 
anzufangen wußte, und er ging jetzt ſogar das eine oder 
andere Mal mit ſeinen ſtillen Eltern und den lauten Ge⸗ 


das gab er bald auf, denn er wußte mit ihnen nichts 
zu reden. Die haͤuslichen Dinge langweilten ihn, und 
über das Eine konnte er doch nicht ſprechen, weder mit 
ihnen, noch mit irgend jemand auf der Welt ... Wer 
verſtand das? — Er kannte keinen. 

So ging er denn ſchließlich auch an dieſen Nach: 


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— 281 — 


mittagen ſeine einſamen Wege: zu all den Orten, wo 


2 er früher fo glücklich gewejen war und die jetzt dde und 


verlaſſen unter dem ewig grauen Himmel lagen. Denn 
es wollte dieſes Jahr nicht Fruͤhling werden. Eine duͤnne 
Eisſchicht bedeckte noch den Kochſee, als er eines Tages 
dort durch die Spalten der feſtverſchloſſenen Umzaͤunung 
ſah, und kahl und traurig ſtarrten die Geruͤſte und Planken 
der anderen Badeplaͤtze in die Hoͤhe — am Ploͤtzenſee 
und in Gruͤnau, wohin er auch kam, — kahl und froſtig 
wie die Baͤume, deren laubloſe Staͤmme ſich regungslos 
von dem braunen Boden der Landſchaft abhoben. Sie 
ſtimmten ihn nicht froͤhlicher, dieſe einſamen Ausfluͤge, 
auf denen unvergeſſene Erinnerungen ihn immer von 
neuem in ihren Bann zogen. Aber er wußte nichts anderes 
zu tun, und ſo fuhr er immer wieder hinaus und ging 
oder ſtand oft ſtundenlang, in Gedanken verſunken, auf 
den verlaſſenen Stätten feiner Siege und feines Gluͤckes ... 

Beſſer wurde es erſt, als es Fruͤhling wurde. — 

In der erſten Zeit ſchwamm er nur ſelten. Er wagte 
ſich nicht in die Schwimmhallen, aus Beſorgnis, dort 
Bekannte zu treffen. Er fuͤrchtete geradezu jede Frage, 
jedes Wort, jede Anſpielung auf feine Niederlage ... 
Er hätte fie nicht ertragen. Dann, als er wieder all 
abendlich nach der Arbeit badete, vermied er mit derſelben 
Sorgfalt, wie im Vorjahre, die Übungsabende der Klubs 
und ging an dem einen Tage hier-, an dem anderen 
dorthin, wo er ſicher ſein konnte, moͤglichſt allein zu ſein. 


So beſuchte er alle Winterbaͤder, wie es gerade kam. 


Nur in jene kleine, dunkle Halle im Suͤden der Stadt, 
wo er vor einem Jahre taͤglicher Gaſt geweſen war, ging 


er nie mehr ... Dieſe Erinnerungen follten begraben 
* und durften ihn jetzt nicht ſtoͤren. 5 
2 Er ſchwamm einſtweilen noch ohne jeden Gedanken 
an ein neues Training. Alles, was er wollte, war, feine 
re: Kraft wiederzufühlen, ehe er daran dachte, fie von 
neuem zu üben. Er glaubte nämlich allen Ernſtes, das 
Gefühl ſeiner Kraft verloren zu haben. Einmal ſchwankend 
geworden an ihr, war er wie der eingebildete Kranke, 
der ſtets die Krankheit zu haben glaubt, von der er hoͤrt. 
Er war irre an ſich geworden, weil er angefangen hatte, 
über ſich nachzudenken. 
Er fuͤrchtete ſich, die Zeit nehmen zu laſſen. So 
ſchwamm er vor der Hand noch in allen möglichen Stilarten 
und alle möglichen Längen, wie es ihm gerade in den 
Sinn kam, ohne auf ſich und feine Umgebung zu achten. 
And das ungeheure Wohlbehagen, das er immer empfand, 
wenn er im Waſſer war, ergriff ihn wieder, und taͤglich 
mehr und mehr ... Mit dem Wohlbehagen aber fühlte 
er zugleich ſeine Kraft wieder, und ſeine übungen wurden 
ernſter, wenn er ſie auch noch nicht pruͤfen ließ. 
Dann hörte er eines Abends, als er feine hundert 

Meter zum dritten Male fo ganz fur ſich geſchwommen, 
wie ein Herr, den er nicht kannte, der ihn aber beobachtet 
und zu feinem eigenen Vergnügen nach der Uhr geſehen 
5 hatte, ſagte 1: 2 | 
| 1: 2121 — Aber das war ja feine eigene, frühere 
gute Zeit, das kam nahe an den von ihm ſelbſt vor zwei 
Jahren in Wien aufgeſtellten Rekord heran, als er ſo 
glaͤnzend disponiert war! — Dann, dann — beſaß er ſie ja 
wieder, feine verlorene Kraft! — Dann ging es ja wieder! — 


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j Er bat den Fremden, ihm doch nochmals die Zeit zu 
ae Er ſchwamm die hundert Meter zum vierten 
* und zwar bewußt ohne beſonderen Kraftaufwand. 
£ und feine Zeit blieb gut. — 

Er freute ſich noch nicht. Er wagte es nicht. Aber 
in feine wahlloſen Übungen kam von jetzt ab wieder ein 
gewiſſer Sinn. 

Er ſchwamm von neuem alle Stilarten und alle 
ingen durch, ließ ſich die Zeit nehmen, wenn er gerade 
den Bademeiſter oder ſonſt einen Bereitwilligen dazu fand, 
und ohne noch in ein beſtimmtes Training zu treten, 
erprobte er doch ſchon — vorſichtig und unſicher wie ein 
Anfaͤnger — ſeine Fertigkeit. 

Allmaͤhlich wurde er ruhiger, je ſicherer er wurde. 
Er konnte ſich nicht mehr verhehlen, daß fein furchibares 
Erſchrecken nach jenen erſten, im Grunde belangloſen 
Niederlagen toͤricht und uͤbertrieben, und daß von einer 
ernſtlichen Erſchuͤtterung feiner Kraft wohl nie die Rede 
geweſen war; daß ein paar Wochen ruhigen Lebens fie 
vielleicht ganz von ſelbſt in das alte Geleiſe gebracht 
hätten und fo eigentlich dieſer ganze Bruch unndtig und im 
Grunde etwas laͤcherlich und darum eigentlich beſchaͤmend 
ar 
Aber eines blieb trotz allem. Wenn auch ſeine Kraft 
nicht erſchuͤttert war, fein Selbſtvertrauen war es auf 
jeden Fall! — Dieſes ſtolze Selbſtvertrauen, entſtanden 
nicht in einer Stunde, ſondern aus empfangsfaͤhigem 
Boden jchlichtern und langſam emporgewachſen, ſtetig erſt 
bewaͤſſert durch kleine, dann genaͤhrt durch immer größere 


Erfolge, Wurzel ſchlagend in beifpiellofen Siegen, und 


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endlich untrennbar, Weſen und Eins, mit der benen. 
lichkeit, mit ihm, ihm — Franz Felder! — 

Dieſes Inſichtſelbſt⸗Vertrauen war erſchuͤttert! 9 
feine Kraft, fein Selbſtvertrauen mußte er daher wied 
gewinnen! — 

Dazu war nun das Leben, wie er es fuͤhrte, am 
wenigſten geeignet. Unfaͤhig, Vergleiche zu ziehen, 
drucke zu empfangen und wiederzugeben, konnte er 
nur naͤhren an den Maßen feiner Einbildung. Und n 
jedem neuen über ſich erfochtenen Sieg ſeiner Kraft 
nahm es Dimenſionen an, an die Felder früher nie ges 
dacht hatte. Schon aus dem einfachen Grunde nicht 
gedacht, weil er fruͤher geſchwommen, ſo gut er es konnte, 
ohne zu denken. 

Zahlen waren es, die er jetzt verglich: Zahlen gegen 
Zahlen. Nicht Leiſtungen — warme Leiſtungen des 
Lebens — gegen Leiſtungen.“ Wie er aber den Tag er⸗ 
ſehnte, an dem ihm das zum erſten Male wieder mögl 
fein würde! — 

Dann würde er wieder leben. Denn dies Leben d 
Einſamkeit, wie er es jetzt fuͤhrte, war kein Leben mehr. 

Er litt unter ſeiner eigenen Einſamkeit. Wie ſehr er 
litt, wußte er ſelbſt nicht einmal mehr. 

Er war immer allein, und allmaͤhlich kam es 
wie ein Traum vor: die alten, lieben Freunde, die laute 
fröhlichen Feſte, feine ſenſationellen Siege — waren fi 
in der Tat jemals Wirklichkeit geweſen? — Der Taumel 
feiner Sicherheit, feine Wagniſſe, feine Reifen? — — 

Er wollte nicht an die Vergangenheit denken. Er 
wollte ſich vorbereiten auf die Zukunft. Denn alles 


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5 — 


erſt noch vor ihm. Hinter ihm lag nur ein Anfang, 
ein in feinem Ende mißgluͤckter Anfang. 
Aber was er nicht hindern konnte, war: daß zuweilen 
Bilder dieſer Vergangenheit vor ihm aufſtiegen, und vor 
allem Bilder des letzten Jahres, der Zeit, als er ſchon 
nicht mehr ſo ganz und gar in dem engen Kreiſe der 
Genoſſen gelebt, ſondern neue, fremde Menſchen und 
andere Lebensweiten ſich ihm aufgetan. Und er ſah noch 
zuweilen das hohe, nuͤchterne Atelier des Bildhauers vor 
ſich, die kahlen Waͤnde und die ſeltſamen Figuren, und 
den Kuͤnſtler ſelbſt, ſchweißbedeckt, ſchweratmend und in 
innerlichen Kaͤmpfen qualvoll ringend; und das warme, 
gemuͤtliche Zimmer des Doktors, den froͤhlichen, freund⸗ 
lichen Mann mit den blitzenden Augen und der lebhaften 
Stimme, unermuͤdlich im Erzaͤhlen und voll Intereſſe fuͤr 
ihn; und zuweilen — ſah er auch fie... Aber da 
wandten ſich ſchnell ſeine Gedanken. Er wollte davon 
nichts mehr wiſſen und zwang ſich zum Vergeſſen. Und 
nur in ſeinen Traͤumen erregte ſie ihn zuweilen noch, 
wie ſie es damals getan. Doch auch dieſe Traͤume 
wurden ſeltener und ſeltener und ſchwanden endlich ganz, 
wie ihr Duft allmaͤhlich aus ſeinen Kleidern gewichen 
war, dieſes ekelhafte Parfüm, das feinen Körper vers 
giftet hatte. 

Und endlich wurden die Geſtalten blaſſer und blaſſer 
und ſchwanden ganz, ſo wie Felder es wollte. 
Alles, was hinter ihm lag, wurde weſenlos und ver⸗ 
A lor feine letzte Macht ſelbſt über feine Erinnerung. 
Hatte er es Überhaupt erlebt? — 
Oft vermochte er kaum mehr daran zu glauben. Aber 


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6. 


Wenn man ihn vergaß — er hatte nichts vergeſſen. 
In der ganzen deutſchen Schwimmerwelt gab es keinen, 
der mit ſchaͤrferem Auge alle Vorgaͤnge in ihr verfolgte, 
keinen, der mit groͤßerer Haſt nach den Berichten griff, 
als Franz Felder. Kein Ereignis von irgendwelcher Be⸗ 
deutung entging ihm. Er las alle Zeitſchriften, die irgend⸗ 
wie in Betracht kamen; er war unterrichtet über alle 
Veranſtaltungen und über den Verlauf einer jeden. Kein 
neuer Name blieb ihm fremd, kein Sieg von irgend⸗ 
welcher Bedeutung unbekannt. 

Es wurde ſeine Beſchaͤftigung, an manchen langen, 
einſamen Abenden die Sportszeitſchriften durchzuſehen, 
alte und neue, und Vergleiche uͤber Vergleiche anzuſtellen 
z wiſchen dem, was geleiſtet wurde und geleiſtet war — 

von ihm ſelbſt. 
| Er wurde innerlich immer ſicherer. 

Als das erſte große Sommerſchwimmen des Berliner 

Schwimmerbundes herannahte, draͤngte es ihn mit Macht 


zur Beteiligung. Aber er bezwang ſich und dachte an 


den Schwur, den er ſich ſelbſt in jener Nacht der Ver⸗ 
zweiflung getan. 
Nein, er wollte nicht! — Was er tun wollte — nicht 


Berlin, nicht Deutſchland, Europa ſollte es ſehen. Dazu 


ei... 


gab es nur eine Gelegenheit. Er mußte ſie erwarten. 
Noch war ſeine Stunde nicht gekommen. | 

Er blieb fern. Aber es wurde ihm ſchwer. Zum 
erſten Male ſah er den Preis ſeiner Vaterſtadt uͤber die 
kurze Strecke, der vor vier Jahren ſein erſter großer Sieg 
geweſen und den er ſeitdem Jahr fuͤr Jahr behauptet, 
in fremden Beſitz uͤbergehen. Freiwillig gab er den 
Meiſtertitel Berlins aus den Haͤnden und ſeinen Namen 
neuer Vergeſſenheit preis! — Freiwillig — denn an dem⸗ 
ſelben Tage ſchwamm er, für ſich allein, einmal am 
Morgen und einmal am Nachmittage in einer eben ge⸗ 
öffneten, entlegenen Badeanſtalt der Umgegend die hundert 
Meter in einer Zeit, die ſeinem eigenen Rekord vor zwei 
Jahren faſt gleichkam und die Zeit des Siegers — auch 
eines alten Gegners — beide Male übertraf. 

Er biß die Zaͤhne aufeinander. Er wollte noch nicht. 
Denn er durfte noch nicht! — 

Wieder vergingen Wochen, und der Sommer war da. 
Das Waſſer wurde taͤglich waͤrmer. Langſam nahte ſein 
Tag: der Tag des großen Feſtes des Allgemeinen deutſchen 
Schwimm verbandes, der größten internationalen ſchwimm⸗ 
ſportlichen Veranſtaltung des Jahres, nicht nur fur Deutſch⸗ 
land, ſondern alle benachbarten Laͤnder; der Tag der großen 
Entſcheidungskaͤmpfe über die allererſten Meiſterſchaften 
des Weltteiles. 

Und er erwartete ihn. 

Dann fiel fein Blick eines Tages im „Wel Eport⸗ 
auf ſeinen Namen, ſeit langer Zeit zum erſtenmal wieder, 
und ſein Herz ſchlug hoͤher bei dem, was er las. Es 
war eine Kritik des letzten Berliner Bundesſchwimmens 


— 289 — 


und in der Hauptſache die Beſprechung des Sieges des 
jungen Georg Bauer vom „Triton“, wo es am Schluß hieß: 
2 — „Die Leiſtung dieſes jungen Mannes erinnert uns 
in ihrer ſelbſtbewußten Kraft und der idealen Schönheit 
ihres Stils an diejenigen des noch vor kurzem uberall 
genannten Meiſters von Europa vom Vorjahre. Unſere 
Leſer wiſſen, daß wir von Franz Felder ſprechen. Sie 
wiſſen auch, wie ſehr wir ſtets gerade fuͤr dieſen Schwimmer 
eingetreten ſind, und erinnern ſich, welche Hoffnungen 
und Wünfche wir noch auf Jahre hinaus für ihn gehegt 
und ausgeſprochen haben. Um ſo ſchmerzlicher war — wie 
wohl überall — unſer Bedauern und um fo größer 
unſere Enttaͤuſchung, dieſen in Haltung und Kraft einzigen 
Schwimmer ſo jaͤh niedergehen und dann von einem 
Tage zum anderen, nach einigen aͤußerlich gar nichts be⸗ 
deutenden Mißerfolgen, plotzlich von der Bildfläche ver⸗ 
ſchwinden zu ſehen: aus Gruͤnden, die offenbar tiefer 
liegen, als daß wir ihnen hier öffentlich nachgehen dürften. 

Es wäre ſicherlich ein einziger Genuß für jeden feineren 
Kenner geweſen, am vergangenen Sonntag z. B. ihn und 
Bauer zugleich an den Start gehen und die reifende Kraft 
des Juͤngeren mit der gereiften des Meiſters in einer Form 
wetteifern zu ſehen, die bei der rohen, immer mehr eingreifen⸗ 
den Preisjaͤgerei gaͤnzlich in Vergeſſenheit zu geraten ſcheint. 

Werden wir ein Schauſpiel dieſer Art nie mehr er⸗ 
leben? — Faſt ſcheint es ſo. Aber wir koͤnnen die 
Hoffnung noch nicht aufgeben, Felder eines Tages wieder 
an der Arbeit zu ſehen, und möchten heute nur noch⸗ 
mals — auch im Hinblick auf manchen ungerechten An⸗ 
griff, der den Meiſter mit zu ſeinem ſonſt raͤtſelhaften 

19 


VI 


* 


entſchluß, ſich fo ganz zurückzuziehen, getrieben haben 
mag — betonen: wenn auch die neuerlichen Leiſtungen 
des Nachwuchſes jedes Lobes wuͤrdig ſind und manchen 
zum Nachfolger Felders geradezu praͤdeſtinieren, ſo ſcheint 
Allen doch völlig zu fehlen, was der Perfönlichkeit dieſes 
Meiſters ſo ſehr eigen war — dieſe innerliche Leidenſchaft 
und Liebe zur Sache, dieſes Aufgehen in ihr mit Leib 
und Seele, dieſe unbedenkliche Hingabe der Begeiſterung, 
die wir in ſeinen phaͤnomenalen, oft uͤber die eigene 
Kraft hinausgehenden Leiſtungen zu oft bewundert haben, 
als daß wir uns über fie taͤuſchen koͤnnten. Dadurch 
nicht durch die Teilnahme an dem aͤußeren Ausbau des 
Schwimmweſens, wie er in den Klubs betrieben wird, 
und auch nicht durch ſeine Siege — hat Felder ſeiner 
geliebten Sache den groͤßten Dienſt geleiſtet und ihr in 
den Augen Vieler eine hoͤhere, gewiſſermaßen edlere Be⸗ 
deutung gegeben, als ſie bis dahin beſaß. Das ſollte 
ihm unvergeſſen bleiben und ſeine Gegner daran erinnern, 


daß Menſchen dieſer Art ihre eigenen Wege gehen und 


gehen müſſen, weil fie nur auf ihnen ihre — oft nur 
von ihnen ſelbſt geahnten oder erkannten — Ziele er⸗ 
reichen koͤnnen ..“ 

Wie das Herz des Leſenden ſchlug! 

Was er ſelbſt ſich nie klar gemacht, was er aber 
ahnte und dem er nachging — dieſer Mann, der das 
geſchrieben, hatte ihm Worte gegeben! — Er war der 
Einzige, der ihn ganz verſtand! 1 

— „Menſchen dieſer Art gehen ihre eigenen Wege..“ 
Ging er nicht die ſeinen, war er ſie nicht ſtets gegangen, 
getrieben von einer inneren Stimme, die das Raufchen- 


3.3 ee wet a 
— 291 — 

und Brauſen auch des lauteſten Beifalls übertönt hatte? 
UE Und wenn er ſie eine Zeitlang nicht mehr vernommen, 
war ſie es nicht geweſen, die ihn zuruͤckgelockt hatte zu 
ſich? — Hoͤrte er fie nicht wieder? — Und rief fie ihn 
nicht, wie damals den armen, kleinen Jungen, jetzt wieder, 
ihn, den Meiſter, zu Zielen, von denen niemand wußte, 
auch er ſelbſt nicht?!! — 

Ja, ſie rief ihn wieder, und er hoͤrte ſie: rein und 
klar, wie nur je! — — 

Ein paar Tage ſpaͤter holte er eines Abends Koepke 
aus ſeinem Geſchaͤft ab. Die Ausſchreibungen zu dem 
großen internationalen Verbands⸗Schwimmen waren ſo⸗ 
eben crlaſſen. 

Felders Tag war gekommen. 

In einem Reſtaurant ſetzten ſie ſeine Meldung auf: 
in dem uͤblichen, geſchaͤftsmaͤßigen Stil, aber doch noch 
Wort fuͤr Wort uͤberlegend. Und als Koepke ſie abge⸗ 
ſchrieben, ſetzte Felder das uͤbliche: „Mit Schwimmer⸗ 
gruß ...“ und feinen Namen darunter in feiner klobigen, 
muͤhſamen Handſchrift. Auch die Einzahlung des Eins 
ſatzes von 20 Mark, die Felder ſchon lange zuruͤckgelegt, 
verſprach Koepke zu beſorgen, und Felder durfte ſicher 
ſein, daß es puͤnktlichſt geſchehen wuͤrde. Befriedigt legte 
er die Feder aus der Hand und laͤchelte zum erſten Male 
ſeit langer Zeit wieder. 

Dann aber, als ſie nach geſchehener Arbeit noch zu⸗ 
ſammenſaßen, da brach es plotzlich aus Felder hervor! 
L Er wußte ſelbſt nicht, wie es ſo ploͤtzlich kam, aber 
er mußte ſprechen, um endlich einmal wieder die eigene 


Stimme zu hören. Und während der kleine Kaufmann 
19* 


zuhbrte, ſtroͤmte vor ihm aus gequaͤlter Bruſt Alles her 


1 Wanderung von Gipfel zu Gipfel! 


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erſt erſtaunt und betroffen, dann ganz betäubt wortlos 


vor, was fie feit Monaten zum Erſticken bedruckte. 
Man hatte ihn vergeſſen! — Ja, er wußte es wohl. 
Er hatte ſich von der Schwimmerei zuruͤckgezogen. r 
konnte nichts mehr. Er war fertig. Er war toet 
Aber wie fie ſich Alle taͤuſchten! — Sie Alle mit⸗ 
einander! 1 
Was wußten fie denn von ihm? — Verſtanden fie ihn 
überhaupt? Ahnten fie auch nur, was er gewollt hatte? —- 
Wie ſollten ſie begreifen, was er erſt wollte?! 
Sie glaubten ihn fertig, und er war erſt am Anfang. 
Sie glaubten ihn geſtuͤrzt, die aus dem Tale Zu: 
ſchauenden. Aber er war nur für eine kurze Weile hinter 
einer Felsecke verſchwunden, um auszuruhen zur neuen 


In vierzehn Tagen würde er wieder vor ihren Augen 
erſcheinen und eine Wanderung beginnen, auf der ſie ihm 
überhaupt nicht mehr folgen konnten. 1 

Er war noch nicht einundzwanzig Jahre alt. Er war 
noch gar nicht im Vollbeſitz ſeiner Kraft. Wenn er ſich 
einen Augenblick je eingebildet, ſie verloren zu haben, ſo 
war er ganz einfach ein Narr geweſen. Auf jeden Fall 
fühlte er fie jetzt wieder, jo mächtig und ungebaͤrdig, 
daß er den Tag nicht mehr erwarten konnte, fie zu er⸗ 
proben. Und da er jetzt wußte, wodurch er ihr ſchaden 
konnte, brauchte er nur alles zu vermeiden, um ſie un⸗ 
geſchwoͤcht ſich die naͤchſten zehn Jahre zu ihrer Hoͤhe 
entwickeln zu laſſen und ſie dann noch zehn Jahre auf 
ihrer Höhe zu erhalten. Das aber waren zwanzig Jahre! — 


— 293 — 


Und in dieſen zwanzig Jahren wollte er es in ſeiner 
Sache zu Leiſtungen bringen, wie ſie bisher uͤberhaupt 
noch nicht dageweſen waren. Und zwar nicht in dem 
engen Rahmen des Sports, unter der Vormundſchaft 
und beengt durch die Regeln der Klubs und Verbaͤnde, 
ſondern als freier Schwimmer der Welt, ſeinetwegen 
auch als ‚Profeffional‘, wenn fie es denn fo nennen 
wollten a 

Wenn er in Gruͤnau noch einmal innerhalb des bis⸗ 
herigen Rahmens ſchwimmen ſollte, ſo tat er es, weil 
er hier noch eine alte Rechnung einzuloͤſen hatte. Aber 
es ſollte nur ein Wiederbeginn ſein. Unzweifelhaft wuͤrde 
ihm der S.⸗K. B. 1879 nach ſeinem Siege von ſelbſt die 
Mitgliedſchaft wieder anbieten, wahrſcheinlich ihn gleich 
zu ſeinem Ehrenmitgliede ernennen. 

Er wollte ſie annehmen. 

Dann aber ſollte ſein Weg in die Weite beginnen. 

Berlin — was war Berlin? — Das war ein ab⸗ 
gegrafter Boden, auf dem es nichts mehr zu holen gab. 
Und auch in Deutſchland waren der Staͤdte wenige, wo 
er noch Ehren erlangen konnte, die er noch nicht beſaß. 

Aber das Ausland! — Dahin mußte er. Zunaͤchſt 
nach England. Und wenn er von dort mit neuen Ehren 
und neuen Mitteln zurückgekehrt war, dann ſollten ſeine 
großen Reiſen von einer Hauptftadt zu der anderen bes 
ginnen, und überall würde er feine Kunſt — wenn es 
ſein mußte: vor der ganzen Offentlichkeit zeigen und den 
Ruhm feines Namens über die ganze Welt tragen 

So ſprach Felder. Seine ungelenken Worte Über 
ſtürzten ſich, und feine Augen glaͤnzten wie im Fieber, 


und ig ihm zu, ohne ihn zu v 


72 


In unſaͤglicher Spannung erwartete Felder ſeinen Tag 
Er lebte nur noch in dem Gedanken an ihn. Nie vor⸗ 
her hatte er mit ſolcher Sorgfalt ſich auf alles vorbereitet. 

Seine Meldung war angenommen worden. Natürlich. 
Sie haͤtten ſie gar nicht abweiſen koͤnnen. Es lag nicht 
das geringſte gegen ihn vor. 

Dann wurden die Teilnehmer bekannt gemacht. Felder 
verſchlang die Namen, und er haͤtte aufſchreien moͤgen 
vor Freude — das war, was er gewollt, und mehr, als 
er je zu hoffen gewagt: die allererſten Namen, nicht nur 
Deutſchlands, ſondern Europas! — Er kannte alle, vom 
erſten bis zum letzten! Da war zunaͤchſt Rieſecker, der 
der Meiſter Deutſchlands geweſen war bis zur Stunde, 
wo er ihn zuruͤckgedraͤngt hatte — aha, jetzt wagte er 
ſich wieder hervor, fein alter Gegner; dann Scarpetta, 
der Meiſter Italiens, dem wohl wieder einmal nach einer 
Niederlage gelüftete; Anton Riegler, der Meiſter Oſter⸗ 
reichs und Ungarns zu gleicher Zeit — der Europas 
wurde er nie werden, fo lange Felder lebte; Magelsdorffer, 
der im vorigen Jahre die große Rheinmeiſterſchaft über 
7500 Meter erfochten — er ſollte aber doch lieber in 
ſeinem heimatlichen Strom bleiben. Dann der junge 
Nachwuchs: vor allem der junge Magdeburger Seubert 


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* 


— 8 


wieder — nun, nur nicht fo eilig, junger Mann; und 
auch du nicht, Georg Bauer — ihr jungen Haͤhne kraͤht 
zu früh... 

Sie würden alle kommen, mit Ausnahme der Enge 
laͤnder wieder. Nun, mit denen wuͤrde er ja bei der 
naͤchſten Gelegenheit noch ein Wort reden 

Sie waren alle da, und Felders innere Freude kannte 
keine Grenzen. Jetzt erſt war er wieder ganz ruhig. 

Wat für ein Schwimmen ſollte das werden! — 
Langſam, viel zu langſam kam endlich der Tag für den 
Einſamen heran. 

Felder lag im Bett bis gegen Mittag. Mit offenen 
Augen ſtarrte er die Kraͤnze und Bilder an den Waͤnden 
an. Endlich hielt er es nicht mehr aus. 

Früh am Nachmittag fuhr er hinaus nach Gruͤnau. 
In dem kleinen Paket in der Hand trug er ſein Trikot. 
Der Zug war überfüllt mit Ausflüglern. 

In Grünau ging er gleich zum Sportplatz und dort 
hinter den Reihen der Zuſchauer entlang zu den ihm ſo 
wohlbekannten Ausklcideftellen, wo bereits uberall Kleider 
hingen. Er ſuchte ſich die entlegenſte freie Ecke und zog 
ſich langſam aus. 

Es war vier Uhr. Vor fünf konnte das 600 Meter⸗ 
Rennen kaum beginnen. Als er das Trikot über feine 
glühenden Glieder zog, war er noch immer ganz allein 
in dieſer Ecke hier oben. Dieſes Trikot hatte er ſich für 
ſein heutiges Schwimmen als Einzelſchwimmer machen 
laſſen, und wochenlang hatte er darüber nachgedacht, was 
er waͤhlen ſollte und durfte. Endlich hatte er ſich ent⸗ 
ſchieden: ganz weiß, nur am Rande mit einem goldenen 


— 297 — 


Streifen; und ebenſo die Badehoſe: ganz weiß, mit 
goldenen, ſchmalen Streifen und vorn mit einem ein⸗ 
fachen goldenen Stern. Das waren die Farben keines 
Klubs, das war kein Abzeichen, das war noch von nie⸗ 
mand jemals gewaͤhlt worden — es ſollten die ſelbſt⸗ 
gewaͤhlten Farben ſein, unter denen er heute fuͤr ſich 
ganz allein ſiegen wollte, heute, dies eine Mal, bevor 
— — bevor er wieder fuͤr andere kaͤmpfen wollte. Leicht 
und ſtraff legte ſich der duͤnne, faſt durchſichtige Stoff 
um ſeinen Koͤrper, nur Arme und Beine frei laſſend, 
nirgends beengend, jeder Bewegung nachgebend, wie die 
Trikots der Akrobaten und Athleten. Felder hätte keine 
einfacheren und beſcheideneren und doch herausfordernd⸗ 
bedeutungsvolleren Farben wählen koͤnnen, ale dieſe: 
Weiß und Gold! — — 

Noch immer kam niemand, und er ſtand bereits fertig. 
Von dieſem Fleck aus konnte er nicht nur den ganzen 
Sportplatz unter ſich, ſondern weithin die ganze Gegend 
überblicken, Vor ihm unter den Baͤumen fielen die langen 
Bankreihen itufenförmig bis zum Waſſerſpiegel nieder, 
dicht beſetzt mit den Zuſchauern, um fo dichter, je näher 
der Kampfplatz, alle es ſich fo bequem wie möglich 
machend, die Frauen in luftigen Sommerkleidern, die 
Maͤnner oft in Hemdsaͤrmeln, trinkend, lachend, ſich den 
Schweiß abtrocknend und immer wieder die Aufmerkſamkeit 
den Spielen zuwendend ... Kinder, die ſich langweilten 
und balgten, zwiſchen ſich ... Weiter unten die Farben 
der Klubs, die ſchwarzen Nöde und Fraͤcke der offiziell 
Beteiligten, der geladenen Gaͤſte, der Richter, der Ver⸗ 
anſtalter ... dann die nackten, hellen Geſtalten der 


— 298 — 


Kaͤmpfer .. endlich der abgeſteckte Platz mit ſeinen fahnen⸗ 
geſchmuͤckten Geruͤſten, die auf Tonnen ſchwammen 
auf dem Sprungbrett die ſchnell ſich ablöfenden Geſtalten, 
in ſeltſamen Formen die Luft durchſchneidend und in dem 
aufſpritzenden Waſſer verſchwindend ... Leben, Bewegung 
überall, überall Kommen und Gehen: der erregte und 
doch verhaltene Ernſt, die geſpannte Aufmerkſamkeit dieſes 
Feſtes, nur unterbrochen durch den zeitweiligen, toſenden 
Jubel der Zuſchauer, aber alles gebannt, etwas gelaͤhmt 
durch die drohende Schwule dieſes Julitages i 
Und darüber hinaus die ganze, weite Landſchaft, das 
leuchtende Waſſerbecken, hier ſich zum See verbreiternd, 
dort, gegen Weſten, ſich in traͤgem Fluſſe verengernd, an 
feinen Ufern die menfchenüberfüllten Sommergaͤrten, von 
denen Muſik berüberfchaflte, beſaͤt mit Booten und Fahr⸗ 
zeugen, auf welchen die ſonntagsfreudigen und arbeits⸗ 
muͤden Großſtadtmenſchen ſich dahintreiben ließen; dann 
dort drüben das einfache und in feiner Einfoͤrmigkeit 
doch ſo tiefe Bild dunkler Kiefern und des weißen, 
maͤrkiſchen Sandes: die ſanften Linien der Muͤggelberge, 
gebrochen am Horizonte durch den ſcharfen Strich eines 
Aus ſichtturmes, aber ſonſt leiſe und wellig dahingleitend, 
in ihrer milden Freundlichkeit mehr geſchaffen fuͤr den 
ſtillen Ernſt des Herbſtes, als fuͤr dieſe grelle Sonne, 
der die geraden Staͤmme regungslos, ohne Erzittern, wie 
betäubt, ftandhielten . | 
Felder wußte nichts von der Schönheit und von ber 
Einfoͤrmigkeit diefer Gegend. Er hatte nie etwas anderes 
gekannt, wie ſie, und die Bilder ſeiner Reiſen hatte er 
geſehen, wie andere ſie für zehn Pfennig im Automaten 


— ge 
ſahen. Er ſah nur das Waſſer. Und es gligerte und 
glaͤnzte und lockte und rief; und ungeduldig griff er nach 
ſeinem Tuch. 

Dies Waſſer war ſeine Heimat; dies Waſſer war ſein 
Land. — ö 

Genau war mit Koepke der Zeitpunkt verabredet, an 
dem dieſer ihn abholen ſollte: bei Beendigung der ſechſten 
Konkurrenz, des Hindernisſchwimmens; ſpaͤteſtens aber vor 
Beginn der ſiebenten: des Springens um die Deutſchland⸗ 
Meiſterſchaft, der als achte dann das große Haupt⸗ 
ſchwimmen folgen ſollte. Zeit genug alſo. Und Felder 
war ſchon fertig. Er wußte, daß Koepke kommen wuͤrde. 
Hierher. 

Die Ungeduld ergriff ihn. Wurde denn das Sprung⸗ 
brett dort unten niemals leer? — Immer von neuem 
erſchienen die Springer. Und mit der Ungeduld kam die 
Angſt uͤber ihn, jene Angſt, die er nur ein einziges Mal 
in ſeinem Leben geſpuͤrt: damals, vor ſeinem erſten großen 
Siege, an jenem grauen Wintertage, in der truͤben Ecke 
des Winterbades der Waſſerfreunde, als er ſo wie heute 
darauf wartete, daß man ihn holen ſollte. 

Aber wie durfte er heute Angſt haben! — Und 
doch fühlte er fie, wie eine Drohung, über ſich, und er 
atmete erleichtert auf, als dort unten eine Bewegung 
durch die Reihen ging, die das Ende eines Rennens an⸗ 
deutete. Dann ſtuͤrzten naſſe Geſtalten herauf, ohne ſich 
um ihn zu kümmern, riſſen ſich lachend und laͤrmend 
und noch ſchweratmend von der Arbeit, die Trikots vom 
Leibe, nach Hemd und Hofe greifend, und ſogleich ers 
ſchien auch — puͤnktlich zur Sekunde — Koepke. 


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4 * 9 = 2 1 4 


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Da fiel die Unruhe von Felders Bruſt, und hoch⸗ 
erhobenen Hauptes, das Badetuch laͤſſig um die Schultern 
geſchlagen, ſtieg er langſam und ohne ſich umzuſehen, 
durch die Reihen der Zuſchauer hernieder und ſchritt auf 
die Bahn zu. Auch dort vermied er, irgend jemand mit 
dem Blicke zu ſtreifen, ſondern lehnte ſich ruhig an das 
Gelaͤnder, das naͤchſte Rennen erwartend, und als es 
begann, ihm aufmerkſam mit den Augen folgend. Aber 
er fühlte, wie man ihn anſah von allen Seiten; er 
wußte, daß in dieſem Augenblicke aller Augen auf ihm 
ruhten. Nicht jetzt wollte er ihnen begegnen. Nach dem 
Siege — dann! — Nur einmal ſah er auf und maß 
mit dem Blicke die lange Bahn, die man für das 600 
Meter⸗Rennen beſonders abgeſteckt hatte. Welche der 
ſieben Nummern war wohl die ſeine? — Wuͤrde er in 
der Mitte oder an der Seite liegen? — 

Die Hitze wurde immer druͤckender; der Himmel war 
nicht mehr ſo rein, wie am Mittag, ſondern faͤrbte ſich 
ins Graue, und leichte Wolken lagerten ſich hier und da. Er 
war wie geladen mit Spannung, und ein Gewitter konnte 
jede Minute losbrechen. Luft und Waſſer lagen ſtarr, 
und die Blätter der Bäume hingen ſchlaff hernieder. es 
war unerträglich, aber alle hielt die Erwartung auf das 
Kommende aufrecht. 

Dann war auch dieſes Rennen zu Ende, und irgend N 
jemand, den er nicht kannte, ſagte etwas zu Felder, was 
dieſer nicht recht verſtand. Ach ſo, es ſollte vor dem 
Beginne des Wettkampfes das übliche Bild aufgenommen 
werden. Und er ſtellte ſich 44 „ 
aber er wußte nicht, wer neben ihm ſtand. War es 


8 301 — 


Scarpetta oder der junge Seubert? Er ſah nur immer 
gerade aus, ſeine Augen hatten einen ganz ſtarren Aus⸗ 
druck angenommen, und in dieſem Moment ſah jeder, der 
ihn fruͤher gekannt und ihn nun zum erſten Male ſeit 
Monaten wiederſah, wie ſehr er ſich veraͤndert hatte. 

Das war nicht mehr das weiche, runde, gutmuͤtige 
Geſicht Franz Felders, wie man es kannte von fruͤheren 
Zeiten her und ſo vielen Bildern, das unbekuͤmmerte 
Geſicht des Knaben und des gluͤckſtrahlenden Juͤnglings; 
das war nicht mehr der vertrauende, freundliche Blick, 
der dieſen Zuͤgen auch dann noch geblieben war, als die 
letzten Jahre ſchon die Linie der Entſchloſſenheit bis zur 
Härte vertieft hatten: das war das fruͤhalte, herbe Geſicht 
eines Mannes, in dem die Leidenſchaften ihre Spuren 
hinterlaſſen haben; und in dieſen Augen, die über alles 
hinweg in eine weite Ferne blickten, brannte nur noch 
das Feuer eines duͤſteren Willens, der entſchloſſen war, 
ſich durchzuſetzen, und ſei es über Leichen .. Und wie 
ſein Geſicht, ſo hatte auch Felders Geſtalt alle Weich⸗ 
heit verloren; jetzt ſah man deutlich, welche Kraft in 
dieſer hageren Sehnigkeit und in dieſen ſtraffen, eiſernen 
Mus keln lag. 

Das Bild war aufgenommen. Irgendein anderer, 
deſſen Stimme ihm bekannt in die Ohren ſchlug, gab 
Felder die ſchwarze Muͤtze und nannte ihm die Nummer 
feines Platzes — den zweiten links. Aber Felder fah 
und hörte überhaupt nichts mehr, als nur dieſe eine Zahl; 
und waͤhrend er ſich zu ihr durchdraͤngte, verſchwammen 
alle dieſe Geſichter um ihn her vollig in ein großes 
Ganzes — die Starter, die Feſtteilnehmer, die Sports⸗ 


* 


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leute, die Zuſchauer — und erſt, als er im Waſſer mit 
der Hand an ſeiner Nummer lag, kam er wieder zur Be⸗ 


— 5 a Kr 


ſinnung. Jetzt ſchaute er um fich: links neben ihm als Fi 
Nummer eins lag der junge Georg Bauer mit feinem 
lachenden Geſicht, als ſei dies Schwimmen ein Spielz 
rechts neben ihm, totenblaß und mit aufeinanderge⸗ 
biſſenen Zaͤhnen Rieſecker; dann, als er den Kopf nach 
hinten bog und emporſah, ob das Zeichen noch nicht 
gegeben wurde, erkannte er unter den Geſichtern dort 
oben über ihm, wie im Fluge, aber ganz deutlich vier, 
fuͤnf Geſichter ſeiner alten Freunde aus dem S.⸗K. B. 1879, 
unter ihnen das ernſte Geſicht Nagels. 4 
Aber er durfte jetzt nur noch eines denken; und als 
er, wie um nichts mehr zu ſehen, fein heißes Geſicht für k 
eine kurze Sekunde in das Waſſer tauchte, wurde uͤber 
ihm das Zeichen gegeben. Die anderen hatten bereits 
abgeſtoßen. Mit einem Schlage war er unter ihnen 
Die erſten Laͤngen ſchwamm er unter dem Bann 
des einzigen Gedankens, feinen Stil moͤglichſt innezuhalten 
und ſich nicht unnüß auszugeben. Er mußte ſich zuͤgeln, 
ſo groß war das Übermaß von Kraft in ihm. Über die 
kurze Strecke — eigentlich immer ſein Favoritgebiet - 
hätte er bereits gewinnen konnen. Dann kamen ihm in 
der dritten Laͤnge gegen den Strom zu beiden Seiten 
die Gegner wieder nach. Er hielt indeſſen ſeinen Stil 
inne, ohne ſich zu uͤberhaſten, und erſt in einer der naͤchſten 
— es mußte nach feiner Berechnung die fünfte fein — 
ergriff ihn die Unruhe, ihn aufgeben zu muͤſſen, da er 
glaubte, ſich ſonſt nicht behaupten zu koͤnnen. Eine 
Länge, die mit dem Strom, wenigſtens wollte er es indeſſen 


BR: = 
noch verſuchen, bevor er dann mit feinem Endſpurt etwa 
Verlorenes wieder einbringen mußte. Er ſah ſich jetzt 
nicht mehr um. 

Er ſchwamm, und er wußte, wie gut und ſicher er 
ſchwamm 

Jetzt noch eine Laͤnge, und dann noch eine. Und 
waͤhrend dieſer einen, die er fuͤr die vorletzte hielt, wurde 
er die Gegner nicht los. Er fuͤhlte, es war unmoͤglich 
auf dieſe Weiſe. Er mußte ſeinen Stil aufgeben und 
ſich durchs Ziel arbeiten, ſo gut es ging. 

Er ſchlug an. 

Und nochmals ſtieß er ab. 

Und jetzt — er fuͤhlte es, wie er am Ende ſeiner 
Kraft war. Er wuͤrde auch dieſe Laͤnge noch zu Ende 
bringen, die wie endlos vor ihm lag, aber ſo wie die 
anderen nicht mehr. Wer war denn noch neben ihm?. 
Er ſah zur Seite. Niemand? — Das gab ihm neuen 
Mut, und er holte zu neuen Stoßen aus. Zugleich aber 
war es ihm, als ob man ihm zurief, und als er noch⸗ 
mals unwillkuͤrlich den Blick erhob, ſah er, wie auf dem 
Seitenſteg ein Herr neben ihm herlief, mit den Haͤnden 
fuchtelte und ihm fortwährend zuſchrie: — Genug! — 
genug! — es iſt ja zu Ende! — 

Zu Ende? — Was? — Darum lag niemand mehr 
neben ihm. Er wandte um und ſtieg ans Land. 

Die Muſik blies immer von neuem Tuſch; die ganze 
Zuſchauermenge hatte ſich wie ein Mann erhoben und 
ſchrie und winkte mit Tüchern und Huͤten, und Felder 
trat in ein wirres Gewuͤhl von durcheinander redenden 
und durcheinander laufenden Menſchen. 


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Aber wer war es denn, dem man zujubelte? — Wem | 


galt all diefe Erregung? — Wer war der Sieger? — 


Einer konnte es doch nur fein. 

Niemand ſchien es zu wiſſen. 

Nur daß er es nicht war, das ſah er! — Niemand 
kam zu ihm, niemand kümmerte ſich um ihn. 

Da ging er langſam an dem Ufer entlang und an 
der Seite der Umzaͤunung empor zu ſeinem Platze. Mecha⸗ 
niſch kleidete er ſich an, und ſeine Augen hatten wieder 
den ſtarren, abweſenden Ausdruck. Er war wie zerſchlagen. 
Er begriff noch nichts. Nichts, als das eine: daß er 
unterlegen war! — 

Mechaniſch ftreifte er ſich auch das breite Band der 
Ehrenmitgliedſchaft der Lite Saving Society um den Hals, 
die hoͤchſte Ehrung, die ihm je zuteil geworden wat, und 
die einzige, die er neben den großen goldenen Medaillen 
feiner Eutopa⸗Meiſterſchaft an dieſem bedeutungsvollen 
Tage angelegt hatte. 

Er ſtrich es noch unter dem Rock glatt, als Koepke 
in hoͤchſter Aufregung beraufitürmte. 

— Menſch, rief er ihm ſchon von weitem zu, — was 
warteſt Du denn nicht! — Na, da unten geht es ſchon 
zu! .. Aber was wollen fie denn machen! — Du warſt 
es doch nun einmal 

Felder ſtarrte ihn an. Der Kleine wiederholte nur 
immer in einem fort: — Großartig! — aber wirklich 
großartig! — Ah, was die ſich aͤrgern dort unten, das 
iſt ja ein Schauſpiel fir Götter! 

Felder begriff noch immer nichts. Er packte ihn am 


— ER 
Arme. Er wollte wenigſtens willen, gegen wen er 
unterlegen war. „Wer hat geſiegt?“ — ſtieß er hervor. 

— Wer geſiegt hat? — ſchrie da der andere. — Wer 
geſiegt hat, fraͤgt er, und iſt es ſelbſt! 

Mit einem Ruck zog Felder die Jacke feſt, fuhr mit 
der Hand durch die Haare und richtete ſich auf. Mit 
einem Blicke uͤberſah er, wie vorhin, das Bild zu ſeinen 
Fuͤßen. Es hatte ſich völlig geändert. 

Vom Himmel fielen, jede Minute dichter, die erſten 
Tropfen, und ein Teil der Zuſchauer hatte bereits die 
Plaͤtze verlaſſen. Die übrigen ſchickten fich an, zu flüchten; 
die Frauen rafften ihre Kleider zuſammen, und die Maͤnner 
ſchluͤpften in ihre Roͤcke. Nur dort unten beim Kampfplatz 
ſtanden dicht zuſammen die erregten Gruppen. Selbſt 
von hier oben aus konnte man erkennen, daß etwas 
Außergewoͤhnliches geſchehen ſein mußte. 

Langſam von ſeinem Freunde gefolgt, den Strohhut 
in der Hand, ſtieg Felder den Abhang hinunter. Er 
war wie verwandelt. Er laͤchelte. 

Denn jetzt war feine Stunde gekommen! ... Und 
er hatte nur noch einen Gedanken: moͤglichſt ruhig zu 
erſcheinen, die wilde, unbaͤndige Freude, die ihn wie 
neugeſchenktes Leben durchrann, nicht zu ſehr merken zu 
laſſen. Aber ganz konnte er fie nicht verbergen: fie lag 
auf ſeinen Lippen, ſie ſchien aus ſeinen Augen, und ſein 
verhaͤrmtes Geſicht bedeckte eine ſchwache Nöte, 

Er kam zu der erſten Gruppe, wo heftig durch⸗ 
einander gefchrieen wurde — es war Felder, als ob einige 
ihn erkannten, ſchwiegen und ihm Platz machten, als er 
an ihnen vorbei ging. 

vn 20 


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er getan, lächelte, als er Felder erkannte, und ging fort, ohne 
ihn anzuſprechen. 


Die naͤchſte war die der „Boruſſia“. Er ſah den 
ihm bekannten Schwimmwart des Vereins an: der 
wandte ſich ab, und die anderen machten ihm Platz. 

Er zoͤgerte einen Augenblick. Dann ging er an der 
Waſſerſeite entlang auf den Platz zu, wo der Tiſch der 
Veranſtalter ſtand und das Komitee der Richter ſaß. 
Sie waren alle beſchaͤftigt, und niemand kuͤmmerte ſich 
um ihn. Er ſtand vor der großen Tafel, auf der for 
eben der letzte der drei Sieger angekreidet wurde. Er 
las zunaͤchſt feinen eigenen Namen: 4 

nr eee 
dann weiter: N 91 

2. Bauer eee e 
3. Riegler er MEHR 
Der Schreibende nde ſich um, als er ſeine Arbeit 


Felder atmete ſchwer. Er fühlte die feuchten mee 9 
nicht, die dichter und dichter fielen; er fuͤhlte wie nie die 
drückende Hitze dieſes Tages. 

Alſo Bauer und Riegler! — Welcher Sieg: er e 
den berühmten Meiſter Oſterreich-Ungarns gleichermaßen 
geſchlagen, wie die hoffnungsvollſte Kraft der Jugend. 
Er wußte, daß er vorzuͤglich geſchwommen hatte. Wenn 
die erreichten Zeiten ſich jo nah lagen — eine Außergewoͤhn⸗ 
lichkeit bei einem Rennen Über eine ſo lange Strecke 
ſo lag das bei ihm nur daran, weil er durchaus ſeinen 
Stil beibehalten hatte. Ohne dieſe uberflüſſige Zugabe 
hätte er leicht heute noch den Weltrekord der 600 Meter 

— 10:02 % — verbeſſern koͤnnen. 1 


* 


rer TE ee Fern 


5 307 — 


Es war ein Sieg wie keiner. Vielleicht ſein groͤßter. 
Weshalb ſchien man das nicht zu begreifen? — Was ſollte 
das alles uͤberhaupt heißen? — Warum kam man denn 
nicht zu ihm? — 

Auf der linken Seite, der Waſſerſeite, dem Ufer gegen⸗ 
über, lagen die für die Klubs und die geladenen Gaͤſte 
reſervierten Plaͤtze. Man ſaß dort nicht mehr, ſondern 
alles ſtand dicht durcheinander, kam und ging. Nur die 
Klubmannſchaften bildeten noch einzelne Gruppen. 

Dort ſah Felder die blausweißen Farben. Und mit 
plötzlichem Entſchluß drängte er ſich durch die Menſchen 
und Stuͤhle, ohne daß ihn jemand beachtete. In ſeinen 
Augen war alles Licht erloſchen und er laͤchelte nicht mehr. 

Nach ein paar Schritten ſtand er ſtill. Er konnte nicht 
weiter. Er wartete. Er ſtand jetzt der Gruppe ſo nah, daß 
man ihn von dort aus ſehen mußte. 

Jetzt würden fie zu ihm kommen 

Er ſtand da und wartete, und Koepke, der ihm gefolgt 
war, ohne zu wiſſen, wohin Felder wollte, ſtand neben ihm. 

Er hoͤrte die Stimmen, bekannte Stimmen, und er 
wußte, wer ſprach. Das war der Vorſitzende, und das, 
das — war Nagels ruhige, ſichere Stimme. 

Niemand kam. Niemand ſchien nach ihm hinzuſehen. 
Niemand ſprach ihn an. Was ſollte es bedeuten! — Was 
konnte das bedeuten? — 

Er ertrug es nicht mehr. Und er ging weiter, und 
dicht an den Mitgliedern des S.⸗K. B. 1879 vorüber. 

Er ſah ſie an und ſie ſahen ihn an. 

Aber keiner gruͤßte ihn; keiner machte eine Bewegung 
zu ihm hin. 


20* 


— CR 


Er ging weiter. Er begriff noch immer nichts. Aber 
er fühlte einen Schmerz, wie er ihn noch nie in feinem 
Leben gefuͤhlt. | 

Er ging weiter und blieb irgendwo am Geländer ſtehen, 
mitten unter den Mitgliedern des „Neptun“, von denen 
er faſt keinen kannte. 

Das große Hechttauchen war im Gange. Es regnete 
ſchon ſtark. Ein Kaͤmpfer nach dem anderen erſchien am 
Start: ging ins Waſſer, erſchien dort halb mit ſeinem 
Rücken, aber das Geſicht noch immer unter Waſſer, ver⸗ 
ſchwamm ſich, fuͤhlte es am Anſtoßen, ſchwamm geradeaus, 
ging ans Land, wurde beklatſcht — Felder ſah immer auf 
das Waſſer vor ſich und begriff noch immer nichts. Er 
wartete und wartete und wußte ſelbſt nicht, worauf eigent- 
lich noch 7 

Dann war auch das Hechttauchen zu Ende, und in 
die Umſtehenden, die — ebenſo wie er — ihre Blicke 
nur auf die unbewegte Waſſerflaͤche geheftet hatten, unter 
der der Sieg erfochten wurde, kam neue Bewegung. 

Da fuhr auch Felder auf. 

Irgend etwas mußte geſchehen. 

Er mußte Gewißheit haben. N 

Was ging hier vor um ihn? — Entweder war ewas 4 
gegen ihn im Gange, von dem er nichts wußte, oder ein 
unbegreifliches Mißverſtaͤndnis — vielleicht auf feinen‘ ; 1 
eigenen Seite — taͤuſchte und verwirrte ihn. a 

Jedenfalls mußte ein Ende gemacht werden. 4 

Und wieder ging er an feinem alten Klub vorüber. 

Aber diesmal blickte er nicht vor ſich hin, ſondern feſt und 
entſchloſſen ſah er von Mann zu Mann — ohne We 1 


ar 


rr 


— A 
zu gruͤßen, den Hut noch immer in der Hand — aber 
wartend — wartend .. worauf? — Und überall, wohin 
er auch ſah, wich man ſeinem Blick aus, nicht bruͤsk und 
unfreundlich, aber hier in offenbarer Verlegenheit, dort in 
bewußter Abſichtlichkeit, und meiſtens wie erſtaunt. Seine 
Fuͤße wurden ſchwer und ſchwerer. Aber er ging weiter. 

An der naͤchſten Gruppe, der des „Poſeidon“, wurden 
ſeine Blicke von einzelnen erwidert. Aber nicht freundlich, 
ſondern herausfordernd, mit offenbarer Feindſeligkeit, wie 
er es kaum anders erwartet. Er konnte ſich nicht taͤuſchen. 
Die Worte: „Groͤßenwahn!“ — „Verruͤckt!“ — „Der 
Meiſterſpringer“ — und mehrfach das hoͤhniſch betonte 
„Einzelſchwimmer“ klangen zu vernehmlich an ſein Ohr. 
Er hoͤrte es und ging weiter. 

Weiter und weiter, den Steg entlang. Und wohin 
er kam, erkannte und beachtete man ihn entweder gar 
nicht, oder man machte ihm Platz. Nur als er den 
„Hechten“ naͤher kam, ſchien es, als ob der eine oder 
andere von dort Miene machte, ihm entgegen zu kommen, 
und da wendete er ſich ab und ſchritt ſchnell zu den nun 
faſt völlig geleerten Sitzreihen. 

Außer den Vereinen war nun faſt niemand mehr 
anweſend. 

Er ſuchte die Vertreter der Zeitungen, aber ſie mußten 
bereits gegangen ſein. 

Nur Koepke war plotzlich wieder neben ihm. Da 
fuhr er ihn an: „Was willſt du denn noch? — Was 
laͤufſt du mir denn immer nach? — So laß mich doch 
endlich einmal in Ruhe!“ 

Das war ſelbſt fuͤr den kleinen Kaufmann zuviel. 


x Bar * Eee ö Tre 
Be: | - 310 — 5 
5 n — 4 
= Mit gekraͤnkter Miene und ohne Antwort ging er von 
dannen. | 
Felder war jetzt ganz allein. u 
3 e eee er das nee Seldube: Es war 
faſt ganz leer und der dichte Regen ſchlug durch die 
Blatter der Bäume. Jedes Intereſſe ſchien erlahmt und 
man trieb zum Biere und zu anderer Unterhaltung. 

g Dort unten gingen die letzten Wettkaͤmpfe zu Ende. 
Die Richter ſaßen unter Regenſchirmen, und nur die 
Bountbemützten harrten bis zu Ende aus, 

0 Da wandte ſich Felder zum Gehen. 

— Er dachte nicht daran, ſeinen Preis in Empfang zu 
nehmen. 


2 Er kaͤmpfte nicht mehr um Preiſe. 
Ap ſeinen Namen, um feine Ehre kaͤmpfte er. 
Nein, auch das nicht. 

2 Um ſein Leben hatte er heute gekaͤmpft, um en 
ganzes vergangenes und zukuͤnftiges Leben. 
Nie hatte er ſo geſiegt wie heute. 

Und doch war er unterlegen! 


8. 


Er ſah ganz klar. 

Er begriff ploͤtzlich alles. Er taͤuſchte ſich nicht mehr. 
Er erblickte alles in anderem Lichte, dem grellen, nuͤchternen 
Lichte der Wirklichkeit. — 

Er war ein Narr geweſen. 

Ein Narr, als er geglaubt, daß er die Welt erobern 
koͤnne mit ſeinen Siegen. Ein Narr, als er waͤhnte, ſie 
drehe ſich forthin nur noch um ihn, nachdem er dieſe 
Siege errungen. Ein Narr, als er ſich einbildete, er ſei 
der allmaͤchtige und unbezwingliche Sieger, und der groͤßte 
Narr, als er von dieſem Tage eine unerhoͤrte Wendung 
der Dinge erwartet. 

Er kannte doch das Schwimmerleben und wußte, wie 
es in ihm zuging! — Wie im Leben des Tages, ſo auch 
dort Überall gegenſeitiger Neid und Haß! Hatte er ihn 
nicht in aller Blicken geleſen? — Nie würde man ihm 


dieſen Sieg vergeſſen. Daß er gewagt, ſeine eigenen 


Wege zu gehen, war fchon ein Vergehen gegen die Ges 
wohnheit des Herkommens; daß er aber als einzelner 
Schwimmer den großen Preis an ſich geriſſen, der doch 
von Rechts wegen einem Klub gehoren ſollte, das war 
ein Verbrechen, das man ihm nie verzeihen wuͤrde. 

And wie hatte er auch nur eine Minute glauben 


4 55 


EHER 


nnen, daß fein alter Klub ihn wieder aufnehmen, ja 
ziuerſt zu ihm kommen und ihm gar noch die Ehren⸗ x 


mitgliedſchaft antragen würde? — Gerade die 79er waren 
es doch, denen am wenigſten noch von allen Klubs an 
den Preiſen lag — das wußte er doch am beſten! — 
Er war von ihnen gegangen, und damit war alles zu 
Ende geweſen zwiſchen ihm und den Genoſſen feiner 
Jugend. Das war es geweſen, worunter er mehr ge 


litten, als er es ſich jemals ſelbſt zugeſtanden. An dem 
Schmerz, als er an ihnen vorbeiging und feine Blicke 


unerwidert geblieben waren, hatte er gefuͤhlt, wieviel er 
in dieſem letzten Jahre innerlich entbehrt. Er wußte es 
jetzt: nicht um die Ehre, nicht um die Preiſe, nicht um 


ſeinen Namen hatte er gekaͤmpft, ſondern um ſeinen 
alten Klub. Um feine alte Liebe, um die Wiederkehr 
jener gluͤcklichen Stunden im Kreiſe der Freunde, um das 


trauliche und ſchoͤne Beiſammenſein mit ihnen in allen 
Stunden, um ihre Achtung und Freundſchaft um 
alles, was feinem Leben jahrelang Wärme und Licht ver⸗ 
liehen — um ſein Leben hatte er gekaͤmpft. 
Dafur hatte er zu ſiegen gehofft. 
Er hatte geſiegt. 
Und er hatte verloren. N 72 
Sie würden ihn nicht wiedernehmen, auch wenn er K. > 


ſelbſt zu ihnen zurückkehren wollte; und wenn fie iin 


aufnehmen würden, dann war alles anders geworden. — 
Was nun aber? — | 
So ging es doch nicht weiter. en 
Er taͤuſchte fich nicht mehr, und er wußte jetzt, Bi = 
furchtbar er gelitten in dieſer letzten Zeit. So konnte 


er nicht weiterleben. Er konnte die Einſamkeit einfach 
nicht mehr ertragen. ö 

Gewiß: es ſtanden ihm andere, die beſten Klubs offen. 
Nichts lag vor, was ſeinen Eintritt hinderte, und nach 
dem heutigen Siege wuͤrden ſich gar bald die gehaͤſſigen 
in freundliche Mienen verwandeln und ſich ihm uͤberall 
da Haͤnde entgegenſtrecken, wo er ſie nur ergreifen wollte. 
Aber es wuͤrde niemals wieder ſo werden, wie es ges 
weſen war. Er würde fo fein, wie im „Hecht“: ein 
Fremder unter Fremden. 

Aber was ſollte denn nun werden? — Ihm begann 
vor der Zukunft zu grauen, denn er ſah jetzt in * 
ganz klar. 

Er erkannte, wie ſehr er ſich zunaͤchſt in Bezug auf 
ſich ſelbſt getaͤuſcht. Allmaͤhlich in dieſen letzten Jahren, 
und immer mehr und mehr, hatte er ſich daran gewoͤhnt, 
nur ſich zu ſehen, nur ſeine Siege, nur ſeine Triumphe. 
So war er dahin gekommen, den Erfolgen Anderer keine 
Bedeutung beizulegen, ſie zu uͤberſehen, ſoweit es anging. 
Gewiß, daruͤber war kein Zweifel: ſein Name war der 
berühmteſte unter allen, fein Erfolg beiſpiellos, fein 
Ruhm weiter gedrungen, als der Ruhm irgendeines 
deutſchen Schwimmers bisher 

Aber wieviel andere Namen wurden nicht auch 
neben, nicht mit dem ſeinen zuſammen genannt, wenn 
man von den Meiſtern des Schwimmens ſprach: alte 
Namen und neue, alle Tage neue .... Er war nicht 
der einzige, der Meiſter hieß. Da gab es eine Menge 
von Meiſterſchaften, ſelbſt in Deutſchland, die in anderen 
Haͤnden waren, an denen er ſich nicht beteiligt hatte, 


* 3 e eee en 
CCC 


gar nicht hatte beteiligen konnen, ſchon allein, weil Zeit 
und Raumentfernung und Satzungen es verboten. Da 

gal es ferner die Meiſterſchaften im Mehrkampf, unter 
denen er nur eine einzige, die bei ſeinem erſten und 
letzten Verſuch errungene, ſein eigen nannte. Dann endlich 
die Springmeiſterſchaften .. Doch daran mochte er 


gar nicht mehr denken! — Alſo: nicht auf einer Bruſt 


wurden alle Ehren vereinigt. Genug, daß die ſeine die 
böchiten trug. Er hatte einen Namen, den beſten und 
berühmteſten. Aber es war doch nur ein Name neben 


und mit anderen. 


Noch immer der erſte. Heute mehr als je ER, 1 


und nach diefem legten Siege lauter genannt, als jemals 
zuvor. — Aber wie lange noch? — 


Denn auch darin ſah Felder jetzt zum erſten Male 
klar: daß es eine Grenze gab, über die keiner hinaus⸗ 
kam. Nie hatte er das ſich ſelbſt gegenüber eingeſtanden, 
nie daran auch nur denken wollen... Aber jetzt taͤuſchte 
er ſich auch hierin nicht mehr, und manches Wort ſiel 
ihm ein, das Nagel und auch Andere ſchon vor Jahren 


warnend zu ihm geſprochen. 


Wie lange dauerte denn die Siegeslaufbahn einer 
Sportsgröße? — So lange, wie feine beſte Kraft. Eine 
Reihe von Jahren, ein paar weniger, ein paar mehr. 
Aber über ein gewiſſes Maß ging es nie hinaus. 

Und im Schwimmen? — Wenn einer dieſelben Meiſter⸗ 
ſchaften und einige Wanderpreiſe drei Jahre hinterein⸗ 
ander errang, ſo war das ſchon eine große Ausnahme. 


Meiſt kam irgendeine andere Kraft dazwiſchen und 


riß ſie ihm vor der Entſcheidung. — Wenn ein Schwimmer N 


— 315 — 
ein paar Jahre lang die Meiſterſchaft uͤber die kurze 
oder lange Strecke, oder in irgendeiner beſonderen Art 
des Schwimmens, in der er es zur beſonderen Fertig⸗ 
keit gebracht, behauptete, ſo war das gerade genug. 
Sicher war kein Sieg, und je zahlreicher ſie ſich auf eine 
Perſon haͤuften, um ſo naͤher lag die Gefahr, daß dieſe 
bald von ihrem Platze verdraͤngt werden wuͤrde. War 
einer aber gar, wie Felder, jahrelang der uͤberall Sieg⸗ 
reiche, uͤberall Gefuͤrchtete und Beneidete geweſen, dann 
waren ſie alle hinter ihm her, ſie, die „auch etwas konnten“, 
und es galt, ſich zu verteidigen nach links und rechts 
und keinen der Gegner aus den Augen zu laſſen. 

Das war nicht leicht. Jetzt erſt fuͤhlte Felder, wie ſchwer 
es war, wieviel ſchwerer es wurde von Jahr zu Jahr! — 

Eine Zeitlang hatte er ſich auch hieruͤber taͤuſchen 
koͤnnen. In ſtolze Sicherheit gewiegt, hatte er ſich fuͤr 
unüberwindlich gehalten, bis ihm die Augen geoͤffnet 
wurden. In erſter Beſtuͤrzung wollte er die Schuld einer 
Abnahme ſeiner Kraft und ſich ſelbſt zuſchreiben. Laͤngſt 
wußte er, daß er ſich auch darin geirrt. Sein eigener 
laͤſſiger Hochmut und Dunkel, das waren die hauptſuͤch⸗ 
lichſten Gruͤnde, die alles verſchuldet, was geſchehen war. 

Er beſaß ſie nicht mehr: nicht Hochmut, nicht Duͤnkel 
mehr. Er wußte ſeit langem wieder, was auf dem 
Spiele ſtand, und wie es zu ringen galt, um ſich auf 
der neu gewonnenen Höhe zu behaupten. Er war bereit. 
Wie am erſten Tage der kleine Knabe bereit geweſen 
war, an ſeinen erſten kleinen Sieg ſeine ganze, kleine 
Kraft zu ſetzen — ſo war er willig, jetzt zu ringen um 
ſeine letzten Siege. 


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Aber wozu? — Und für wen? — 9 
Die Freude an Siegen war dahin, die er mit Nie⸗ 
mandem mehr teilen konnte. Nicht nur mehr gefuͤre 3 
und beneidet, gehaßt würden feine Siege werden, wenn 
er ſie in dieſer Weiſe weiter erfocht. Man wuͤrde ſie 
ihm erſchweren auf alle Weiſe. Hatte er nicht heute 
erlebt, wie man wie auf geheime Abmachung hin ihn 
überafl auch dort oſtentativ geſchnitten, wo er nicht das 
geringſte verſchuldet? — Hatte nicht Feindſeligkeit, ja 
Haß gegen den „Einzelſchwimmer“ in den Blicken ge⸗ 
legen? — Ruhiger geworden, fagte er ſich, daß auch 
der Zufall, der Ausbruch des Regens und andere Um: 
ſtaͤnde mitgewirkt hatten, um ihm dieſe furchtbare Ent⸗ 
taͤuſchung zu bereiten. Sonſt wuͤrden doch der eine oder 
andere von ſeinen aͤlteren Bekannten aus irgendeinem 
der befreundeten Klubs und ſicherlich auch die paſſiven 
Sportsfreunde und die Kenner, wie z. B. ſein alter Be⸗ 
wunderer, der Berichterſtatter des „Welt⸗Sport“ und 
andere zu ihm gekommen ſein. | 
Aber die allgemeine Animofität gegen den „Einzel 
ſchwimmer“ würde immer beſtehen bleiben, und allgemeine 
Freude würden feine Siege nie mehr hervorrufen. Sollte 
er immer ſo ſtehen bleiben, er, der Einzelne, gegen die 
geſchloſſenen Mächte der Klubs? | 
Und die anderen Träume, in die er fich gewiegt in 
dieſer letzten, einfamen Zeit — waren fie nicht ebenfo 
haltlos und toͤricht? — Nach England wollte er gehen? 
— Ganz allein, ohne Kenntnis der Sprache in das 
fremde Land, um dort ſich zu meſſen mit dieſen un⸗ 
bekannten Kräften, von denen er nichts wußte, als daß 


— 317 — 


ſie die allererſten der Welt waren? Woher ſollte er die 
Mittel zur Reiſe nehmen? Und ſelbſt wenn er hinging, 
wenn er alle Schwierigkeiten uͤberwand — was dann, 
wenn er unterlag und mit Hohn und Spott heimgeſchickt 
wurde? — Dann war es endgiltig aus 

Oder ſollte er wirklich die wahnwitzige Idee zur Aus⸗ 
führung bringen und feine Kunſt zum Beruf machen? 
Dem ganzen Sportsweſen den Ruͤcken kehren und als 
Profeſſional die Welt durchreiſen? Jede andere Arbeit 
aufgeben, ſich auf einige Dinge bis zur Abnormitaͤt ein⸗ 
uͤben und dann von Stadt zu Stadt und von Land zu 
Land ziehen und ſich als „Artiſt“ anſtaunen laſſen? — 
Das war ſicherlich die toͤrichtſte ſeiner Einbildungen ge⸗ 
weſen und er lachte ſich ſelbſt aus. Das konnte er 
einfach garnicht! — 

Alles, was alſo uͤbrig blieb, war, ſich noch ein paar 
Jahre, fo lange, wie nur eben möglich, auf der wieder: 
gewonnenen Hoͤhe zu halten, den ſchmalen, ſchwindelnden 
Grat zu verteidigen, bis eines Tages der Abgrund des 
Vergeſſens auch ihn verſchlang. Denn wie lange konnte 
die ganze Herrlichkeit noch dauern? — Im beſten Falle 
ein paar Jahre. Dann war auch das vorbei. Dann 
waren die neuen, friſchen, jungen Kräfte ins Feld geruͤckt, 
die jetzt bereits in der Stille heranreiften, mit flatternden 
Fahnen und klingendem Spiele; und wer ihnen nicht 
ſelbſt klug genug zur rechten Zeit auswich, der wurde 
einfach uͤberholt, zu Boden geriſſen, niedergeſtampft. 
Dann wuͤrden die erſten wirklichen Niederlagen kommen, 
die, nach denen es kein Aufſtehen mehr gab. Denn 
während er ſchon ſtillſtand und über die eigene Kraft 


nicht mehr hinaus konnte, marſchierten jene, und „J 
— Platz endlich auch fuͤr uns!“ war ihr Geſchrei. Sie 
wuͤrden ſiegen, ganz einfach, weil ſie jung waren. Ihre 1 
neuen Namen würden die alten verſchlingen, und noch 
ein paar Jahre eines letzten, ausſichtsloſen, verzweifelnden 
Ringens, in denen der alte Glanz immer mehr und 
mehr erblaßte, und alles war vorbei, ſie alle mitein⸗ 
ander vergeſſen; und waͤhrend ſie noch weiterlebten, 
waren ſie in Wirklichkeit ſchon tot, und niemand kuͤmmerte 
ſich mehr um ihre verblaßten Baͤnder und Medaillen, 
dieſe letzten Zeugen einftiger Triumphe, von denen ſie 
nur den geduldigſten ihrer Freunde noch erzaͤhlen durften, 
und auch das nicht, ohne bei ihnen das Gaͤhnen der 
Langeweile oder das Laͤcheln des Mitleids hervorzurufen. 

So war es bei Allen. 

So würde es auch bei ihm, bei Franz Felder, fein! — 

Denn es gab keine Ausnahme, keine. 

Bei den Meiſten bildete die Militaͤrzeit die Grenze. 
Dieſe Jahre einer fuͤr den Sport brachgelegten Kraft 
überftanden nur wenige. Das Abſchiedsfeſt, das der 
Klub alljaͤhrlich ſeinen einberufenen Mitgliedern gab, 
bedeutete für die meiſten von ihnen auch den Abſchied 
von ihrer ſportlichen Laufbahn. Nur wenige hatten nach 
ihrer Rückkehr noch die Kraft und die Luft, die Ziele 
ihrer Jugend wieder aufzunehmen und ſich in neuen 
Verhaͤltniſſen an neue Kämpfe zu wagen. Viele be⸗ 
wahrten der Sache wohl noch ihr Intereſſe, aber das 
Leben forderte ſie ein, und wie der Student ins Philiſterium, 
fo gingen fie in ihren Beruf, und bald in ihm und der 
neugegründeten Familie auf. 


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Nicht alle. Durchaus nicht alle. Es gab manche, 
die ſelbſt waͤhrend dieſer Militaͤrzeit noch Energie und 
Luſt gefunden hatten, die alte Fertigkeit nicht ganz ein⸗ 
ſchlafen zu laſſen und weiter zu pflegen. Sie kehrten 
zurüc und waren nach kurzer Zeit wieder auf der alten 
Hoͤhe. Manche errangen erſt jetzt ihre groͤßten Erfolge; 
bei anderen wieder ſchien die Übung „in den Waffen“ 
erſt ihre ganze Leibeskraft herausgearbeitet zu haben. 

Bei Felder traf das alles nicht zu. In ſeiner aus⸗ 
geſprochenen Einſeitigkeit, die nie eine andere Betaͤtigung, 
als dieſe eine, erlaubt hatte, die ihn ſcheitern ließ an 
jenem Verſuch des Springens, graute ihm vor der Zeit, 
die doch ſchon ſo dicht vor ihm lag. Er wußte nicht, wie 
er ſie uͤberſtehen ſollte: in einer ſchmutzigen Kaſerne ohne 
Waſſer! — — 

Und wenn er fie uͤberſtand — was dann? — 

Noch die paar Jahre. Noch eine Zeitlang neue, un⸗ 
erhoͤrte Anſtrengungen. Nochmals neue Erfolge, wie 
dieſer heutige, die den verſchollenen Namen noch einmal 
vor die Augen Aller ſtellten, nochmals beneidet, gefürchtet, 
gehaßt — und dann der unerbittliche Abſturz von der 
Hoͤhe, entweder: ſchnelles Stuͤrzen oder ein ſtetes, qual⸗ 
volles Weichen Schritt fuͤr Schritt. 

Er taͤuſchte ſich nicht mehr. Er ſah ganz klar. 

Er wußte, er wuͤrde es koͤnnen: die zwei Dienſtjahre 
überftehen, in neues Training treten und ſich noch Jahre 
— laͤnger als irgendeiner vor ihm — auf ehrenvoller 
Hoͤhe halten. Er brauchte nicht zu verzweifeln. So groß 
war ſeine Liebe zur Sache — er hatte ſie erprobt; ſie 
würde ihm auch diesmal helfen. 


Re 


5 


Er wußte, er würde das fait Unmoͤgliche koͤnnen. 

Aber ſo nicht. Nicht unter dieſen Umſtaͤnden. 

Nicht allein, nicht ſo allein. 

Es war vergeblich, es zu verſuchen. 

Denn die Freude fehlte, die Freude, die ihm Mut 
und Kraft verliehen, ſo hoch zu ſteigen, die Freude der 
Hoffnung, die ihm geholfen, die letzte bittere Zeit zu 


überftehen: die mit anderen geteilte Freude. — 


Aber was ſollte denn nun werden? — 

Er hatte ſich rettungslos verſtiegen und wußte nicht 
mehr, wohin. 

Wie ſollte er nun leben? — 

Er fand keine Antwort. 


9, 


Eine unertraͤgliche Hitze brütete über Berlin. Die 
Menſchen atmeten ſchwer in dieſer Atmoſphaͤre von Staub 
und Dunſt. 

f Felder tat noch ſeine Arbeit, aber er ſchwamm nicht 
mehr. Abends ſaß er irgendwo und ſah vor ſich hin, 
wie ein Menſch, der keinen Ausweg aus ſeinen Gedanken 
mehr findet; oder er ging mit demſelben ſtarren Blick 
durch die heißen Straßen, bis er muͤde wurde. 

Er lebte, wie er gelebt hatte, die ſchrecklichen Monate 
in dieſer letzten Zeit, ganz fuͤr ſich, und doch anders — 
denn wenn ihn damals noch eine große Hoffnung begleitet 
hatte, ſo ging er jetzt ganz allein: er ſah und hoͤrte nichts 
mehr, ſelbſt von dem, was in ſeiner Welt, der engen, der 
kleinen und doch fuͤr ihn alles bedeutenden, vorging; auch 
durch die Zeitungen nicht mehr; und die Seite, die dreis 
undachzigſte in dem kleinen, braunen Buch, das er nicht mehr 
mit ſich trug, blieb leer: die Seite, auf die der groͤßte aller 
Siege eingezeichnet werden durfte und nicht wurde 

Es war alles wie abgeſchnitten. Es war alles vorbei. — 

Er ſprach Überhaupt kaum ein Wort mehr. 

So lebte er noch vierzehn Tage. 

Dann fühlte er eines Tages, daß er das Leben nicht 


mehr ertragen konnte. 
vu 2] 


Irgend etwas, er wußte ſelbſt nicht was, war ges 


brochen in ihm, und damit ſeine Kraft zum Leben. er 


fuͤhlte es deutlich. 

Es nutzte nichts, dies Denken, um herauszukommen. 
Er kam nicht daruber hinweg. 

Es war, als wenn alles tot in ihm waͤre: alle 
Sehnen ploͤtzlich durchſchnitten von einer ungeheuren Ent⸗ 
taͤuſchung. — 

Es war wieder ein Sonntag, einer dieſer leeren, durch 
keine Arbeit und keine Freude mehr ertraͤglich gemachten 
Tage, und er waͤlzte ſich auf ſeinem harten Bett in ſeinem 
kleinen Zimmer in dumpfer Verzweiflung hin und her. 

Was ſollte er tun? — Er wußte es nicht mehr. 

Er hatte keine Eltern, keine Geſchwiſter, keine Freunde, 
keine Geliebte mehr. Sinnlos war ſein Leben geworden, 
zwecklos und freudlos. 

Und wie er mit den Haͤnden um ſich ſchlug, raſchelte 
etwas auf ihn nieder: verdorrte Lorbeerblaͤtter, die beim 
Niederfallen in Staub zerfielen. 

Er nahm die Spreu in die Hand. 

Es war ſein erſter Siegeskranz: erfochten als Knabe 
in dem erſten kleinen Schwimmen, feinem erſten ſchuͤch⸗ 
ternen Verſuch, ſeinem erſten Siege. Und wie er ſah, 
was es war, was er in ſeiner Hand hielt, da ſah er zu⸗ 
gleich ſich und ſein ganzes Leben; und es ſchien ihm, 
als ſeien alle dieſe Kraͤnze, die bedruckten und beſchriebenen 
Urkunden, dieſe Bilder an den Waͤnden, zerſtaubt, zer⸗ 
fallen und zu nichts geworden, wie dieſer hier, und nichts 
von allem übrig geblieben, als ein kleiner Haufen duͤrren 
Staubes, zu dem am Ende alles Leben wird. 


Da wandte er ſich ab von dieſen zerfallenden und 
lebloſen Dingen, dieſen modernden Leichen des Geweſenen, 
und eine ſchreckliche Sehnſucht nach dem, was allein noch 
Leben fuͤr ihn war, ergriff ihn. 

Er kleidete ſich haſtig an und ließ alles hinter ſich. — 

Er ging den ganzen Nachmittag durch die Hitze und 
den Staub und das Menſchengewuͤhl des Sonntags: 
durch den Park von Treptow, grau und nuͤchtern unter 
dem Sommerſtaube, an den Eierhaͤuschen an der Spree 
vorbei, teils am Ufer, dann auf der troſtloſen Landſtraße, 
die bedeckt war mit Fuhrwerken und Radlern, bis Koͤpe⸗ 
nick, wo er in dem Vorgarten irgendeiner Wirtſchaft ein 
Glas Bier trank. Und ſo ging er weiter, bis er nach 
Gruͤnau kam — Stunde auf Stunde ging er ſo den 
langen, dunftigen Nachmittag, und überall, wo er hin⸗ 
kam, waren die Gaͤrten voll von Menſchen, und auf den 
daͤmmernden Uferwegen tauchten immer neue Geſtalten 
auf, die ſich noch nicht entſchließen konnten, die koͤſtliche 
Friſche des Abends einzutauſchen gegen die dumpfe Haͤuſer⸗ 
maſſe der großen Stadt. 

Er aber mußte allein ſein, ganz allein, und ſo ging 
er, ohne Hunger und Durſt zu empfinden, durch Grunau 
und vorbei an dem Sportplatz, der dunkel und leer das 
lag; und fein Herz war fo müde und mutlos, daß es 
ſelbſt hier nicht einmal mehr hoͤher ſchlug . . . weiter 
und weiter, immer an den wegelofen Ufern der weiten 
Seen entlang 

Endlich war er allein. Endlich begegnete ihm nies 
mand mehr. 


Es war ſpaͤt in der Nacht. 
217 


— > 


Kein lebendes Weſen zeigte ſich hier mehr in dem 
weiten Umkreiſe von Himmel, Wald und Waller... 


Da ſtand er ſtill und entledigte ſich ſeiner Kleider. 


Nackt ſtand er da und die Luft der Nacht umſpielte 
feinen heißen, ſtaub⸗ und ſchweißbedeckten Körper. * 

Langſam trat Franz Felder zum Waſſer und ſah es 
an, nachdem er den ganzen Nachmittag — und wie jo 
lange vorher ſchon! — feinen Anblick gemieden. 

Aber zum erſten Male ſchien es ihm, als wuͤrde ſein 
Gruß nicht erwidert. Stumm und gleichgültig lag es da. 

Warum vernahm es denn nicht die ſtumme Bitte 
ſeiner Verzweiflung? — 

Und zoͤgernd, fait aͤngſtlich, ſetzte er Fuß vor Fuß, bis 
es ſeine Knie erreichte, verſank dann in den Schlamm 
und umarmte kes leiſe. Nackt, wie damals als kleiner 
Knabe, ſchmiegte er ſich an ſeine dunkle Bruſt. 

Und ſchwamm. 

Behutſam, wie um es nicht zu kraͤnken, ſchwamm 
er bis in die Mitte des Sees, bis dahin, wo es am 
tiefſten war. N 

Dort wartete er: ließ ſich ſinken und verſchwand tief 
unter der Oberflaͤche. 

Aber das Waſſer trieb ihn empor, und wieder lag der 
Himmel über ihm, tiefblau, und der Mond und die 
glitzernden Sterne. 

Begriff es denn nicht, was er heute von ihm wollte? — 

Das Waſſer war ſein Freund geweſen, ſein beſter 
Freund, von jeher. 

Es hatte den kleinen Kerl, der noch faſt nicht gehen 
konnte, liebreich getragen, wie es nur die traͤgt, die es 


Be er 


liebt gleich feinen eigenen Weſen, und ſeine Liebe war 
ihm treu geblieben waͤhrend ſeines Lebens bis heute. 

Der ehrgeizige Ungeſtuͤm des Knaben und der un⸗ 
geduldige Groll des Juͤnglings hatten ſie nicht zu ver⸗ 
mindern vermocht. 

Alles hatte es ſeinem Liebling gegeben, was es uͤber⸗ 
haupt geben konnte: Friſche, Geſundheit, Kraft und Ruhm 
und unendliche Freuden, die ſich erneuerten von Tag zu 
Tag; und alles hatte Felder genommen als etwas Selbſt⸗ 
verſtaͤndliches, wie andere Kinder die Liebe der Eltern 
nehmen. 

Nun kam er noch einmal zu ihm, um bei ihm die 
letzte Erloͤſung — vom Leben — zu ſuchen. 

Aber das Waſſer nahm ihn nicht. 

Es ſchien nicht zu begreifen, was er fo plotzlich von 
ihm wollte; und als koͤnne er gar nichts anderes, als 
Luſt und Freude bei ihm ſuchen, ſo trug und wiegte und 
umſchmeichelte es ihn, gleich als ſei es froh, ihn ſo ver⸗ 
ſoͤhnt wieder zu haben nach der langen Zeit der Ent⸗ 
fremdung 

Und Felder empfand die fühle und linde Berührung 
mit erſchauernder Wonne, und noch einmal vergaß er 
die ſchwere Erde, ihre Kaͤmpfe und ihr unertraͤgliches 
Leid und gab ſich ganz der ſtarken und reinen Umarmung 
des Waſſers hin. 

Das war nicht mehr der Meiſter, der große Schul⸗ 
ſchwimmer, der Champion of the World, der in dieſer 
naͤchtlichen Stunde weit da draußen und ganz allein 
feine Kunſt uͤbte; das war der Freund, der wieder zum 
Freunde kam, um ihm ſeinen Kummer und ſeine Sorgen 


— 326 — 


anzuvertrauen und auszuruhen an ſeiner Bruſt von Bi 
Muͤhſal des Lebens. Und fo ſchwamm Felder zum legten 
Male: ohne an etwas anderes zu denken, als an die 
Luſt dieſer Stunde, ließ er fich treiben, breitete nur zu 
weilen die Arme, als wolle er die ſilbernen Wellen faſſen 
und an ſich ziehen; ließ das Waſſer durch ſeine halbges 
oͤffneten Lippen dringen und erwiderte Umarmung und 
Kuß. Und wie er ſich wandte und drehte, ſich bald auf 
den Rüden legte, bald hier untertauchte und dort wieder 
emporkam, empfand er noch einmal die ganze Seligkeit, 
die ihm das Waſſer gegeben, die himmliſche Leichtigkeit, 
mit der es ihn trug 

Lange ſchwamm er jo... — 

Aber dann wurde fein Herz bei dem plöglichen Ges 
danken an die Erde wieder ſchwer. 

Doch die Schwere ſeines Herzens zog ihn nicht hinunter. 

Und da begriff er, daß ihn dieſes Element nie toͤten 
wurde, dieſes Element, das ihn liebte und das fein Leben 
wollte, nicht feinen Tod. So unermeßlich ſtark, daß es 
ihn mit einem Schlag haͤtte niederſtrecken koͤnnen, war 
es doch ſchwach ihm gegenüber, der der Staͤrkere war, 
weil er geliebt wurde 

Endlich begriff er, weshalb es ſo war und immer 
ſo geweſen war: ſeine ganze eigene Schwaͤche und die 
ungeheure Staͤrke dieſer Liebe! — 

Da ſchwamm er zurück zum Ufer, entnahm ſeinen 
Kleidern ſein Taſchenmeſſer, oͤffnete es und durchſchnitt 
beim hellen Lichte des Mondes mit ſchnellem, ſcharfem 
Schnitt die Pulsadern ſeiner rechten Hand, ganz nahe 
der Stelle, wo die Narbe war, die das Armband zurück⸗ 


— 327 — 


gelaſſen. Sein Blut ſpritzte empor und er empfand einen 
kurzen, heftigen Schmerz. 

Von neuem warf er ſich ins Waſſer und erreichte 
mit wenigen haſtigen Schlaͤgen faſt noch die Mitte des 
Sees. 

Sein rotes, warmes Blut miſchte ſich mit der warmen, 
ſchwarzen Flut. 

Er fuͤhlte, wie mit ihm ſeine Kraft ſchwand. 

Noch einmal breitete er die Arme weit auseinander, 
warf ſich in der jaͤhen Angſt des Todes herum und griff 
um ſich, als wolle er ſich halten. 

Aber zum erſten Male ließ das Waſſer ihn fallen, 
und er ſank. 

Den Lebenden hatte es geliebt. 

Der Tote war ihm nichts als eine Laſt, die es acht⸗ 
los in ſeinen Tiefen begrub. 


Inhalt des ſiebenten Bandes. 


Der Schwimmer. Die Geſchichte einer Leidenſchaft. 


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Vierter Teil 


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