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Full text of "Gesammelte Werke"

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John Henry Mackay 
Geſammelte Werke 


Achter Band 


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Geſammelte Werke 


John Henry Mackay 


Erſter Band: 
Gedichte 
Zweiter Band: 
Gedichte (Schluß) — Neue Gedichte 
Dritter Band: 
Kinder des Hochlands — Helene — 
Sturm 
Vierter Band: 
Moderne Stoffe — Die Menſchen 
der Ehe 
Fünfter Band: 
Die letzte Pflicht und Albert Schnells 
Untergang 
Sechſter Band: 
Zwiſchen den Zielen 
Siebenter Band: 
Der Schwimmer 
Achter Band: 


Die Anarchiſten 


Dieſe Gefamt- Ausgabe wurde im Sommer des Jahres 
1911 in der Buchdruckerei von Wilhelm Hecker in 
Graͤfenhainichen in einer Auflage von 1200 Exemplaren 
gedruckt. Davon wurden 50 Exemplare auf hand⸗ 
geſchoͤpftem van Gelder (in acht Ganzlederbaͤnden ge⸗ 
bunden zu 120 Mark) abgezogen, die — handſchriftlich 
vom Verfaſſer numeriert und ſigniert — nur direkt von 
dem Verlage Bernhard Zack in Treptow bei Berlin, 
Kiefholzſtraße 186 zu beziehen ſind. 


1% 
153 


Geſammelte Werke 


von 


John Henry Mackay 


In acht Baͤnden 


Achter Band: 


Die Anarchiſten 


Treptow bei Berlin 
Bernhard Zacks Verlag 
1911 


Die Anarchiſten 


Kulturgemaͤlde 
aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts 


Von 


John Henry Mackay 


Treptow bei Berlin 
Bernhard Zacks Verlag 
1911 


er 


ee 


Die Anarchiſten 


Kulturgemaͤlde 
aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts 


* 


Vorwort zur Volksausgabe 


Mit dem Erſcheinen einer wohlfeilen Volksausgabe 
meiner „Anarchiſten“ verwirklicht ſich mir ein immer 
gehegter Lieblingswunſch, den die Umſtaͤnde bei der 
Drucklegung des Werkes ſelbſt nicht zuließen und deſſen 
Erfuͤllung ſich ſeitdem alle jene Schwierigkeiten entgegen⸗ 
geſtellt haben, die bei der Ungunſt der heutigen Verhaͤlt⸗ 
niſſe jede freiheitliche Handlung zu einer Unmoͤglichkeit 
zu machen ſich verſchworen zu haben ſcheinen. 

Die Schwierigkeiten ſind uͤberwunden und von neuem 
tritt, nachdem zwei Jahre vergangen, mein Werk an die 
Offentlichkeit, ſich heute vor allem an jene wendend, 
denen es bisher ſchwer zugaͤnglich geweſen iſt: an die 
deutſchen Arbeiter. 


* 


Zu ihnen ein erſtes und vorausſichtlich auf lange 
hinaus letztes, kurzes Wort zu ſprechen, darf ich mir nicht 
verſagen. So feſt hat ſich in den deutſchen Arbeitern — 
mit dem Wachſen der ſozialdemokratiſchen Partei — im 
Verlauf der letzten Jahrzehnte die Überzeugung einge: 
wurzelt, daß die Befreiung der Arbeit, welche gleichbe— 
deutend iſt mit der Schwächung und dem Tod der Privi— 
legien des Kapitals, nur moͤglich iſt, wenn dies letztere 


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den Händen des Einzelnen entzogen und auf dem Wege 
gewaltfamer Enteignung „Eigentum der Geſellſchaft“ ge: 
worden iſt, und ſo unerſchuͤtterlich ſcheint mir dieſer Glaube 
geworden zu ſein, daß ich nicht ſehe, was anders ſie von 
dieſem Irrtum abzubringen imſtande ſein koͤnnte, als die 
Erfahrung. Wie bitter dieſe Erfahrung und wie groß die 
Enttaͤuſchung ſein wird, ahnt nur der, der gleich mir 
weiß, daß jede Unterbindung wirtſchaftlicher Bewegungs⸗ 
freiheit zugleich eine Verſtaͤrkung des traurigen Zuſtandes 
gegenſeitiger Abhaͤngigkeit bedeutet. 

Aber moͤge ſie gemacht werden, wenn es denn nicht 
anders fein kann! 

Freilich: die großen Demagogen unferer Tage, die 
ſonſt ſo klein ſind, wird dann der Tod der ungeheuren 
Verantwortlichkeit, welche ſie auf ſich geladen, enthoben 
haben und vergebens werden ihre opferfreudigen Kaͤmpfer 
ſuchen, ſie zur Rechenſchaft zu ziehen fuͤr das, was ſie 
verſprochen und immer wieder — verſprochen. 

Den Kindern dieſer Kaͤmpfer wird, vor die traurigſte 
Notwendigkeit geſtellt, nichts anderes uͤbrig bleiben, als 
ihr Heil endlich in der Freiheit, und nur in der Freiheit 
allein, zu ſuchen. 


* 


Drei große Feinde hat der Arbeiter als Feinde zu 
erkennen und zu uͤberwinden: die Politiker, die Philan⸗ 
thropen und — ſich ſelbſt. Erſt wenn er eingeſehen haben 
wird, daß die Knechte, um die Herren zu verdraͤngen, 
nicht erſt ſelbſt zu Herren von Knechten geworden ſein 
muͤſſen und daß die Erreichung dieſes Zieles — des 


— 11 * 


Zieles aller und jeder Politik — ihn um keinen Schritt 
ſeiner wirtſchaftlichen Befreiung naͤher bringt, da dieſe 
allein eine Folge harmoniſcher Entwicklung im ſozialen 
Organismus ſein kann; erſt wenn er ſich von jenen 
neuen und letzten Predigern einer alten, in ihren Todes⸗ 
zuckungen ſich noch einmal aufbaͤumenden Religion, den 
Weltverbeſſerern und Utopiſten mit den heißen Koͤpfen 
und den lauwarmen Worten, den Ethikern und Moraliſten 
jeder Art, losgemacht hat, die da alle nicht begreifen 
koͤnnen und wollen, daß es nicht die Menſchen, ſondern 
die Verhaͤltniſſe zu aͤndern gilt, aus welchen heraus die 
Menſchen „gut“ und „boͤſe“ werden; erſt wenn er durch 
und durch begriffen haben wird, daß nichts auf der Welt 
ihm zu helfen imſtande iſt, als er ſelbſt, und dieſe Er— 
kenntnis ihn zu neuen, durch kein „Klaſſenbewußtſein“ 
mehr getruͤbten, gruͤndlicheren Erwaͤgungen der Be— 
dingungen, unter denen er lebt und leidet, und damit 
zu ganz veraͤndertem und ausſichtsreicherem Handeln 
treibt, erſt dann, ſage ich, kann er hoffen, die Ketten 
ſeiner Abhaͤngigkeit zu brechen und von ſich zu werfen. 


* 


Die Beſprechungen, welche meinem Werke und ſeinen 
Überfegungen fo reichlich zuteil geworden find, haben 
ihm nichts nehmen und mir nichts geben koͤnnen. Die 
Abſicht, auf einige derſelben zu antworten, gab ich auf; 
ich uͤberzeugte mich, daß der Liebe Muͤh' doch umſonſt 
ſein wuͤrde. Von den Kommuniſten wurden keine anderen, 
als die alten Argumente vorgebracht — daß ich ſie aufs 
neue widerlegen wuͤrde, durften ſie ſelbſt nicht erwarten; 


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den profeſſionellen Kritikern der Literatur waren die hier 
behandelten Fragen voͤllig verſchloſſen — ein Verſtaͤndnis 
daher nicht zu erwarten; die große Tagespreſſe, die „Dirne 
der öffentlichen Meinung“, ſchwieg natürlich — fie wußte 
warum; und die meiſten von den Organen der ſozial⸗ 
demokratiſchen Preſſe, welche ſich das Werk unter aus⸗ 
druͤcklicher Zuſicherung einer Beſprechung von Zuͤrich ſenden 
ließen, kamen in ihrer feigen Servilitaͤt und jammervollen 
Abhaͤngigkeit noch rechtzeitig von einem Entſchluſſe zuruͤck, 
deſſen Ausführung an allerhoͤchſter Stelle ein nicht un⸗ 
begruͤndetes Mißfallen erregt haben wuͤrde. 

Den wenigen, die ernſthaft geleſen, uͤber was ſie 
ſchrieben, dankte ich im ſtillen. 

So ſchwieg ich auf alles. Nur ein einziges Mal 
ſchloß ich klatſchend einen ſchamloſen Mund, der die 
ungeheuerliche Luͤge gegen mich anwandte, zu ſagen, die 
revolutionären Kommuniſten ſeien von mir als Raͤuber 
und Moͤrder geſchildert worden, waͤhrend dieſes ganze 
Buch nur ein einziger Proteſt gegen den geſetzmaͤßigen 
Diebſtahl, den privilegierten Raub und den ſanktionierten 
Mord des Staates iſt. Daß ich heute — angefichts jo 
vieler ſtarrender Bajonette und raſſelnder Saͤbel — mehr 
als je von der voͤlligen Ausſichtsloſigkeit eines gewaltſam 
gefuͤhrten Kampfes fuͤr die Sache der Arbeit uͤberzeugt 
bin, bekenne ich ebenſo ungeſcheut, wie die ſtets neue 
Freude, welche ich empfinde, wenn ich hoͤre, daß es meinen 
Worten gelungen iſt, den einen oder andern vor unbe⸗ 
ſonnenem Vorgehen bewahrt, d. h. den Klauen der Ge— 
walt, der Verfolgung und dem Gefaͤngnis entriſſen und 
fuͤr die Taktik des paſſiven Widerſtandes — den ſiegreichen 


8 


Kampf einer hoffentlich nicht mehr ſo fernen Zukunft — 
gewonnen zu haben. Wie berechtigt dieſe Frage iſt, wird 
mir dann am meiſten klar, wenn ich ſehe, wie unaus⸗ 
geſetzt weiter vom ſicheren Auslande her durch ebenſo 
unſinnige und toͤrichte, wie zweckloſe und feige Handlungen 
Sicherheit und Leben der „Genoſſen“ aufs Spiel geſetzt wird. 
Die Volksausgabe der „Anarchiſten“ iſt unveraͤndert 
geblieben. Bei einer Stelle empfand ich indeſſen die 
Verpflichtung, nicht ſie zu aͤndern, ſondern ſie ſo durch 
einige ergaͤnzende Zeilen zu erklaͤren, daß ſie hinfort keinem 
Mißverſtaͤndnis, welches einigemal glaubte ſich als Be— 
ſchuldigung gebaͤrden zu duͤrfen, mehr ausgeſetzt iſt. 


* 


Ich habe auf die von vielen Seiten an mich gerich— 
tete Frage zu antworten: warum ich, um meinen Ideen 
eine weitere Verbreitung zu geben, nicht agitiere, nicht 
propagandiere, nicht in den Verſammlungen ſpreche und 
diskutiere, und vor allem, weshalb ich nicht auf dem 
einzigen Wege, auf dem die Mehrzahl der Menſchen 
heute allein noch erreichbar iſt, dem der Preſſe, zu ihnen 
gehe. 

Ich erwidere darauf: weil ich es nicht kann; weil 
ich es nicht koͤnnte, auch wenn ich es wollte. Die Gaben 
der Menſchen ſind verſchieden. Ich bin ein Kuͤnſtler, 
vielleicht nicht „durch und durch“, denn mein Intereſſe 
gehoͤrt vielem im Leben, doch ſo manches laſtet auf mir, 
von dem ich mich, ich fuͤhle es, nur befreien kann in 
dichteriſchem Schaffen. Die Herausgabe und Leitung einer 
Zeitung aber wuͤrde mich toͤten, und ein Hervordraͤngen 


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meiner Perſon in den lauten, rohen Kampf des Tages 
und ſeiner Meinungen waͤre mir vollends unmoͤglich. 

Man erwarte alſo nichts von mir, als „von Zeit zu 
Zeit ein Buch“. Vielleicht, daß ich die hier begonnene 
Arbeit direkt wieder aufnehme; aber ſo lange die großen, 
klaren Grundlinien der Weltanſchauung des Anarchismus 
noch ſo wenig begriffen worden ſind, ſo lange der Boden, 
auf dem ſie ſich aufbaut, noch ein ſo unbetretener iſt, 
ſo lange noch immer wieder anzukaͤmpfen iſt gegen das 
voͤllige und in ſeiner Allgemeinheit beiſpielloſe Mißver⸗ 
ſtehen des Wortes allein, ſo lange draͤngt mich nichts zu 
umfaſſenderen und begruͤndeteren Darlegungen. 

Moͤge daher vorerſt dies Werk noch einmal ſeine 
ungeſchwaͤchte Kraft erproben und das Bollwerk der Vor: 
eingenommenheit von neuem berennen, immer dieſelbe 
Stelle, bis ein Weg ſich oͤffnet. 

Ich habe meine letzte Lanze fuͤr die Freiheit noch 
nicht gebrochen. Aber die Wahl meiner Lanzen, ich muß 
ſie mir immer vorbehalten. 


* 


Das letzte Wort den Freunden der Freiheit: meinen 
bekannten, meinen unbekannten Freunden 

Alles, ſie moͤgen davon uͤberzeugt ſein, wird auch 
hier getan werden, wenn die Zeit dazu gekommen iſt: 
mit den rechten Maͤnnern werden ſich auch die rechten 
Wege, und dann auch die Mittel, ſie zu beſchreiten, 
finden. Nach dem ſo glaͤnzend gegebenen Beiſpiel meines 
großen amerikaniſchen Freundes, deſſen Sein und Wirken 
allein ſchon genuͤgen muͤßte, um keinen Augenblick die 


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Hoffnung ſinken zu laſſen, wird ſich auch hier eine 
Propaganda entfalten, gewiß aus kleinen Anfaͤngen heraus, 
aber unternommen und ins Werk geſetzt mit jener aus 
Wiſſen, Erkenntnis, Überlegung, Entſchloſſenheit, Zaͤhigkeit, 
und Mut geborenen Überlegenheit, welche zwar gelang— 
weilt und ermuͤdet, nicht aber entmutigt und beirrt 
werden kann, da ſie nicht zu uͤberreden, ſondern einzig 
und allein zu uͤberzeugen beſtrebt iſt. 

Dann wird dieſes Buch ein Anfang geweſen 
ſein ... Das wuͤnſcht keiner heißer, als ich. 


* 


Nur der verſteht die Freiheit, welcher ſie liebt. Wer 
ſie aber — und das iſt alle Zukunft — liebt als die 
Notwendigkeit ſeines Lebens, der muß ſie auch, durch alle 
Irrtuͤmer hindurch, verſtehen lernen . 

Aus dem Wirrwarr und dem Widerſtreit der Meinungen 
hebt ſich klar, verſtaͤndlich, ſiegreich allein am Ende unſeres 
Jahrhunderts die Lehre von der Souveraͤnitaͤt des Indi— 
viduums. 

Wer wagt es zu leugnen, daß ſie das Ziel aller 
menſchlichen Entwicklung iſt? 

Barbarei und Knechtſchaft vergangener Zeiten haben 
uns endlich zu der Erkenntnis gebracht, daß Kultur und 
Ziviliſation erſt in jenem Zuſtand der Geſellſchaft ihre 
hoͤchſten Triumphe zu feiern imſtande ſind, in welchem 
mit dem letzten Vorrecht auch die Gewalt, die es ſchuͤtzte, 
der Staat, geſchwunden iſt: dem Zuſtande gleicher Freiheit, 
wo ein verfeinerter und hoͤchſtgeſteigerter Egoismus auch 
den letzten gelehrt hat, daß feine Freiheit waͤchſt und ab⸗ 


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nimmt mit der Freiheit des anderen, daß er in demſelben 
Maße unabhaͤngiger wird, als er ſeinem Naͤchſten erlaubt, 
unabhaͤngig von ihm zu ſein. 


* 


Vergebens werden wir weiter verſuchen, uns den 
letzten Konſequenzen zu entziehen, zu denen die Logik des 
Denkens uns mit unfehlbarer Sicherheit und unaufhalt⸗ 
ſamer Kraft treibt. 

Denn wir duͤrſten nach Gluͤck, dem Gluͤck auf Erden. 
Und nicht eher — den trüben Fanatikern des Kommunis⸗ 
mus, wie den ſchwankenden Machthabern der Gewalt 
gleich zum Trotz — werden wir ruhen, bis wir uns 
dieſes Gluͤck, welches die Freiheit iſt, errungen haben. 


Berlin, im Fruͤhjahr 1893. 


John Henry Mackay. 


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Einleitung 


Das Werk der Kunſt hat fuͤr den Kuͤnſtler zu ſprechen, 
der es ſchuf; die Arbeit des betrachtenden Forſchers, welcher 
hinter ihr zuruͤcktrat, erlaubt ihm zu ſagen, was ihn trieb, 
ſich zu aͤußern. 

Der Vorwurf der Arbeit, die ich vollende, erlaubt 
mir nicht nur, ſondern verlangt von mir, ſie mit einigen 
Worten zu begleiten. 


* 


Zuvor das eine: wer mich nicht kennt und in den 
folgenden Blaͤttern etwa ſenſationelle Enthuͤllungen in 
der Art jener verlogenen Spekulationen auf die Urteils- 
loſigkeit des Publikums erwartet, aus welchen dieſes 
ſeine ganze Kenntnis der anarchiſtiſchen Bewegung ſchoͤpft, 
der gebe ſich nicht die Muͤhe, uͤber dieſe erſte Seite hinaus 
zu leſen. 

Auf keinem Gebiet des ſozialen Lebens herrſcht heute 
eine heilloſere Verworrenheit, eine naivere Oberflaͤchlich— 


keit, eine gefahrdrohendere Unkenntnis, als auf dem des 


Anarchismus. Die Ausſprache des Wortes ſchon iſt wie 

das Schwenken eines roten Tuches — in blinder Wut 

ſtuͤrzen die meiſten auf dasſelbe los ohne ſich Zeit zu 

ruhiger Pruͤfung und Überlegung zu laſſen. Sie werden 
vin 2 


8 


auch dieſes Werk zerfetzen, ohne es verſtanden zu haben. 
Mich werden ihre Stoͤße nicht treffen. 

London und die Ereigniſſe des Spaͤtjahres 1887 haben 
mir als Hintergrund meines Gemaͤldes gedient. 


Als ich im Anfang des darauf folgenden Jahres 
noch einmal fuͤr einige Wochen auf den Schauplatz zu⸗ 
ruͤckkehrte, hauptſaͤchlich um meine Eaſt End Studien zu 
vervollſtaͤndigen, ahnte ich nicht, daß gerade die von mir 
zu eingehenderer Schilderung gewaͤhlte Gegend durch die 
Frauenmorde Jack „des Aufſchlitzers“ bald nachher in 
aller Munde ſein wuͤrde. 


Das Kapitel uͤber Chicago wurde nicht abgeſchloſſen, 
ohne daß ich auch das dicke Bilderbuch fuͤr große Kinder, 
mit dem ſeitdem der Polizeikapitaͤn Michael Schaack den 
infamen Mord ſeiner Regierung zu rechtfertigen ſuchte: 
„Anarchy and Anarchists“ (Chicago, 1889), einer Durch⸗ 
ſicht unterzogen haͤtte. Es iſt nichts weiter, als ein — 
nicht unwichtiges — Dokument ſtupider Brutalitaͤt ſowohl, 
wie raffinierter Eitelkeit. 

Die Namen von Lebenden ſind von mir in bewußter 
Abſicht nirgends genannt; der Naͤherſtehende wird trotzdem 
faſt uͤberall unſchwer die Zuͤge erkennen, die mir Vor⸗ 


bilder geweſen ſind. 
1 * 


Zwiſchen der Niederſchrift des erſten und des letzten 
Kapitels liegen drei Jahre. Immer neu auftauchende 
Zweifel zwangen mich immer wieder, oft auf lange hinaus, 
zur Unterbrechung der Arbeit. Ich begann ſie vielleicht 
zu fruͤh; zu ſpaͤt beende ich fie nicht. 


5 


Nicht jede Seite der Frage konnte ich erſchoͤpfen; 
meiſt war es mir nicht vergoͤnnt mehr zu geben, als 
die Schlußſaͤtze oft langer Gedankenreihen. Die voͤllige 
Unvereinbarkeit anarchiſtiſcher und kommuniſtiſcher Welt: 
anſchauung, die Zweckloſigkeit und Schaͤdlichkeit gewalt⸗ 
ſamer Taktik, ſowie die Unmoͤglichkeit irgend einer „Loͤſung 
der ſozialen Frage“ durch den Staat wenigſtens hoffe 
ich bewieſen zu haben. 

* 


Das neunzehnte Jahrhundert hat die Idee der Anarchie 
geboren. In ſeinen vierziger Jahren wurde der Grenz⸗ 
ſtein zwiſchen der alten Welt der Knechtſchaft und der 
neuen der Freiheit geſetzt. Denn es war in dieſem 
Jahrzehnt, daß P. J. Proudhon die titaniſche Arbeit ſeines 
Lebens mit: „Qu'est-ce que la propriété?“ (1840) be⸗ 
gann und Max Stirner ſein unſterbliches Werk: „Der 
Einzige und ſein Eigentum“ (1845) ſchrieb. 

Sie konnte vergraben werden unter dem Staube 
zeitweiligen Ruͤckſchrittes der Kultur. Aber fie iſt uns 
vergaͤnglich. 

Sie iſt bereits wieder erwacht. 

Seit zehn Jahren kaͤmpft in Boſton, Maſſ., mein 
Freund Benj. R. Tucker mit der unbeſieglichen Waffe 
ſeiner „Liberty“ fuͤr Anarchie in der neuen Welt. 
Oft habe ich in den einſamen Stunden meiner Kaͤmpfe 
meinen Blick auf das funkelnde Licht gerichtet, das von 
dort aus die Nächte zu erhellen beginnt. .. 


— 


2* 


3 


Als ich vor nun drei Jahren die Gedichte meines 
„Sturm“ der Offentlichkeit übergab, begruͤßten mich freund⸗ 
liche Stimmen als den „erſten Saͤnger der Aua 

Ich bin ſtolz auf dieſen Namen. 

Aber ich bin zu der Überzeugung gelangt, daß es 
heute nicht ſo ſehr darauf ankommt, Begeiſterung fuͤr die 
Freiheit zu erwecken, als vielmehr von der unbedingten 
Notwendigkeit oͤkonomiſcher Unabhängigkeit, ohne welche 
ſie ewig der weſenloſe Traum der Schwaͤrmer bleiben 
wird, zu uͤberzeugen. 

In dieſen Tagen der wachſenden Reaktion, die in 
dem Siege des Staatsſozialismus ihren Hoͤhepunkt er— 
reichen wird, iſt die Forderung unabweisbar fuͤr mich ge—⸗ 
worden, hier auch der erſte Verfechter der anarchiſtiſchen 
Idee zu ſein. 

Ich hoffe, ich habe meine letzte Lanze fuͤr die Freiheit 
noch nicht gebrochen. 


Rom, im Fruͤhjahr 1891. 


Erſtes Kapitel 
Im Herzen der Weltſtadt 


151 ber London hin begann ſich ein naßkalter Oftober- 

abend zu breiten. Es war der Oktober desſelben 
Jahres, in welchem noch nicht fuͤnf Monate vorher jene 
albernen Feierlichkeiten der fuͤnfzigjaͤhrigen Regierungszeit 
einer Frau, welche ſich „Koͤnigin von Großbritannien und 
Irland und Kaiſerin von Indien“ nennen ließ, in Szene 
geſetzt waren, nach denen das Jahr 1887 das „Jubilee 
Year“ genannt wurde. 

An dieſem Abend — es war der letzte einer Woche — 
ſuchte ſich durch wirre, enge und faſt leere Gaſſen ein 
Mann aus der Richtung von Waterloo Station her nach 
der Eiſenbahnbruͤcke von Charing Croß ſeinen Weg. Als 
er langſam, wie ermuͤdet von einem ſtundenweiten Gange, 
die Holztreppe, welche zu dem ſchmalen, neben den Schienen 
fich hinziehenden Fußgaͤngerpfad der Bruͤcke führt, hinauf: 
geſtiegen und ungefaͤhr uͤber der Mitte des Fluſſes an— 
gelangt war, trat er in eine der runden Ausbuchtungen 
nach der Waſſerſeite hin und ſtand dort eine Weile, 
waͤhrend er die Menſchen hinter ſich vorbeitreiben ließ. 
Es war mehr eine Gewohnheit als eigentliche Ermattung, 
die ihn Halt machen und die Themſe hinunterblicken ließ. 


ED: 


Da er trotz feines bereits dreijährigen Aufenthaltes in 
London nur ſelten „jenſeits der Themſe“ geweſen war, 
fo verſaͤumte er nie, bei Überfchreitung einer der Bruͤcken 
den großartigen Anblick, den London von einer jeden 
unter ihnen bietet, wieder in ſich aufzufriſchen. 

Es war noch eben hell genug, daß er bis nach 
Waterloo Bridge hin zu ſeiner Rechten die dunklen Maſſen 
der Lagerhaͤuſer und auf dem Spiegel der Themſe zu ſeinen 
Fuͤßen die Reihen der aneinandergekuppelten weitbauchigen 
Frachtkaͤhne und Floͤße erkennen konnte, doch flammten 
bereits überall die Lichter des Abends in das dunkle, 
gaͤhnende Chaos dieſer ungeheuren Stadt hinein. Wie 
parallele Linien zogen ſich die beiden Laternenreihen auf 
Waterloo Bridge hin und jedes der Lichter warf ſeinen 
ſcharfen, flimmernden Schein tief und lang nieder in die 
zitternde, dunkle Flut, waͤhrend zur Linken in terraſſen⸗ 
foͤrmigem Aufſtieg die ungezaͤhlten kleinen Flammen, welche 
die Embankments und den Strand mit ſeiner Umgebung 
allabendlich erhellten, aufzuleuchten begannen. Der ruhig 
Daſtehende ſah drüben auf der Bruͤcke die voruͤberhuſchen— 
den Lichter der Cabs; er hörte hinter ſich die Züge der 
Suͤdoſtbahn raſſelnd und droͤhnend in die Halle von 
Charing Croß hineinraſen und wieder hinaus; ſah unter 
ſich die traͤgen Wellen der Themſe mit faſt unhoͤrbarem 
Plaͤtſchern an der ſich tief herabziehenden dunkelſchwarzen 
Schlammaſſe lecken; und indem er ſich zum Weitergehen 
wandte, oͤffnete ſich vor ihm — von weißen Fluten 
elektriſchen Lichtes taghell durchleuchtet — die Rieſenhalle 
des Bahnhofs von Charing Croß, dieſer ae eines 
Tag und es nicht raſtenden Getriebes. 


FRE. A 


Er dachte an Paris, ſeine Heimatſtadt, als er langſam 
weiterſchritt. Welcher Unterſchied zwiſchen den breiten, 
flachen und hellen Ufern der Seine und dieſen ſtarren, 
ragenden Maſſen, auf welche ſelbſt die Sonne keinen 
Schimmer von Freude zu zaubern vermochte! 

Er ſehnte ſich zuruͤck nach der Stadt ſeiner Jugend. 
Aber er hatte London lieben gelernt mit der leidenſchaft—⸗ 
lichen, eiferſuͤchtigen Liebe des Trotzes. 

Denn man liebt London entweder oder man haßt es 

Wieder blieb der Wanderer ſtehen. So hell war die 
rieſige Halle erleuchtet, daß er die Uhr an ihrem Ende 
deutlich erkennen konnte. Die Zeiger ſtanden zwiſchen 
der ſiebenten und achten Stunde. Das Leben auf dem 
Fußwege ſchien ſich verſtaͤrkt zu haben, als ob eine 
Menſchenwelle von diesſeits nach jenſeits hinuͤber ge— 
ſpuͤlt wuͤrde. Es war, als ob der Zoͤgernde ſich nicht 
losreißen koͤnne. Er betrachtete einen Augenblick das un— 
ablaͤſſige Spiel der Signalarme an dem Einfahrtspunkte 
der Halle; dann verſuchte er uͤber die Schienen hinweg 
und durch das Gewirr von Eiſenpfoſten und Waggons 
Weſtminſter Abbey mit ſeinen Blicken zu erreichen; aber 
er konnte nichts als das ſchimmernde Zifferblatt am 
Turm von Parliament Houſe erkennen und die dunklen 
Umriſſe gigantiſcher Steinmaſſen, welche ſich drüben er— 
hoben. Und uͤberall hingewirrt die tauſend und aber— 
tauſend Lichter 

Wieder wandte er ſich nach der freien Seite, an 
welcher er vorher geſtanden hatte. Unter ſeinen Fuͤßen 
rollten dumpfbrauſend die Zuͤge der Metropolitan Railway 
hin; die ganze Weite des Viktoria Embankment lag bis 


„ 


Waterloo Bridge halbhell erleuchtet unter ihm. Starr 
und ernſt hob ſich die Nadel der Kleopatra in die Hoͤhe. 

Zu dem Manne herauf drang das Lachen und Singen 
der Burſchen und Maͤdchen, welche allabendlich die Baͤnke 
der Embankments belegt halten. „Do not forget me — 
do not forget me“ war der Refrain. Ihre Stimmen 
klangen hart und ſchrill. „Do not forget me“ — uͤber⸗ 
all konnte man es im Jubilee Year in London hoͤren ... 
Es war das Lied des Tages. 

Wer das Geſicht des eben über den Bruͤckenrand Ge: 
beugten jetzt beobachtet haͤtte, dem waͤre ein ſeltſamer 
Ausdruck von Härte nicht entgangen, der es ploͤtzlich be— 
herrſchte. Der Fußgaͤnger hoͤrte nichts mehr von dem 
verhaltenen, hier gedaͤmpften Laͤrm und dem trivialen 
Geſang. Ein Gedanke hatte ihn wieder beim Anblick 
der gewaltigen Kai-Anlage zu ſeinen Fuͤßen gepackt: 
wieviel Menſchenleben mochten wohl unter dieſen weißen 
Granitquadern, fo ſicher und unuͤberwindlich aufein— 
andergetuͤrmt, zermalmt ſein? Und er dachte wieder jener 
ſchweigenden, unbelohnten, vergeſſenen Arbeit, welche all' 
das Große, das er um ſich ſah, geſchaffen. 

Schweiß und Blut werden abgewaſchen und der Ein— 
zelne erhebt ſich lebend und bewundert auf den Leichen 
von Millionen Ungenannt⸗Vergeſſenen . 

Als ſtachele ihn dieſer Gedanke auf, ſchritt Carrard 
Auban weiter. Indem er die Steinboͤgen am Ende der 
Brücke durchmaß, die Überreſte der alten Hungerford 
Suſpenſion Bridge, ſah er zu Boden und ging ſchneller. 
Wieder, wie immer, lebte er in den Gedanken, welchen 
auch er die Jugend ſeines Lebens gewidmet hatte, und 


. 


wieder packte ihn die grenzenloſe Größe dieſer Bewegung, 
welche die zweite Haͤlfte des neunzehnten Jahrhunderts 
die „ſoziale“ genannt hat: dorthin Licht zu tragen, wo 
noch das Dunkel herrſcht — in die duldenden, unter— 
druͤckten Maſſen, deren Leiden und langſames Sterben 
„den Anderen“ das Leben gibt.. 

Aber als Auban die Bruͤckentreppe niedergeſtiegen 
war und ſich in Villiers Street, jener merkwuͤrdigen 
kleinen Straße, die vom Strand nach dem Stadtbahnhof 
von Charing Croß hinabfuͤhrt, befand, wurde er wieder 
von dem ihn umrauſchenden Leben gefeſſelt. Unaufhoͤrlich 
draͤngte es ſich an ihm vorbei: dieſer wollte noch den 
Zug erreichen, der eben jene, welche ſo eilig den Strand 
zueilten — verſpaͤtete Theaterbeſucher, die ſich vielleicht 
wieder in den Entfernungen Londons geirrt — ausgeſpieen 
hatte; hier redete eine Proſtituierte auf einen Herrn im 
Seidenhut ein, den ſie mit einem Wort und einem Blick 
ihrer muͤden Augen hierher gelockt hatte, um mit ihm 
uͤber den „Preis“ handelseinig zu werden; und dort 
draͤngte eine Schar hungriger Gaſſenkinder ihre ſchmutzigen 
Geſichter an die Scheiben eines italieniſchen Waffelbaͤckers, 
gierig jede Bewegung des unermuͤdlich Arbeitenden ver— 
folgend — Auban ſah alles: er hatte dieſelbe Aufmerk— 
ſamkeit eines im Beobachten geuͤbten Auges fuͤr den zehn— 
jaͤhrigen Jungen, welcher den Voruͤbereilenden einen Penny 
abzubetteln ſuchte, indem er vor ihnen her auf dem feuchten 
Straßenpflaſter Rad ſchlug, und fuͤr die verkommenen 
Zuͤge jenes Burſchen, welcher ſofort, als er ſtehen ge— 
blieben war, ſich an ihn draͤngte und ihm die neueſte 
Nummer der „Matrimonial News“ — „für alle unent— 


. 


behrlich, welche zu heiraten wuͤnſchen“ — aufzuſchwatzen 
ſuchte, aber ſich ſofort dem Naͤchſten zuwandte, als er 
ſah, daß er keine Antwort erhielt. 

Auban ging langſam weiter. Er kannte dieſes Leben 
zu gut, als daß es ihn noch verwirrt und betaͤubt haͤtte; 
und doch packte und feſſelte es ihn immer wieder aufs 
neue mit ſeiner ganzen Gewalt. Er hatte waͤhrend dieſer 
Jahre Stunden und Tage ſeinem Studium gewidmet, 
und immer und uͤberall fand er es neu und intereſſant. 
Und je mehr er ihre Stroͤmungen, ihre Abgruͤnde und 
ihre Untiefen kennen lernte, deſto mehr bewunderte er 
dieſe einzige Stadt ... Seit einiger Zeit war dieſe Zu: 
neigung, welche mehr war als Anhaͤnglichkeit und weniger 
eigentlich als Liebe, zu einer leidenſchaftlich erregten ge⸗ 
worden. London hatte ihm zu viel — weit mehr als 
dem Bewohner und dem Beſucher — gezeigt; und nun 
wollte er alles ſehen. Die Unruhe dieſes Wunſches hatte 
ihn denn auch an dem heutigen Nachmittag hinuͤber⸗ 
geſtoßen auf das jenſeitige Themſeufer, zu ſtundenlangen 
Wanderungen in Kennington und Lambeth — jenen 
Vierteln eines entſetzlichen Elends — um ihn muͤde und 
zugleich entmutigt und erbittert zuruͤckkehren zu laſſen, 
und ihm jetzt am Strand den Widerſchein wie die Kehr—⸗ 
ſeiten jenes Lebens zu zeigen. 

Er ſtand nun an dem Eingang des dunklen und oͤden 
Tunnels, welcher unter Charing Croß durch auf Nor⸗ 
thumberland Avenue zulaͤuft. Die ſchrillen und zitternden 
Toͤne eines Banjo ſchlugen an ſein Ohr; eine Gruppe 
von Voruͤbergehenden hatte ſich zuſammengeſchart: in 
ihrer Mitte ſchlug ein Knabe in zerriſſenem Karrikatur⸗ 


„ 


koſtuͤm und mit uͤberrußtem Geſicht — wer hat die 
bizarren Geſtalten dieſer „Neger⸗Komoͤdianten“ nicht ſchon 
an den Straßenecken Londons ihre laͤrmenden Singtaͤnze 
auffuͤhren ſehen? — ſein Inſtrument, waͤhrend zu den 
Tönen desſelben ein Mädchen mit jener mechaniſchen 
Gleichguͤltigkeit tanzte, die keine Ermuͤdung zu kennen 
ſcheint. Auban warf, indem er ſich vorbeidraͤngte, auch 
in das Geſicht dieſes Kindes einen Blick: Gleichguͤltigkeit 
und doch zugleich eine gewiſſe Ungeduld lag auf ihm. 

— Sie ernaͤhren ihre ganze Familie, die armen, mur⸗ 
melte er. In der naͤchſten Minute hatte ſich die Menge 
zerſtreut und das kleine Paar ſich zur naͤchſten Straßen⸗ 
ecke durchgedraͤngt, dort Spiel und Tanz von neuem 
zu beginnen, bis der Policeman ſie forttrieb, der ge— 
haßte, der gefuͤrchtete. 

Auban durchſchritt den Tunnel, deſſen Steinboden von 
Schmutz überſaͤt war und aus deſſen Ecken eine ver: 
peſtete Luft aufſtieg. Er war faſt leer; nur hin und 
wieder ſchlich eine unerkennbare Geſtalt an den Waͤnden 
hin und an ihm voruͤber. Aber Auban wußte, daß an 
naßkalten Tagen und Naͤchten hier, ſo gut wie an 
Hunderten anderer Durchgaͤnge, ganze Reihen von Uns 
gluͤcklichen lagen, dicht aneinander und gegen die kalten 
Waͤnde gepreßt, und immer gewaͤrtig, im naͤchſten Augen⸗ 
blick vom „Arm des Geſetzes“ auseinander getrieben zu 
werden: Haufen von Kot und Lumpen, verkommen in 
Hunger und Schmutz, die „Parias der Geſellſchaft“, die 
in Wahrheit Willenlofen ... Und während er die Stufen 
am Ende des duͤſteren Ganges emporſtieg, ſtand vor ihm 
plöglich wieder jene Szene, welche er vor nun etwa einem 


Er ER 


Jahre an dieſem ſelben Orte erlebt hatte, mit einer fo 
erſchreckenden Deutlichkeit, daß er unwillkuͤrlich ſtehen 
blieb und ſich umſah, als muͤſſe ſie ſich leibhaftig vor 
feinen Augen wiederholen —: 

Es war an einem feuchtkalten Abend, gegen Mitter: 
nacht, die Stadt in Nebel und Rauch wie in einen un— 
durchſichtigen Schleier gehuͤllt. Er war hierhergegangen, 
um einzelnen der Obdachloſen die wenigen Kupferſtuͤcke 
zu geben, welche ſie brauchten, um die Nacht uͤber in 
einem der Lodging-Haͤuſer, ſtatt in der eiſigen Kaͤlte der 
Nacht, zu verbringen. Als er dieſe Stufen niedergeſchritten 
war — der Tunnel war uͤberfuͤllt mit Menſchen, die, 
nachdem ſie alle Stadien des Elends durchgemacht hatten, 
am letzten angelangt waren —, ſah er vor ſich ein Ges 
ſicht auftauchen, welches er nie wieder vergeſſen hatte: 
die von Ausſatz und blutigen Geſchwuͤren entſetzlich ent— 
ſtellten Zuͤge eines Weibes, welches — an der Bruſt einen 
Säugling — ein etwa vierzehnjaͤhriges Mädchen an der 
Hand nach ſich mehr ſchleppte als zog, waͤhrend ein 
drittes Kind, ein Junge, ſich an ihren Rock anklammerte. 

— Zwei Schilling nur, Gentleman — zwei Schilling 
nur. Er war ſtehen geblieben, um ſie zu fragen. 

— Zwei Schilling nur — ſie iſt noch ſo jung, aber 
fie wird alles tun, was Sie wollen ... und dabei zog 
ſie das Maͤdchen naͤher, welches ſich zitternd und weinend 
abwendete. \ 

Ein Schauder überlief ihn. Aber die flehende und 
wimmernde Stimme des Weibes ertoͤnte weiter. 

— Bitte, nehmen Sie ſie doch mit. Wenn Sie es 
nicht tun, ſo muͤſſen wir draußen ſchlafen — nur zwei 


. 


Schilling, Gentleman, nur zwei Schilling, ſehen Sie nur, 
fie iſt fo huͤbſch ... Und wieder riß fie das Kind an ſich. 

Auban fuͤhlte, wie das Entſetzen ihn uͤberſchlich. Er 
wandte ſich unbewußt und unfähig, ein Wort hervor: 
zubringen, zum Gehen. 

Aber er hatte noch keinen Schritt getan, als ſich das 
Weib ploͤtzlich ſchreiend vor ihn auf den Boden hinwarf, 
das Maͤdchen losriß und ſich an ihn anklammerte. 

— Gehen Sie nicht fort! Gehen Sie nicht fort! 
ſchrie es in entſetzlicher Verzweiflung. — Wenn Sie es 
nicht tun, ſo muͤſſen wir verhungern — nehmen Sie 
ſie mit — hierher kommt ſonſt niemand mehr, und auf 
den Strand duͤrfen wir nicht — tun Sie es doch — 
tun Sie es doch! 

Aber, als er ſich, ohne es zu wollen, umſah, ſprang 
die vor ihin Liegende ploͤtzlich auf. 

— Rufen Sie keinen Policeman! Nein, rufen Sie 
keinen Policeman! rief ſie aͤngſtlich-ſchnell. Da, als ſie 
aufſtand, gewann Auban ſeine Ruhe wieder. Er griff 
wortlos in die Taſche und reichte ihr hin, was er an 
Geld erfaßte. 

Das Weib ſtieß einen Freudenſchrei aus. Wieder 
nahm ſie das Maͤdchen am Arm und ſtellte es vor ihn hin. 

— Sie wird mit Ihnen gehen, Gentleman, — ſie 
wird alles tun, was fie wollen ... fügte fie fluͤſternd 
hinzu. Auban wandte ſich ab und ging ſo ſchnell wie 
moͤglich durch die Reihen der Schlafenden und Betrunkenen 
dem Ausgange zu; keiner hatte der Szene geachtet. 

Als er am Strand war, fuͤhlte er, wie ſein Herz jagte 
und ſeine Haͤnde zitterten. 


BR 


Acht Tage nach dieſem fuchte er Abend für Abend 
in dem Tunnel von Charing Croß und ſeiner Umgebung 
nach dem Weibe und den Kindern, ohne ſie wieder finden 
zu koͤnnen. Es hatte etwas in den Augen des Maͤdchens 
gelegen, das ihn beunruhigte. Aber der Augenblick war 
zu kurz geweſen, als daß er haͤtte erkennen koͤnnen, was 
dieſer Abgrund von Furcht und Elend verbarg... 

Dann vergaß er uͤber dem ungeheuren Jammer, welcher 
ſich ihm taͤglich zeigte, dieſe eine Szene, und taͤglich ſah 
er wieder auf den Straßen die Kinder der Armut — 
Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren — ſich darbieten 
— und war unfaͤhig, zu helfen! 

Wer war bemitleidenswerter, die Mutter oder die 
Kinder? Wie groß mußte das Elend ſein, wie entſetzlich 
die Verzweiflung, wie wahnſinnig der Hunger der beiden? 
Aber mit Abſcheu ſpricht die Frau der Bourgeoiſie von 
dem „Scheuſal von Mutter“ und von dem „vers 
kommenen Kinde“ — die Phariſaͤerin, welche unter der Hand 
desſelben Elends genau denſelben Weg gehen würde. — — 

Mitleid! Jaͤmmerlichſte unſerer Luͤgen! Unſere Zeit 
kennt nur Ungerechtigkeit. Es iſt heute das groͤßte Ver⸗ 
brechen, arm zu ſein. Gut ſo. Um ſo ſchneller muß 
die Erkenntnis kommen, daß die einzige Rettung darin 
beſteht, dieſes Verbrechen zu unterlaſſen. 

— Die Wahnſinnigen, murmelte Auban vor ſich hin, 
— die Wahnſinnigen — ſie ſehen alle nicht, wohin Mit⸗ 
leid und Liebe uns gebracht haben —. Seine Augen 
waren umſchattet, wie von der Erinnerung an die Kaͤmpfe, 
welche dieſe Erkenntnis ihm auferlegt hatte. 

Wie deutlich er heute abend beim Durchſchreiten des 


. 


Tunnels wieder die wimmernde, verzweifelte Stimme 
des Weibes und ihr draͤngendes: „Do it! do it!” 
zu hoͤren glaubte! Und aus dem truͤben Dunkel 
tauchten wieder die ſcheuen, krankhaften Augen des 
Kindes auf. 

Er kehrte um und durchſchritt abermals den Tunnel. 
Bevor er ſich jedoch dem Strand zuwandte, bog er in eine 
der Seitenſtraßen ein, welche ſich nach der Themſe hinunter—⸗ 
ziehen. Er kannte ſie alle: — dieſe Gaſſen, dieſe Winkel, 
dieſe Ein⸗ und Durchgaͤnge: hier war der nuͤchtern⸗graue 
Hinterbau des Theaters, deſſen Frontſeite den Strand mit 
Licht uͤberſchwemmte; und jenes ſchmale, dreiſtoͤckige Haus 
mit den blinden Fenſtern war eines jener beruͤchtigten 
Abſteigequartiere, hinter deren Mauern ſich allnaͤchtlich 
Szenen der Verworfenheit abſpielen, welche ſich auch die 
ſinnlich⸗entartetſte Phantaſie nicht auszumalen wagt. Hier 
wohnte noch das Elend, und in jener naͤchſten, ſtillen 
Straße ſchon der Wohlſtand — und ſo wirrten ſich beide 
durcheinander bis zu der kleinen Kirche von Savoy 
inmitten ihrer kahlen Baͤume und bis zu den vor— 
nehmen, verſchloſſenen Bauten des Temple mit ſeinen 
herrlichen Gaͤrten 

Auban kannte alles: ſogar den ewig⸗-leeren, breiten, 
gewoͤlbten Gang, der unter den Straßen durch nach 
den Embankments fuͤhrt und von deſſen verlaſſener, ge⸗ 
heimnisvoller Stille aus das Leben des Strand fich an— 
hoͤrt wie das ferne Rauſchen einer immer letzten und 
immer erſten Welle auf oͤdem Sandufer 

Die Kälte wurde mit der vorruͤckenden Stunde em⸗ 
pfindlicher und ſickerte in der nebligen Feuchtigkeit Londons 


. 


nieder. Auban begann muͤde zu werden und wollte nach 
Hauſe. Er bog zum Strand ab. 

Der „Strand!“ Weſt⸗End und City verbindend lag 
er vor ihm da, erhellt von den ungezaͤhlten Lichtern 
ſeiner Laͤden, durchrauſcht von einer nie ſtockenden und nie 
endenden Menſchenflut: zwei geteilte Stroͤme, der 
eine hinauf nach St. Pauls, der andere hinunterwogend 
nach Charing Croß. Zwiſchen beiden der betaͤubende 
Wirrwarr eines ununterbrochenen Verkehrs von Wagen: 
ein Bus, ſchwerfaͤllig, uͤberſaͤt mit bunten Reklamen, be⸗ 
laden mit Menſchen, hinter dem andern; ein Hanſom, 
leicht, behend auf den Zweiraͤdern dahinhuſchend, hinter 
dem andern; droͤhnende Laſtwagen; rote, geſchloſſene 
Poſtwagen der Royal Mail; ſtarke, breite Forewheelers: 
und dazwiſchen ſich durchwindend, in der dunklen Maſſe 
kaum erkennbar, dahinſauſende Bycicles. 

Das Eaſt⸗End iſt die Arbeit und die Armut, anein⸗ 
andergekettet durch den Fluch unſerer Zeit: die Knecht⸗ 
ſchaft; die City iſt der Wucherer, der die Arbeit verkauft 
und den Gewinn einzieht; das Weſt⸗End iſt der vornehme 
Nichtstuer, der ſie verbraucht. Der Strand iſt eine der 
ſchwellendſten Adern, durch welche das geldgewordene 
Blut rinnt; er iſt der Rival von Oxford Street, und 
ſtraͤubt ſich dagegen, von ihr beſiegt zu werden. Er iſt 
das Herz von London. Er traͤgt einen Namen, den die 
Welt kennt. Er iſt eine der wenigen Straßen, in welchen 
du Menſchen aus allen Stadtteilen ſiehſt: der Arme traͤgt 
ſeine Lumpen und der Reiche ſeine Seide hierher. Wenn 
du dein Ohr oͤffneſt, kannſt du Sprachen der ganzen 
Welt hören: die Reſtaurants haben italienische Eigen⸗ 


5 


tuͤmer, deren Kellner franzoͤſiſch mit dir ſprechen; unter 
den Proſtituierten ſind mehr als die Haͤlfte Deutſche, die 
entweder hier untergehen oder ſich ſoviel erwerben, daß 
fie in ihr Vaterland zuruͤckkehren und dort „anſtaͤndig“ 
werden koͤnnen. 

Am Strand liegen die maͤchtigen Gerichtshoͤfe, und 

man weiß nicht, ob man Schauſpieler oder Verruͤckte vor 
ſich hat, wenn man die Richter in ihren langen Maͤnteln 
und ihren weißgepuderten Perücken mit den zierlich -albernen 
Zoͤpfen — alles aͤußerliche Wuͤrdeabzeichen einer wuͤrde— 
loſen Komoͤdie, die jeder vernuͤnftige Menſch innerlich 
verlacht und verachtet, und die jeder mitſpielt, wird er 
geladen, — wenn man ſie in ſeine hohen Torboͤgen 
hineineilen ſieht; der Strand vereinigt eine verwirrende 
Anzahl von Behoͤrden, von deren Exiſtenz du nie in 
deinem Leben gehoͤrt haſt, wenn ſie dir genannt werden, 
in feinem kalten Somerſet-Haus; und der Strand hat 
ſeine Theater, mehr Theater, als irgendeine Straße der 
Welt. 

So iſt er der erſte Gang des Fremden, der am Bahn— 
hof von Charing Croß anlangt, und den ſeine meiſt engen 
und aufeinander gepreßten Haͤuſer enttaͤuſchen; ſo wird 
er deſſen letzter ſein, wenn er London verlaͤßt, der, dem 
er ſeine letzte Stunde ſchenkt. 

Auban tauchte unter in das Menſchengewoge. Jetzt, 
wo er an Adelphi vorbeiging und das elektriſche Licht 
die Straße — die Gasflammen weit uͤberſtrahlend — 
mit ſeinem hellweißen Licht uͤberſchimmerte, konnte man 
ſehen, daß er leicht hinkte. Es war faſt unbemerkbar, 
wenn er ſchnell ging, aber wenn er langſam dahinſchlenderte, 

VIII 3 


Er, FREE 


zog er den linken Fuß nach und ftügte ſich feſter auf 
ſeinen Stock. 

Am Bahnhof von Charing Croß hatte ſich das Leben 
geſtaut. Auban ſtand einige Augenblicke an einer der Ein⸗ 
fahrten. Der Eingang zu Villiers Street, welche er wenige 
Minuten vorher unterhalb gekreuzt hatte, war belagert 
von Blumenverkaͤuferinnen, welche teils hinter ihren halb— 
geleerten Koͤrben froͤſtelnd und muͤde kauerten, teils die 
Voruͤbergehenden mit ihrem unaufhoͤrlichen: „Penny a 
bunch!“ zum Kauf ihrer kuͤmmerlichen Blumenbuͤndel 
zu verlocken ſuchten. Ein Policeman trieb eine von 
ihnen roh zuruͤck; ſie hatte ſich mit einem Schritte auf 
das Pflaſter gewagt, und ſie durften keine Linie uͤber 
die Grenze der Seitenſtraße hinaus. Das gellende Durch— 
einanderſchreien der Zeitungsjungen, die ihre letzte Spezial⸗ 
Editions los fein wollten, um noch in „Gattis Hunger- 
ford Palace“ Charlie Coborn — den „inimitable — 
in feinen „Two lovely black eyes“ bejubeln zu koͤnnen, 
wäre umerträglich geweſen, wenn es nicht von dem 
Wagengeraſſel auf den Steinen des Vorhofes von Charing 
Croß, welches der mit Aſphalt und Holgpflafter ver: 
woͤhnte Weſt Ender faſt nicht mehr kennt, und dem 
heiſern Rufen der Omnibus-Kondukteure uͤbertoͤnt worden 
waͤre. 

Mit jener Sicherheit, die nur ein langes Vertraut⸗ 
ſein mit dem Straßenleben der Großſtadt verleiht, be⸗ 
nutzte Auban die erſte Sekunde, in welcher die Wagen— 
reihen einen Durchgang zeigten, um die Straße zu 
uͤberſchreiten, und waͤhrend ſich hinter ihm in der naͤchſten 
die Fluten ſchloſſen, ging er an der Kirche von St. Martin 


9 


vorbei, warf einen Blick auf den totenſtill daliegenden 
Trafalgar Square, durchſchritt die enge und dunkle Green 
Street, ohne ſich im geringſten um den Cabby zu kuͤmmern, 
der ihm von ſeinem Bock aus mit unterdruͤckter Stimme 
zurief, er habe ihm „etwas zu ſagen“ — etwas von einer 
„jungen Dame“ — und befand ſich nach drei Minuten 
an den erleuchteten Eingaͤngen der „Alhambra“, von 
welchen verſpaͤtete Beſucher ſich nicht abweiſen laſſen 
wollten, da ſie noch einen Stehplatz in dem uͤberfuͤllten 
Hauſe zu erlangen hofften. Auban ging gleichguͤltig vor— 
uͤber, ohne einen Blick auf die ſchillernden Photographien 
der uͤppigen Balleteuſen — Reklameproben aus dem 
neuen Monſtreballett „Algeria“, dem halb London zu— 
ſtroͤmte — zu werfen. 

Der Garten in der Mitte von Leiceſter Square lag 
in Dunkel gehuͤllt. Die Statue Shakeſpeares war nicht 
mehr erkennbar von den Gittern aus. „There is no 
darkness but ignorance“ — ftand dort. Wer las 
Wir 

An der Nordjeite der Square herrſchte lautes Leben. 
Auban mußte ſich durch Scharen franzoͤſiſcher Proſtitu— 
ierten, deren lautes Lachen, Schreien, Schelten alles 
übertönte, durchdraͤngen. Ihre überladenen und geſchmack—⸗ 
loſen Toiletten, ihre ſchamloſen Anerbietungen, ihre un— 
aufhoͤrlichen Bitten: — „Chéri, cheri — “, mit denen fie 
ſich an jeden Voruͤbereilenden drängten und ihn ver— 
folgten, erinnerten ihn an die Mitternachtsſtunden der 
Außen⸗Boulevards von Paris. 

uberall ſchien ihm ſeine Zeit die entſtellteſte Seite 
ihres Geſichtes zu zeigen. 

3 * 


3 


Vor ihm her gingen zwei junge Englaͤnderinnen. Sie 
waren kaum aͤlter als ſechzehn Jahre. Ihre aufgeloͤſten 
und von der Naͤſſe feuchten blonden Haare hingen lang 
uͤber den Nacken hinab. Als ſie ſich umwandten, zeigte 
ihm ein Blick in ihre muͤden, blaſſen Zuͤge, daß ſie ſchon 
lange fo gewandert waren — immer dieſelbe kurze Strecke, 
Abend für Abend —; an einer Straßenecke erzählte eine 
Deutſche im Kölner Dialekt einer andern mit weitſchallender. 
Stimme — alle Deutſchen ſchreien in London — ſie 
habe ſeit drei Tagen nichts Warmes und ſeit einem uͤber⸗ 
haupt nichts gegeſſen: die Geſchaͤfte wuͤrden immer 
ſchlechter; und an der naͤchſten entſtand ein Zuſammen⸗ 
lauf von Menſchen, in welchen Auban hineingeſtoßen 
wurde, jo daß er die Szene mit anſehen mußte, die, 
ſich nun abſpielte: eine Alte, welche Streichholzſchachteln 
verkaufte, war mit einem der Frauenzimmer in Streit 
geraten. Sie ſchrieen einander an. „Da“ — brüllte 
die Alte und ſpie in das Geſicht der vor ihr Stehenden, 
aber in derſelben Sekunde hatte ſie die Beſchimpfung 
zuruͤck empfangen. Einen Augenblick ſtanden beide ſprach⸗ 
los vor Wut. Die Alte ſteckte zitternd ihre Schachteln 
in die Taſche. Dann ſchlugen ſie ſich gegenſeitig unter 
dem Beifallsgebruͤll der Umſtehenden die Naͤgel in die 
Augen und waͤlzten ſich ſchimpfend auf dem Boden um— 
her, bis einer der Zuſchauer ſie auseinander riß, worauf 
ſie ihre Sachen — die eine ihren zerbrochenen Schirm, 
und die andere ihren Fetzen von Hut — auflafen und 
der Haufe ſich lachend nach allen Seiten zerſtreute. 

Auban ging weiter, dem Piccadilly Circus zu. Dieſe 
Szene — eine unter unzaͤhligen — was war ſie weiter, 


err N 


3 


als ein neuer Beweis dafuͤr, daß die Methode, das Volk 
in Roheit zu erhalten, um dann von dem „Mob“ und 
ſeiner Verkommenheit zu ſprechen, noch immer vortrefflich 
anſchlug? 

Muſikhallen und Boxereien — fie füllen die paar 
freien Stunden der aͤrmeren Klaſſen Englands aus, an 
den Sonntagen Gebete und Predigten —: vortreffliche 
Mittel gegen „das gefaͤhrlichſte Übel der Zeit“ — das 
Erwachen des Volkes zu geiſtiger Selbſttaͤtigkeit. 

Auban ſtieß unwillkuͤrlich heftig mit dem Stocke, deſſen 
Griff er feſt umſpannt hielt, auf den Boden. 

Der Square, den er eben verlaſſen, Piccadilly und 
Regents Street — ſie ſind allabendlich und allnaͤchtlich 
die belebteſten und frequentierteſten Maͤrkte lebendigen 
Fleiſches für London. Hierhin wirft die Not der Welt— 
ſtadt, unterftügt von den „ziviliſierten“ Staaten des Feſt⸗ 
landes, ein Angebot, das ſogar eine unerſaͤttliche Nach— 
frage uͤberſteigt. Von dem Anbruch der Daͤmmerung 
bis hinunter zum Aufflimmern des neuen Tages beherrſcht 
die Proftitution das Leben dieſer Zentralpunkte des Ver— 
kehrs und ſcheint die Are zu ſein, um welche es ſich aus— 
ſchließlich dreht. 

Wie wundervoll bequem — dachte Auban — e 
es ſich doch die Herren Leiter unſeres oͤffentlichen Lebens! 
Wo ihre Vernunft vor dem Scheunentor ſteht und ſie 
nicht weiter koͤnnen, gleich heißt es: ein notwendiges Übel. 
Die Armut — ein notwendiges Übel; die Proſtitution 
— ein notwendiges übel. Und doch gibt es kein weniger 
notwendiges und kein größeres Übel, als fie ſelbſt! Sie 
ſind es, die alles ordnen wollen und alles in Unordnung 


ED 


bringen; alles leiten wollen und alles von den natuͤr— 
lichen Wegen ablenken; alles foͤrdern wollen, und alle 
Entwicklung hemmen ... Sie laſſen dicke Bücher 
ſchreiben, daß ſei immer ſo geweſen, und muͤſſe immer ſo 
ſein, und um doch etwas zu tun, wenigſten ſcheinbar, 
begeben ſie ſich an die „Reformarbeit“. Und je mehr ſie 
reformieren, deſto ſchlimmer wird es ringsumher. Sie 
ſehen es, aber ſie wollen es nicht ſehen; ſie wiſſen es, 
aber ſie duͤrfen es nicht wiſſen! Weshalb? Sie wuͤrden 
ſonſt unnuͤtz — und heutzutage muß ſich doch jedermann 
nuͤtzlich machen. Mit dem „materiellen Dahinleben“ iſt es 
nicht mehr getan. „Betrogene Betruͤger! vom erſten bis 
zum letzten,“ ſagte Auban lachend vor ſich hin; und es 
lag faſt keine Bitterkeit mehr in ſeinem Lachen. 

Aber dieſer Mann, welcher wußte, daß es nie und 
nirgendwo Gerechtigkeit auf der Erde gab, und der den 
Glauben an eine himmlliſche Gerechtigkeit als die be— 
wußte Luͤge erkaufter Prieſter verachtete, oder als die 
bewußt: und gedankenloſe Hingabe an dieſe Luͤge fuͤrch— 
tete, ahnte, ſo oft er die Hand an die eiternde Wunde 
der Proſtitution legte, mit Schaudern, daß hier ein Weg 
war, auf welchem langſam, unendlich langſam, eine träge 
Gerechtigkeit von den Leidenden zu den Lebenden hinauf— 
kroch. 

Was iſt dem Beſitzenden das Volk — das Volk, 
welches „nicht zu gut behandelt werden darf“, damit es 
nicht uͤbermuͤtig wird? Gleichberechtigte Menſchen mit den 
gleichen Wuͤnſchen an das Leben, wie ſie ſelbſt? Toͤrichte 
Schwaͤrmereien! Eine Arbeitsmaſchine, die beſorgt werden 
muß, damit ſie ihren Dienſt tun kann. Und es fiel 


1 


Auban die Strophe aus einem engliſchen Liede ein: „Unſere 
Soͤhne dienen ihnen bei Tage, unſere Toͤchter dienen 
ihnen bei Nacht — — . 

Ihre Soͤhne — gut genug zur Arbeit. Aber in der 
Entfernung — in der Entfernung. Ein Druck der Hand, 
die fuͤr ſie arbeitet? Arbeit iſt ihre Pflicht. Und dieſe 
Haͤnde ſind ſo ſchmutzig — von der Arbeit eines ewig 
waͤhrenden Tages. 

Ihre Toͤchter — gut genug, als Abzugskanal fuͤr 
den truͤben Strom ihrer Luͤſte zu dienen, der ſich ſonſt 
uͤber die unbefleckten und reinerhaltenen Seelen der eigenen 
Muͤtter und Toͤchter ergießen wuͤrde. Ihre Toͤchter bei 
Nacht! Was kauft das Geld vom Hunger und der Ver— 
zweiflung nicht?! 

Aber hier — hier allein! — zieht die ſo Geopferte 
ihre Moͤrder hinein in den Strudel ihres Verderbens. 

Wie eine dunkle, drohende Wolke breitet ſich uͤber 
unſer ganzes geſchlechtliches Leben — das hier zuͤgellos 
raſende, dort in die Unnatur der Ehe gepferchte — ein 
Heer furchtbarer Krankheiten aus, bei deren Namen jeder 
erbleicht, der ſie hoͤrt, da keiner vor ihnen ſicher iſt. 
Und wie es einen bereits unuͤberſehbaren Teil der Jugend 
unſerer Tage durchfreſſen hat, ſo ſteht es ſchon wie die 
Erfüllung eines unausgeſprochenen Fluches über einer 
noch im Schlummer liegenden Generation. 

Auban wurde gezwungen aufzuſehen. Aus dem 
Reſtaurant des London Pavillion, deſſen Gasfackeln ihre 
Lichtſtroͤme uͤber Piccadilly Circus hinwarfen, taumelte 
eine Schaar von jungen Männern der jeunesse dorée. 
Auf ihren geiſtloſen, brutal-verlebten Geſichtern ſtand ihre 


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a u oe 


ganze Beſchaͤftigung nur allzudeutlih: Sport, Weiber 
und Pferde. Sie waren natuͤrlich in full dress: aber die 
Zylinderhuͤte waren eingedruͤckt und aus den ſchwarzen 
Fraͤcken ſahen von Whisky und Zigarrenaſche beſchmutzte 


und zerknitterte Hemden hervor. Unter rohem Gelaͤchter 


und zyniſchen Ansrufen umſtellten die einen einige der 
Halbweltlerinnen, waͤhrend die anderen nach Hanſoms 
ſchrien, die eilfertig angefahren kamen; die ſich kreiſchend 
wehrenden Frauenzimmer wurden hineingeſchoben und 
das Singen der Trunkenen erſtarb in dem Fortrollen der 
Wagen. 

Auban uͤberſchaute den Platz. Dort vor ihm — 
Piccadilly hinunter — dehnte ſich eine Welt des Reich— 
tums und des Wohllebens aus: die Welt der ariſtokra— 
tiſchen Palaͤſte und der großen Klubs, der luxurioͤſen Läden 
und der faſhionablen Kunſt — das ganze uͤberſaͤttigte und 
raffinierte Leben der „großen Welt“ ... das Trugleben 
des Scheins. 

Der Blitz der kommenden Revolution muß hier zuerſt 
einſchlagen. Es kann nicht anders mehr fein... 

Als Auban die Straße uͤberſchritt, fiel ihm die zerlumpte 
Geſtalt eines Mannes auf, der unablaͤſſig, jo oft der 
Wagenverkehr es zuließ, den Übergang von den Spuren 
der Wagen und Pferde reinigte, und jedesmal, wenn 


ſein Beſen die Arbeit getan, beſcheiden auf die Auf⸗ 


merkſamkeit derer wartete, deren Fuͤße er vor einer Be— 
ruͤhrung mit den Schmutze bewahrt hatte: und es kam 
Auban die Luſt an, zu ſehen, wie viele dieſen Dienſt 
uͤberhaupt bemerken wuͤrden. Er lehnte ſich etwa fuͤnf 
Minuten an den Laternenpfahl vor dem Eingangbogen von 


. 


Spiers und Ponds Reſtaurant am Criterion, und ſchaute 
der unermuͤdlichen Arbeit des Alten zu. In dieſen fünf 
Minuten überfchritten etwa dreihundert Perfonen trockenen 
Fußes die Straße. Den Alten ſah keiner. 

— Ihr macht keine guten Geſchaͤfte? fragte er ihn, 
als er ihm naͤher kam. 

Der Alte griff in die Taſche ſeines zerfetzten Rockes 
und zeigte ihm vier Kupferſtuͤcke. 

— Das iſt alles in drei Stunden. — — Das iſt 
nicht genug fuͤr euer Nachtlager, ſagte Auban und legte 
ein Sixpenceſtuͤck hinzu. 

Und der Alte ſah ihm nach, wie er langſam mit 
ſeinen muͤhſamen Schritten uͤber den Platz ging. 

Hinter Auban verſanken die Lichter des Platzes, die 
hellen gleichmaͤßigen Haͤuſer des Quadrants von Regents 
Street; und waͤhrend ſich die Weite hinter ihm verengerte 
und der brauſende Laͤrm ſich verlor, ſchritt er ſicher weiter 
und immer weiter hinein in das dunkle, geheimnisvolle 
Straßengewirr von Soho. 


Um dieſelbe Stunde — die neunte war nicht mehr 
fern — kam von Oſten aus der Richtung von Drury 
Lane her auf Wardour Street zu mit der unſichern 
Schnelligkeit des Ganges, welche verraͤt, daß man ſich 
in einer fremden und unbekannten Gegend befindet und 
doch gerne ſchnell ein beſtimmtes Ziel erreichen moͤchte, 
ein Mann von etwa 40 Jahren in der unauffälligen 
Kleidung eines Arbeiters, die ſich in London nur durch 
ihre Einfachheit von der des Buͤrgers unterſcheidet. Als 


BIER RS 


er — überzeugt, daß er bei weiterem Forteilen in der 
eingeſchlagenen Richtung ſchwerlich bald ſeine Ungeduld 
befriedigen wuͤrde — ſtill ſtand und vor einem der zahl— 
loſen Public⸗Haͤuſer einen der dort herumſtehenden 
Burſchen nach ſeinem Wege fragte, zeigte deſſen vergeb— 
liches Bemuͤhen, die erbetene Auskunft moͤglichſt klar 
und verſtaͤndlich zu machen, daß der Frager ein Aus: 
laͤnder ſein mußte. 

Indeſſen ſchien dieſer endlich die Erklaͤrungen ver: 
ſtanden zu haben, denn er ſchlug eine von der vorher 
genommenen voͤllig verſchiedene Richtung ein. Er wandte 
ſich dem Norden zu. Nachdem er noch zwei oder drei 
der gleich dunklen, ſchmutzigen und einander völlig 
gleichenden Straßen durchgangen hatte, befand er ſich 
plotzlich in dem betaͤubenden Lärm einer jener Ver— 
kaufsſtraßen, in denen die Bevoͤlkerung der aͤrmeren 
Viertel am Samstag abend mit dem Lohn der ver⸗ 
gangenen Woche ihre Beduͤrfniſſe fuͤr den folgenden Tag 
einhandelt. Die Seiten der Straße waren beſetzt mit 
zwei endloſen Reihen von ſich dicht hintereinander draͤngen⸗ 
den Wagentiſchen und Geſtellen, dicht beladen mit jedem von 
den tauſend Erforderniſſen des taͤglichen Lebens, und 
zwiſchen ihnen ebenſo wie auf den engen Trottoirs an 
den geoͤffneten und uͤberfuͤllten Laͤden vorbei, draͤngte 
und quetfchte ſich eine unruhige und feilſchende Maſſe, 
deren Schreien und Laͤrmen nur von dem gellenden 
Durcheinanderrufen der anpreiſenden Verkaͤufer uͤbertoͤnt 
wurde. Die Straße war in ihrer ganzen Laͤnge von dem 
flackernden Scheine unzaͤhliger Petroleumflammen in eine 
blendenden Helle, eine Helle, wie ſie das Licht des Tages 


Boa > 


nie hierher brachte, getaucht; die feuchte Luft erfuͤllt mit 
einem dicken und qualmenden Rauch; der Boden uͤber— 
ſaͤt mit zertretenen Abfaͤllen aller Art, welche das Gehen 
auf dem glitſchrigen, unregelmaͤßigen Steinpflaſter noch 
erſchwerten. 

Der Arbeiter, der nach dem Wege gefragt hatte, war 
in das Gewuͤhl hineingeraten und draͤngte ſich durch, 
ſo ſchnell es ging. Er hatte kaum einen Blick fuͤr die 
rings aufgeſpeicherten Schaͤtze: die Baͤnke mit den großen, 
rohen, blutigen Fleiſchſtuͤcken; die hochbeſpeicherten Karren 
mit Gruͤnkraut jeder Sorte; die Tiſche, voll von altem 
Eiſen und Kleidern; die langen Reihen von aneinander 
gebundenem Schuhwerk, welche ſich uͤber ihm fort und 
über die Straße ſpannten; für den ganzen undurch- 
dringlichen Wirrwarr des Kleinhandels, welcher ihn um— 
toſte und umdruͤckte. Als ſich unter dem Schimpfen 
der Menge ein Karren ruͤckſichtslos durch das Gewuͤhl 
ſtieß, nahm er die Gelegenheit wahr, hinter ihm her— 
zugehen, und kam ſo ſchneller, als er gehofft hatte, an 
die Ecke der naͤchſten Kreuzſtraße, wo ſich das Leben 
wieder verteilte und einen Augenblick des Stillſtehens 
ermoͤglichte. 

Da, als er ſich umſah, erblickte er auf der andern 
Seite der Straße ploͤtzlich Auban. Überraſcht, ſeinen 
Freund ſo unverhoffter Weiſe und in dieſer Gegend zu 
ſehen, eilte er nicht ſogleich zu ihm; und dann — als 
er ſchon die Straße halb uͤberſchritten hatte — trat er 
in das Gedraͤnge zuruck, von dem Gedanken getrieben: 
Was tut er hier? — Er blickte in der naͤchſten Minute 
aufmerkſam zu ihm hinuͤber. 


IE 


Auban ftand mitten in einer Reihe von halbbetrunkenen 
Männern, die den Eingang des Public-Hauſes umlagerten, 
in der Hoffnung, von einem ihrer Bekannten eingeladen 
zu werden: — „Have a drink!“ Er ſtand da, etwas 
sornübergebeugt, mit beiden Händen auf feinen zwiſchen 
die Knie geklemmten Stock ſich ftügend und unverwandt 
in das an ihm vorbeitreibende Gewuͤhl ſtarrend, als 
warte er darauf, aus ihm ein bekanntes Geſicht auf: 
tauchen zu ſehen. Seine Zuͤge waren ernſt; um den Mund 
lag eine ſcharfe Falte und ſeine tiefliegenden Augen hatten 
einen ſtarren und truͤben Blick. Seine glattraſierten 
Wangen waren mager und die ſcharfe Naſe gab den 
Zuͤgen ſeines ſchmalen und feinen Geſichtes den Ausdruck 
ſtarker Willensfaͤhigkeit. Ein dunkler weiter Mantel fiel 
nachlaͤſſig an der ungewoͤhnlich langen und ſchmalſchul— 
trigen Geſtalt nieder, und als ihn der andere von der 
gegenuͤberliegenden Straßenecke aus ſo daſtehen ſah, fiel 
ihm zum erſten Male auf, daß er ihn ſeit Jahren nie 
anders geſehen hatte, als in demſelben weiten Anzug von 
demſelben bequemen Schnitt und derſelben einfachſten, 
dunklen Farbe. Genau ſo ſchlicht und doch ſo auffaͤllig 
war ſeine aͤußere Erſcheinung geweſen, als er ihn — wie 
lange war es her: ſechs oder ſieben Jahre ſchon? — in 
Paris kennen gelernt hatte, und genau ſo unveraͤndert 
wie damals mit denſelben gleichen ſcharfen und truͤben 
Zuͤgen, die hoͤchſtens blaͤſſer und grauer geworden waren, 
ſtand er heute da druͤben, nachlaͤſſig und unbekuͤmmert in 
gruͤbelnden Gedanken inmitten des ſich uͤberhaſtenden und 
freudloſen Treibens des Samstagabends von Soho. 

Da kam er auf ihn zu: ſtarr geradeausblickend. 


* 


Ener, GA 


Aber er ſah ihn nicht und wollte an ihm vorüber: 
gehen. 

— Auban! rief der andere. 

Der Gerufene fuhr nicht zuſammen, aber er wandte 
ſich langſam zur Seite und ſah mit einem leeren und 
abweſenden Blick in das Geſicht des ihn Rufenden, bis 
der andere ihn am Arm packte: 

— Auban! 

— Otto?! fragte der Angerufene da, aber ohne Er: 
ſtaunen. Und dann, faſt flüfternd, und in dem belegten, 
halb noch im Grauen belegten Tone des Erwachenden, 
der von ſeinem ſchweren Traume erzaͤhlt, leiſe, um ihn 
nicht zur Wirklichkeit zu wecken: „Ich dachte an etwas 
anderes: — an das Elend, wie groß es iſt, wie ungeheuer, 
und wie langſam das Licht kommt, wie langſam ...“ 

Der andere ſah ihn erſtaunt an. Aber ſchon lachte 
Auban jaͤh erwacht auf und in ſeinem gewohnten be— 
herrſchten Tone fragte er dann: 

— Aber in aller Welt, wie kommſt du aus deinem 
Eaſt End nach Soho? 

— Ich habe mich verlaufen. Wo iſt denn eigentlich 
Oxford Street? Dort, nicht wahr? 

Aber Auban nahm ihn laͤchelnd an der Schulter und 
drehte ihn um. 

— Nein dort. — Paß auf: vor uns liegt der Norden 
der Stadt, die ganze Laͤnge von Oxford Street; hinter 
uns der Strand, den du wohl kennſt; dort, wo du her— 
kommſt — du kommſt doch von Oſten? — iſt Drury Lane, 
und das fruͤhere Seven Dials, von dem du gewiß ſchon 
gehoͤrt haſt. Seven Dials, die fruͤhere Hoͤlle der Armut; 


1 


jetzt „ziviliſiert“. Haſt du noch nicht die beruͤhmte Vogel⸗ 
haͤndlerſtraße geſehen? — Sieh, fuhr er fort, ohne eine 
Antwort abzuwarten, und machte mit ſeiner Hand eine 
Bewegung nach Oſten hin, — in dieſen Straßen bis 
Lincolns Inn Fields draͤngt ſich ein großer Teil des 
Elends von Weſt End. Was glaubſt du wohl, was man 
nicht geben wuͤrde, koͤnnte man es ausmiſten und nach 
dem Oſten draͤngen? — Was nuͤtzt es, daß ſie weite 
Straßen durchſchlagen, genau ſo wie Haußmann, der 
Seinepraͤfekt, es in Paris getan hat, um den Revolutionen 
ſo leichter begegnen zu koͤnnen, was nuͤtzt es? Es draͤngt 
ſich nur dichter aufeinander. Es vergeht kein Samstag⸗ 
abend, an dem ich dieſes Viertel zwiſchen Strand und 
Regents Street und Lincolns Inn, zwiſchen Strand und 
Orford Street nicht uͤberſchreite — es iſt ein Reich fuͤr 
ſich und ich habe hier reichlich ſo viel geſehen wie im 
Eaſt End. — Biſt du zum erſten Male hier? 

— Doch, wenn ich mp irre. War denn nicht früher 
der Klub hier? 

— Ja. Aber näher an Oxford Street. — Übrigens 
wohnen hier eine Menge Deutſche — nach Regents Street 
zu in den beſſeren Straßen. — 

— Wo iſt denn das Elend am ſchlimmſten? 

— Am ſchlimmſten? — Auban dachte einen Augen— 
blick nach. — Wenn du in Drury Lane einbiegſt — die 
Courts der Wild Street; dann das ſchreckliche Gewirr 
von faſt zuſammenbrechenden Haͤuſern in der Naͤhe des 
Old Curioſity Shop, den Dickens beſchrieben hat, mit 
den ſchmutzbedeckten Durchgaͤngen; überhaupt die Neben⸗ 
ſtraßen von Drury Lane, beſonders im Norden, an den 


3 


Queen Streets; und weiter hierher vor allem die fruͤheren 
Dials, die Hölle der Hoͤllen —. 

— Kennſt du alle Straßen hier? 

— Alle —. 

— Aber du kannſt nicht viel auf ihnen ſehen. Die 
Tragoͤdien der Armut ſpielen ſich hinter den Mauern ab. 

— Aber doch der letzte Akt — wie oft! — auf der 
Straße. 

Sie waren langſam weiter gegangen. Auban hatte 
ſeinen Arm in den des andern gelegt und ſtuͤtzte ſich 
muͤde auf ihn. Trotzdem hinkte er ſtaͤrker als vorher. 

— Und wo gehſt du hin, Otto? fragte er. 

— Zum Klub. Willſt du nicht mit? 
| — Ich bin etwas müde. Ich war den ganzen Nach- 

mittag drüben. Dann, da ihm einfiel, daß der andere 
in dieſen Worten nur einen Vorwand für eine Ablehnung 
ſehen moͤchte, fuͤgte er ſchneller hinzu: — Aber ich gehe 
ſchon mit; es iſt eine gute Gelegenheit; ſonſt komme ich in 
naͤchſter Zeit doch nicht hin. — Wie lange wir uns 
uͤberhaupt nicht geſehen haben! — 

— Ja, faſt drei Wochen ſchon nicht! 

— Ich lebe immer mehr fuͤr mich. Du weißt es 
ja. Was ſoll ich in den Klubs? Dieſe langen Reden, 
immer uͤber dasſelbe: was ſollen ſie nuͤtzen? Das alles 
iſt nur ermuͤdend. | 

Er merkte wohl, wie unangenehm es dem andern war, 
was er ſagte, und wie ſich dieſer gleichwohl mit der 
Richtigkeit ſeiner Worte abzufinden ſuchte. 

— Ich bin noch immer, wie fruͤher, jeden Sonntag 


a a 


nachmittag von fünf Uhr an zu Haufe. Weshalb kommſt 
du nicht mehr? 

Weil bei dir alles mögliche zuſammenkommt! Bour⸗ 
geois, und Sozialdemokraten, und Literaten, und Indivi⸗ 
dualiſten —. 

Auban lachte auf. — Tant mieux. Die Diskuſſionen 
koͤnnen dadurch nur gewinnen. Die Individualiſten ſind 
doch die ſchrecklichſten, nicht wahr, Otto? 

Sein Geſicht war voͤllig veraͤndert. Eben noch finſter 
und verſchloſſen, zeigte es jetzt einen herzlichen Zug von 
Freundſchaft und Freundlichkeit. 

Aber der andere, welcher mit Otto angeredet war und 
Trupp hieß, ſchien davon nur unangenehm beruͤhrt zu 
werden, und er nannte einen Namen, der zwar von Aubans 
Stirn nicht die Ruhe, aber voͤllig von ſeinen Lippen das 
Laͤcheln ſcheuchte. 

— Fuͤnfzehn Jahre! Und wegen nichts! ſagte der 
Arbeiter grollend und empoͤrt. 

— Aber warum lieferte er ſich auch ſo unvorſichtig 
in die Haͤnde ſeiner Feinde? Er mußte ſie doch kennen. 

— Er wurde verraten! 

— Weshalb vertraute er ſich andern an! fragte Auban 
wieder. — Jeder iſt von vornherein verloren, der auf 
andere baut. Auch das wußte er. Es war ein zweck 
loſes Opfer! 

— Ich glaube, du haſt keinen Begriff von der Groͤße 
ſeines Opfers und ſeiner Hingabe, grollte Trupp. 

— Lieber Otto, du weißt recht gut, daß mir über: 
haupt das Gefuͤhl des Verſtaͤndniſſes fuͤr alle ſogenannten 
Opfer abgeht. Was hat das Unterliegen des Genoſſen, des 


2 


beiten, des ehrlichſten vielleicht von allen, für einen Nutzen 
gehabt? Sage mir das! 

— Es hat den Kampf erbitterter gemacht. Es hat 
die einen aus ihrer Lethargie aufgeruͤttelt, die andern 
— uns — mit neuem Haß erfuͤllt. Es hat — und 
ſeine Augen flammten, waͤhrend Auban fuͤhlte, wie der 
Arm, den er hielt, in krampfhaftem Zorn erbebte — 
— es hat in uns den Schwur erneuert, für jeden Ge: 
fallenen am Tage der Abrechnung hundertfache Suͤhne 
zu fordern! 

— Und dann? 

— Dann, wenn dieſe verfluchte Ordnung dem Boden 
gleich gemacht iſt, dann wird ſich die freie Geſellſchaft 
auf den Truͤmmern erheben. 

Auban ſah wieder auf den heftig Sprechenden nieder, 
mit dem traurigen, ernſten Blick, mit dem er ihn vorhin 
begruͤßt hatte. Er wußte ja, daß in der zerriſſenen Bruſt 
dieſes Mannes nur ein Wunſch und eine Hoffnung noch 
lebten, die Hoffnung auf den Ausbruch der „großen“, 
der letzten Revolution! 

So waren ſie vor Jahren uͤber die Boulevards von 
Paris gegangen, und hatten ſich berauſcht an den toͤnenden 
Worten der Hoffnung; und waͤhrend Auban laͤngſt allen 
Glauben verloren hatte, nur den einen nicht: an die 
langſam, langſam wirkende Macht der Vernunft, welche 
endlich jeden Menſchen dahin fuͤhren wird, fuͤr ſich, ſtatt 
fuͤr andere zu ſorgen, und ſo mehr und mehr auf ſich 
ſelbſt zuruͤckgekommen war, hatte ſich der andere ebenſo 
mehr und mehr in den Fanatismus einer Verzweiflung 


hinein verloren, welcher ſich taͤglich von neuem das 
vii 4 


5 


ſchimmernde Geſpenſt der „goldenen Zukunft“ vor Augen 
zauberte und den letzten Halt an der Wirklichkeit aus 
den Haͤnden gab, welche ſich ſehnſuͤchtig und vertrauend 
um den Nacken der Liebe ſchmiegten. 

— In fuͤnfzehn Jahren, ſo brach jetzt wieder lodernd 
die Flamme der Hoffnung aus ſeinen Worten, — kann 
viel geſchehen! — 

Auban antwortete nicht mehr. Er war machtlos 
dieſem Glauben gegenuͤber. Langſam gingen ſie weiter. 
Die Straßen wurden leerer und ſtiller. Es lag noch 
immer dieſelbe bruͤtende Feuchtigkeit in der undurchſicht⸗ 
barer werdenden Luft, wie vor drei Stunden. Der Himmel 
war eine nebelgraue Wolkenmaſſe. Die Laternen brannten 
unſtaͤt⸗flackernd. Zwiſchen den beiden Maͤnnern lag das 
Schweigen der Entfremdung. 

Sie waren auch aͤußerlich ſehr verſchieden. 

Auban war groͤßer und hagerer, Trupp muskuloͤſer 
und proportionierter. Dieſer trug einen kurzen, braunen 
Vollbart, waͤhrend jener ſtets mit peinlicher een 
raſiert war. 

Waren fie allein, fo ſprachen fie ſtets, wie auch an 
dieſem Abend, franzoͤſiſch miteinander, welches Trupp 
ohne Muͤhe, wenn auch nicht ganz korrekt, Auban aber 
ſo ſchnell ſprach, daß ſelbſt ſeine Landsleute oft Muͤhe 
hatten, ihm zu folgen. Seine Stimme hatte einen ſelt⸗ 
ſamen Klang von Haͤrte, der zuweilen der Waͤrme ſeiner 
Lebhaftigkeit, öfter aber noch einer feinen Ironie wich. — 

Vor ihnen begann das Gewirr der kleinen und engen 
Gaſſen ſich zu lichten. Sie ſtiegen einige Stufen hinauf. 
Da lag Oxford Street! 


. 


— In fuͤnfzehn Jahren, brach Auban das Schweigen, 
— haben die Ketten der Knechtſchaft in den Laͤndern des 
Kontinents die Handgelenke der Voͤlker faſt durchſchnitten, 
ſo daß ſie ſich zum Schlag nicht mehr heben koͤnnen. 
Hier werden dieſelben Haͤnde in gleicher Zeit gefeſſelt 
ſein, wie der Mund, der jetzt noch proteſtiert und ſich 
muͤde redet. 

— Ich kenne die Arbeiter beſſer als du. Bis dahin 
werden ſie ſich laͤngſt erhoben haben. 

— Um mit Kanonen, die ſelbſttaͤtig in jeder Sekunde 
einen, und in einer Minute ſechzig Schuͤſſe abgeben, nieder⸗ 
gemaͤht zu werden. Ja. Ich kenne die Bourgeoiſie beſſer 
und ihre Leute. 

Sie ſtanden in Oxford Street: in naͤchtigem Licht 
und Leben. 

— Da ſieh hin — glaubſt du, dies Leben — fällt 
mit einem Schlag und durch Einzelner Willen? 

— Ja, ſagte Trupp und zeigte nach Oſten. — Dort 
liegt die Zukunft. 2 

Aber Auban fragte: „Was iſt die Zukunft? Die 
Zukunft iſt der Sozialismus. Die Toͤtung des Indi⸗ 
viduums in immer engeren Grenzen. Die gaͤnzliche Un: 
ſelbſtaͤndigkeit. Die große Familie. — Lauter Kinder, 
Kinder ... Aber auch das muß durchgemacht werden.“ 

Er lachte bitter und indem er dem Blick ſeines 
Freundes folgte: „Dort liegt — Rußland!“ Dann 
ſchwiegen beide wieder. 

Oxford Street dehnte ſich aus — eine unuͤberſehbare 
Linie von verſchwimmendem Licht und brauſendem Dunkel 
hinauf und hinunter. 

4* 


N 


— Es gibt drei London, ſagte Auban, gepackt von 
dem Leben, — drei: London am Samſtagabend, wenn 
es ſich betrinkt, um die folgende Woche zu vergeſſen; 
London am Sonntag, wenn es ſeinen Rauſch im Schoß 
der allein ſeligmachenden Kirche ausſchlaͤft; und London, 
wenn es arbeitet und arbeiten laͤßt — an den langen, 
langen Tagen der Woche. 

— Ich haſſe dieſe Stadt, ſagte der andere. 

— Ich liebe ſie! ſagte Auban leidenſchaftlich. 

— Wie anders war Paris! 

Und die gemeinſamen Erinnerungen tauchten auf. 

Aber Auban draͤngte vorwaͤrts. 

— Wir kommen nie zum Klub. 

Sie uͤberſchritten geradeswegs Oxford Street und 
gingen die naͤchſte Querſtraße nach Norden hinauf. Auban 
ftügte fich wieder ſtark auf den Arm feines Freundes. 

— Aber ſage jetzt, wie geht es euch? 

— Es geht ganz gut, trotzdem wir immer noch keinen 
„Vorſtand“ haben. Erinnerſt du dich noch, welcher Laͤrm 
ſich erhob, als wir ſeinerzeit den Klub ganz nach 
kommuniſtiſchem Prinzip einrichteten: ohne Vorſtand, ohne 
Beamten, ohne Statuten, ohne Programm und ohne 
feſtgeſetzte Zwangsbeitraͤge? Voͤlliger Untergang in Un- 
ordnung wurde uns prophezeit und ſonſt noch alles 
mögliche. Aber wir kommen immer noch ganz gut zu⸗ 
recht und in unſeren Verhandlungen geht es ganz fo zu 
wie in anderen, wo die Glocke des Praͤſidenten regiert 
— es redet immer einer nach dem anderen, wenn er 
etwas zu ſagen hat. 

Auban laͤchelte. 


c ZU EEE Zn Zu Zee 


3 


— Ja, ſagte er, — das koͤnnen die Ordnungsſchreier 
nicht verſtehen, wie vernünftige Menſchen zuſammen— 
kommen und zuſammenbleiben koͤnnen, um ſich uͤber 
ihre gemeinſamen Intereſſen zu beſprechen, ohne daß der 
einzelne ſeine Zugehoͤrigkeit in Rechten und Pflichten auf 
einem Wiſch garantiert erhaͤlt. — Aber daraus, daß dieſe 
Verſuch nicht mißlungen iſt, ſehr ihr doch noch keinen 
Beweis fuͤr die Moͤglichkeit der Konſtituierung der 
ganzen menſchlichen Geſellſchaft auf gleichen Grundlagen? 
Das waͤre doch heller Wahnſinn. 

— So, das waͤre heller Wahnſinn? Wir finden das 
nicht. Wir hegen dieſe Hoffnung, beteuerte Trupp hartz 
naͤckig. 

Auban fiel ein: „Was macht euer Blatt?“ 

— Es geht langſam. Lieſt du es? 

— Ja. Aber doch nur ſelten. Ich habe das wenige 
Deuſch verlernt, das ich auf der Schule hoͤrte. 

— Wir redigieren es auch zuſammen. Ohne Kommiſſion, 
ohne Redakteur. An einem Abend der Woche kommen 
zuſammen, die Luſt und Zeit haben, und das Eingelaufene 
wird verleſen, beſprochen und zuſammengeſtellt. 

— Deshalb iſt der Inhalt aber auch ſo merkwuͤrdig 
verſchieden und uneinheitlich. Nein, hinter einem Blatte 
muß eine Perſoͤnlichkeit ſtehen, eine volle, intereſſante 
Perſoͤnlichkeit — 

Trupp unterbrach ihn ungeſtuͤm. 

— Ja, und dann hätten wir wieder das ‚Führer: 
tum‘. Aus einem Verwalter wird immer ein Regierer 
— er ſah nicht das beiſtimmende Nicken Aubans — 
— hier im Kleinen, dort im Großen! Unſere ganze Be— 


a 


wegung hat darunter furchtbar gelitten, unter dieſem Zen— 
tralismus. Wo im Anfang reine Begeiſterung war, iſt 
ſie in Selbſtgefaͤlligkeit aufgegangen; wirkliches Mitgefuͤhl 
und Liebe in dem Streben, ſelbſt die Retter zu ſpielen. 
So haben wir denn uͤberall ſchon oben und unten, die 
Herde und den Leithammel, auf der einen Seite den 
Duͤnkel, auf der anderen Seite gedankenloſe und fanatiſche 
Nachbeterei der Parteilehren — 

— Aber du haſt mich in der Tat voͤllig mißverſtanden. 
Als ob ich je etwas anderes geglaubt haͤtte! Ich mißtraue 
uͤberhaupt einem jeden, der ſich anmaßt, andere vertreten, 
fuͤr andere ſorgen und die Verantwortung fuͤr anderer 
Angelegenheiten auf ſeine eigenen Schultern nehmen zu 
wollen. Kuͤmmere dich um deine eigenen Angelegen— 
heiten und laß mich fuͤr die meinen ſorgen — das iſt 
ein gutes Wort. Und wirklich Anarchismus. 

— Ich bin auch Anarchiſt. N 

— Nein, mein Freund, das biſt du nicht. Du ver⸗ 
trittſt in jeder Beziehung das Gegenteil der wirklich 
anarchiſtiſchen Ideen. Du biſt durch und durch Kommu— 
niſt, nicht nur deinen Anſichten, ſondern deinem ganzen 
Empfinden und Wuͤnſchen nach. 

L Wer will mir das Recht beſtreiten, meine Ans 
ſichten anarchiſtiſch zu nennen? 

— Niemand. Aber ihr bedenkt nicht, welche unheil: 
volle Verwirrung entſteht durch das Zuſammenwerfen 
ſo voͤllig verſchiedener Begriffe. Indeſſen warum jetzt 
uͤber die alte Frage ſtreiten! Komm am Sonntag. Wir 
koͤnnten wieder einmal diskutieren. Weshalb nicht? 

— Meinetwegen. Du biſt und bleibſt ja doch der 


a 


Individualiſt, zu dem du geworden biſt, ſeitdem du die 
ſoziale Frage „wiſſenſchaftlich“ ſtudiert haſt! Ich wollte, 
du waͤreſt noch derſelbe, der du warſt, als ich dich ſah 
in Paris, mein Lieber! 

— Nein, ich nicht, Otto! ſagte Auban und lachte 
laut auf. 

Trupp war gereizt. 

— Du weißt nicht, was du verteidigſt! Iſt der In⸗ 
dividualismus etwa nicht die Entfeſſelung aller ſchmutzigen 
Leidenſchaften des Menſchen, des Egoismus vor allem, 
und hat er nicht all dies Elend geſchaffen, — die Freiheit 
auf der einen — 

Auban blieb ſtehen und ſah den Sprechenden an. 

— Heute Freiheit des Einzelnen? Heute, wo wir im 
komplizierteſten und brutalſten Kommunismus ſtecken, 
wie nie vorher? Heute, wo der einzelne von ſeiner Ge— 
burt an bis zu feinem Tode vom Staat, von der Gemein: 
ſchaft mit Beſchlag belegt wird? — Geh die Welt zu 
Ende und ſage mir, wo ich dieſen Verpflichtungen ent— 
gehen und Ich ſein kann. Ich will hingehen in dieſe 
Freiheit, die ich vergebens geſucht habe, ſo lange ich lebe. 

— Aber deine Anſichten geben der Bourgeoiſie nur 
neue Waffen in die Hand — 

— Wenn ihr die Waffen nicht ſelbſt gebraucht, die 
einzigen uͤberhaupt, an die ich noch glaube. Nur dann. — 
Und ſicher: ſie, — dieſe langſam reifenden Ideen des 
Egoismus (mit Abſicht brauche ich dies Wort) — ſie 
ſind in gleicher Weiſe gefaͤhrlich den heutigen Zuſtaͤnden 
wie ſie es ſein werden, wenn wir in den Hafen des 
alles begluͤckenden Volksſtaates, in den verdichteten Kom— 


Re 


munismus, eingelaufen find — gefährlicher als all eure 
Bomben und alle Bajonette und Mitrailleufen der heutigen 
Machthaber. 

— Du haft dich fehr verändert, ſagte Trupp ernſt. 

— Nein, Otto. Ich habe mich nur ſelbſt gefunden. 

— Wir muͤſſen darauf zuruͤckkommen. Es muß ſich 
entſcheiden — 

— Ob ich noch zu euch gehoͤre oder nicht? Das iſt 
doch wohl nur eine Redensart. Denn der Freie — und 
du willſt doch die ganze, unbeſchraͤnkte Autonomie des 
Individuums — kann nur ſich ſelbſt gehoͤren. 

Sie waren jetzt in Charlotte Street eingetreten, die 
in ihrer Laͤnge und truͤben Dunkelheit vor ihnen lag. 

Sie bogen in eine der Nebenſtraßen ein, in einen 
der faſt menſchenleeren und halbhellen Durchgaͤnge, 
welche ſich oͤſtlich nach dem Lärm von Tottenham Court 
Road hinziehen. 

— Wir muͤſſen jetzt deutſch ſprechen, ſagte Auban 
in dieſer Sprache, die aus ſeinem Mund ungeuͤbt und 
fremd klang. 

Sie ſtanden ſtill vor einem ſchmalen, hellange— 
ſtrichenen Hauſe. 

uͤber der Tuͤr, auf der durch das dahinter flackernde 
Licht erhellten Scheibe ſtand der Name des Klubs. 

Trupp ſtieß ſchnell die Tuͤr auf und ſie traten ein. 


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Zweites Kapitel 


Die elfte Stunde 


Am Abend des Freitags der naͤchſten Woche fuhr 
Carard Auban die endlos lange City Road mit dem 
Omnibus hinunter. Er ſaß neben dem Kutſcher — einem 


Gentleman mit Seidenhut und tadelloſem Außern — und 


verfolgte ungeduldig die allmaͤhliche Abnahme der Ent— 
fernung, welche ihn von ſeinem Ziele trennte. Er war 
erregt und mißgeſtimmt. Als der Wagen am Finsbury 
Square hielt, ſprang er ſchnell ab, eilte das Pavement 
bis zur naͤchſten Querſtraße hinunter, nachdem er einen 
orientierenden, pruͤfenden Blick auf die Lage der Straßen 
geworfen hatte, und befand ſich nach wenigen Minuten 
an den Treppen von South Place Inſtitute. 

Schon von weitem war eine ungewoͤhnlich ſtarke 
Menſchenanſammlung bemerkbar. In Entfernungen von 
je einigen Schritten ſtanden Poliziſten. Die Tuͤren des 
dunklen, kirchenartigen Gebaͤudes waren weit geoͤffnet; 
als Auban ſich mit dem Strom langſam hineindraͤngte, 
wechſelte er mit einigen Bekannten, die ſich dort aufge- 
ſtellt hatten und die Zeitungen ihres Vereins oder ihrer Rich— 
tung verkauften, fluͤchtige Worte des Grußes. Aus den Ant- 
worten ſprach oͤfters Erſtaunen oder Freude, ihn zu ſehen. 


5 


Er nahm mit, was er von den feilgebotenen Blaͤttern 
erlangen konnte: „Commonweal“ das intereſſante Organ 
der Socialist League; „Justice“, das Parteiorgan der 
Socialdemocratic-Federation; und einige Nummern der 
neuen deutſchen Zeitſchrift „Londoner Freie Preſſe“, dem 
Unternehmen einer Anzahl deutſcher Sozialiſten ver— 
ſchiedenſter Richtung, welches einen Zentralpunkt ihrer 
Anſichten bilden und der Propaganda unter dem deutſch— 
redenden Teil der Londoner Bevoͤlkerung dienen ſollte. 
Auban kehrte nie von dieſen Meetings zuruͤck, ohne die 
Bruſttaſche mit Zeitſchriften und Pamphleten angefüllt 
zu haben. 

An der inneren Eingangstuͤr wurde die Reſolution 
des Abends verteilt; große, klarbedruckte Quartblätter. 

Der Saal war von ziemlich gleicher Breite und Tiefe; 
an den Waͤnden zog ſich eine breite Galerie hin, die 
bereits faſt gefuͤllt war. Im Hintergrund befand ſich 
eine mannshohe Empore, auf der eine Anzahl von 
Stuͤhlen fuͤr die Sprecher aufgeſtellt war. Sie war noch 
leer. Der Saal machte den Eindruck einer zu kirchlichen 
Zwecken beſtimmten Halle. Darauf deutete auch die Form 
der Baͤnke hin. d 

An dieſem Abend jedoch war nichts bemerkbar von 
dem gleichguͤltigen, mechaniſch-ſtillen Treiben einer reli— 
giöfen Verſammlung. Eine aufgeregte, lebhaft bewegte, 
ihre Gedanken laut austauſchende Menge nahm die Baͤnke 
ein. Auban uͤberſah fie ſchnell. Er ſah zahlreiche bekannte 
Geſichter. An der Ecke des Saales, in der Naͤhe der 
Plattform, ſtanden einige der Redner des Abends. Auban 
durchſchritt die Reihen der ſich ſtetig fuͤllenden Baͤnke 


5 


und ging auf die Gruppe zu. Mit einzelnen wechſelte 
er einen ſtillen Haͤndedruck; anderen nickte er zu. 

— Nun, Sie werden doch auch ſprechen, Mr. Auban? 
wurde er gefragt. 

Er ſchuͤttelte abwehrend den Kopf. 

— Ich mag nicht engliſch reden, uͤberhaupt nicht reden. 
Das iſt vorbei. Und was ſollte ich ſagen? Was man 
ſagen moͤchte, darf man nicht ausſprechen. — Es iſt ein 
gemiſchtes Meeting? fragte er dann leiſer einen neben 
ihm Stehenden, den bekannten Agitator eines deutſch— 
revolutionaͤren Klubs. 

— Jawohl, Radikale, Freidenkeriſche, Liberale — alles 
moͤgliche. Sie werden ſehen, die meiſten Redner werden 
ſich dagegen verwahren, Sympathie mit dem Anarchismus 
zu hegen. 

L Haben Sie Trupp nicht bemerkt? 

— Nein, der wird wohl nicht kommen. Ich habe ihn 
noch nie auf einer dieſer Verſammlungen geſehen. 

Auban ſah ſich um. Der Saal war bereits zum 
Erſticken gefuͤllt; die Gaͤnge zwiſchen den Baͤnken dicht 
beſetzt; um die große Gruppenphotographie der Chicagoer 
Verurteilten, welche im breiten Goldrahmen unter dem 
Rednertiſche hing, draͤngte ſich eine Anzahl von Arbeitern. 
An dem Tiſche daneben machten ſich mehrere Zeitungs— 
reporter ihre Papierpauſen zurecht. 

An den Eingaͤngen wurde das Gedraͤnge immer leb— 
hafter. Die Tuͤren waren weit geoͤffnet. An dem Schieben 
und Stoßen konnte man ſehen, daß große Maſſen noch 
Einlaß begehrten. Einzelne draͤngten ſich gluͤcklich bis 
zu den vorderſten Sitzen vor, wo noch Raum war, wenn 


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man zuſammenruͤckte. Als Auban dies ſah, ſicherte auch 
er ſich ſchnell einen Platz, denn ſein lahmes Bein er— 
laubte ihm nicht ein ſtundenlanges Stehen. 

Er ſtemmte ſeinen Stock auf und kreuzte die Fuͤße. 
So blieb er den ganzen Abend ſitzen. Er konnte den 
ganzen Saal uͤberſehen, da er auf einer der ſeitlichen 
Baͤnke ſaß; die Rednerbuͤhne lag dicht vor ihm. 

Er zog die Reſolution aus der Taſche und las ſie 
aufmerkſam und langſam durch, wie auch die Namen: 
liſte der Sprecher: „mehrere der hervorragendſten Radikalen 
und Sozialiſten.“ Er kannte die Namen und ihre Traͤger 
ſaͤmtlich, obwohl er kaum einen von ihnen im letzten 
Jahre wiedergeſehen hatte. 

„Das Recht der freien Rede“ ſtand auf der Tages: 
ordnung. „Sieben Männer wegen Abhaltung einer öffent: 
lichen Verſammlung zum Tode verurteilt.“ Die Re— 
ſolution lautete: „— Daß die engliſchen Arbeiter in dieſer 
Verſammlung eindringlich ihre Mitarbeiter in Amerika 
auf die große Gefahr fuͤr die oͤffentliche Freiheit auf— 
merkſam zu machen wuͤnſchen, welche entſteht, wenn ſie 
zugeben, daß Buͤrger fuͤr den Verſuch des Widerſtandes 
gegen die Unterdruͤckung des Rechtes auf öffentliche Ver: 
ſammlungen und der freien Rede beſtraft werden, da 
ein Recht, fuͤr deſſen Erzwingung das Volk beſtraft wird, 
dadurch offenbar zu keinem Recht, ſondern zu einem 
Unrecht wird. 

Daß das Schickſal der ſieben Maͤnner, uͤber welche 
das Todesurteil für Abhaltung einer oͤffentlichen Ver— 
ſammlung in Chicago, auf der mehrere Poliziſten bei 
dem Verſuch der gewaltſamen Vertreibung des Volkes 


GGG 


1 


und der Unterdruͤckung der Sprecher getoͤtet wurden, 
verhaͤngt iſt, von groͤßter Wichtigkeit fuͤr uns als eng— 
liſche Arbeiter iſt, da ihr Fall heute der Fall unſerer 
Kameraden in Irland und vielleicht morgen der unſere 
iſt, wenn nicht die Arbeiter auf beiden Seiten des At— 
lantic einſtimmig erklaͤren, daß Alle, welche ſich in die 
Rechte der Abhaltung oͤffentlicher Verſammlungen und 
der freien Rede miſchen, ungeſetzlich und auf ihre eigene 
Gefahr hin handeln. Wir koͤnnen nicht zugeben, daß 
die politiſchen Anſichten der ſieben verurteilten Maͤnner 
mit dem hineingezogenen Prinzip irgend etwas zu tun 
haben, und wir proteſtieren gegen ihre Verurteilung, 
welche, wenn ſie ausgefuͤhrt wird, in Wirklichkeit das 
Abhalten von Verſammlungen der Arbeiter in ihrem 
eigenen Intereſſe zu einem Hauptverbrechen in den Ver— 
einigten Staaten von Amerika ſtempeln wird, da immer 
die Moͤglichkeit fuͤr die Autoritaͤten gegeben iſt, eine 
Menge durch Gefaͤhrdung ihres Lebens zum Widerſtand 
zu reizen. Wir erwarten von unſern amerikaniſchen 
Kameraden, ſeien auch ihre politiſchen Anſichten noch ſo 
verſchieden, daß ſie die unbedingte Freilaſſung der ſieben 
Maͤnner, in deren Perſonen die Freiheiten aller Arbeiter 
jetzt gefährdet find, verlangen ...“ 

Als Auban geendet hatte, ſah er neben ſich einen 
alten Herrn mit langem, weißen Bart und freundlichen 
Geſichtszuͤgen. 

— Mr. Marell, rief er ſichtlich erfreut, — Sie ſind 
wieder hier? Welche Überraſchung! 

Sie ſchuͤttelten ſich herzlich die Haͤnde. 

— Ich wollte Sie nicht ſtoͤren — Sie laſen. 


. 


Sie ſprachen engliſch zuſammen. 

— Wie lange ſind Sie wieder hier? 

— Seit geſtern. 

— Und waren Sie in Chicago? 

— Ja, vierzehn Tage; dann in New Pork. 

— Ich hatte Sie nicht erwartet — 

— Ich konnte es nicht mehr ertragen, ſo kam ich 
wieder. 

— Sie ſahen die Verurteilten? 

— Gewiß, oft. 

Auban beugte ſich zu ihm und fragte leiſe: 

— Es iſt keine Hoffnung? 

Der Alte ſchuͤttelte den Kopf. 

— Keine. Die letzte liegt beim Gouverneur von 
Illinois, aber ich glaube nicht an ihn. 

Leiſe ſprachen ſie weiter. 

— Wie iſt die Stimmung? 

— Die Stimmung iſt gedruͤckt. Die knights of Labour 
und die Georgianer halten ſich zuruͤck. — Es iſt uͤber⸗ 
haupt manches anders, wie man es ſich hier vorſtellt. 
Die Aufregung iſt ſtellenweiſe groß, aber die Zeit iſt 
noch nicht reif. 

— Man wird alles verſuchen — 

— Ich weiß nicht. Jedenfalls wird alles unmoͤg⸗ 
lich ſein 

Sie ſchwiegen beide. Auban ſah noch ernſter aus 
als gewöhnlich, Aber was für ein Gefühl es war, 
welches ſeine Seele beherrſchte, war auch jetzt nicht zu 
erkennen. 

— Wie ſind die Verurteilten? 


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8 


— Sehr ruhig. Einige wollen keine Begnadigung, 
und ſie werden in dieſem Sinne ſich ausſprechen. Aber 
ich fuͤrchte, die andern hoffen immer noch — 

Es war nach acht Uhr. Die Verſammlung begann 
ungeduldig zu werden; die Stimmen wurden lauter. 

Auban fragte weiter, und der Alte antwortete mit 
ſeiner ruhigen, traurigen Stimme. 

— Sie werden ſprechen, Mr. Marell? 

— Nein, mein Freund. Es iſt ein anderer, juͤngerer 
da, er kommt auch von Chicago, und er will einiges 
von dort erzaͤhlen. 

— Sind Sie morgen zu Hauſe? 

— Ja, kommen Sie. Ich werde Ihnen die Ver: 
handlungen geben und die neueſten Zeitungen. Ich habe 
viel mitgebracht. Alles, was ich auftreiben konnte. Viel. 
Sie werden, wenn Sie alles leſen wollten, ein gutes 
Bild unſerer amerikaniſchen Zuſtaͤnde bekommen. 

— Ein neuer Prozeß wird nicht bewilligt werden. 

— Hoffentlich nicht. Es wuͤrde ja nichts nuͤtzen, die 
Qual, die fo ſchon unerträglich iſt, würde nutzlos ver: 
laͤngert werden, es muͤßten neue, ungemeſſene Mittel vom 
Volke aufgebracht werden — noch einmal 50000 Dollars, 
aus Arbeiterpfennigen zuſammengehaͤuft — und wozu? 
— nein, die Hyaͤne will Blut — 

— Und das Volk? 

— Das Volk weiß ſelbſt nicht, was es will. Einſt⸗ 
weilen glaubt es noch nicht an den Ernſt der Sache, 
und wenn der Elfte da iſt, iſt es zu ſpaͤt! 

In ihr Geſpraͤch miſchte ſich ein junger Englaͤnder, 


„ 


der Marell von der Socialist League her kannte. Auban 
ſah auf. Jener ſagte finſter: 

— Nein, ich glaube noch immer nicht daran. Man 
mordet am Ende des neunzehnten Jahrhunderts im Anz 
geſicht der Völker öffentlich nicht ſieben Menſchen, deren 
Unſchuld ſo klar erwieſen wie der Tag iſt; man ſchlachtet 
Tauſende und Abertauſende hin, aber man hat nicht 
mehr den Mut, in einem Lande mit den Inſtitutionen 
der Staaten ſo nur auf die Gewalt zu pochen und die 
Geſetze zu verhoͤhnen. Nein, ſie tun es deshalb nicht, 
weil es von ihrem Standpunkt aus ein Wahnſinn waͤre, 
das Volk auf ſolche Weiſe aufzuklaͤren und aufzuruͤtteln. 
Nein, ſie werden es nicht wagen! Sehen Sie hin, hier 
allein dieſe Vielen und ſo taͤglich in allen freieren Laͤndern, 
hier und druͤben, dieſe Verſammlungen, dieſe Zeitungen, 
dieſe Flut von Flugſchriften! Wo iſt der Menſch, der 
noch Vernunft und Herz hat und ſich nicht empoͤrt — 
ſind die Scharen zu zaͤhlen, die druͤben ſich erheben? 
Ihr Wille ſollte nicht ſtark genug fein, um jenen er: 
kauften Schurken Furcht einzujagen, daß ſie abſtehen 
von ihrer Freveltat? Nein, ſie werden es nicht wagen, 
Comrade! Es waͤre ihr eigenes Verderben! 

Die beiden, zu denen er ſprach, zuckten die Achſeln. 
Was ſollten ſie ihm antworten? — 

Sie hatten beide in dem Kampfe der beiden Klaſſen 
ſo viele Scheußlichkeiten von denen begehen ſehen, welche 
die Gewalt in Haͤnden haben, daß ſie ſich fragen mußten, 
was es ſein wuͤrde, das ſie noch in Erſtaunen und Ent⸗ 
ruͤſtung zu ſetzen vermoͤchte? — 

Auban ſah, wie die Haͤnde des Alten zitterten, in 


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8 


denen er einen grauen, abgetragenen Hut hielt, und wie 
er dieſes leichte Zittern, in welchem ſich ſeine ganze 
innere Erregung kundgab, dadurch zu verbergen ſuchte, 
daß er nachlaͤſſig mit ihm ſpielte. 

— Sie glauben, den Anarchismus ins Herz zu treffen, 
wenn ſie einige ſeiner Vertreter haͤngen, ſagte er nun. 
Auban merkte, daß er jetzt nicht naͤher auf das Geſpraͤch 
eingehen wollte, und ſchwieg. 

Aber er dachte weiter: „Was iſt Anarchismus?“ — 
Die in Chicago Verurteilten? — Ihre Anſichten waren 
teils ſozialdemokratiſch, teils kommuniſtiſch, nicht zwei 
haͤtten auf irgendeine ihnen vorgelegte und die Grund— 
ideen betreffende Frage gleichlautend geantwortet — und 
doch nannten ſich alle und wurden alle „Anarchiſten“ 
genannt; aber wann hatte der Individualismus trotziger 
geſprochen als aus den Worten jenes jungen Kommuniſten, 
welcher feinen „Richtern“ zugedonnert hatte: „Ich ver 
achte euch, ich verachte eure Geſetze, eure „Ordnung“, 
eure Gewaltherrſchaft“ — und: „Ich bleibe dabei: wenn 
man uns mit Kanonen bedroht, werden wir mit Dynamit⸗ 
bomben antworten” —? 

Und weiter der Greis, der neben ihm ſaß! Auch 
er nannte ſich „Anarchiſt“ ... Und was predigte er 
immer und immer wieder in ſeinen zahlloſen Flug— 
ſchriften? Die Liebe. f 

— „Was iſt Anarchie?“ — fragte er. Und antwortete: 
„Es iſt ein Geſellſchaftsſyſtem, in welchem keiner die 
Handlungen ſeines Nachbarn ſtoͤrt; wo Freiheit frei 
von Geſetz iſt; wo Vorrecht nicht exiſtiert; wo Gewalt 


nicht der Ordner menſchlicher Handlungen iſt. — Das 
vun 5 


REN OD Ken 


Ideal iſt das zweitauſend Jahre früher von dem Nazarener 
verkuͤndete: die allgemeine Bruͤderlichkeit der ganzen 
menſchlichen Familie.“ — Und ſchmerzlich rief er immer 
wieder aus: „Rache iſt die Lehre, gepredigt von der 
Kanzel, von der Preſſe, von allen Klaſſen der Geſellſchaft! 
— Nein, Liebe! Liebe! Liebe! predigt! ...“ 

Auban, welcher ſich an dieſe Worte erinnerte, dachte 
daran, wie gefährlich es doch war, jo allgemein, fo ver⸗ 
ſchwommen, ſo obenhin zu denen zu ſprechen, die noch 
ſo wenig verſtanden, den Sinn und den Wert der Worte 
zu prüfen. So ballte ſich mehr und mehr das Unver: 
einbare und das Fremde zu einem Knaͤuel zuſammen, 
vor deſſen Loͤſung viele zuruͤckſchreckten, die ſonſt gerne 
den einzelnen Fäden nachgegangen wären... 

Auban hatte den alten Herrn erſt vor kurzem kennen 
gelernt. Es war auf einer Debatte geweſen, in welcher 
uͤber die Unterſchiede des individualiſtiſchen und des kom— 
muniſtiſchen Anarchismus disputiert wurde. Mr. Marell 
war der einzige geweſen, welcher — wie er ſelbſt glaubte 
— den erſteren vertrat. Seine Darlegungen hatten Auban 
intereſſiert. Er hatte in ihnen trotz ihrer Inkonſequenz 
manches ſeinen eigenen Ergebniſſen Verwandte gefunden. 
So waren ſie miteinander bekannt geworden und hatten 
ſich einige Male geſehen, bevor jener nach Amerika zurück 
kehrte, um dort, wie er ſagte, noch zu tun, was in 
feinen Kräften ſtand. Da er nie über ſich ſprach, wußte 
Auban nicht, welcher Art diefe Bemühungen fein ſollten, 
und nach dem, was er heute abend von ihm gehoͤrt 
hatte, konnte er ſehen, daß auch ſie erfolglos ge— 
blieben waren. Jedenfalls ſchien dieſer Mann ein ſehr 


ET 5 


ausgezweigtes Netz von Verbindungen aller Art in der 
Hand zu haben, denn er kannte ſowohl alle bei dem 
Prozeß der acht beteiligten Perſoͤnlichkeiten, wie er auch 
uͤber die Ausdehnung der anarchiſtiſchen Lehren in Amerika, 
wie es ſchien, genau unterrichtet war. 

Seine Flugblaͤtter waren ſaͤmtlich mit „Der Unbekannte“ 
unterzeichnet. — In London fiel der Alte wenig auf. 
Er ſprach ſelten oͤffentlich und die Flut der revolutionaͤren 
Bewegung Londons treibt zu viele Perſoͤnlichkeiten heute 
an die Oberflaͤche, um ſie morgen wieder zu verſchlingen, 
als daß in dieſem beſtaͤndigen Kommen und Gehen dem 
fluͤchtig Voruͤberziehenden beſondere Aufmerkſamkeit ge— 
ſchenkt werden koͤnnte. f 

Er fragte den Englaͤnder jetzt nach einigen der An— 
weſenden. Auban lehnte ſich zuruͤck. 

— Wer iſt das? 

Er zeigte auf eine Frau in einfachem, dunklen Kleide, 
welche in ihrer Naͤhe ſaß. Ihre ausgepraͤgten Zuͤge ver— 
rieten lebendigſtes Intereſſe an allem, was um ſie her 
vorging, und ſie ſprach lebhaft und lachend mit ihrer 
Nachbarin. 

— Ich weiß nicht, antwortete der Engländer, Aber 
dann erinnerte er ſich, ſie einmal in einem der deutſchen 
Klubs geſehen zu haben, und er fuͤgte hinzu: 

— Ich weiß nur, daß ſie eine Deutſche iſt, eine 
deutſche Sozialiſtin. Ehrgeizig, aber ein gutes Herz. Sie 
hat lange in Berlin fuͤr die Abſchaffung der aͤrztlichen 
Unterſuchung der Proſtituierten gewirkt. 

Der wißbegierige Alte fragte den vor ihm Stehenden 


weiter. 
5* 


ie 


— Und wer iſt das, mit dem ſie jetzt ſpricht? 

Der Englaͤnder ſah hin. Es war ein junger Mann, 
den er ebenfalls nur fluͤchtig kannte. 5 

— Ich glaube, das iſt ein Dichter, ſagte er. Sie 
laͤchelten beide. 

— Er hat ein ſoziales Gedicht geſchrieben. 

— Haben Sie es geleſen? 

— O nein, ich leſe nicht deutſch. 

— Er ſieht weder aus wie ein Dichter, noch wie ein 
Sozialiſt. Glaubt er, mit feinen Gedichten die Welt ver— 
beſſern zu koͤnnen? — Er wird eines Tages ſehen, wie 
nutzlos ſie ſind und daß die Menſchen zuerſt Brot haben 
muͤſſen, ehe ſie an anderes zu denken imſtande ſind. 
Wenn man nichts zu eſſen hat, hoͤrt die Poeſie auf. 

Der Juͤngere laͤchelte uͤber den Eifer des Alten, welcher 
ungeſtoͤrt fortfuhr, waͤhrend Auban die Menge muſterte: 

— Man kann die zarteſten Liebesgedichte ſchreiben und 
wie ein Metzgermeiſter den blutigſten Scheußlichkeiten zu— 
ſehen. Und man wird hingehen und eine Jubelhymne 
auf die „tapferen Krieger“ dichten, die Moͤrder, welche 
bluttriefend aus den Schlachten kommen. Man kann 
die „Leiden der Voͤlker“ beſingen und in der naͤchſten 
Stunde der „gnaͤdigen Frau“ im Ballſaale die Hand 
kuͤſſen, die kurz vorher den Bedienten geohrfeigt hat. 
Aber woruͤber ſprechen wir denn? Sagen Sie mir lieber, 
wer jener Mann dort iſt? 

— Einer von unſeren Parlamentskandidaten. Ein 
charakterloſer Lump. Ein Schreier. Wenn er die Macht 
haͤtte, wuͤrde er ein Tyrann ſein. Aber auch ſo verdirbt 
er genug. 


2 


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* 


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1 


Sie wandten jetzt beide ihre Aufmerkſamkeit der Ver⸗ 
ſammlung zu. Auban war noch immer in Gedanken 
verſunken. Die Stuͤhle auf der Empore hatten ſich be— 
ſetzt mit den Vertretern und Abgeſandten aller Ver— 
einigungen, welche das Maſſenmeeting einberufen hatten. 

Man ſah einige Frauen unter ihnen. — Den Chair 
hatte ein blaſſer, etwa vierzigjaͤhriger Mann in der Tracht 
eines Prieſters der Hochkirche eingenommen. Er wurde 
mit Beifall begruͤßt, als ſeine Erwaͤhlung zum Chairman 
mitgeteilt wurde. Auban kannte ihn, es war ein chriſt⸗ 
licher Sozialiſt, der ſeit langen Jahren unter den Armen 
des Eaſt End wirkte. Wegen ſeiner Geſinnungen war 
ihm das Recht der Ausuͤbung ſeines Berufes entzogen 
worden. Die Kirche iſt der groͤßte Feind jedes Cha— 
rakters. 

Er eroͤffnete jetzt die Verſammlung. Er ſagte, daß 
dieſelbe aus Menſchen der verſchiedenſten Lebensanſchau— 
ungen zuſammengeſetzt ſei, aus Radikalen und Anti⸗ 
ſozialiſten jo gut, wie aus Anarchiſten und Sozialiſten, 
die aber in dem einen Wunſche ſich geeinigt haͤtten, gegen 
die Unterdruͤckung des Rechtes der freien Rede zu prote— 
ſtieren. Er ſei kein Anarchiſt, wie die in Chicago Ver— 
urteilten, er habe eine ſtarke Abneigung gegen ihre Dok— 
trinen, aber er fordere fuͤr ihre Ausleger und Anhaͤnger 
genau dieſelbe oder eine noch groͤßere Freiheit, wie er 
ſie ſelbſt — der Prieſter einer chriſtlichen Kirche — fuͤr 
die Kundgebung ſeiner eigenen Anſichten fuͤr ſich in An⸗ 


ſpruch nehme. Fuͤr Alle ſei das Recht das gleiche, dem, 


was ſie als Wahrheit erkannt haͤtten und fuͤr Wahrheit 
hielten, zu dienen, und darum verlange er im Namen 


. 


feines Gottes und im Namen der Menſchlichkeit die Frei⸗ 
laſſung dieſer Männer. 

Als er geendet hatte, wurde eine große Anzahl von 
Telegrammen, Zuſtimmungsadreſſen und Briefen aus 
allen Gegenden Englands verleſen. Viele derſelben wurden 
mit Jubel aufgenommen. 

Auban wußte, daß manche dieſer Vereinigungen ihre 
Mitglieder nach Tauſenden zaͤhlten; er hoͤrte unter den 
verleſenen Namen einige von groͤßtem Einfluß. Maͤnner 
der Feder, deren Werke jedermann las — was taten ſie 
alle, die ebenſo wie er ſelbſt von der Ruchloſigkeit jenes 
Urteils uͤberzeugt waren? Sie beruhigten ihr Gewiſſen 
mit einem Proteſt. Was haͤtten ſie tun koͤnnen? Ihr 
Einfluß, ihre Stellung, ihre Macht — ſie waͤren vielleicht 
ſtark und eindringlich genug geweſen, die Ausuͤbung 
jener Tat unmoͤglich zu machen einer zum Bewußtſein 
gekommenen und allgemeinen Entruͤſtung gegenuͤber. 
Aber ihr Name und ihr Proteſt — er verhallte hier vor 
den wenigen wirkungslos. Auch ſie waren die Knechte 
ihrer Zeit, ſie, die ihre wahren Herrſcher haͤtten ſein 
koͤnnen. 

Aus ſeinen Gedanken wurde Auban durch eine Stimme 
aufgerüttelt, welche er oft vernommen hatte. Neben dem 
Tiſche auf der Plattform ſtand eine kleine, ſchwarz ge— 
kleidete Frau. Unter der Stirne, welche halb von dichtem, 
kurz geſchnittenem Haar wie von einem Kranze bedeckt 
war, leuchteten ſchwarze, begeiſterte Augen. Die weiße 
Halskrauſe und das überaus einfache, faſt moͤnchiſche, lang 
niederwallende Gewand ſchienen einem vergangenen Jahr- 
hundert anzugehoͤren. Nur wenige aus der Verſammlung 


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Schienen fie zu kennen; wer fie aber kannte, der wußte, 
daß fie die treueſte, tätigfte und leidenſchaftlichſte Vor— 
kaͤmpferin des Kommunismus in England war. Auch ſie 
nannte ſich Anarchiſtin. 

Sie war keine hinreißende Sprecherin; aber in ihrer 
Stimme lag jener Stahlklang unerſchuͤtterlicher Über: 
zeugung und Ehrlichkeit, der den Hörer oft mehr packt 
als die glaͤnzendſte Vortragskunſt. 

Sie gab ein Bild aller jener Ereigniſſe, welche in 
Chicago der Verhaftung und Verurteilung der Genoſſen 
vorhergegangen waren. Klar — Schritt fuͤr Schritt — 
zogen dieſelben an den Augen der Hörer voruͤber ... 

Sie erzaͤhlte von dem Entſtehen und Wachſen der 
Achtſtundenbewegung in Amerika, von den Bemuͤhungen 
früherer Jahre, den achtſtuͤndigen Arbeitstag bei der Re⸗ 
gierung durchzuſetzen; von ihren Erfolgen ... Sie er⸗ 
klaͤrte, wie es gekommen war, daß die Revolutionaͤre von 


Chicago ſich der Bewegung angeſchloſſen hatten, ohne ſich 


uͤber ihre Bedeutung und ihren eigentlichen Wert zu 
taͤuſchen; von den unermuͤdeten Beſtrebungen der Inter— 
nationalen Arbeiteraſſoziation; und wie jene Maͤnner, 
welche jetzt ihren Tod vor Augen ſahen, an die Spitze der 
Stroͤmung getrieben wurden . . 

Sie verfuchte dann, jene ungeheure Aufregung zu 
ſchildern, welche den Maitagen des vorigen Jahres voran— 
ging: die fieberhafte Spannung in den Kreiſen der Ar— 
beiter, die erwachende Angſt in denen der Ausbeuter ... 
Die reißende Zunahme der Streikenden, bis zu jenem 
Tage, dem erſten Mai, der, von allen erwartet, die Ent: 
ſcheidung herbeiführen ſollte . 


3 


Dann ließ ſie die Maitage ſelbſt vor den Augen der 
Verſammlung emporſteigen: „— mehr als 25000 Arbeiter 
legen an ein und demſelben Tage ihre Arbeit nieder; 
in Zeit von drei Tagen hat ſich ihre Zahl verdoppelt. 
Der Streik iſt ein allgemeiner. Die Wut der Kapitaliſten 
iſt nur mit ihrer Angſt vergleichbar. Allabendlich werden 
an vielen Orten der Stadt Meetings abgehalten. Die 
Regierung entſendet ihre Buͤttel und laͤßt in eine dieſer 
friedlichen Znſammenkuͤnfte feuern: fuͤnf Arbeiter bleiben 
auf der Stelle. 

— Wer hat die Mörder dieſer Männer zur Rechenſchaft 
gezogen? — Niemand! 

Die Rednerin machte eine Pauſe. Man hoͤrte ihre 
innere Erregung aus dem Klange ihrer Stimme heraus, 
als ſie fortfuhr: 

— Am folgenden Abend wird von den Anarchiſten 
auf dem Haymarket ein Meeting einberufen. Es iſt ordent- 
lich; die Anſprachen der Redner ſind trotz dem Vorher— 
gegangenen ſo wenig aufreizend, daß der Mayor von 
Chicago — bereit, bei dem erſten ungeſetzlichen Wort die 
Verſammlung aufzuloͤſen — dem Polizeiinſpektor bedeutet, 
er koͤnne ſeine Leute nach Hauſe ſchicken. Aber ſtatt 
deſſen laͤßt derſelbe ſie abermals gegen die Verſammelten 
anruͤcken. In dieſem Augenblick fliegt von unbekannter 
Hand eine Bombe in die Reihen der Mae Die 
Polizei eröffnet ein moͤrderiſches Feuer ... 

— Wer hat die Bombe geworfen? — Vielleicht die 
Hand eines Verzweifelten, der ſich ſo gegen die neue 
Niedermetzelei verteidigen wollte; vielleicht — es war die 
in den Arbeiterkreiſen Chicagos vorherrſchende Meinung — 


5 


einer der beauftragten Agenten der Polizei ſelbſt: denn wer 
kennt nicht die Mittel, zu denen unſere Gegner greifen, 
um uns zu vernichten? — War es ſo, dann hat er ſeine 
Sache wohl beſſer gemacht, als man ſelbſt erwartet 
hatte 

— Wer hat die Bombe geworfen? — Wir wiſſen 
es ſo wenig, wie jene acht Maͤnner es wiſſen, die in 
dem ungeheuren Entſetzen, welches ſich nach dieſer Stunde 
uͤber Chicago breitete, aufs Geradewohl herausgegriffen 
wurden, da ſie die bekannteſten Namen in der Bewegung 
trugen, obwohl mehrere von ihnen uͤberhaupt auf der 
Verſammlung nicht zugegen geweſen waren. Aber was 
tat das? Es hinderte den Gerichtshof ebenſowenig, ſie 
gefangen zu nehmen, wie es ihn hinderte, ſie der ge— 
heimen Verſchwoͤrung fuͤr ſchuldig zu erklaͤren, trotzdem 
ſich einige unter ihnen nie vorher geſehen hatten. 

— Weshalb ſind ſie verurteilt? ſchloß ſie. — Nicht 
weil ſie ein Verbrechen begangen haben — nein, weil 
ſie die Anwaͤlte der Armen und Unterdruͤckten geweſen 
ſind! Nicht weil ſie Moͤrder ſind — nein, weil ſie es 
gewagt haben, dem Sklaven uͤber die Gruͤnde ſeiner 
Sklaverei die Augen zu oͤffnen. Dieſe Maͤnner, deren 
tadellofer Charakter ſogar nicht von den gehaͤſſigſten 
Angriffen der „Organe der öffentlichen Meinung“ be= 
ſchmutzt werden konnte, werden gehängt, weil fie ſelbſt— 
los, wahr und treu ihren Überzeugungen gedient haben 
in einer Zeit, in welcher unangetaſtet nur der bleibt, 
welcher als Luͤgner mit den Luͤgnern geht! 

Sie ſchwieg. Alles hatte geſpannt zugehoͤrt. Jetzt 
klatſchten viele. 


. 


Auban verfolgte ſie mit ſeinen durchdringenden 
Blicken, wie ſie die Treppe der Empore in den Saal 
hinunterſtieg und ſich, als ſie alle Baͤnke beſetzt fand, 
unbekuͤmmert und gleichguͤltig auf den Stufen derſelben 
niederließ. Es war, als wollte er durch die Hand, welche 
ſie wie in koͤrperlichen Schmerzen vor die Augen breitete, 
hindurchſehen in die Tiefe ihrer Seele, um auch hier 
die Beſtaͤtigung feiner tiefſten Überzeugung zu finden, 
welche die letzte war, die zu erwerben iſt: die Selbſtſucht 
alles Seienden. Und auch hier ſcheute er ſich nicht einen 
Augenblick, ſich zu geſtehen, daß dieſe Frau gluͤcklicher 
ſein mußte in dieſem Leben voll Muͤhe, Aufopferung 
und Entſagung, als ſie es geweſen waͤre, wenn ſie jenes 
weitergelebt hätte, welches fie in Wohlhabenheit und Sorg— 
loſigkeit hatte aufwachſen laſſen, und welches ſie verlaſſen 
hatte, um — wie ſie und alle andern glaubten, — der 
„Sache der Menſchheit“ zu dienen, waͤhrend ſie auch 
dann nur, wenn auch voͤllig unbewußt, dem Rufe ihres 
eigenen Gluͤckes gefolgt war. 

Das minutenlange Rauſchen und Sprechen im Saale 
legte ſich und Aubans Blicke und Gedanken wandten ſich 
wieder der Tribuͤne zu, von welcher die Stimme des 
Chairman den Namen des naͤchſten Redners herabrief. 

— Sehen Sie dort, ſagte Mr. Marell zu Auban. 
— Dieſer junge Mann kommt von Chicago. Er wird 
Ihnen einiges von dort erzaͤhlen. Er iſt erſt heute von 
Liverpool hier eingetroffen. 

Auban hoͤrte geſpannt zu: der Amerikaner erzaͤhlte 
einige der wenig bekannten Details des Prozeſſes, die 
das ganze Verfahren gegen die Angeklagten beſſer kenn— 


u ER 


zeichneten als alles andere. Er beſchrieb die Hergaͤnge bei 
der Zuſammenſetzung der Jury, indem er die Worte des 
Bailiff anfuͤhrte: „Ich habe dieſen Fall in Haͤnden und 
weiß, was ich zu tun habe. Dieſe Leute werden auf alle 
Faͤlle gehaͤngt. Ich lade ſolche Maͤnner zur Wahl, welche 
die Verteidiger verwerfen muͤſſen — bis ſie bei denen 
angelangt find, welche fie wahllos annehmen muͤſſen ...“ 
Er ſchilderte die Perſoͤnlichkeiten des Staatszeugen, jenen 
verlogenen Schuft, der von der Polizei Geld erhalten 
hatte, um alles zu ſagen, was dieſe wollte ... die beiden 
andern Belaſtungszeugen, denen man die Wahl geſtellt 
hatte, entweder mitgehaͤngt zu werden oder frei auszu— 
gehen und die „Wahrheit“ zu ſagen. „Werden ſolche 
Menſchen nicht alles ſagen, was man von ihnen ver— 
langt, wenn ſie Tod oder Freiheit vor Augen haben?“ 
rief der Redner, und laute Zuſtimmungsrufe aus allen 
Teilen des Saales folgten ſeinen Worten. Als er dann 
die Worte jenes brutalen und beruͤchtigten Polizeihaupt— 
manns wiedergab: „— wenn ich nur tauſend dieſer Sozia— 
liſten und Anarchiſten gleichzeitig in einem Buͤndel zu— 
ſammen haͤtte, mit ihren verdammten Weibern und ihrer 
Brut, ich wuͤrde kurzen Prozeß mit ihnen machen“; und als 
er von jener ehrloſen „paid and packed jury“ welcher 
für ihre Dienſte“ von den Geldprotzen Chicagos durch 
den Mund eines ihrer Organe die Belohnung von hundert— 
tauſend Dollars angeboten war, ſprach, brach ein ungeheurer 
Sturm von Entruͤſtung und Verachtung los. Zwiſchenrufe 
wurden laut, Drohungen hoͤrbar, und noch wogte die Auf— 
regung zwiſchen den Reihen der Verſammlung, als ſchon 
der junge Amerikaner abgetreten war und einem kleinen 


. 


Mann, gekleidet in langen Gehrock, mit dichtem und langem 
Vollbart, ſich lichtendem Haupthaar und unverkennbar 
ſlaviſchem Typus Platz gemacht hatte; und die Rufe der 
Entruͤſtung und des Unwillens verwandelten ſich plotzlich 
in jubelnde Zurufe des Erkennens und der Verehrung, 
der Begeiſterung und der Zuneigung. 

Gewiß waren unter den Tauſenden nicht viele, welche 
dieſen Mann nicht kannten, der vertrauter begrüßt wurde, 
als irgendeiner der engliſchen Leader; die nicht ſchon 
vernommen hatten von ſeinen merkwuͤrdigen Schickſalen, 
ſeiner wunderbaren Flucht aus den Feſtungen Petersburgs, 
die ihn nach Frankreich und dort von neuem in das 
Gefaͤngnis fuͤhren ſollte, um ihn endlich hier in England 
eine letzte Zufluchtsſtaͤtte finden zu laſſen — vernommen 
in jener ſich widerſprechenden, ſich durchkreuzenden Weiſe, 
welche eine Perſon in den ferner ſtehenden Kreiſen von 
ſelbſt mit dem Schimmer des Fremden und Ungewoͤhn— 
lichen umgibt; welche nicht wußten, was dieſer Mann 
fuͤr die „Sache“ getan hatte und noch tat. Seine 
Schriften, verſtreut in den revolutionaͤren Organen des 
„anarchiſtiſchen Kommunismus“ aller Sprachen, waren es, 
die ſeit einer Reihe von Jahren fuͤr die kommuniſtiſchen 
Anarchiſten die unerſchoͤpfliche und oft einzige Quelle ihrer 
Propaganda bildeten. Jeder kannte ſie; jeder las ſie 
wieder. Seine Kraft, die er einſt der geheimen inneren 
Bewegung in Rußland gewidmet hatte, gehoͤrte nun der 
internationalen an; und gewiß hatte dieſe ebenſoviel an 
ihm gewonnen, als jene an ihm verlieren mußte. Dieſe 
Kraft war unerſetzlich, und weil jeder dies wußte, dankte 
es ihm jeder, der ihn ſah. 


RR, ER 


Er war Kommuniſt. Das Blatt, welches in Paris 
in franzoͤſiſcher Sprache erſchien und welches er, dem der 
Aufenthalt dort unmoͤglich gemacht war, von London aus 
leitete, nannte ſich „kommuniſtiſch-anarchiſtiſch“. Er hatte 
es verſucht in geiſtvollen Aufſaͤtzen, welche in einer der 
bedeutendſten Monatsſchriften Englands erſchienen, die 
„wiſſenſchaftlichen Grundlagen“ ſeines Ideals zu geben, 
welches er glaubte Anarchie nennen zu duͤrfen. Aber auch 
aus dieſen Arbeiten, welche einen ungefaͤhren Begriff von 
dem Umfange der Kenntniſſe ihres Verfaſſers in bezug 
auf alle Fragen des Sozialismus und von ſeiner enormen 
Beleſenheit gaben, war es Auban nicht gelungen, ſich ein 
Bild von der Möglichkeit dieſer Theorien in der Wirklich—⸗ 
keit zu machen. Und er ſah auch aus dem Wahnglauben 
an dieſe neue und doch ſo alte Religion nichts ſprießen 
als eine neue Mißernte von Unfreiheit, Unordnung und 
innerlichſtem Elend ... 

Waͤhrenddeſſen hatte der, dem dieſe Gedanken galten, 
in nervoͤſer Erregung — wie unzaͤhlige Male mochte er 
ſchon fo an dem Ufer des brauſenden Menfchenmeeres 
geſtanden haben! — darauf gewartet, daß ſich der Bei— 
fallsſturm legen moͤchte, der zu ihm hinaufbrauſte. Nun 
begann er in jenem harten, klaren Engliſch des Ruſſen, 
der die Sprachen aller Laͤnder ſpricht, in denen er lebt. 
Man glaubte ihn erſt nicht verſtehen zu koͤnnen; nach 
drei Minuten war es unmöglich, ein Wort feines leben— 
digen und hinreißenden Vortrages zu verlieren. „Als 
was erſcheinen die Vorgaͤnge in Chicago?“ fragte er. 
Und er gab die Antwort: „Als eine Rache an Gefangenen, 
die gemacht ſind in dem Kampf zwiſchen den beiden 


großen Klaſſen. Wir proteftieren dagegen als gegen eine 
Grauſamkeit und eine Ungerechtigkeit. Es iſt die Schuld 
unſerer Gegner,“ rief er, „wenn ſolche Verbrechen den 
Kampf immer furchtbarer, immer erbitterter, immer un— 
verſoͤhnlicher machen. Es iſt das keine Angelegenheit, 
welche nur das amerikaniſche Volk angeht: das Unrecht, 
an den beſitzloſen Arbeitern jenes Landes veruͤbt, trifft 
uns mit gleicher Wucht. Die Arbeiterbewegung iſt ihrem 
ganzen Weſen nach international; und die Arbeiter jedes 
Landes haben die Pflicht, ihre Mitarbeiter in einem anderen 
aufzurufen und zu unterſtuͤtzen im Widerſtande gegen ſolche 
Verbrechen, welche an ihnen ſelbſt begangen werden!“ 

Er ſprach nicht ſehr lange; aber was er ſagte, erregte 
ihn wie die Hoͤrer gleichmaͤßig ſtark. Der unentrinnbare 
Ernſt ſeiner Worte, ſein blitzendes Auge, ſeine bebende 
Leidenſchaftlichkeit erweckten in dem Gleichguͤltigen eine 
Ahnung von der Bedeutung einer Sache, die er nicht 
verſtand, und ſtaͤrkte in deren Bekennern den Glauben 
an ihre Gerechtigkeit und an ihre Groͤße. In demſelben 
Moment, in dem er geendet, hatte er ſchon den Platz ver— 
laͤſſen, als wolle er ſich dem neu ausbrechenden Beifall 
entziehen, und ſaß im naͤchſten wieder ernſt und bleich 
unter den Zuhoͤrern, geſpannt mit ihnen die Worte ſeines 
Nachredners verfolgend, der — als Delegierter eines 
großen Londoner liberalen Klubs — darauf aufmerkſam 
machte, daß jene Ereigniſſe, welche heute druͤben ge— 
ſchehen, morgen ſchon hier im eigenen Lande ſich ereignen 
koͤnnten 

Auban vernahm nicht mehr, was dieſer und jeder 
der noch nachfolgenden Redner ſagte. Er war in Ges 


Ka Ne RR 


danken verſunken. Noch immer ſaß er jo unbeweglich 
wie vor einer Stunde da, die Fuͤße uͤber den vorgeſtreckten 
Stock gekreuzt, die Haͤnde auf ſeinen Griff geſtemmt, 
und ſtarrte vor ſich hin. Die Stimmen der Redner, 
das Gemurmel wie das Beifallsrufen und ⸗klatſchen der 
Menge — das alles klang wie aus einer weit abliegenden 
Ferne zu ihm her. Er war oft in den letzten Tagen 
— beim Durchwandern brauſender Straßen — von dieſem 
Gefuͤhl der Abweſenheit uͤberwaͤltigt worden: dann dachte 
er an jene Tage, in welchen die Menſchheit aufatmend 
einmal wieder ſich befreit hatte von einem ihrer Tyrannen, 
und an die Tage, in welchen deſſen wertlofes und fluch— 
beladenes Leben geraͤcht wurde an vielen unſchaͤtzbar— 
teuren. Und er dachte an die Heldengeftalten jener 
Maͤrtyrer, an ihre ſchweigenden Opfer und an ihr nur 
einem Gedanken geweihtes Leben. Er dachte an ſie, ſo 
oft er einen von denen ſah, auf deren Stirnen noch 
der Schatten jener Tage zu liegen ſchien. Aber nicht 
mehr vermochte es ihm uͤber alles groß und beneidens— 
wert erſcheinen, jo zu leben und fo zu ſterben ... Vers 
fluͤchtigt hatte ſich jene Leidenſchaftsglut, welche ſeine 
ganze Jugend verzehrt hatte und welche in Aſche gelegt 
war unter den kalten Hauchen des Verſtandes, der un— 
aufhoͤrlich und raſtlos alle unſere wirren Gefühle be— 
kaͤmpft, bis er uns mit dem Glauben an die Gerechtigkeit 
auch den letzten genommen hat, und nun ſelbſt — als 
der einzig berechtigte — Leiter und Lenker unſeres Lebens 
geworden iſt. 

Zuviel Blut hatte er fließen ſehen, als daß er nicht 
gewuͤnſcht haͤtte, die Erfolge des Friedens endlich zu er— 


IE 


blicken. Aber wie war das möglich, wenn das Ziel immer 
verſchwommener, die Wuͤnſche immer unmoͤglicher und die 
Leidenſchaften immer mehr entfeſſelt wurden?! — 

Wieder ſollten ſich jene Tage, an welche er dachte, 
nun in Wirklichkeit wiederholen! Wieder das Blut der 
Unſchuldigen in Stroͤmen fließen, um die ungezaͤhlten 
Verbrechen, begangen von der Macht an der Schwachheit, 
der Willenloſigkeit, der Einſichtsloſigkeit, zu verbergen! 
Was wollten doch alle dieſe Menſchen, die hier ſo be— 
geiſtert ſchienen, ſo uͤberzeugende Worte der Wahrheit 
fanden? Proteſtieren? Wann hatte ſich das privilegierte 
Unrecht, welches die Macht der Gewalt ſich kaufte, je um 
Proteſte gekuͤmmert? — 

Warum unterlagen ſie? Weil ſie die Schwaͤcheren 
waren. Aber was iſt Schuld? Iſt es nicht ebenſo große 
Schuld, ſchwach zu ſein, als ſtark zu ſein, wenn es uͤber⸗ 
haupt eine Schuld gibt? Weshalb waren ſie nicht die 
Staͤrkeren? 

Mit der grauſamen Haͤrte ſeiner durchdringenden 
Logik pruͤfte und ſezierte er weiter. Der Schmerz, der 
hier ſo beredt aus allen Mienen und allen Worten ſprach: 
zuſehen zu muͤſſen dem Verbrechen, war er nicht doch 
geringer, als der, den der Verſuch, es tatſaͤchlich zu ver 
hindern, bereitet haͤtte? Weshalb ſonſt gaben ſie ſich alle 
hier zufriedeu, zu proteſtieren und nur zu proteſtieren? 

Gewiß, fie hätten die Staͤrkeren fein konnen. Aber 
weshalb anders waren ſie es nicht, als weil ſie die 
Schwaͤcheren waren? 

Es war eine große Leere und Kaͤlte in ihm nach der 
auflodernden Leidenſchaft. Es war ihm, als ſchwebe er 


IE 


in einer eiſigen Luftewigkeit ohne Raum und Grenze 
und verſuche in der Angſt des Todes ſich an dem Halt— 
loſen zu halten. — — 

Der alte Herr, welcher neben ihm ſaß, ſah in dieſem 
Augenblick in Aubans Geſicht. Es war aſchgrau und 
in ſeinen Augen loderte ein zuſammenſinkendes Feuer. 

Auf der Empore trat unterdeſſen unermuͤdlich ein 
Redner nach dem andern auf. Die Erregung ſchien noch 
im Wachſen zu ſein, obwohl gewiß in dem ganzen weiten 
Saale nicht einer war, der nicht von ihr bereits ergriffen 
war, mit Ausnahme jener Reporter vielleicht, die geſchaͤfts— 
maͤßig ihre Blaͤtter mit Notizen fuͤllten. 

Auban hoͤrte nichts mehr. Einmal hatte er ſich halb 
erhoben, als habe er ſich entſchloſſen, zu ſprechen. Aber 
er hatte geſehen, daß die Reihe der Sprecher noch nicht 
erſchoͤpft war, und er gab es auf, jenes Wort zu ſagen, 
welches heute Abend nicht geſagt werden ſollte. — 

Nur einmal noch in der folgenden letzten Stunde 
ſchaute er auf. Der Name eines Mannes war genannt 
worden, den England in die Geſchichte ſeiner Dichtkunſt 
des 19. Jahrhunderts laͤngſt neben die glaͤnzendſten un⸗ 
verwiſchbar eingetragen hatte; den das Kunſtgewerbe einen 
ſeiner Erneuerer und taͤtigſten Foͤrderer nannte; und 
der endlich einer der gruͤndlichſten Kenner und hervor— 
ragendſten Vertreter des engliſchen Sozialismus war. 
Dieſer merkwuͤrdige und einzige Mann — Dichter, Maler 
und Sozialiſt in einer Perſon und Meiſter in allem — 
hatte trotz ſeiner weißen Haare die Lebendigkeit und Friſche 
eines Juͤnglings. Unvergeßlich war noch immer für 
Auban einer feiner zahlloſen Vorträge, die er heute in 

vin 5 


. 


irgendeinem der kleinen Klubſaͤle der Socialist League- 
Branchen in London vor Hunderten und morgen in Edin⸗ 
burgh oder Glasgow auf oͤffentlichen Verſammlungen vor 
Tauſenden hielt, geblieben: „The coming society“. 
Und nie hatte er ſich vor Aubans Augen verlockender und 
begehrlichztäufchender das Bild der „freien Geſellſchaft“ 
hingeſtellt als unter dem Banne dieſer Worte, denen der 
Dichter Zauber und Schoͤnheit, der Kuͤnſtler Plaſtik und 
Fuͤlle und der Denker Beweiskraft und Überzeugung zu 
leihen ſuchte. „Wie ſchoͤn es waͤre, wenn es ſo ſein 
koͤnnte — wie alles aufgelöft wäre in Harmonie und 
Frieden —“ hatte er damals gedacht. 

Ein alter Barde und Patriarch und doch wieder der 
natuͤrlichſte, geſuͤndeſte alte Engländer — der Self-made— 
man — in blauem, hemdloſem Kragen und bequemſtem 
Anzuge ſtand er da und erzaͤhlte mehr, als er ſprach, 
von den Tagen von Chicago. 

Der Beifall, mit dem ſein Kommen und Abtreten 
begruͤßt wurde, gab Zeugnis von der Popularitaͤt dieſes 
Mannes, deſſen Lebendigkeit und Tatkraft fuͤr die Sache 
der ſozialen Bewegung keine Ermuͤdung zu kennen ſchien. — 

Die zehnte Stunde war lange vorüber, als der Chairs 
man ſich erhob, um mit ſeiner klaren lauten Stimme 
die Reſolution zu verleſen. Die Haͤnde flogen in die 
Hoͤhe — keine erhob ſich bei der Gegenfrage —: die Re— 
ſolution war einſtimmig angenommen. Ein Kabel⸗ 
telegramm wurde nach New Pork gefandt, wo am fol- 
genden Tage aus demſelben Anlaß ein demonſtratives 
Meeting ſtattfinden ſollte — es Age die Wünfche der 
hier Verſammelten über das Meer. 


„„ 


Dann begann der Saal ſich langſam zu leeren. Die 
lebhaft ſprechende, aufgeregte Menge ſchob ſich allmaͤhlich 
durch die Tuͤren ins Freie, die Reporter packten ihre 
Blaͤtter zuſammen, einzelnes noch miteinander ver— 
gleichend, die Tribuͤne wurde leer. Nur jene Frau, 
welche zuerſt geſprochen hatte, ftand noch bei dem Chair: 
man, die Atheiſtin und Kommuniſtin neben dem Prieſter 
der Kirche und dem chriſtlich-ſozialen Demokraten. 

Wahrſcheinlich ließ ſie ſich noch einige Namen und 
Notizen fuͤr ihr kleines, allmonatlich in vierſeitiger 
Staͤrke erſcheinendes Blatt geben. Als Auban jene beiden 
ſah, dachte er, wie innerlich ſich ihre Anſchauungen be— 
ruͤhrten und wie es doch nur Scheinwaͤnde waren, was 
ſie zwiſchen ſich ſahen. Und ferner: wie unvereinbar 
ſchroff er ſelbſt gerade dem, was jene verband, gegenuͤber— 
ſtand. f 

Nachdem er ſich herzlich von dem alten Herrn, der 
noch von dem jungen Amerikaner zuruͤckgehalten wurde, 
verabſchiedet hatte, ging er langſam und allein hinaus. 


An der Tuͤr ſtanden noch die Genoſſen mit ihren 
Blaͤttern, deren Namen ſie riefen. 

Auban erkannte einen unter ihnen, welcher der 
„Autonomie“ angehoͤrte, einen jungen Mann mit blondem 
Bart und freundlichen Zuͤgen. Er fragte ihn nach Trupp 
und erhielt die Beſtaͤtigung, daß er nicht dageweſen war. 
— Als er hinaustreten wollte, erhielt er einen Schlag 
auf die Schulter. Er wandte ſich um. Vor ihm ſtand 


ein ſeltſamer alter Mann, deſſen Geſicht man wohl nicht 
6 * 


1 


mehr vergaß, wenn man es einmal geſehen hatte. Es 
war alt, eingefallen, durchfurcht und ſcharf geſchnitten, 
der Mund lag zuruͤck, ſo daß das unraſierte Kinn hart 
hervortrat, die Oberlippe war von einem kurzgeſchnittenen, 
ſtruppigen Bart bedeckt, die Augen lagen hinter einer 
großen Stahlbrille verborgen, aber in Augenblicken der 
Erregung blitzend und dieſem alten Antlitz, welches Kummer 
und Muͤhſal veraͤndert hatten, um ſeine charakteriſtiſchen 
Eigenſchaften, ohne fie verwiſchen zu koͤnnen, nur ſchaͤrfer 
hervortreten zu laſſen, noch immer etwas Kuͤhnes ver- 
leihend. — Sonſt aber ſchien die Geſtalt des Alten 
gedruͤckt unter der ſchwer niederziehenden Wucht einer 
maͤchtigen, uͤberfuͤllten Ledertaſche, welche an ſeiner Seite 
hing. Um den Hals trug er ein viel geknotetes, bunt⸗ 
farbiges Wollentuch, welches das Hemd verdeckte und 
das er auch im heißeſten Sommer ſo wenig ablegte, 
wie den abgetragenen braunen Mantel. 

— Halloh, alter Freund, rief Auban und ſchuͤttelte 
ihm die Hand, — ſeid Ihr auch da? — Kommt, wir 
wollen ein Glas trinken. 

Der Alte nickte. 

— Aber kein Ale, comrade, kein Brandy, nur eine 
Lemonade — ie 

— Seid Ihr denn Temperenzler geworden? fragte 
Auban laͤchelnd. Aber der Alte ging bereits voran. 

Sie traten in das große Public-Houſe an der naͤchſten 
Straßenecke. Die geraͤumige Privatabteilung am Ende 
war ziemlich leer, während die übrigen überfüllt waren. 
Auban erkannte eine Gruppe von engliſchen Sozialiſten, 


„ 


die ebenfalls ſoeben dem Meeting beigewohnt hatten. 
Man ſchuͤttelte ſich die Haͤnde. 

Dann nahm er dem Alten ſeine Taſche ab, beſtellte 
und fie ſetzten ſich auf eine der Baͤnke. 

Es wurde keine Verſammlung von Sozialiſten in 
London abgehalten, ohne daß dieſer Alte auf ihr zu ſehen 
war. Seit wie langen Jahren? Keiner wußte es. Aber 
jeder kannte ihn. Der eine oder der andere hatte auch 
wohl ſchon gelegentlich eine ſeiner originellen Reden oder 
Anſprachen gehoͤrt und gefragt, wer denn dieſer alte, 
grauhaarige Mann mit den ſcharfen Zügen ſei, der mit 
ſo jugendlicher Leidenſchaftlichkeit ſeine wilden Anklagen 
gegen das Beſtehende ſchleuderte und mit ſo jugendlicher 
Wärme fein Ideal der Bruͤderlichkeit und Gleichheit vers 
teidigte. Dann mochte er die Antwort erhalten haben, 
es ſei ein alter Kolporteur, der ſeinen Unterhalt durch 
den Verkauf ſozialiſtiſcher Broſchuͤren und Zeitſchriften 
verdiene. 

Wer er aber wirklich war, wußten nur wenige. 

Er erzaͤhlte gern, und ſo hatte er einmal zu Auban 
geſagt, daß er ſchon an der Chartiſtenbewegung teil: 
genommen; und Auban wußte auch, daß ſeine Broſchuͤren 
und Elaborate unter den Millionen Buͤchern des britiſchen 
Muſeums, dieſes einzigen wirklich ſozialen Inſtitutes der 
Welt, genau fo forgfältig gebunden, numeriert und Fa- 
talogiſiert zu finden waren, wie die ſeltenſte Handſchrift 
vergangener Jahrhunderte. 

— Nun, was habt Ihr Neues? fragte er, als fie 
ſich geſetzt hatten. 

Der Alte zog feine Ledertafche heran und packte aus. 


\ 


„ 


Sorglos und unbekuͤmmert um die Umſtehenden, ſtreute 
er ſeine Zeitſchriften und Blaͤtter um ſich her, waͤhrend 
er fuͤr Auban ausſuchte, was dieſer noch nicht beſaß, 
und mit ſeiner lauten Stimme ſeine originellen Urteile 
über den Wert und Unwert des einzelnen abgab. 

— Was iſt denn das? fragte Auban und griff nach 
einem kleinen Heft, das ſeine Aufmerkſamkeit erregte. — 
„Impeachment of the Queen, Cabinet, Parliament and 
People. Fifty years of brutal and bloody Monarchy.“ 
Auban ſah erſtaunt auf die Ausſtattung dieſes ſeltſamen 
Opus: es war mit durchweg gleichgroßen, groben Buch— 
ſtaben geſetzt, welche nur zum kleinen Teil klar, aber 
dennoch bei ihrer unverhaͤltnismaͤßigen Größe ſtets er— 
kennbar herausgekommen waren; da das Papier von dem 
unregelmaͤßigen Druck durchſchlagen war, war immer nur 
eine Seite bedruckt und je zwei Blaͤtter zuſammengeklebt; 
und da das Ganze — acht ſolcher Blaͤtter ſtark — muͤh⸗ 
ſam und unregelmaͤßig mit der Schere beſchnitten war, 
ſo betrachtete es Auban mit einiger Verwunderung. Er 
las einige Zeilen, welche, unter ſeltſamer Verwendung 
der Abſaͤtze und Interpunktionszeichen, eine leidenſchaft⸗ 
liche Anklage im Lapidarſtil gegen die Koͤnigin bildeten. 
— „Revolt, workers, revolt! Heads off!“ — las er 
mit zentimeterhohen Buchſtaben auf einer der folgenden 
Seiten. 

— Was iſt denn das?! fragte er. 

Über das Geſicht des Alten zog ein Lächeln. „Das 
iſt mein Jubilaͤumsgeſchenk fuͤr die Koͤnigin,“ rief er. 
— Aber warum denn in dieſer primitiven Form? 

Der Alte ſchuͤttelte ſeinen grauen Kopf. 


3 


— Look here! fagte er und nahm ſeine Brille ab. 
— Meine alten Augen ſehen nichts mehr. Da muß ich 
mich behelfen und große Lettern nehmen, die ich fuͤhlen 
kann, mit den Fingerſpitzen, eine nach der andern. — 
Da iſt kein Druckfehler, nur die Interpunktion — 

— Und Ihr habt das ſelbſt gedruckt? 

— Geſetzt mit den Fingern ohne Augen, — und ohne 
Manuſkript, aus dem Kopf — gedruckt ohne Preſſe, 
immer nur eine Seite, geheftet und herausgegeben — 

— Aber das war eine Rieſenarbeit. 

— Schadet nichts. Aber es ift gut. Das muß der 
Arbeiter leſen! 

Auban ſah ſtaunend auf den unfoͤrmlichen Druck und 
dachte mit einer Art von Bewunderung an die ungeheure 
Muͤhe, welche das Zuſtandebringen dieſer wenigen Blaͤtter 
dem Alten gemacht haben mußte. Ob es wohl im Zeit⸗ 
alter der Marinonipreſſen noch ein zweites ſolches Druck— 
werk gab, ſo grotesk in ſeinem Außern, an die Anfaͤnge 
Gutenbergſcher Buchdruckerkunſt erinnernd? Auban las: 
„Fuͤnfzig Jahre immer wachſender Wohlſtandsvoͤllerei und 
Verbrechen, begangen von den koͤniglichen, ariſtokratiſchen 
und verdammenswerten Klaſſen —“ ſo begannen ſie, 
und ſetzten ſich fort in einer wirr durcheinander geratenen 
Aufzaͤhlung der Koſten der Kriege, einer wahlloſen, meiſt 
aus. perfönlicher Erinnerung zuſammengehaͤuften Menge 
von Namen, um mit einer heftigen Verwuͤnſchung zu 
enden: „O, die Fluͤche von tauſend gemordeten, ver— 
hungerten Menſchen moͤgen uͤber dich kommen, Viktoria 
Guelph, auf Deine brutale und blutige Monarchie — “, 
und mit wachſendem Erſtaunen las Auban auch die 


BR. 


letzte Seite, aus welcher ihm in ungefügten und wirren 
Worten eine heiße Empoͤrung entgegenloderte. 

Auch die Englaͤnder, welche den Alten kannten, waren 
neugierig naͤher getreten. Man nahm ihm lachend ab, 
was er an Exemplaren bei ſich hatte. 

Dann packte der Alte ſeine Sachen wieder in die 
Taſche, warf ſie mit einem kraͤftigen Ruck uͤber die 
Schulter, ſtuͤlpte ſeine Huͤte — er trug ſtets zwei Filz⸗ 
huͤte übereinander gezogen und es war das eine feiner uns 
verwuͤſtlichen Eigenheiten — auf den grauen Kopf und 
verließ mit lautem, hartem Lachen, von Auban begleitet, 
den Ort. Sie gingen zuſammen nach Moorgate-Station. 
Der Alte ſprach fortwährend, halb für ſich und fo un⸗ 
deutlich, daß Auban auch die andere Haͤlfte nur ſchwer 
verſtehen konnte; aber er kannte ihn und ließ ihn ruhig 
gewaͤhren, machte der Alte doch ſtets auf ſolche Weiſe 
ſeinem Grolle Luft. 

Auch als er ſich ſchon mit einem feſten Haͤndedruck 
verabſchiedet hatte, ſah Auban ihn noch, wie er geſti⸗ 
kulierend und vor ſich hinredend weiter ging. Dann ver⸗ 
ſchwand er in dem treibenden Strom, und Auban trat 
an den Schalter von Moorgate-Station. 


Auf der mittleren Plattform des unterirdiſchen Rieſen⸗ 
raumes fand er ſich wieder mit einer Anzahl Bekannten 
zuſammen, welche wartend daſtanden und fich unter⸗ 
hielten. Einige der Sprecher des heutigen Abends waren 
unter ihnen. Auban ſetzte ſich muͤde in eine Ecke. 

Zuͤge raſten ein und aus; die Holztreppen hinab und 


er.” 


wa 


hinauf drängten und polterten die Maſſen. Die Halle 
war durchzogen von dem weißgrauen Rauch und Dampf 
der Maſchinen. Er ſtrich über die Plattformen und die 
dort Stehenden hin, kraͤuſelte ſich um die unzähligen ge: 
ſchwaͤrzten Pfeiler, Balken und Pfoſten, legte ſich ſchmei⸗ 
chelnd wie ein Schleier an die Decke hoch oben, und ſuchte 
ſich endlich durch die Luftoͤffnungen ſeinen Weg hinaus 
auf die Straße, in das Leben, in den Laͤrm und in das 
Getoͤſe von London hinaus. 


— Well, comrade, wurde der ihnen Nachſehende 
plotzlich von dem neben ihm Sitzenden, einem engliſchen 
Schriftſteller ſozialer Aufſaͤtze und Werke, gefragt, — was 
denken Sie uͤber Chicago? 


Er war Auban nicht ſympathiſch, und daß dieſer nie 
ein Hehl aus ſeinen Sympathien und Antipathien machte, 
war ihm nicht unbekannt. Trotzdem draͤngte er ſich bei 
jeder Gelegenheit an ihn heran. Auban wußte ganz gut, 
daß er wie alles, ſo auch die entſetzlichen Vorgaͤnge, nach 
denen er fragte, kuͤhlen Herzens verarbeiten wuͤrde. Er 
ſah ihm unhoͤflich und ohne zu antworten ins Geſicht. 

Dem andern war dieſer ſtarre und gleichguͤltige Blick 
unertraͤglich. 


— Well, ſagte er wieder, — denken Sie nicht, daß 
der Bourgeoiſie keine Schaͤndlichkeit gegen das Volk zu 
ſchaͤndlich iſt, wenn es die Erhaltung ihrer elenden Vor: 
rechte gilt —? 

— Certainly, Sir, ſagte Auban, — würden Sie, wenn 
Sie an das Ruder gelangt ſind, etwa eine andere Taktik 
befolgen? — und er ſah zu dem Frager empor, mit 


Ne u 


feinem ſarkaſtiſchen und überlegenen Lächeln, deſſentwegen 
er jo verhaßt war bei allen, die er nicht liebte. Und 
ohne ein weiteres Wort ſtand er auf, nickte und ſtieg 
ſchwer und langſam in den heranbrauſenden Zug, der 
ihn nach einer Minute voll Laͤrm, Wirrwarr und Tuͤren⸗ 
ſchlagen mit raſender Eile in der Richtung nach Kings 
Croß fort trug. 


Drittes Kapitel 


Die Arbeitsloſen 


Nun hatte die Weltſtadt an der Themſe, die „größte 
Warze der Erde“, wieder ihr alljaͤhrliches Schauſpiel: 
den unheimlichen Anblick jener Scharen, welche nur 
ein Übermaß von Elend — das Schreckgeſpenſt des 
Hungertodes — aus ihren Hoͤhlen zu treiben vermochte, 
um ſich im Herzen der Stadt, auf jenem weltberuͤhmten 
Platze, welcher der Erinnerung an vergangene Tage 
„des Ruhms und der Groͤße“ geweiht iſt, mit der Frage 
zu beſchaͤftigen: „Was tun, um morgen noch zu leben? 
Wie dieſen langen Winter ohne Arbeit und ohne Brot 
uͤberſtehen?“ . 

Denn dieſe Ungluͤcklichen, die laͤngſt gelernt hatten, 
daß es fuͤr ſie keine Rechte auf der Erde gab: weder 
auf einen Fußbreit ihres Bodens, noch auf das geringſte 
ihrer Guͤter — ſie hatten jetzt auch ihr letztes „Recht“: 
das Recht, ſich fuͤr andere totſchinden zu duͤrfen, ver— 
loren, und ſtanden Geſicht an Geſicht mit jenem Schreck— 
bild, welches der treueſte Begleiter der Armut durch ihr 
ganzes Leben iſt, dem Hunger. 

Die Verzweiflung war es, die dieſe Menſchen, deren 
Beſcheidenheit und Genuͤgſamkeit ſo groß war, daß ſie 


ge 7 


aufhoͤrte, begreiflich zu fein, hinaustrieb unter die Augen 
des oͤffentlichen Lebens. 

Der feuchte, unfreundliche Oktober ging zu Ende. Die 
Tage wurden kuͤrzer und die wilden Stunden des nächt: 
lichen Lebens laͤnger. 

Schon in den Morgenſtunden fuͤllte ſich die weite, 
kalte Flaͤche von Trafalgar Square mit den Geſtalten des 
Elends. 

Aus allen Teilen der Stadt kamen ſie her: gluͤcklich, 
wen die Not noch nicht zur Aufgabe der eigenen Woh⸗ 
nung, des Schmutzloches im Keller oder im fuͤnften 
Stock, und des Winkels von Zimmer gezwungen hatte; 
glücklich auch der noch, welcher im Laufe des Tages mit 
Hilfe eines guten Zufalls ſo viel hatte auftreiben koͤnnen, 
um in einem der Lodginghaͤuſer Unterkunft zu finden 
— aber auf den meiſten dieſer kranken, bleichen und 
muͤden Geſichter war nur zu deutlich erkennbar, daß ſie 
die kalte Nacht durch auf einer Bank am Themſe Embank⸗ 
ment oder in einem Torweg oder Durchgang von Covent 
Garden „geruht“ hatten. 

Die „Unemployed!“ Ja, ſie machten wieder viel 
von ſich reden in dieſem Jahr der Gnade! Seit 35 Jahren 
traten ſie nun ſchon ſo Jahr fuͤr Jahr bei Beginn des 
Winters vor das Antlitz des Reichtums hin. Und jedes 
Jahr wurde ihre Zahl groͤßer, jedes Jahr ihr Auftreten 
ficheter, jedes Jahr ihre Forderungen beſtimmter! Noch 
ſtanden in wacher Erinnerung die Februarriots von 
1886, bei denen es ohne Eigentumsberaubungen nicht 
abgegangen war. Sie hatten nichts gemein mit irgend⸗ 
einer Partei; ſie hatten keine erklaͤrten Fuͤhrer im Par⸗ 


„ 


liament Houſe, welche ihre Rechte „vertraten“ — der 
Hunger war ihr Leiter und Treiber; keine Organiſation 
ſchloß ſie zuſammen, doch das Elend ſchweißte ſie anein⸗ 
ander. Woher kommen in den Tagen politiſcher und 
ſozialer Empoͤrungen plöglich die unbekannten Mitkaͤmpfer, 
wie Ratten aus ihren Löchern — ah, es find die Re: 
kruten der großen Armee des Schweigens, welche nie 
mitgezaͤhlt wurden und doch ſo oft die Entſcheidung 
herbeifuͤhrten ... Es find die Glieder jener großen 
Maſſe, welche ſich Volk nennt: die Rechtloſen, die Aus⸗ 
geſtoßenen, die Namenloſen, jene, die nie waren und nun 
plotzlich find, ein enthuͤlltes Geheimnis und ein weſen⸗ 
werdender Schatten, ein zum Leben erwachter Scheintoter, 
ein jaͤhlings zum Mann gereiftes, nie beachtetes Kind 
— das iſt das Volk! 

Man rechnete nie mit ihm, da es keine Rechte be— 
ſaß; nun rechnet es ſich ſelbſt mit und ſeine Zahlen 
zermalmen 

Ihr Luͤgner, die Ihr in ſeinem Namen groß geworden 
ſeid, unter ſeinem Deckmantel die Verbrechen Eurer Ge— 
walt begangen habt, wie ſeid Ihr ploͤtzlich zu nichte 
geworden! Ihr habt es betrogen, verraten und verkauft 
— ein Wort, ein Geſpenſt, ein Nichts war es, mit dem 
Ihr hantiertet nach Luſt und Gefallen — und nun tritt 
es plöglich vor Euch hin! Leibhaftig vor Euch hin!... 

Gleichguͤltig, verſtaͤndnislos und hartherzig, wie immer, 
ſtand die Bourgeoiſie und ihre Regierung den Arbeits⸗ 
loſen auch in dieſem Jahre gegenuͤber. Als ihr taͤglicher 
Anblick unangenehm zu werden begann, rief ſie nach 
der Polizei, und ließ ſie vom Square vertreiben. Sie 


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gingen in den Hyde Park; man ließ ſie auf den Square 
zuruͤckkehren, um fie von neuem brutal zu verjagen. 
Man reizte ſie, um ſie verhaften zu koͤnnen; und 
wenn ſie vor dem Richter ſtanden, erklaͤrte dieſer ihre 
Aufzuͤge fuͤr „theatraliſch“ — und keine Hand erhob ſich, 
dieſem Buben ins Geſicht zu ſchlagen; ſie wandten ſich 
an den Staat, mit der demuͤtigen Bitte um Arbeit, und 
der Staat gab ihnen die Antwort, daß er nicht imſtande 
ſei, ihnen zu helfen — aber ihr Blick reichte natuͤrlich 
nicht weit genug, um zu ſehen, daß gerade dieſer Staat 
es war, der fie verdarb; nur muͤder, hungriger und vers 
bitterter noch als vorher kehrten ſie von ihren frucht⸗ 
loſen Bittgaͤngen um — Arbeit bei den Behoͤrden zuruͤck; 
und wenn der frühe Morgen graute, ſtanden Scharen 
von ihnen hungernd und furchtbar erregt an den Gittern 
der Docks, wo alltaͤglich eine nicht geringe Anzahl kraͤftiger 
Haͤnde zum Aus- und Einladen der Dampfer gebraucht 
wurde. Wem es gelang, ſich durch ſtundenlanges Warten 
und ruͤckſichtsloſen Gebrauch der Faͤuſte und Ellbogen 
vorzudraͤngen und angenommen zu werden, dem war 
fuͤr einen Tag geholfen. Aber verhaͤltnismaͤßig — wie 
wenige waren das! Die meiſten kehrten, Verzweiflung 
im Herzen und einen Fluch uͤber dies elende Leben auf 
den Lippen, zuruͤck zu ihren Leidensgenoſſen, um zu hoͤren, 
wozu dieſe nun rieten — fie hatten ja „nichts zu tun“... 
Seit Wochen ſchon dauerten ihre Zuſammenkuͤnfte; 
und ſeit Wochen brachten die Londoner Tageszeitungen, 
froh, einen neuen Stoff zu haben, um ihre endloſen 
Spalten zu fuͤllen, lange Aufſaͤtze zu der Frage der 
„Unemployed“: viel weiſe Lehren — und keine Spur 


NENNT ER 


. 


von Verſtaͤndnis fuͤr die eigentlichen Gruͤnde dieſes Elends; 
viel ſchoͤne Worte — und kein einziger Weg der Rettung 
fuͤr die Ungluͤcklichen. Jede unter ihnen wußte ein anderes 
Heilmittel gegen das Übel und brachte es vor mit dem 
laͤcherlichen Ton der Unfehlbarkeit — darin aber waren 
alle einig, daß es eine Schmach für „ein geordnetes Ge: 
meinweſen“ ſei, daß dieſes verkommene Geſindel ſich 
unterſtehe, ſein Elend auch noch oͤffentlich zu zeigen. 
Mochten ſie doch verhungern bei Tag und erfrieren bei 
Nacht, ſchweigend da draußen in ihren Winkeln und 
Loͤchern, wo man nichts davon ſah und hoͤrte, aber ſo 
die aͤſthetiſchen, zarten Gefuͤhle der guten Geſellſchaft 
durch den nahen Anblick all dieſes Jammers und Schmutzes 
zu verletzen, welche Frechheit! — 

Es war an einem Sonntag — dem vorletzten Sonn— 
tag dieſes unerfreulichen und truͤben Monats — als Trupp 
ſich entſchloſſen hatte, ſeinen freien Nachmittag zu ver— 
wenden, um ſich von der Ausdehnung und der Bedeutung 
dieſer Zuſammenkuͤnfte ein richtigeres Bild zu machen, 
als er dies aus den Erzaͤhlungen ſeiner Genoſſen und 
ſeiner Mitarbeiter in der Werkſtatt zu gewinnen vermochte. 
Er war in Clarkenwell Green, dem altbekannten Ver— 
ſammlungsort ſo vieler Parteien und Jahre, um die 
Mittagsſtunde geweſen, hatte dort mit Ingrimm noch 
einen Teil der Reden mit angehoͤrt, und zog nun in einem 
ungewoͤhnlich ſtarken Zuge von Arbeitsloſen, dem eine rote 
Fahne vorangetragen wurde, den Strand hinunter und 
auf Trafalgar Square zu. Er hatte noch keinen Bekannten 
getroffen, war aber mit einem der neben ihm Gehenden 
in ein Geſpraͤch geraten, als dieſer, welcher ihn rauchen 


„ 


ſah, ihn um etwas Tabak gebeten hatte, „um den Hunger 
nicht fo zu fühlen”; und ihr Geſpraͤch war, trotzdem Trupp 
ſich nur ſchwer in Engliſch ausdruͤcken konnte und kaum 
die eine Haͤlfte ordentlich verſtand und die andere ſich 
erraten mußte, von dem, was ihm erzaͤhlt wurde, ſchnell 
lebhaft geworden, als er dem krank und verwacht Aus⸗ 
ſehenden in dem naͤchſtliegenden von Lockhardts Cocoa 
Shops mit feinen letzten Geldſtuͤcken einige Sandwiches 
gekauft hatte. Er hatte ja noch Arbeit — wie lange noch, 
das wußte er freilich auch nicht. Es war eine lange, 
alltägliche Geſchichte des Leidens, die jener ihm erzählte: 
elend bezahlte Arbeit den ganzen Sommer hindurch; ploͤtz⸗ 
liches Aufhoͤren derſelben; Stuͤck fuͤr Stuͤck des kleinen 
Hausrats zum Pfandhaus; das Fehlen bald auch des 
noͤtigſten Lebensunterhaltes; ſein kleines Kind geſtorben 
aus Mangel an Nahrung; die Frau im Arbeitshaus — 
und er ſelbſt: „ich haͤnge mich lieber auf, als auch dahin 
zu gehen“, ſchloß er. 

Trupp betrachtete ihn — es war ein intelligent 
ausſehender, ſchon älterer Mann — und fragte dann: 

— Wieviel Unbeſchaͤftigte, glaubt Ihr, gibt es augen⸗ 
blicklich in London? 

— Sehr viele! ſagte der andere. — Sehr viele! — 
Sicher mehr als hunderttauſend, und wenn Ihr die 
Frauen und Kinder hinzuzaͤhlt, noch viel mehr! Eine 
halbe Million! Was auf Trafalgar Square zuſammen⸗ 
kommt, das iſt nur ein kleiner Teil, und von dem be: 
ſteht ein Fuͤnftel dazu noch aus gewerbsmaͤßigen Bettlern 
und Herumtreibern, Taſchendieben und Tagtotſchlaͤgern, 
und hat nichts zu tun mit dem Unemployed, welche 


1 


nur ehrliche Arbeit haben wollen. Aber ſie geben uns 
keine und laſſen uns hungern. Wir ſind geſtern auch 
wieder zu dem Board of Works gegangen. 

— Was iſt das? unterbrach ihn Trupp, der wenig 
wußte von den verzweigten Einrichtungen der Stadt. 

— Es iſt die Behoͤrde, welche die großen Stadtbauten 
ausfuͤhrt — ihre Office iſt ganz nah dem Square — 
und da war einer unter den Sprechern, der legte klar, 
daß ſie die Themſearbeiten, von denen ſchon ſo viel geredet 
iſt, in Angriff nehmen und ſo ſehr vielen von uns Arbeit 
geben koͤnnten, und ein anderer, der ſprach von der 
Anlegung von Abzugskanaͤlen und der Gruͤndung von 
Armendoͤrfern in der Naͤhe von London —, aber ſie 
wollen nicht, ſie wollen nicht! 

Trupp hatte aufmerkſam zugehoͤrt. 

— Und dabei werden in London jaͤhrlich zweieinhalb 
Millionen Pfund Sterling fuͤr Armenabgaben aufgebracht; 
zwei Millionen allein aus freiwilligen Beitraͤgen. Wo 
das Geld hinkommt? — Ich wuͤnſchte, es zu wiſſen! — 

— Ja, ſagte Trupp, — das ſind Eure Diener, die 
Diener des Volkes und die Verwalter ſeiner Angelegen— 
heiten — 

— Und auf dem Polizeiamt ſind wir auch geweſen, 
und haben die Antwort erhalten, daß jeder, der be— 
ſchaͤftigungs⸗ und obdachlos angetroffen werde und ſich 
weigere, zum Arbeitshaus zu gehen, mit Gefaͤngnis, mit 
harter Arbeit beſtraft werden würde... 

— Was ſeid Ihr? 

— Ach, ich habe ſchon viel getan, wenn ich Hunger 
hatte und meine Arbeit nicht fand. Jetzt war ich bis 

vin 7 


388 


vor zwei Monaten in einer Konſervenfabrik, machte 
Blechbuͤchſen — jeden Tag zwoͤlf Stunden, nie weniger, 
oft aber vierzehn — 

— Und wieviel? 

— Well, wenn es gut ging, 8 sh., meiſtens 7 Sh. 
oft nur 6 sh. die Woche. 

Trupp lebte ſeit einiger Zeit im Eaſt End. Er kannte 
die Loͤhne der engliſchen Arbeiter. Er kannte Familien 
von acht Perſonen, welche zuſammen nicht mehr wie 
12 sh. in der Woche verdienten, von denen ſie vier 
für ihr Loch von Zimmer zahlen mußten ... Er wußte, 
daß unter den Streichhoͤlzerſchachtel- und Sackverfertige⸗ 
rinnen und in hundert andern Branchen die Hungers— 
not beſtaͤndig graſſierte. 

Die Hungersnot in der reichſten Stadt der Erde! 
Er ballte die Faͤuſte. 

Er ſelbſt verdiente mehr. Er war ein ſehr kenntnis⸗ 
reicher und befaͤhigter Mechaniker, deſſen Arbeit eigenes 
Nachdenken erforderte. — Er war vom Kind zum Mann 
geworden in dieſem unermeßlichen Elend, deſſen Anblick 
ihn nie, in keinem Lande, in keiner Stadt verlaſſen hatte. 
Aber was er in London ſah an wahnſinnigem Luxus 
auf der einen und hoffnungsloſen Jammer auf der andern 
Seite, das uͤbertraf alles. 

Er zog einen zerknitterten Zettel aus der Taſche, 
deſſen er ſich jetzt wieder erinnerte und uͤberflog ihn 
beim Weiterſchreiten. Es war das „Jubilee Manifesto“ 
der Socialdemocratic Federation. 

Er überflog die folgenden Zahlen: 

Vier Millionen Menſchen in Großbritannien abs 


Re 


haͤngig von Mildtaͤtigkeit ... die Arbeiter nicht imftande, 
mehr als den vierten Teil deſſen, was ſie hervorbringen, 
zu erhalten .. 30% der Kinder der Board Schools 
halbverhungert ... 54 Perſonen in einem Jahre an 
Hunger geftorben in London ... 80000 Frauen — zehn 
auf hundert — Proftituierte . 

Bilder aus den „fünfzig Jahren des Fortſchritts“! 

— Es iſt Eure eigene Schuld, ſagte er zu ſeinem 
Begleiter, waͤhrend ſie Fleet Street durchſchritten, die 
Straße der großen Zeitungen, deren Namen von allen 
Giebeln und von allen Waͤnden herniederriefen, — es iſt 
Eure eigene Schuld — (und das Gebraufe des immer 
mehr und mehr anſchwellenden Zuges, welcher ſich ernſt 
und drohend nach dem Strand zuwaͤlzte, ſchien die Wucht 
ſeiner Worte unterſtuͤtzen zu wollen — —) es iſt Eure 
eigene Schuld, wenn die Erde, die Euch gehoͤrt, nicht 
Euer iſt. Eure eigene Gedankenloſigkeit und Feigheit — 
das ſind Eure ſchlimmſten Feinde. Nicht die Handvoll 
elender Geldſaͤcke und Nichtstuer, ſagte er veraͤchtlich. 

— Ah, Ihr ſeid ein Soziaͤliſt? meinte der andere 
laͤchelnd. 

Trupp zuckte die Achſeln. 

— Da ſeht hin, rief er laut in ſeinem ſchlechten 
und fehlerhaften Engliſch, — dieſe Laͤden, die Ihr gefuͤllt 
habt mit Brot, und an denen Ihr hungernd vorbeigeht; 
dieſe Magazine, die Ihr bis zum Brechen gefuͤllt habt 
mit Kleidern, wem gehoͤren ſie, wenn nicht Euch und 
Euren frierenden Kindern? 

Es war keiner unter denen, welche aus dem unauf— 
haltſam dahinflutenden Zuge dieſe einfachen Worte ge— 

7 


— 1 


hoͤrt und verſtanden hatten, der ihnen nicht beigeſtimmt 
hätte, aber ſchweigend, ermattet und willenlos trugen fie 
alle ihren nagenden Hunger an dem zur Schau geſtellten 
uͤberfluß vorüber. Keine dieſer Hände, welche immer 
nur fuͤr andere gearbeitet hatten, immer nur die Taſchen 
anderer gefuͤllt, um ſelbſt leer, immer leer zu bleiben, 
ſtreckte ſich jetzt aus, um einen kleinen, verſchwindend 
kleinen Teil von dem wiederzunehmen, was ihnen vor: 
enthalten war — — 

Schweigend und unſicher zogen ſie dahin, die langen 
Straßen des Reichtums hinunter, ſie, denen man alles 
genommen und nichts gelaſſen hatte: keinen Fußbreit 
Erde, keines jener vielgeprieſenen Menſchenrechte, keines 
auch der noͤtigſten Exiſtenzmittel, als eine furchtbare 
Anklage gegen ſaͤmmtliche Inſtitutionen einer irdiſchen 
Gerechtigkeit, als ein unabweisbarer, unwiderlegbarer Be— 
weis gegen die Exiſtenz einer goͤttlichen — und ſie, ſie 
wurden als eine Schmach der Zeit bezeichnet, ſie, welche 
nur die Opfer der Schmach ihrer Zeit waren. So wirrten 
am Ende des 19. Jahrhunderts uͤberall die Begriffe un— 
erkennbar durcheinander, und die Schuldigen glaubten 
ihrer Schuld zu entrinnen, wenn ſie Urſache und Wirkung 
der beſtehenden Verhaͤltniſſe miteinander ſophiſtiſch zu 
vertauſchen ſuchten. — Das waren Trupps Gedanken, 
als er ſchweigend in dem ſchweigenden Zuge die unab— 
ſehbar lange Straße hinunterſchritt. — Die Schar ſchien 
immer groͤßer zu werden, je mehr ſie ſich dem Trafalgar 
Square naͤherte. Trupp und der Arbeiter, mit dem er 
geſprochen hatte, gingen immer noch nebeneinander her. 
Aber ſie ſprachen nun nicht mehr. Jeder war mit 


— 101 — 


ſeinen Gedanken beſchaͤftigt. Man hatte des erſteren 
Worte vernommen, und dieſer hoͤrte, wie ſie daruͤber 
diskutierten. 

— Dieſe verdammten Deutſchen, rief ein junger 
Menſch, — ſind an allem ſchuld. Sie druͤcken unſere 
Loͤhne. Und er ſah ſich drohend nach Trupp um. 

Trupp wußte gleich, was jener meinte. Er hatte 
ſchon zu oft von den „bloody Germans“ gehört, als 
daß er dieſe alte Anſchuldigung, welche den Ausbeutern 
ſo praͤchtig zu ſtatten kam, um die Augen ihrer Arbeiter 
von den wirklichen Urſachen ihres Elends abzulenken, nicht 
verſtehen ſollte. 

Seine feſte Geſtalt, ſein duͤſteres, baͤrtiges Geſicht, 
ſeine ganze Haltung ſchienen dem jungen Menſchen indeſſen 
zu wenig vertrauenerweckend zu ſein, als daß er verſucht 
haͤtte, mit ihm Haͤndel anzufangen; und Trupp ließ ihn 
und die andern bei ihrem Glauben uͤber die Nieder— 
traͤchtigkeit der deutſchen Arbeiter, welche „nur nach 
England kommen, um den engliſchen ihr Brot zu ſtehlen“. 

Aber es verminderte ſeinen Schmerz und ſeine Bitter— 
keit nicht, wenn er ſich vergegenwaͤrtigte, wer es wirklich 
war, der von Deutſchland nach England kam. Er kannte 
jene Scharen, welche nicht nur die Hoffnung auf einen 
beſſeren Verdienſt, ſondern auch auf ein freieres und 
menſchenwuͤrdigeres Daſein zum Verlaſſen der Heimat 
trieb: denn wie war es moͤglich fuͤr ſie zu leben unter 
dem beſtaͤndigen Druck eines wahnſinnigen Geſetzes — 
das Schandgeſetz, jo nannte es der Volksmund —, welches 
den Gedanken zu morden, das Wort zu erſticken, jeden 
Schritt und Tritt zu bewachen ſich vermaß? ... 


— 102 — 


Als der Zug auf dem Square anlangte, war Trupp 
uͤberraſcht, zu ſehen, wie ſtark bereits die Menſchen⸗ 
anſammlung auf demſelben war. Die große, weite Flaͤche 
des Innenraumes war faſt gefuͤllt mit einer hin- und 
hertreibenden Menge und in ſaͤmtlichen umliegenden 
Straßen ſchien der Wagen- und Menſchenverkehr nicht 
ſchwaͤcher, wie an Wochentagen zu ſein. 

Der ankommende Zug wurde mit ſtuͤrmiſchen Rufen 
empfangen. Trupp trat aus und blieb in der Naͤhe von 
Morleys Hotel ſtehen. Er ſah die Reihen den Square 
betreten, den Mann, der die rote Flagge getragen hatte, 
mit mehreren andern den Fuß der Nelſonſaͤule beſteigen, 
und er ſah, wie ſich dort im naͤchſten Augenblick eine 
tauſendkoͤpfige, aufmerkſam den Worten eines Redners 
lauſchende Menge anſammelte. 

Er ſtand erhoͤht auf dem nach St. Martins Church 
ſich hinaufziehenden Wege. So konnte er den Fuß der 
Saͤule uͤberblicken, der dicht beſetzt war. Er ſah die 
heftigen Geſtikulationen der Redner, das Wehen der 
roten Fahne, und die ſchwarzen Helme der Polizeimann⸗ 
ſchaft, welche ſich in großer Anzahl unmittelbar unter 
den Redenden aufgeſtellt hatte. 

Zuweilen wurde ihm der Ausblick durch ein voruͤber— 
fahrendes Cab oder einen dichtbeladenen Omnibus ge— 
nommen. 

Ploͤtzlich ſah er, wie eine ungeheure Bewegung in die 
Maſſe kam, welche den Square beſetzt hielt — ein Auf— 
ſchrei des Schreckens und der Entruͤſtung gleichzeitig aus 
tauſend Kehlen brach in die Luft und gleich einer maͤchtigen 
dunklen Woge flutete die Menge zuruͤck, ſich weit uͤber 


— 103 — 


die Treppen an der Nordſeite und die Straßen ergießend. 
.. Die Polizei hatte ploͤtzlich und gänzlich unvermittelt 
in ihrer ganzen aufgeſtellten Staͤrke einen Angriff auf die 
ruhig Zuhoͤrenden gemacht und trieb nun die Schreienden 
ruͤckſichtslos vor ihren geſchloſſenen Reihen her. 

Trupp fuͤhlte, wie eine entſetzliche Wut in ihm empor— 
quoll. Dieſe uͤberlegte und abſichtliche Roheit machte 
ihm das Blut kochen. Er draͤngte ſich uͤber die Straße 
und ſtand an der ſteinernen Einfaſſung des Platzes; unter 
ihm lag der ſchon zur Haͤlfte geleerte Square. Mit 
Fauſtſchlaͤgen und Fußtritten jagten die Buͤttel die Wehr: 
loſen vor ſich her. Wer nur die geringſte Miene 
machte, ſich zur Wehr zu ſetzen, wurde niedergeriſſen und 
fortgefuͤhrt. 

Ein junger Menſch hatte ſich ihren Haͤnden entriſſen. 
In fliegendem Lauf ſuchte er den Ausgang des Platzes 
zu gewinnen. Aber die dort Aufgeſtellten riſſen ihn ſo— 
fort nieder, waͤhrend die nach außen getriebene Menge 
dieſen Akt widerlicher Brutalitaͤt mit Ausrufen der Ver— 
achtung und Wut begleitete. f 

Mit einem Satze ſprang Trupp, als er dies ſah, 
uͤber die Bruͤſtung, welche hier — ſie ſenkt ſich langſam 
von Norden nach Suͤden — noch meterhoch war. Er 
eilte dem Fuße der Saͤule zu, auf welchem noch immer 
einige der Redner ſtanden. 

Der Fahnentraͤger hatte ſich gegen die Saͤule ge— 
ſtemmt und hielt die Fahne mit beiden Haͤnden. Er 
ſtand ganz allein. Aber er war augenſcheinlich entſchloſſen, 
nur der aͤußerſten Gewalt zu weichen. 

Jetzt zog ſich die Polizei wieder langſam an den Fuß 


3 


der Saͤule zuruͤck, wo ſie ſich von neuem aufſtellte; und 
auf dem Fuße folgte ihr von allen Seiten und von allen 
Eingaͤngen des Platzes wieder die Menge. In wenigen 
Minuten war die ganze weite Flaͤche wieder bedeckt mit 
einer dunklen Flut von Menſchen, deren Empörung ge: 
wachſen, deren Rufe nach der Fortſetzung der Rede un— 
geduldiger, deren Aufregung gewaltiger geworden war. 

Wieder füllte ſich der Fuß der Säule: man hob und 
zog ſich gegenſeitig hinauf. Vor der Fahne ſtand ein 
junger Mann von etwa dreißig Jahren. Er war einer 
der beſten Redner und unter den Arbeitsloſen ſehr be— 
kannt. Er war totenbleich vor Erregung und blickte 
mit dem Ausdruck unverſoͤhnlichen Haſſes auf die Ge— 
ſtalten der Poliziſten zu ſeinen Fuͤßen nieder. 

Einer der Konftabler rief zu den Rednern hinauf, 
daß er bei dem erſten aufruͤhreriſchen Wort jeden von 
ihnen auf der Stelle verhaften laſſen wuͤrde. 

Mit einem unbeſchreiblichen Ausdruck der Gering— 
ſchaͤtzung ſah der junge Menſch auf ihn herab. 

Trupp ſtand dicht vor der Reihe der Poliziſten. So 
dicht, daß er von der nachdraͤngenden Menge faſt ge— 
zwungen wurde, ſie zu beruͤhren. Aber trotzdem hob er 
ſeinen Arm in die Hoͤhe und rief den Obenſtehenden 
ein lautes „Go on!“ zu. Sofort wurde ſein Ruf den 
Umſtehenden zum Zeichen eines lauten Beifallklatſchens 
und zu unzaͤhligen Rufen aͤhnlicher Art. 

Es ſchien erſt, als wolle die Polizei bei dieſem Aus— 
bruch des Gefuͤhls der Menge einen neuen Angriff machen. 
Aber ſie unterließ es und der Redner begann. Er ſprach 
uͤber das Recht der Redefreiheit in England und uͤber die 


— 15 — 


verfuchte Unterdrückung desſelben, welche bis jetzt erfolg: 
los geblieben ſei. Vor ſich ſaͤhe er eine Menge, wie ſie 
in dieſem Jahre Trafalgar Square noch nicht getragen. 
— Hierher, unter die Augen der ganzen Welt, haͤtten 
ſie ſich geſtellt mit ihrer Forderung: „Brot oder Arbeit“. 
Und hier, im Angeſicht dieſer verſchwenderiſchen Reich— 
tümer, welche fie ſelbſt erſchaffen, würden fie ſich fo 
lange verſammeln, bis dieſe Forderung erfuͤllt worden 
ſei. — Sie haͤtten kein Fenſter gebrochen, und kein Stuͤck 
Brot an ſich genommen, um ihren Hunger zu ſtillen — 
ein Luͤgner ſei, wer das behaupte. Es waͤre ihnen ſehr 
angenehm geweſen, wenn wir es getan haͤtten — dann 
haͤtte die Polizei einen bequemen Entſchuldigungsgrund 
dafuͤr, daß ſie unſere friedlichen Verſammlungen geſtoͤrt 
und uns in brutalſter Weiſe zu Ausſchreitungen zu reizen 
geſucht hat. — 

Neben Trupp ſtand der Reporter einer Zeitung, 
welcher muͤhſam im Stehen Chiffrenotizen machte. Er 
haͤtte dem gleichguͤltigen Manne das Papier aus der 
Hand reißen moͤgen. Angeekelt ſuchte er ſich einen Weg 
durch das ihn umgebende Gewuͤhl zu bahnen. Er kam 
nur Schritt fuͤr Schritt vorwaͤrts. Die Zuhoͤrer beſtanden 
nicht nur aus Arbeitsloſen mehr: viel verdaͤchtiges Ge— 
ſindel, welches in London bei jedem Anlaß ſich in un— 
glaublich großer Anzahl anſammelt, viele Neugierige, 
welche ſehen wollten, was es gaͤbe, ſowie eine Anzahl 
wirklich Intereſſierter hatte ſich unter ſie gemiſcht. 
Frauen mit ihren Kindern auf dem Arm, müde und 
hungrig, ſtanden dicht neben den aufgedonnerten Kleider— 
puppen des Weſtends, von denen die eine oder andere 


— 106 — 


ſich auf den Square gedraͤngt hatte, nachdem ihr ver— 
ſichert worden war, es ſei „noch nicht gefaͤhrlich“; und 
unter der Menge ſah Trupp ein Geſicht, welches ihn 
empoͤrte: das freche, hoͤhniſch-laͤchelnde Geſicht eines 
Gentleman in hohem Hut, welcher unweit der Saͤule 
ſtand, und welcher jetzt in die Worte des Redners ein 
„Nonsense!“ hineinrief — offenbar ein hochgeſtellter 
Beamter, welcher — der Geduld und der Langmut des 
Volkes ebenſo vertrauend, wie den Knuͤtteln und den 
Revolvern feiner Poliziſten — ſich dieſe Frechheit heraus— 
nahm. Ein unwilliges Gemurmel entſtand, waͤhrend er 
ruhig mit ſeinem unverſchaͤmten Laͤcheln uͤber die ihn 
umſtehende Menge hinwegſah. 

— Du Burſche, dachte Trupp bei ſich, — dir wird 
das Lächeln eines Tages ſchon vergehen —; aber faſt 
gleichzeitig ſtimmte er in das Gelächter ein, welches aus— 
brach, als dem Langen durch einen kraͤftigen Fauſtſchlag 
von hinten her der Zylinder uͤber Augen und Ohren ge— 
trieben wurde. Die Menge ſtob auseinander, und es 
entſtand um den fo Gezuͤchtigten, dem das Lächeln ver- 
gangen war, ſchnell ein leerer Raum. Die Polizei ruͤckte 
vor, obwohl ſie nichts von dem Vorfall geſehen hatte. 
Trupp wurde von der Menge fortgeriſſen. Er ſtand nun 
an der Oſtſeite des Squares. 

Unterdeſſen hatten ſich auch die andern drei Seiten 
des Fußes der Saͤule mit Menſchen bedeckt und auch 
von ihnen wurde zu den Verſammelten hinuntergeredet. 
Nicht alles, was geſprochen wurde, ſtand im Zuſammen⸗ 
hang mit dem Zweck der Verſammlung, und aus der 
Stimme manches Redners klang mehr die Selbſtgefaͤlligkeit 


* 


— 107 — 


und die kindiſche Freude an den eigenen Worten, als 
die Empoͤrung uͤber die Zuſtaͤnde, welche er geißeln ſollte, 
und das Beſtreben, dieſe ſelbe Empoͤrung auch in den 
Herzen ſeiner Zuhoͤrer zu wecken und zur Flamme zu 
entfachen. 

Trupp ſah mit einem boͤſen Laͤcheln einem dieſer 
heftig geſtikulierenden geſchaͤftsmaͤßigen Volksredner zu, der 
mit ermuͤdender Weitſchweifigkeit den hungernden Lon— 
donern von ihren hungernden Leidensgenoſſen in Indien 
ſprach und die Schaͤndlichkeiten, die von der engliſchen 
Regierung in dieſem ungluͤcklichen Lande veruͤbt ſind und 
veruͤbt werden, aufzaͤhlte, ſtatt ihnen die ebenſo großen 
Willkuͤrlichkeiten derſelben Regierung zu enthuͤllen, unter 
denen ſie zu leiden und langſam zu ſterben verdammt 
waren. 

Lautes Gelaͤchter und hoͤhniſche Zurufe ließen ihn 
indeſſen gleich darauf von dem Schwaͤtzer ab- und ſich 
einem jener bemitleidenswerten Fanatiker zuwenden, 
welche bei allen ſolchen Verſammlungen ihre Miſſion 
erfuͤllen zu muͤſſen glauben, das verirrte Volk in die 
Arme und den Schoß der alleinfeligmachenden Kirche 
zuruͤckzufuͤhren: die Armen in ihrem Dulden und Leiden, 
und die Reichen in ihren Genuͤſſen zu ſtaͤrken. Trupp 
ſah ſich den ſchwargekleideten Mann neugierig an. Das 
glattraſierte fahle Geſicht, der ſcheue Blick der Augen und 
der ſuͤßliche Ton der leiernden Stimme waͤren ihm zu— 
wider geweſen, auch wenn der Mann nicht im Dienſte 
deſſen geſtanden haͤtte, das er haßte, weil er in ihm 
das Hauptmittel zur Verdummung und geiſtigen Unter— 
druͤckung des Volkes ſah. 


rel, 


Aber nur mit Hohngelächter wurden die Worte des 
Miſſionars aufgenommen. Er wurde uͤberſchrieen von 
allen Seiten. Drohrufe wurden laut, ſich zu entfernen. 
Dann flogen Apfelſinen- und Nußſchalen nach ihm. Er 
ließ alles ruhig uͤber ſich ergehen und leierte ſo ruhig 
und monoton ſeine eingelernten Phraſen herunter, auf 
welche niemand hoͤrte, als ginge ihn das Ganze gar 
nichts an. Man draͤngte ihn fort von der Stelle, wo er 
ſtand. Kaum konnte er wieder Fuß faſſen, als er in ſeiner 
Rede fortfuhr. Das Gebahren dieſes neuen Chriſtus war 
laͤcherlich und jaͤmmerlich zugleich. Ploͤtzlich flog ein be— 
wundernswert ſicher gezieltes Ei auf den Sprecher zu 
— eine faule, breiige Maſſe ſchloß ihm klatſchend den 
Mund. Das war zu viel, ſogar fuͤr dieſen Maͤrtyrer. 
Er hielt nicht mehr ſtand. Beſchmutzt von oben bis 
unten, ſpuckend und ſich blitzſchnell duckend, ſchluͤpfte er 
zwiſchen den Umſtehenden durch, gefolgt von dem rohen 
Gelaͤchter der aufgeregten und ſchreienden Menge. 

Trupp zuckte die Achſeln. Er wuͤnſchte, daß jedem 
Volksverderber und Wahrheitsfaͤlſcher der Mund auf gleich 
draſtiſche Weiſe geſchloſſen werden möchte. 

Er wandte ſich ab und ließ ſich von dem Schwarm vor— 
uͤber an den Fontaͤnen, deren ſchmutzige Waſſerbecken 
überfät waren mit Abfällen aller Art, wieder zuruͤck 
nach der Nordſeite des Platzes treiben. Auch dort, an 
den Laternenpfaͤhlen des breiten Gelaͤnders ſich haltend, 
ſtanden jetzt Redner und riefen auf die tief unter ihnen 
im Square Stehenden ihre aufgeregten, abgehackten und 
aufregenden Saͤtze hinunter. 

Einer von ihnen ſchien Trupp bekannt. Er erinnerte 


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1 


ſich, ihn bei den Verſammlungen der Socialdemocratic 
Federation geſehen zu haben. Es war ein Parteiſozia⸗ 
liſt. Trupp hoͤrte zu. Er verſtand wieder nicht alles, 
konnte aber doch aus einzelnen Schlagworten entnehmen, 
daß jener über die raſende Entwicklung der großkapita— 
liſtiſchen Ausbeutung, der immer drohender werdenden, 
durch ſie bedingten Hungerrevolten, die Vergeblichkeit der 
zu ihrer Unterdrückung angewandten Mittel ſprach, und 
wie er jenes alte, durch einen voreingenommenen Kopf 
hingeworfene und ſeitdem ſo feſt eingeniſtete Vorurteil 
angriff: es ſei der Mangel an Lebensguͤtern, welcher das 
Elend gewiſſer Schichten bedinge. Dann ging er auf 
die bekannten — zwiſchen ſozialdemokratiſchen und kom— 
muniſtiſchen Ideen die Wage haltenden — Theorien 
der Verteilung im Überfluß vorhandener Güter über 
und alles in Saͤtzen, von deren einzelnen Worten die 
Wiederholung langer Jahre jedes wie in Erz gegoſſen 
zu haben ſchien und — zur Phraſe gemacht hatte 

Die Wirkung war indeſſen gering. Es waren wohl 
nur wenige, welche jedem Worte folgten und uͤberhaupt 
zu folgen vermochten. Die meiſten ließen ſich in der 
unaufhoͤrlichen Bewegung, welche ſie — wie der Wind 
die Halme eines weiten Feldes — hin und her riß, von 
einem Fleck zum andern treiben. Meiſt verſuchte die 
Stimme der Redenden vergeblich gegen ihren Schwall 
anzukaͤmpfen. 

Um die Baͤnke an der Nordseite des Square hatte ſich 
eine laut laͤrmende Zahl von Kindern geſchart: von 
jenen Straßenarabern, welche zu jeder Tageszeit zu 
Hunderten die Hauptſtraßen Londons uͤberſchwemmen — 


— 110 — 


hinausgeſtoßen von den Eltern, wenn ſie noch ſolche 
haben, und weitergeſtoßen von der gefuͤrchteten Fauſt der 
Poliziſten. Von jenen Kindern, welche nie eine Jugend 
haben; welche in ihrem Leben keine andere Natur, als 
die beſtaubte von Hyde Park geſehen haben, wo ſie an 
einem Sommerabende mit Hunderten ihrer Altersgenoſſen 
in der Serpentine badeten; welche ſich nie in ihrem 
Leben ſatt gegeſſen und nie ein nicht zerfetztes und rein⸗ 
liches Kleidungsſtuͤck auf dem Leibe haben; welche nie 
verdorben worden ſind, da ſie nie unverdorben waren. 

Lachend und ſchreiend ſtanden und ſprangen ſie auf 
den ſchmutzigen und abgetretenen Baͤnken herum. Eines 
unter ihnen behauptete ſich eine Minute lang auf der 
Lehne einer derſelben: mit komiſcher Grandezza ahmte es 
die Bewegungen der Redner nach und ſchrie ſinnloſe Worte 
in das Gewuͤhl hinein. Sein ſchmutziges, fruͤh altes Geſicht 
ſtrahlte vor Vergnuͤgen. Dann wurde es hinabgeriſſen 
von den jauchzenden Kameraden. 

Trupp lächelte wieder, aber herb. Es war dieſe 
kleine Szene wie die bitterſte Satire auf den bitterſten 
Ernſt. Er ſah in die ſchmutzigen, laſterhaften Geſichter 
der um ihn Stehenden — wohin ſein Blick fiel: Elend, 
Hunger und Verkommenheit. Und es waren ſeine Bruͤder; 
er fuͤhlte ſich zugehoͤrig zu ihnen allen; untrennbar mit 
ihnen verbunden durch ein gleiches Schickſal. 

Über Trafalgar Square hing ein monotonzgrauer, 
ſchwermuͤtiger, ſonnenloſer Himmel. Hoͤher ſchien ſich 
dieſe kalte Kuppel gewoͤlbt zu haben als ſonſt. 

Wieder ging von dem Fuß der Nelſonſaͤule aus 
eine große Bewegung durch die Maſſen. Man ſah ihn 


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fih leeren. Man ſah die rote Fahne — über dem 
dunklen Meer von Koͤpfen — in der Richtung nach Weſt⸗ 
minſter hinunter ſchwenken. Und ohne daß eine Parole 
ausgegeben worden waͤre, folgten ihr ganz von ſelbſt die 
Tauſende. Zu einer ungeheueren Schlange reihten und 
verdichteten ſich die einzelnen Glieder. So waͤlzte ſie ſich 
Whitehall hinunter, vorbei an den Spitzen fo vieler Be: 
hoͤrden, vorbei an den Erinnerungen der Geſchichte, deren 
blutige Spuren von den Steinen dieſer beruͤhmten Straße 
von der Zeit fortgewaſchen waren, vorbei an den beiden 
Wachen der Horſe Guards, welche in ihren prahleriſchen 
Uniformen auf ihren wohlgenaͤhrten Pferden die Eingaͤnge 
jenes niedrigen Gebäudes bewachten ... Und hinauf 
durch die ſpalierbildende Zuſchauermenge, welche dem ſelt⸗ 
ſamen Zuge nachſtroͤmte, ſobald er vorbeigezogen war ... 

Mitten in den Reihen ging Trupp. Etwas ſchneller 
ſchlugen ſeine Pulſe, waͤhrend er ſich fortgezogen und 
hinuntergeſchwemmt fuͤhlte von der Bewegung dieſes 
Tages. 

Die Tuͤrme von Parliament Houſe tauchten immer 
klarer und ragender aus dem feinen Nebel auf. Dann 
lag Weſtminſter Abbey ploͤtzlich vor der unuͤberſehbaren 
Schar, welche ſich unaufhaltſam auf ihre Pforten ers 


goß. Trupp verſuchte es, über die ſchwarzen Hüte, 


welche ihn umgaben, einen Blick auf die Spitze des 
Zuges zu werfen. Wenn es doch zu einem Zuſammen⸗ 
ſtoß kaͤme! — war ſein gluͤhender Wunſch. 

Aber ruhig ſah er die rote Fahne ſich von dem 
Haupteingang fort um die Ecke ſchwenken; der Zug 
ſtroͤmte ihr in geſchloſſener Ordnung nach. 


— 112 — 


Die mannigfachſten Ausrufe umtönten ihn. Er wußte 
nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Und ploͤtzlich 
befand er ſich — der Zug hatte ſeinen Eintritt durch 
den oͤſtlichen Eingang nehmen muͤſſen — in dem großen 
Schweigen der herrlichen Hallen, welche Jahrhunderte 
mit ihrem Duft gefuͤllt und mit ihrem Ruhme geweiht 
hatten. 

Er ſtand im Poets Corner der Weſtminſter Abbey, 
eingepreßt in der Menge, welche in den engen Baͤnken 
keinen Platz fand. Er ſah die Buͤſten und las die Namen, 
welche er nicht kannte. Was waren ſie? Und was waren 
ſie ihm? — Er kannte nur einen engliſchen Dichter, und 
feinen Namen fand er nicht . .. Percy Byſſhe Shelley. 
Der hatte die Freiheit geliebt. Darum liebte er ihn und 
las ihn, auch da, wo er ihn nicht verſtand. Er wußte nicht, 
daß engliſche Engherzigkeit und Beſchraͤnktheit ihn, wie 
Byron dadurch ausgezeichnet hatten, daß ſie ihm die Ehre 
eines Platzes in dieſer halbhellen Ecke unter ſo viel echtem 
Genie und fo viel falſcher Größe bis jetzt hartnaͤckig ver— 
weigert hatte. 

Es war Gottesdienſt. Von der Mitte der Halle her, 
wie aus einer großen Entfernung, drang die dunkle, mono⸗ 
tone, halb ſingende Stimme des Geiſtlichen, welcher nach 
einer unmerklich kurzen Unterbrechung bei dem ſo unver⸗ 
hofften Eindringen ſeine Vorleſung fortſetzte, ſo auch die 
Gemeinde, feine erſchreckten Hörer, wieder beruhigend ... 
Trupp verſtand kein Wort. Die Menge um ihn herum 
ſtroͤmte einen ſtarken Duft von Schweiß und Staub 
aus. Sie ward aufgeregter, nachdem das große Ge— 
fuͤhl, welches ſie uͤbermaͤchtig beim Eintritt ergriffen hatte, 


— 13 — 


wieder verſchwunden war. Einige hatten ihre Hüte aufs 
behalten; wenige andere ſetzten fie wieder auf. Mehrere 
beſtiegen die Baͤnke und ſahen uͤber die andern hinweg. 
Nur wenige halblaute Worte fielen in die großartige 
Erhabenheit dieſes Schweigens hinein. Trupp ſetzte ſich. 
Gegen ſeinen Willen war er erfaßt von einem ſeltſamen, 
unerklaͤrlichen Gefuͤhl, wie er es ſeit langer Zeit — ſeit 
unendlich langer Zeit — nicht mehr empfunden ... Je 
mehr der Raum uns umengt, deſto mehr empfinden wir 


ihn, wenn die Fluͤgel unſerer Gedanken an ſeinen Waͤnden 


ſich blutig ſchlagen; je weiter er uns umwoͤlbt, deſto 
mehr vergeſſen wir ihn und ſeine Schranken. Trupp 
blickte nieder und vergaß fuͤr die Zeit einer halben Stunde 
völlig, wo er war. — — 

Sein ganzes Leben ſtieg ihm wieder auf. Aber die 
Umarmung dieſer Erinnerung war nicht ſanft und troͤſtend, 
wie die einer Mutter, zu welcher der Sohn zuruͤckkehrt, 
ſondern gewaltſam, unentrinnbar, zermalmend wie der 
tödliche Kuß eines Vampyrs es fein muß! 

Sein ganzes Leben. Er war jetzt ein Mann von 
35 Jahren, auf der Mittagshoͤhe feines Lebens, im Voll: 


beſitz der Kraft feines Körpers. 


Er ſieht ſeine Kindheit wieder, die durchhungerten, 


zerſchlagenen Jahre ſeiner Kindheit, als Sohn eines 


Tageloͤhners in einem ſchmutzigen Flecken des ſaͤchſiſchen 
Flachlandes; der Vater ein Schwachkopf; die Mutter 
eine ſtreitſuͤchtige, ewig unzufriedene Frau, von welcher 
er die eiſerne Energie und die unbaͤndige Leidenſchaft 


geerbt hatte; mit der er in beſtaͤndigem Kampf lag, 
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— 14 — 


bis er ihr — denn der Vater kam nie in Betracht — 
eines Tages nach einer entſetzlichen Szene, in welcher 
ſich fein reifendes Gerechtigkeitsgefuͤhl gegen ihre grund 
loſen Vorwuͤrfe und Klagen aufgebaͤumt hatte, davon⸗ 
lie 

Er ſieht ſich wieder als fuͤnfzehnjaͤhrigen, verwahr— 
loſten Knaben, ohne einen Pfennig Geld, zwei Tage lang 
von Flecken zu Flecken irren; er fuͤhlt den wuͤtenden 
Hunger wieder, der ihm endlich nach zwei Tagen den 
Mut gab, auf einem Bauernhof ſich ein Stuͤck Brot zu 
erbetteln; und wieder die mutloſe Verzweiflung, die ihn 
endlich dazu trieb — es war am Morgen des dritten 
Tages, einem naßkalten Herbſtmorgen (wie er ſich dieſes 
Morgens erinnerte!), an dem er ſich froſtzitternd und 
gänzlich erfchöpft von der Erde erhob — im naͤchſten 
Dorf nach Arbeit zu fragen. Es war in der Naͤhe von 
Chemnitz. Er tritt in eine Schmiede. Der Meiſter 
lacht und pruͤft die Muskeln ſeiner Arme. Er kann da⸗ 
bleiben, er darf ſich mit zum Fruͤhſtuͤck ſetzen, einer dicken, 
ſchmackloſen Suppe, welche von den Geſellen muͤrriſch 
genoſſen, von ihm gierig heruntergeſchlungen wird. Die 
andern ſpotten über feinen Hunger; aber nie hat ihn 
ein Lachen weniger geſtoͤrt. — Dann arbeitet er und 
lernt, mit raſendem Eifer, mit brennender Luft und Liebe 
an allem. Die Tage, Wochen, Monate vergehen ... 
Keiner kuͤmmert ſich um ihn. Am laͤngſten erſcheinen 
ihm die Abendſtunden nach beendeter Arbeit. Er weiß 
da nicht, was er tun ſoll. Einmal erwiſcht er ein Buch 
und nun buchſtabiert er Satz für Satz. Es iſt zufaͤlliger⸗ 
weiſe das „Arbeiterprogramm“ von Laſſale. Er hat es 


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— 15 — 


in einem Winkel ſeiner Dachkammer gefunden. Irgend 
jemand mußte es dort vergeſſen haben. Er verſteht 
kein Wort. Aber als der Meiſter ihn einmal uͤber 
die ſchmutzigen Blaͤtter gebeugt ſieht, reißt er ſie ihm 
aus der Hand und ſchlaͤgt ſie ihm hinter die Ohren. 
„Verfluchte Sozialdemokraten“, ſchreit er, „wollen ſie 
das Kind auch ſchon verderben!“ — Der Junge verſteht 
das wieder nicht. Er weiß nicht, was er Boͤſes ge— 
tan haben ſoll. Aber er hat das Wort „Sozialdemokratie“ 
zum erſtenmal gehoͤrt. Das iſt nun zwanzig Jahre her. 

So ſchließt er ſeine erſte Freundſchaft. Denn ſeit 
dieſer Stunde intereſſiert ſich einer der Arbeiter, ein 
ſtrengglaͤubiger Anhaͤnger des emporbluͤhenden Allge— 
meinen deutſchen Arbeitervereins, welcher damals noch in 
unverſoͤhntem Gegenſatz zu der Eiſenacher Richtung der 
Arbeiterpartei ſtand, fuͤr ihn und ſtatt der ſchweren, wiſſen⸗ 
ſchaftlichen Arbeit jenes geiſtreichen Vorkaͤmpfers des deut— 
ſchen Sozialismus ſteckte er ihm eine auf duͤnnes Olpapier 
gedruckte Zeitung zu, welche an der Hand von Tageser— 
eigniſſen dem erwachenden Geiſte die ſozialen Schaͤden der 
Gegenwart beſſer illuſtrierte, als dies auch die leichteſt⸗ 
gefaßte volkswirtſchaftliche Abhandlung vermocht haͤtte. 
Er las da die zuſammengetragenen Schilderungen der 


verderblichen Gegenſaͤtze: die haßerfuͤllten Schilderungen 


der frechen Schwelgereien, der brutalen Herzloſigkeit, des 
ſchamloſen Übermutes auf der einen, die leidenſchaftlichen 
Darſtellungen der verzweifelten Armut, der verkauften 
Arbeit, der zertretenen Schwachheit auf der andern, ſchroff 
gegenuͤbergeſtellten Seite und ſein junges Herz wallte 


uͤber vor Schmerz und Empoͤrung. Der Haß und die 
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— 116 — 


Liebe ſpalteten es fuͤr immer: der Haß gegen jene; die 
Liebe fuͤr ſie, welche gleich ihm litten. Die Menſchen 
zerfielen ihm bald in Bourgeois und Arbeiter, und bald 
ſah er in jenen nichts als berechnende Schurken und 
arbeitsſcheue Ausbeuter, in dieſen lauter Opfer, je edler, 
deſto ungluͤcklicher ſie waren.. 

Die Jahre vergehen. Als er mit neunzehn Jahren die 
truͤbe, unfreundliche Stadt verlaͤßt, hat er es durch eiſernen 
Fleiß in den Abendſtunden dahin gebracht, daß er fließend 
leſen, ſchwerfaͤllig, aber richtig ſchreiben kann. Er iſt 
Geſelle. Sein Lehrzeugnis iſt vorzuͤglich. 

Es treibt ihn hinaus mit allen Faſern. Der große 
Krieg hat ausgewuͤtet. Waͤhrend in Paris der Flammen⸗ 
brand des Aufruhrs die Himmel roͤtet, bis er in Stroͤmen 
von Blut erliſcht, wandert er, den Thuͤringer Wald durch— 
kreuzend, Nuͤrnberg und Muͤnchen zu, wo er ein Jahr lang 
in einer großen Fabrik guͤnſtige Gelegenheit zur Aus— 
breitung ſeiner Berufskenntniſſe findet. 

Noch immer ein begeiſterte Anhaͤnger der „vorge— 
ſchrittenſten“ Partei, regt ſich doch hier ſchon in ihm 
das inſtinktive Gefuͤhl des Widerſtrebens gegen ihre auto— 
ritativen Grundſaͤtze, welche auch das geringſte Abweichen 
von der ſanktionierten Form nicht erlauben ... 

Es draͤngt ihn hinaus, dem Ausland zu. Er wendet 
ſich nach der Schweiz. In Unterbrechungen erreicht er 
Zürich, dann Genf. Und hier iſt es, wo er zum erſten⸗ 
mal das Wort „Anarchismus“ Hört. Nie hatte er es bis⸗ 
her in Deutſchland vernommen. 

Es wird noch nirgends ausgeſprochen. Nur hier und 
da hoͤrt man es fluͤſtern. Noch weiß wohl keiner, was es 


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beſagen will. Noch wagt keiner ſich an ſeine Erklaͤrung. 


Noch ahnt keiner feine Bedeutung für die Zukunft ... 


Mit 22 Jahren iſt er Revolutionaͤr! 

Bis dahin war er Reformer geweſen. 

Zum erſtenmal verkehrte er in den Kreiſen von 
Menſchen aller Nationen, welche ein ſeltſames Geſchick 
hierher zuſammengetrieben: Emigranten, Konſpirateure, 
Minierer — Maͤnner, Frauen, Juͤnglinge der europaͤiſchen 
Revolution, die einen noch blutend aus friſchen Wunden, 
die andern bedeckt bereits mit Narben. Alle erfuͤllt von 
jener fieberhaften Ungeduld, jener zitternden Leidenſchaft, 
jener ſchmerzlichen Sehnſucht, „etwas zu tun“, aber 
hier mehr und mehr den Kontakt mit den. heimatlichen 
Verhaͤltniſſen verlierend. 

Sie erzaͤhlten ihm: die Jungen von ihren Hoffnungen, 
die Alten von ihren Enttaͤuſchungen und — ihren Hoffnungen. 
Zuweilen verſchwindet einer von ihnen: er hat eine „Miſſion“ 
zu erfüllen. Ein anderer kommt. Ihre Namen werden 
kaum genannt, nie behalten. 

Es iſt eine ſeltſame Zeit fuͤr Trupp. 

1864 hatte Marx in London die „Internationale“ 
begruͤndet. Ihre großen Erfolge gingen Hand in Hand 
mit einer immer groͤßer werdenden Ideenzerſplitterung 
der Mitglieder, welche hier das Privateigentum ver— 
teidigten, dort es negierten; hier den Kollektivismus ver— 
traten, dort ſich bereits immer mehr in die Nebelregionen 
des Kommunismus verloren. Auf den Kongreſſen zeigten 
ſich die Riſſe. 

Da ſtemmt ſich eine eiſerne Fauſt in die Spalten 
und reißt ſie tiefer und klaffender. Bakunin, der ruſſiſche 


— 118 — 


Offizier, der Schuͤler Hegels, der Leiter des Dresdener 
Aufſtandes, auf drei Tage ‚König von Sachfen‘, der 
ſibiriſche Verbannte, der raſtloſe Verſchwoͤrer, ewige Revo— 
lutionaͤr, der Prophet und der Schwaͤrmer, tritt dem 
eiſernen Tyrannen, dem genialen Gelehrten, dem be— 
ruͤhmten Schöpfer der Bibel des Kommunismus ent— 
gegen. Der Kampf zweier Loͤwen, die ſich gegenſeitig 
zerfleiſchen! 

1868 entſteht die „Allianz der ſozialiſtiſchen Demo— 
kratie“. Und kurz ein Jahr, bevor Otto Trupp die Schweiz 
betreten, die Jurakonfoͤderation, die „Wiege der Anarchie“. 
Faſt drei Jahre bleibt er in der Schweiz er lernt fran— 
zoͤſiſch. 

Als er noch einmal nach Bern kommt, bevor er das 
Land auf Jahre verlaͤßt, ſchließt ſich dort der Vorhang 
langſam uͤber dem letzten Akte jenes ungeheuerlichen 
Lebens ... Der Tod hatte bereits feine Tore für Michael 
Bakunin geoͤffnet. Noch immer macht der ſterbende Rieſe 
krampfhafte Anſtrengungen der Verzweiflung, nachdem 
ihn doch faſt alle ſchon verlaſſen, neue Scharen um ſich 
zu ſammeln und ſie hinaus zu ſenden in den hoffnungs— 
loſen Kampf . .. Es iſt vorbei. Nur Toren noch ſchwoͤren 
zu einer Fahne, die der Sturm von Jahrzehnten zerfetzt ... 
Nie hat ihr Traͤger erreicht, was er wollte: die Welt zu 
ſtuͤrzen. Aber gelungen iſt es ihm, die Fackel der Zwie— 
tracht in die ſtolze Hochburg der „Internationale“ zu 
ſchleudern . 

Otto Trupp iſt einer ſeiner letzten Schuͤler. 

Mit 24 Jahren iſt er Terroriſt! Er hat ſie aus— 
wendig gelernt: jene wahnſinnigen elf Grundſaͤtze „über 


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die Pflichten des Revolutionaͤrs gegen ſich ſelbſt und 
gegen feine Revolutionsgenoſſen“, welche mit den ents 
ſetzlichen Worten der groͤßten Unfreiheit beginnen: „Der 
Revolutionaͤr iſt ein ſelbſtgeopferter Menſch. Er hat keine 
gewöhnlichen Intereſſen, Gefühle oder Neigungen, kein 
Eigentum, nicht einmal einen Namen. Alles in ihm wird 
verſchlungen von einem einzigen ausſchließlichen Inter— 
eſſe, einem einzigen Gedanken, einer einzigen Leiden— 
ſchaft — der Revolution.“ — 

Erfuͤllt von dieſem einzigen Intereſſe, dieſem ein— 
zigen Gedanken, dieſer einzigen Leidenſchaft, betrat der 
dreiundzwanzigjaͤhrige Trupp ſein Vaterland wieder. Es 
durchwandernd von Suͤd nach Nord, wuchs ſeine Bitter— 
keit mit der Groͤße des Elends, welches er uͤberall ſah, 
wohin er kam. 

Es war das Jahr, in dem ſich die beiden Richtungen 
des Sozialismus auf jenem Grund vereinigten, welcher 
beſtimmt war, eine der beſtorganiſierten, taͤtigſten und 
geſchloſſenſten Parteien zu tragen, jener, welcher vielleicht 
die naͤchſte Zukunft gehört ... 

Von Stadt zu Stadt zieht er. Überall verſucht er, 
ſeine Minen in das „Beſtehende“ zu legen. Er reizt die 
Arbeiter auf, den Schneckengang der Reformen zu ver— 
laſſen; er zeigt ihnen den Weg der Gewalt als Erretter 
und Befreier. Und mancher, welcher nicht verſteht, die 
ungeduldigen Wuͤnſche ſeines leidenſchaftlichen Herzens 
mit den Zuͤgeln der Vernunft zu baͤndigen, fällt ihm zu. 

Jetzt nennt er ſich Anarchiſt! 

Nun wirkt er unter dieſem Zeichen. Das Wort 


ſcheint ihm treffend genug zu bezeichnen, was er erſtrebt: 


— 120 — 


er will keine Herrſchaft, weder die des Einzelnen, noch die 
einer Mehrheit. Indem er mit eiſerner Willenskraft ſich 
an alle moͤglichen Wiſſenſchaften heranwagt, zimmert er 
ſich das formloſe Gebaͤude einer Weltanſchauung zu— 
ſammen, in deſſen lichtloſen Raͤumen er ſich verirrt 
haͤtte, ſaͤhe er nicht durch das ſchlechtgefuͤgte Dach den 
blauen Himmel eines Ideals der Bruͤderlichkeit verheißend 
ſchimmern 

Er vertraut nur noch der Revolution. Mit einem 
Schlage wird fie das Paradies des friedlichen Beiſammen— 
ſeins ſchaffen. Daher ſtrebt jeder Flug ſeiner Sehnſucht 
zu ihr. Fuͤr ſie wirbt er: fuͤr die große Revolution ſeines 
Standes, nach welcher keine mehr ſein wird. 

So zieht er von Stadt zu Stadt. Unter wieviel 
falſchen Namen, mit wie oft ausgetauſchten Papieren, 
er weiß es nicht mehr ... Immer iſt er flüchtig: kein 
Tag vergeht, an dem er die Augen nicht offen, die Lippen 
nicht geſchloſſen halten muß, den Verfolgungen zu ent⸗ 
gehen. Oft nimmt ihn das Gefaͤngnis auf. Aber immer 
entlaͤßt es ihn wieder nach kurzen Zeitraͤumen: man hat 
ihm nichts nachweiſen koͤnnen. 

Da fallen in Berlin ſchnell hintereinander die Schuͤſſe 
auf den Kaiſer. Er jubelt den Attentaͤtern zu, welche 
beide Fanatiker waren, der eine obendrein ein Idiot, der 
andere zudem ein Wahnſinniger. Die Reaktion ſiegt. 
Ihre ſchreckliche Zeit der Verkommenheit beginnt: die 
niedrigſten Gefühle wagen ſich zu Tage. Verfolgungs⸗ 
trieb, Denunzierungsſucht, Gehaͤſſigkeit erfuͤllen die Herzen. 


Als Trupp — einer der erſten — verhaftet wird, 


glaubt er das Gefaͤngnis nie mehr verlaſſen zu koͤnnen. 


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— 121 — 


Die Faͤden ziehen ſich uͤber ſeinem Haupte zuſammen. 
Ein wunderbarer Zufall rettet ihn. Waͤhrend man noch 
auf den Hochverraͤter und Verſchwoͤrer fahndet ver— 
urteilte man den Majeſtaͤtsbeleidiger zu einem halben 
Jahre, ahnungslos, wer es iſt, den man in Haͤnden 
hat. Jeden Tag ſah er in dieſem halben Jahre uͤber ſich 
das Schwert gezuͤckt, bereit, niederzufallen ... Aber es 
faͤllt nicht. Er iſt wieder frei. Unter harten Entbehrungen 
erreicht er die Grenze, erreicht er Paris. Die andere 
Periode ſeines Lebens beginnt: die des Fluͤchtlings im 
Auslande. Er weiß, er kann keinen Schritt mehr nach 
Deutſchland hinein tun, der nicht todbringend werden 
müßte... | 

Aus dem verſteckten Schuͤrer und Wuͤhler, der ſchweig⸗ 
ſam uͤberallhin ſeine gaͤrende Saat verſtreut, wird nun 
der überall offen auftretende Propagandiſt, der Debattierer 
in den Klubs, der Redner an der Straßenecke und im 
Verſammlungslokal. 

Die franzoͤſiſchen Anarchiſten haben das erſte anar— 
chiſtiſch⸗kommuniſtiſche Organ gegründet: „Le Revolte!“ 
— Die Anhänger der neuen Lehre, welche ſich langſam, 
aber ſicher weiter und weiter auszubreiten beginnt, machen 
den Anfang mit der anarchiſtiſchen Organiſation „freier 
Gruppen“, wobei ſie zum erſtenmal von dem Prinzip 
der Dezentraliſation ausgehen. Der Arbeiterkongreß von 
Marſeille 1879 iſt kommuniſtiſch; ſeine Bedeutung iſt 
noch nicht zu ermeſſen .. . die Spaltung zwiſchen Kommunis⸗ 
mus und Kollektivismus iſt — aͤußerlich noch kaum be— 
merkbar — innerlich bereits vollzogen. ö 

Trupp iſt uͤberall. Sein durſtendes Herz hat nie 


— 122 — 


raſtloſer geſchlagen, wie in dieſen Jahren der großen, er— 
wachenden, mit ſich fortreißenden neuen Bewegung. Was 
er bei den Franzoſen hoͤrt, traͤgt er in den noch kleinen, 
aber bereits wachſenden Kreis ſeiner deutſchen Genoſſen. 

Da lernt er Carrard Auban kennen. Er ſieht dieſe 
reine, faſt kindliche Begeiſterung auf der Stirn des Fuͤnf— 
undzwanzigjaͤhrigen, dieſen unverſtaͤndlichen Mut, der ihn 
entzuͤckt, und dieſe alles vergeſſende Hingabe, welche ſich 
mit jedem Tag zu vermehren ſcheint. Aber kaum, daß 
er ihn kennen gelernt und ihn zum Freunde gewonnen, 
verliert er ihn auf lange wieder: Auban wird verurteilt. 
Die klingenden Worte ſeiner großen Rede vor den Richtern 
begleiten Trupp durch die beiden Jahre, welche ſie ge— 
trennt find... 

Als fie ſich 1884 in London wieder ſehen — beide 
Flüchtlinge — ift Auban ein anderer geworden, Trupp 
derſelbe geblieben. Nur die Erinnerung an die unver— 
geßlichen großen Tage der Empoͤrung verbindet fie noch — — 

Auban verſteht ihn jetzt erſt; aber er vermag ihn 
nicht mehr zu verſtehen. 

In Deutſchland iſt die Lehre zur Tat geworden. 
Ploͤtzlich hat ſich der aufgeſchreckten Welt ein Haupt 
des Entſetzens gezeigt: Wien, Straßburg, Stuttgart, der 
Niederwald und die Ermordung Rumpffs — alle dieſe 
Taten ſind geſchehen, welche der Ausbreitung der Idee 
der Freiheit ſo unendlich geſchadet, den Feinden ſo manche 
neue moͤrderiſche Waffe in die Hand gegeben haben, ſo 
daß von nun an — auf unabſehbare Zeit hinaus — 
das Wort „Anarchismus“ gleichbedeutend mit „Mörder 
geworden iſt. Kann es ſich hier je klaͤren? Iſt es nicht 


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verloren fuͤr Europa: preisgegeben dem ewigen Miß— 
verſtaͤndnis, der unerſaͤttlichen Verfolgung, dem wach— 
geweckten Haß? 

Trupp iſt in London — — in den aufreibenden 
und kleinlichen Kaͤmpfen der Zwietracht des Tages ſind 
feine Kräfte vergeudet bis heute — — — — — — 

Ploͤtzlich wachte Trupp auf. Er kam wieder zu ſich. 
Er ruͤckte an ſeinem Hut. Er ſah ſich um und hinauf 
zu den ſchwindelnden Woͤlbungen. 

Die ſchleppenden Worte des Prieſters verhallten noch 
immer in klagenden Klaͤngen, kaum verſtaͤndlich in der 
ungeheuren Weite des Raumes. Voller und ſchoͤner ant— 
wortete der Geſang der Knabenſtimmen im Chore. Noch 
einmal, dann warfen die Wände — zitternd die erklingen— 
den Wellen des Schalles zu tiefer Schoͤnheit ineinander— 
ſchmelzend — die Laute nieder auf die ſchweigſamen 
Menſchen 

Trupp ſah ſich wieder eng in die Menge gepreßt, 
aus deren Kleidern immer ſtaͤrker der feuchtdunſtige Ge— 
ruch aufſtieg, der ſich mit dem ſtaubigen Moderduft zu 
einer truͤben Schwuͤle vermengte. 

Nun waren ſie alle ſtill geworden, die Arbeitsloſen. 
Ermuͤdet waren die einen, betaͤubt die andern; faſt alle 
gefangen genommen von der Seltſamkeit der Situation. 
Die meiſten waren wohl ſeit ihrer Jugendzeit in keiner 
Kirche mehr geweſen. Nun wurden ſie gegen ihren Willen 
gefangen von Erinnerungen, die ſie laͤngſt begraben 
hatten. 

Manche lehnten in unruhigem Halbſchlummer dicht 
aneinandergeruͤckt an den Waͤnden der Baͤnke; andere 


— 124 — 


flüfterten ſich in gedruͤcktem Tone, kaum atmend, Fragen 
zu: ſie wollten wiſſen, wer dieſe marmornen Geſtalten, 
in den Trachten ferner Zeiten, dem wunderbaren Haarputz, 
mit den ernſten Mienen, in den herausfordernden Stellungen 
ſeien . .. Waren das jene, welche die Macht hatten, fie 
glücklich zu machen, fie zu verderben? — 

Von dem kecken Mut der Auflehnung, mit welchem 
ſie vor noch nicht einer Stunde vom Trafalgar Square 
fortgezogen waren, war wenig mehr zu ſpuͤren, nichts 
mehr zu ſehen. Ineinandergekeilt ſtanden ſie da — wie 
lange ſollten ſie denn noch ſo ſtehen? Weshalb gingen 
ſie nicht? — Was ſollten ſie hier? Hier wuͤrde ihnen 
doch keine Hilfe werden. Hier gab es doch keinen andern 
Troſt als Worte! Sie aber wollten Arbeit, Arbeit und 
Brot. 

Bitterkeit verbreitete ſich unter den Harrenden. In 
Trupp wallte fie auf wie Feuer. Von der Kanzel her 
drangen ſo einfoͤrmig und ſo regelmaͤßig langſam, wie 
niederſickernde Tropfen, die Worte des Prieſters. Er 
verſtand fie nicht. Keiner vielleicht verſtand fie. Sie 
erzählten von Dingen, welche nicht von der Erde find .. 

— Setzt all Euer Vertrauen auf Gott! lamentierte 
die klagende Stimme. 

— Auf Gott! — toͤnten weich, in wundervollen 
Klaͤngen der Hoffnung und des Jubels, die jugendlichen 
Stimmen zuruͤck. 

— Er allein kann Euch erretten! wieder der Prieſter. 

Ahnten die Hungernden den unbewußten Hohn dieſes 
ſchrecklichen Glaubens, der Luͤge war vom Anfang an bis 
an das Ende? — Eine Bewegung der Unruhe entſtand 


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— 1225 — 


unter ihnen. Alle waren erwacht; alle ſchuͤttelten den 
Schlummer der Betaͤubung von ſich ab. 

Da tönte ein ſchrilles Lachen von den Lippen Trupps, 
in welchem ſich Unglaube, Haß und Verbitterung ver— 
mengten. Rufe antworteten ihm von verſchiedenen Seiten. 
Mehrere lachten ebenfalls. — Dann ſtoßweiſes Gelaͤchter, 
hier und da. Verwirrte Rufe. 

Man bedeckte die widerwillig und mechaniſch ent— 
bloͤßten Koͤpfe. Ein Stoßen und ein Draͤngen entſtand. 

Die meiſten ſchoben dem Ausgange zu. Schnell er— 
goffen ſich die Reihen in die friſche Luft. Die Ans 
daͤchtigen atmeten auf. Gott der Herr, ohne deſſen Willen 
kein Haar zu Boden faͤllt, hatte die Gefahr von ſeinen 
Kindern gewandt. Sie waren befreit von den Ruchloſen. 
Sie waren wieder unter ſich. Der Prieſter, welcher einen 
Augenblick geſtockt hatte bei dem ausbrechenden Laͤrm, 
ſetzte wieder ein, und die Augen der Zuruͤckbleibenden 
wendeten ſich voll Vertrauen und heiterer Ruhe wieder 
ihm, ihrem Hirten, zu. 

Trupp grollte. Nichts waͤre ihm lieber geweſen, 
als ein Skandal an dieſem Orte. 

Die eintoͤnige Helle des feuchtkalten Oktober-Nach⸗ 
mittags umfloß wieder die aus dem Daͤmmerlicht von Weſt— 
minſter Abbey, aus ihrem „heiligen Schweigen“, in den 
Laͤrm des Tages Hinaustretenden. Der größte Teil der 
Arbeitsloſen hatte draußen warten muͤſſen. Er hatte 
muͤrriſch und zweifelnd die beſaͤnftigenden Worte eines 
Großwuͤrdentraͤgers der Kirche vernommen; oder er hatte 
den bitteren Wahrheiten des chriſtlich-ſozialen Abtruͤnnigen 
beifallſpendend gelauſcht. 


— 126 — 


Man einte ſich wieder zum Zuge nach dem vor kaum 
einer Stunde verlaſſenen Square. Man folgte dem Flattern 
der roten Fahne. Man engte ſich zuſammen in ge⸗ 
ſchloſſene Reihen, wie um den Hunger ſo weniger, die 
eigene Staͤrke ſo beſſer zu fuͤhlen. 

Trupp wurde fortgeſchoben. 

In taktmaͤßigen Schritten ſchlugen die ſchweren Fuͤße 
den harten Boden. Man faßte ſich unter. Ein unab⸗ 
ſehbarer Zug ſchob ſich durch die Enge von Parliament 
Biest 

Und aus dieſem Zug ſtieg wie auf gemeinſame Ver⸗ 
abredung ein Geſang auf. Tief, duͤſter, ſchwermuͤtig und 
grollend zugleich, klang er aus tauſend Kehlen zum Himmel 
empor, wie die Rauchwolke, welche den Ausbruch des 
Brandes verkuͤndet . 

Sie ſangen das uralte, unſterbliche Lied der „starving 
poor of Old England“. 

Let them bray until in the face they are black, 
That over oceans they hold their sway, 
Of the Flag of Old England, the Union Jack, 
About which ! have something to say: 
’Tis said that it floats o’er the free, but it waves 
Over thousands of hard-worked ill-paid British slaves, 
Who are driven to pauper and suicide graves — 

The starving poor of Old England! 

Und in maͤchtigem Chor den Refrain, in welchen 
jede Stimme einfiel: 

’Tis the poor, the poor the taxes have to pay, 

The poor who are starving every day, 


Who starve and die on the Queen's highway — 
The starving poor of Old England! 


— 127 — 


Noch ein Vers und noch einer — 


’Tis dear to the rich, but too dear for the poor, 
When hunger stalks in at every door — 


Und ſchließend mit furchtbarer, hoffnungdurchjauchzter, 
ſich ermannender Drohung: 

But not much longer these evils we'll endure, 

We the working men of Old England! 

Trupp ſtieß ſich mit Gewalt aus feiner Reihe und 
bog in eine Nebenſtraße ein. 

Hinter ihm verſaͤnk in den immer tiefer fallenden 
Schatten Weſtminſter Abbey. In ſeinem Ohr verhallten 
die truͤben, wehmuͤtigen Toͤne, in welchen die Hungernden 
ihre Leiden ausklagten . . . 

’Tis the poor, the poor the taxes have to pay, 

The poor who are starving every day, 
Who starve and die on the Queen’s highway — 
The starving poor of Old England! 

Kein Richter, weder im Himmel noch auf Erden, 
vernahm die furchtbare Anklage dieſer Elenden, welche 
noch immer auf Gerechtigkeit warteten. 

Mit geſenktem Kopf, die Lippen feſt aufeinander⸗ 
gepreßt, hin und wieder einen ſcharfen Blick um ſich 
werfend, um ſich uͤber die Richtung des Weges zu ver— 
gewiſſern, ſchritt Trupp dahin, wohl eine Stunde lang, 
dem Norden Londons zu. 


Viertes Kapitel 


Carrard Auban 


Waͤhrend dieſes ſelben Nachmittags, an welchem ſo 
viel zerſetztes Blut nach dem Herzen der Weltſtadt zu⸗ 
ſtroͤmte, ſaß Carrard Auban in ſeinem ſtillen, hohen 
Zimmer in einer der Straßen noͤrdlich von Kings Croß, 
welche an Wochentagen nie ſehr belebt ſind, an Feſttagen 
aber von dem Fuß des Todes durchſchritten zu ſein 
ſcheinen. 

In dieſem Raum wohnte er, ſeitdem er wieder allein 
war. Nun ſeit laͤnger als einem Jahr ſchon. 

Es war einer jener nuͤchternen, kalten, ohne Komfort 
ausgeſtatteten Zimmer, fuͤr welche man woͤchentlich zehn 
Schilling bezahlt, in deſſen einſamer Stille man dafuͤr 
aber auch leben kann, ohne von einem Geraͤuſch des Außen⸗ 
lebens geſtoͤrt zu werden. Das ganze dreiſtoͤckige Haus 
war ſo Zimmer fuͤr Zimmer vermietet; die Bewohner 
des Hauſes ſahen ihre Landlady nur, wenn fie ihr die 
woͤchentliche Miete bezahlten, ſich ſelbſt untereinander faſt 
nie. Zuweilen begegnete ſich der eine mit dem andern 
auf der Treppe, um haſtig und grußlos voruͤber zu eilen. 

Aubans Zimmer war durch eine ſpaniſche Wand, 
welche bis zur Haͤlfte der Deckenhoͤhe reichte, in zwei 


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— 129 — 


ungleiche Teile geteilt; ſie verdeckte das Bett und ließ 
eine groͤßere Haͤlfte frei, welche hauptſaͤchlich durch einen 
Tiſch von ungewoͤhnlichem Umfang gefuͤllt wurde. Die 
Groͤße dieſes Tiſches ſtand im Verhaͤltnis zu der maͤchtigen, 
bis an die Decke ſich erſtreckenden Buͤcheretagere, die eine 
Bibliothek beherbergte, deren Zuſammenſetzung in ihrer 
Art vielleicht einzig war. | 

Sie umfaßte in erfter Linie die philoſophiſchen und 
volkswirtſchaftlichen Werke der großen Denker Frankreichs, 
von Helvetius und Say bis Proudhon und Baſtiat; nicht 
in gleicher Fuͤlle, jedoch in den beſten Ausgaben jene der 
Englaͤnder: von Smith bis hinauf zu Spencer. Beſonders 
beachtet waren auch hier die Vertreter der Freihandels— 
lehre. Ferner eine luͤckenhafte, aber ſehr intereſſante 
Sammlung von Schriften, Zeitungen, Broſchuͤren, Flug⸗ 
blaͤttern uſw. zur Geſchichte der Revolutionen des 19. Jahr⸗ 
hunderts, vorzugsweiſe zur Geſchichte der vierziger Jahre. 
Dieſes Erbteil ſeines Vaters, das er lange Zeit faſt un⸗ 
beachtet gelaſſen hatte, wußte der jetzige Beſitzer jeden 
Tag mehr und mehr nach ſeinem wahren Werte zu 
ſchaͤtzen. 

Sodann enthielt die Bibliothek eine ungeordnete und 
kaum zu ordnende Fuͤlle von Material zur ſozialen Frage: 
dem Forſcher der Zukunft ſicherlich eine koͤſtliche Fund⸗ 
grube zur Geſchichte der Arbeiterbewegungen. Es war 
von Auban ſelbſt geſammelt; hier lag übereinander ge: 
ſtapelt, was der Tag ihm in die Hand gedruͤckt. Das 
war ein lebendiges Stuͤck der Arbeit ſeiner Zeit, und wahr⸗ 
lich nicht das ſchlechteſte 

Das Erkennen war Auban letztes Ziel. Es galt ihm 

VIII 9 


— 130 — 


mehr als Kenntniſſe, die ihm nur Helfer und Handlanger 
waren, jenes zu erreichen. 

Nur eine Reihe fuͤllten die Werke der dichtenden Kunſt. 
Hier ſtand Viktor Hugo neben Shakeſpeare, Goethe neben 
Balzac. Aber nur in ſeltenen Stunden der Erholung 
wurde nach dem einen oder nach dem anderen dieſer 
Baͤnde gegriffen. 

Dieſer Tiſch, deſſen Platte aus einem einzigen, un⸗ 
geheuren Mahagoniſtuͤck gearbeitet war, und dieſe Bib— 
liothek, in welcher jedes einzelne Buch fuͤr den Beſitzer 
von beſonderem Wert war — denn dieſer hatte die Ge— 
wohnheit, jedes Buch, das er geleſen hatte und das ihm 
nicht wertvoll genug erſchien, von ihm zum zweitenmal 
geleſen zu werden, ſofort zu verbrennen — bildete den 
einzigen und ganzen Reichtum Carrard Aubans. Er hatte 
ihn von Paris nach London begleitet und er machte ihm 
die kalten Waͤnde der Fremde heimiſch. 

Kein Kunſtwerk irgendeiner Art ſchmuͤckte den Raum; 
jeder Gegenſtand trug die Spuren einer täglichen Bes 
nutzung an ſich. 

Nur zwei kleine Portraͤts hingen uͤber dem Kamin. 
Das eine ſtellte den großen Fanatiker der Revolution, 
deſſen wilde Kraft ſich gebrochen hatte an den Mauern 
weſteuropaͤiſchen Lebens, und das andere den großen 
Denker des Jahrhunderts, hinter deſſen maͤchtiger Stirn 
eine neue Welt nach Geſtaltung zu ringen ſchien, dar: 
Michael Bakunin und Pierre Joſeph Proudhon. Beide 
Bilder waren Auban eine Erinnerung an den einzigen 
Menſchen, der ihn unveraͤndert geliebt hatte, ſolange er 
ihn kannte. 


— 131 — 


Aubans Augen ruhten auf Proudhons vertieften, 
großen Zuͤgen und er dachte an das maͤchtige Leben dieſes 
Mannes. 

Er ſaß vor dem Kamin auf einem niedrigen Lehn— 
ſtuhl und hielt die Fuͤße nach der waͤrmenden Flamme 
hin geſtreckt. So in ſeiner ganzen hageren Laͤnge lag 
er da ſeit zwei Stunden, die Blicke bald in die leiſe 
kniſternde Glut gebohrt, bald fie langſam durch das 
Zimmer wandern laſſend, gleich als folgten ſie den immer 
wieder entfliehenden Gedanken. 

Er traͤumte nicht. Er dachte, raſtlos und unablaͤſſig. 

Er war ſehr bleich und auf ſeiner Stirn lagen wie 
Morgentau die feinen Perlen kalten Schweißes. Der gleich⸗ 
maͤßige, ſonſt wie gegoſſene Ausdruck ſeines Geſichts war 
geſtoͤrt durch die Muͤhe des Denkens. 

Es war ein kuͤhler, feuchter, nebelſchwerer Oktober— 
nachmittag, von welchem die Sonne ſich mutlos abgewandt 
hatte. 

Auban ſtarrte regungslos in die Glut des Feuers, 
das mit jeder Stunde, in der die Daͤmmerung von 
draußen her ſeine Fenſter mit dichteren Falten behaͤngte, 
das Zimmer mehr erleuchtete. 

Er war ſeit einiger Zeit von einer Unruhe gequält, 
die er ſich nicht zu erklaͤren vermochte. Die Harmonie 
zwiſchen ſeinem Wollen und ſeiner Kraft war geſtoͤrt. 

Zuweilen, wie in den letzten Tagen, glaubte er dem 
Manne zu gleichen, der ein fuͤrſtliches Vermoͤgen ver— 
ſchwendet hat und, zum Bettler geworden, nicht weiß, 
von was weiter leben. — 


Dann wieder, wie heute, fühlte er, wie eine Über: 
9 ** 


— 132 — 


fuͤlle von Kraft und Ideen ihn zu außergewöhnlichem i 
Handeln draͤngte. 

Noch war er ſich nicht klar: war ſein Wille ſeiner 
Kraft nicht gewachſen, oder galt es nur, der vorwaͤrts 
treibenden den erſten Stoß zu verſetzen? 

Es wuͤrde ſich entſcheiden. 

Solange Auban denken konnte, hatte er gekaͤmpft, 
gekaͤmpft gegen alles, was ihn umgab. Als Knabe und 
Juͤngling wie ein Verzweifelter gegen aͤußere Feſſeln und 
wie ein Tor gegen das Unabaͤnderliche; wie ein Rieſe 
gegen Schatten und wie ein Fanatiker gegen das Staͤrkere. 
Als Mann mit ſich ſelbſt: den zaͤhen, aufreibenden, herben 
Kampf mit ſich ſelbſt, mit ſeinen eigenen Vorurteilen, 
feinen eigenen Einbildungen, feinen uͤbertriebenen Hoff: 
nungen, ſeinen kindiſchen Idealen. 

Einſt hatte er geglaubt, die Menſchen muͤßten ſich 
von Grund aus aͤndern, damit er frei ſein koͤnne. Dann 
hatte er erkannt, daß er ſelbſt erſt frei werden muͤſſe, 
um frei zu ſein. 

So hatte er denn angefangen, all den Wuſt aus 
ſeinem Gehirn fortzuraͤumen, den Erziehung, Irrtum, 
wahlloſe Lektuͤre dort aufgeſpeichert hatten. 

Es mußte wieder hell und klar in ſeinem Kopfe 
werden, das fuͤhlte er, wenn er nicht in Nacht und 
Duͤſternis verſinken wollte. Es galt, ſich ſelbſt zu finden, 
innerlich unabhaͤngig zu werden von allen Feſſeln. 

Er wurde wieder er ſelbſt. Hell und licht wurde es 
in ihm, von allen Seiten brach die Sonnenflut auf ihn 
herein und gluͤcklich wie ein Geneſender ließ er ſich von 
ihren Strahlen beſcheinen. 


— 133 — 


Nun vermochte er ohne Bitterkeit ſeiner Jugend zu 
gedenken: uͤber ihre Irrtuͤmer zu laͤcheln und nicht mehr 
zu trauern uͤber Jahre, ſcheinbar verloren in einem 
Kampfe, den in unſerer Zeit jeder auszufechten hat, der 
ſich über fie erheben will... 


Wer war Carrard Auban? — Und welches war 
ſein Leben geweſen bis heute? 

Er war jetzt faſt dreißig Jahre alt. In dieſen dreißig 
Jahren hatte er ſich aͤußerlich eine unerſchuͤtterliche Ruhe 
und Überlegenheit, innerlich eine kuͤhle Gelaſſenheit, die 
ihn jedoch immer noch nicht vor heftigen Schmerz: und 
Grollempfindungen bewahrte, erworben ... Er war mit 
einem Wort: ein unerbittlicher Kritiker, fuͤr den es keine 
anderen Geſetze gab, als jene der Natur. 

Er hatte ſeine Mutter nie gekannt. Das einzige faſt 
und das letzte, deſſen er ſich aus ſeiner erſten Jugend 
erinnerte, waren die wilden, unklaren, leidenſchaftlichen 
Erzaͤhlungen und Deklamationen eines alten, in Idealen 
verkuͤmmerten, leidenſchaftlichen Mannes geweſen, der 
mit ihm eine kleine, enge, ſtets unordentliche Stube in 
der Naͤhe des Boulevard Clichy — dieſen Straßen, in 
welchen ſich ſo oft die Verkommenheit mit dem Zug 
der Groͤße verſteckt — bewohnt hatte. Dieſer Mann 
war ſein Vater geweſen. 

Wie ſein Vater zu der Heirat mit der jungen Deutſchen 
gekommen war, die ihre Jugendjahre in der ewig freud— 
loſen und ewig unterdruͤckten Stellung einer Erzieherin 
in Paris verloren hatte, wußte eigentlich nur Einer. 


— 134 — 


Dieſer eine war ſein einziger Freund und hieß Adolphe 
Ponteur. Was Carrard von ihm, der zugleich des im 
ſechſten Jahre völlig verwaiſten Knaben einziger Be— 
ſchuͤtzer wurde, uͤber ſeinen Vater in ſpaͤteren Jahren er⸗ 
fuhr, war ungefaͤhr das Folgende: 

Die Wiege Jean Jacques Aubans — er war nie 
auf dieſe Vornamen getauft, aber er nannte ſich nie 
anders — war getragen worden von den letzten Wogen 
der großen Revolution: ſein Vater war Getreidehaͤndler 
geweſen, der unter dem erſten Napoleon durch kluge 
Berechnung ſein verlorenes Vermoͤgen zehnfach wieder— 
gewonnen hatte. Jean Jacques wurde mit Hilfe des— 
ſelben faſt fuͤnfzig Jahre alt, ohne zu wiſſen, daß man 
zum Leben Geld braucht. Als er vor dieſe Wahrheit 
geſtellt wurde, war er ein durchaus lebensunkundiger, 
durchaus gluͤcklicher und durchaus einſamer, wenn auch 
nicht vereinſamter Mann. Ein Mann, der in dieſen 
fuͤnfzig Jahren unermeßlich viel geleſen und gelernt hatte, 
ohne jemals daran zu denken, das Gelernte zu ver- 
werten; ein Revolutionaͤr der Ideen der Menſchheit ohne 
verbitternde Hoffnungen und faſt auch ohne Wuͤnſche; 
ein Kind und ein Idealiſt von einer ruͤhrenden Unbe— 
fangenheit und einer erſtaunlichen Friſche des Körpers 
und des Geiſtes. Er hatte ſtets ſeinen Ideen, nie dem 
Leben gelebt und ein Weib nie berührt... 

Ein halbes Jahrhundert war an dieſem Manne voruͤber— 
gezogen, ohne ihn in feinen Strudel geriſſen und ver— 
ſchlungen zu haben. Der Waffenlaͤrm des korſiſchen Erd— 
eroberers, des durch Gewalt Gehobenen und Geſtuͤrzten, 
durch Gewalt Großen und Kleinen, verfolgte ihn durch 


n 


* 2 e Y 22 


— 135 — 


ſeine ganze Jugend. Doch er lauſchte auf die Taten des 
Tages nicht mehr, als Kinder auf die Vorzeiterzaͤhlungen 
ihrer Ammen und Erzieher lauſchen. 

Die Revolution von 1830, ſie war fuͤr ihn nur ein 
Schatten, der ſtoͤrend auf ſeine Arbeit fiel... 

Denn er beſchaͤftigte ſich damit, Malthus' ſchreckliche 
Irrtuͤmer, die Erde habe nicht Raum und nicht Nahrung 
genug fuͤr Alle, nachzurechnen, ohne ſie ergruͤnden zu koͤnnen. 

Er ahnte das Herannahen eines neuen Kampfes, 
gegen den die politiſche Zwiſtigkeit des Tages nur ein 
Knabengezaͤnk war. Daher horchte er mit derſelben Auf— 
merkſamkeit des genialen St. Simon prophetiſchen 
Worten, wie den wilden Fluͤchen Babeufs, des Kommu— 
niſten; daher verfolgte er mit demſelben Eifer Fouriers 
Phalanſtère, die unmoͤglichen Phantaſien eines Toll— 
haͤuslers, und die Arbeiten der Reformer waͤhrend der 
Zeit des Julikoͤnigtums; und ſchwankend von einem zum 
andern ſah er heute in dem Ikarien des „Vater Cabet“ 
das gelobte Land, morgen in Louis Blanc, dem gleisne— 
riſchen Schoͤnredner, dem rettenden Heiland entgegen. 

Von dem Proletariat ſelbſt, das in dem Morgen: 
grauen dieſer Jahrzehnte die erſten, ſchweren Atemzuͤge 
des Erwachenden tat und — noch unbewußt ſeiner Kraft — 
die rieſigen Glieder dehnte, ſah er nichts. 

Von demſelben Augenblick an, in welchem ihn die 
Notwendigkeit des Erwerbs uͤberwaͤltigte, wurde dies 
anders: zehn Jahre genuͤgten, um aus dem zuruͤckge— 
zogenen, friſchen und lernfrohen einen verbitterten, ſchnell 
alternden und dennoch täglich mehr zum Leben erwachen— 
den Menſchen zu machen. Es waren nicht mehr die 


— 136 — 


großen Gögen der Zeit, die er liebte — er begann über 
ſie zu ſpotten und an den Ideen, den kleinen Kaͤmpfen 
des Tages teilzunehmen, die ihn fuͤnfzig Jahre lang an⸗ 
gewidert hatten. Außerordentlich ſchwer lernte er, ſeine 
Kenntniſſe und Faͤhigkeiten zu verwerten; er lebte kuͤm⸗ 
merlich, in untergeordneten Beſchaͤftigungen verſchiedenſter 
Art; zu alt, um das Leben noch ganz verſtehen zu lernen, 
und zu jung in ſeinem jungen Erwachen, um es nicht 
mit dem ganzen Ungeſtuͤm eines unerfahrenen Zwanzig⸗ 
jaͤhrigen zu umfaſſen, wurde er von einer Enttaͤuſchung 
zur andern geriſſen, die ſein Urteil nicht klarer und ſeinen 
Fuß nicht ſicherer machten. 

So ſah die Februarrevolution den alternden Mann 
auf den Barrikaden unter den Scharen der Aufſtaͤndiſchen, 
die ſich um das Phantom der politiſchen Freiheit ſchlugen. 
Seine Begeiſterung und fein Mut waren um nichts ges 
ringer, als die der Arbeiter in den blauen ee neben 
denen er ſtand. 

Der Fall des Julikoͤnigtums erfuͤllte ihn mit maß⸗ 
loſen Hoffnungen. Seine Buͤcher lagen verſtaubt; aus⸗ 
geloͤſcht war hinter ihm die Vergangenheit feines ſtillen 
Denkerlebens. 

Er war jetzt ein Arbeiter. Das Luxembourg, wo die 
Delegierten ſeines Standes auf verlaſſenen Sammetſeſſeln 
thronten, war ihm der Himmel, von dem er Rat und 
Hilfe auch fuͤr ſich erhoffte. Taͤglich ging er zu der 
Mairie ſeines Arrondiſſements, um den Betrag zu erheben, 
den der Staat ſich gezwungen ſah, an alle unbeſchaͤftigten 
Arbeiter — welche Arbeit haͤtte Jean Jacques in den 
Nationalwerkſtaͤtten tun koͤnnen! — auszuzahlen. 


— 137 — 


Er ſah nicht die Wahnwitzigkeit dieſes Beſchluſſes, 
der zu neuen und blutigeren Kaͤmpfen fuͤhren mußte. 
Denn zweierlei hatte er in SO Jahren noch nicht gelernt: 
daß der Staat nur ausgeben kann, was er eingenommen 
hat; und daß daher alle Verſuche, die ſoziale Frage durch 
ihn, von oben her zu loͤſen, von vornherein ausſichtslos 
ſind. 

Aber als er es an ſich haͤtte lernen koͤnnen, waͤhrend 
der Tage der Juniinſurrektion, in denen die Arbeit ihren 
erſten, wirklichen Kampf mit dem Kapital aufnahm und 
aus der furchtbaren Niederlage in dieſer merkwuͤrdigſten 
aller Schlachten die Lehre zog, daß die Vorrechte der 
Macht mit toͤdlicheren Waffen, als denen der Gewalt, 
bekaͤmpft werden muͤſſen, lag er krank unter der Wucht 
der ungewohnten Aufregungen danieder. 

Zu feinem Gluͤck. Denn er, welcher ſchon die poli⸗ 
tiſche Revolution des Februar — die Abrechnung der 
Bourgeoiſie mit dem Koͤnigtum — mitgekaͤmpft hatte, 
deren Belangloſigkeit er nicht zu erkennen vermochte, wie 
haͤtte er ſich fern zu halten vermocht von den Tagen, in 
denen das Proletariat mit dem Buͤrgertum abzurechnen 
gedachte? Haͤtte er nicht ein trauriges Ende finden muͤſſen, 
verdurſtend und verfaulend in den ſchrecklichen Keller⸗ 
löchern, in die man die Gefangenen zufammenpferchte, 
oder verkommend als Deportierter in einer der uͤber⸗ 
ſeeiſchen Strafkolonien ſeines Landes? — 

Er blieb davor bewahrt. Als er ſich erhob, ſtand 
das bebende Paris im Zeichen des Schreckens vor dem 
roten Geſpenſt des Sozialismus. 

Auf den Kampfplatz war ein Mann getreten, deſſen 


N 


Blick tiefer als irgendein anderer die Menſchen und die 
Dinge durchſchaute. Proudhon hatte ſein erſtes Journal, 
den „Représentant du Peuple“, gegründet und am 
31. Juli in der Nationalverſammlung unter Hohnge— 
laͤchter und Beſchimpfungen ſeine beruͤhmte und beruͤchtigte 
Rede uͤber die Einkommenſteuer, die Unentgeltlichkeit und 
Gegenſeitigkeit des Kredits gehalten. 

Doch Auban ſah in dem groͤßten und kuͤhnſten Manne 
ſeiner Zeit nichts als den Verraͤter an der „Sache des 
Volkes“, weil er die Schlachten des Juni nicht mit⸗ 
geſchlagen hatte. 

Blind, wie er war, vermochte er ebenſowenig das 
Projekt zu begreifen — vielleicht das bedeutendſte und 
weittragendſte, das jemals einem menſchlichen Gehirne 
entſproſſen — welches Proudhon ein halbes Jahr lang 
als Banque d’Echange erörterte und vom Dezember 1848 
bis zum April des naͤchſten Jahres als Banque du Peuple 
in ſeinem zweiten Journal „Le Peuple“ zu realiſieren 
verſuchte, bis die rohe Hand der Gewalt das faſt fertige 
Gebaͤude in den Grund hinein zerſtoͤrte, indem es den 
Baumeiſter einkerkerte. 

Was der Vater in der Wildernis der Tage, vielleicht 
weil es ihm zu nahe ſtand, nicht zu erfaſſen vermochte, 
ſollte der Sohn nun in ſeiner ganzen Tragweite und 
ungeheuren Bedeutung erkennen: unabhaͤngig vom Staate 
vermittels des Prinzips der Gegenſeitigkeit jedem zu er— 
moͤglichen, ſeine Arbeit zum vollen Ertrage ihres Wertes 
auszutauſchen, und ſo ihn, mit einem Wort: zu befreien! — 

Dieſe letzte, groͤßte, unblutigſte aller Revolutionen, die 
einzige, welche die Garantien eines dauernden Sieges in 


— 139 — 


ſich traͤgt — an ihrem erſten Erwachen ging Jean 
Jacques faſt gleichguͤltig voruͤber. 

Die Wahl Louis Napoleons zerſtoͤrte die letzte ſeiner 
Hoffnungen. Von nun an haßte er Cavaignac, den 
Wortbrecher, nicht mehr als dieſen Uſurpator. 

Es dauerte lange, bis er ſich von der dumpfen Be— 
taͤubung erholen konnte. Es dauerte Jahre. Er lebte 
ſie in ſteter Sorge um ſein taͤgliches Brot. Dieſe Sorge 
war es vielleicht, die ihn noch am Leben erhielt. Seine 
ſpaͤte Heirat war mehr das Werk eines Zufalls, wie der 
uͤberlegung und des Wollens. Er traf mit der Frau 
ſeiner Liebe zuſammen in demſelben Hauſe, in welchem 
ſie Erzieherin war und in welches er kam, um ihre an 
zwei unbegabten Soͤhnen begonnene Erziehung zu voll— 
enden. Die traurige Abhaͤngigkeit ihrer Lage fuͤhrte ſie 
enger zuſammen: ſie intereſſierte ſich fuͤr ihn und er 
liebte das ſiebenundzwanzigjaͤhrige Maͤdchen aufrichtig. 

Sie lebten zuſammen in einem ſtillen und nicht 
großen, aber ſicheren Gluͤck. Carrard wurde geboren als 
der Sohn eines Mannes, der laͤngſt die Mittagshoͤhe 
des Lebens uͤberſchritten hatte, und einer Frau, die noch 
weit von ihr entfernt war. 

Die Mutter ſtarb bei der Geburt. Jean Jacques 
brach voͤllig zuſammen. Er war jetzt in der Tat ein 
alter und muͤder Mann. Er hatte ſeinen Glauben mit 
ſeiner Friſche verloren. Seine Leidenſchaft war verflogen, 
und was er dafuͤr zu geben ſuchte, waren nur noch 
leidenſchaftlich aufgeregte Deklamationen. Zwiſchen ihnen 
und den unbeholfenen Zaͤrtlichkeiten Adolphe Ponteurs 
wuchs der kleine Carrard auf und war ſechs Jahre alt, 


1 


als ſein Vater mit einem ſchrecklichen Fluch gegen den 
dritten Napoleon und ohne einen Blick fuͤr ihn ſtarb. 

Das iſt in großen Zuͤgen, was Adolphe Ponteur dem 
Kinde uͤber ſeine Eltern erzaͤhlte in den Jahren, in 
welchen er ihm ein beſſerer Vater war, als es der rechte 
je haͤtte ſein koͤnnen. Er teilte ſein ſchmales Brot, 
ſein enges Zimmer und ſein altes Herz mit dem Knaben; 
er wollte ihn ſchreiben und leſen ſelbſt lehren, und ſetzte 
ſeinen Stolz darein, es durchzufuͤhren, aber es ſtellte 
ſich heraus, daß es nicht Carrard, ſondern ihm ſelbſt an 
den Faͤhigkeiten dazu mangelte. So ſandte er ihn von 
ſeinem neunten Jahre ab in die große Stadtſchule ſeines 
Arrondiſſements. 

Der Krieg von 1870 kam und der Knabe hatte ſein 
dreizehntes Jahr erreicht. Adolphe traͤumte von der Gloire 
ſeiner Landsleute und Carrard lebte unbekuͤmmert weiter. 

Die Tage der Kommune waren da, in denen ganz 
Paris abermals ein Chaos von Blut, Rauch, Laͤrm, Wut 
und Wahnſinn zu ſein ſchien; mit Schrecken ſah Adolphe 
in den dunklen Augen des Knaben eine Flamme auf⸗ 
ſchlagen, welche ihn zum erſtenmal wieder an Jean Jacques 
erinnerte, und er, der ehrliche Kleinbuͤrger, der immer 
nur die aͤußeren Schrecken einer Revolution vor Augen 
gehabt hatte, ohne befaͤhigt zu ſein, ihre inneren Seg⸗ 
nungen zu erkennen, erſchrak daruͤber ſo, daß er den 
Entſchluß faßte, ſich von ihm zu trennen und ihn fort⸗ 
zubringen aus dieſem „vergifteten“ Paris, dieſem Paris, 
ohne das er ſelbſt nie haͤtte leben koͤnnen. 

Er brachte ihn nach dem Elſaß, nach Muͤlhauſen, 
der langweiligen, großen Fabrikſtadt, der jetzt, nachdem 


— 141 — 


ſich der „große Krieg“ ausgetobt hatte, die Aufgabe ge— 
worden war, auf der Grenze zwiſchen den erſchoͤpften, 
aber nicht verſoͤhnten Feinden zu balancieren. Ponteur 
beſaß dort eine alleinſtehende Verwandte, eine echte Fran⸗ 
zoͤſin, die nie ein Wort Deutſch gelernt hatte, und 
Carrard Verwandte von ſeiner Mutter her: einen deut⸗ 
ſchen Regierungsbeamten, der ſich die Berufung auf 
dieſen hoͤheren Poſten durch außergewoͤhnliche diploma⸗ 
tiſche Begabung verdient hatte, das heißt dadurch, daß 
er ſeine Gedanken und Gefuͤhle trefflich unter Worten 
zu verbergen verſtand. 

Mademoiſelle Ponteur ging außerordentlich liebreich 
und aͤngſtlich mit Carrard um, gab ihm ein kleines Zimmer 
und zu eſſen, und ließ ihn im uͤbrigen tun und laſſen, 
was er wollte. In den vier Jahren, in denen er unter 
ihrem Dache, welches nichts mehr zu beſchuͤtzen hatte, als 
die ſtillen Erinnerungen vergangener Zeiten, lebte, geſchah 
es nicht ein einziges Mal, daß er mit einer Bitte zu 
ihr gekommen waͤre, und nicht ein einziges Mal, daß 
ſie es gewagt haͤtte, ihm einen Rat zu erteilen. Sie 
wußte ganz und gar nicht, was ſie mit ihm anfangen 
ſollte, und fühlte fich ſehr erleichtert, als fie merkte — 
und ſie merkte es in der erſten Stunde —, daß der 
Knabe bereits ſehr gut gelernt, mit ſich ſelbſt fertig zu 
werden. 

Die Verwandtſchaft ſeiner Mutter erfuͤllte ihre Pflichten 
gegen ihn dadurch, daß ſie ihn jede Woche einmal an 
ihren Familientiſch lud, wo er inmitten einer Schar ver: 
zogener und laͤrmender Kinder ſaß, deren Sprache er 
anfangs gar nicht und ſpaͤter nur ſchwer verſtand, ſich 


— 142 — 


immer ſehr unbehaglich fühlte und es mit der Zeit eben⸗ 
falls dahin brachte, daß man ſich nicht weiter um ihn 
kuͤmmerte und es nicht uͤbel vermerkte, wenn er mit 
ſeinen Beſuchen immer ſparſamer wurde. 

Bei Mademoiſelle Ponteur lernte er ſein Alleinſein 
und ſeine Unabhaͤngigkeit ſchaͤtzen; bei ſeinen Verwandten 
ſog er einen unaustilgbaren Widerwillen gegen deutſches 
Buͤrgerleben in ſich ein. 

Er blieb fuͤnf Jahre in dieſem Ort, fuͤnf Jahre, in 
denen er nie nach Paris zuruͤckkehrte. Seine Ferien ver⸗ 
brachte er auf Fußreiſen in den ſuͤdlichen Vogeſen, die 
ſo wenig bekannt und in ihrer Einſamkeit und keuſchen 
Herbheit ſo ſchoͤn ſind. Sein Blick ſah nach Paris, wenn 
er auf der Grenze der Gebirgshoͤhe hinſchritt. 

Als er fuͤnfzehn Jahre alt war, fand er einen Freund 
in der fremden Stadt. Es war ein franzoͤſiſcher Arbeiter, 
der ſeinen Vater gekannt, auf irgendeine Weiſe von 
Carrard gehoͤrt hatte und ihn eines Tages anredete, als 
er von der Schule kam. Von dem Tage an ſaß Carrard 
jeden Abend, wenn die Feierſtunde geſchlagen hatte, in 
einer kleinen Wirtſchaft inmitten eines Kreiſes von Ar— 
beitern, unter denen keiner war, der nicht wenigſtens 
doppelt ſo viel Jahre gezaͤhlt haͤtte, als er ſelbſt, und 
von denen jeder die beſondere Pflicht zu haben glaubte, 
dem „pauvre enfant“, das hier „ſo allein“ war, etwas 
Liebes zu erweiſen. Der eine drehte ihm Zigaretten, der 
andere lehrte ihn Billard ſpielen und der dritte erzaͤhlte 
ihm von den vergangenen großen Tagen, als die Voͤlker 
verſucht hatten, ſich freizu machen: „Vive la Commune!“ 

Carrard hoͤrte von den Hoffnungen und den Wuͤnſchen 


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— 143 — 


des Volkes aus dem Munde derer, die zu ihm gehoͤrten. 
Er begann zu ahnen, zu ſehen, zu denken. Aber nur 
wie durch einen Schleier. 

Die Schule wurde ihm zum Gefaͤngnis, da ſie ihn 
zwang das zu lernen, was er fuͤr unnuͤtz hielt, und ihn 
nichts von dem lehrte, was er zu wiſſen wuͤnſchte. Sie 
gab ihm auf keine ſeiner — nie geſtellten — Fragen eine 
Antwort. | 

Er hatte keine Freunde unter feinen Schulgenoſſen. 
Er war nicht beliebt, aber keiner haͤtte es gewagt, ihm 
etwas in den Weg zu legen. 

Nur einer ſuchte ſeine Freundſchaft; es war der 
aͤlteſte Sohn ſeiner Verwandten. Er hieß Friedrich Waller 
— Waller war auch der Maͤdchenname von Carrards 
Mutter geweſen — und war mit Carrard im gleichen 
Alter, mit dem er jahrelang dieſelben Klaſſen derſelben 
Schule beſuchte. Er war klug ohne beſondere Begabung, 
gleichguͤltig ohne ein inneres Intereſſe an Carrard je 
ganz erſticken zu koͤnnen, und von dem Wunſche beſeelt, 
deſſen Vertrauen zu erwerben, das dieſer ihm nie, auch in 
den gewoͤhnlichſten Dingen nicht, ſchenkte; und trotzdem 
ihn dieſe Unzugaͤnglichkeit oft erbitterte, verlor er in 
dieſen Jahren nie ein Gefuͤhl der Sympathie fuͤr Carrard, 


das ſich bei ihm aus Intereſſe, Bewunderung und Neu— 
gierde zuſammenſetzte. 


Carrard war in ſeinem achtzehnten Jahre ein hoch 
aufgeſchoſſener, blaſſer, äußerlich völlig leidenſchaftsloſer, 
innerlich ſich in Gedanken und Leidenſchaften verzehrender 
Menſch, der feine Tage in dumpfer Reſignation auf 
der Schulbank und in zwangloſem Verkehr mit ſeinen 


Bet? 


Freunden, den Arbeitern, bei Pere Frangois, und feine 
Nächte in wahnfinnigen Grübeleien über Gott und die 
Unſterblichkeit der Seele und über jenen tauſend Fragen, 
die jeder Denkende einmal an ſich und in fich ſelbſt ge⸗ 
loͤſt haben muß, verbrachte. 

Als er fuͤnfzehn Jahre alt geworden war, vernahm 
er aus Paris die Todesnachricht ſeines alten Freundes — 
es war das letztemal in ſeinem Leben, daß er einen 
Schmerz durch Traͤnen zu lindern vermochte; zwei Jahre 
ſpaͤter ſtarb die Frau, bei der er jahrelang gelebt, und 
mit der er nie ein inniges, aber auch nie ein unfreund⸗ 
liches Wort gewechſelt hatte. Sie hatte ihn wirklich 
lieb gewonnen, aber nie den Mut gehabt, es ihm zu 
zeigen. Er hatte ihr nie mehr und nie weniger ent⸗ 
gegenbringen koͤnnen, als eine unveraͤnderliche, fremde 
Achtung. 

Er verbrachte noch ein Jahr in einer andern Familie. 
Dann ging er mit einem leidlichen Zeugnis, mit dem er 
nichts anzufangen wußte, und mit einem unerſchuͤtterten 
Zukunftsglauben nach Paris zuruͤck. Wie eine ſchon ver⸗ 
loren geglaubte Mutter begruͤßte er die Stadt ſeiner 
Kindheit: tagelang tat er nichts anderes, als mit weit⸗ 
geöffneten Augen und klopfendem Herzen ſelig durch 
die Straßen zu irren und den Duft der Weltſtadt auf 
ſeine erregten Sinne wirken zu laſſen, dieſen Duft, 
welcher ſo berauſchend und ſo betaͤubend wirkt, wie der 
Kuß einer erſten Liebe in der erſten Nacht 

Er ſuchte eine Beſchaͤftigung und freute ſich, daß 
er waͤhrend der erſten vier Wochen keine fand. Was 
ſchadete es, daß er in dieſen vier Wochen die kleine 


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— 1485 — 


Summe verzehrte, die er als Hinterlaſſenſchaft eines 
Mannes, der ihn zaͤrtlich geliebt hatte, beſaß! Er wohnte 
in Batignolles. Mit der Sonne oft ſchon erhob er ſich 
und wanderte durch die betauten Wege des Pare Mon— 
ceaur und an dem antik ernſten Bau der Madeleine 
voruͤber, auf den weiten, hellen Platz, welcher in den 
letzten zwei Jahrhunderten ſo viel Blut getrunken hatte 
und dennoch dalag in ſeiner weiten, grauhellen Flaͤche, 
von der Sonne beſchienen, von dem rauſchenden Leben 
uͤberflutet, wie die heitere Stille im ewigen Aufruhr; 
wanderte hinunter an den ſchoͤnen, weitufrigen Fluß und 
ſah der Arbeit zu, die von hier aus Paris befruchtete, 
bis er ſich muͤde auf eine der Baͤnke des Tuilerien— 
gartens ſetzte und ſich von dem Lachen der Kinder um— 
toͤnen ließ, waͤhrend er in einem Buche blaͤtterte, in 
dem er nicht las. War dann der Mittag gekommen, 
und hatte er ſein Mahl in einem der unzaͤhligen be— 
ſcheidenen Reſtaurants des Palais Royal eingenommen, 
ſo konnte er ſtundenlang wieder vor einem der Cafés 
auf den großen Boulevards ſitzen und dieſes nervoͤſe, 
ewig erregte Leben in einer Art einſchlaͤfernder, ſuͤßer 
Betaͤubung an ſeinen halb geſchloſſenen Augen voruͤber— 
ſtroͤmen laſſen, bis er ſich aufraffte und, die Champs⸗ 
Elyſées hinunterſchlendernd, für die ſpaͤteren Nachmittags: 
ſtunden die ſchattigen Wege und die lauſchige Stille des 
Bois ſuchte, um erſt abends — nach einer fluͤchtigen 
Erfriſchung in einer der kleinen Wirtſchaften Auteuils — 
mit einem der Seinedampfer zur Cité wieder zuruͤckzu— 
kehren, wo er in ſtummer Andacht die in die Daͤmmerung 


vertauchenden Türme von Notre-Dame gruͤßte. Selten 
vn! 10 


— 146 — 


lockten ihn für den Reſt des Abends die öffentlichen 
Schauftellungen; aber er liebte es, das Quartier latin 
zu durchſchlendern, von einem Café zum anderen, und 
das laͤrmende Leben der Studenten und ihrer Maͤdchen 
zu beobachten; oder in der Gegend ſeiner Wohnung den 
Abend in einer Winkelſchenke im Geſpraͤch mit einem 
Arbeiter oder einem Kleinhaͤndler uͤber die Politik des 
Tages zu beſchließen, wenn ihn das gewaltige Treiben 
der Boulevards betaͤubt und ihre endloſen Lichterreihen 
geblendet hatten. 

Es waren die Flitterwochen ſeiner Liebe. Eine irre, 
trunkene Seligkeit hatte ſich völlig feiner bemaͤchtigt. Nach 
den vergangenen Jahren der Einſamkeit und der Eins 
toͤnigkeit trank er an dieſem Becher der Freude, welcher 
vollgefuͤllt war bis zum Rande und ihm unleerbar er— 
ſchien. 

— O Paris! ſagte Carrard Auban dann, — wie ich 
dich liebe! Wie ich dich liebe! — Gehoͤrſt du nicht auch 
mir! Bin auch ich nicht dein Kind? — Und der Stolz 
ſchwellte ſeine junge Bruſt und leuchtete aus ſeinen Augen, 
die nie ſo jung geweſen waren. Noch war er wie die 
emporwachſende Rebe, die ſich an fremder Größe auf: 
rankte und fie umſchlang mit den Armen der Sehn⸗ 
ſucht und der Hoffnung, an ihr allein zu erſtarken .. 

Als ſich aber ſeine Luſt und ſein Geld dennoch zu 
Ende neigten und er daran denken mußte, zu ſehen, wie 
und wovon er weiter leben koͤnne, erſchrak er nicht. Es 
duͤnkte ſeinen mutigen Kraͤften nicht allzu ſchwer. Und 
doch war es nur ein ganz ſeltener und gluͤcklicher Zu— 
fall, der ihn an einem dieſer Tage im Jardin des 


— 147 — 


Tuileries mit einem Herrn ins Geſpraͤch kommen ließ, 
welcher einen Sekretaͤr ſuchte und ihm dieſe Stelle gab. 

Auban arbeitete bei ihm — ziemlich frei und nicht 
uͤbermaͤßig anſtrengend — fuͤr einen beſcheidenen Lohn, 
der indeſſen ſeinen Beduͤrfniſſen genuͤgte, faſt zwei 
Jahre. Die Arbeit intereſſierte ihn nicht. Er war kein 
methodiſcher und daher kein guter Arbeiter, wenn es 
galt, Briefe zu kopieren und die Bibliothek ſeines Be— 
ſchaͤftigers zu ordnen. Aber er wurde dieſem unentbehr— 
lich, wenn er ihm — dem engliſchen Spezialgelehrten, 
einem ſeltſamen Gemiſch von Gruͤndlichkeit, wenn es galt, 
eine belangloſe wiſſenſchaftliche Frage zu ergruͤnden, und 
kindiſcher Oberflaͤchlichkeit in den Folgerungen ſeiner For— 
ſchungen — half, ſein ſchlechtes Franzoͤſiſch zu verbeſſern, 
in der jener es liebte, ſeine wertloſen Entdeckungen nieder— 
zulegen. s 

Als er nach England zurückkehrte, gab er — obwohl 
er nie auch nur mit einer Frage zu verſtehen gegeben, 
daß er an der Perfönlichkeit ſeines Sekretaͤrs das ge— 
ringſte Intereſſe genommen und in ihm etwas anderes 
als ein Werkzeug für feine Arbeit geſehen hätte — Auban 
eine Anzahl Empfehlungsbriefe, welche voͤllig nutzlos, und 
eine Summe in einer Hoͤhe, daß ſie dieſem fuͤr die naͤchſte 
Zeit ſehr nuͤtzlich war. 

Auban war wieder frei fuͤr einige Zeit. Hatte er 
ſchon in dieſen zwei Jahren mit dem lebhafteſten Anteil 
die ſoziale Bewegung ſeines Vaterlandes verfolgt und 
manche Bekanntſchaft mit einzelnen Gliedern ihrer Reihen 
geſchloſſen, ſo ſtuͤrzte er ſich jetzt — mit einem gellenden 
Freudenſchrei — in ihre Flut. 

105 


— 148 — 


Sie nahm ihn auf, wie fie alles aufnimmt und ver- 
ſchlingt - 

Weit, dunkel, geheimnisvoll, wie das unerforſchliche 
Dickicht eines Urwaldes lag das Gebiet der ſozialen Frage 
— der Menſchheit Zukunft — vor ſeinen Augen. Friſch, 
jung, bereit ſtand er vor ihr. 

Hinter ſich eine verworrene Kindheit — Wege uͤber 
Felder, bereits begangene, und Pfade uͤber gemaͤhte 
Wieſen, bereits wieder uͤbergruͤnte —, und vor ſich das 
große Geheimnis, das Ideal, dem er ſein Leben weihen 
wollte! ... 

Das Rauſchen der Stimmen in der Wildnis vor fich 
ſchien Antwort geben zu wollen jenen wirren Klagen, 
welche ſeine Wiege in der Dachſtube umtoͤnt hatten. 

Und er begann. 

Es war unmoͤglich mit lautereren Abſichten, heißeren 
Wuͤnſchen und kuͤhnerem Willen in den Kampf zu treten, 
welcher der Kampf unſerer und der kommenden Zeit iſt. 

Auban, der noch nicht dreiundzwanzigjaͤhrige, ſah in 
dieſem Kampfe zwei Heerlager: auf der einen Seite 
ſtanden die, welche das Schlechte wollten; auf der anderen 
die, welche das Gute erſtrebten. Jene erſchienen ihm 
völlig korrumpiert, in der Aufloͤſung bereits begriffen, 
ſchon halb beſiegt; dieſe als der geſunde Boden, bereit, 
den Samen der Zukunft in ſich aufzunehmen. 

Er war uͤberwaͤltigt von der Gerechtigkeit der Be⸗ 
wegung und ganz außerſtande, eine Kritik zu üben. 
Er war berauſcht von der Idee, ein Glied in dieſen Reihen 
zu ſein, die eine Welt zum Kampf herausforderten. Er 


— 149 — 


fühlte ſich gehoben, von neuen, großen Hoffnungen erfüllt, 
geſtaͤrkt und wie verwandelt. 

Wer, der in die Bewegung eintrat, hat nicht einmal 
die ähnlichen, die gleichen Gefühle gehegt? — 

Er beſuchte die Verſammlungen und hoͤrte den 
Worten der verſchiedenen Redner zu. Je weiter dieſelben 
ſich nach „links“ neigten, deſto groͤßer war ſein Intereſſe 
und ſein Beifall. — Er wurde ein Gaſt in den Klubs, 
wo die Arbeiter verkehrten. Er lauſchte den Wuͤnſchen, 
wie er ſie aus ihrem eigenen Munde vernahm. Er las 
die Zeitungen: die radikalen, die ſozialen, die Tages⸗ 
blaͤtter und die Wochenſchriften. In jedem Freiheits⸗ 
ſchwaͤtzer ſah er einen Gott; und in jedem Phraſen⸗ 
politiker ſah er einen Helden ... 

Er war bis dahin ohne beſondere Energie geweſen. 
Beſonders die letzten Jahre hatten ihn verflacht. — Nun 
wuchs ſeine Arbeitskraft. Er arbeitete wirklich. Die ganze, 
muͤhevolle Arbeit, die das erſte Eintreten in eine neue 
Welt von Begriffen erfordert. 

Von allen Seiten ſtroͤmte ihm die Flut neuer Ge— 
danken zu. Er bewaͤltigte langſam den Wuſt der Bro— 
ſchuͤren, in denen ein verduͤnnter Extrakt wiſſenſchaftlicher 
Forſchungen oft in ſo ſeltſamer Weiſe dem ungeſchulten 
Gedanken gereicht wird. Dann begann er mit dem 
Studium von einigen der Hauptwerke des Sozialismus 
ſelbſt. 

Seine Lebensgewohnheiten veraͤnderten ſich. Er wollte 
um keinen Preis ein Bourgeois ſein und ſcheinen. Er 
verlegte ſein kleines Zimmer nach dem Arbeiterviertel der 
Buttes Chaumont. Seine Kleidung vereinfachte er bis 


— 150 — 


zur Beſcheidenheit, nie aber bis zur Unordentlichkeit. Er 
aß in den Tavernen mit den Arbeitern. Indeſſen ver— 
ringerten ſich ſeine Ausgaben dadurch nicht. Nur das 
Gefühl der Beſchaͤmung „beſſer“ zu fein als feine hun— 
gernden Brüder, empfand er nicht mehr bei dieſer immer— 
waͤhrenden, bewußten Selbſtentaͤußerung. 

Getreu den Lehren, die er in ſich aufnahm, begann 
er zu arbeiten als Handarbeiter. Da er kein Handwerk 
gelernt hatte, mußte er lange taſten, um irgendwo feſten 
Fuß zu faſſen. Er wurde erſt Setzer, dann Korrektor 
in der Druckerei einer ſozialiſtiſchen Tageszeitung. 

In dieſer Zeit ſchrieb er auch ſeine erſten Artikel. 
Nichts ſchließt die Menſchen ſchneller und enger anein⸗ 
ander, als der Kampf im Dienſte einer gemeinſamen 
Idee. Schnell iſt die Schlinge des Programms um den 
Hals geworfen. Sofort zieht ſie ſich zuſammen: deinen 
Beſtrebungen iſt hinfort das eine unverruͤckbare Ziel ge— 
geben; die Richtung deines Weges hinfort bezeichnet; der 
Gebrauch deiner Kraͤfte vorherbeſtimmt. 

Das iſt die Partei! 

Freiwillig war Auban den Reihen beigetreten. Jetzt 
war er nichts mehr als der Soldat, der geſchworen hatte, 
der voranflatternden Fahne zu folgen: wohin ſie weiſt, 
dort liegt das Ziel. Man appelliert an dein Ehrgefuͤhl, 
deine Treue, wenn deine Vernunft ſich ſtraͤubt. Du 
biſt nicht mehr frei — du haſt geſchworen, andere zu 
befreien! 

Doch auch fuͤr Auban kam bald die Zeit, in welcher 
er faͤhig wurde, Kritik zu uͤben. Er ſah die ungeheure 
Zerriſſenheit dieſer Bewegung. Er ſah, daß ſich hier Ehr— 


— 151 — 


geiz, Neid, Haß und die triviale Gemeinheit mit demſelben 
Pompe des Idealismus: den Wortgewaͤndern der Bruͤ— 
derlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit, umgab, wie bei allen 
anderen Parteien unſeres oͤffentlichen Lebens. 

Er ſah es mit einem Schmerze, wie er ihn noch nie 
gefuͤhlt hatte. 

Er war noch immer ſehr jung. Er wollte noch nicht 
begreifen, daß die leitenden Fuͤhrer der Parteien nicht 
daran dachten, dieſe Worte gegenſeitig ernſt zu nehmen; 
daß fuͤr die Konſervativen „das Wohl des Vaterlandes“, 
die „oͤffentliche Ruhe und Sicherheit“, fuͤr die Radikalen 
die „freie Konſtitution“, die „Buͤrgertreue“, und fuͤr die 
Arbeiterparteien „das Recht auf Arbeit“ und die ſchoͤnen 
Worte der Gleichheit und Gerechtigkeit nichts waren als 
Lockkoͤder, um mit ihnen die Urteilsunfaͤhigen in moͤglichſt 
großer Anzahl auf ihre Seite zu ziehen und ſo durch 
das Recht der Mehrheit die Staͤrkeren zu werden. 

Hatte er nicht ſelbſt ein Jahr lang, in dem er 
faſt taͤglich fuͤr das Blatt ſeiner Partei ſchrieb, mit dieſen 
Worten gefochten — den Kampf in den Lüften! —, ohne 
ſie je zu pruͤfen? — Und zwar hatte er mit Begeiſterung 
und Ehrlichkeit gekaͤmpft, in dem guten Glauben, daß es 
keinen anderen und beſſeren Weg gaͤbe, die Unterdruͤckten 
und Verfolgten zu befreien. 

Er wollte nur eines, nur eines: Freiheit! Freiheit! 
— Die Stimme ſeiner Vernunft, die wilden Klagen ſeines 
leidenſchaftlichen Herzens riefen ihm zu, daß nur in ihr 
das Gluͤck und der Fortſchritt der Menſchheit beruhe. 

Durch alle Stadien der politiſch-ſozialen Bewegung 
trieb ihn dieſer unaufhoͤrliche Durſt nach Freiheit. Keine 


— 152 — 


Lehre befriedigte ihn. Nirgends ſah er die Vorausſetzungen 
unantaſtbar, die Bedingungen erfüllt, die Garantien ge: 
ſichert. 

Beſtaͤndig quaͤlte ihn der ſuchende Gedanke, das un⸗ 
befriedigte Gefuͤhl: es iſt nicht die Freiheit, die ganze 
Freiheit! Er fuͤhlte, wie ſich ſeine Abneigung gegen jede 
Autoritaͤt verſtaͤrkte. Darum legte er ſeine Stelle nieder. 

In dieſer Zeit war es, als er Otto Trupp, den er 
ſchon oft geſehen, näher kennen lernte und mit ihm 
Freundſchaft ſchloß. Durch ihn erhielt er Kunde von 
der Bewegung der Arbeiter in Deutſchland und der 
Schweiz, von welcher ihm bisher wenig bekannt geworden 
war. Trupps Erzählungen machten einen großen Ein⸗ 
druck auf ihn. 

Es war im Jahre 1881. Die Idee des Anarchismus 
befand ſich in Frankreich in rapidem Wachstum. Aus 
den Parteireihen des Sozialismus riß ſie Scharen von 
felbftändiger denkenden Arbeitern, von mit einzelnen 
Handlungen der leitenden Fuͤhrer Unzufriedenen, dann 
alle jene, deren fiebernder Ungeduld die Revolution — 
die Erloͤſung — zu langſam kam. 

Wenn es keinen Staat, kein Privateigentum, keine 
Religion mehr gab, wenn alle Inſtitutionen der Herr⸗ 
ſchaft abgeſchafft waren, konnte es dann noch eine Herr: 
ſchaft geben? — Der herrſchenden Gewalt galt es Gewalt 
entgegenzuſetzen! 

Die Idee der Zerſtoͤrung der alten Welt bemaͤchtigte 
ſich feiner. Erſt auf ihren Trümmern, wenn alles ver⸗ 
nichtet war, konnte ſich jene Geſellſchaft errichten, welche 
die Gleichheit als ihr oberſtes Prinzip erkannte. 


— 153 — 


„Jedem nach feinen Fähigkeiten, jedem nach feinen 
Beduͤrfniſſen!“ Nun hatte er die Formel gefunden, in 
die er ſich fluͤchten konnte. Und ſeine Traͤume bauten 
das Gebaͤude der Menſchheitszukunft auf: ſie bauten es 
hoch, weit und ſchoͤn .. . Jeder würde zufrieden fein? 
alle Hoffnungen erfuͤllt, alle Wuͤnſche befriedigt. Die 
Arbeit und ihr Tauſch wuͤrden freiwillig ſein; nichts 
mehr, was ihre Grenzen beſtimmte, ſelbſt nicht ihr Wert. 
Die Erde gehoͤrt Allen ungeteilt. Jeder hat ein Recht auf 
ſie, wie er ein Recht hat, Menſch zu ſein. Und er baute 
das ſtolze Gebaͤude ſeiner Gedanken — er baute es in 
den Himmel 

Dieſe Lehre des Kommunismus, welche ſo alt iſt, 
wie die Religionen, die aus der Erde nicht den Himmel, 
ſondern die Hölle gemacht haben, nannte er Anarchis— 
mus, wie ſeine Freunde ſie Anarchismus nannten. — 

Nie waren ſeine Worte eindringlicher geweſen, nie 
hatten ſie eine groͤßere Begeiſterung erweckt. Er ſtand 
jetzt auf der aͤußerſten Grenze des Reiches der Parteien! 
Weiter zu gehen war unmoͤglich. Er opferte ſich auf. 
Er war tätiger als je, zu organiſieren und zu agitieren. 
Überall fand er neue Geſinnungsgenoſſen. 

Es war das wildeſte Jahr ſeines Lebens. Kein Tag 
der Einkehr und keine Nacht der Ruhe. 

Er war viel zu viel ein Mann der Tatkraft, der 
es liebte, poſitive Erfolge vor Augen zu haben, als daß 
ihn dieſe haſtende, fieberhafte Taͤtigkeit der Propaganda 
haͤtte befriedigen koͤnnen. Indeſſen erweiterte ſich ſchnell 
der Kreis ſeiner praktiſchen Lebenserfahrungen, ohne daß 
er es empfand. Er verſtand ſeine Genoſſen: ihre leiden— 


— 154 — 


ſchaftlichen Anklagen, ihre ſchreienden Schmerzen, ihre 
erbitterten Fluͤche. Taͤglich ſah er hier die Hungernden 
und Darbenden um ſich, ſelbſt oft hungernd und ver— 
zweifelnd; taͤglich dort die ſchamloſe Praſſerei, den boden— 
loſen uͤbermut, die hoͤhnende Anmaßung — aufrecht er— 
halten nur durch Gewalt. Dann ballte ſich ſeine Hand 
und krampfte ſich ſein Herz zuſammen, dann predigte 
er ohne Bedenken aus tiefſter Überzeugung die Lehre: 
die Gewalt mit der Gewalt zu vernichten, dann erſchien 


ihm als das erſte und wichtigſte, daß dieſe Hungernden 


Brot, dieſe Frierenden Feuerung und dieſe Nackten Klei— 
dung bekaͤmen. Was waren alle Errungenfchaften der 
Wiſſenſchaft, alle Kunſt, alle Fortſchritte der Menſchheit 
gegenuͤber dieſen erſten und unverruͤckbarſten Forderungen! 
uͤberall lehrte er Gewalt, in allen Verſammlungen, allen 
Vereinen. Man wurde auf ihn aufmerkſam. Aber — 
wie meiſtens — war es auch hier nur ein Zufall, der 
die Entſcheidung herbeifuͤhrte. 

Eine der Verſammlungen, in der auch er ſprechen 
wollte, wurde aufgelöft. Bei der Auseinandertreibung 
der Verſammelten wurde er von einem Poliziſten in 
brutaler Weiſe am Arm gepackt und gegen die Wand 
geſtoßen. Er ſchlug ihm die Fauſt ins Geſicht. 

Vor dem Richter hielt er getreu den Prinzipien, welche 
„dem Revolutionaͤr vorſchreiben, in jedem moͤglichen Falle, 
beſonders aber vor Gericht, wenn die Umſtaͤnde es irgend 
erlauben, Propaganda zu machen“, — eine aufſehen— 
erregende Rede. Zahlloſe Male war von den Verurteilten 
die Kompetenz des Gerichtshofes in Zweifel geſtellt, nie aber 


in dieſer Weiſe die Autoritaͤt jedes Geſetzes negiert worden. 


— 


— 1585 — 


Man war uͤberraſcht, teils empört, teils amuͤſiert. 
Man hielt ihn nicht für zurechnungsfaͤhig. So verur— 
teilte man Auban nur zu einer anderthalbjaͤhrigen Ge— 
faͤngnisſtrafe. 

Heute wiſſen die Gerichtshoͤfe der ziviliſierten Laͤnder 
Europas, wenn ſie dieſe Sprache vernehmen, daß ſie 
einen „Feind jeder Ordnung“ vor ſich haben, und laſſen 
ihn nicht mehr los. 

1883, kaum ein Jahr nach Aubans Verurteilung, 
ſetzte der große Anarchiſtenprozeß der Sechsundſechzig zu 
Lyon die Gemuͤter in Bewegung und lenkte die allge— 
meine Aufmerkſamkeit auf die neue Lehre. Von dieſem 
Schlage, den die Regierung weitausholend fuͤhrte, waͤre 
auch Auban unzweifelhaft getroffen worden, haͤtten ihn 
damals nicht ſchon die Mauern des Gefaͤngniſſes um— 
ſchloſſen. Fuͤr die „oͤffentliche Meinung“ war nun auch 
in Frankreich der Name „Anarchiſt“ faſt gleichbedeutend 
mit Meuchelmoͤrder .. 

Als Auban die Faͤuſte der Polizeiknechte an ſeinem 
Leibe fuͤhlte, wurde ihm das Weſen der Gewalt in ihrer 
ganzen Rohheit klar. Sein Stolz baͤumte ſich auf. Aber 
er war — „machtlos“. Die Idee, fuͤr die Sache der 
Menſchheit zu leiden, hielt ihn. Er ſah weder das kalte 
Laͤcheln der Richter, noch die ſtumpfen, neugierigen Blicke 
der Zuſchauer, die ihn betrachteten wie eine ſeltſame Abart 
ihres Geſchlechtes. Als er ſein Urteil vernahm, zuckte 
nicht eine Wimper ſeiner Augen. Anderthalb Jahre! 
— Das war nichts. Welch laͤcherlich-geringes Opfer, 
verglichen mit den tauſendfachen Opfern der Blutzeugen, 
— um nur an den Heldentod der Zarenmoͤrder zu denken! 


— 156 — 


— die vor ihm gelitten hatten! Mit ſtolzer Ver— 
achtung betrat er das Gefaͤngnis. 

Nie konnte einem Menſchen die erſte Zeit ſeiner 
Strafe ſchwerer, die letzte leichter geworden ſein, wie ſie 
ihm wurde. 

Erſt glaubte er, die Luft und die Sonne der Freiheit 
nicht einen Monat entbehren zu koͤnnen. Er taͤuſchte ſich. 
Eine dumpfe und ſchwere Ruhe bemaͤchtigte ſich im An⸗ 
fang feiner: die Ruhe der Ermattung nach dieſen letzten 
ſtuͤrmiſchen Jahren! Sie tat ihm geradezu wohl. Er 
genoß ſie faſt wie eine heilſame Medizin. Nichts mehr 
von den ſtuͤndlichen Aufregungen! Nichls mehr von dem 
widerſtreitenden Laͤrm! — Lange ſtroͤmte das Blut aus 
all den Wunden, die ihm dieſe Jahre des Kampfes ge— 
ſchlagen. Als es ſich ſtillte, fuͤhlte er ſich ruhiger als 
je zuvor. i 

Es wurde ihm möglich, ſich das eine und andere Buch 
zu verſchaffen. Mit der Gruͤndlichkeit, zu welcher ihn 
die Stille und Ode feiner Tage und Nächte zwang, über: 
dachte er Forſchung für Forſchung der großen national⸗ 
oͤkonomiſchen Denker ſeines Landes. 

Das Bild der Welt nahm vor ſeinen Augen eine 
andere Geftalt an, je innerlicher er wurde. Seiner Zeit 
gleichſam entruͤckt, nicht mehr umtoſt von dem Wider⸗ 
ſtreit ihrer Wuͤnſche, gewann er den Standpunkt, ihre 
Strömungen zu uͤberſehen. Es war die Zeit, in der er 
auf ſich zuruͤckkam. 

Im Spaͤtſommer 1884 verließ er fein Gefaͤngnis. 
Er war nicht mehr der alte. Er fand ſich ſchwer zurecht. 
Seine Kraͤfte hatten ihre Elaſtizitaͤt verloren. Er wurde 


— 157 — 


von den Genoſſen freudig begruͤßt. Trupp war in 
London. Man half ihm nach Kraͤften. Aber es war 
nicht mehr dasſelbe. Sein Glaube war erſchuͤttert. Er 
duͤrſtete nach der Ergruͤndung der Wahrheiten der Volks— 
wirtſchaft. Er wollte wiſſen, welche Rettung ſie verſprach. 
Das war ihm jetzt das wichtigſte. Er wußte, daß er 
das nie und nimmer, weder aus den leidenſchaftlichen 
Diskuſſionen der Verſammlungen, den in allgemeinen 
Redensarten ſich ergehenden Artikeln der Zeitungen, noch 
aus der Broſchuͤrenflut der Bewegung erfahren wuͤrde. 

Paris wurde ihm unerträglich. uͤberall ſah er in 
den Spiegel der Torheiten ſeiner Jugend. Das leicht⸗ 
fertige, laͤrmende, phraſenhafte Getriebe ſtieß ihn ab, 
widerte ihn an. Er ſehnte ſich nach einer großen, freien 
Stille. 

Das einzige, was ſich ihm bot, war eine Stellung 
in einer großen Buchhandlung in London, wo er bei der 
Herausgabe eines weitangelegten franzoͤſiſchen Sammel— 
werkes beſchaͤftigt werden konnte. Er entſchloß ſich 
ſchnell. 

Aber er ging nicht allein. Er nahm mit ſich ein 
Mädchen, das er ſchon vor feiner Verhaftung kennen 
gelernt hatte und welches ihm in der langen Zeit treu 
geblieben war. 

Das Jahr, das Auban mit ihr verlebte, war das 
gluͤcklichſte feines Lebens. Aber die ſchmaͤchtige Flamme 
dieſes kurzen Gluͤckes erloſch, als er die Mutter in der— 
ſelben Stunde verlor, in der ſie ihm ein totes Kind 
gebar. 

Das ganze Weſen dieſer einfachen und ebenſo natürs 


— 158 — 


lich wie tief urteilenden Frau kennzeichnete ſich in der 
Antwort, die ſie einſt einem der Kommuniſten gab, 
welcher in dem bitteren Ton des Vorwurfs die Frage 
an ſie gerichtet hatte: N 

— Haben Sie denn je etwas zu dem Gluͤcke der 
Menſchheit beigetragen? 

— Ja, ich bin ſelbſt glücklich geweſen! — hatte fie ihm 
zuruͤckgegeben. 

Als Auban ſie verloren, wurde er noch ernſter und 
feſter. Mehr und mehr begann er die Traͤumereien 
idealiſtiſcher Unerfahrenheit zu haſſen und zu fuͤrchten. 
Er wies ſie von ſich mit zerſetzender Kritik, oft mit 
herbem Spott. Man griff ihn deshalb jetzt ſchon von 
Seiten an, die ihn fruͤher mit Jubel begruͤßt hatten. 
Er ſah darin nichts wie einen Gewinn. Was er nie 
geweſen war, wurde er jetzt: ſkeptiſch. Hatte er fruͤher 
den Parteiſpaltungen des Tages zu viel Wert beigelegt, 
ſo war er jetzt — wo er das politiſche Poſſenſpiel nicht 
mehr ernſt nehmen konnte — geneigt, ſie zu unterſchaͤtzen. 

Seitdem er in London war, hatte er in ſeinen freien 
Stunden begonnen mit dem Studium der juͤngſten Tochter 
der Wiſſenſchaft: der Volkswirtſchaft, dieſem nuͤchternen, 
ernſten, ſtrengen Studium, das ſo viel von dem Ge— 
hirn, ſo wenig von dem Herzen fordert. Sie zwang 
ihn, aufzuraͤumen mit dem Heer halbklarer Wuͤnſche; ſie 
zwang ihn logiſch zu denken; und ſie zwang ihn, die 
Worte auf ihren Sinn und Wert hin zu pruͤfen. 

Es war Proudhon, der ihn zunaͤchſt maͤchtig anzog, 
dieſer gigantiſche Menſch, deſſen nie ermuͤdende For⸗ 
ſchungen alle Gebiete menſchlicher Taͤtigkeit umſpannen; 


— 159 — 


Proudhon, deſſen leidenſchaftliche, gluͤhende Dialektik ſich 
ſo oft in die halbdunklen Irrgaͤnge des Widerſpruchs zu 
verlieren ſcheint, in welchen nur der uͤber den Parteien 
thronende Geiſt dem einzig und allein immer die volle 
Freiheit des Individuums Suchenden zu folgen vermag; 
Proudhon, der „Vater der Anarchie“, auf den immer 
und immer wieder ſich jeder zuruͤckgefuͤhrt ſieht, der die 
Wurzeln der neuen Lehre der Herrſchaftsloſigkeit bloß— 
zulegen verſucht . 

„Das Eigentum iſt Diebſtahl!“ Das iſt alles, was 
die meiſten Sozialiſten von Proudhon wiſſen. Doch von 
Aubans Augen begannen die Schleier zu fallen. 

Er ſah jetzt, was es war, das Proudhon unter 
Eigentum verſtanden hatte: nicht der Ertrag der Arbeit, 
den er ſtets gegen den Kommunismus verteidigt, ſondern 
die geſetzlich geſchuͤtzten Privilegien dieſes Ertrages, wie 
ſie in den Formen des Wuchers, vornehmlich denen des 
Zinſes und der Rente, auf der Arbeit laſten und die 
freie Zirkulation derſelben hemmen; daß Gleichheit bei 
Proudhon nichts anderes heißt als Gleichheit der Rechte, 
und Bruͤderlichkeit nicht Entſagung, ſondern kluge Erz 
kenntnis der eigenen Intereſſen in dem Lichte des Mu— 
tualismus; daß er die freie Aſſoziation zu einem be— 
ſtimmten Zwecke im Gegenſatz zur Zwangsvereinigung 
des Staates, „die Freiheit, welche ſich darauf beſchraͤnkt, 
die Gleichheit in den Mitteln der Produktion und beim 
Tauſche der Produkte aufrecht zu erhalten“, verteidigt, als 
die „einzig mögliche, gerechte und wahre Geſellſchaftsform“. 

Auban erkannte jetzt den Unterſchied, den Proudhon 
machte zwiſchen Beſitz und Eigentum. 


— 160 — 


„Der Beſitz iſt rechtlich, das Eigentum widerrechtlich.“ 
Deine Arbeit iſt dein rechtlicher Beſitz, ihr Ertrag dein 
Kapital; die Fruchtbarkeit dieſes Kapitals aber, das 
Monopol ſeiner Fruchtbarkeit, iſt widerrechtlich. 

„La propriete, c'est le vol!“ 

So erkannte er die wahren Urſachen des grauen— 
haften Unterſchieds in der Verteilung der Waffen, von 
dem die Natur nichts weiß, wenn ſie uns auf den Kampf⸗ 
platz des Lebens ſtellt: wie es kommt, daß die einen 


verdammt ſind, in den Grenzen, welche ihnen das „eherne 


Lohngeſetz“ unerbittlich vorſchreibt, ihr Leben voll Muͤhe, 
Elend und Hoffnungsloſigkeit zu verbringen, waͤhrend 
die andern, der Konkurrenz enthoben, ſpielend den Magnet 
ihres Kapitals wirken laſſen, um dasſelbe durch die ihm 
verfallenen Ertraͤge fremder Arbeit ſtetig zu vermehren, 
das ſah er jetzt als klares Bild unter der Leuchte dieſer 
Forſchung. 

Er ſah, daß die Minderheit dieſer letzteren mit Hilfe 
althergebrachter Vorurteile in den Stand geſetzt war, 
die Mehrheit zur Anerkennung ihrer Privilegien zu 
zwingen. Er ſah, daß das Weſen des Staates es war, 
welches ihnen ermoͤglichte: die einen in der Unkenntnis uͤber 
ihre Intereſſen zu erhalten; die andern, welche dieſelben er⸗ 
kannt hatten, zu vergewaltigen, ſich ihrer zu entaͤußern. 

Er erkannte demnach — und dies war die wichtigſte 
und tiefeinſchneidendſte Erkenntnis ſeines Lebens, die die 
ganze Welt feiner Anſchauungen revolutionierte —, daß 
es galt, nicht die Lehren der Selbſtentaͤußerung und der 
Verpflichtung, ſondern vielmehr den Egoismus, die Er⸗ 
kenntnis der eigenen Intereſſen, zu verteidigen! 


RR: 


— 161 — 


Wenn es eine „Loͤſung der ſozialen Frage“ gab, ſo 
lag ſie hier. Alles andere war Utopie oder aber Knecht— 
ſchaft in irgendeiner Form. 

So wuchs er langſam und ſtill in die Freiheit hin⸗ 
ein: tagsüber gebunden in die Sklaverei feiner müh: 
ſamen Arbeit und Abends im Verein mit der Frau, 
welcher ſeine Liebe gehoͤrte. Dann, als er ſie verloren 
hatte, wieder allein; nur einſamer, aber ruhiger und 
ſtaͤrker, als je zuvor ... 

Sein beſter Freund war und blieb Trupp. Er hatte 
den Ernſt, die Feſtigkeit und das inſtinktive Zartgefühl 
dieſes Mannes mehr und mehr ſchaͤtzen gelernt. Trotz— 
dem verſtanden ſie ſich nicht mehr ſo gut. Trupp rechnete 
ſtets mit den Menſchen, wie ſie ſein ſollten und ſein 


wuͤrden; Auban aber war in das Weſen der Freiheit ſo 


eingedrungen, daß er eingeſehen hatte, wie wenig man 
die Menſchen zu ihrem Gluͤcke zwingen kann, die nicht 
gluͤcklich ſein wollen. 

Er hoffte alles von dem langſamen Fortſchritt der 
Vernunft; jener alles von der Revolution, an deren 
Tagen das Licht der Freiheit ſich in Strömen überall 
hin ergießen wuͤrde, alle erleuchtend, weil alle Wuͤnſche 
erfuͤllend. Auban war zu ſich gekommen und wuͤnſchte, 
daß jeder ſo ſich finden moͤge; Trupp verlor ſich ſelbſt 
immer mehr und mehr an die Allgemeinheit. Trupp 
hatte ſich in den Dienſt ſeiner Sache geſtellt und fuͤhlte 
ſich ihr auf Leben und Tod geweiht; Auban wußte, daß 
die Freiheit zu nichts verpflichtet. 

So wurde der eine immer mehr zur Aktivitaͤt an— 


gefeuert, wie ein Roß vom Sporn des Reiters, wie ein 
vin 11 


# 


— 162 — 


Soldat von dem „Vorwaͤrts!“-Rufe ſeines Feldherrn, 
waͤhrend der andere ſich mehr von der Bedeutung der 
Taktik uͤberzeugte, die den Feind an ſich herankommen 
laͤßt und dann ſeine Angriffe abſchlaͤgt. So ſah der 
eine alles bleibende Heil nur aus einem blutigen, 
der andere nur aus einem unblutigen Kampfe hervor: 
gehen 


| 
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Fuͤnftes Kapitel | 
Die Kämpfer der Freiheit 


Auban ſprang auf. 

Es hatte geklopft. Der Boy des Bars, der jeden Sonn: 
tag kam, ſteckte ſeinen Kopf zur Tuͤr herein. „Sir?“ 
— Er moͤge in einer halben Stunde wieder kommen. 

Auban ſah nach ſeiner Uhr. Er hatte abermals eine 
ganze Stunde vergruͤbelt ... Es war nun faſt fünf 
Uhr. Es dunkelte bereits und Auban entzuͤndete eine 
große Lampe, deren Schein vom Kaminſims aus das 
ganze Zimmer erleuchtete. Dann ſchuͤrte er das Feuer zu 
neuer Glut; fchob den Tiſch mit Anſtrengung gegen das 
Fenſter zu, ſo daß ein weiter Raum vor dem Kamin ent⸗ 
ſtand; und ſtellte endlich Stuͤhle in einem Halbbogen 
um dieſen herum. Nun hatten wohl acht bis neun Ver: 
ſonen Platz. 

Er uͤberſah den Raum, der jetzt, nachdem die 
Fenſter durch Vorhaͤnge verhuͤllt waren, erwaͤrmt von 
dem aufflackernden Feuer und durchhellt von dem milden 
Licht, ein faſt behagliches Ausſehen erhielt. 

Aber wie anders war es doch fruͤher geweſen: in 
den beiden kleinen Zimmern von Holborn, als ſeine Frau 


noch lebte, fie, die fo gut verſtanden hatte, es jedem 
11* 


— 164 — 


behaglich zu machen, an den Sonntagnachmittagſtunden: 
den Zuruͤckhaltendſten zum Ausſprechen, den Geſchwaͤtzigſten 
zur Zuͤgelung ſeines Redefluſſes, den Mißtrauenden 
zur Teilnahme, den Phrafenhelden zum Nachdenken zu 
bringen, ohne daß er es ſelbſt bemerkte. 

Es war damals nicht ſelten, daß Frauen dieſen Zus 
ſammenkuͤnften beiwohnten. Aber der Ton war immer 
gleich unbefangen und frei von jedem konventionellen 
Zwange geblieben. 

Die Zeit ihrer kurzen Krankheit hatte die Zuſammen⸗ 
kuͤnfte jaͤh unterbrochen; ihr Tod die groͤßte Luͤcke in den 
Kreis geriſſen. Auban hatte die Idee dieſer Nachmittage, 
die von ihr ausgegangen war, nicht aufzugeben vermocht. 

Sie kamen wieder zu ihm. Von der, welche alle 
vermißten, die ſie gekannt hatten, wurde nie geſprochen. 

Wie viele waren in dieſen zwei Jahren bei ihm ein: 
und ausgegangen: wohl an hundert Menſchen! Faſt 
alle ſtanden ſie mehr oder minder in der internationalen 
Bewegung des Sozialismus. Ihre Ideale waren ſo ver⸗ 
ſchieden wie die Wege, auf denen ſie ihnen zuſtrebten. 

Alle aber litten unter dem Drucke der heutigen Zu: 
ftände und ſehnten ſich nach beſſeren ... Das war das 
einzige Band, das ſie loſe zu dieſen Stunden ver— 
einigte. | 

Viele verübelten es Auban, daß er feine Tür fo vers 
ſchiedenen Elementen oͤffnete. Manche ſahen darin ſchon 
eine Untreue. „Gegen wen?“ wurden ſie von ihm laͤchelnd 
gefragt. „Ich habe keinen leiblichen oder geiſtigen Herrn, 
dem ich Treue geſchworen haͤtte. Wie kann ich untreu 
geworden ſein?“ 


Re 


— 165 — 


So blieben die politischen Schwaͤtzer, die Partei— 
menſchen, die orthodoxen Fanatiker fort: alle jene, welche 
waͤhnten, des Himmels der Freiheit nur dann teilhaftig 
werden zu koͤnnen, wenn das Ideal ihrer Freiheit das 
Ideal aller geworden ſei. 

Wieder und wieder kamen die einzelnen — Aubans 
wenige perſoͤnliche Freunde —, denen die Erfahrungen 
ihres Lebens gelehrt hatten, daß die Freiheit nichts iſt, 
als die Unabhaͤngigkeit voneinander: die Moͤglichkeit fuͤr 
jeden, auf ſeine eigene Weiſe frei zu ſein. 

Es wurde gewoͤhnlich franzoͤſiſch geſprochen. Aber 
nicht ſelten auch engliſch, wenn die Anweſenheit von 
engliſchen Freunden es erforderte. 

Fremde kamen und gingen in letzter Zeit wieder öfter. 
Auban bat niemanden, wiederzukommenz aber jeder fuͤhlte 
an ſeinem Haͤndedruck, mit dem er Abſchied nahm, daß 
er in acht Tagen ebenſo willkommen geheißen werden 
wuͤrde. 

Das Recht der Einfuͤhrung ſtand jedem frei und 
wurde zuweilen ſo fleißig geübt, daß die Zahl der 
Anweſenden die Zahl der Stühle uͤberſchritt. Aber oft 
war Auban auch allein mit einem oder zweien ſeiner 
Freunde. 

Meiſtens ſtand eine Tagesfrage im Mittelpunkt der 
gemeinſamen Unterhaltung. Oder eine Diskuſſion ent⸗ 
ſpann ſich und die Anweſenden teilten ſich in Teilnehmer 
und Zuhörer. Doch kam es auch vor, daß man zuſammen⸗ 
ruͤckend kleine Gruppen bildete und zwei, drei verſchiedene 
Sprachen das Gemach durchſchwirrten. 

Einmal kam ein Menſch, keiner wußte woher, der 


— 166 — 


ſich einige Zeit hernach als Spitzel entpuppte. Die Ent⸗ 
deckungsſucht nach Verſchwoͤrungen und Attentaͤtern hatte 
ihn auch hierher gelockt. Als er aber ſah, daß hier nicht 
von Dynamit, von Bomben, der „ſchwarzen Hand“, Ere- 
kutivkomitees und Geheimbuͤnden die Rede war, ſondern 
von wiſſenſchaftlichen und philoſophiſchen Fragen, die er 
nicht verſtand, verſchwand er wie er gekommen, nachdem 
er ſich einige Stunden unſaͤglich gelangweilt hatte. 

Eine aͤhnliche Enttaͤuſchung erlebten einige jugend— 
liche Hitzkoͤpfe, die ſich einbildeten, das Werfen einer 
Bombe ſei eine groͤßere Tat und ſchaffe das ſoziale 
Elend ſchneller aus der Welt, als die muͤhſame Ergruͤn— 
dung der Urſachen dieſes Elends. Die Verachtung, mit 
welcher ſie hinfort von dieſem „philoſophiſchen Anar— 
chismus“ ſprachen, der völlig unfruchtbar ſei und mit 
der Befreiung der hungernden Menſchheit nicht das ge— 
ringſte zu tun habe, war ebenſo ſouveraͤn, wie leicht 
erklaͤrlich. 8 

Auban hielt ſich bei den Diskuſſionen meiſt zuruͤck. 
Doch liebte er es nicht, wenn dieſelben den Boden der 
Wirklichkeit voͤllig verloren und in jene leeren Wort— 
ſchwallgefechte ausarteten, die nur ſchwer ein Ende und 
nie ein Ziel erreichten. 

Heute aber wollte er — gedraͤngt von ſeinen Freunden 
und nicht zuruͤckgehalten von ſeinen eigenen Wuͤnſchen 
— in ihrer ganzen Schaͤrfe die Gegenſaͤtze zweier 
Weltanſchauungen hervorheben, deren unlogiſche Ber: 
miſchung eine Nacht von Widerſpruͤchen und Unklar: 
heiten geſchaffen hatte .. 

Heute wollte er die letzten Unklarheiten, die noch 


— 167 — 


uͤber ſeine eigene Perſon und ihre Stellung herrſchten, 
vernichten und damit einen Kampf beginnen, dem er 
feſt entſchloſſen war, auf lange hinaus ſeine beſte Kraft 
zu widmen 


Er ſah gerade etwas ungeduldig nach der Uhr, als 
es klopfte. Aber der Eintretende war ihm ein völlig 
Fremder. Es war ein Mann von vierzig Jahren, der 
auf ihn zuging, ſich vorſtellte und ihm einen Brief uͤber⸗ 
reichte. 

Auban uͤberflog denſelben, nachdem ſie ſich beide ge— 
ſetzt. Es war eine Empfehlung fuͤr den Überbringer, in 
leichtem, geiſtreichem Tone gehalten, und ſie kam von 
einem Manne, mit dem Auban vor Jahren in Paris 
oft auf derſelben Rednertribuͤne geſtanden hatte, wenn 
es gegolten, die Rechte der Arbeit zu verteidigen, der 
aber nun der Redaktion einer großen Oppoſitionszeitung 
des Tages angehoͤrte und ſeiner ſcharfen Feder wegen 
ſehr gefuͤrchtet wurde. 

Halb eine Entſchuldigung, halb eine Selbſtverſpottung 
taͤndelte dieſer Brief zwiſchen unvergeſſenen Erinnerungen 
und der Wohlgefaͤlligkeit an Erreichtem hin und her ... 
Er empfahl der Guͤte Aubans einen Freund, der ſich von 
dem Studium der ſozialen Bewegung angezogen fuͤhle, 
wie „der Schmetterling von der Flamme“, und ins⸗ 
beſondere waͤhrend eines kurzen Aufenthalts in London 
einige Aufſchluͤſſe uͤber das dunkle Gebiet des Anarchis— 
mus zu erlangen wuͤnſche, in dem Auban ihn wohl 
beſſer zu leiten verſtehe, als er ſelbſt, deſſen „Blicke allzu 


— 18 — 


ſehr gebannt ſeien in den Kreis des Tages, als daß eine 
verlorene Zukunft ihn noch zu locken vermoͤge ..“ Dann 
ein Gluͤckwunſch zu Aubans buchhaͤndleriſchem Erfolge, 
ein abermaliges Lächeln über gemeinſame Torheiten, von 
denen „die Erfahrung auch den letzten Duft des Reizes 
geweht“, und eine zeremonielle Verbeugung. 

Auban ſtellte einige Fragen, um ſich dies veraͤnderte 
Bild ergaͤnzen zu koͤnnen. Dann erklaͤrte er ſich freund⸗ 
lich zu jeder Auskunft bereit, die von ihm gewuͤnſcht wuͤrde. 
Er freute ſich an den Klaͤngen ſeiner Sprache, er freute 
ſich heimlich an dieſem Beſuch, der einen Duft von Paris 
in fein Zimmer trug. 

Dieſer Fremde war ihm ſympathiſch: ſeine einfache 
Kleidung, das ruhige, ſichere Weſen, ſein ernſtes Geſicht. 

Er begann mit einer Frage. 

— Sie wuͤnſchen von mir Aufſchluß uͤber die Lehre 
des Anarchismus. Wuͤrden Sie mir zuvor ſagen, was 
Sie bisher unter Anarchie verſtanden haben? 

— Gewiß. Aber ich geſtehe, daß mir ein klares Bild 
nicht vorſchwebt. Das Gegenteil vielmehr: ein blutiges 
und rauchendes Chaos, ein Truͤmmerhaufen alles Be: 
ſtehenden, völlige Lockerung und Auflöfung aller Bande, 
die bisher die Menſchen verknuͤpften: der Ehe, der 
Familie, der Kirche, des Staates, eine zuͤgelloſe, durch keine 
Feſſel mehr in Ordnung gehaltene, ſich gegenſeitig zer⸗ 
fleiſchende Menſchheit — 

Auban laͤchelte bei dieſer tauſendmal vernommenen 
Schilderung. 

— So malt ſich allerdings in den meiſten Koͤpfen 
heute noch die Welt der Anarchie, ſagte er. 


a 


— So wird ſie hingeſtellt bei jeder Gelegenheit von 
unſerer Preſſe, den politiſchen Parteien, unſeren Enzy⸗ 
klopaͤdien, den profeſſionellen Lehrern der Volkswirtſchaft, 
von allen. Indeſſen habe ich hierin ſtets nur die be— 
wußte Verleumdung der Feinde und die unbewußte Nach- 
plapperei der Maſſen geſehen. 

— Sie haben recht getan, ſagte Auban. 

— Aber ich geſtehe weiter, daß mir auch das entgegen— 
geſetzte Ideal: das harmloſe, friedliche, ungeſtoͤrte Zu— 
ſammenleben der Menſchen in Guͤtergemeinſchaft, 
welchem ſich der eine fortwährend feiner Intereſſen zu: 
gunſten des anderen und der Geſamtheit freiwillig ent— 
aͤußert, daß mir ein ſolches Ideal einer „freien Gefell- 
ſchaft“ als voͤllig unvereinbar mit der wahren Natur 5 
Menſchen erſcheint — 

Auban lächelte wieder. „Ich geſtehe dasſelbe von 
mir.“ 

Der andere war uͤberraſcht. „Wie?“ fragte er. 
„Und doch iſt dies das Ideal der Anarchie?“ 

— Nein, antwortete Auban, — im Gegenteil: es iſt 
das Ideal des Kommunismus. 

— Aber — dieſe beiden haben ein Ziel? 

— Sie ſind einander entgegengeſetzt wie Tag und 
Nacht, Wahrheit und Wahn, Egoismus und Altruismus 
Freiheit und Knechtſchaft. 

— Aber alle Anarchiſten, von denen ich hoͤrte, ſind 
Kommuniſten. 


— Nein, die Kommuniſten, die Sie kennen, nennen 
ſich Anarchiſten. 


— 170 — 


— So gaͤbe es uͤberhaupt hier, bei uns in Frankreich, 
uͤberhaupt in Europa keine Anarchiſten? 

— Soviel ich weiß nicht; jedenfalls nur hier und 
da in geringer Zahl. Indeſſen iſt jeder konſequente Indi— 
vidualiſt Anarchiſt. 

— Und die ganze, taͤglich wechſelnde Bewegung des 
Anarchismus, welche ſo viel von ſich reden macht —? 

— Iſt anti⸗individualiſtiſch und daher anti- anar⸗ 
chiſtiſch; iſt, wie ich ſchon ſagte, rein kommuniſtiſch. 

Auban bemerkte, wie ſehr ſeine Worte uͤberraſcht 
hatten. Jener wollte von ihm Beſchaffenheit, Laͤnge und 
Ziel eines Weges wiſſen und nun hatte er ihm gezeigt, 
daß der Weiſer des Weges eine falſche Inſchrift trug ... 

Er ſah den ernſten, nachdenklichen Ausdruck in den 
Zuͤgen ſeines Beſuchers und war nun uͤberzeugt, daß 
jenen in der Tat das Intereſſe an der Ergruͤndung einer 
zweifelhaften Frage zu ihm gefuͤhrt hatte. 

Eine kurze Pauſe entſtand, waͤhrend der er ruhig 
wartete, bis der andere ſeinen Gedankengang vollendet 
hatte und das Geſpraͤch wieder aufnahm. 


— Darf ich Sie nun bitten, mir zu ſagen, was Sie 
unter Anarchie verſtehen? 

— Gerne ... Sie wiſſen, daß An-Archie ein der 
griechiſchen Sprache entſtammendes Wort iſt und in ge— 
nauer Überfegung „Herrſchaftsloſigkeit“ lautet. 

Nun iſt ein Zuſtand der Herrſchaftsloſigkeit identiſch 
mit einem Zuftande der Freiheit: wenn ich keinen Herrn 
habe, bin ich frei. 


— 11 — 


Anarchie iſt ſomit Freiheit. 

Es gilt nun, den Begriff „Freiheit“ zu definieren, 
und ich muß ſagen, daß es mir nicht gelingen will, eine 
beſſere Definition zu finden als dieſe: Freiheit iſt die 
Abweſenheit der aggreſſiven Gewalt oder des Zwanges. 

Er hielt einen Augenblick inne, wie um ſeinem Zu⸗ 
hoͤrer die genaue Aufnahme jedes ſeiner langſam und 
klar geſprochenen Worte zu ermoͤglichen. Dann fuhr 
er fort: 

— Die organiſierte Gewalt nun iſt der Staat. Wie 
Gewalt ſein innerſtes Weſen iſt, fo iſt Raub fein Privi— 
legium; ſo iſt die Beraubung der einen zu Gunſten der 
andern das Mittel ſeiner Erhaltung. 

Der Anarchiſt ſieht daher in dem Staat ſeinen groͤßten, 
ja ſeinen einzigen Feind. 

Es iſt die erſte Grundbedingung der Freiheit, daß 
keinem die Moͤglichkeit genommen iſt, ſich ungeſchmaͤlert 
in den Ertrag feiner Arbeit zu ſetzen. Okonomiſche Un— 
abhaͤngigkeit — ſo lautet daher die erſte Forderung des 
Anarchismus: die Aufhebung der Ausbeutung des Men— 
ſchen durch den Menſchen. Dieſe Ausbeutung nun wird 
unmoͤglich gemacht: durch die Freigabe der Bank, d. h. 
die Freiheit in der Herbeiſchaffung von Austauſchmitteln, 
auf welchen kein geſetzlich geſchuͤtztes Vorrecht des Zinſes 
mehr laſtet; durch die Freigabe des Kredits, d. h. die 
Organiſation desſelben auf Grund des Prinzips des Mu— 
tualismus, der gegenſeitigen wirtſchaftlichen Staͤrkung; 
durch die Freigabe des Marktes und des Weltmarktes, 
d. h. die Freiheit des ungehinderten Tauſches und Aus— 
tauſches geſchaffener Werte von Hand zu Hand, wie von 


— 172 — 


Land zu Land; durch die Freigabe des Grund und Bodens, 
d. h. die Freiheit in der Beſitzergreifung von Grund und 
Boden zum Zwecke perfönlicher Benutzung, falls derſelbe 
nicht zu gleichem Zwecke ſchon von anderen perſoͤnlich 
mit Beſchlag belegt wurde; oder, um alle dieſe Forde— 
rungen in eine zufammenzufaffen: die Ausbeutung des 
Menſchen durch den Menſchen wird unmoͤglich durch die 
Freiheit der Arbeit. 

Hier ſchwieg Auban und wieder entſtand eine Pauſe. 

— Sie naͤhern ſich, wie mir ſcheint, dem laissez-faire, 
laissez-aller der Verteidiger der freien Konkurrenz? 

— Umgekehrt: die Mancheſtermaͤnner naͤhern ſich uns. 
Aber fie find weit hinter uns zuruck. Konſequentes Fort⸗ 
ſchreiten auf dem eingeſchlagenen Wege muͤßte ſie in— 
deſſen mit unfehlbarer Sicherheit dahin fuͤhren, wo wir 
ſtehen. Sie behaupten, die freie Konkurrenz zu befuͤr— 
worten. Aber in der Tat befürworten fie nur die Kon⸗ 
kurrenz der Mittelloſen unter ſich, waͤhrend ſie das 
Kapital mit Hilfe ſtaatlicher Gewalt der Konkurrenz ent⸗ 
ziehen: es monopoliſieren. Wir dagegen wollen es 
populariſieren: es jedem ermoͤglichen, Kapitaliſt zu werden, 
indem wir es durch die Freiheit des Kredits jedem zu— 
gaͤnglich zu machen ſuchen und es zwingen, wie jedes 
andere Produkt, an der Konkurrenz teilzunehmen. 

— Dieſe Ideen find ſehr neu ... 

— Sie ſind nicht ganz ſo neu, aber ſie ſind es heute 
wieder geworden, heute, wo alle Rettung nur, „von oben 
her“ erwartet wird, und wo man nicht einſehen will, 
daß die ſoziale Frage nicht anders geloͤſt werden kann, 
als durch die Initiative des einzelnen, der ſich endlich 


A a ae 


— 13 — 


entſchließt, die Beſorgung ſeiner Angelegenheiten ſelbſt 
zu uͤbernehmen, ſtatt ſie in fremde Haͤnde zu legen. 

— Es iſt mir nicht moͤglich geweſen, jedem Ihrer 
Worte bis in das Innere ſeines Sinnes zu folgen, aber 
ich glaube Sie darin nicht falſch verſtanden zu haben, 
daß Sie keine Pflicht der Unterordnung unter den Willen 
eines anderen und kein irgendwie geartetes Recht der Auf— 
erzwingung eines fremden Willens anerkennen? 

— Ich beanſpruche das Recht der freien Entſchließung 
über meine Perſon, entgegnete Auban mit ſtarker Bes 
tonung. — Ich verlange und erwarte keine Zuerteilung 
von Rechten ſeitens der Geſamtheit und ich fuͤhle mich 
ihr gegenuͤber zu nichts verpflichtet. Setzen Sie an Stelle 
des Wortes „Geſamtheit“ was Sie wollen: „Staat“, 
„Geſellſchaft“, „Vaterland“, „Gemeinweſen“, „Menſch— 
heit“ — es bleibt ſich gleich. 

— Sie ſind kuͤhn! rief der Franzoſe aus. — Sie 
negieren die Geſchichte! 

— Ich negiere die Vergangenheit, ſagte Auban. — Ich 
habe von ihr gelernt. Das koͤnnen nur wenige von ſich 
ſagen. Ich negiere alle menſchlichen Inſtitutionen, welche 
ſich auf das Recht der Gewalt gruͤnden. Ich bin mir 
ſelber mehr wert, als ſie es mir ſind! 

— Aber jene ſind ſtaͤrker als Sie — 

— Noch. Eines Tages werden ſie es nicht mehr ſein. 
Denn worin beſteht ihre Macht? In der Torheit der 
Betoͤrten. 

Auban hatte ſich erhoben. Auf ſeinen großen Zuͤgen 
lag der Ausdruck eines freien, ruhigen Stolzes. 


— 174 — 


— So glauben Sie an den Fortſchritt der Menſchheit 
der Freiheit zu? 

— Ich glaube nicht an ihn. Weh' dem, der glaubt! 
Ich ſehe ihn. Ich ſehe ihn, wie ich jeden Tag die Sonne 
Nie 


Auch der Beſucher war aufgeſtanden. Aber Auban 
hielt ihn zuruͤck. 

— Wenn Sie Luſt und Zeit haben, ſo bleiben Sie 
noch. Ich erwarte heute, wie jeden Sonntag, einige 
Freunde. Das Geſpraͤch wird wohl gerade heute auf 
manchen Punkt kommen, der Sie intereſſieren duͤrfte. 

Mit offenbarer Freude wurde feine Einladung an 
genommen. 

— Es waͤre mir allerdings nicht lieb, jetzt ſchon von 
einem Mahle aufſtehen zu muͤſſen, von dem ich kaum 
den erſten Gang genoſſen 

Auban fragte wieder nach Paris, nach einzelnen 
Perſoͤnlichkeiten des Tages, nach manchem, was ihm die 
Zeitungen verſchwiegen. 

Dann kamen ſeine Gaͤſte. Zuerſt Dr. Hurt, ein Eng⸗ 
laͤnder, der Arzt, welcher ſeine Frau gepflegt hatte, und 
ſeitdem ein regelmaͤßiger Beſucher der Zuſammenkuͤnfte 
bei Auban geworden war. Er war ein kurzangebundener, 
in ſich abgeſchloſſener Menſch, ohne jede Phraſe, ohne 
alle Sentimentalitaͤt, ein Charakter, deſſen hervorſtechende 
Eigenſchaften ein ſcharfer Blick unſchwer erkennen mochte: 
unbeugſamer Wille, ſtarke Neigung zu Spott, und zer⸗ 
ſetzende Unglaͤubigkeit. 


1 


— 15 — 


Auban ſchaͤtzte ihn außerordentlich. Es gab keinen 
unter ſeinen Freunden, mit dem er ſich ſo gern unter— 
hielt, wie mit dieſem ſkeptiſchen Englaͤnder, deſſen Logik 
vor keiner Konſequenz zuruͤckſchreckte. 

Man ſprach von jetzt ab einige Zeit engliſch, das 
der Franzoſe verſtand. Der Doktor nahm den zweiten 
Platz am Feuer ein, ſeinen Lieblingsplatz, und waͤrmte 
feinen breiten Ruͤcken, indem er dies London verwuͤnſchte, 
wo Nebeldunſt und Qualm alles mit einer klebrigen 
Kruſte von Krankheitsſtoffen uͤberziehe ... 

Er wurde unterbrochen durch Mr. Marell, den Ameriz 
kaner, welcher von einem jungen Mann von zwanzig 
Jahren begleitet wurde, der — ſichtlich zwiſchen einiger 
Verlegenheit und neugierigem Intereſſe kaͤmpfend — nur 
mit ſcheuer Zurückhaltung in Aubans offene Hand ein- 
ſchlug. 

— Wie geht es, Mr. Marell? 

— Well, ich bringe Ihnen einen jungen Schuͤler der 
ſozialen Wiſſenſchaft, einen deutſchen Dichter, ich denke, 
Sie haben ihn bereits geſehen auf dem Proteſtmeeting 
in Finsbury Hall, er moͤchte Sie kennen lernen — 

Auban laͤchelte. Wieder eine neue Bekanntſchaft. Wo 
und wie der alte Herr ſie ſchloß, war ihm ein Raͤtſel. 
Aber natuͤrliche Herzensguͤte erlaubte dem Alten nicht nur 
nicht, je eine Bitte abzuſchlagen, ſondern ließ ihn ſogar 
in freundlicher Teilnahme jegliche ſogleich erraten. So 
mochte es auch diesmal geweſen ſein. 

Faſt immer auf dem Wege zwiſchen England und 
den Staaten kannte er huͤben und drüben faſt jedermann 
aus der ſozialen Bewegung perſoͤnlich und wurde von 


— 176 — 


faſt jedermann, mochte er welcher Richtung auch immer 
angehoͤren, gekannt und geliebt. Er brachte Auban die 
meiſten Gaͤſte, die dieſer alle gleich freundlich aufnahm. 

— Das iſt recht, ſagte er auch jetzt, — die Dichter ſind 
immer die Freunde der Freiheit geweſen und die deut— 
ſchen Dichter vor allen. Als ich mein Deutſch noch nicht 
ganz vergeſſen hatte, las ich Freiligraths herrliche Ge: 
dichte — ah, wie herrlich ſie ſind, „Die Revolution“ 
und das Gedicht der Toten an die Lebenden, nicht wahr? 

— Ja, ſagte der Deutſche mit freudeleuchtenden 
Augen, — und die „Schlacht am Birkenbaum“ .. 

— Es iſt ein ſeltſames Volk, dieſe Deutſchen, ſagte 
Dr. Hurt, das Land des Individualismus, und doch 
dieſe huͤndiſche Winſelei. Ich kann nicht verſtehen, wie 
ein Mann aufrecht dort leben kann unter dieſen devot 
gebeugten Nacken. 


— Nun, es ſind auch nicht wenige, die auswandern. 
Wie viele kommen allein zu uns nach Amerika — unter⸗ 
brach ihn der Yankee. 

Wieder ging die Tuͤr. 

Es war Trupp, der ernſt, wie immer, die Anweſenden 
mit einem Kopfnicken begruͤßte; ein ruſſiſcher Nihiliſt, 
deſſen Namen niemand kannte, von deſſen propagandi⸗ 
ſtiſcher Taͤtigkeit ſeine Genoſſen aber viel ſprachen; und 
endlich ein Anhänger der New Vorker „Freiheit“-Richtung, 
deſſen Kommen fuͤr Auban ſtets eine beſondere Freude 
war, trotzdem er ſich mit ihm noch weniger uͤber manche 
Fragen zu verſtaͤndigen vermochte, als mit Trupp. 

Ihnen auf dem Fuße folgte der. letzte Beſucher des 


— 177 — 


heutigen Nachmittags, ein Huͤne von Geſtalt, deſſen 
blonden Haaren und blauen Augen man ſofort den 
Nordlaͤnder anſah. Es war ein Schwede, welcher der 
jungen ſozialdemokratiſchen Partei ſeines Landes angehoͤrte, 
aber ſtark zum Anarchismus neigte und ſtets behauptete, 
es gaͤbe zwiſchen dieſem und ſeiner Partei nur einen 
einzigen Unterſchied, naͤmlich den der Taktik: was dieſe 
auf dem Wege politiſcher Reformen, das wollten jene 
auf dem der Gewalt erreichen; und da ihm der erſtere 
mit der Zeit zu lang erſchien, ſo war er geneigt, den 
zweiten einzuſchlagen. Er war ganz das, was man 
„Gefuͤhlsſozialiſt“ zu nennen pflegt. 

Man bildete einen Halbkreis um das Feuer. Der 
Barboy erſchien und ging von einem zum andern, die 
Auftraͤge jedes einzelnen entgegennehmend. Indem ſich 
Auban auf dieſe Weiſe der Mühe zeitraubender Vor— 
richtungen und des ſtoͤrenden Anbietens enthob, ſicherte 
er jedem die Freiheit individueller Wahl. Das Wohl— 
behagen ſeiner Gaͤſte gab ihm recht. 

Die Unterhaltung wurde ſchnell lebhaft. 

Auban vermied zeremonielle Vorſtellungen ſeiner Gaͤſte. 
Aber er hatte eine gute Art, indirekt — im Laufe des 
Geſpraͤchs — den einen mit dem anderen bekannt zu 
machen. So wußte auch an dieſem Nachmittag bald 
jeder ſeiner acht Gaͤſte, wer der andere war, wenn er 
ihm nicht ſchon von fruͤheren Gelegenheiten her bekannt 
war. Es ſprachen nicht alle miteinander. Dr. Hurt ſchwieg 
ganz, hoͤrte aber aufmerkſam zu. Man war beides an 
ihm gewohnt. Auch der Ruſſe miſchte ſich nicht ein. 
Nachdenklich vor ſich blickend, ließ er ſich keines der ihn 

VIII 12 


— 178 — 


umſchwirrenden Worte entgehen, hinter jedem einen tieferen 
und eigentuͤmlicheren Sinn, wie beabſichtigt, ſuchend und 
findend. Er war zum viertenmal auf Aubans Nach: 
mittagen; und er war vor vier Wochen zum erftenmal 
auf ihnen erſchienen. 

Die Freundlichkeit des alten Amerikaners, deſſen ernſte 
Unbefangenheit immer die gleiche war, und Aubans ruhige 
Zwangloſigkeit ließen indeſſen kein Unbehagen und kein 
laͤngeres Schweigen aufkommen. 

Die meiſten rauchten. Nach einer halben Stunde war 
das Zimmer von Qualm erfuͤllt: die weißen Streifen des 
Rauches legten ſich wie Kraͤnze um dieſe, von der Natur 
fo verſchieden gebildeten Köpfe, um dieſe männlichen 
ernſten Stirnen und ſchlichen dann uͤber ſie hinweg zur 
Decke, wo fie zerflogen .. 

Als eine Pauſe entſtand und die Gläfer von neuem 
gefüllt waren, beugte Auban, der zwiſchen feinem franz 
zöfifchen Beſucher und dem jungen Deutſchen, von dem 
der Amerikaner geſagt hatte, daß er ein Dichter ſei, ſaß, 
ſich vor und ſagte auf franzoͤſiſch: 

— Trupp und ich wollten Sie bitten, meine Herren, 
uns an dem heutigen Nachmittage eine Stunde zu einer 
Diskuſſion uͤber die Frage: Was iſt Anarchismus? — 
zu geben. Und zwar nicht, wie ſonſt oͤfters, zu einer 
Diskuſſion uͤber eine ganz beſtimmte und ſcharf umgrenzte 
Frage, ſondern zu einer Diskuſſion uͤber die allgemeinen 
Grundfragen des Anarchismus ſelbſt. Denn wir fuͤhlen 
beide, daß ein Ausſprechen uͤber dieſelben noͤtig ge— 
worden iſt. 

Er hielt inne, eine Zuſtimmung erwartend. Das 


r 
* 


— 179 — 


Geſpraͤch hatte aufgehoͤrt. Man nickte ihm zu und er 
fuhr fort: . 

— Wie? — wird der eine oder der andere unter 
ihnen fragen, wie? — Eine Diskuſſion uͤber die Grund⸗ 
prinzipien des Anarchismus? Ja, find denn dieſe Prin— 
zipien nicht laͤngſt feſtgeſtellt und ſomit jedem Zweifel 
enthoben? — 

Nein! antworte ich darauf. — Trotzdem bald fuͤnf— 
zig Jahre vergangen find, daß das Wort Anarchismus! 
zum erſtenmal — im Gegenſatz zu der noch heute viel 
verbreiteten Auffaſſung, welche unter Anarchie nichts 
anderes als die Unordnung des Chaos verſtehen will — 
zur Bezeichnung eines Geſellſchaftszuſtandes gebraucht 
wurde; trotzdem in dieſen fünfzig Jahren der Anarchis— 
mus in allen ziviliſierten Laͤndern der Erde zu einem 
Teil der Zeitgeſchichte geworden iſt; trotzdem er die 
erſten, unzerſtoͤrbaren Steine zu ſeiner eigenen Geſchichte 
bereits gelegt hat; trotzdem es heute Tauſende von 
Menſchen gibt, die ſich ‚Anarchiiten‘ nennen (es find 
hier in Europa zehn- bis zwanzigtauſend und in Amerika 
wohl ebenſo viele), — trotzdem, ſage ich, gibt es nur 
eine ganz geringe Anzahl von Individuen, die das 
Weſen des Anarchismus in ſeiner ganzen Tiefe begriffen 
haben. 

Ich will hier gleich ſagen, wer dieſe wenigen meiner 
Meinung nach find. Es find die Denker des Indivi— 
dualismus, welche ſeine Philoſophie auf die Geſellſchaft 
anzuwenden konſequent genug waren. Es ſind — in 
der intelligenteſten und bildungsreichſten Stadt des 
amerikaniſchen Weſtens, in Boſton — einige kuͤhne, be- 

2° 


— 180 — 


deutende und voͤllig unabhaͤngig von jeder Zeitſtroͤmung 
denkende Menſchen, ebendort, wo der Anarchismus ſein 
erſtes und bis heute noch einziges Organ gefunden hat. 
Es find endlich ganz vereinzelte und überall hin ver: 
ſtreute Schuͤler Proudhons, fuͤr die dieſer Rieſe kein 
toter Mann iſt, ob auch der Sozialismus in laͤcherlicher 
Anmaßung ihn begraben zu haben waͤhnt ... 

— Ich glaube, Sie koͤnnen noch hinzufuͤgen, ſagte 
Dr. Hurt, — daß es unter den großen Monopoliſten des 
Kapitals einige gibt, denen es klar ward, was ihre großen 
Vermoͤgen erhaͤlt und deren ſtetige Vermehrung ermoͤg⸗ 
licht, und denen daher ihr groͤßter Feind nicht ganz un⸗ 
bemerkt geblieben iſt. 

— Wir alſo, die Arbeiter, die wir den Namen 
allen Verfolgungen zum Trotz hochgehalten haben, wir 
waͤren alſo keine Anarchiſten? — Wie? begann Trupp 
erregt. 

— Zunaͤchſt iſt die Frage des Anarchismus nicht die 
Sache einer einzelnen Klaſſe, alſo auch nicht die der 
arbeitenden, ſondern ſie iſt die Sache jedes einzelnen 
Menſchen, dem ſeine perſoͤnliche Freiheit lieb iſt. So— 
dann aber, — Auban ſtand auf, trat einen halben 
Schritt in den Kreis vor und reckte ſeine hagere Ge— 
ſtalt in die Hoͤhe, waͤhrend er mit lauterer Stimme 
fortfuhr — ſodann aber, ſage ich, daß ihr — die, 
welche du eben im Sinne hatteſt, Otto, als du 
von den Arbeitern ſprachſt — allerdings keine An⸗ 
archiſten ſeid. Und um das zu beweiſen, gerade des⸗ 
halb habe ich heute gebeten, mir eine halbe Stunde zu⸗ 
zuhören. 


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— 181 — 


— Sprich erſt, warf Trupp ſcheinbar ruhig hin. — Ich 
werde dir antworten, wenn du fertig biſt. 

Auban ſprach weiter. 

— Ich kann ſagen, daß ich immer nur eines gewollt 
habe: die Freiheit. So kam ich an die Grenzen ſo 
mancher Anſchauungen, und ſo bin ich auch in die Be— 
wegung des Sozialismus gekommen. Dann habe ich 
mich von allem zuruͤckgezogen, mich ganz neuen Unter⸗ 
ſuchungen hingegeben und ich fuͤhle jetzt, daß ich nun⸗ 
mehr bei den Endreſultaten aller Forſchung angelangt 
bin: bei mir ſelbſt! 

Ich ſpreche nicht gern mehr zu vielen. Die Zeiten, 
wo ſich bei mir die Worte leicht einſtellten, da die Ge: 
danken fehlten, ſind vorbei, und ich mache auf dies Vor— 
recht der Jugend, der Frauen und der Kommuniſten 
keinen Anſpruch mehr. Aber mit aller Schaͤrfe und Ruͤck⸗ 
ſichtsloſigkeit muß endlich Front gemacht werden gegen 
jene unklaren Beſtrebungen, Grundſaͤtze in der Theorie 
miteinander zu vereinigen, welche praktiſch verſchieden 
ſind wie Tag und Nacht. | 

Es gilt alſo Stellung zu nehmen: hier oder dort. 
Fuͤr das eine und damit wider das andere. Fuͤr oder 
gegen die Freiheit! 

Beſſer ehrliche Feinde, als unehrliche Freunde! — 

Die Entſchloſſenheit dieſer Worte machte Eindruck 
auf alle Anweſenden. An dem Ernſt, mit dem Auban 
fie geſprochen, fühlte jeder, daß es ſich heute gewiſſer⸗ 
maßen um eine Entſcheidung handelte. 

Jeder brachte daher den folgenden Auseinander— 


— 12 — 


ſetzungen Aubans ein doppeltes Intereſſe entgegen und 
blieb waͤhrend ihrer Dauer ſowohl wie waͤhrend der 
Diskuſſion, die ſich zwiſchen ihm und Trupp an dieſelben 
knuͤpfte ein aufmerkſamer Zuhoͤrer, der nur hin und 
wieder eine Bemerkung, eine Frage hineinwarf. 

Von Aubans Lippen fiel Wort um Wort gleich leiden⸗ 
ſchaftslos. Er ſprach mit gleichmaͤßiger Schaͤrfe, die 
keine Mißverſtaͤndniſſe zuließ, betonte aber das eine oder 
andere ſeiner Argumente, die Fundamentalſaͤtze einer 
unerbittlichen Weltanſchauung, ſtaͤrker. 

Trupp redete mit der ganzen Waͤrme ſeines nach 
Gerechtigkeit duͤrſtenden Herzens. Wo ſein Verſtand ſich 
ſtraͤubte, Hinderniſſe zu nehmen, hob er ſich fort uͤber 
ſie auf den Fluͤgeln ſeiner unerſchuͤtterlichen Hoffnung. 

Sie ſprachen nunmehr franzoͤſiſch. Es war keiner 
unter ihnen, dem dieſe Sprache voͤllig unverſtaͤndlich 
geweſen waͤre. 

Auban begann von neuem und er ſprach fo langſam 
ein jedes ſeiner wohldurchdachten Worte, daß es ſcheinen 
mochte, er leſe ſie ab oder er habe ſie auswendig gelernt. 


— Ich behaupte, begann er, — daß in der ſozialen 
Bewegung unſerer Tage eine große Spaltung entſtanden 
iſt, welche ſich taͤglich ſichtlich mehr und mehr erweitert. 

Die neue Idee des Anarchismus hat ſich von der 
alten des Sozialismus getrennt. In zwei große Heer— 
lager ſammeln ſich die Bekenner der einen und die 
Anhaͤnger der anderen. 


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2 


— 183 — 


Es gilt, wie ich ſagte, Stellung zu nehmen hier oder 
dort. 

Tun wir das heute. Sehen wir, was der Sozialis— 
mus will, und ſehen wir, was der Anarchismus will. 


Was will der Sozialismus? 

Ich habe gefunden, daß es ſehr ſchwer iſt, auf dieſe 
Frage eine zufriedenſtellende Antwort zu geben. Ich 
ſehe ſeit zehn Jahren ſeine Bewegung vor mir in jeder 
ihrer Phaſen und habe fie in zwei Ländern aus perſoͤn— 
licher Erfahrung kennen gelernt. Ich habe mit der 
Geſchichte unſeres Jahrhunderts ſein Entſtehen und ſein 
Wachstum verfolgt — aber noch bis heute iſt es mir 
nicht gelungen, mir ein klares Bild ſeiner Ziele zu 
machen. Ich waͤre ſonſt vielleicht heute noch ſein An— 
haͤnger. 

Wo immer ich nach ſeinen letzten Zielen fragte, 
wurden mir zwei Antworten. 

Die eine lautete: „Es waͤre laͤcherlich, ſchon jetzt das 
Bild einer Zukunft zu entwerfen, die wir erſt vorbereiten 
wollen. Überlaffen wir ihre Geſtaltung unſeren Nach- 
kommen.“ 5 

Die andere war weniger ſproͤde. Sie verwandelte 
die Menſchen in Engel, zeichnete mir mit beneidenswerter 
Schnelligkeit ein Eden von Gluͤck, Frieden und Freiheit 
und nannte dieſen Himmel auf Erden die „zukuͤnftige 
Geſellſchaft“. 

Die erſte Antwort wurde mir von den Kollektiviſten, 
den Sozialdemokraten, den Staatskommuniſten; die zweite 


— 


— 184 — 


von den „freien Kommuniſten “, die ſich Anarchiſten nennen, 


und jenen echt chriſtlichen Schwaͤrmern, welche keiner 
ſozialen Partei der Gegenwart angehoͤren, deren Zahl aber 
viel größer iſt, als man glaubt. Die meiſten Religions: 
fanatiker und Philantropen z. B. gehören zu ihnen. 

In dieſer kurzen Darlegung, die ſich ſtreng inner: 
halb der Grenzen der Wirklichkeit bewegt und natuͤrlich 
nur mit den Menſchen rechnet, wie ſie ſind, immer ge— 
weſen ſind und immer ſein werden, muß ich von den 
zuletzt genannten voͤllig abſehen. Denn die einen, die 
freien oder revolutionaͤren Kommuniſten, wuͤrden in der 
ſozialen Bewegung nie dieſe Beachtung gefunden haben 
— trotzdem faſt jedes Jahrzehnt unſeres Jahrhunderts 
ſie neu entſtehen, ſich bilden und vergehen ſah: von 
Babeuf und Cabet an, uͤber den Schneider Weitling 
und die deutſch⸗ſchweizeriſche Kommuniſtenbewegung der 
vierziger Jahre hinaus bis zu Bakunin —, wenn ſie 
nicht eine Taktik befuͤrworten, deren gelegentliche Aus— 
uͤbung in den letzten zwölf Jahren den von ihnen faͤlſch⸗ 
lich angenommenen Namen — ‚Anarchiften‘ — in den 
Augen aller unſelbſtaͤndig Denkenden (und das ſind 
heute noch neun Zehntel aller Menſchen) fuͤr gleichlautend 
mit Raͤuber und Moͤrder gemacht haͤtte; und die anderen, 
die philantropiſchen Utopiſten — nun, ſolche hat es 
immer gegeben und wird es vorausſichtlich ſolange 
geben, als die Regierungen Elend und Armut mit Ge— 
walt ſchaffen. 

Indem ich alſo von allen rein idealen Sozialiſten 
und ihren utopiſchen Wuͤnſchen abſehe und mich an die 
meinem Verſtand allein erfaßbaren Beſtrebungen der 


. % 


— 188 — 


zuerſt genannten halte, beantworte ich in ihrem Sinne 
und mit ihren eigenen Worten die Frage: Was will der 
Sozialismus? — ſo: 

Der Sozialismus will die Vergeſellſchaftlichung aller 
Produktionsmittel und die geſellſchaftliche, planmaͤßige 
Regelung der Produktion im Intereſſe der Geſamtheit. 

Dieſe Vergeſellſchaftung und Regelung hat zu er— 
folgen gemaͤß dem Willen der abſoluten Majoritaͤt und 
zwar durch die Perſon der von ihr gewaͤhlten und ge— 
nannten Vertreter. 

So lautet die erſte und wichtigſte Forderung der 
Sozialiſten aller Laͤnder, ſoweit ſie auf dem Boden der 
Wirklichkeit ſtehen und mit den von ihr gegebenen Ber: 
haͤltniſſen rechnen. 

Es iſt mir natuͤrlich unmoͤglich, hier naͤher einzu— 
gehen: 

Einmal auf die Möglichkeit der Durchfuͤhrung dieſer 
Prinzipien, die jedenfalls nur mit beiſpielloſem Terroris— 
mus und brutalſter Vergewaltigung des Individuums zu 
denken waͤre, an die ich aber nicht glaube; und ferner 
auf die gar nicht zu ermeſſenden Folgen, die eine — auch 
nur zeitweilige — unbeſchraͤnkte Diktatur der Mehrheit 
für die Entwicklung der Ziviliſation haben würde... 

Wozu auch? Ich brauche nur hinzuweiſen auf die 
heutigen Verhaͤltniſſe, unter welchen wir alle leiden: die 
durch den Staat gewaltſam gefchaffenen und verteidigten 
Vorrechte, mit denen er das Kapital in der Form des 
Zinſes und das Land in derjenigen der Rente belehnt, 
einerſeits; und auf den vergeblichen Kampf der von 
dieſem Kapital abhaͤngigen Arbeit unter ſich, dieſem Kampf, 


— 186 — 


in dem fie ſich rettungslos ſelbſt zerfleiſcht, andererſeits — 
ich brauche nur auf dieſe von uns allen ſo gehaßten 
Verhaͤltniſſe hinzuweiſen, um den ſelbſtaͤndig Denkenden 
einen Begriff davon zu geben, wie voͤllig null und nichtig 
die oͤkonomiſche und damit alle perſoͤnliche Freiheit werden 
muß, wenn dieſe Sondermonopole ſich verkoͤrpert haben 
wuͤrden in dem einen umfaſſenden, abſoluten Geſamt⸗ 
monopol der Gemeinſchaft, welche heute Staat und 
morgen Allgemeinheit heißt. 5 

Ich ſage nur ſoviel: 

Was heute eine gewaltſame Ausbeutung der Mehr— 
heit durch die Minderheit iſt, wuͤrde morgen eine in 
keiner Beziehung gerechtfertigtere gewaltſame Ausbeutung 
der Minderheit durch die Mehrheit ſein. 

Heute: Unterdruͤckung der Schwachen durch die 
Starken. Morgen: Unterdruͤckung der Starken durch die 
Schwachen. 

In beiden Faͤllen: privilegierte Gewalt, welche tut, 
was ſie will. 

Nur ein Wechſel in der Herrſchaft wuͤrde alſo ſein, 
was der Sozialismus im beſten Falle zu erreichen im—⸗ 
ſtande waͤre. 


Hier ſtelle ich meine zweite Frage: 

Was will der Anarchismus? — 

Und anknuͤpfend an das eben Auseinandergeſetzte 
gebe ich die Antwort: 

Der Anarchismus will die Abweſenheit aller Herr— 
ſchaft, welche — auch wenn ſie die „Klaſſenherrſchaft“ 


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— 187 — 


aufhebt — die Menſchen unabweisbar in die beiden 
großen Klaſſen der Ausbeuter und der Ausgebeuteten 
ſcheidet. 


Alle Herrſchaft gründet ſich auf Gewalt. Wo immer 
aber Gewalt iſt, da iſt Ungerechtigkeit. 

Gerecht allein iſt die Freiheit: die Abweſenheit aller 
Gewalt und allen Zwanges. Ihre Baſis wird gebildet 
durch die Gleichheit der Bedingungen fuͤr alle Menſchen. 


Auf dieſer Grundlage gleicher Lebensbedingungen das 
freie, unabhaͤngige, ſouveraͤne Individuum, deſſen einzige 
Forderung an die Geſellſchafft in der Reſpektierung feiner 
Freiheit beſteht, und deſſen einziges ſelbſtgegebenes Geſetz 
die Reſpektierung der Freiheit der anderen iſt — das iſt 
das Ideal der Anarchie. 

Erwacht dieſes Individuum zum Leben, ſo hat die 
Todesſtunde des Staates geſchlagen: an die Stelle der 
Regierung tritt die Geſellſchaft, an die des Staates 
treten die freien Vereinigungen zu beſtimmten Zwecken, 
an Stelle der Zwangsgeſetze die freien Kontrakte. 


Die freie Konkurrenz, der Kampf „Aller gegen Alle“, 
beginnt. Die kuͤnſtlich geſchaffenen Begriffe der Staͤrke 
und Schwaͤche muͤſſen verſchwinden, ſobald die Bahn 
freigegeben iſt und die Erkenntnis des echten Egoismus 
ſich durchgerungen hat: daß das Wohlbefinden des einen 
das des anderen iſt und umgekehrt. 

Sind mit der ſtaatlichen Gewalt die von ihr er— 
haltenen Privilegien machtlos geworden, ſo eroͤffnet ſich 
für den einzelnen die Möglichkeit, den vollen Ertrag 
ſeiner Arbeit zu erlangen, und erfuͤllt ſich damit die 


— 188 — 


erſte Forderung des Anarchismus, jene Forderung, die 
er mit dem Sozialismus gemeinſam hat. 

— Wann ich imſtande bin, mir den vollen Ertrag 
meiner Arbeit zu ſichern? unterbrach ſich Auban, als 
er einen fragenden Blick des Franzoſen auffing, und 
fuhr fort: 5 

— Wenn ich mein Arbeitsprodukt zu ſeinem vollen 
Werte austauſchen und mit dem Erloͤs ein gleichwertiges 
zuruͤckkaufen kann, ſtatt, wie heute, gezwungen zu fein, 
meine Arbeit unter ihrem Werte zu verkaufen, d. h. mich 
vermittels Gewalt um einen Teil derſelben beſtehlen zu 
laſſen. 

Nach dieſem Zwiſchenſatz nahm Auban den Faden 
ſeiner Rede wieder auf. 

— Denn mit dem Verſchwinden der Gewalt ſieht ſich 
das Kapital, unfaͤhig der Arbeit laͤnger den bisherigen 
Tribut zu erpreſſen, genoͤtigt, am Kampfe teilzunehmen, 
d. h. ſich auszuleihen und zwar gegen eine Verguͤnſtigung, 
welche die Konkurrenz der Banken unter ſich in der 
Schaffung von Austauſchmitteln bis auf das geringſte 
Maß herabdruͤcken wuͤrde, ebenſo wie ſie die Anhaͤufung 
neuer Kapitalien in den Haͤnden einzelner unmoͤglich 
machen muͤßte. 

Die Fruchtbarkeit des Kapitals iſt der Tod der Arbeit: 
der Vampyr, der ſie ausſaugt. Wird ſie unmoͤglich, ſo 
iſt die Arbeit frei. 

Dann erſt, wenn die Hilfsmittel der Natur nicht 
mehr verftopft fein werden durch die gewaltſamen Vor⸗ 
richtungen einer allem geſunden Menſchenverſtand Hohn 
ſprechenden, unnatuͤrlichen Regierung, welche unter dem 


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1 


— 189 — 


Vorgeben der Sorge fuͤr das Geſamtwohl mit dem 
Elend einer ganzen Bevölkerung den wahnſinnigen Luxus 
einer verſchwindenden Minderheit erkauft, dann erſt 
werden wir ſehen, wie reich ſie iſt, unſere Mutter. Dann 
wird in Wahrheit der Wohlſtand des einzelnen gleich—⸗ 
bedeutend ſein mit dem Wohlſtand der Allgemeinheit, 
aber ſtatt ihr ſich zu opfern, wird er ſie ſich untertaͤnig 
gemacht haben. 

Denn das und nichts anderes will der Anarchismus: 
die Fortraͤumung aller kuͤnſtlichen Hinderniſſe, die ver— 
gangene Jahrhunderte aufgetuͤrmt haben zwiſchen dem 
Menſchen und ſeiner Freiheit, zwiſchen ihm und dem 
Verkehr mit ſeinen Nebenmenſchen, immer und uͤberall 
in den Formen des Kommunismus, und immer und 
uͤberall auf Grund jener ungeheuren Luͤge, von den einen 
erdacht in ſchlauer und doch ſo toͤrichter Selbſtverblendung, 
und von den anderen geglaubt in ebenfo törichter Selbſt— 
erniedrigung: daß der einzelne nicht fuͤr ſich, ſondern 
für die Geſamtheit lebe! .. 

Vertrauend auf die Macht der Vernunft, die auf— 
zuraͤumen begonnen hat mit dem Wuſt der Ideen, ſehe 
ich ruhig in die Zukunft. Mag die Freiheit auch noch 
fern ſein. Kommen wird ſie. Sie iſt die Notwendigkeit, 
welcher die Menſchheit in dem einzelnen immer zugeſtrebt 
hat und immer zuſtreben wird. 

Denn die Freiheit iſt kein Zuſtand der Ruhe, ſondern 
ſie iſt ein Zuſtand der Wachſamkeit, ſowie auch das Leben 
kein Schlaf, ſondern ein Wachen iſt, von dem uns erſt 
der Tod entbindet. ; 

Ihre letzte Forderung aber ſtellt die Freiheit unter 


— 190 — 


dem Namen des Anarchismus, indem ſie die Selbſtherr— 
lichkeit des Individuums verlangt. Unter dieſem Namen 
wird ſie ihren letzten Kampf kaͤmpfen in jedem einzelnen, 
der ſich empoͤrt gegen die Vergewaltigung ſeiner Perſon 
durch die ſozialiſtiſch gewordene Welt, die in unſeren 
Tagen ſich bildet. Kein einziger wird ſich dieſem Kampfe 
entziehen koͤnnen; ein jeder muß Stellung nehmen für 
oder wider 

Denn die Frage der Freiheit iſt eine oͤkonomiſche 
Frage! — — 

Laͤngſt hatte ſich aus Aubans Worten der uͤberlegende, 
abwaͤgende Ton verloren. Die letzten Saͤtze hatte er 
ſchnell, lebhaft, ergriffen geſprochen. Unter ſeinen Zu— 
hoͤrern war ihr Eindruck ein ſehr verſchiedener. 

Keiner entgegnete ſogleich. 

Da ſagte Auban noch: 

— Ich habe Stellung genommen in den letzten beiden 
Jahren und ich habe Ihnen gejagt, wo ich ſtehe. Ob ich 
mich verſtaͤndlich gemacht habe und ob Sie mich ver— 
ſtanden haben — ich weiß es nicht. Aber ich weiß, daß 
mein Platz außerhalb aller Zeitſtroͤmungen iſt. Wen ich 
ſuche und wen ich finden werde, das iſt der Einzelne: 
Du — und Du — und Du —, Ihr, die Ihr in einſamem 
Ringen zu gleicher Erkenntnis gekommen ſeid. Wir werden 
uns finden, und wenn wir ſtark genug geworden ſein 
werden, dann ſchlaͤgt auch für uns die Stunde des Han⸗ 
delns. — Aber genug! — 

Er ſchwieg und nahm zuruͤcktretend ſeinen alten 
Platz ein. 5 


Es vergingen einige Minuten, in denen leiſe ver⸗ 


" Ebd 1 aa rr 


— 191 — 


ſchiedene Bemerkungen ausgetauſcht wurden, ehe Trupp 
ſeine Antwort begann. Er hatte waͤhrend Aubans Worten 
vorgebeugt dageſeſſen, das Kinn in die Hand und den 
Arm auf das Knie geſtuͤtzt, und ſich nichts entgehen laſſen. 

Er ſprach kurz und uͤberzeugt, nachdem er die An— 
weſenden noch einmal mit ſeinem ſcharfen Blick uͤber— 
flogen hatte. 


Es iſt da eben von zwei verſchiedenen Anarch —ismen 
geſprochen worden, von denen der eine gar keiner ſein 
ſoll. Ich kenne nur einen, das iſt der kommuniſtiſche 
Anarchismus, der ſich unter den Arbeitern zur Partei 
ausgebildet hat und der allein in „weiteren Kreiſen“, 
wie man zu ſagen pflegt, bekannt iſt. Er iſt ſo alt, ja 
aͤlter als unſer Jahrhundert, Babeuf hat ihn ſchon ge— 
predigt. Ob einige kleinbuͤrgerliche Liberaliſten einen neuen 
Anarchismus erfunden haben, das iſt mit voͤllig gleich— 
guͤltig und intereſſiert mich ebenſowenig, wie alle andern 
Arbeiter. Was Prondhon anbetrifft, auf den der Genoſſe 
Auban immer wieder zuruͤckkommt, ſo iſt er laͤngſt uͤberall 
abgetan und vergeſſen, ſogar in Frankreich, und an ſeine 
Stelle iſt uͤberall der revolutionaͤre, kommuniſtiſche 
Anarchismus des eigentlichen Proletariats getreten. 

Wenn die Genoſſen wiſſen wollen, was dieſer 
Anarchismus will, der ſich in Widerſpruch zu den Staats- 
kommuniſten ſtellt, ſo will ich es ihnen gerne mit kurzen 
Worten ſagen. 

Vor allem ſehen wir in dem Einzelnen nicht ein von 
der Geſellſchaft losgeloͤſtes Weſen, ſondern wir betrachten 


— 192 — 


ihn als das Produkt eben dieſer Geſellſchaft, von der 
er alles hat, was er iſt und kann. Er kann alſo nur 
zuruͤckgeben, wenn auch in anderer Form, was er zuvor 
von ihr empfangen hat. 

Er kann aus dieſem Grunde auch nicht ſagen: das 
und das gehoͤrt mir allein. Ein Privateigentum kann 
es unmoͤglich geben, ſondern alles, was produziert iſt 
und produziert wird, iſt geſellſchaftliches Eigentum, an 
das der eine ebenſoviel Anrecht hat wie der andere, da 
der Anteil, den der einzelne an der Erzeugung der Guͤter 
hat, auf keine Art und Weiſe gerecht beſtimmt werden 
kann. Aus dieſem Grunde proklamieren wir die Ge— 
nußfreiheit, d. h. das Recht eines jeden, ſeine Beduͤrf— 
niſſe frei und ungehindert zu befriedigen. 

Somit ſind wir Kommuniſten. 

Andererſeits ſind wir aber auch Anarchiſten. Denn 
wir wollen eine Geſellſchaftsform, in welcher jedes Mit⸗ 
glied ſein eigenes „Ich“, d. h. ſeine individuellen Talente 
und Faͤhigkeiten, Wuͤnſche und Beduͤrfniſſe zur vollen 
Geltung zu bringen vermag. Daher ſagen wir: Fort 
mit aller Regiererei! Fort mit ihr auch in Geſtalt einer 
Verwaltung. Denn aus einer Verwaltung wird immer 
eine Regierung. Wir verwerfen desgleichen den ganzen 
Stimmkaſtenzauber und erklaͤren die Fuͤhrer, die ſich 
angemaßt haben, an die Spitze der Arbeiter zu treten, 
fuͤr Schwindler. 

Als Kommuniſten ſagen wir: 

Jedem nach ſeinen Beduͤrfniſſen! 

Und als Anarchiſten: 

Jeder nach ſeinen Faͤhigkeiten! 


— 193 — 


Wenn Auban ſagt, ein ſolches Ideal ſei nicht moͤglich, 
ſo antworte ich ihm, daß er die Arbeiter immer noch 
nicht kennt, obwohl er fie kennen koͤnnte, denn er hat 
lange genug mit ihnen verkehrt. Die Arbeiter ſind keine 
ſo ſchmutzigen Egoiſten wie die Bourgeois — wenn ſie 
einmal mit dieſen abgerechnet haben werden, wenn die 
letzte Revolution geſchlagen iſt, werden ſie ſich ſchon ein⸗ 
zurichten verſtehen. 

Ich glaube, daß ſie nach der Expropriation der Aus⸗ 
beuter und der Wegnahme der Bank zunaͤchſt Alles Allen 
zur Verfügung ſtellen werden. Die leeren Palaͤſte werden 
ſchnell genug Bewohner finden und die vollgeſpeicherten 
Lagerhaͤuſer bald genug Abnehmer. Nur kein Kopfzer⸗ 
brechen deshalb! 

Dann, wenn jeder Nahrung, Kleidung und Obdach 
zur Genuͤge haben wird, wenn die Hungrigen geſpeiſt 
und die Nackten bekleidet ſind — denn es iſt einſtweilen 
genug fuͤr alle da — werden ſie ſich gruppieren, werden, 
getrieben von ihrem Drang ſich zu betaͤtigen, in Ge⸗ 
meinſchaft produzieren und je nach Beduͤrfnis kon⸗ 
ſumieren. 

Der Einzelne wird hoͤchſtens mehr von der Geſellſchaft 
zuruͤckempfangen, nie aber weniger, als er ihr gegeben 
hat. Denn was ſollte der Staͤrkere, der mehr produziert, 
als er konſumieren kann, mit dem Überfluß feiner 
Arbeit anfangen, als ihn dem Schwaͤcheren zukommen 
zu laſſen? 

Und das ſollte keine Freiheit ſein? — Da wird nicht 
gefragt, wie viel oder wie wenig ein jeder produziert 
und ein jeder konſumiert, nein, ein jeder wird ſeine ge— 
vin 13 


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leiſtete Arbeit den großen Lagerhaͤuſern uͤberliefern und 
ſich dort dafür nehmen, was er zu feinem Lebensunter⸗ 
halt braucht. Gemäß dem Prinzip der Bruͤderlichkeit — 


Hier wurde Trupp durch ein ſchallendes Gelaͤchter 
Dr. Hurts unterbrochen. Eine allgemeine Bewegung 
entſtand. Die meiſten wußten nicht, was ſie denken 
ſollten. Auban war ungehalten. 

— Ich finde es nicht zum Lachen, ſondern zum 
Weinen, Doktor, wenn Menſchen mit offenen Augen in 
ihr Verderben rennen, ſagte er. 

Trupp ſtand auf. Seine ganze gedrungene Geſtalt 
war geſpannt bis auf den letzten Muskel. Er war nicht 
beleidigt, denn er fuͤhlte nicht ſich, ſondern ſeine Idee 
angegriffen. 

— Mit Leuten wie Sie wird man allerdings kurzen 
Prozeß machen! — — rief er. 

Aber Dr. Hurt, der ploͤtzlich ebenfalls ernſt geworden 
war, uͤberging dieſe Worte vollſtaͤndig. 

— Wo leben Sie? fragte er bruͤsk. — Auf der Erde 
oder auf dem Mond? Was fuͤr Menſchen ſehen Sie? — 
Wollen Sie nie klug werden? — 

- Und ſich abwendend, brach er abermals in Lachen 
aus: 

— Man muß fo etwas hören, um es zu glauben: Zwei⸗ 
tauſend Jahre nach Chriſtus, nach zweitauſend Jahren 
der traurigſten Erfahrung in Befolgung einer Lehre, 
welche alles Elend geſchaffen, immer noch derſelbe Un⸗ 
ſinn in derſelben unveraͤnderten Form! — rief er. 


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Mit einem Schlage hatte ſich die Stimmung geaͤndert. 
An die Stelle ruhiger Zuhörer, die ſich von ihrem Er— 
ſtaunen uͤber dieſe Unterbrechung erholten, traten erregte 
Teilnehmer, die fuͤr oder wider Partei nahmen. 

Trupp zuckte die Achſeln. 

Der Erfolg ſeiner Worte war ein unverkennbarer auf 
die meiſten geweſen. Auban ſah es mit einem unheim— 
lichen Erſtaunen: was er ſelbſt geſagt hatte, war ihnen 
fremde und kuͤhle Vernunft geweſen. Sie wollten eine 
Vollkommenheit des Gluͤcks — Trupp bot ſie ihnen. 

Ob ſie moͤglich war? — Dieſe Frage kam keinem. 

Es iſt doch ein boͤſes um die Hoffnung, dachten 
Auban und Hurt, und ihre Gedanken gruͤßen ſich ſchwei⸗ 
gend in einem Blicke —: ſie verachtet die Vernunft, 
welche muͤhſam zwar und allmaͤhlich nur, aber mit un⸗ 
fehlbarer Sicherheit Stein um Stein und Stockwerk um 
Stockwerk von dem Rieſengebaͤude des Wahns abtraͤgt ... 

Der junge Deutſche hatte mit glaͤnzenden Augen an 
den Lippen Trupps gehangen. Noch voͤllig freind der 


Bewegung erfuͤllte ihn die vernommene Schilderung des 


Ideals mit Begeiſterung. O ſicher, hier war alles Gute, 
Edle, Wahre! ... Er ſtreckte nun Trupp feine Hand hin 
und ſagte: „Laſſen Sie mich Ihr Genoſſe ſein!“ — 

Unbeweglich ſaß der Ruſſe. Keine Miene ſeines 
finſteren, jugendlichen und doch ſo maͤnnlichen Geſichtes 
veraͤnderte ſich. Der mit ihm gekommene Arbeiter wartete 
ruhig auf die Gelegenheit zu ſprechen. 

Der alte Amerikaner wandte ſich an Dr. Hurt. Er 
zitterte vor innerer Bewegung. 


— Glauben Sie mir, lieber Herr, der Sozialismus 
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iſt eine Sache des Herzens. Die ethiſchen Grundlagen 
der Moral — 


Aber der unverbeſſerliche Doktor unterbrach auch ihn 


ohne Achtung vor ſeinen weißen Haaren. 

— Ich weiß nichts von den Grundlagen der Ethik, 
Sir, ich bin Materialiſt. Aber ſoviel hat mich ein hartes 
und ſaures Leben gelehrt, daß die Frage meiner Freiheit 
nichts iſt als eine Frage meiner ruͤckſichtsloſen Kraft, 
und daß Sentimentalitaͤt das groͤßte aller Laſter iſt! 

Das unruhige Hin- und Herreden nahm ſichtbar zu. 
Jeder wollte den in ihm wogenden Gedanken Ausdruck 
geben. 

Um Trupp hatte ſich ein Kreis gebildet, der aus 
dem jungen Deutſchen, welcher ſoziale Gedichte ſchrieb, 
Mr. Marell, dem Amerikaner, dem Schweden, dem die 
fremde Sprache Muͤhe machte, und Trupps deutſchem 
Genoſſen beſtand. Sie lauſchten ihm, wie er weiter 
den Kreis ſeiner Zukunftsbilder mit immer verheißender 
lockenden Farben ausfuͤllte. 

Dr. Hurt und der Franzoſe ſprachen wieder mit⸗ 
einander. 

Der Ruſſe ſah Auban an mit einem Blicke, als wolle 
er ihn ergruͤnden. 

Aber dieſer dachte bei ſich, indem er dieſe acht Koͤpfe 
in ihrem unruhigen Wechſel betrachtete: Welches Bild 
fuͤr einen Maler! — 

Das milde Profil des alten, weißbaͤrtigen Amerikaners 
und das weiche, glatte des jungen Deutichen . . . das 
duͤſtere, blaſſe Geſicht des Ruſſen, die Stirne mit wilden 
Haaren beſchattet, und das geiſtreiche des Franzoſen, mit 


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dem modern zugeſtutzten Halbbart .. Dr. Hurts 
ſchmaler Kopf mit der knochig in raſtloſer Geiftesarbeit 
herausgearbeiteten Stirn, der Kopf eines Logikers, eines 
roͤmiſchen Imperatoren, und der haagrumwallte des Nord⸗ 
laͤnders mit den Eindlicheblauen Augen und ihrem ver⸗ 
trauenden Ansdruck, welcher ſich gleich blieb bei der er⸗ 
regten Diskuſſion 

Wie ſind wir verſchieden, wir Menſchen! — dachte 
er weiter, und wir ſollten uns beugen koͤnnen unter das 
gemeinſame Geſetz eines Zwanges? — Nein, Freiheit 
immer und immer, im Kleinſten wie im Groͤßten 

Laut ſagte er und trennte die Gruppe um Trupp 
wieder in den vorigen Kreis: 

— Es tut mir leid, daß du unterbrochen wurdeſt, 
Otto — a 

Aber Trupp fiel ein: 

— Ich hatte geſagt, was ich zu ſagen hatte — 

— Nun, um ſo beſſer. — Wollen wir aber nicht 
doch verſuchen, unſere Anſichten noch etwas eingehender 
zu entwickeln? Laß uns in Frage und Gegenfrage naͤher 
auf einzelnes eingehen. 

Es herrſchte bald wieder die ruhige Aufmerkſamkeit, 
mit welcher man vorhin gefolgt war. Aber ſie war 
diesmal erzwungen, nicht natuͤrlich wie vorher. Mehrere 
nahmen an der Diskuſſion jetzt teil. 


Aubau begann von neuem, immer zu Trupp ge⸗ 
wendet: 
— Ich will verſuchen, zu beweiſen, wie unvereinbar 


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verſchieden die Weltanſchauungen des Kommunismus 
und des Anarchismus auch in allen ihren Folgerungen 
ſind: 

Du willſt die Autonomie des Individuums, ſeine 
Selbſtherrlichkeit und das Recht ſeiner Selbſtbeſtimmung. 
Du willſt ſeine freie Entwicklung zu ſeiner natuͤrlichen 
Groͤße. Du willſt ſeine Freiheit. Wir ſind einig in 
dieſer Forderung. 

Aber du haſt dir das Ideal einer Zukunft des Gluͤcks 
gebaut, wie es deinen Neigungen, deinen Wuͤnſchen, 
deinen Gewohnheiten am meiſten entſpricht. Indem du 
ihm den Namen „das Ideal der Menſchheit“ gibſt, biſt 
du uͤberzeugt, jeder „echte und wahre“ Menſch muͤſſe 
unter ihm ebenſo gluͤcklich ſein wie du. Dein Ideal 1995 
das Ideal aller ſein. 

Ich dagegen will die Freiheit, welche es jedem er- 
moͤglicht, ſeinem Ideale nachzuleben. Ich will in Ruhe 
gelaſſen werden, ich will verfchont bleiben von den 
Forderungen, die an mich im Namen des „Ideals der 
Menſchheit“ geſtellt werden. 

Ich denke, das iſt ein großer Unterſchied. 

Ich negiere nur. Du bauſt von neuem. 

Ich bin rein defenſiv. Du aber biſt agreſſiv. 

Ich kaͤmpfe einzig und allein fuͤr meine Freiheit. 
Du kaͤmpfſt fuͤr das, was du die Freiheit der andern 
nennſt. 

Dein zweites Wort iſt die Abſchaffung, das meint: 
gewaltſame Zerſtoͤrung. 

Es iſt auch meines. Nur meine ich mit ihm: Auf⸗ 
loͤſung. 


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Du ſprichſt von der Abſchaffung der Religion. Du 
willſt ihre Prieſter verjagen, ihre Lehren ausrotten, ihre 
Bekenner verfolgen. 

Ich vertraue der ſtetig zunehmenden Erkenntnis, welche 
das Wiſſen an die Stelle des Glaubens ſetzt. Okonomiſche 
Abhaͤngigkeit zwingt heute die meiſten Menſchen zur An⸗ 
erkennung irgendeiner noch herrſchenden Kirche und ver— 
hindert fie an dem Austritt aus dieſerſelben Kirche. 

Sind die Feſſeln von der Arbeit gefallen, ſo werden 
die Kirchen von ſelbſt veroͤden, die Lehrer des Wahns und 
der Torheit keine Hoͤrer mehr finden, ihre Prieſter ver— 
laſſen ſein. i 

Aber ich wäre der letzte, das Verbrechen gegen die Frei⸗ 
heit der Individuen gutzuheißen, welches einen Menſchen 
mit Gewalt zu hindern ſuchte, fuͤr ſeine Perſon Gott als 
den Schoͤpfer, Chriſtus als den Heiland, den Papſt als 
unfehlbar, und den Fitzliputzli als den Teufel zu verehren, 
fo lange er mich mit ſeinem Unſinn verſchont und von 
mir im Namen ſeines alleinſeligmachenden Glaubens keinen 
Tribut verlangt. 

Man lachte: zweifelnd, amuͤſiert, gereizt und mit⸗ 
leidig mit ſolcher Schwaͤche dem Feind gegenuͤber. 

Aber Auban fuhr unbekuͤmmert fort, denn er war feſt 
entſchloſſen, nun, da er einmal angefangen, auch das 
Letzte von dem zu ſagen, was er zu ſagen hatte. 

— Du willſt die freie Liebe, gleich mir. 

Aber was verſtehſt du unter freier Liebe? Was 
kannſt du unter ihr anders verſtehen, wenn du konſe— 
quent genug biſt, das Prinzip der Bruͤderlichkeit — wie 


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du es in der Hingabe nud Entaͤußerung der Arbeit 
vertrittſt — auch auf dies Gebiet anzuwenden, und ſo: 

Daß jede Frau die Pflicht habe, ſich dem Verlangen 
jedes Mannes hinzugeben, und kein Mann das Recht, 
ſich dem Verlangen einer Frau zu entziehen; daß die dieſen 
Binden entſproſſenen Kinder der menſchlichen Geſellſchaft 
gehören und daß dieſer Geſellſchaft die Pflicht ihrer Erz 
ziehung erwaͤchſt; daß die Sonderfamilie, wie der ein⸗ 
zelne, aufzugehen habe in der großen Menſchheitsfamilie, 
nicht wahr? 

Ich ſchaudere, wenn ich an die Moͤglichkeit denke, 
daß dieſe Idee je die herrſchende werden koͤnnte. 

Niemand haßt mehr die Ehe, als ich. Aber es iſt 
nur der Zwang der Ehe, welcher Mann und Weib ver— 
anlaßt, ſich einander zu verkaufen, die freie Wahl beeinflußt 
und hemmt, eine Trennung hindert und meiſt unmoͤglich 
macht, ein Elend ſchafft, fuͤr das es keine Erloͤſung gibt, 
als den Tod — es iſt nur dieſer Zwang der Ehe, den ich 
verabſcheue. Nie wuͤrde ich wagen, Einſpruch zu erheben 
gegen die freie Vereinigung zweier Menſchen, die der 
freie Wille zuſammenfuͤhrt und der freie Wille bis an ihr 
Ende zuſammenhaͤlt. 

Aber ebenſoſehr wie die freie Vereinigung zweier 
Menſchen verſtehe ich auch die Neigung vieler Menſchen 
nach einem Wechſel des Gegenſtandes ihrer Liebe, und 
Vereinigungen fuͤr eine Nacht, fuͤr einen Fruͤhling — ſie 
ſollen ſo frei ſein, wie die heute von der oͤffentlichen 
Meinung allein ſanktionierten Ehen auf Lebenszeit. 

Die Gebote der Moral erſcheinen mir laͤcherlich und 
einzig aus der krankhaften Sucht beſchraͤnkter Menſchen 


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nach Regelung und Normierung natürlicher Verhaͤltniſſe 
hervorgegangen. 

Und endlich fegt Ihr mit derſelben ſouveraͤnen Leichtig⸗ 
keit und einer Oberflaͤchlichkeit der Betrachtungsweiſe, wie 
fie wirklich nur der Kommunismus übt, auch das Privat: 
eigentum uͤber den Haufen. 

Ihr ſagt: der Staat muß fallen, damit das Eigentum 
fällt, denn er beſchuͤtzt es. 

Ich ſage: der Staat muß fallen, damit es beſteht, 
denn er unterdruͤckt es. 

Ihr habt keine Achtung vor dem Eigentum, das iſt 
wahr: vor Eurem eigenen Eigentum habt Ihr keine 
Achtung, denn ſonſt wuͤrdet Ihr es Euch nicht Tag fuͤr 
Tag nehmen laſſen. Vertreibt das unrechtmaͤßige Eigen⸗ 
tum, d. h. das Fremdtum. Aber vertreibt es dadurch, daß 
Ihr ſelber Beſitzer werdet. Das iſt der einzige Weg, es 
wirklich „abzuſchaffen“, der einzige vernuͤnftige und ge— 
rechte, zugleich der Weg der Freiheit. 

Nieder mit dem Staat, damit die Arbeit frei wird, 
die allein Eigentum ſchafft! — So rufe ich auch. 

Wenn auf dem Gelde keine gewaltſam geſchuͤtzten 
Vorrechte mehr laſten — 

Doch nun war Trupps Geduld zu Ende. 

— Was? — rief er empört, — auch das Geld foll 
beſtehen bleiben, das elende Geld, welches uns alle be— 
ſchmutzt, erniedrigt, verſklavt hat?! 

Auban zuckte die Achſeln. Er wollte aͤrgerlich werden, 
dann aber lachte er. 

— Erlaube mir eine Gegenfrage: Wuͤrde es dich 


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empoͤren, zugleich Arbeitgeber und Arbeiter zu ſein? 
Belohnter und Entlohner und als Teilnehmer Herr des 
Kapitals, ſtatt wie heute nur ſein Sklave zu ſein? — 
Ich denke nicht. Das Empoͤrende liegt nur darin, daß 
heute infolge gewaltſamer Beraubung Erwerb ohne Arbeit 
moͤglich iſt. 

— Was ſoll denn nach deiner Anſicht den Wert der 
Arbeit beſtimmen? — 

— Ihre Nutzbarkeit in der freien Konkurrenz, die 
ihren Wert aus ſich ſelbſt heraus beſtimmt. Jede andere 
Beſtimmung von oben herab iſt ungerecht und widerſinnig. 
Aber ich weiß wohl, daß der Kommunismus auch dieſe 
Frage ohne Kopfzerbrechen loͤſt: er wirft einfach alles 
auf einen Haufen — i 

— Aber wir haben doch heute die freie Konkurrenz! — 
rief Trupp. 

— Nein, wir haben die Konkurrenz der Arbeit, nicht 
aber in gleicher Weiſe die des Kapitals unter ſich. Ich 
wiederhole es. — Ihr ſeht die verderblichen Folgen dieſer 
einſeitigen Konkurrenz und die des gewaltſam mit Vor⸗ 
rechten belehnten Eigentums und Ihr ruft: „Fort mit dem 
Privateigentum!“ — Ihr ſeht nicht, daß es gerade das 
Eigentum iſt, welches uns unabhaͤngig macht, und Ihr 
ſeht nicht, daß es daher einzig und allein gilt, die Bahn 
zu ſeiner Erwerbung frei zu machen, um das Miß⸗ 
verhaͤltnis zwiſchen Herren und Knechten aufzuheben. 
Glaube mir: die Organiſation des freien Kredits, d. h. die 
Moͤglichkeit fuͤr jeden, in den Beſitz von Arbeitsmitteln zu 
gelangen, dieſe unblutige, tiefeingreifende, groͤßte aller 
Revolutionen wird eine Umgeſtaltung aller unſerer Lebens⸗ 


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verhaͤltniſſe zur Folge haben, von der ſich heute noch 
ſchwer eine Vorſtellung machen laͤßt. 

Er ſchwieg und ſah, wie ſeine Worte befremdeten. 
Alle waren erregt. Nur Dr. Hurt ſaß kalt, logiſch Wort 
fuͤr Wort pruͤfend, und rechnend da. Die meiſten konnten 
ſich unter einer Revolution nur ein Chaos von Leichen 
und Truͤmmerhaufen denken und ſie ſchuͤttelten den Kopf 
bei Aubans Worten. Daher verſuchte dieſer ſich ver— 
ſtaͤndlicher zu machen. 

— Wiſſen Sie, was die Abſchaffung des Zinſes und 
damit die des Wuchers zur Folge haben wuͤrde? — Eine 
ſtete Nachfrage nach menſchlicher Arbeit; die Ausgleichung 
des Angebotes und der Nachfrage; die Reduktion der 
Preiſe auf das geringſte Maß, und ſomit eine ungeheure 
Vermehrung der Konſumtion; den genauen Austauſch nach 
wirklichen Werten und ſomit eine moͤglichſt gerechte Ver: 
teilung des Reichtums. Als Folge dieſer großen oͤko— 
nomiſchen Revolution aber einen taͤglich wachſenden 
Wohlſtand des ganzen Landes, wie des Einzelnen .. 

Nun lachte Trupp, empoͤrt und gereizt. 

— Eine ſchoͤne Revolution! Und an ſolche Hirn— 
geſpinſte willſt du uns Arbeiter glauben machen?! — 
Wenn ich dich nicht vor mir ſaͤhe, ich haͤtte geglaubt, 
einen Bourgeois⸗Okonomen zu hören, — Nein, mein 
Lieber, die Revolution, die wir eines Tages ſchlagen 
werden, kommt ſchneller ans Ziel, als alle deine oͤko— 
nomiſchen Evolutionen! Wir kennen einen kuͤrzeren 
Prozeß: kommen und zuruͤcknehmen, was man uns ge 
ſtohlen hat mit offener Gewalt und mit wiſſenſchaftlichen 
Liſten! 


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— Wenn die Bourgeoiſie nur einen nicht noch kuͤrzeren 
Prozeß mit Ihnen macht! warf Dr. Hurt ein. — Exempla 
docent! Das heißt: Lernt von der Geſchichte! 

Das war ſeine Antwort auf Trupps vorhin ſcheinbar 
ganz uͤberhoͤrte Drohung. 

Nur langſam legte ſich die Erregung, welche dieſe 
Worte hervorriefen. Man ſah in ihnen eine Inſchutznahme 
der Bourgeoiſie und entgegnete ihnen von allen Seiten. 

Der Deutſche, welcher auf dem Boden der New 
Vorker „Freiheit“ und der „Pittsburger Proklamation“ 
ſtand und der erſten Sektion des „Kommuniſtiſchen 
Arbeiter⸗Bildungs⸗Verein“ angehörte, nahm jetzt das 
Wort. 

— Von dem eigentlichen Anarchismus, der ſchon be⸗ 
ſtand, als man von dem Boſtoner kleinbuͤrgerlichen Libe⸗ 
ralismus um fuͤnfzig Jahre hinter ihrer Zeit zuruͤck⸗ 
gebliebener Mancheſterleute und der uͤberſpannten Sektiererei 
der „Autonomiſten“ noch nichts wußte — er zielte 
hier nach Auban und Trupp — und der heute noch 
die meiſten Anhaͤnger zaͤhlt, iſt uͤberhaupt noch nicht die 
Rede geweſen. Dieſer will den Kommunismus der freien 
Geſellſchaft, welche auf der Errichtung einer genoſſenſchaft⸗ 
lichen Organiſation der Produktion beruht. Er verwirft 
auch die Arbeitspflicht nicht, denn er ſagt: Keine Rechte 
ohne Pflichten. Er verlangt ferner, das die gleichwertigen 
Produkte von den Produktions-Genoſſenſchaften ſelbſt und 
ohne Zwiſchenhandel und Profitmacherei ausgetauſcht 
werden, und daß die Kommunen durch freie Geſellſchafts⸗ 
vertraͤge alle Öffentlichen Angelegenheiten regeln. In einer 
ſo organiſierten freien Geſellſchaft aber, in welcher ſich 


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— 205 — 5 


die meiſten ſehr wohl fuͤhlen werden, wird der Staat 
unnuͤtz. 

— So geſtehen Sie der Mehrheit das Recht zu, ihren 
Willen mit Gewalt zu erzwingen? 

— Ja. Der Einzelne hat ſich dem Wohle der All— 
gemeinheit zu unterwerfen, denn dieſes ſteht hoͤher. 


Auban ſagte ruhig: 

— Das iſt ein Standpunkt, der eine von den beiden, 
welche ich gezeichnet habe. Sie gehen den Weg des Sozi— 
alismus — 

— Ein ſchoͤner Standpunkt fuͤr einen Anarchiſten! 
rief Trupp. — Und die Freiheit des Individuums, wo 
bleibt fie? — Das iſt nichts anderes als der zentraliſtiſche 
Kommunismus, den wir uͤberfluͤgelt haben. Die Flamme 
der Zwietracht, die vor einiger Zeit die Klubs ausein⸗ 
andergeriſſen und zur Gruͤndung eines eigenen Blattes 
geführt hatte, drohte wieder aufzulodern.) — Ich für mein 
Teil glaube, und dabei bleibe ich, daß in der kommenden 
Geſellſchaft ein jeder freiwillig ſein Teil Arbeit leiſten 
wird. 

Der Franzoſe fragte ihn jetzt hoͤflich: 

— Aber geſetzt den Fall, die Menſchen arbeiten nun 
nicht freiwillig, wie Sie es erhoffen? Wo bleibt dann das 
freie Recht, zu genießen? 

— Sie werden es. Verlaſſen Sie ſich darauf, war 
Trupps Entgegnung. 

— Ich glaube, es iſt beſſer, mich nicht darauf zu 
verlaſſen. 

— Sie kennen die Arbeiter nicht. 


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— Aber aus den Arbeitern werden Bourgeois, ſobald 
ſie zum Beſitz gelangt ſind, und ſie werden dann die 
erſten ſein, welche ſich gegen die Expropriation ihres 
Eigentums wehren werden. Sie laſſen die Natur des 
Menſchen außer acht, mein Herr; der Egoismus iſt die 
Triebfeder alles Handelns. Stellen ſie dieſe Feder ab, 
ſo arbeitet die Maſchine des Fortſchritts nicht mehr. Die 
Welt wuͤrde zerfallen in Ruinen. Die Ziviliſation haͤtte 
ein Ende erreicht. Ein Moraſt der Stagnation wuͤrde die 
Erde werden — aber es iſt das unmoͤglich, ſo lange die 
Menſchen auf ihr leben. 

— Warum geht Ihr denn nicht mit gutem Beiſpiel 
voran und zeigt die Möglichkeit der praktiſchen Aus⸗ 
fuͤhrung Eurer Theorien? — wurde Trupp weiter gefragt. 

Der ging dieſer Frage aus dem Wege, indem er ſie 
zuruͤckgab. Auban war es, der ſofort antwortete. 

— Weil der Staat die Mittel der Zirkulation mono: 
poliſiert hat und uns an der Schaffung eines ſolchen 
mit Gewalt hindern wuͤrde. Unſere Angriffe richten ſich 
daher in erſter Linie gegen ihn und nur gegen ihn. 

Die Diskuſſion zwiſchen Auban und Trupp ſchien 
ihr Ende erreicht zu haben und drohte ſich gaͤnzlich zu 
zerſplittern. Da machte Auban ſeinen letzten Verſuch, 
auf den Boden der Wirklichkeit zu zwingen, was un⸗ 
klare Wuͤnſche in leere Raͤume der Phantaſie erhoben. 

— Noch eine einzige und letzte Frage an dich, Otto, 
erklang ſeine laute und harte Stimme, — nur dieſe 
einzige noch: 

Wuͤrdet Ihr in dem Geſellſchaftszuſtand, den Ihr „freien 
Kommunismus“ nennt, die Einzelnen daran hindern, ihre 


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— 207 — 


Arbeit unter Zuhilfenahme eines von ihnen geſchaffenen 
Austauſchmittels untereinander auszutauſchen? Und ferner: 
Wuͤrdet Ihr ſie daran hindern, Grund und Boden in 
perfönlichen Beſitz zum Zwecke perſoͤnlicher Benutzung zu 
nehmen? 

Trupp ſtutzte. 

Die Anweſenden erwarteten wie Auban geſpannt ſeine 
Antwort. 

Aubans Frage war unentrinnbar. Antwortete Trupp 
mit „Ja!“ ſo gab er zu, daß der Geſellſchaft das Recht 
der Gewalt uͤber den Einzelnen zuſtand, und warf damit 
die von ihm ſtets gluͤhend verteidigte Autonomie des 
Individuums uͤber den Haufen; antwortete er dagegen 
mit „Nein!“ ſo geſtand er das von ihm noch eben ſo 
emphatiſch negierte Recht des Privateigentums zu. 

Er ſagte daher: 

— Du ſiehſt alles mit den Augen des heutigen 
Menſchen an. In der zukuͤnftigen Geſellſchaft, wo alles 
zur freien Verfuͤgung aller geſtellt iſt, wo es einen 
Handel im heutigen Sinne alſo nicht mehr geben kann, 
wird jedes Mitglied meiner innerſten Überzeugung nach 
freiwillig auf die alleinige und ausſchließliche Okkupation 
von Grund und Boden verzichten.. 

Auban war wieder aufgeſtanden. Er war um etwas 
blaſſer geworden, als er jetzt ſagte: 

— Wir ſind noch nie unehrlich gegeneinander ge— 
weſen, Otto. Laß es uns heute nicht werden. Du weißt 
ſo gut wie ich, daß dieſe Antwort eine Ausflucht iſt. 
Ich aber halte dich jetzt: beantworte mir die geſtellte 
Frage und beantworte ſie mit Ja oder Nein, wenn du 


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willſt, daß ich jemals wieder eine Frage mit dir be⸗ 
ſpreche — 

Trupp kaͤmpfte offenbar mit ſich. Dann antwortete 
er — und es war ein Blick auf ſeinen Genoſſen, welcher 
ihn noch ſoeben angegriffen, und dem gegenuͤber er nie 
und nimmer das Prinzip der perſoͤnlichen Freiheit in 
Schatten geſtellt haͤtte, der ihn jetzt ſagen ließ —: 

— In der Anarchie muß jede Anzahl Mitglieder im⸗ 
ſtande ſein, ſich nach Belieben zu organiſieren und ſo 
ihre Ideen ins Praktiſche zu uͤberſetzen. Auch ſehe ich 
nicht ein, wer einen andern gerechterweiſe von dem Land 
und dem Hauſe, das er bebaut und bewohnt, vertreiben 
koͤnnte 

— So habe und halte ich dich! rief Auban. Mit 
dem, was du eben ſagteſt, ſtellſt du dich in ſchroffen 
Gegenſatz zu den bis jetzt von dir verteidigten Grund⸗ 
fägen des Kommunismus. 

Du haſt das Privateigentum zugeſtanden: an Roh⸗ 
produkten und an Land. Du haſt das Recht auf den 
Arbeitsertrag ungeſchmaͤlert befuͤrwortet. Das iſt Anarchie. 

Die Redensart: Alles gehoͤrt Allen — iſt gefallen, 
geſtuͤrzt von deiner eigenen Hand. 

Ein einziges Beiſpiel nur, um alle Mißverſtaͤndniſſe 
unmoglich zu machen: Ich beſitze ein Stuͤck Land. Ich 
verwerte ſeinen Ertrag. 

Der Kommuniſt ſagt: das iſt ein Raub am all⸗ 
gemeinen Gut. 

Aber der Anarchiſt Trupp — jetzt zum erſten Male 
nenne ich ihn ſo! — ſagt: Nein. Keine Macht der Erde 
hat ein anderes Recht, als das der Gewalt, mich von 


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meinem Beſitztum zu vertreiben, mir den Ertrag meiner 
Arbeit auch nur um einen Pfennig zu ſchmaͤlern. 

Ich ende. Mein Zweck iſt erfuͤllt. 

Ich habe bewieſen, was ich beweiſen wollte: daß es 
zwiſchen den beiden großen Gegenſaͤtzen, in denen ſich 
die Welt der Menſchen bewegt, zwiſchen Individualismus 
und Altruismus, zwiſchen Anarchismus und Sozialismus, 
zwiſchen Freiheit und Autoritaͤt keine Verſoͤhnung gibt. 

Ich hatte behauptet, daß alle Verſuche, das Unver⸗ 
einbare zu vereinen, ſich von dem Boden der Wirklichkeit 
in die Wolken der Utopie verlieren muͤſſen und daß jeder 
ernſte Menſch ſich zu entſcheiden habe: fuͤr den Sozialismus 
und damit fuͤr die Gewalt und gegen die Freiheit, oder 
fuͤr den Anarchismus und damit fuͤr die Freiheit und 
gegen die Gewalt! 

Nachdem Trupp lange verſucht hat, dieſer Forderung 
zu entgehen, habe ich ihn durch meine letzte Frage ge— 
zwungen, ſich zu erklaͤren. Ich koͤnnte dasſelbe Experiment 
mit jedem einzelnen von Ihnen machen. Es iſt unfehlbar. 

Trupp hat ſich fuͤr die Freiheit entſchieden. Er iſt 
— was ich nie geglaubt haͤtte — in der Tat ein Anarchiſt. 

Auban ſchwieg. Trupp ſagte noch: 

— Wir aber werden in der Anarchie die Grundſaͤtze 
des Kommunismus praktiſch ausfuͤhren und unſer Bei— 
ſpiel wird Euch fo ſehr von der Möglichkeit der Ver— 
wirklichung unſerer Prinzipien uͤberzeugen, daß Ihr ſie 
gleich uns befolgen und Euer Privateigentum freiwillig 
aufgeben werdet ... 

Auban entgegnete nichts mehr. 


Er wußte ganz gut, daß dieſe aͤußerliche Verſoͤhnung 
VII 14 


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nur ein neuer und letzter Verſuch ſeines Freundes war, 
den tiefen Zwieſpalt zu uͤberbruͤcken, der fie innerlich 
ſchon lange geſchieden und nun auch aͤußerlich hierhin 
und dorthin geſtellt hatte, wie er die Neuen von den 
Alten ſchied. 

— Ich und keiner kann retten, was ſich ſelbſt dem 
Untergange weiht ... dachte er bei ſich. Er beteiligte 
ſich von jetzt an nur noch am Geſpraͤch, wenn er direkt 
gefragt wurde. Es wurde ungemein lebhaft. 

Noch nie war man ſo lange geblieben wie heute. 
Die achte Stunde war laͤngſt voruͤber und noch dachte 
außer Dr. Hurt und dem Franzofen keiner an Aufbruch. 

Als der Doktor ſich von Auban verabſchiedete, ſagte 
er leiſe: „Hoͤren Sie, lieber Freund, ich komme an Ihren 
Sonntagen nicht mehr. Alles was recht iſt. Aber allzu 
wahnſinnig dürfen die Sprünge nicht fein, denen ich zus 
ſehen ſoll. Ihr ‚Genoffe‘ ſprang mit beiden Füßen 
geradewegs in den Himmel. Das iſt mir zu hoch —“ 

Damit ging er und Auban ſah ihm laͤchelnd nach. 
Auch der Franzoſe erhob ſich nochmals dankend. Auban 
wehrte ab: 

— Nur Pfaͤhle und leere Geruͤſte haben wir aufge— 
ſchlagen. Aber es war unmoͤglich fuͤr heute, tiefer ein— 
zudringen. a 

— Sie werden einen großen Kampf zu kaͤmpfen haben, 
den Sie ſich erleichtern koͤnnen, wenn Sie dies Wort 
fallen ließen, das unzaͤhlige, die Ihnen ſonſt nahe ſtehen, 
ja vielleicht ganz mit Ihnen uͤbereinſtimmen, abſchreckt 
und verjagt. 

— Das Wort: Anarchie bezeichnet haarſcharf, was 


> N: er y 


— 211 — 


wir wollen. Feig und unklug waͤre es, dasſelbe um der 
Schwaͤchlinge willen fallen zu laſſen. Wer nicht ſtark 
genug iſt, es auf ſeinen wahren Sinn zu pruͤfen und es 
zu verſtehen, der iſt auch nicht ſtark genug zu eigenem, 
ſelbſtaͤndigem Denken und Handeln. 

— Ich gehe in wenigen Tagen nach Paris zuruͤck. 
Darf ich unſerem Freunde Ihre Gruͤße uͤberbringen, 
Monſieur Auban? 

— Ja. Sagen Sie ihm, er ſei ein ſchlechter Egoiſt, 
weil er zum Verraͤter an ſich ſelbſt geworden iſt. Er 
hat eine große Verantwortlichkeit auf ſich genommen. Der 
echte Egoiſt aber ſcheut jede Verantwortlichkeit, außer der 
für feine eigene Perſoen . 

Der Fremde verabſchiedete ſich mit hoͤflicher Vers 
beugung. 

— Wer war das? fragte Trupp. 

Auban nannte den Namen. 

— Er kam kurz vor Euch und heute zum ersten und 
zum letzten Male. 

— So kennſt du ihn nicht? — Trupp ſchüttelte miß⸗ 
billigend den Kopf. 

— Nein, nicht weiter. 

— Das haͤtteſt du mir gleich ſagen ſollen! 

Aber Auban entgegnete ihm ſcharf: 

— Wir haben hier nichts zu verheimlichen. Wir ſind 
keine Freimaurer. Was wir geſprochen haben, kann jeder 
hoͤren, der es hoͤren will! 

Er ließ ſich auf Dr. Hurts verlaſſenen Platz am 
Feuer nieder und ſtuͤtzte den Kopf in die Haͤnde. Alle 
ſprachen jetzt, ſelbſt der Ruſſe. Wie aus der Ferne 

14* 


— 212 — 


klangen die verſchieden bewegten Stimmen an ſein 
Br 

Aus dem, was geſprochen wurde, hörte er Trupps 
Sieg und ſeine eigene Niederlage heraus. Jetzt ertoͤnte 
die begeiſterte Stimme des Schweden: 

— Es mag ſein, daß es weniger Genies geben wird. 
Das iſt kein Ungluͤck. Um ſo mehr Talente werden wir 
haben. Jeder wird Hand- und Kopfarbeiter zugleich 
ſein. Die Faͤhigkeiten werden ſich verteilen, ſtatt ſich zu 
konzentrieren. Im Durchſchnitt werden ſie groͤßer ſein — 

— Und tauſend Eſel werden kluͤger ſein, als zehn 
Weiſe. Warum? Weil ſie tauſend ſind! fuͤgte Auban 
im Geiſte hinzu. 

Man hatte ihn vergeſſen. Während er geſprochen 
hatte, war der kuͤhle Hauch der Vernunft über fie hinweg: 
gezogen. Nun war es wieder warm: die Waͤrme eines 
zukuͤnftigen, winterloſen, paradieſiſchen Lebens. Und ſie 
uͤberboten ſich in Schilderungen dieſes Lebens: ſie be— 
rauſchten ſich gegegenſeitig an ihren Worten; ſie vergaßen, 
wo ſie waren 

Auban hoͤrte weiter. 

Man ſpottete uͤber die ewige Frage der Gegner: wer 
dann ſpaͤter die ſchmutzige und unangenehme Arbeit ver: 
richten werde? — Es wuͤrden ſich genug Freiwillige fuͤr 
Alles finden — meinte der eine. Und der andere: es 
wuͤrde keine ſolche Arbeit mehr geben, Maſchinen ſeien 
erfunden für alles... 

Nie war Auban mehr davon überzeugt geweſen, als 
in dieſem Augenblicke, daß die meiften Menſchen fich 
ſelbſt die groͤßten Feinde ſind, und nie hatte er mehr 


ln Sue ui 


— 213 — 


empfunden, daß die Herrſchaft der Liebe weit furchtbarer 
noch ſein muͤßte, als die Herrſchaft des Haſſes es war. 

Er ſtrebte danach, die Vorrechte zu ſtuͤrzen. Aber 
dieſe Kommuniften negierten mit den Vorzuͤgen zugleich 
alle Werte, ſelbſt den der Arbeit. Sein Kampf ging 
gegen die Menſchen und gegen das, was ſie geſchaffen 
hatten in Torheit und Irrtum — ein Sieg war unaus— 
bleiblich; ihr Kampf aber richtete ſich gegen die Natur 
ſelbſt — ein Sieg, er war ewig unmoͤglich! — 

Tiefer, weit tiefer noch lag der Riß, als wie er 
heute von ihm aufgedeckt war. Zwiſchen einer alten und 
einer neuen Weltanſchauung hatte der Kampf begonnen. 
Und das Chriſtentum in allen ſeinen Formen war das 
alte! — 

Der groͤßte Verbrecher an der Menſchheit war der 
geweſen, welcher vorgegeben hatte, ſie am meiſten zu 
lieben. Seine Lehre der Selbſtentaͤußerung — ſie hatte die 
Entſagenden geſchaffen: das Elend, welches jetzt nach 
Befreiung ſchrie ... Der Gott mußte fallen in jeder 
Geftalt!... . 


Noch über eine Stunde blieb man beieinander. All 
maͤhlich lenkte das Geſpraͤch auf die Ereigniſſe des 
Tages: Chicago und ernſte Riots in London ſtanden vor 
der Tuͤr. Man kam uͤberein, die Zuſammenkuͤnfte bei 
Auban fuͤr einige Wochen zu unterbrechen. 

Als ſich der Amerikaner erhob und damit das Zeichen 
zum allgemeinen Aufbruch gab, waren die meiſten uͤber— 
raſcht, zu ſehen, wie ſpaͤt es war. 


— 214 — 


Auban ſchuͤttelte Allen die Hand, die Trupps hielt 
er einen Augenblick laͤnger als gewoͤhnlich, mit feſtem 
Druck, als wolle er noch einmal ſagen: Entſcheide dich! 
Entſcheide dich voͤllig! — Denn er gab in der Tat große 
Stuͤcke auf ihn. 

Der junge Deutſche war offenbar ſehr wenig zu⸗ 
frieden mit Auban und ſuchte es auch nicht zu verbergen. 
Auban hatte nur ein Laͤcheln dafuͤr. Um ſo freundlicher 
war Mr. Marell. 

— Well, Auban, ſagte er, und ergriff ſeine beiden 
Haͤnde, — Sie ſind ein ſeltſamer Menſch. Es iſt viel 
Richtiges in allem was Sie ſagen; aber es iſt Eis und Kälte, 
was Sie lehren, Eis und Kaͤlte; das Herz geht leer aus — 

— O nein, Mr. Marell, die Freiheit iſt warm, wie 
die Sonne. Kalt ſind die Mauern des Kerkers allein. 
Das Herz wird reichere Schaͤtze zu geben haben, wenn 
es auf keine Gebote hin mehr ſchlaͤgt und ſchweigt. Un⸗ 
ſerer Vernunft aber ſollte es nie die Leitung unſeres 
Lebens entwinden — haben wir doch erſt heute wieder ge— 
ſehen, wie unfaͤhig es iſt, ihr in die Gebiete der Okonomie 
hinein zu folgen. 


Auban war allein. Er ſtieß beide Fenſter auf. 
Waͤhrend der Rauch in dichten Wolken dem Zimmer ent: 
floh und der Aufwaͤrter hinter ihm die Glaͤſer fort⸗ 
raͤumte, lehnte er ſich an die Bruͤſtung des Fenſters und 
ſah hinaus auf die Straße. Jetzt, wo die Abendluft 
feine Stirne kuͤhlte, fühlte er, wie heiß er geworden war 
und wie ihn das Geſpraͤch ergriffen hatte. 


— 215 — 


Und dafür deine Jugend! — dachte er bei ſich. 
Das Opfer ſchien ihm wieder, wie jo oft, zu groß für- 
die Erkenntnis, die es ihm gebracht hatte. Ja, ſie war 
kuͤhl und herb, wie der Amerikaner geſagt hatte, dieſe 


Erkenntnis. Aber war ſie nicht wie ein erfriſchendes 


Stahlbad geweſen nach dem erſchlaffenden Daͤmmerleben 
des Glaubens in tatenlofer Hoffnung? — 

Und er erinnerte ſich, wie jung er noch war und 
wieviel ihm noch zu wirken bevorſtand, und auch wenn 
dieſes Wirken ſcheinbar ſo nutzlos ſein ſollte, wie der 
Verſuch, den er heute in engem Kreiſe gemacht hatte: 
dennoch erfuͤllte ihn eine große Kraft und eine ſtarke 
Freude, und zuruͤcktretend in das Zimmer, ſagte er vor 
ſich hin: 

— Ja, fuͤr dieſe Erkenntnis der Freiheit deine Jugend! 

Und die Waͤnde, die wie erſchrocken waren uͤber das 
ploͤtzliche Schweigen nach dem Laͤrm des Geſpraͤches, 
gaben ihm ſeine Worte zuruͤck: 

— Ja, dafuͤr deine Jugend! 


Sechſtes Kapitel 
Das Reich des Hungers 


Das Eaſt End Londons iſt die Hoͤlle der Armut. 
Einer ungeheuren, ſchwarzen, regungsloſen Rieſenkrake 
vergleichbar liegt dort die Armut Londons in lauerndem 
Schweigen und umſchließt von dort aus mit ihren maͤch— 
tigen Fangarmen das Leben und den Reichtum der City 
und des Weſt End: die linksſeitigen breiten ſich uͤber 
die Themſe und umfaſſen das ganze jenſeitige Ufer — 
Rotherhithe, Deptford, Peckham, Camberwell, Lambeth, 
das andere London, den durch die Themſe geſchiedenen 
Suͤden; die rechten umſchleichen die noͤrdlichen Grenzen 
der Stadt in duͤnneren Faͤden. Sie vereinigen ſich dort, 
wo Batterſea mit Chelſea und Brompton ſich uͤber die 
Themſe hinüber verbindet .. 


Das Eaſt End iſt eine Welt fuͤr ſich, getrennt von dem 
Weſten, wie der Diener von ſeinem Herrn. Man hoͤrt 
von ihm zuweilen, aber nur wie aus weiter Ferne, etwa 
ſo, wie man die Kunde von einem fremden Lande ver— 
nimmt, wo andere Menſchen mit anderen Sitten und 
anderen Gebraͤuchen leben ſollen ... 


* 


— 217 — 


Es war der erſte Samstag im November, zu welchem 
Auban ſeinem Freunde Trupp ſeinen Beſuch zugeſagt 
hatte. Er gedachte mit demſelben eine gemeinſchaftliche 
Eaſt End⸗Wanderung zu verbinden, die in dem Klub 
ruſſiſcher Revolutionaͤre ihren Abſchluß finden ſollte. Den 
Samstag hatten fie gewählt, weil mit den Nachmittags— 
ſtunden dieſes Tages die Arbeit in London aufhört: 
Aubans Geſchaͤft und Trupps Fabrik fuͤr die Zeit von 
36 Stunden ſich ſchloß. 

Auban verließ gegen ein Uhr ſein Geſchaͤft in einer 
der Nebenſtraßen von Fleet Street. Die Eile und das 
Getriebe des Geſchaͤftslebens ſchienen ſich verzehnfacht zu 
haben. Kaum vermochte er ſich durch das Gewuͤhl von 
Karren, hochbeladen mit friſchbedruckten Zeitungsballen, 
welche einen ſeltſamen Geruch von Feuchtigkeit ausſtroͤmten, 


von Laſtwagen, deren fluchende Lenker nicht von der 


Stelle kamen, von eiligen, aufgeregten, ſich uͤberhaſtenden 


Scharen von Clerks, Dienſtmaͤnnern, Telegraphenboten, 
Kaufleuten nach Fleet Street durchzudraͤngen. Er wollte, 
um nicht allzu viel Zeit zu verlieren, nicht erſt nach Haufe 
gehen. So aß er in einem der naͤchſten uͤberfuͤllten 
Reſtaurants, waͤhrend er die neueſten Zeitungen durchflog. 
Überall die Unemployed . .. Trafalgar Square: Polizei⸗ 
attacken; die Verſammelten mit Gewalt vertrieben; neue 
Verhaftungen wegen aufreizender Sprache ... Obdach— 
loſe Frauen im Hyde Park; ſechzehn Naͤchte im Freien: 
verhungert und erfroren; die einen zum Hoſpital, die 
anderen ins Work⸗Houſe, die letzten in den Tod... 
Vorbereitungen fuͤr die Ermordung der Chicagoer Anar— 
chiſten: da die Galgen nicht ausreichen, iſt der Beſchluß 


— 218 — 


gefaßt, ſie in zwei Abteilungen zu haͤngen, zuerſt vier, 
dann drei; enorme Maßnahmen, die Ordnung aufrecht 
zu erhalten; Gnadengeſuche der Verurteilten, von vieren 
von ihnen unterzeichnet; der Gouverneur unerbittlich ... 
Auban ließ die Blaͤtter ſinken. 

Das war ſie taͤglich und ſtuͤndlich: die ungeheure 
Erniedrigung des Lebens, in welcher der eine zum 
Schlaͤchter, der andere zum Opfer wird! Der eine wie 
der andere bezwungen vom Wahn ... Und nirgends 
für beide ein Ausweg! Beide gehorchend dem von 
Menſchen geſchaffenen Scheingott der Pflicht. Und beide 
von ihm beherrſcht, im Leben und im Sterben! — 

Auban beſtieg den naͤchſten Omnibus, deſſen Endziel 
Liverpool Street Station war. Er ſaß auf der Imperiale. 
Als er an der Statue der Koͤnigin und des Prinzen 
von Wales voruͤberfuhr, welche an Stelle des verkehr— 
hemmenden Tores von Temple Bar errichtet worden iſt, 
von dem aus in fruͤheren, dunkleren Zeiten die blutigen 
Haͤupter beſtrafter Verbrecher dem Volke gezeigt wurden, 
dachte er an den langſamen Aufſtieg der Menſchheit, den 
die ringende und klimmende genommen hatte in der 
Knechtſchaft. Wie weit wuͤrde ſie ſich einſt entwickeln 
in der Freiheit! — Wie lange konnte es noch dauern, 
und auch dieſe Bildwerke der Goͤtzen waren geſtuͤrzt, die 
Kronen, der Purpur gefallen, die Szepter zerbrochen, die 
letzten Reſte des Mittelalters vertilgt... 

Dann galt es, den anderen Tyrannen zu bekaͤmpfen, 
den blinderen: das „ſouveraͤne Volk“. Das wuͤrde die 
graue Zeit ſein, die Zeit der Gewoͤhnlichkeit, der Nivellie— 
rung in der Zwangsjacke der Gleichheit, die Zeit der 


DE re 


— 219 — 


gegenſeitigen Kontrolle, des kleinen Haders an Stelle 
der großen Kämpfe, der ununterbrochenen Widerwaͤrtig⸗ 
keiten ... Dann würde der vierte Stand der dritte 
geworden ſein, der Stand der Arbeiter zum Stand der 
Bourgeois ſich „erhoͤht“ haben, und das Kennzeichen dieſer 
wuͤrden dann jene tragen: die Gewoͤhnlichkeit der Ideen, 
die phariſaͤiſche Zufriedenheit der Unfehlbarkeit, die ſatte 
Tugend! Und dann wuͤrden die echten Empoͤrer, die 
großen und ſtarken, in Scharen wieder erſtehen, die 
Kämpfer um das eigene, in jeder Bewegung bedrohte Ich ... 

Der Omnibus ſchob ſich langſam, aber ſicher Fleet 
Street hinunter. An Ludgate Hill war das Menſchen⸗ 
gedraͤnge enorm. Nach Holborn Viadukt hin, jenem 
Wunderwerk eines modernen Straßenbaus, zogen ſich 
Nebel: die Eiſenbruͤcke von Farringdon Street war bereits 
von ihnen umhuͤllt. In der entgegengeſetzten Richtung, 
wo unter Blackfriars Bridge die Themſe rauſchte, war es 
hell. Als die auf dem naſſen Holzpflaſter ſtampfenden 
Pferde den bis auf den letzten Platz beſchwerten Wagen 
unter der Eiſenbahnbruͤcke der London Chatham und 
Dover Bahn durchzogen, muͤhſam St. Pauls zu, ſchien 
das Gedraͤnge unentwirrbar. 

Aber St. Pauls tauchte auf mit ſeinen dunklen 
Maſſen, von deren ſchwarzem Hintergrunde ſich die weiße 
Marmorgeſtalt der Königin Anna abhob ... Das Herz 
der City, hier ſchlug es 

Weiter. Vorbei an den gigantiſchen Maſſen, die 
in ihrer ſtarren Ruhe nur noch einer vergeſſenen Ver— 
gangenheit anzugehoͤren ſchienen. 

Cheapſide hinunter floß ein ſchwarzer Menſchenſtrom. 


— 220 — 


Endlich tauchte der große Geldkaſten, das fenſterloſe, 
niedrige, traͤge Gebaͤude der Bank, auf. Sein Tor war 
bereits geſchloſſen. Nun lag es da wie tot. 

Auban war wieder ergriffen von dem ungeheuer— 
lichen Leben, welches ihn umtoſte. 

Die unzaͤhligen Banken, welche ſich hier, wie die 
Kinder um ihre Pflegerin-Mutter, um die Bank von 
England lagerten, hatten gefchloffen. Alles eilte zum 
Dinner, nach Haufe, zur Ruhe ... Tauſende und Aber: 
tauſende von durch die Wochenmuͤhe ermatteten Menſchen 
jagten durcheinander, jetzt getrieben ein jeder von dem 
perſoͤnlichen Wunſche, auf ein paar Stunden die Zahlen⸗ 
reihen zu vergeſſen, die ſein Leben ausmachten, ſein 
Gehirn fuͤllten bis in den letzten Winkel. 

Junge Clerks, kleine Laufbuben in den verſchiedenſten 
Uniformierungen, bekuͤmmerte Buchhalter, ernſte Geſchaͤfts— 
leute, „ſchwere“ Handelsherren, Spekulanten, Wucherer, 
große Geldfuͤrſten, welchen die Welt zu Fuͤßen liegt — 
wer wagt es, ihnen zu widerſtehen? — Alles hier durch- 
einander eilend, in raſendem Wirbel, ſcheinbar ein Chaos 
von Unordnung, in Wirklichkeit ſich loͤſend in bewunderns⸗ 
werter Ordnung. — | 

Der Omnibus hielt hier länger. Man ftieg aus und 
ein. Scharen draͤngten nach, mußten zuruͤckbleiben. Aber 
alle fanden den Platz, welchen ſie ſuchten, in der faſt 
unuͤberſehbaren Reihe, in der ſich ein Omnibus faſt an 
den andern ſchloß ... 

Auban uͤberſchaute von ſeinem Sitze das Menſchen— 
meer. Er verfolgte den und jenen mit ſeinen Blicken: 
einen jungen Kaufmann, offenbar war es ein Fremder, der 


— 221 — 


wie verloren in dieſem Gewimmel ſtand, nicht wiſſend, 
nach welcher Richtung hin er ſich wenden ſollte; dann 
einen aͤlteren Herrn im Zylinder, tadellos einfach-ſchwarzem 
Gehrock, mit weißem Bart und einem Geſichtsausdruck, 
aus Hochmut und Klugheit gemiſcht, der zu ſagen ſchien: 
„Ich bin die Welt. Ich habe ſie gekauft. Sie iſt mein. 
— Was wollt ihr? Ich beſolde euch Alle: den Koͤnig 
und feinen Hofſtaat, den Feldherrn und feine Armee, 
den Gelehrten und ſeine Gedanken, und alle meine 
Leute, welche arbeiten, damit ich bin. Denn die Menſchen 
ſind dumm. Ich aber bin klug und ich habe ſie er— 
kannt..“ 

Auban wandte ſeine Blicke wieder der Bank zu. Hier 
war das Verſteck jenes großen Geheimniſſes, das alles 
Gluͤck und Ungluͤck in ſich ſchloß. Unloͤsbar fuͤr die 
meiſten war es fuͤr ſie die hoͤhere Macht, welche ihr 
Schickſal beſtimmt. Mit Grauen, mit Bewunderung, 
mit ſprachloſem Erſtaunen hörten fie von den unermeß— 
lichen Reichtuͤmern, an denen ſie keinen Anteil hatten. 
Woher kamen ſie? Sie wußten es nicht. Wohin gingen 
ſie? In die Haͤnde der Reichen — das ſahen ſie. 
Aber was brachte ſie hier zuſammen? Was verlieh ihnen 
dieſe unermeßliche Gewalt, die Welt zu formen nach 
dem Gutduͤnken ihrer Beſitzer? — Nein, ſie wuͤrden es 
nie loͤſen, dieſes entſetzliche Raͤtſel ihres eigenen Elends 
und des Gluͤcks der anderen. Hier lag der Vampyr, 
der ihnen allen den letzten Blutstropfen aus den Adern 
ſog, das Ungeheuer, welches ihre Frauen in die Ent— 
ehrung trieb und ihre Kinder langſam erdroſſelte — — 
Und ſie eilten ſchneller voruͤber an den dunklen Waͤllen, 


— 222 — 


hinter denen das Gold lag, welches ihr eigenes Blut 
geweſen war. 

Wenn ſie hoͤrten, daß auf dem Lande, in welchem 
ſie lebten, eine Staatsſchuld von ſo und ſo viel Millionen 
laſte, und man ihnen fagte, daß jeder unter ihnen an 
dieſer Schuld mithafte, fo ließ fie dieſe Albernheit voll 
kommen gleichguͤltig; was eine Milliarde war, wußten 
ſie nicht, aber die letzte nicht bezahlte Zimmerrente und 
die 5 sh.⸗Schuld im Fleiſchſhop lag druͤckend auf ihnen 
und erfuͤllte ſie mit Angſt vor den naͤchſten Tagen. 

Zu manchen von ihnen begann der Sozialismus zu 
reden. Wenn er ihnen ſagte, daß nichts auf der Welt 
Wert habe, als die Arbeit, und ſie ſahen, daß die, welche 
nicht arbeiteten, im Beſitz aller Werte waren, ſo wurde 
es ihnen nicht mehr ſchwer, die einfache Folgerung zu 
ziehen, daß es ihre Arbeit fein mußte, welche die Beſitz⸗ 
tuͤmer jener ſchuf, mit anderen Worten, daß jene von 
ihrer Arbeit lebten, ſie um ihre Arbeit beitahlen . 
Was es war, das jene dazu ermoͤglichte, war fuͤr die 
meiſten nun wieder ein unentwirrbares Geheimnis: waren 
ſie doch in der Mehrzahl und jene nur wenige gegenuͤber 
ihren Maſſen! — Die Einſichtigeren ahnten, daß wohl 
nichts anderes helfen koͤnnte, als dem Schutz- und Trutz⸗ 
buͤndnis der Raͤuber ein gleiches Buͤndnis des Beraubten 
entgegenzuſtellen. So wurden ſie Sozialiſten. 

Fuͤr Auban hatte das Geheimnis laͤngſt ſeine Schrecken, 
das Sphinxantlitz der Macht laͤngſt ſein Grauen verloren. 
Seine Studien hatten einen Schleier nach dem andern 
von dem verhuͤllten Bilde geriſſen und Auge in Auge 
ſtand er nun der jeden idealen Schimmers entkleideten 


re 


Puppe des Staates gegenüber. Eine Holzpuppe — leer 
und hohl, ein ungeheurer Schwindel, ein Popanz war 
der Gott, vor dem alle knieten. Aufgezogen von einigen 
geſchickten Haͤnden, ſollten automatiſche Bewegungen von 
wirklichem Leben zeugen! 

Die Einſichtsloſigkeit der betoͤrten Maſſen gab jenem 
Gerippe die ſchrecklichen Waffen der Vorrechte in die 
ſtarren Finger. Hier dieſe Bank, die groͤßte Englands, 
ſie war vom Staat belehnt worden mit der Schaffung 
von Papiergeld. So entſtanden ungeheure Reichtuͤmer, 
welche ein falſches Bild gaben von dem wahren Wohl— 
ſtand des Landes. Ohne Konkurrenz, wie es war, unter⸗ 
druͤckte ſchon dieſes eine Prinzip, deſſen Annahme und 
Durchfuͤhrung die Gewalt erzwang, den freien Verkehr, 
untergrub das Vertrauen auf die eigene und fremde 
Kraft, ſtellte ſich vernichtend zwiſchen Angebot und Nach— 
frage und ſchuf jene grauenhaften Unterſchiede des Be— 
ſitzes, welche die einen zu Herren erhöhten, die anderen 
zu Sklaven erniedrigten. 

Das Monopol des Geldes, die Willkuͤr des Vorrechtes, 
ein allein geltendes Austauſchmittel zu ſchaffen, fiel es, 
fo fiel der Staat, und dem Verkehr der Menſchen unter: 
einander war freie Bahn gegeben — 

Aber Aubans Gedanken wurden unterbrochen. 

Der Omnibus ſetzte ſich endlich wieder in Bewegung, 
hinter ſich die rieſigen Gebaͤude des Geldverkehrs laſſend, 
die Bank und die Boͤrſe, von welcher herab wie blutiger 
Hohn die Worte der Bibel ſprachen: „The earth is the 
Lord's and the fulness thereof.“ | 

Als er durch die fchmalen Straßen nach Liverpool 


— 224 — 


Station ſich durchwand — die von braufendem Leben 
angefüllte Broad Street verlaffend, um trotz des Um: 
wegs ſchneller ans Ziel zu gelangen — war es Auban, 
als durchfahre er die kuͤhle, dunkle Tiefe eines engen 
Tales, ſo dicht umſchloſſen ihn wie Waͤlle dieſe hohen, 
ernſten, ſchweigſamen Haͤuſer, die nie ein Sonnenſtrahl 
erwaͤrmt zu haben ſchien. 

An den Rieſenhallen der Stationen von Liverpool 
Street hielt der Wagen. — Auban betrat den großen 
Bar⸗Room an der Ecke der Straße. Seine Abteilungen 
waren uͤberfuͤllt. Man draͤngte einander, ſtehend, die 
Glaͤſer und Becher in der Hand, lebhaft ſprechend, 
diskutierend, ſich uͤberſchreiend. Die Tuͤren flogen in 
beftändiger Bewegung auf und zu; das Geld klapperte 
auf dem Holze. 

Auban ſaß ziemlich lange in einer Ecke, in kleinen 
Zuͤgen ſein half and half ſchluͤrfend. Dann draͤngte er 
ſich durch die Menſchenfluten den Bahnhallen zu. An 
das Gitter des Eingangs gelehnt, inmitten einer Schar 
von ſchreienden Newsboys, Schuhpugern, Blumen- 
maͤdchen, Verkaͤufern aller Art und jeden Alters, ſtand 
ein kleiner, verwachſener Knabe, von niemand beachtet, 
mit finſterem Trotz vor ſich hinſtarrend, die Haͤnde in 
die ſchmutzigen Fetzen ſeiner Hoſe vergraben, zerlumpt, 
verkommen, ein Greiſengeſicht auf magerem Kinderkoͤrper. 
Auban ſah ihn und ſein geuͤbtes Auge erkannte ſofort 
den Hunger in dieſen Blicken. Er kaufte einige Orangen 
an dem naͤchſten Kaufwagen. Mit wortloſer Gier biß 
der Kleine in die Frucht, ohne aufzuſehen, einem ver⸗ 
hungernden Hunde gleich, der ſich uͤber einen Knochen 


em aan. nn 


— 225 — 


ſtuͤrzt. Seit wie lange mochte er nichts genoſſen haben? 
Seit wie lange ſchon hier fo ſtehen, Trotz, Bitterkeit, 
Verzweiflung in dem kleinen Herzen, apathiſch vor ſich 
hinſtierend auf ſeine nackten, auf den kalten Steinen 
erſtarrenden Füße? 

Auban uͤberrieſelte es kuͤhl. Das war der Anfang 
jenes Grauens, welches ihn jedesmal vereiſt hatte, wenn 
er zuruͤckkehrte aus dem Ringe der „Enterbten“, der 
ſchweigenden Ode des Eaſt Ends von London .. j 


Als ihn die Bahn die kurze Strecke nach Shoreditch 
trug, tauchte in rieſenhaften Umriſſen aus hundert ver— 
einzelten Erinnerungen ein ſchattenhaftes Bild des uns 
geheuerlichen Lebens vor ihm auf: duͤſter, drohend, 
ſchweigſam und geſtaltlos-unfaßlich. 

Er dachte ſo mancher andern Wanderung, auf welcher 
er lange Stunden das unermeßliche Reich des Hungers 
durchkreuzt hatte: des intereſſanten Nachmittags in dieſem 
Sommer, als er zu Fuß die ganze Isle of Dogs ums 
gangen hatte, betaͤubt von der Großartigkeit ihrer ſeit 
noch nicht zwanzig Jahren geſchaffenen Anlagen, erſchuͤttert 
von der Armſeligkeit dieſer verlorenen Straßenwinkel, 
in deren baufaͤllige Haͤuſer und truͤbſelige Huͤtten ein er— 
muͤdetes Geſchlecht ſeine Sorgenlaſten verſteckt zu haben 
ſchien. — Dann des Abends in Poplar, der dieſen Nach— 
mittag beſchloſſen hatte, an welchem er das Vergnuͤgen 
der Armen belauſcht hatte in einer Singſpielhalle niederſten 
Ranges, unter halbwuͤchſigen Buben in Hemdaͤrmeln, 


und Maͤdchen in befedertem Straßenhute, den zinnernen 
vn! 15 


— 26 — 


Topf mit Ale vor ſich, die Pfeife im Munde, auf dem 
3 d.⸗Platz, dem beſten und zugleich einzigen, lauſchend 
den ſchreienden Stimmen einiger heiſeren Saͤngerinnen 
und Negerimitatoren, umbruͤllt von dem Laͤrm von hundert 
mitſingenden Stimmen. — Dann jenes andern Nach- 
mittags in Wapping, das er durchbummelt hatte mit dem 
alten Seemann, der ihm die enormen London Docks zeigte, 
ihn mitnahm am Abend in die St. George Street, die 
beruͤchtigte Schifferſtraße: in das Tanzlokal, wo baum⸗ 
lange Malayen, ſchweigſame Nordlaͤnder, Neger und 
Chineſen, die ganze ſeltſame, fremdartige, mit den Schiffen 
aus allen Laͤndern der Welt hierher zuſammengewuͤrfelte 
Geſellſchaft ſich durcheinander miſchte und wuͤhlte in Tanz 
und Ausſchweifungen; und in die Opiumkneipe bei der 
Muͤnze, das dunkle Loch, wo das unheimliche Schweigen 
des Todes uͤber totenaͤhnlichen, in ihr Laſter verſunkenen 
Geſtalten zu ruhen ſchien. — Und Auban dachte an ſeine 
einſamen Abendgaͤnge in dem ungeheuren Elend der 
Diſtrikte von Whitechapel und Bow, wo es faſt keine 
Straße mehr gab, die er nicht wieder und wieder durch⸗ 
kreuzt haͤtte im Entſetzen vor dem Schrecklichen, das er 
ſah, und im Grauen vor dem Schrecklicheren, das er 
hinter den ſchmutzigen Wänden und zerbrochenen Fenſter— 
ſcheiben ahnte. 

Auban hatte weder koſtſpielige Leidenſchaften, noch 
beſondere Wuͤnſche an das taͤgliche Leben, deren Erfuͤllung 
ihm viel von ſeiner Zeit gekoſtet haͤtte. Seine Tage 
gehoͤrten zum groͤßten Teil ſeinem Berufe, der ihn 
übrigens nicht ſklaviſch an die Stunde band; feine Abend: 
ſtunden meiſt ſeinen volkswirtſchaftlichen Studien und dem 


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— 227 — 


Verfolgen des Ganges der Bewegung. Dann die Sonntag— 
nachmittage ſeinen Freunden. Was dazwiſchen noch lag, 
das verwendete er auf die Wanderungen durch die un— 
geheure Stadt. Dieſe Wanderungen waren ſeine einzige 
wirkliche Freude, ſein groͤßter Genuß. Er war gluͤcklich, 
konnte er ſich einen Nachmittag hierfuͤr frei machen; dann 
beugte er ſich uͤber die große Karte der Stadt, ließ ſeine 
Finger hierhin und dorthin ziehen, bis er den Anfangs⸗ 
und Endpunkt der heutigen Wanderung beſtimmt hatte. 
Wenn er ſich eintauchte in das geheimnisvolle Leben 
einer nahen Fremde, fühlte er ſich gepackt, fortgeriſſen, 
gehoben von der Groͤße ſeiner Zeit, die in nie ruhender 


Kraft das Maͤchtige geſchaffen; wenn er zuruͤckkehrte in 


ſein ſtilles immer, war er wie zermalmt unter dem 
Druck dieſes uͤbermaͤchtigen Lebens, das den einen zur 
Hoͤhe des Gluͤcks trug, um den andern hinabzuſchleudern 
in die Tiefe des Elends. 

Oft hatte er ſchon daran gedacht, fuͤr eine Zeitlang 
wenigſtens ſeine Wohnung hierher zu verlegen, mitten 
hinein in die Miſere dieſes Lebens, um es ſo beſſer 
kennen zu lernen, als ihm dies je moͤglich werden konnte 
durch die Beobachtung der Außenſeite, aber immer hatte 
es ihm an Zeit gefehlt. So mußte er ſich an das halten, 
was er ſah und hoͤrte, wenn ihn die Gelegenheit hierher 
trieb. Und das war in der Tat ſchon genug. 

Nun hatte Trupp dieſen Vorſatz ausgefuͤhrt. Er hatte 
ſeinem Freunde eine Karte geſchrieben: er habe einer 
Differenz mit ſeinem Meiſter wegen die Arbeit nieder— 
gelegt und wohne jetzt in der Naͤhe von Whitechapel. Er 
ſchlug ein Rendezvous in der Naͤhe von Shoreditch vor. 

15* 


— 228 — 


Um 4 Uhr. Es hatte eben halb geſchlagen. Auban 
wartete ohne Ungeduld. 

Trupp kam zur beſtimmten Zeit. Seine gedrungene, 
breitſchulterige Geſtalt bahnte ſich ſicher ihren Weg durch 
das Gedraͤnge. Wieder, wie an jenem Abend in Soho, 
ſah er Auban ſtehen, die Haͤnde auf den Stock geſtuͤtzt, 
leicht an den Eingangspfeiler von Shoreditch Station 
gelehnt, aber diesmal mit den ſcharfen Blicken die Um⸗ 
gebung und die Menſchen muſternd, nicht ſich in Ge⸗ 
danken verlierend. 

Sie begruͤßten ſich. Der letzte Sonntagnachmittag 
wurde nicht erwaͤhnt. 

Trupp war noch finſterer als gewoͤhnlich. Er er— 
zaͤhlte voll Bitterkeit von der frechen Brutalitaͤt ſeines 
Meiſters, der erbaͤrmlichen Fuͤgſamkeit ſeiner Mitarbeiter, 
der dumpfen Untaͤtigkeit ſeiner Genoſſen. Es muͤſſe 
wieder ein Beiſpiel gegeben werden, ſonſt ſchlafe Alles 
ein. Er ſah blaß aus, als habe er wenig geruht in den 
letzten Tagen. Seine Augen fladerten unruhig. — Sie 
gingen nach Hackney Road hinein, die traurig-lange 
Straße der Kuͤmmernis, wo die kleinen Shopkeepers 
wohnen. Dann wandte ſich Trupp ſuͤdlich, dem Diſtrikt 
von Bethnal Green zu. 

Das Leben um fie herum verſtummte plotzlich. Die 
Straßen wurden enger, duͤſterer, farbloſer; der Schmutz 
immer groͤßer. Hier und da noch ein erbaͤrmlicher Laden 
mit Kleinkram und altem Getroͤdel. Sonſt nichts als ver- 
ſchloſſene Tuͤren und Fenſter, deren Scheiben laͤngſt im 
Schmutz erblindet waren. 

Sie durchſchritten einige Straßen; dann, mit jaͤher 


— 229 — 


Biegung einen ſchmalen Gang, welcher unter einem Hauſe 
durchfuͤhrte. Es ſchien etwas heller zu werden, denn 
die mehrſtoͤckigen Haͤuſer hoͤrten auf. 

Sie ſtanden auf einem kleinen Platz. Von ihm aus— 
laufend zogen ſich in ziemlicher Regelmaͤßigkeit drei Gaſſen, 
welche von ſchmalen, ſaͤmtlich zwei Stockwerke hohen 
Haͤuſern gebildet wurden, deren enge Hinterhoͤfe anein⸗ 
anderſtießen. 

Sie waren kaum fuͤnf Minuten bis hierher gegangen. 

Trupp war noch finſterer als gewoͤhnlich. Auban 
merkte, daß dies der Ort 800 welchen er ihm vor allem 
zeigen wollte. 

Er trat auf einen aufgewuͤhlten Erdhuͤgel und blickte 
auf das Bild, welches ſich ihm darbot. 

Nie in ſeinem Leben glaubte er etwas Traurigeres, 
Niederdruͤckenderes, Troſtloſeres geſehen zu haben, als die 
ſtarre Einfoͤrmigkeit dieſer ſchmutzigen Loͤcher, von denen 
ſich in grauenhafter Symmetrie das eine an das andere 
reihte, bis ſich das zwanzigſte verlor in die graue Truͤbe 
dieſes froͤſtelnden Novembernachmittags. In den durch 
bruſthohe, zerbroͤckelte Mauern voneinander abgetrennten 
Hoͤfen, deren Enge kaum ein Ausſpannen der Arme 
geſtattet, ſchwammen truͤbe Lachen ſchleimigen Kotes; 
Haufen von Unrat waren in den Ecken aufgeſchichtet; 
zerbrochenes Geraͤte lag umher, wohin das Auge ſah; 
hier und da hing ein Lappen grauer Waͤſche, ein Fetzen 
Tuch bewegungslos in der kuͤhlen Luft. Die Stufen der 
zu den Tuͤren hinauffuͤhrenden Steintreppen waren zer— 
treten; die Laͤden der Fenſter hingen, meiſt zerbrochen, 
kaum noch in den Angeln; die Scheiben waren zer— 


— 230 — 


ſplittert, kaum eine mehr ganz; die Löcher oft verklebt 
mit Papier; wo die Fenſterfluͤgel geöffnet ſtanden, ragten 
nackte Waͤnde. 

Weit und breit keine Menſchenſeele. Es war, als 
ſei ſoeben der Tod rieſengroß durch dieſe Gaſſen ge— 
ſchritten und habe alles Atmende beruͤhrt mit ſeiner er⸗ 
loͤſenden Hand... 

Dann ſah Auban, wie ſich etwas regte, in der Ferne. 
War es ein Tier, ein Menſch? Er glaubte, die gebuͤckte 
Geſtalt einer Frau zu erkennen. Aber er konnte nichts 
deutlich unterſcheiden in dieſer Entfernung. — Aus dem 
einen und andern der zahlreichen Schornſteine ſtieg ein 
ſpaͤrlicher Rauch auf und loͤſte ſich in in der bleigrau— 
farbenen Luft. 

Kein Kuͤnſtler hat es je verſucht, dieſes Bild zu malen, 
dachte Auban, und doch brauchte er nur eine Farbe auf 
ſeine Palette zu ſtellen: ein ſchmutziges Grau. 

Er horchte auf. Aus entlegener Ferne drang ein un⸗ 
unterbrochenes, dumpfes Rollen heruͤber in dieſe Verlaſſen⸗ 
heit und Stille: die zu dieſem einen drohenden Grollen zu: 
ſammengeballten tauſendfachen Laute des treibenden Lebens 
von London. Aber hier fand es kein Echo der Antwort. 

Trupp war unterdeſſen hin und her geſchlendert: er 
hatte vor dem faulenden Koͤrper eines verendeten Hundes 
geſtanden, die verbogene, verroftete Laterne an der Straßen 
ecke betrachtet, welche bis auf den letzten Splitter ihre 
Scheiben verloren hatte, und ſuchte nun vergebens in 
dieſem ſtaubigen Sandboden nach einer Spur von Gruͤn 
— nicht ein einziger Grashalm fand Nahrung in dieſer 
verfluchten Erde. 


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— 231 — 


Verwahrloſung uͤberall, wohin der Blick fiel, die Ver⸗ 
wahrloſung des Hungers, welcher täglich ſeinen entſetz⸗ 
lichen Kampf mit dem Tode kaͤmpft. 

Langſam riſſen die Freunde ſich los von dem trau⸗ 
rigen Anblick und verſtummt gingen ſie die mittlere 
Straße hinab. Hier und da oͤffnete ſich halb ein Fenſter, 
ein ſtruppiger Kopf bog ſich vor und ſcheue, neugierige 
Augen folgten halb furchtſam, halb gehaͤſſig dem voͤllig 
ungewohnten Anblick der Fremden. Ein Mann haͤmmerte 
an einem zerbrochenen Karren, der die ganze Breite der 
Straße verſperrte. Er erwiderte den Gruß der Vorbei: 
gehenden nicht: maßlos erſtaunt ſtarrte er ſie an, wie 
die Erſcheinung einer andern Welt; eine Frau, welche 
in einer Haustuͤrecke regungslos gekauert hatte, er— 
hob ſich erſchrocken, preßte ihr Kind mit beiden Haͤnden 
feſter gegen die von Lumpen kaum verhuͤllte Bruſt und 
ſtemmte ſich, wie zum Widerſtande bereit, gegen die 
Wand, keinen Blick von den Voruͤberſchreitenden laſſend; 
nur eine Schar von im Straßenſchmutz ſpielenden 
Kindern ſah nicht auf — man haͤtte ſie fuͤr Idioten 
halten koͤnnen, ſo lautlos trieben ſie ihre freudloſen 
Spiele. 

Trupp und Auban gingen ſchneller. Sie kamen ſich 
vor wie Eindringlinge in die Geheimniſſe fremden 
Lebens, und ſie eilten, all dieſen Blicken der Furcht, des 
Haſſes, des Neides, des Erſtaunens, des Hungers zu 
entgehen. 

Am Ende der Straße hockte eine andere Gruppe von 
Kindern zuſammen: ſie vergnuͤgten ſich an den Todes— 
zuckungen einer Katze, welcher ſie die Augen ausgeſtochen 


— 232 — 


und die ſie am Schwanze aufgehaͤngt hatten. Wenn 
das blutende, gequaͤlte Tier mit den Fuͤßen zappelte, um 
ſich freizumachen, ſtießen ſie nach ihm mit der grauſamen, 
unheimlichen Freude der Kinder an ſichtbaren Schmerzen. 
Trupp trat mitten unter ſie mit ſchneller Bewegung. 
„Schneidet ſie los!“ herrſchte er ſie an. Aber er haͤtte 
ebenſogut deutſch reden koͤnnen, ſo wenig wurden die in 
ſeinem Munde hart und unnatuͤrlich klingenden Laute 
verſtanden. Mit maßloſem Erſtaunen ſahen die Kinder 
zu ihm empor, ohne zu wiſſen, was er von ihnen wollte. 
Er mußte ſelbſt das verendende Tier losreißen. — Zu 
Auban zuruͤckkehrend, gab er ſeiner Entruͤſtung uͤber die 
ſchaͤndliche Tierquaͤlerei lauten Ausdruck. Jener zuckte 
traurig die Achſeln. „Beſſere Verhaͤltniſſe, beſſere Sitten,“ 
ſagte er, „was anderes ſoll da helfen!“ 

Trupp ſchien jeden Winkel dieſer Straßen zu kennen. 
Er fuͤhrte den Weg hin und her, oftmals ſtillſtehend, 
wenn fie vor einem der Haͤuſer vorbeikamen, deſſen ges 
borſtene Mauern zuſammenbrechen zu muͤſſen ſchienen, 
wenn man ſich gegen ſie ſtemmte; dann wieder ſchmale, 
armbreite Durchgaͤnge findend, von deren Waͤnden eine 
ſchmutzige Feuchtigkeit herabtraͤufelte, auf dem Boden ſich 
ſammelnd zu ſtinkenden, ekelhaften Lachen — ſo fuͤhrte er 
wortlos und ſicher Auban durch das dunkle Labyrinth 
dieſes unermeßlichen Elends, deſſen traurige Einfoͤrmigkeit 
nicht enden wollte, nach welcher Richtung ſie ſich auch 
hinwenden mochten. 

Sie kamen in einen hofartigen Raum, der rings 
von hohen, grauen Haͤuſern eingefaßt war. Gibraltar 


Gardens ſtand auf einem Schild an der Straßenecke. 


— 233 — 


„Gibraltar Gardens!“ ſagte Trupp. „Sie verhoͤhnen 
das Elend, das ſie geſchaffen haben!“ — Auf dem zer— 
ſplitterten Aſphalt des Hofes vergnuͤgten ſich einige 
Kinder mit Rollſchuhlaufen — in den „Gaͤrten von 
Gibraltar“, wo kein Grashalm gedieh! — 

Die Freunde gingen weiter durch enge Straßen von 
ſehr alten, gebuͤckten, niedrigen Haͤuschen, durch deren 
Tuͤren man mit geſenktem Haupte gehen mußte. Troͤdler 
wohnten hier und fie hatten mit ihrem „second hand“- 
Geruͤmpel die Straße zum Erſticken vollgeſtopft; und 
dann waren die Wanderer ploͤtzlich im brauſenden Leben 
der Church Lane. Mit einem Schlage veraͤnderte ſich die 
Phyſiognomie der Umgebung: aus todesaͤhnlicher Ver— 
laſſenheit in das rauſchende Getriebe des Verkehrs eines 
Vorſonntagnachmittags! 

Auban war ermuͤdet. Er hinkte ſtaͤrker. Auf ſeinen 
Wunſch betraten ſie auf eine halbe Stunde das naͤchſte 
Publichouſe, wo er ſich in eine Ecke drückte. Noch immer 
ſprachen ſie wenig miteinander; hoͤchſtens, daß ſie ſich 
gegenſeitig eine Beobachtung mitteilten. Es war ein 
Ginpalaſt niederſter Stufe, den ſie betreten hatten. Er 
fuͤhrte den Namen: „The chimney sweep“, wie Auban 
lachend ſah. Der ſaͤgemehlbeſtreute Boden ſtarrte von 
Schmutz und zertretenem Speichel; der Bar ſchwamm 
von durcheinanderrinnenden Getraͤnken aller Art, welche 
zu einer klebrigen Kruſte vertrockneten; hinter ihm, wo 
die großen Faͤſſer vom Boden bis zur Decke an den 
Waͤnden hinaufgeſchichtet waren, hatten die Aufwaͤrter 
unaufhoͤrlich zu tun, die ſich ihnen entgegenſtreckenden 
Haͤnde zu fuͤllen; der betaͤubende Geruch von Tabaksqualm 


— 234 — 


und Branntwein, die feuchtwarmen Ausduͤnſtungen un⸗ 
gewaſchener Kleider und fich aneinander draͤngender Körper 
fuͤllte die Raͤume bis in die letzten Winkel. 

Hier ſuchte das Elend ſein entſetzliches Gluͤck, indem 
es feinen Hunger vertrank. Es war das rechte Eaſt 
End⸗Publikum: Maͤnner und Weiber, die letzteren in 
faſt ebenſo großer Anzahl wie die erſteren; manche mit 
Saͤuglingen an den welken Bruͤſten, die meiſten aber 
alt oder doch ſo ſcheinend. Zwiſchen den Erwachſenen 
draͤngten ſich zerlumpte Kinder durch. Faſt alles war 
betrunken, in den erſten Stadien des Samstagrauſches, 
welcher am Sonntag ausgeſchlafen wurde. Auban machte 
Trupp auf eine Inſchrift an der Wand aufmerkſam: 
„Swearing and bad language strictly prohibited!“ 
. . Sie war einfach laͤcherlich, dieſe Aufforderung, um 
deren Drohung ſich kein Menſch kuͤmmerte. 

Das Geſchrei und Toben war uͤberwaͤltigend. Es 
verſtummte keinen Augenblick und waͤlzte ſich in ſchwellen⸗ 
den Schallwogen hin und zuruͤck von einer Abteilung in 
die andere. Das lallende Stammeln eines Betrunkenen 
wurde uͤbertoͤnt von dem rohen Geſchimpfe eines erregten 
Alten, der behauptete, man habe ihm fein Glas aus: 
getrunken; nnd das wiehernde Gelaͤchter, mit dem man die 
beiden aufeinander hetzte, wiederum von dem wuͤtenden 
Kreiſchen eines Weibes, welches mit geballten Faͤuſten 
vor ihrem Manne ſtand, der ihr nicht folgen wollte. 
Junge Maͤnner, faſt noch Knaben, ſangen in einer Ecke 
mit ihren aufgeputzten Sweethearts Gaſſenhauer, oder 
zeigten ihnen Niggertaͤnze, indem ſie mit ſchweren Schuhen 


im Takte den droͤhnenden Boden ſtampften und den 


— 2385 — 


Oberkoͤrper hin und herwarfen. Die ganze Aufmerk⸗ 
ſamkeit aller Weiber aber wurde plotzlich gefeſſelt: ein 
Baby fing an zu weinen; vielleicht fand es an der 
Bruſt ſeiner betrunkenen Mutter keine Nahrung mehr. 
Von allen Seiten beugte man ſich über das kleine, 
runzelige, graue Geſicht und jede der Frauen hatte ſechs 
Ratſchlaͤge für einen, es zu beruhigen. Die natürliche 
Gutmuͤtigkeit brach hervor; man wollte helfen. Trotzdem 
ſchrie das Kind immer ſtaͤrker, bis feine Klagen in Ger 
wimmer erſtarben. 

Fuͤr Auban war das groteske Schauſpiel dieſes Lebens 
nicht neues. Er war oft in dieſen letzten Zufluchtsſtaͤtten 
des Elends geweſen, wo das Erſcheinen eines nicht zer— 
lumpten Menſchen ſchon ein Ereignis iſt. 

Heute waren indeſſen die meiſten in ihrer Trunken⸗ 
heit bereits viel zu ſehr mit ſich beſchaͤftigt, oder in 
Streitigkeiten und Disputen miteinander verwickelt, als 
daß man ſich viel um die Fremden gekuͤmmert haͤtte. 
Nur an Trupp draͤngte ſich in zaͤher Hartnaͤckigkeit eine 
Alte, mit ihren blutunterlaufenen, trüben Augen ihn 
widerlich⸗zaͤrtlich anſtarrend und ihm im Idiom des Eaſt 
Ends, einem Slang, von dem er kein Wort verſtand, ihre 
Anliegen vorlallend. Er beachtete ſie nicht. Wenn ſie gegen 
ihn fiel, ſchob er ſie ruhig zuruͤck. Auf ſeinem Geſicht 
zeigte ſich dabei weder Ekel noch Verachtung. Auch dieſes 
Weib war ihm ein Glied der großen Menfchheitsfamilie, 
und ihm eine Schweſter. 

Auf der Bank, Auban gegenuͤber, ſaß ein junges, 
voͤllig verwahrloſtes Maͤdchen. Aus ihren großen dunklen 
Augen ſchoß fie Blitze der Wut auf Trupp. Wes halb? 


— 236 — 


Aus Haß gegen den Fremden, den ſie in ihm erkannt 
hatte? Aus Zorn uͤber der Alten Zudringlichkeit, oder uͤber 
feine kuͤhle Abwehr? Aus Eiferſucht? — Aus den Schimpf⸗ 
worten, die ſie ihm von Zeit zu Zeit zuſchleuderte, war 
es nicht zu erſehen. 

Auban betrachtete ſie. Ihre verkommenen Zuͤge, auf 
denen Verachtung mit Gemeinheit und Haß ſich miſchte, 
waren noch immer ſchoͤn, trotzdem ihre rechte Backe blutig 
zerkratzt war und das Haar wirr auf die Stirne herabfiel. 
Ihre Zaͤhne waren tadellos. Ihr unordentlicher Anzug, 
die ſchmutzige Leinenjacke, war auseinandergeriſſen, wie 
in frecher Abſichtlichkeit herausfordernd, und ließ die noch 
kindlichen, weißen Bruͤſte ſehen. „Was brauche ich mich 
vor Euch zu genieren“, ſagten alle ihre Bewegungen. 

Wie lange noch und auch die letzten Spuren von 
Jugend und Anmut waren hinweggewiſcht? — Welcher 
Unterſchied noch zwiſchen ihr und dieſer immer betrunkenen 
Alten, der Trupp jetzt, als ſie von neuem mit der ganzen 
Wucht ihres Koͤrpers gegen ihn fiel, ins Ohr ſchrie, er 
verſtehe kein Engliſch, er ſei ein Deutſcher? — i 

— Are you darling? ſtammelte fie und näherte ihr 
Geſicht dem ſeinen. Doch in dieſem Augenblick wurde 
fie völlig von der Trunkenheit überwältigt. Einen gur⸗ 
gelnden Laut von ſich gebend, ſtuͤrzte ſie vornuͤber und 
lag regungslos auf dem glitſchrigen Boden. Die grauen 
Straͤhne ihres Haares bedeckten zur Haͤlfte ihr verzerrtes 
Geſicht. 

Die Maͤnner lachten laut, die Dirne kreiſchte und 
uͤberhaͤufte Trupp mit einer Flut von Schimpfworten. 

Auban war aufgeſtanden. Er wollte die Alte aufs 


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heben. Aber Trupp hinderte ihn. „Laß fie liegen. Sie 
liegt dort gut. Wenn du alle betrunkenen Frauen auf— 
heben wollteſt, die wir heute ſehen, haͤtteſt du viel zu tun.“ 

Er hatte recht. Die Alte ſchlief bereits. 

— Laß uns gehen, ſagte Auban. 2 

Das junge Maͤdchen war auf Trupp zugetreten und 
ſtellte ſich ihm Bruſt an Bruſt gegenuͤber. Sie ſah ihn 
mit ihren großen, von krankhafter Gier funkelnden Augen 
an. Aber ſie ſagte kein Wort. Trupp ging ihr aus dem 
Wege, der Tuͤre zu. 

— You are a fool! ſagte ſie da mit unbeſchreib⸗ 
lichem Audruck. Auban ſah noch, wie ſie auf ihren Platz 
zuruͤckkehrte und das Geſicht in den Haͤnden verbarg. 


Als ſie auf der Straße ſtanden, erſchien ihnen das 
Brauſen des Lebens wie Stille nach dem Toben, das 
ſie eben umlaͤrmt hatte, 

Es war dunkler und kuͤhler geworden. Feuchtigkeit 
ſchwaͤngerte die Luft. Je mehr der Abend nahte, deſto 
unruhiger und belebter wurde die Straße. Die Verkaͤufer 
an den Wagen, die den Straßenrand beſetzt hielten, einer 
dicht hinter dem andern, ſchrieen lauter. Die Berge von 


Gruͤnkraut und Orangen ſanken zuſammen; die alten 


Kleider und Schuhe lagen wild durcheinander geworfen, 
betaſtet von jo vielen pruͤfenden Händen; die second 
hand books wurden durchblaͤttert, indem man ſie in der 
zunehmenden Dunkelheit dicht zum Geſicht hob. 

Die Verkaͤufer von Muſcheln und Schnecken, dem 
abſcheulichen Eſſen der Armſten, hielten die Straßenecken 


4 


— 238 — 


beſetzt. Der Anblick ihrer unappetitlichen Ware erfuͤllte 
mit brechendem Ekel 

— Brick Lane! — ſagte Trupp ploͤtzlich. 

Sie ſtanden am Eingang der vielgenannten Straße. 


Whitechapel! — Eaſt End im Eaft End! Hölle der 
Hoͤllen! 

Wo endeſt du, wo beginnſt du? — Deine urſpruͤng⸗ 
lichen Grenzen eines Diſtriks hat dein Name verwiſcht 
— heute denkt man bei ſeinem Klange an den dunkelſten 
Teil in der großen Nacht des Eaſt End, an die unheim— 
lichſte ſeiner Tiefen, an den bodenloſeſten ſeiner Abgruͤnde 
des Elends 

Hier liegen die Menſchenleiber am unentwirrbarſten 
und am hoͤchſten aufeinander getuͤrmt. Hier kriechen die 
Scharen derer, die kein Name nennt und keine Stimme 
ruft, am ruheloſeſten uͤber- und durcheinander. Hier 
preßt die Not die menſchlichen Tiere am engſten zu einer 
unerkennbaren Maſſe von Schmutz und Unrat zuſammen, 
und ihr kranker Atem liegt wie eine verpeſtete Wolke uͤber 
dieſem Teile der maßloſen Stadt, deſſen engere Grenzen 
im Suͤden erſt der ſchwarze Streifen der Themſe be— 
ſtimmt 

Von Norden nach Suͤden in leichter Windung zieht ſich 
Brick Lane. Sie beginnt, wo ſich Church Street in Bethnal 
Green Road verlaͤngert, der an dem Muſeum gleichen 
Namens endet, welches errichtet wurde, um dem Bildungs⸗ 
triebe der „aͤrmeren Klaſſe“ zu genügen, ebenſo wie der 
nahe Viktoria Park angelegt ward, damit ſie den kaͤrg— 


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— 239 — 


lichen Atemzug friſcherer Luft nicht ganz zu entbehren 
gezwungen war. Sie endet dort, wo ſich von Aldgate 
aus in unabſehbarer Länge Whitechapel Road und Mile 
End Road noͤrdlich, ſuͤdlich die ſtattliche, breite Commercial 
Road Eaſt, welche eher nicht als bei den indiſchen Docks 
ihr Ende findet, gabelartig abzweigen. 

Wer Brick Lane einmal langſam durchwanderte, der 
kann ſagen, er ſei vom Peſthauch der Not geſtreift 
worden; wer ſich verirrte in ihre Nebenſtraßen, der 
ging an dem Abgrundrande menſchlichen Leidens. Wer 
ſehen will, wieviel die menſchliche, Natur zu ertragen 
imſtande iſt; wer noch immer dem Kindertraume glaubt, 
daß die Welt durch Liebe erloͤſt, die Armut durch Wohl: 
taten gelindert, das Elend durch Staatshilfe abgeſchafft 
werden koͤnne; wer die furchtbaren Wirkungen des Moͤrders 
Staat in ihre letzten Konſequenzen hinein verfolgen will: 
der betrete das Schlachtfeld von Brick Lane, wo die 
Menſchen nicht fallen mit zerſpaltenem Schaͤdel und 
durchſchoſſenem Herzen, ſondern wo der Hunger ſie muͤhe— 
los maͤht, nachdem die Not ſie ihrer letzten Kraft des 


3 Widerſtandes beraubt .. 


Es iſt eine lange Wanderung, Brick Lane hinab. 
Die Freunde gingen ſchweigend. Rieſige Lagerhaͤuſer, in 
der Ferne ſichtbar, gewoͤlbte Eiſenbahntunnel der Great 
Eaſtern Railway unterbrachen die Eintoͤnigkeit der an⸗ 
einander gepreßten Haͤuſerflucht. Oft hatten ſie Muͤhe, 
ſich durch die auf⸗ und niederwogenden Menſchenſtroͤme 
durchzuſtoßen. Die Gerüche wechſelten: faulende Fiſche, 
Zwiebeln und Fett, penetrante Duͤnſte geroͤſteten Kaffees, 
die Stickluft des Schmutzes, der verweſenden Stoffe ... 


3 


Laͤden mit blutigem Fleiſch, auf Staͤbe geſteckt — „cats 
meat“; an jeder Straßenecke ein „Wine and Spirits“= 
Haus, zerriſſene Maueranſchlaͤge, auch hier noch in ſchrei— 
enden Farben; eine Schar junger Maͤnner zieht vorbei 
— ſie ſchreien und ſingen; die Nebenſtraße hinab taſtet 
ſich der Wand entlang eine betrunkene Geſtalt, vor ſich 
hinmurmelnd und geſtikulierend, vielleicht uͤberwaͤltigt 
von einem einzigen Glaſe Whisky, da der Magen ſeit 
Tagen nichts genoſſen hat... 

Die Gegend wird immer unheimlicher. Das Juden: 
viertel, die Armſten der Armen. Die Opfer der Aus⸗ 
beuter, der „Sweaters“, Schneider und Kleinhandwerker. 
Unendlich genuͤgſam, Laſttiere im Ertragen des Unmdoͤg— 
lichen, bei achtzehnſtuͤndiger Arbeit oft zufrieden mit ſechs, 
ja mit vier Pence, voͤllig verſunken in dumpfer Ergebung, 
ſind ſie die willigſten Objekte der Ausbeuter und druͤcken 
die Löhne auf einen Punkt, der weit unter der Hunger: 
grenze ſteht. So ſind ſie der Schrecken und der Ab— 
ſcheu für alle Bewohner des Eaſt End, die fie töten mit 
ihrer zaͤhen Ausdauer und ihrer unheimlichen Entſagungs⸗ 
faͤhigkeit in dieſem furchtbaren Kampf einer mehr als 
erbarmungsloſen, einer raffinierten Konkurrenz. 

Sie allein haben es vermocht, in Whitechapel feſten 
Fuß zu faſſen: ſo lagern ſie in der Mitte des Eaſt End, 
wie ein faulender Schwamm am Fuße eines rieſigen 
Baumes 
i Wieder in ftarrer Einfoͤrmigkeit begannen ſich nach 

Oſten hin dieſe entſetzlichen Reihen zweiſtoͤckiger Haͤuſer 
hinzuziehen, deren graue Eintoͤnigkeit dem Auge nirgends 
Halt gebietet. 


ne. 
TOTEN 5 2 


— 241 — 


So iſt Brick Lane, deren Ende Auban und Trupp 
nun erreicht haben: unbeſchreibbar in ihrer ſcheinbaren 
Gleichguͤltigkeit und ſchaurigen Duͤſternis — durchgehe 
ſie nicht einmal wie heute, ſondern hundertmal und nichts 
anderes verraͤt ſie dir von ihren verſteckten Geheimniſſen, 
ihren ſtummen Leiden, ihren toten Klagen, als das eine: 
daß fie keinen Gluͤcklichen noch ſah. .. 

Whitechapel! Als die Freunde die ſchmutzige Enge 
von Osborne Street, dem Eingang zu Brick Lane, durch— 
ſchritten, begann die ſechſte Abendſtunde. Sie ſtanden 
in einem rieſigen Menſchenſtrom, der ſich Whitechapel und 
Mile End Road hinaufwaͤlzte: tauſende und abertauſende 
von Arbeitern, die den aͤußeren, den aͤußerſten Grenzen 
des Rieſenleibes der Stadt zuſtroͤmten. Durch den Nebel 
gluͤhten die roten Augen der Laternen, in langen, in 
letzter Ferne ſich vereinigenden Reihen. Die noͤrdliche 
Seite der Straße war dicht beſetzt mit zwei Reihen von 
Haͤndlern jeder Art, ihren Wagen und Verkaufsſtaͤnden, 
von denen herab qualmende Naphthalampen Lohen von 
Licht auf die Maſſen warfen, die ſich durch den engen 
Mittelweg drängten, ſtoßend, treibend, erregt, halb— 
betaͤubt ... Es iſt der große Abend, der Vorſonntag. 
Wer noch einen Penny ſein eigen nennt, gibt ihn aus. 

Denn Whitechapel Road iſt das große, oͤffentliche, 
jedem zugaͤngliche Vergnuͤgungslokal des Eaſt End. An 
ihm liegen große Muſikhallen mit weiten Gaͤngen und 
hohen Etagen und Raͤngen, und hier kleine, verſteckte 
Penny⸗Gaffs, in denen wenig zu ſehen vor Tabaksqualm 
und nichts zu hoͤren vor Laͤrm iſt. — An ihm hat der 
Medizinmann mit der Wunderſalbe, welche alle Krank— 

VIII 16 


— 242 — 


heiten heilt — man braucht ſie innerlich, wie aͤußerlich, 
es bleibt ſich ganz gleich — ſowohl, wie der Schießſtand 
ſich aufgeſchlagen, die mit ihren wehenden Steinoͤlflammen 
die Gaslichter unnoͤtig machen. — An ihm findet man 
den Kraftmenſchen und die Meerjungfrau, das Wachs⸗ 
figurenkabinett und den famoſen Hund mit den Löwen 
klauen — man hat ihm die Vorderfuͤße geſpalten: alles 
zu ſehen fuͤr einen Penny. 

Auban und Trupp ſahen nichts von allen dieſen 
Herrlichkeiten. Sie hatten eine Strecke weit dieſe Flut 
zu durchbahnen. Nur Schritt fuͤr Schritt gelangten ſie 
vorwaͤrts. Nun wieder nach Norden, von wo ſie ge— 
kommen ſind, einbiegend, fuͤhrte Trupp ſeinen Freund 
durch zwei, drei dunkle Gaſſen, und wieder durch einen 
jener niedrigen Durchgaͤnge, in welchem Staub, Kalk und 
Moͤrtel auf ſie niederfaͤllt von den Waͤnden, die ſie 
ſtreifen .. . Möglich ſtanden fie in einem jener ſtillen, 
abgelegenen Hoͤfe, welche ein Fremder nie betritt. Nichts 
war erkennbar hier, als die ragenden Steinmaſſen, die 
tags dem Lichte von oben her kaum einen Durchblick 
geſtatten konnten, ſo dicht ſchloſſen ſie ſich aneinander. 
Jetzt aber verloren ſie ſich voͤllig im Nebel und der 
ſinkenden Nacht. Auban glaubte ſich auf dem Grunde eines 
klaftertiefen Brunnens zu befinden, eingemauert zu ſein 
von allen Seiten, lebendig begraben, ohne Ausweg und 
ohne Licht. 

Aber er fuͤhlte Trupps Hand wieder auf der ſeinen. 
Sie zog ihn fort. Hier hatte jener ſich eingemietet. Sein 
Zimmer lag zu ebener Erde, dicht neben der Tuͤr. Als 
ein Licht es erhellte, ſah Auban, daß es nichts enthielt 


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— 243 — 


als ein Strohbett, einen Tiſch und einen Stuhl. Der 
Tiſch war mit Papieren, Broſchuͤren und Zeitungen bedeckt. 
Waͤhrend er dieſe traurige Spaͤrlichkeit muſterte, ging 
Trupp hin und her, den Kopf geſenkt, die Haͤnde in die 
Taſchen verſteckt, wie er es immer tat, wenn er innerlich 
erregt war. Indem er Auban auf den Stuhl nötigte 
und ſich ſelbſt einen Koffer herbeizog, begann er, der die 
letzten Stunden fo ſchweigſam geweſen war, mit unter: 
drückter, wie erſtickter Stimme zu erzählen, was er in 
dieſen Tagen geſehen. 

— Du meinſt wohl, dies Zimmer ſei duͤrftig? Weit 
gefehlt. Ich lebe fuͤrſtlich — bin ich doch der einzige im 


ganzen Hauſe, der ein eigenes Zimmer fuͤr ſich allein beſitzt. 


Ja, in dieſem „Family Hotel“ wohnen einige hundert 
Menſchen, einige Dutzend Familien. Hier und im erſten 
Stockwerk geht es noch: nur eine Familie teilt ſich in 
ein Zimmer, die Eltern, die Kinder, erwachſen, uner: 
wachſen, alles durcheinander. Weiter oben hinauf — 
ich war noch nicht dort, denn im dritten Stock wird der 
Schmutz und der Geſtank ſo, daß man umkehren muß — 
geht es nicht mehr ſo gut. Zwei Familien in einem 
Raum, nicht groͤßer als dieſer. Ob ſie ſich mit dem 
beruͤhmten Kreideſtrich helfen, ich weiß es nicht. Genug, 
fie behelfen ſich: Schlaf-, Wohn, Eßraum, Küche, Krank 
heits- und Sterbezimmer — alles in einem. Oder ein 
ſolches Loch von zehn Fuß Breite und ſechs Fuß in die 
Laͤnge wird bewohnt von ſechs, zehn, zwoͤlf Arbeitern — 
Schneidern. Sie arbeiten zwoͤlf, vierzehn, ſechzehn 
Stunden, oft noch laͤnger. Sie ſchlafen alle in dem einen 
Zimmer, auf dem Boden, auf einem Lumpenbuͤndel, wenn 
165 


. 


ſie nicht die Naͤchte bei giftigem Gaslicht durcharbeiten. 
Es koͤnnen Tage vergehen, Wochen, ehe ſie aus ihren 
Kleidern kommen. Was ſie verdienen? Das iſt ver⸗ 
ſchieden. Twopence die Stunde? Sehr ſelten. Meiſt 
ſoviel nicht in drei, oft aber erſt in ſechs Stunden. Haben 
ſie einen, anderthalb Schilling, wenn ſie aufhoͤren muͤſſen 
vor Erſchoͤpfung, ſind ſie froh. Fuͤr das Verfertigen 
eines Rockes, der im Laden fuͤr zwei Guineas verkauft 
wird, erhalten fie vier bis fünf, zuweilen nur — be⸗ 
guͤnſtigt ein Streik die Sweaters und erlaubt ihnen, jedes 
Angebot zu machen — zwei bis drei, ja einen Schilling. 
Willſt du noch mehr hören? — In der Schuhmacher: 
branche, bei den Verfertigerinnen der Matchboxes, den 
Hemdennaͤherinnen, den Spinnerinnen, iſt es ebenſo. 
Fuͤr das Anfertigen von einem Groß Streichholzſchachteln 
werden etwa zwei Pence bezahlt — die Arbeit erfordert 
drei bis vier Stunden; fuͤr das Naͤhen eines Dutzend 
Hemden vier oder gar drei und zweieinhalb; fuͤr das 
Polieren eines Groß Bleiſtifte — anderthalbſtuͤndige Arbeit 
— zwei Pence — und fuͤr alles finden ſich Haͤnde, die 
nicht ruhen, bis ſie ſich die Naͤgel von den Fingern ge— 
ſchunden haben. 

Auban unterbrach ihn. Er kannte ſeinen Freund. 
Ließ er ihn gewaͤhren, ſo wuͤrde jener Stunde auf Stunde 
ſo, wahllos hier- und dorthin greifend in den Haufen 
aufgeſtapelter Erfahrung, eine Tatſache nach der anderen, 
ein Argument nach dem anderen hervorziehen, und in 
blutendem Schmerz zugleich und in ſchrecklicher Freude 
ein Bild hinſtellen, dem gegenuͤber alle Einwaͤnde wirkungs⸗ 
los bleiben mußten. Immer war fein ceterum censeo, 


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— 2145 — 


wenn er erſchoͤpft und maßlos erregt ſchloß, die Revolution, 
die Vernichtung der alten Geſellſchaft, die Zerſtoͤrung alles 
Beſtehenden. 

Er ließ ſich in ſeinem raſenden Laufe nicht aufhalten. 
Immer neue Felſen fand er, aus denen er Quellen fuͤr 
ſeine Theorien ſchlug. Unterbrochen ſchweifte er ab, kam 
auf ein anderes Gebiet und riß uͤberall, ohne ſich zu 
beſinnen, den Schleier herunter, jeden Sonnenblick einer 
möglichen Hoffnung auf langſame Beſſerung verſcheuchend, 
jeden Gedanken an eine friedliche Reform erſtickend, be: 
grabend unter der Laſt feiner Anklagen ... Dann, 
wenn er ſeine Zuhoͤrer eingehuͤllt hatte in die Schatten 
ſeiner Verzweiflung, fluͤſterte er, vor ſie hintretend, ihnen 
das eine Wort: „Revolution!“ zu und ließ ſie allein 
in der Nacht mit dieſem einzigen Stern ... So war er 
der Agitator geworden, deſſen Worte immer dann am 
hellſten gezuͤndet, wenn der Augenblick ſie geboren hatte. 
Die Lethargie der Gleichguͤltigkeit zu brechen, die Uns 
zufriedenheit zu ſchuͤren, den Haß und die Empoͤrung 
zum Ausdruck zu bringen, verſtand Trupp wie kein anderer. 
Daher war ſein Wirken unter den Indifferenten immer 
erfolgreich. Ein Organiſator war er nicht. So mied er 
mehr und mehr die Klubs. Diskuſſionen ging er gern 
aus dem Wege. Er verſtand nicht zu uͤberzeugen. Waren 
der Jubel und die Begeiſterung der Stunde verflogen, 
dann — in der grauen Eintoͤnigkeit des naͤchſten Tages, 
die den Kampf zwecklos, die den Sieg ausſichtslos er— 
ſcheinen ließ — bemaͤchtigte ſich vieler von denen, die 
er hingeriſſen, von neuem und ſtaͤrker das dumpfe Gefuͤhl 
der Unabaͤnderlichkeit, welches die geſpannte Sehne der 


— 246 — 


Hoffnung zuruͤckſchnellen machte. Er war ein Wegzeiger; 
ein Wegfuͤhrer war er nicht. 

Als Auban ihn unterbrochen hatte, griff ſein fieber— 
hafter Geiſt nach einer anderen Seite des Geſpraͤches. 
Er erzaͤhlte von den Kindern dieſes Elends, die geboren 
werden in dieſem, ſterben in jenem Winkel, mehr als 
dreißig unter hundert, bevor ſie ihr erſtes Alter zuruͤck— 
gelegt, von niemandem vermißt, gekannt kaum von der 
eigenen Mutter, nie gekleidet, nie geſaͤttigt; von den gluͤck— 
lichen, die bewahrt bleiben vor dem Leben der Ungewiß- 
heit, dem langſamen Tode des Hungers; von der Hoͤhe 
der Preiſe, welche die Armen für alles zu zahlen genötigt 
ſind, deſſen ſie beduͤrfen — vier, fuͤnf Schilling woͤchent— 
liche Miete an den Hausherrn fuͤr das Loch von Zimmer 
allein, waͤhrend der Verdienſt der ganzen Familie noch 
nicht zehn, zwoͤlf betraͤgt; von dem verhaͤltnismaͤßig ſehr 
hohen Schulgeld, das ſie fuͤr ihre Kinder zu zahlen ge— 
zwungen ſind, die ſie ſo noͤtig brauchen, um ein paar 
Pence die Woche mehr dem Verdienſt zufuͤgen zu koͤnnen; 
von ihrer voͤlligen Hilfloſigkeit in allem, bei dem Tode 
ihrer Angehoͤrigen zum Beiſpiel. Es waren in letzter Zeit 
dunkle Geruͤchte von entſetzlichen Vorkommniſſen in die 
Offentlichkeit gedrungen, fo unmöglich, daß jeder fie für 
die Ausgeburten eines kranken Gehirns, einer ſenſations⸗ 
luͤſternen Phantaſie hielt. Sie beruhten auf Tatſachen. 
Trupp beſtaͤtigte ſie. 

Es war keine allzu große Seltenheit, daß Leichen 
unbeerdigt tagelang in demſelben Zimmer liegen blieben, 
das den uͤbrigen Familienmitgliedern Tag und Nacht zum 
Aufenthaltsorte diente. 


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— 247 — 


— Als ich hierher kam, ſagte Trupp, — war im Neben: 
hauſe ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren ge— 
ſtorben. An einem Fieber, einem scarlet fever, glaube 
ich. Jedenfalls war ſeine Krankheit anſteckend. Der Mann 
war out of work; die Frau bruſtkrank. Sie huſtete den 
ganzen Tag. Sie hatten vier Kinder; aber das zweit— 
aͤlteſte, ein Maͤdchen, kam nur nach Hauſe, wenn es 
keine andere Unterkunft fand. Sie und ihr Bruder waren 
die einzigen, die zuweilen etwas ins Haus brachten. 
Außerdem iſt da noch die alte irrſinnige Mutter der Frau, 
die nie von ihrem Winkel im Zimmer aufſteht. Der 
Sohn alſo ſtarb. Er war acht Tage krank geweſen. 
Natuͤrlich keine Pflege, kein Arzt, keine Nahrung. Die 
Leiche blieb auf demſelben Fleck liegen, auf dem der 
Kranke geſtorben war. Kein Menſch ruͤhrte ſie an. Statt 
nach Arbeit, lief der Mann einen ganzen Tag von einer 
Behoͤrde zur anderen. Von einem Diſtrikt wies man ihn 
in den anderen: dieſer hatte keinen Kirchhof, zu jenem 
ſollte er nicht gehoͤren. Er war Auslaͤnder, konnte ſich 
ſchwer verſtaͤndlich machen — kurzum, der Tote blieb, 
wo er war, ohne Sarg, unbeerdigt. Nach drei Tagen 
ſprach man im Hauſe von der Sache, nach fuͤnf drang 
der Geruch durch die Spalten der Tuͤr, nach ſieben 
Tagen ward er ſo unertraͤglich, daß ſich die Nachbarn 
in den naͤchſten Zimmern empoͤrten; erſt nach acht Tagen 
hörte ein Polizeimann davon und am neunten Tag end— 
lich ward die völlig in Verweſung übergegangene Leiche 
abgeholt! Die Zeitungen haben nichts daruͤber berichtet. 
Wozu auch? Es iſt ja doch alles umſonſt. — Neun 
Tage! Das erzaͤhlt ſich ganz gut, aber ich wette mit 


— 248 — 


dir, keine Phantaſie malt ſich in Wirklichkeit das Bild 
dieſes Zimmers aus! 

Er ſchwieg einen Augenblick. Auban fror. Er huͤllte 
ſich dichter in ſeinen Mantel und ſah auf das Licht, 
das zu erloͤſchen drohte. 

Aber Trupp war noch nicht fertig. „Zuweilen werfen 
ſie eine Leiche in irgendeinen Winkel des Hofes, mag 
mit ihr geſchehen was will. — Hier gleich in der Naͤhe 
iſt eine Gaſſe, die nur von Dieben, Zuhaͤltern, Moͤrdern, 
einem Geſindel erſten Ranges bewohnt wird. Kinder gibt 
es da ſcharenweiſe. Als neulich eines derſelben ſtarb, 
blieb es liegen, wo es lag. Keinem ſollte es gehoͤren. 
Wer die Eltern waren, kein Menſch wußte es. — Von 
einem anderen Fall erzaͤhlte mir die Frau, die druͤben 
wohnt. Dort oben — uͤber uns — lebt ein Trunkenbold. 
Er hat eine Frau und ſieben Kinder. Die Frau arbeitet 
fuͤr die ganze Familie. Neulich ſtarb eines der Kinder 
— an jener unheimlichen Krankheit, fuͤr welche die Wiſſen⸗ 
ſchaft keinen Namen hat. „Langſame Erſchoͤpfung infolge 
ungenuͤgender Ernaͤhrung“ — nennen es nicht ſo die Be— 
richte in den Zeitungen gewöhnlich? — Die Frau verſetzt ihr 
allerletztes, nur um einen Sarg und ein paar gruͤne Zweige 
kaufen zu koͤnnen. Aber bis ſie das zuſammengebracht hat, 
daruͤber vergehen ein paar Tage. Eines Abends kommt der 
Mann nach Hauſe, natuͤrlich voͤllig betrunken. Der Sarg 
iſt ihm im Wege. Er nimmt ihn und wirft ihn mit der 
Leiche durch das Fenſter, aus einer Höhe von drei Stock⸗ 
werken. — Die Frauen haben den Menſchen am naͤchſten 
Tage faſt zerriſſen; die Maͤnner lachten bei ihrem Gin 
über den „smart fellow“. Das iſt Caſt End Leben.“ — 


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— 249 — 


Auban ſtand auf. 

— Es iſt genug, Otto, ſagte er. — Kannſt du mir 
die Straße zeigen, von der du eben ſprachſt? 

— Jetzt? — Ich werde mich huͤten! Wir kaͤmen 
nicht mehr mit heiler Haut heraus. 

— Dann laß uns gehen. Als ſie in der Tuͤr ſtanden, 
faßte er Trupp ins Auge. — Du wirſt doch hier nicht 
wohnen bleiben? 

— Weshalb nicht? — Bin ich etwa beſſer? Habe 
ich mehr verdient als dieſe Armen? — Einer mehr oder 
weniger, darauf kommt es nicht an. 

— Doch. Einer weniger im Schmutz iſt immer beſſer 
als einer mehr. — 

Als ſie auf dem ſchmalen Korridor ſtanden, oͤffnete 
ſich die gegenuͤberliegende Tuͤr. Ein duͤnner Lichtſtreifen 
erhellte ſchwach den Gang und ließ in der Heraustretenden 
eine juͤngere Frau erkennen. Sie murmelte etwas, als 
ſie Trupp ſah. Es klang wie eine Bitte und ſie wies in 
das Zimmer zuruͤck. Ein ſtickiger, modriger, verpeſteter 
Dunſt drang den Naͤhertretenden entgegen: der Dunſt 
von ungeluͤfteten Kleidern, faulendem Stroh, ſich zer: 
ſetzenden Speiſeſtoffen, untermengt und geſchwaͤngert mit 
den Miasmen widerlicher Krankheiten, entſtanden durch 
dieſe Unreinlichkeit, die wie ein Filz alles uͤberzog, und 
bedeckte — die Wände, den Boden, die Fenſter. Kaum 
war in der Dunſtwolke, welche trotz der Kaͤlte das un— 
heizbare Zimmer erwaͤrmte, ein Bett zu unterſcheiden, 
das faſt die ganze Länge einer Wand beſetzte. Von 
dieſem Bette empor erhob ſich eine Geſtalt, die ſicher 
nicht fuͤr menſchlich gehalten worden waͤre, haͤtte ſie nicht 


1 > 


nach der Tür hin eine Flut von unverſtaͤndlichen Schimpf— 
worten geſtoßen: das Geſicht durch Laſter, Krankheit, 
Trunkſucht voͤllig entſtellt, den Kopf verbunden mit einem 
ſchmutzigen, blutgetraͤnkten Lappen, mager, entkraͤftet die 
von Lumpen kaum verhuͤllten Glieder, glich der Mann 
bereits mehr einem Toten, als einem Lebenden. Roͤchelnd 
fiel er zurück, ermattet von der Anſtrengung feiner willen: 


und zielloſen Wut. Trupp ſprach mit der Frau. Auban 


verſtand nur, daß es ſich um die Aufnahme des Kranken 
in ein Hoſpital — das Paradies der Armut — handelte. 
Er war muͤde und ſtumpf und ging voran. Trupp 
folgte ihm bald. Er mußte den Freund am Arme 
fuͤhren, ſo durchloͤchert war der knarrende Boden des 
dunklen Ganges, ſo ausgetreten die Steinflieſen der 
Treppe. „Das war auch einer von denen, die jeden 
Tag von der Polizei ins Armenhaus geſchafft werden 
koͤnnen — haben ſie doch ‚no visible means of existence! 
Sie haben eine wahnſinnige Angſt davor —“ ſagte Trupp. 

Der Lichthof war menſchenleer wie vorher. Man 
haͤtte glauben ſollen, alle dieſe Haͤuſer, welche ihn 
bildeten, ſeien unbewohnt, ſo ſtill war es, ſo verriet 
nichts von Leben. 

— Es iſt immer ſo, ſagte Trupp. — Die Kinder 
am Tage ſpielen nie laut. 

An der Ecke der naͤchſten Straße ſtand eine Gruppe 
von Menſchen. Sie ſprachen lebhaft miteinander. Offen— 
bare Erregung ging von einzelnen aus. Als Auban und 
Trupp naͤher traten, kam eine Frau auf ſie zu. Sie 
heulte nach einem Arzte. Man machte den Fremden 
bereitwillig Platz. Sie durchſchritten einen Torweg. Ein 


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— 251 — 


Hof, halbdunkel, eng, ſchmutzig, lag vor ihnen. Auch 
hier ſtand eine Gruppe von Maͤnnern und Frauen, an 
die ſich Kinder draͤngten. Zwei Poliziſten gingen in 
regelmaͤßigen Schritten auf und ab, ſoweit der gemeſſene 
Raum es ihnen erlaubte. 

Auban wollte wieder umkehren, als ſein Auge dem 
Scheine einer Laterne folgte, die auf der Erde ſtand 
und ein truͤbes Licht uͤber ein Buͤndel Stroh warf, auf 
dem eine menſchliche Geſtalt lag. Keiner hinderte ihn, 
als er naͤher trat. Die Umſtehenden draͤngten ſich her— 
zu; die Poliziſten ſchritten gleichguͤltig auf und ab. Man 
hielt Auban fuͤr einen Arzt. Es war die Leiche eines 
etwa fuͤnfzigjaͤhrigen Mannes, die da vor ihnen lag. 
Sie lag auf dem Ruͤcken, die Arme halb ausgeſtreckt 
zu beiden Seiten herabgefallen, die geöffneten Augen 
nach oben gerichtet. Der Koͤrper des Toten war nur 
bekleidet mit einem langen, ſchwarzen Rock, der auf der 
Bruſt auseinandergeriſſen auf dem nackten Fleiſche lag 
und den Hals mit dem emporgeſchlagenen Kragen um— 
ſchloß. Aus den ausgefranzten, kotigen und ver— 
ſchliſſenen ſchwarzen Hoſen ſahen die nackten, mit blaͤu— 
lichen Froſtnarben und Schmutz bedeckten Fuͤße hervor. 
Ein abgetragener, am Rande aufgeriſſener Zylinderhut 
war beiſeite gerollt. Die ungepflegten grauen Haare 
waren uͤber die Stirn gefallen; die linke Hand des Toten 
war geballt. 

Auban beugte ſich uͤber ihn. Der Koͤrper war von 
einer ſchrecklichen Magerkeit: die Rippen des Bruſtkaſtens 
traten ſcharf hervor, die Gelenke der Haͤnde und Fuͤße 
waren jo ſchmal, daß eine Knabenhand ſie hätte um— 


— 252 — 


ſpannen koͤnnen. Die Wangen waren eingefallen und 
ließen die Backenknochen hart hervorſtehen; die Naſe 
trat ſpitz hervor; die Lippen voͤllig blutleer, wie ſchmerz⸗ 
lich etwas geoͤffnet; die hervortretenden Zaͤhne ſcheinbar 
noch gut erhalten. Tief eingefallen waren die Schlaͤfen 
und die Halsgegend — die Leiche ſah aus, als ob ſie bereits 
monatelang in einem trockenen Raum gelegen haͤtte, ſo 
duͤnn und dicht uͤberſpann die gelbliche Haut die Knochen. 

Auban ſah zu dem Poliziſten empor, der ſich neben 
ihn geſtellt hatte. 

— Starved? fragte er halblaut. 

Der Poliziſt nickte ernſt und gleichguͤltig. — Ver⸗ 
hungert! Durch die Umſtehenden, die bisher lautlos jeder 
Bewegung Aubans gefolgt waren, ging eine haſtige Er— 
regung. Von Lippe zu Lippe flog das Wort, und jede 
ſprach es nach in einer anderen Betonung des Grauens 
und der Furcht, als habe jeder ſein eigenes Todesurteil 
vernommen. Die Kinder draͤngten ſich enger an die 
Frauen, dieſe naͤher an die Maͤnner. — Ein junger Burſche 
tat einen hoͤhniſchen, lauten Ausruf; man ſtieß ihn fort. 
Dadurch kam Bewegung in die ganze Gruppe. Man 
draͤngte ſich durcheinander: Jeder wollte einen Blick in 
das Geſicht des Toten werfen. 

Die beiden Poliziſten nahmen ihren Gang wieder 
auf, ab und zu beobachtende Blicke auf den einen oder 
andern gleiten laſſend. 

Auban hatte ſich aus ſeiner knienden Stellung empor⸗ 
gerichtet. Die Hand des Toten war ſchlaff niedergefallen, 
wie er ſie aufgehoben hatte. Es war keine Spur von 
Leben mehr in dem entſeelten Körper. 


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—ͤ— 253 — 


Als er ſich umwenden wollte, fuͤhlte er ploͤtzlich den 
eiſernen Fauſtgriff Trupps an ſeinem Arme. Er blickte 
auf und ſah in ein voͤllig verſtoͤrtes Geſicht. Trupps 
Augen waren in ſtarrem Entſetzen und ſprachloſem 
Staunen auf den Toten geheftet, als rufe derſelbe in ihm 
eine furchtbare Erinnerung wach. 

— Kennſt du ihn? — fragte Auban. 

Trupp gab keine Antwort. Er ließ keinen Blick von 
dem Leichnam. 

Der Tote lag da und es ſchien ploͤtzlich nicht nur 
Trupp, ſondern auch Auban, als kehre in ſeine gebrochenen 
Augen ein letzter Strom von Leben zuruͤck und als er⸗ 
zaͤhlten ſie nun zum letztenmal in ſtummer Sprache die 
Geſchichte ihres Lebens: die Geſchichte eines Niederſtiegs 
von der Hoͤhe zur Tiefe 

Trupp zog ſeinen Freund fort, aufſchreckend aus ſeinen 
Gedanken. Die Umſtehenden ſchauten ihnen in dumpfer 
Erwartung nach, da ſie noch immer in Auban einen Arzt 
vermuteten, Nur die beiden Poliziſten gingen weiter uns 
bekuͤmmert auf und ab: gleich wuͤrde einer ihrer Beamten 
mit einem Wagen kommen und morgen lag der Tote 
auf der Marmorplatte eines Seziertiſches . 

Auf der Straße erzaͤhlte Trupp haſtig, mit noch 
immer von Grauen unterdruͤckter Stimme: 

— Ich habe ihn geſehen — einmal — vor vier Wochen 
war es — in Fleet Street ... Er kam fie herunter — 
mir entgegen — ganz ſo, wie er eben dalag: ohne 
Schuhe, ohne Hemd, aber in Zylinder und in ſchwarzen 
Handſchuhen. Sein Anblick war nicht laͤcherlich — im 
Gegenteil: er war entſetzlich. Er ſah aus wie der leib— 


— 254 — 


haftige Tod — mager wie ein Gerippe — wie ein 
Schatten! — ſo ſchlich er der Wand entlang, immer 
geradeausſehend, keinen Menſchen beachtend und von 
keinem beachtet. — Ein Gefuͤhl ſagte mir, ich ſolle es 
laſſen — aber ich erkannte den Hunger und ſo ging ich 
auf ihn zu und fragte ihn etwas. Er verſtand mich 
nicht. Ich glaube: er hoͤrte mich uͤberhaupt nicht. Als 
ich ihm aber einen Schilling reichte, warf er einen Blick 
auf das Geld, dann einen auf mich, als wolle er mich 
auf der Stelle erwuͤrgen, und warf, was ich ihm ge— 
geben — meinen letzten Schilling —, dem naͤchſten 
Straßenjungen zu. — Ich war natürlich jo verblüfft, 
daß ich ihn gehen ließ ... 

Auban ſchuͤttelte den Kopf. 

— Iſt es wirklich derſelbe? — 

— Vergißt man das Geſicht, wenn man es einmal 
geſehen hat? — 

Auban ſchwieg. Das Zuſammentreffen war ſeltſam 
doch es war nicht unmoͤglich. Trupp konnte ſich irren. 
Aber Auban glaubte ſelbſt nicht, daß ſein Freund ſich 
taͤuſchte. 

Auch er war erſchuͤttert. Dieſes Geſicht — nein, 
man vergaß es nicht, hatte man es einmal geſehen. 
Trauriger aber noch, wie die blutloſen Wangen und die 
anklagenden Augen war ihm die Magerkeit dieſer ent— 
kraͤfteten, völlig erfchöpften, ausgeſogenen Glieder ge— 
weſen. Der Hunger mußte eine lange, geduldige Arbeit 
getan haben, ehe der Tod die lodernden Flammen dieſes 
Lebens hatte ausloͤſchen Fönnen! . 

Vor Wochen noch ſtark genug, um mit der Kraft des 


— 255 — 


. Stolzes jede Probe zu beſtehen, war es heute erſt erlegen: 


in einen Winkel, den ſchmutzigſten, verſteckteſten aller, 
hatte der Sterbende ſich verkrochen — dort, von keinem 
unter dieſen Millionen geſehen, war er zuſammengeſunken; 
dort, von keinem gehoͤrt, hatte er den letzten Seufzer 
ausgehaucht —: müde, irr, ſtumpf, krank, verzweifelt 
war er — verhungert! 

— Verhungert! ... Verhungert! ... Verhungert! 

Trupp ſagte es immer wieder vor ſich hin. 

Dann laut zu Auban: 

— Das noch zu ſehen, haͤtten wir nicht erwartet! — 
Sieh, wie mir alles recht gibt! Aber die Rache, welche 
wir nehmen werden, ſie wird alles austilgen! — 

— Nur nicht die Torheit! dachte Auban. Aber er 
ſagte es natürlich jetzt nicht. 

— Es kann keine Schuld geben: was hat der Blinde 
verſchuldet, daß er blind iſt? — Nur Torheit, Torheit 
überall — ja, und fie wird ſich furchtbar raͤchen! .. 


Ploͤtzlich ſtanden ſie am Eingange zu dem großen, 
breiten Lebensſtrom von Whitechapel Road. 

Sie waren bis jetzt gegangen, ohne zu wiſſen wohin. 
uͤber dem, was ſie geſehen, war alles andere von ihnen 
vergeſſen. Nun ſchreckte ſie das Licht auf, das ſie ploͤtzlich 
uͤbergoß. Sie ſahen ſich um. Alles war wie es vor zwei 
Stunden geweſen. Wieder die Lichter! Wieder das Leben, 
das ſtroͤmende, rauſchende, immer und immer wieder 
ſiegende Leben nach den Schrecken des Todes! 

— In den Klub! ſagte Auban. Es war das erſte 


— 256 — 


Wort, das er ſprach. Er war ermüdet, hungrig, aber 
aͤußerlich wie innerlich ruhig, gleichſam erſtarrt. Trupp 
fuͤhlte nichts von Durſt und Erſchoͤpfung. Waͤhrend er 
mit der Sicherheit der Gewohnheit den Weg abſchnitt 
und Commercial Road kreuzte, blickte er vor ſich hin, 
duͤſter, verſchloſſen ſcheinbar, aber von Empoͤrung durch⸗ 
rüttelt, gemartert von einem dumpfen Schmerze. 

Sie hatten nur noch wenige Minuten zu gehen. 
Eine Straße lag vor ihnen, in die Dunkelheit des Abends 
gehüllt, von keinem Lichte erhellt. Es war Berner Street, 
E. C. Die Haͤuſer liefen ineinander uͤber: kaum unter⸗ 
ſchied man Tuͤren und Fenſter in dem Schatten der Nacht. 
Nur der ſeit langem hier Vertraute haͤtte vermocht, hier 
ein beſtimmtes Haus zu finden. Auban taſtete ſich mit 
ſeinem Stocke mehr, als er ging. 

Hier lag der Klub der juͤdiſchen Revolutionaͤre des 
Eaſt End. Trupp ſtand vor der Tuͤre ſtill und ließ den 
eiſernen Klopfer fallen. Es wurde ſofort geoͤffnet. Aus 
einem Zimmer, das zur Rechten lag, tauchten Koͤpfe auf, 
freundliche Haͤnde kamen Trupp entgegen, als er erkannt 
wurde. Auban ſah, mit welcher Freude er die entgegen— 
geſtreckten Haͤnde ergriff und wieder und wieder ſchuͤttelte. 
Er ſelbſt war ſeit einem Jahr nicht wieder hier geweſen. 
Er zweifelte, bekannte Geſichter zu finden. Aber er hatte 
ſich kaum unter die lebhaften Gruppen gemiſcht, welche 
die kleinen, niedrigen Zimmer des Erdgeſchoſſes fuͤllten, 
teils ſtehend, teils die Tiſche und Baͤnke beſetzend, als er 
eine Hand auf ſeiner Schulter fuͤhlte und in das Geſicht 
eines alten Kameraden blickte, den er ſeit Jahren, ſeit 
ſeinen Pariſer Sturmjahren, nicht mehr geſehen. 


— 257 — 


— Auban! 

— Baptiſte! — Die Erinnerungen flogen auf, wie eine 
Vogelſchar, deren Kaͤfigtuͤr ploͤtzlich die Hand des Zufalls 
öffnet. — 

Der „International Working Mens Klub“ war 
neben der „Morgenroͤte“, der dritten Sektion des alten 
Kommuniſtiſchen Arbeiterbildungs-Vereins, der einzige 
Klub revolutionaͤrer Sozialiſten des Oſtends. Einge— 
wanderte Ruſſen und Polen bildeten die groͤßte Zahl der 
Mitglieder, welche ſich wohl auf zweihundert belaufen 
mochte. Ihr weites Feld der Propaganda war das ganze 
Whitechapel, das ja zum größten Teil von ihren Heimat— 
genoſſen bewohnt wurde. 

Auban ließ ſich von ſeinem Freunde Stellen aus 
der Zeitung uͤberſetzen, welche der Klub mit Aufbietung 
großer Opfer woͤchentlich herausgab, von keiner Seite 
unterſtuͤtzt, von den reichen Glaubensgenoſſen des Weſt 
End (denen es mittels Beſtechung ſogar einmal gelungen 
war, das Blatt zeitweilig ganz zu unterdruͤcken) bitter— 
lich gehaßt und befehdet. Sie hieß „The Worker's 
Friend“ und war mit hebraͤiſchen Lettern in jener eigen⸗ 
tuͤmlichen Miſchung des polniſchen, deutſchen und eng— 
liſchen Idioms gedruckt, das von den ausgewanderten 
Polen hauptſaͤchlich geſprochen und nur ſchwer von anderen 
verſtanden wurde. a 

Trupp ſtand in einer Gruppe von lebhaft auf ihn 
Einſprechenden. Man bat ihn zu reden. Er hatte offenbar 
keine Luſt. Aber er willigte ein und folgte ihnen nach 
dem oberen Saal, nachdem er haſtig ein Glas Bier 


hinuntergeſtuͤrzt hatte. 
VIII 17 


— 238 — 


Auban blieb ſitzen und ließ ſich zu eſſen geben. 
Der Bekannte, welcher ihn wiedererkannt hatte, be— 
ſtuͤrmte ihn mit Fragen. Sie erfuhren manches von ein⸗ 
ander: der eine ihrer Freunde war hierhin, der andere 
dorthin geſchleudert worden von der großen, maͤchtigen 
Woge der Bewegung. Alles hatte ſich verſchoben, ver— 
aͤndert, ein verwandeltes Ausſehen angenommen in dem 
Laufe dieſer wenigen Jahre. 


Auban wurde noch ernſter, als er geweſen war. Er 
fuͤhlte wieder das Surren des weiter und weiter greifenden 
Rades, das Droͤhnen des zermalmenden Fußtrittes, welcher 
auch über ihn hinweggeſchritten war ... Über feinem 
Haupte ſchwebte kein Schwert mehr. Er fuͤrchtete nichts 
mehr, ſeit er nur noch für ſich kaͤmpfte. Aber noch immer 
rannen aus den Narben ſeines eiſernen Herzens die 
Tropfen des Schmerzes. 


Sie ſprachen von dem, von jenem. Der war als 
Spitzel entlarvt worden? War es moͤglich? Keiner von 
ihnen haͤtte es gedacht. „Er war ein Schurke.“ 


— Er war vielleicht nur ungluͤcklich, meinte Auban. 
Aber das wollte der andere nicht gelten laſſen. 

So ſprachen ſie eine Stunde zuſammen. 
Dann ſtiegen fie die enge Treppe hinauf zu dem 
Saale, der bis in den Hintergrund hinein von Menſchen 
gefuͤllt war. Er war mittelgroß und faßte kaum mehr 
als 150 Perſonen. Einfache, lehnenloſe Baͤnke durchs 
zogen ihn in die Quere und an den Laͤngswaͤnden hin. 
Überall bittere Armut, aber uͤberall auch das Beſtreben, 
dieſe Armut zu uͤberwinden. An den Waͤnden hingen einige 


— 259 — 


Portraͤts: Marx, Proudhon, Laſſalle, wie er das goldene 
Kalb des Kapitalismus umſtuͤrzt; ein Karton in ſchwarzem 
Rahmen: „Mrs. Gundry“ — die geizige, habſuͤchtige, 
neidiſche Bourgeoiſie, die mit Schaͤtzen aller Art bes 
laden dem Hungernden die Bitte um einen Penny 
verſagt » 

Ganz vorn ſchloß eine kleine Buͤhne den Raum. Hier 
ſtand an dem Tiſche des Chairman Trupp. Er ſprach 
deutſch. Auban draͤngte ſich etwas vor, um ihn zu ſehen. 
Er verſtand nicht mehr als einzelne Worte; kaum konnte 
er erraten, wovon geſprochen wurde. Erzaͤhlte er das 
Erlebnis feines heutigen Abends? ... Auban fuͤhlte die 
furchtbare Leidenſchaft, die in heißen Wogen der Glut 
von dort aus die Verſammlung uͤberflutete. Atemlos hing 
man an den Lippen des Redners, kein einziges ſeiner 
Worte zu verlieren. Durch dieſe jungen Leute, kaum dem 
Knabenalter entwachſen, dieſe Frauen, ermuͤdet und ge— 
brochen von der Laſt ihrer endloſen Arbeit, dieſe Maͤnner, 
welche — dem Boden der Heimat entriſſen — ſich hier 
doppelt und dreifach getaͤuſcht zuſammengefunden, ging 
es wie ein elektriſcher Strom. Selten hatte Auban auf 
allen Geſichtern eine ſolche Hingabe, ein ſo brennendes 
Intereſſe, ſo gluͤhende Begeiſterung geſehen wie hier. — 
Er kannte ſie. Fragen, die den Kindern des Weſtens 
hoͤchſtens Stoff zu ruhigem, gleichguͤltigem Meinungs⸗ 
austauſch geboten haͤtten, wurden hier diskutiert, als ob 
Leben und Tod an ihnen haͤnge; im Gegenſatz zu dem 
eigenen kummervollen, gedruckten, engen Leben nur das 
Ideal des Paradieſes! Kein anderes! Hoͤchſte Voll— 
kommenheit im Kommunismus: Frieden, Bruͤderlichkeit, 


5:7? 


— 260 — 


Gleichheit vor allem! Chriſten, Idealiſten, Träumer, 
Toren, das waren dieſe jüdifchen Revolutionaͤre des 
Oſtends — Stiefkinder der Vernunft, Bannertraͤger der 
Begeiſterung. 

Trupp endete. Man draͤngte ſich zur Diskuſſion. 

— Seid Egoiſten! haͤtte Auban ihnen zurufen moͤgen. 
— Seid Egoiſten! Der Egoismus iſt die einzige Waffe 
gegen den Egoismus Eurer glaubensverwandten Aus⸗ 
beuter, es gibt keine andere. Braucht ſie: kuͤhl, eiſern, 
uͤberlegen, ruhig, und Ihr ſeid die Sieger! ; 

Aber er fprach feine Gedanken nicht aus. Auf die 
Zeit, in welcher er ſelbſt — begeiſtert und begeiſternd 
— der wilden Brandung aufgeregter Maſſen gegenuͤber 
geſtanden hatte, waren Jahre des Lernens gefolgt. Auf 
ſeinem Studienplan hatte nur ein Wort geſtanden: die 
Menſchen. — Seitdem er ſie kannte, wußte er, daß die 
Wirkung des geſprochenen Wortes um ſo groͤßer iſt, je 
allgemeiner, idealer es ſich gibt, je mehr es dem dumpfen 
Drange des Herzens entgegenkommt. Die Phraſe iſt es, 
welche uͤberall von der Menge bejubelt wird; das klare 
nuͤchterne Wort der Vernunft, entkleidet des Flitters, 
ſich wendend an das Eigenintereſſe, verneinend alle 
Moralgebote der Pflicht, verhallt unverſtanden und wir- 
kungslos. 

Hatte er das nicht erſt wieder am vergangenen 
Sonntag erfahren? 

Daher wuͤrde er, wollte er heute noch ſprechen, auch 
jetzt ſtatt jubelnden Beifalls nur Mißverſtaͤndnis ernten. — 


Die Diskuſſion war in vollem Gange. Faſt jeder 


— 261 — 


der an den Rednertiſch Tretenden ſprach mit dem 
brennendſten Eifer, zu überzeugen, zu überreden: kein 
Wort ging verloren. | 

Trupp drängte ſich in den Hintergrund des Saales. 
Dort wurde er wieder von allen Seiten umringt. Man 
wollte Aufklaͤrung uͤber dieſen und jenen Punkt ſeiner 
Rede haben. Er antwortete jedem. — Auban hatte ſich 
geſetzt. Sein Bekannter hatte ihn verlaſſen. Er ver⸗ 
ſtand kein Wort. Er ſah die erregten Geſichter, die 
durch einen dünnen Nebel von Tabäksqualm ihn um⸗ 
wogten. 

— Heute flammende Begeiſterung, morgen Er— 
nuͤchterung und Entmutigung ... Heute Haymarket, 
morgen Galgen ... Heute Revolution, morgen ein 
neuer Wahn und ſeine alte Herrſchaft! dachte er. 

Trupp rief ihm zu, ob er mit in die „Morgenröte” 
gehe. Es ſei auch dort Verſammlung und er wolle 
auch dort reden. Aber Auban ließ ihn allein gehen. 

Die Arbeiter-Marfeillaife wurde geſungen. Man be: 
gann auseinander zu gehen. Ein Durcheinanderdraͤngen 
entſtand. 

Ein hochgewachſener, breitfchulteriger deutſcher Genoſſe 
mit blondem Bart und blondem Haar, das Glas in der 
Hand, ſang, den Kopf hoch erhoben, mit klarer, feſter 
Stimme, gleichſam tonangebend, die erſte Strophe des 
Liedes uͤber die andern hin: 


„Wohlan, wer Recht und Freiheit achtet, 
Zu unſerer Fahne ſteht zu Hauf! 

Ob uns die Luͤge noch umnachtet, 

Bald ſteigt der Morgen hell herauf! 


0362 


Ein ſchwerer Kampf iſt's, den wir wagen, 
Zahllos iſt unſerer Feinde Schar — 
Doch ob wie Flammen die Gefahr 
Moͤg' uͤber uns zuſammenſchlagen, 

Tod jeder Tyrannei! 

Die Arbeit werde frei! 

Marſch, marſch! 

Marſch, marſch! 

Und waͤr's zum Tod! 

Denn unſere Fahn' iſt rot!“ — 


Alle ſangen den Refrain mit. 

Auban ſummte die franzoͤſiſchen Worte der Marfeil- 
laiſe ... Wie viele Male hatte er fie ſchon vernommen, 
wie viele Male ſie ſchon mitgeſungen? In Hoffnung, in 
Empoͤrung, in Verzweiflung, in Siegesſicherheit? — Von 
wem war ſie nicht ſchon geſungen worden! 

Zufaͤllig ſah Auban, wie die Augen eines jungen 
Mannes, es war offenbar ein Pole oder Ruſſe, miß— 
trauiſch auf ſeiner fremden Geſtalt ruhten. Nun mußte 
er doch laͤcheln. 

Sollte er ihm ſagen, wer er war? — Man kannte 
ihn nicht mehr. Aber noch haͤtte die einfache Nennung 
feines Namens genügt, um alle Zweifel und jedes Miß 
trauen ſofort zu verſcheuchen. 

Aber er ließ es. Er ſah nach der Uhr: nicht mehr lange 
durfte er weilen, wollte er den letzten Zug der unterirdiſchen 
Eiſenbahn fuͤr Kings Croß auf Aldgate noch erreichen. 

Er ging. Man war beim Schlußvers des Liedes an⸗ 
gelangt. Sie ſangen: 

„Tod jeder Tyrannei! 
Die Arbeit werde frei! 


4 n 83 
2 * 


— 263 — 


Marſch, marſch! 

Marſch, marſch! 

Und waͤr's zum Tod! 

Denn unſere Fahn' iſt rot! 

Denn unſere — Fahn' — iſt rot! 

Denn unſere — Fahn' — iſt — — rot!“ 


Auban ftand auf der Straße. Sie war ſtaockfinſter. 
Muͤhſam taſtete er ſich nach der Stelle des großen 
Straßenvereinigungspunktes durch. Aber bevor er noch 
die erſten Gasflammen erreicht hatte, tauchte ploͤtzlich 
aus dem Dunkel ein rieſiges Gebaͤude vor ihm auf: in 
vier Reihen uͤbereinander zwoͤlf, vierzehn, zwanzig hell 
erleuchtete Fenſter ... Das war eine der großen Faktoreien, 
von denen jeder Pariſh des Oſtens von London vierzig 
bis fuͤnfzig zaͤhlt. 

War es eine Seidenweberei? Auban wußte es nicht. 

Dieſes Gebaͤude, haͤßlich, roh, laͤcherlich in der Form, 
ein viereckiges Monſtrum mit hundert roten, gluͤhenden 
Augen, mit den huſchenden Schatten menſchlicher Ge— 
ſtalten und den rieſigen Maſchinenarmen hinter ihnen, 
war es nicht das grelle Sinnbild der Zeit, die charakteri⸗ 
ſtiſche Verkoͤrperung ihres eigentlichſten Weſens: In⸗ 
duſtrie? 

Der Hoͤhepunkt des Abends war erreicht, als Auban 
wieder an dem Kreuzungspunkt der beiden Rieſenſtraßen 
ſtand. Schon begann ſich die hier und da ausbreitende 
uͤbermuͤdung der Stille des Sonntags zu vermaͤhlen. 
Bald ſollten die Publichaͤuſer ſich ſchließen. In die 
Nebenſtraßen verloren ſich mehr und mehr Geſtalten 
aus dem großen Menſchenſtrom. 


— 264 — 


Aber noch immer war das Gewuͤhl faſt undurch— 
dringlich. In fieberhafter Haſt wurden von den meiſten 
die letzten ſchalen Tropfen des ſchalen Trankes dieſes 
Samstagrauſches geſchluͤrft. 

Aldgate war keine fünf Minuten mehr entfernt. Noch 
blieb Auban eine halbe Stunde Zeit, bis der letzte Zug 
der Untergrundbahn nach Kings Croß von Aldgate 
Station abging. Und bezwungen von einem inneren 
Drange, deſſen er ſich vergeblich zu erwehren ſuchte, bog 
er noch einmal in eine der noͤrdlichen Nebenſtraßen ein, 
in eine Nacht voll raͤtſelhafter Fremde ... 

Nur wenige Laternen brannten hier noch, nur wenige 
Menſchen ſchlichen an ihm voruͤber. Dann kamen Quer— 
ſtraßen. Er bog nach Weſten ein. 

Er paſſierte eine Gruppe von jungen Leuten. Sie 
waren in einem halblauten Disput begriffen, um den 
Poliziſten nicht auf ſich aufmerkſam zu machen, und 
achteten nicht auf Auban. Dieſer ging dicht an der 
Wand hin. 

Aus einem vergitterten Fenſter fiel Licht. Er blieb 
ſtehen und ſpaͤhte durch die ſchmutzuͤberzogenen Scheiben. 
Es war die Küche, die common kitchen eines Lodging— 
hauſes, die er ſah, der gemeinſame Raum, in welchem 
ſich alle Beſucher aufhalten, ehe ſie die fuͤr eine Nacht 
gemietete Schlafſtelle aufſuchen. 

Das Zimmer war uͤberfuͤllt. Es mußten ſich mehr 
als ſiebzig Perſonen in ihm befinden: ſie lagen, ſaßen 
und ſtanden in kleineren und größeren Gruppen umher; 
einige kauerten abſeits. Eine große Anzahl hatte ſich um 
den Kamin gedraͤngt. Dort bereiteten ſie ſich ihr Eſſen: 


u 


— 265 — 


ihren Tee, ihr Stuͤck Fiſch, ihren Fleiſchabfall. Sie 
warteten aufeinander. Sobald ein Geſchirr vom Feuer 
fortgezogen wurde, nahm ein anderes den Platz ein. 
Die Waͤrme der kargen Glut ſchien gering zu ſein, denn 
viele froͤſtelten in ihren Lumpen und drängten ſich an⸗ 
einander. 

Nur ein Tiſch ſtand in der Mitte des Raumes. Kopf 
an Kopf uͤber ihn hingebeugt ſchliefen dort bereits die 
meiſten in wirrer Unordnung: Maͤnner, Frauen, Kinder 
durcheinander. Nur wenige aßen dort und auf den 
ſchmalen, an den Waͤnden ſich hinziehenden Baͤnken. 
Aber der Tiſch war mit gebrauchtem Geſchirr aus Blech 
und Zinn, mit Taſſen, Schüffeln und Tellern uͤberſaͤt, die 
von den ubermuͤdeten fortgeſchoben waren, ehe der Schlaf 
fie überwältigt hatte. Der Boden war uͤberſaͤt mit Ab— 
faͤllen aller Art: Kinder, die ſich losgemacht hatten von 
dem Schoß ihrer ſchlafenden Muͤtter, krochen wie blinde 
Huͤndchen auf ihm umher. 

Der matte Schein des kohlenden Feuers erhellte not— 
duͤrftig dieſen Raum. Zwei qualmende Lampen an den 
Waͤnden waren dem Verloͤſchen nahe. 

Nichts von dem, was er heute, nichts von dem, 
was er jemals in Eaſt End geſehen, hatte einen tieferen 
Eindruck auf Auban gemacht, als das ſchweigende, duͤſtere, 
unheimliche Bild dieſes Raumes. 

War es die ſpaͤte Stunde, die ihre Wirkung auf ihn 
ausuͤbte? — War es die Überhitzung ſeines durch 
ſtundenlange Anſpannung ermatteten Gehirnes, die dieſe 
Ausgeburt gebar? — Oder trat ihm gerade jetzt, wo 
er allein war, ſo greifbar nahe, was er ſchon ſo oft 


20 


geſehen: das Nachtbild des Abgrundlebens der Ver: 
ſtoßenen? — 

Er hielt den Atem an, waͤhrend er mit ſeinen Blicken 
jeden Winkel des Bildes durchdrang. 

Keine Phantaſie haͤtte einen troſtloſeren Raum und 
in ihm eine groteskere Gruppierung erſinnen koͤnnen, wie 
ſie ſich hier ihm zeigte: hier dieſer weiße Alte, dem der 
Stock der Hand entfallen war, während er vornüber: 
gebeugt eingeſchlummert war; dort das junge Maͤdchen, 
welches vor ſich hinſtarrte, waͤhrend ihr Zuhaͤlter ſie mit 
Schimpfworten uͤberhaͤufte; hier dieſe ganze Familie, die 
eine Gruppe bildete: der Vater offenbar ein beſchaͤftigungs⸗ 
loſer Arbeiter und die Mutter, verzweifelt uͤber ihre 
Lage, die Kinder beruhigend, die ſich um eine Scherbe 
ſtritten; dort die ſchlafenden Reihen — ſie lagen wie 
. 

Und uͤber ihnen allen die truͤbe Dunſtwolke ewigen 
Schmutzes und ewigen Hungers. Keine Freude, kein 
Reiz, keine Hoffnung mehr ... Tag fo für Tag.. 
Nacht ſo fuͤr Nacht 

Auban riß ſich mit Gewalt los von dem Bilde ohne 
Farbe, ohne Zeichnung, ohne Stimmung. 

Er kannte dieſe Schlafhaͤuſer, in denen man Unter— 
kunft fand für einzelne Nächte. Zum uberfluß ſtand es 
auch dort noch mit weißen Buchſtaben auf der rot— 
geſtrichenen Wand: Die Nacht für 3 d. — 4 d. — und 
für 6 d. — Für 6 d. — das waren die „chambers“, 
wo jeder ſein eigenes Bett erhielt, deſſen Waͤſche alle 
paar Wochen einmal wenigſtens erneuert wurde, nachdem 
es zwanzig verſchiedene Koͤrper beherbergt. — Fuͤr 4 d. 


— 267 — 


ſchlief ſchon alles in Reihen, ganz dicht aneinandergedraͤngt, 
den Raum bis auf den letzten Platz ausnutzend. — Fuͤr 
3 d. endlich — das war das große Zimmer mit leeren 
Baͤnken, uͤber die man ſich legte, oder auch die Kuͤche, 
wo man auf der Stelle liegen blieb, auf der man eins 
geſchlafen war; fuͤr 3 d. gegen nichts anderes geſchuͤtzt, 
als gegen die eiſige Kaͤlte der Nachtluft und die Leben 
zerſtoͤrende Feuchtigkeit des Straßenpflaſters ... 

Ein Mann taumelte zur Tuͤr heraus. Man hatte 
ihn fortgewieſen, da er nicht bezahlen konnte. Auban 
wollte ihn anreden, um ihm zu helfen, aber jener war 
voͤllig betrunken. Er taumelte weiter, vor- und ruͤck⸗ 
waͤrts, ſchlug mit den Haͤnden um ſich, und taſtete ſich 
lallend und ſchwankend an den Haͤuſerwaͤnden fort — 
hinein in die Nacht, die ihn verſchlang. 

Auch Auban ging weiter. Er hatte vergeſſen, wo er 
war und zu welcher Stunde. 

Ploͤtzlich beſann er ſich. Er mußte die Straße, die 
er gekommen, wieder zuruͤckgehen, um ſich zu orientieren, 
daß er richtig gegangen war. Dort lag die Straße, 
wo er eingetreten war — alſo geradeaus, wieder dem 
Weſten zu 

Alle hundert Schritte jetzt nur noch ein unſtetes 
Licht. Enger und enger die Straße. Das Pflaſter immer 
ſchlechter, immer größere Schmutzlachen und Kehricht— 
haufen 

Aber Auban wollte nicht mehr zuruͤck. 

Die Tuͤr eines Hauſes ſtand offen. Wieder ein 
Lodging⸗Haus, aber eines der uneingeſchriebenen. Eines 
der beruͤchtigten rookeries, wie das Volk ſie nannte. Es 


— 268 — 


war uͤberfuͤllt. Die ganze enge, ſteile Treppe, ſoweit Auban 
ſie uͤberſehen konnte, war beſaͤet mit zuſammengekruͤmmten, 
dunklen Menſchenleibern. Über- und nebeneinander wie 
Tote, welche in Haufen hierher geworfen waren, ſo lagen 
ſie da. Bis auf die Straße hinaus, auf die Schwelle 
noch, hatten ſie ſich hingekauert. Nichts war mehr 
deutlich erkennbar: das Fleiſch, das unter Lumpen und 
Fetzen hervorſah, war ſo ſchmutzig wie dieſe ſelbſt, ge— 
traͤnkt von Feuchtigkeit, Schmutz und Krankheit ... 

Auban ſchauderte. Er eilte weiter. Eine Querſtraße. 
Dann eine hohe Mauer. Ein ſiebenſtoͤckiges Maſſen— 
wohnhaus, wie ein Rieſe ploͤtzlich aus dem Dunkel 
hervortauchend. Es blieb ſeitwaͤrts liegen. Immer ge: 
radeaus — dem Weſten zu. 

In der naͤchſten Straße nun wieder einzelne Menſchen. 
Aber kaum erkennbar: an die Wand gemalte Schatten, 
oder wie verſteinert in den Haustüren hockend. Kein 
Laͤrm, kein Geſpraͤch; kein Lachen, kein Singen 
Totenſtille. 

Auban begann jetzt an der Richtung des Weges irre 
zu werden. Wieder wurden die Straßen voͤllig ver— 
laſſen. 

Er kannte doch dieſe Gegend. War er nicht hier ſchon 
bei Tage geweſen? Alles ſchien ihm veraͤndert. Dieſe 
Mauer zur Linken — nie hatte er ſie geſehen. War er 
fehlgegangen? Unmoͤglich! Er ſtrengte ſein erregtes 
Gehirn zum Zerſpringen an, indem er ſtehen blieb. Er 
uͤberlegte — ſo mußte und nicht anders konnte es ſein: 
ging er nach links, nach Suͤden, ſo mußte er in drei 
Minuten Whitechapel High Street, ging er geradeaus, 


— 269 — 


nach Weſten, in derſelben Zeit Commercial Street er: 
reichen 

Alſo vorwärts — geradeaus.. 

Er fuͤhlte erſt jetzt, wie muͤde er war. Sein lahmes 
Bein ſchmerzte. Am liebſten haͤtte er ſich auf den Boden 
gelegt, um zu ſchlafen. | 

Aber er rief feinen Willen zu Hilfe und ging weiter. 

Ein Gedanke ſtieg in ihm auf: wenn er jetzt an⸗ 
gefallen wuͤrde, wer wuͤrde ſeine Rufe um Hilfe hoͤren? 
— Niemand. Er hatte keine andere Waffe bei ſich als 
ſeinen Stock, der ihm ſchwer in der Hand zu liegen be— 
gann. — Begegnete ihm jemand und erkannte in ihm 
einen Fremden, ſo war es faſt unmoͤglich, daß er ſich die 
Gelegenheit, ihn zu berauben, entgehen laſſen wuͤrde ... 

Ein ganz neues Gefuͤhl bemaͤchtigte ſich ſeiner. Es 
war nicht Furcht. Es war vielmehr das Grauen des 
Widerwillens, hier in dieſer Nacht, dieſem Schmutz, dieſer 
Einſamkeit angefallen zu werden von einem wilden Tier 
in Menſchengeſtalt und hier einen Kampf auf Leben und 
Tod beſtehen zu muͤſſen. 

Er ſah ein, wie unvorſichtig es von ihm geweſen, 
ſich in dieſe faſt unvermeidliche Gefahr begeben zu haben. 
Er erinnerte ſich jetzt auch, daß er in dieſelbe Straße 
eingetreten war, an deren Eingang ihm vor einiger Zeit 
ein Poliziſt geſagt hatte, er moͤge ſie nicht paſſieren, wie 
er dies wahrſcheinlich jedem Beſſergekleideten ſagte. 

Auban beſchleunigte nun ſeinen Gang aufs aͤußerſte. 
Aber die Mauer wollte kein Ende nehmen. Die Dunkel⸗ 
heit war undurchdringlich. Nicht auf zehn Schritte haͤtte 
er eine Wand von einem Menſchen unterſcheiden koͤnnen. 


— 270 — 


Er umklammerte mit eiſernem Griff den Stock, ohne 
ſich auf ihn zu ſtuͤtzen. Er glaubte jeden Augenblick 
einen Angreifer aus dem Dunkel hervortauchen zu ſehen, 
ihn in feinem Nacken oder an ſeiner Seite zu fühlen... . 
Aber er war entſchloſſen, ſein Leben wenigſtens teuer zu 
verkaufen. 

Er lief und ſchwang ſeinen Stock vor ſich her. Der 
Schweiß rann von feiner Stirn. Sein Grauen wuchs. 

Wo war er? — Das war nicht mehr Whitechapel. 
Das war eine Nacht ohne Anfang und ohne Ende; eines 
Abgrunds ungemeſſene Tiefe. 

Ploͤtzlich ſchlug ſein Stock gegen eine Wand. Und 
jetzt unterſchied Auban zu ſeiner Rechten auch wieder 
Haͤuſer und Fenſter. Eine kurze Straße, ſchwach erhellt 
von einer einzigen Laterne, und ſo eng, daß ein Wagen 
fie nicht hätte paſſieren koͤnnen, tat ſich auf. Sie 
muͤndete auf eine größere . .. 

Auban befand ſich in der naͤchſten Minute auf der 
ganzen Breite von Commercial Street. Nach fuͤnf Minuten 
ſtand er keuchend unter der runden Glaskugel des Lichtes, 
das den Eingang zu den Schalterraͤumen und den nach 
der Tiefe fuͤhrenden Treppen erhellte. 

Er hatte das letzte Ziel ſeiner heutigen Wanderung 
erreicht: Aldgate Station. 

Noch blieben ihm genau zehn Minuten bis zum Ab— 
gang des Zuges. 

Der ganze Weg vom Klub bis hierher hatte nicht 
laͤnger als eine halbe Stunde gedauert. Auban glaubte, 
es muͤßten Stunden vergangen ſein, ſeit der Geſang der 
Marſeillaiſe an fein Ohr gedrungen war. 


— 271 — 


Waͤhrend er ſich anlehnte, um ſeine jagenden Pulſe zu 
beſchwichtigen, waͤhrend vor ihm die Straßenverkaͤufer ihre 
Bretter und Tonnen mit den Überreſten ihrer Waren fort— 
raͤumten und um ihn in beſinnungsloſer Trunkenheit und 
uͤberreizter Eile die Menſchen ſich ſtießen und drängten, 
wandte er noch einmal feinen Blick dem Oſten zu ... 

Und mit einem Schlage fand er, was er geſucht 
hatte zu bezeichnen: der ungeheure Rachen des Rieſen— 
leibes von Eaſt End war dieſes Whitechapel, welches da 
gaͤhnend vor ihm lag! Was in die Naͤhe ſeines giftigen 
Atems kam, taumelte, verlor den letzten Halt, wurde 
zermalmt von unerbittlichen Zaͤhnen und verſchlungen, 
waͤhrend alle Laute des Elends, von dem Roͤcheln der 
Angſt bis zu dem Seufzen des Hungers, erſtarben in 
der ſtinkenden Dunkelheit ſeiner Tiefe. Und alle Laͤnder 
der ganzen Welt warfen ihren ganzen Abfall hinein in 
dieſes gierige Maul, damit ſich endlich dieſer ſchreckliche, 
kraftloſe, unerſaͤttliche Leib befriedigen koͤnne, deſſen 
Hunger unermeßlich und immer im Wachſen ſchien ... 

Und waͤhrend Auban zuruͤckwich vor dem Dunſt, hatte 
er ploͤtzlich in der letzten ihm noch bleibenden Minute 
die grandioſe Viſion des Kommenden: weit oͤffnete dieſer 
Rieſenrachen ſeine geifertriefenden Kiefer und ſpie in 
wuͤrgender Wut eine enorme Schlammwoge von Unrat, 
Kot und Faͤulnis über London aus — — ... Und 
alles begrub — wie ein ins Wanken geratener Berg — 
dieſe ekle Woge: alle Größe, alle Schönheit, allen Reich⸗ 
tum... London war nur noch eine endloſe Lache von 
Faͤulnis und Moder, deren ſcheußliche Duͤnſte die Himmel 
verpeſteten und alles Leben langſam erſtickten ... 


Siebentes Kapitel 
Die Tragoͤdie von Chicago 


In drohende Wolken von Rauch und Blut ſchienen 
die Tage gehuͤllt, mit denen die zweite Woche des 
November begann. 

Waͤhrend in London der Schrei nach „Arbeit oder 
Brot“ immer furchtbarer in die Ohren der privilegierten 
Raͤuber und ihrer Beſchuͤtzer drang, waren die Augen 
einer Welt nach Chicago gerichtet, auf die erhobene Hand 
der Gewalt. Wuͤrde ſie fallen? Oder „begnadigend“ 
ſich ſenken? — 

Die Ereigniſſe des Tages uͤberhaͤuften und uͤber— 
ſtuͤrzten ſich. 

Auban hatte die erſten Tage der Woche in ſeinem 
Bureau verbracht, hart arbeitend, denn er wollte ſich die 
beiden letzten moͤglichſt frei halten. 

Als er Mittwoch nach dem Lunch ſein Kaffeehaus 
aufſuchte, ſah er Fleet Street und Strand beſaͤt mit 
buntfarbigen Flaggen und Wimpeln, die ſich ſeltſam 
von dem troſtloſen Grau des Himmels, dem ſchlammigen 
Schwarz des Straßenſchmutzes und den geſtauten 
Menſchenmaſſen, welche die Trottoirs zu beiden Seiten 
undurchdringlich beſetzt hielten, abhoben. Lord Mayors 


— 273 — 


Show! Der neugewaͤhlte Buͤrgermeiſter der Stadt hielt 
alter Sitte gemäß feinen pomphaften Umzug und das 
Volk vergaß auf einige Stunden bei dem Anblick des 
bunten, kindiſchen Schwindels ſeinen Hunger. 

Welche Zeit! dachte Auban. 10000 Pfund bezahlt 
die Stadt jaͤhrlich dieſem nichtsnutzigen Schwaͤtzer fuͤr ſeine 
wertloſen Geſchaͤfte und waͤhrend er in Guildhall mit 
ſchwelgeriſchem Raffinement tafelt, zernagt der Hunger 
nach einem Stuͤck Brot dieſe ungezaͤhlten Tauſende! 

Er wollte nichts ſehen von der Prozeſſion. Er ſuchte 
ſich ſeinen Weg durch halbleere Nebengaſſen. Ein feiner 
Regen traͤufelte unablaͤſſig nieder. Mit der Feuchtigkeit 
durchdrang Kaͤlte und Unbehagen die Kleider. 

Er kaufte ſich eine Morgenzeitung und durchflog 
fie haſtig. Trafalgar Square auf jeder Spalte! Ber: 
ſammlungen der Arbeitsloſen Tag fuͤr Tag — heute 
erlaubt, morgen verboten .. . Verhaftungen der Redner 
Beunruhigende Geruͤchte aus Deutſchland: die 
Krankheit des Thronfolgers ſoll unheilbar ſein .. . leiſe, 
aͤngſtliche Vermutungen über ihre Natur ... Krebs 
. die Wendung im Schickſal eines Landes zum Guten 
oder Boͤſen abhaͤngig von dem Leben und Sterben eines 
Mannes! ... — Frankreich — nichts ... — Chicago! 
.. Kurze Notizen über die Begnadigungsbriefe von 
vieren unter den Verurteilten an den Gouverneur von 
Illinois, in deſſen Hand nach Verwerfung des neuen 
Prozeſſes nun die letzte Entſcheidung liegt .. . über den 
Fund von Bomben in einer Zelle ... Natürlich! —: die 
Stimmung in weiten Kreiſen iſt den Verurteilten zu 


guͤnſtig. Da werden plotzlich Bomben ‚gefunden‘ — 
vin 18 


. 


— 274 — 


gefunden in einer Nacht und Tag bewachten Gefaͤngnis⸗ 
zelle! — und ſie ſchlaͤgt wieder um! — Allzu gelegen 


kam dieſer Fund in einem Augenblicke, wo die Geſuche um N 


Begnadigung ſich mit Hunderttauſenden von Unterſchriften 
bedeckten, die, wie die Zeitungen eindringlich illuſtrierten, 
aneinandergelegt einen Raum von elf Meilen in die 
Laͤnge bedecken konnten, als daß die bewußte, uͤberlegte 
Abſicht dieſer Nachricht nicht unverkennbar geweſen waͤre. 

Auban ballte die Zeitung zuſammen und warf ſie 
von ſich. Nun hatte er keine Hoffnung mehr. In ent⸗ 
ſetzlicher Deutlichkeit ſtiegen die kommenden Tage vor 
ihm auf und der Froſt ſchuͤttelte ihn wie Fieber. 


Der elfte November fiel auf den Freitag. Vor dem 
mit Papieren, Zeitungsblaͤttern und Buͤchern uͤberladenen 
Tiſch in ſeinem Zimmer ſaß Auban. Es war um die 
fuͤnfte Stunde des Nachmittags und das Licht des Tages 
erloſch zwiſchen den trüben Straßenreihen. 

Auban hatte den ganzen Tag damit verbracht, um 
noch einmal aus der Fuͤlle des Materials, das ihm ſein 
amerikaniſcher Freund vollſtaͤndig zur Verfuͤgung geſtellt 
hatte, die Tragoͤdie, über deren letzten Akt ſich heute 
der Vorhang geſenkt hatte, in jeder einzelnen ihrer 
Szenen, von Beginn bis zu Ende, vor ſich abſpielen zu 
laſſen. 

Was er in allen ſeinen Teilen — miterlebend — 
entſtehen und wachſen geſehen hatte, ſtand nun vor ihm 
als geſchloſſenes Ganze. 

Aber immer noch wuͤhlten feine Finger in den uͤber— 


= 


— 25 — 


einander gehaͤuften Zeitungen und durchblaͤtterten die 
Broſchuͤren in nervoͤſer Haſt, als ſuche er noch nach 
dieſem und jenem Punkt, auf den das Licht noch nicht 
hell genug gefallen war. 

Die Unmoͤglichkeit ſeiner heutigen Arbeit, in voller 
Deutlichkeit das Ganze, wie das Einzelne zu durchſchauen, 
quaͤlte ihn bis zur Verzweiflung. Die Widerſpruͤche waren 
zu zahlreich. Nie würde ſich die Tragoͤdie völlig er⸗ 
hellen, uͤber welche heute der letzte Schleier gefallen 
war. 

Dennoch hoben ſich in ſtarrer Erkennbarkeit die 
Tatſachen vor Auban empor. 

Vor ſeinem Geiſte ſteht Chicago, der Vereinigten 
Staaten zweitgrößte Stadt: vor fünfzig Jahren noch 
ein kleines Grenzdorf, vor zwanzig ein Truͤmmer⸗ 
haufen, durch Feuersbrunſt zu ihm geworden uͤber Nacht, 
aber uͤber Tag wieder erſtanden, heute die praͤchtige Stadt 
an dem großen See, der große Kornſpeicher der Welt, 
der Mittelpunkt eines unermeßlichen Verkehrs, über: 
ſchaͤumend im Beſitz einer Kraft, von welcher das alternde 
Leben des Oſtens nichts mehr weiß ... In dieſer Stadt 
des rapiden Wachstums mit ihrer nun faſt erreichten 
Million Einwohner, von denen der dritte Teil Deutſche 
ſind, in ihrer ganzen furchtbaren Deutlichkeit die Folgen 
der ſtaatlich bevorrechteten Ausbeutung menſchlicher Kraft: 
das Anſammeln des Wohlſtandes in einzelnen Haͤnden 
zu ſchwindelhafter Hoͤhe und in treuer Wechſelwirkung 
damit immer größere Maſſen an den Rand der Unmoͤg⸗ 
lichkeit, ihr Leben zu friſten, getrieben ... Und in dieſe 


gaͤrende Stadt, wie ein neuer und furchtbarer Brand, 
185 


— 276 — 


die Fackel der ſozialen Lehre geworfen: geſchuͤrt von 
tauſend Haͤnden greift die Glut mit einer Schnelligkeit 
um ſich, welche die Tage der Revolution als gekommen 
erſcheinen laͤßt .. 

Die Gewalthaber ſchicken ihre Poliziſten; und das 
Volk ſchickt ſeine Fuͤhrer, hinter die es ſich ſtellt. Jene 
knuͤtteln und ſchießen ſtreikende Arbeiter nieder; und dieſe 
rufen mit ſchallender Stimme: „To arms! To arms!“ 
— und zeigen den Wahlſpruch: „Proletarier, bewaffnet 
Euch!“ als einzige Rettung. 

Gewalt gegen Gewalt! Torheit gegen Torheit! 

Die Bewegung zugunſten des achtſtuͤndigen Arbeits— 
tages in den Vereinigten Staaten, die „Achtſtunden⸗ 
bewegung“, deren Beginn um faſt zwei Jahrzehnte zurück- 
datiert und als deren Ende von einer Million Arbeitern, 
den „Knights of Labour“ mit 400 000 Arbeitern und 
den „Federated Trades Unions“ mit einer gleichen 
Anzahl an der Spitze, dem erſten Mai des Jahres 1886 
entgegengeſehen wird, iſt das Ziel, um das von beiden 
Seiten gleich leidenſchaftlich gekaͤmpft wird ... Was die 
Forderungen früherer Jahre als ‚Recht‘ bereits hier und 
da auf dem Papier erobert hatten, blieb unerworbenes 
Recht. 

Die 1883 gegruͤndete „Internationale Arbeiter-Aſſo⸗ 
ziation“ von Revolutionaͤren deutſcher Zunge in Chicago, 
die ſich Anarchiſten nannten, aber die kommuniſtiſche 
Lehre des gemeinſchaftlichen Beſitzes verteidigten, nimmt, 
obwohl ſie in dem allgemeinen Wahlrecht nur ein Mittel 
ſehen, die Arbeiter durch Vorſpiegelung der Erlangung 
politiſcher Rechte von der Erwerbung ihrer oͤkonomiſchen 


— 277 — 


Gleichberechtigung abzuhalten, dennoch, um ſich ein wich⸗ 
tiges Propagandafeld nicht entgehen zu laſſen, Stellung 
in dieſer Frage, die bald zu der einzigen Frage des 
Tages wird. 

Dem 1. Mai gehen in Chicago, dem Mittelpunkt 
der Achtſtundenbewegung, unerwartete Ereigniſſe voran: 
die Schließung einer großen Fabrik — die dadurch er— 
folgte Brotlosmachung von 1200 Arbeitern — haben Ver— 
ſammlungen zufolge, auf denen es zu ernſten Zuſammen⸗ 
ſtoͤßen mit den uniformierten, und den nichtuniformierten 
Poliziſten, den Privatdetektivs der Pinkertonſchen Schutz⸗ 
Patrouillen im ſpeziellen Dienſt der Kapitaliſten, den 
berüchtigten „Pinkertonianern“, kommt. 

So wird am 3. Mai, nachdem an dom fo lange er⸗ 
warteten erſten in Chicago allein mehr als 40000 Ar— 
beiter, in den Staaten aber 360 000 die Arbeit nieder: 
gelegt haben, von denſelben ein Angriff auf die Arbeiter 
gemacht, und eine große Anzahl derſelben verwundet. Die 
Verſammlung des 4. Mai, auf den Haymarket einbe— 
rufen von dem „Exekutivkomitee“ der J. A. A., hat 
den Zweck, gegen dieſe Freveltaten der geſetzlichen Gewalt 
zu proteſtieren. 

An demſelben Tage noch wird von einem der Fuͤhrer, 
dem Redakteur der großen deutſchen „Arbeiter-Zeitung“, 
ein Zirkular geſchrieben, das unter dem Namen „Rache— 
Zirkular“ zu einer entſetzlichen Beruͤhmtheit gelangen 
ſollte. 

Es iſt in zwei Sprachen geſchrieben: das engliſche 
wendet ſich an die amerikaniſchen Arbeiter, die es auf— 
fordert, ſich ihrer Vorfahren wuͤrdig zu zeigen und ſich 


— 278 — 


zu erheben, „wie Herkules in ſeiner Kraft“; das deutſche 
lautet: 
„Rache! Rache! 
„Arbeiter, zu den Waffen! 

„Arbeitendes Volk, heute nachmittag mordeten die 
Bluthunde, Eure Ausbeuter, ſechs Eurer Bruͤder draußen 
bei Me. Cormicks. Warum mordeten ſie dieſelben? Weil 
ſie den Mut hatten, mit dem Los unzufrieden zu ſein, 
welches Eure Ausbeuter ihnen beſchieden haben. Sie 
forderten Brot, man antwortete ihnen mit Blei, eingedenk 
der Tatſache, daß man damit das Volk am wirkſamſten 
zum Schweigen bringen kann! Viele, viele Jahre habt 
Ihr alle Demuͤtigungen ohne Widerſpruch ertragen, habt 
Euch vom fruͤhen Morgen bis zum ſpaͤten Abend ge— 
ſchunden, habt Entbehrungen jeder Art ertragen, habt 
Eure Kinder ſelbſt geopfert — alles, um die Schatz 
kammern Eurer Herren zu fuͤllen, alles fuͤr ſie! Und 
jetzt, wo Ihr vor ſie hintretet und ſie erſucht, Eure 
Buͤrde etwas zu erleichtern, da hetzen ſie zum Dank fuͤr 
Eure Opfer ihre Bluthunde, die Polizei, auf Euch, um 
Euch mit Bleikugeln von der Unzufriedenheit zu kurieren. 
Sklaven, wir fragen und beſchwoͤren Euch bei Allem, was 
Euch heilig und wert iſt, raͤcht dieſen ſcheußlichen Mord, 
den man heute an Euren Bruͤdern beging und vielleicht 
morgen ſchon an Euch begehen wird. Arbeitendes Volk, 
Herkules, du biſt am Scheidewege angelangt. Wofuͤr 
entſcheideſt du dich? Fuͤr Sklaverei und Hunger, oder 
fuͤr Freiheit und Brot? Entſcheideſt du dich fuͤr das 
letztere, dann ſaͤume keinen Augenblick; dann, Volk, zu 
den Waffen! Vernichtung den menſchlichen Beſtien, die 


— 279 — 


ſich deine Herrſcher nennen! Ruͤckſichtsloſe Vernichtung 
ihnen — das muß deine Loſung ſein! Denk' der Helden, 
deren Blut den Weg zum Fortſchritt, zur Freiheit und 
zur Menſchlichkeit geduͤngt — und ſtrebe ihre wuͤrdig 
zu werden! 

Eure Bruͤder.“ 


Die Verſammlung auf dem Haymarket am Abend 
des 4. Mai iſt eine ſo ordentliche, daß der Buͤgermeiſter 
der Stadt, der mit der Abſicht gekommen war, die Ver— 
ſammlung beim erſten Anzeichen von Unordnung zu 
ſchließen, dem Polizeikapitaͤn bedeutet, er moͤge ſeine 
Leute nach Hauſe ſchicken. 

Der Wagen, von welchem herunter die Redner 
ſprechen, ſteht in einer der großen Straßen, die auf 
den Heumarkt münden. Einige tauſend Menſchen ums 
geben ihn, die ruhig erſt den Worten des Verfaſſers des 
Manifeſtes, dann dem ausgedehnten Vortrag eines eng⸗ 
liſchen Leaders uͤber die Achtſtundenbewegung folgen; es 
ſind viele Details in ihnen, die das Verhaͤltnis des 
Kapitals zur Arbeit betreffen. 


Ein dritter Redner ſpricht ebenfalls engliſch. 


Am Himmel ſteigen Wolken auf, die mit Regen 
drohen, und der groͤßte Teil der Zuhoͤrer verlaͤuft ſich. 
Da macht, als der letzte Redner ſchließen will, die Polizei 
in einer Staͤrke von hundert Mann einen geſchloſſenen 
Angriff auf die noch Zuruͤckgebliebenen. In dieſem Augen— 
blick faͤllt, von unſichtbarer Hand geſchleudert, eine Bombe 
in die Reihen der Angreifer. Sie tötet auf der Stelle 
einen derſelben, verwundet ſechs andere toͤdlich, verletzt 


— 280 — 


eine große Anzahl, etwa fuͤnfzig. Unter moͤrderiſchem Feuer 
der Polizei fluͤchten ſich die Reſte der Verſammlung in 
die Nebenſtraßen 

In Chicago herrſcht der Wahnſinn der Furcht. Keiner 
unter den Gegnern ſieht in dem Bombenwurf die Selbſt⸗ 
verteidigung eines zur Verzweiflung Getriebenen. Und 
waͤhrend in den Arbeiterkreiſen die falſche Annahme um 
ſich wuchert, es ſei die berechnete Tat eines Polizeiagenten, 
die dem bedrohten und ſchreckbebenden Kapital ermoͤglichen 
ſollte, einen toͤdlichen Schlag gegen die Achtſtundenbe— 
wegung zu fuͤhren, bearbeitet die im Solde dieſes Kapitals 
ſtehende Preſſe die öffentliche Meinung mit ungeheuer— 
lichen Geruͤchten von blutigen Verſchwoͤrungen gegen „Recht 
und Geſetz“, mit der Wiedergabe von aufreizenden 
Stellen aus Zeitungsartikeln und Reden, waͤhrend ſie 
ſelbſt als das beſte Mittel, den Hunger der Tramps zu 
ſtillen, Blei und Kugeln, und fuͤr die Arbeitsloſen die 
Miſchung von Arſenik in ihre Mahlzeiten, um ſie los zu 
werden, empfohlen hatte 

Die drei Redner des Abends werden verhaftet. Eben— 
ſo vier weitere bekannte Perſoͤnlichkeiten aus der Bewegung; 
ein achter, der Herausgeber des engliſchen Arbeiterblattes, 
des „Alarm“, ein Amerikaner, ſtellt ſich ſpaͤter freiwillig. . . 
Von den vielen, welche eingezogen und verhoͤrt waren, 
werden dieſe acht zuruͤckbehalten und vor die Schranken 
des Gerichts gefordert. 

So ſtanden die Tatſachen der Vorgeſchichte vor Aubans 
Augen: eine Schlacht war geſchlagen worden in dem großen 
Kriege zwiſchen Kapital und Arbeit, und die Sieger ſetzten 
ſich nun zu Gericht uͤber ihre Gefangenen. 


— 281 — 


Dem Kampfe aber war fuͤr geraume Zeit ein jaͤhes: 
Halt! — geboten. 

Der zweite Akt der Tragoͤdie beginnt: der Prozeß. 

Vor Aubans Augen hebt ſich langſam der Vorhang 
von dem Prozeß, wie er ihn verfolgt hatte in allen ſeinen 
Stadien nach den zahlloſen Berichten der Zeitungen, wie 
er ihn kannte aus den Reden der Verurteilten, und wie 
er ihn heute wieder durchgearbeitet nach den Auszuͤgen 
der Akten, die dem Supreme Court von Illinois über: 
geben waren. 

Es war in der Tat eine muͤhſame Arbeit geweſen, 
der er den heutigen Tag gewidmet. Doppelt muͤhſam 
fuͤr ihn in der fremden, der ſeinen ſo fremden Sprache. 
Aber er wollte noch einmal und zum letztenmal pruͤfen, 
ob die Gegner wenigſtens den Schein des Rechtes auf 
ihrer Seite hatten. 

Auch von dieſem Standpunkte aus iſt die Verurteilung 
der Angeklagten nichts als ein Mord. War wirklich 
eine Verſchwoͤrung im Werk geweſen, dahin gerichtet, die 
naͤchſten Attacken der Polizei mit Bombenwuͤrfen zu er— 
widern, ſo ſtand jedenfalls die individuelle Tat des 4. Mai 
in keiner Beziehung mit ihr. Fuͤr niemand kam die 
Torheit derſelben uͤberraſchender, als fuͤr die, welche unter 
ihren Folgen fo furchtbar leiden follten . .. 

Zunaͤchſt iſt die Zuſammenſetzung der Jury eine will: 
kuͤrliche: wenn auch etwa taufend Bürger der Stadt ver— 
nommen werden, ſo ſind es doch nur ſolche, deren ein— 
geſtandene Voreingenommenheit gegen die Bewegung des 
Sozialismus die Verteidiger der Angeklagten zur Ab— 
lehnung zwingt, bis ſie ſich genoͤtigt ſehen, Maͤnner 


— 282 — 


anzunehmen, die ſich nach eigenem Geſtaͤndnis zum Teil 
bereits ein Urteil gebildet haben, ehe noch die Unter⸗ 
ſuchungen begonnen. Von dem großen Arbeiterbezirk 
Chicagos, welcher der ganzen Bevoͤlkerungszahl der Stadt 
von dreiviertel Millionen Menſchen allein mit 150000 
Einwohnern gegenuͤberſteht, kommen auf jene tauſend 
Vernommenen nur zehn; und dieſe zehn leben dazu noch 
in naͤchſter Naͤhe der Polizeiſtation. Der Staat verwirft 
die meiſten von ihnen; derer, die er annimmt, iſt er 
im voraus ſicher. Das iſt die Jury, in deren Haͤnde 
die Entſcheidung über Leben und Tod gelegt wird! ... 
Immer findet fich die mit Anmaßung gepaarte Dumm⸗ 
heit bereit, eine Rolle der Laͤcherlichkeit und der Ver: 
aͤchtlichkeit zu ſpielen; furchtbar wird ſie, wenn ihr, wie 
hier, die Brutalitaͤt der Gewalt ſich beigeſellt — dann 
wehe jedem, der ihr in die Hände fällt! ... 

Die uͤbrigen Vorarbeiten beſtehen in der Inhaftnahme 
und Bearbeitung einer uͤbergroßen Anzahl von Perſonen 
aus der arbeitenden Klaſſe — keine Brutalitaͤt iſt dem 
Polizeihauptmann, einem eitlen Streber gewoͤhnlichſter 
Art, zu brutal, keine Hinterliſt zu niedrig, um aus ihnen 
herauszulocken, in fie hineinzulegen, was er wiſſen will: 
daß eine Verſchwoͤrung beſtanden hat. Er nimmt ge⸗ 
fangen, wen er will; er verlängert, verkuͤrzt die Haft 
nach Gutduͤnken; er behandelt ſeine Opfer, wie er will 
— niemand hindert ihn. Kein Kaiſer herrſchte je ſouve— 
raͤner, als die aufgeblaͤhte Winzigkeit dieſes brutalen 
Strebers. 

Gegen Ende des Juli ſind auch die Vorarbeiten be— 
endet. Der Staatsanwalt ſtellt ſeine Anklage auf, die 


I 


— 283 — 


auf Verſchwoͤrung und Mord lautet. Der rieſige Prozeß, 
welcher Mitte Juni mit Zuſammenſetzung der Jury ſeinen 
Anfang genommen, tritt damit in ſein zweites Stadium. 
Einen Tag ſpaͤter beginnen die Vernehmungen der Zeugen 
unter beiſpielloſem Zudrang des Publikums, der unver— 
mindert bleibt, ſo lange ſie dauern. 

Der Staat hat ſehr verſchiedene Zeugen. Die einen 
ſind vor die Entſcheidung geſtellt, mitangeklagt zu werden 
oder gegen die Angeklagten auszuſagen. Sie und ihre 
Familien haben von der Polizei Unterſtuͤtzungen erhalten 
und lange Unterredungen mit ihr gepflogen. Selbſt dar⸗ 
aufhin find fie nicht imftande, mehr zu ſagen, als daß 
Bomben verfertigt und verteilt worden ſind, aber ſie 
muͤſſen hinzufuͤgen, daß die Verteilung nicht zum Zwecke 
der Benutzung auf dem Haymarket-Meeting geſchah. 

Ein anderer Hauptſtaatszeuge iſt ein notorifcher Lügner, 
von uͤbelſtem Rufe bei allen, die ihn kennen. Seine 
Ausſagen fallen am meiſten ins Gewicht. Auch er hat 
Geld von der Polizei erhalten. Er hat alles geſehen: 
wer die Bombe warf und wer ſie entzuͤndete; er weiß, 
wer abweſend war und wer anweſend; nur von den ge— 
haltenen Reden hat er nichts gehoͤrt. Und er kennt die 
ganze Verſchwoͤrung in allen ihren Einzelheiten .. 

Alle dieſe Staatszeugen haben ſich untereinander 
widerſprochen — aber man breitet die blutigen Kleider 
der getöteten Poliziſten vor der Jury aus; der eine und 
der andere der Angeklagten hat nie eine Dynamitbombe 
geſehen — aber der Staatsanwalt verlieſt alberne Stellen 
aus dem gewiſſenloſen Buche eines profeſſionellen Re— 
volutionaͤrs uͤber „revolutionaͤre Kriegskunſt“; einige der 


— 284 — / 


Beſchuldigten haben in gar keinem Verkehr miteinander 
geftanden, kannten ſich kaum — aber die Geſchworenen 
werden mit Auszuͤgen aus Reden und Zeitungsartikeln 
uͤberſchuͤttet, welche die Erregung und die Leidenſchaft 
der Stunde geboren und die oft weit zurüchiegen . .. 

Denn: „Die Anarchie iſt vor Gericht“. Indem dieſe 
acht Maͤnner geopfert werden, ſoll ein vernichtender Schlag 
gegen die ganze Bewegung gefuͤhrt werden, durch den 
man ſie auf lange Zeit hinaus zu laͤhmen gedenkt: 
Bourgeoiſie gegen Proletariat, Klaſſe gegen Klaſſe! 

Die Verteidiger der Angeklagten tun ihr moͤglichſtes, 
die Opfer den Klauen der Gewalt zu entreißen. Aber 
indem fie gezwungen find, ſich auf den Boden des Geg⸗ 
ners zu begeben, um ihn zu bekaͤmpfen, auf das Terrain, 
welches wie zum Hohn das „allgemeine Recht“ genannt 
wird, muͤſſen ſie notwendigerweiſe unterliegen. Und ſie 
unterliegen. 

Gegen Ende des Auguſt faͤllt das Urteil aus dem 
Munde der Jury, das ſieben Männer dem Tode über: 
liefert, bevor der Tod ſelbſt nach ihnen verlangt. 

So iſt endlich das entſetzliche Narrenſchauſpiel dieſes 
Prozeſſes, welches den vierten Teil eines Jahres fuͤr ſich 
in Anſpruch genommen, beendet. — Ein neuer Prozeß, 
dringend verlangt, wird abgelehnt. 


Vor dem Richter halten die Angeklagten ihre Reden, 
dieſe beruͤhmt gewordenen Reden, aus denen die Leiden, 
die Klagen, die Wuͤnſche, die ganze Verzweiflung und 
die ganze Hoffnung, alle Erwartung und aller Trotz des 
Volkes in allen Tönen des empoͤrten Herzens jo er— 


a 


greifend, fo fühn, ſo einfach und ſo leidenſchaftlich, To 
ſtuͤrmiſch und — fo unklar ſprechen . 

Noch ein volles Jahr vergeht, ehe der Schlaͤchter Staat 
feine Armel aufſtreifen kann, um mit feinen unerſaͤtt— 
lichen Haͤnden auch dieſe Opfer zu erwuͤrgen. Und faſt 
ſchien es anders kommen zu wollen. Denn waͤhrend 
von den Arbeitern willig alle noͤtigen Opfer gebracht 
werden, um alles noch moͤgliche zu ermoͤglichen, bereitet 
ſich in weiteren Kreiſen ein Umſchwung der Gefuͤhle vor 
und die Überzeugung von der Unſchuld der Verurteilten 
tritt an die Stelle der eingeſchuͤchterten Furcht und die 
des kuͤnſtlich erzeugten Haſſes. 

Die Wetterfahne der ‚öffentlichen Meinung‘ beginnt 
ſich zu drehen. 

Dennoch beſtaͤtigt der Supreme Court von Illinois, 
welchem im Maͤrz des folgenden Jahres der Fall zur 
neuen Pruͤfung uͤbergeben iſt, im September das Urteil. 

Und ebenſo das Bundesgericht in Waſhington. 

Der Tag der Ermordung ſteht vor der Tuͤr. 

In den Haͤnden eines einzigen Mannes nur liegt 
jetzt noch die Macht, die fallende Hand des Todes auf— 


zuhalten: es iſt der Gouverneur von Illinois. Ihm ſteht 


das Recht der Begnadigung zu. 

Drei der Verurteilten reichen ein Schreiben ein, in 
dem ſie die Anklage als ebenſo falſch wie abſurd be— 
zeichnen, aber bedauern, der Gewalt das Wort geredet 
zu haben; die uͤbrigen vier weiſen in Briefen voll Stolz, 
Mut und Verachtung die Begnadigung fuͤr ein Ver— 
brechen zuruͤck, an welchem fie unfchuldig find, Sie vers 


— 286 — 


langen „die Freiheit oder den Tod“. In dieſen Briefen 
ſchreibt der eine: 5 

„— — Die Geſellſchaft mag eine Anzahl der Anhänger 
des Fortſchritts, die unintereſſiert den Arbeitern gedient 
haben, hängen, aber ihr Blut wird Wunder wirken. Es 
wird den Niedergang der modernen Geſellſchaft und die 
Geburt einer neuen Ara der Ziviliſation beſchleunigen“ 

Der andere: 

„— Die Erfahrung, die ich während, des 15 jährigen 
Aufenthaltes in dieſem Lande in bezug auf die Wahl und 
die Verwaltung unſerer oͤffentlichen Amter, die total von 
Korruption zerfreſſen ſind, gemacht habe, haben mir jeden 
Glauben an die Exiſtenz gleicher Rechte fuͤr Arm und 
Reich genommen, und die Handlungsweiſe der oͤffentlichen 
Beamten, der Polizei und der Miliz haben den feſten 
Glauben in mir hervorgerufen, daß dieſer Stand der 
Dinge nicht lange weiter beſtehen kann.“ 

Und der dritte, nachdem er dem Gouverneur die Wahl 
gelaſſen hat, ‚ein Diener des Volkes“ oder ‚ein Werk⸗ 
zeug der Monopoliften‘ zu fein: 

„— Ihre Entſcheidung in dieſem Falle wird nicht 
allein mich, ſondern Sie ſelbſt, und die, welche Sie ver: 
treten, richten ...“ 

So druͤcken ſie ſich ſelbſt die Maͤrtyrerkrone tiefer 
in die trogigen Stirnen. 

Von allen Seiten wird der Gouverneur beſtuͤrmt. 
Auf hundert und aberhundert Verſammlungen werden 
hundert und aberhundert Reſolutionen gefaßt, die gegen 
die Verurteilung proteſtieren. In allen Teilen der Welt 


— 287 — 


erſchallen die Rufe der Sympathie, der Entruͤſtung, die 
Rufe nach Auffchub, nach Begnadigung .. . nur in Chicago 
ſelbſt ſchließt die Hand der Gewalt den Mund der Be— 
voͤlkerung mit brutaler Wucht. 

Nur bei dreien wird der Tod zu lebendigem Be— 
graͤbnis verwandelt; fuͤnf ſollen ſterben. 

Da, im letzten Augenblick, als die Wogen der oͤffent⸗ 
lichen Teilnahme den geplanten Mord unmoͤglich zu 
machen drohen, werden in der Zelle des einen Ver— 
urteilten ploͤtzlich Bomben ‚gefunden‘. Die feile Preſſe 
tut das ihre. Sie laͤßt ununterſucht, wie Bomben anders 
als mit dem Willen der Polizei dahin gebracht werden 
konnten, wo ſie zu ſo gelegener Zeit entdeckt wurden — 
fie läßt von neuem ihre Rufe der Angſt um die ‚ges 
faͤhrdete oͤffentliche Ordnung“ ertoͤnen, und fabelhafte 
Geruͤchte von blutigen Plaͤnen, das Gefaͤngnis, die ganze 
Stadt in die Luft zu ſprengen, erzielen ihre einſchuͤchternden 
Wirkungen. Die Woge der Sympathie weicht zuruͤck ... 

Noch eine Szene: vor dem Manne, in deſſen Haͤnde 
die Gewalt, die Macht gegeben ſind, liegen weinende 
Frauen. Sie umfaſſen ſeine Knie: eine arme Mutter 
bittet um das Leben ihres Sohnes; eine Frau, die dem 
geliebten Manne nur durch die Gitterſtaͤbe des Gefaͤng— 
niſſes die Haͤnde zum Bunde reichen durfte, verlangt 
nach Gerechtigkeit; eine verlaſſene Gattin weiſt auf ihre 
zitternden Kinder, da die Worte ihr verſagen — aber 
nichts vermag das ſeelenloſe Bild von Stein zu rühren, 
in deſſen Herzen nur die Ode der Armlichkeit, in deſſen 
Hirn nur das Vorurteil der Gewoͤhnlichkeit herrſcht. 

Schaudernd wendet ſich die Freiheit ab. 


— 288 — 


Der Tragddie zweiter Akt ift zu Ende. Über die 
Todesqualen von achtzehn Monaten rollt endlich der 
ſchwarze Vorhang der Vergangenheit... 


Auban erhob ſich und ſchritt auf und ab, die Haͤnde 
uͤber den Ruͤcken gekreuzt. Es war dunkel geworden. 
Das Feuer erloſch. 

Es war in Gedanken verſunken. Das Raſcheln von 
Papier ſchreckte ihn auf: die Abendzeitung wurde durch 
die Tuͤrſpalte geſchoben. Er buͤckte ſich nieder und riß 
ſie haſtig an ſich. 

Tod oder Leben — 2 — 

Ein Schrei des Entſetzens rang ſich von ſeinen Lippen. 
Bei dem Schein des ſterbenden Feuers hatte er ein kurzes 
Telegramm durchflogen: „Special Edition — 6 Uhr 
— Chicago, 10. November — Schrecklicher Selbſtmord — 
der eine der Verurteilten — ſoeben mit einer Bombe — 
in ſeiner Zelle den Kopf zerſchmettert — Unterkiefer 
völlig fortgeriſſen —“ 

Die Luft ſeines Zimmers legte ſich ſchwer auf Auban. 
Er glaubte zu erſticken. Hinaus! — hinaus! — Haſtig 
ergriff er Hut und Stock und eilte fort. 


Als er nach einer Stunde heimkehrte, fand er am 
Kamin, die qualmende Pfeife im Munde, die Zeitung 
in der einen, den Schuͤrhaken, mit welchem er das Feuer 
zu neuer Glut ſtocherte, in der andern Hand, Dr. Hurt. 
Er war uͤberraſcht. Es war das erſtemal ſeit dem Tode 

* 


I EEE EEE ZEN 


— 289 — 


ſeiner Frau, daß jener ihn zu einer anderen Zeit als 
an den Sonntagnachmittagen beſuchte. 

— Stoͤre ich Sie, Auban? — Hatte einen Kranken⸗ 
beſuch in der Naͤhe, dachte, es ſei gut, meine Fuͤße zu 
waͤrmen und ein vernuͤnftiges Wort zu reden in dieſen 
Tagen, wo die Menſchen ſich wieder einmal gebaͤrden, 
als ginge die Welt unter... 

Auban druͤckte ihm kraͤftig die Hand. 

— Sie haͤtten nichts Beſſeres tun koͤnnen, Doktor, 
ſagte er. Er ſprach jedes Wort klar und deutlich, aber 
ſeine Stimme war voͤllig klanglos. Dr. Hurt ſah ihm 
zu, wie er die Lampe entzuͤndete, Waſſer kochen ließ und 
Whiskyglaͤſer und Tabak heranſchob. 

Dann ſaßen ſie ſich gegenuͤber, die Fuͤße der Waͤrme 
entgegengeſtreckt. 

Keiner von beiden wollte offenbar das Geſpraͤch be— 
ginnen. 

Endlich zeigte Auban auf die Zeitung, welche 
Dr. Hurt in der Hand hielt und fragte: „Haben Sie 
geleſen?“ 

Hurt nickte ernſt. 

Aber als er in Aubans Geſicht ſah, wie blaß und 
entſtellt es war von niedergezwungenen Schmerzen, ſagte 
er beſorgt: 

— Wie ſehen Sie aus! 

Auban winkte abwehrend mit der Hand. Dann aber 
neigte er ſich vornuͤber und vergrub ſein Geſicht in beiden 
Haͤnden. 


— Ich bin durch eine Nacht von Wahn gegangen! 
VII 19 


— 290 — 


— ſagte er langſam und leiſe, den Vers eines modernen 
Dichters zitierend ... 

Dr. Hurt ſprang auf und indem er zum erſtenmal 
die Maske ſeiner eiſigen Zuruͤckhaltung fallen ließ, legte 
er die Hand auf Aubans Schulter und ſagte: 

— Auban, mein Freund, nehmen Sie es nicht ſo ſchwer! 
— Es mußte fo kommen, über kurz oder über lang... 

— Was verlangen Sie? fuhr er dann ungeduldig 
werdend fort, — was verlangen Sie von den Regierungen? 
— Daß ſie die Haͤnde in den Schoß legen und ruhig 
zuſehen, wie die Flut der Bewegung ſie verſchlingt? 
— Nein, Sie, der Sie gleich mir wiſſen, daß Recht 
nichts anderes iſt als Gewalt, und der Kampf des Lebens 
nichts anderes als der Trieb nach dieſer Gewalt, nein, 
Sie koͤnnen in dieſem Ereignis von Chicago nichts ſehen 
als die traurige Epiſode eines gemeinen Kampfes, den 
Ihr Verſtand begreifen muß als eine Notwendigkeit. 

Auban ſah den Sprecher an. Seine Augen loderten 
und ſeine Lippen bebten. 

— Aber ich habe einen perſoͤnlichen Abſcheu gegen 
alle Feigheit. Und dieſe kaltbluͤtige Ermordung iſt eine 
Feigheit, wie ich mir ſie groͤßer und widerwaͤrtiger nicht 
denken kann! — Welcher Mut — die Toren hinter, 
die Vorurteile neben und die ‚göttliche Einwilligung“ 
uͤber ſich zu haben, und zu morden? — Welche Feigheit, 
eine Schlacht ſchlagen zu laſſen! — Nicht Mann gegen 
Mann zu ſtehen, ſondern ſich zu verſtecken hinter dem 
Talar des Geſetzes, den Bajonetten der Soldaten, den 
Faͤuſten roher Knechte — ſtupiden Tieren, die keinen 
andern Willen haben, als den ihrer Herren! — Welche 


— 291 — 


Feigheit, ſage ich, die Dummheit in ihrer Mehrheit für 
ſich zu haben und dann zu ſagen, ich ſei im Recht!! — 
Gibt es wohl eine groͤßere? — 

Da ſein Gaſt keine Antwort gab, fuhr er fort: 

— Es gibt fuͤr mich nur eine wahrhaft vornehme 
und anſtaͤndige Geſinnung: die paſſive; und nur eine 
Betaͤtigung, deren Erfolge ich groß nenne: die der eigenen 
Kraft. Meine Achtung fuͤr alle jene, die aus ſich ſelbſt 
geworden find, mit ſich ſelbſt ſtehen und fallen, iſt un= 
begrenzt; aber ebenſo unbegrenzt iſt mein Abſcheu gegen 
jene, welche die Torheit auf die Schultern hebt, ſie heute 
zu erhoͤhen, um ſie morgen in ihr Nichts zuruͤckfallen zu 
laſſen. 

— Ja, es wird alles zuſammengeworfen, das wahre 
und das falſche Verdienſt, ſagte Dr. Hurt. 

— Warum gibt es noch Herrſcher auf Thronen? 
— Weil es noch Untertanen gibt. — Woher dieſes ſoziale 
Elend? — Doch nicht, weil die einen ſich erhoͤhen, ſondern 
weil ſich die andern entaͤußern. — Wir leben unter dem 
Fluche einer völlig unnatuͤrlichen Idee: der chriſtlichen. 
Wir haben die Außerlichkeiten der Religionen zum Teil 
abgeſchuͤttelt. Aber von dem Segen, haͤtten wir die Idee 
der Religion uͤber Bord geworfen, von dem friſchen 
Wind, der dann unſere Segel ſchwellen muͤßte, iſt noch 
wenig zu ſpuͤren. — Glauben Sie mir, Doktor, zwiſchen 
einem Bourgeois und einem Sozialdemokraten herrſcht 
eine innerliche Verwandtſchaft. Aber nichts fuͤhrt von 
beiden zu mir. Ein Abgrund liegt zwiſchen uns — 
zwiſchen den Bekennern des Staates und denen der 
Freiheit! 

19* 


— 292 — 


— Sie denken wie die Natur, ſagte der andere nach⸗ 
denklich, — und daher iſt wohl die Geſundheit und die 
Wahrheit auf Ihrer Seite. 

Und zuruͤckkommend auf das verlaſſene Geſpraͤch, 
fragte er: 

— Und wurde Ihr Abſcheu nicht geweckt, als Sie 
von dem Bombenwurf hoͤrten? 

— Nein. Ich ſah hier nur eine Tat der berechtigten 
Notwehr. Auf ihre eigene Verantwortung machte die 
Polizei einen Angriff auf eine friedliche Verſammlung. 
Ihre Brutalitaͤt wurde diesmal beſtraft, waͤhrend ſie fuͤr 
gewoͤhnlich frei ausgeht. — Ich beklage die Tat, nicht 
nur als voͤllig zwecklos, ſondern auch als ſchaͤdlich. Aber 
mehr noch beklage ich jene, welche nicht einſehen wollen, 
daß ſolche Taten immer nur die Ausbruͤche einer Ver: 
zweiflung ſein koͤnnen, die nichts mehr zu verlieren hat, 
da man ihr alles genommen. ; 

— Und jene, welche immer nur andere zur Anz 
wendung von Gewalt zu reizen ſuchen, ohne ſelbſt je 
dabei zu ſein, wie lautet Ihr Urteil uͤber dieſe? 

— Daß es jaͤmmerliche Feiglinge ſind, und daß das 
Blatt, das vor einiger Zeit ſchrieb, man möge doch endlich 
einmal dem Manne, der von New Vork aus unablaͤſſig nach 
dem Kopf eines europaͤiſchen Fuͤrſten ſchrie, ein Billett nach 
Europa kaufen, um ihm ſo die Gelegenheit zu geben, ihn 
ſich ſelbſt dort zu holen, gar nicht im Unrecht war ... 

Dr. Hurt hatte ſich wieder geſetzt und eine ernſte 
Pauſe entſtand. Sie ſprachen uͤber anderes. Dann ſagte 
Hurt wieder: 

— Ich fange an, dieſes Volk zu haſſen. Es iſt wie 


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ein Moloch, der ſeine Arme geoͤffnet hat und nun Opfer 
um Opfer verſchlingt. Dieſes große Kind, das ſo lange 
mit Ruten gezuͤchtigt wurde, wird ploͤtzlich verhaͤtſchelt 
bis zur Laͤcherlichkeit. Es wird mannbar und erſtaunt 
uͤber die Kraft ſeiner eigenen Glieder. Wenn es ſich 
derſelben ganz bewußt geworden ſein wird, wird es alles 
zertrampeln, was ihm unter die Fuͤße kommt. Es hat 
der Gewalt all ihre Attituͤden bereits abgelauſcht: die 
laͤcherliche Unfehlbarkeit, den duͤnkelhaften Hochmut, die 
bornierte Selbſtgefaͤlligkeit. Ich ſage Ihnen, Auban, die 
Zeit iſt nicht mehr fern, wo es fuͤr jeden ſtolzen, freien 
und unabhaͤngigen Geiſt eine Unmoͤglichkeit ſein wird, 
ſich noch Sozialiſt zu nennen, da man ihn ſonſt in eine 
Linie ſtellen koͤnnte mit jenen elenden Kriechern und Er— 
folgsanbetern, die jetzt ſchon vor jedem Arbeiter auf den 
Knieen liegen und ihm den Schmutz von den Fingern 
lecken, nur weil er ein Arbeiter iſt! 

Nun war Dr. Hurt der Erregte, waͤhrend Auban in 
eine bruͤtende Traurigkeit verſunken ſchien, die durch das, 
was er hoͤrte, nur noch vermehrt wurde, da er ihm bei— 
ſtimmen mußte. 

— Jede Zeit hat ihre Luͤge, fuhr Dr. Hurt fort, 
— die große Lüge der unſeren iſt die Politik, wie die 
der kommenden das ‚Volk' ſein wird. Von ihrem reißen⸗ 
den Strom wird alles ergriffen, was klein, ſchwaͤchlich 
und unſelbſtaͤndig iſt. Alle Menſchen von ‚heute‘. Dort 
im Strom kaͤmpfen ſie ihre kleinen, wertloſen, alltaͤglichen 
Kaͤmpfe. — Die Menſchen aber von morgen, und zu 
ihnen gehoͤren wir, ſie bleiben am Ufer, oder ſie erreichen 
es wieder, nachdem der Strom ſie eine Zeitlang zu ver— 


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ſchlingen drohte. Und dort, am Ufer der Erkenntnis, 
ſtehen wir, und darum wollen wir die Tagesereigniſſe 
unſerer Zeit, deren Zeugen wir ſind, an uns voruͤbergleiten 
laſſen. Nicht wahr? — 

Auban war ergriffen. Zum erſtenmal in dieſer 
langen Zeit, die er ihn kannte, tat dieſer ſeltſame und 
ſeltene Menſch ſein Herz vor ihm auf und zeigte ihm 
deſſen vernarbte Wunden. Was mußte auch er gelitten 
haben, bis er ſo feſt, ſo hart und ſo einſam geworden 
war? — 

— Wohl haben Sie recht! ſagte er. — Auch ich 
ſchwamm im Strome und auch ich ſtehe am Ufer. Und an 
meinen Fuͤßen und meinen Blicken treiben die blutenden 
Leichen von Chicago voruͤber. 

— Es ſind nicht die erſten und es werden nicht die 
letzten ſein. 

— Wohl haben Sie recht, ſagte Auban wieder. 
— Ich war mit unter denen, die im Strome kaͤmpften. 
Als ich zwanzig Jahr alt war, als ich nichts kannte 
von der Welt: die einen Menſchen in meinen Augen 
bewußte Suͤnder, die andern ſchuldloſe Engel waren, als 
mir die Folgen die Urſachen, und die Urſachen die Folgen 
zu ſein ſchienen — da haben ſie auf mich gehoͤrt, wenn 
ich zu ihnen ſprach. Wo ich den Mut dazu hernahm, 
vor Hunderten mit meinen Phraſen zu paradieren — ich 
weiß es heute nicht mehr. Ich war gefeit gegen alles: 
ich ſtand im Dienſte der Sache. Wie konnte ich da 
fehlen? — Aus dieſem Gedanken ſchoͤpfte ich meine ganze 
Kraft; nicht aus mir ſelbſt. Daher fo oft meine Unermuͤd⸗ 
lichkeit, mein unerſchuͤtterlicher Glaube, meine Gleichguͤltig⸗ 


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keit gegen mich ſelbſt. — Und je weiter ich mich von der 
Wirklichkeit entfernte, deſto naͤher kam ich meinen Hoͤrern. 
Und ging oft weiter, als ich wollte... 

— Das war auch der Weg der Fuͤhrer von Chieago: 
ſie wurden vorwaͤrts getrieben und konnten nicht zuruͤck. 
Sie mußten ſich ſelbſt uͤberbieten, um ſich behaupten zu 
koͤnnen. Es iſt dies das oft ſo tragiſche Geſchick aller 
derer, die den Maßſtab ihres Wertes bei andern ſuchen. 

— Mein Schickſal waͤre das ihre geweſen, ſprach 
Auban weiter. — uͤbrigens war ich nicht gluͤcklich. Ich 
glaube nicht, daß Selbſtaufopferung wirklich gluͤcklich 
machen kann. — Und ich haͤtte nicht ſo ſterben moͤgen — 
heute habe ich es wieder gefuͤhlt. Nein, ich will kaͤmpfen 
und ſiegen, ohne eine neue Wunde zu empfangen! 

— Viele werden ſagen, das ſei ſehr bequem ... 

— Moͤgen ſie es ſagen. Ich ſage: es iſt ſchwerer, 
als ſich ſelbſt hinzugeben, den Feinden zum Vergnuͤgen 
und den Freunden nicht zum Nutzen. — Und wollen Sie 
wiſſen was es war, das mich zu dieſer Erkenntnis brachte? 
Ein Laͤcheln, ein hoͤhniſches, eiſiges Laͤcheln. Es war, als 
ich meine Rede vor den Richtern hielt. Ich ſchleuderte 
ihnen Wahrheiten zu, welche die einen verbluͤfften, die 
andern zur Wut brachten. Ich ſprach von meinen 
Menſchenrechten und von ihren Rechten der Gewalt — 
kurz es war eine pomphafte, leidenſchaftliche und ganz 
ungewöhnliche Rede, ohne alle Politik und natürlich auch 
ohne irgendeinen Zweck, die kindiſche Rede eines idealen 
Menſchen. Es iſt immer laͤcherlich, mit ethiſchen Forde— 
rungen an Menſchen heranzutreten, beſonders an ſolche 
halbwilde, unverſtaͤndige, dumme Menſchen, die aus 


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Paragraphen und Formeln alle Weisheit des Lebens 
ſchoͤpfen. Aber das empfand ich damals noch nicht. 
Waͤhrend ich indeſſen ſo ſprach — ich ſprach eigentlich 
mehr fuͤr die, welche mich nicht hoͤrten — ſah ich auf 
dem klugen Geſicht eines Beamten ein Laͤcheln, ein 
fpöttifches, mitleidiges, ſezierendes Lächeln, welches ſagte: 
Du Narr, was kuͤmmern wir uns um deine Worte, ſo 
lange ſie nicht Taten werden! — 

Doch nein, ich muß mich verbeſſern: ich ſah das 
Laͤcheln nicht, denn ich ſprach ganz unbekuͤmmert weiter. 
Erſt ſpaͤter im Gefaͤngnis kam es mir zum Bewußtſein, 
daß ich es empfunden hatte, und nun verfolgte es mich 
lange Zeit — ich ſehe es heute noch, wenn ich die Augen 
ſchließe! 

Durch die Mauerſpalten meines Gefaͤngniſſes grinſte 
es mich an. Es war ein Feind, den ich zu bezwingen 
hatte. Aber ich ſah, das war keiner, der ſich mit Worten 
in die Flucht ſchlagen ließ. Nur ein einziges Mittel gab 
es, ihn zu bannen: ſich ein gleiches Laͤcheln zu erwerben. 
Nur ihm gegenuͤber war jenes machtlos. Ich erwarb es 
mir. Ich hatte ja Zeit. Und alles erſchien mir veraͤndert, 
was ich erlebt und geſehen, unter dem Lichte dieſer neuen 
Betrachtungsweiſe. Ich ſehe die Menſchen, wie ſie ſind; 
die Welt, wie ſie iſt. Heute laͤchelt man nicht mehr 
uͤber mich. 

— Es war ſicherlich die groͤßte Tat Ihres Lebens, 
Auban, daß Sie die Kraft hatten, ſich loszureißen und 
auf eigene Füße zu ſtellen. — Aber die Kommuniften — 
ſollte man es fuͤr moͤglich halten, daß die meiſten ſich 
empoͤrt uͤber die Begnadigungsgeſuche von einzelnen der 


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Verurteilten ausſprechen?! — Darin einen Verrat, eine 
Erniedrigung zu ſehen, einen Wiſch zu unterſchreiben, 
mit dem ich mein Leben aus den Haͤnden meines Moͤrders 
retten kann! Tauſend ſolcher Fetzen würde ich unter: 
zeichnen und hinterher uͤber den Dummkopf lachen, der 
von mir ‚Ehrlichkeit‘ erwartet, während er mich durch 
Hinterliſt und Gewalt in ſeine Macht bekommt. Auban, 
dieſe Kommuniſten ſind Fanatiker, ſie ſind krank, ver⸗ 
worren, fie leiden an moraliſchen Hirngeſpinſten ... 

— Ich habe am letzten Sonntag geſagt, was ich zu 
ſagen hatte, ſagte Auban ruhig. 

— Und ohne allen Nutzen. Nein, dieſe Leute muͤſſen 
durch Erfahrung klug werden. Laſſen Sie ſie. 

— Die Erfahrung wird furchtbar ſein. Es iſt traurig 
fuͤr mich, zu ſehen, wie immer die ſich neue Leiden ſchaffen, 
welche ſchon ſo viel gelitten haben. 

Wieder glitt das Geſpraͤch ab und bewegte ſich 
waͤhrend der naͤchſten Stunde fern von Chicago. 

Der Doktor hatte das Zimmer mit Rauch gefuͤllt, 

3 den er in haſtigen, kurzen Stoͤßen aus feiner nie er— 
4 kaltenden Pfeife ſtieß. Der ſtrenge Ernſt des Gemaches 
+ war gemildert durch die Strahlen der Lampe und die 
4 Flammen des Feuers. Ein Hauch der Behaglichkeit fait 
= erfüllte es mit der ſpaͤter werdenden Stunde. 

— Kennen Sie das Maͤrchen von des Kaiſers neuen 
Kleidern? fragte Auban. — So iſt es auch mit dem Staat. 
Die meiſten Menſchen, ich zweifle nicht daran, find inner— 
lich davon uͤberzeugt, daß ſie weit beſſer ohne ihn fertig 
werden koͤnnten. Sie bezahlen widerwillig ihre Steuern, 
die ſie inſtinktiv als einen Raub an ihrer Arbeit empfinden. 


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Aber der Gedanke, „es muͤſſe fo fein, da es immer fo 
geweſen“, laͤßt ſie das erloͤſende Wort nicht ausſprechen: 
ſie ſchielen einer nach dem andern, zweifelnd und zaudernd. 
Es gehoͤrt aber die ganze Unbefangenheit der unverfaͤlſchten 
Natur dazu, um dieſes kuͤnſtliche Hemmnis, die Quelle 
all unſeres aͤußeren Elends, mit den Worten umzuſtoßen: 
Aber er hat ja gar nichts an! Das Ganze iſt ja ein 
kraſſer, offen zutage liegender Schwindel duͤmmſter Art! 
— Und dieſes Wort der Erloͤſung iſt gefunden, es heißt: 
Anarchie! — 

Auban ſprach weiter, da ſein Zuhoͤrer nachdenklich 
ſchwieg. 

— Oder nehmen wir das folgende Beiſpiel: Es iſt 
am Morgen einer Schlacht. Zwei Heere ſtehen ſich 
gegenuͤber, die man hierher zuſammengetrieben hat, damit 
ſie ſich gegenſeitig vernichten. In einer Stunde ſoll die 
Metzelei beginnen. — Wie viele von beiden Seiten, 
glauben Sie wohl, wenn dem Willen des Einzelnen die 
freie Wahl gelaſſen waͤre in dieſer Stunde, wuͤrden 
bleiben, um zu Moͤrdern zu werden; und wie viele 
wuͤrden die auferzwungenen Waffen fortwerfen und heim— 
kehren zu den friedlichen Beſchaͤftigungen ihres Lebens? 
— Alle wuͤrden umkehren, nicht wahr? Bleiben vielleicht 
nur der kleine Haufe, dem Krieg und Gewalt anerzogene 
Berufe ſind. Und doch handeln alle die andern gegen 
ihren Willen, ihre Vernunft, ihr beſſeres Wiſſen, weil 
es ihnen nicht klar geworden iſt. Sie müffen Denn 
der Fluch des Wahns — ein Etwas, ein Unfaßliches, 
ein Unverſtaͤndliches, Schreckliches treibt fie... Sagen 
Sie mir, Doktor, was das iſt, dieſes Grauenhafte? 


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— Gewohnheit, Dummheit und Feigheit, ſagte Hurt. 
— O, ich habe gar nichts gegen Kriege! Denken Sie 
das nicht! rief Auban, und er ſtieß mit den Haͤnden 
die Blaͤtter auf ſeinem Schreibtiſch zuſammen, damit 
jener nicht ſehen ſollte, wie erregt er wurde. — Nicht 
das geringſte. Raufbolde und Brutes hat es zu allen 
Zeiten gegeben. Aber moͤgen ſie allein unter ſich ihre 
Kaͤmpfe und Streitigkeiten ausfechten, und nicht andere, 
völlig unbeteiligte, am liebſten in Frieden lebende Menſchen 
zur Teilnahme an ihren Raufgelagen zwingen unter dem 
luͤgneriſchen Vorgeben, ihr eigenes Intereſſe erfordere 
es, im Namen des ‚heiligen Krieges für das Vater— 
land‘ und ähnlicher Schwindeleien ſich gegenſeitig dahin— 
zumorden! — Ich habe gar nichts gegen Kriege —, rief 
er noch einmal, — moͤgen ſie nur gefuͤhrt werden von 
denen allein, welche ſie wollen. Um ſo beſſer — geht 
aufeinander los, ihr brutalen Schlaͤchter, zerfleiſcht euch 
gegenſeitig, rottet Euch gegenſeitig aus, die Erde wird 
aufatmen, wenn ſie von Euch befreit iſt! — — 

— Einſtweilen aber ſitzen wir noch in den Kaͤfigen 
unſerer Staaten, kauernd in ihren Ecken, uns gegenſeitig 
bewachend und beobachtend, immer auf der Hut, 
druͤcken uns an den Gitterſtaͤben hin, knurren uns an, 
bis wir aufeinander losſtuͤrzen, weil der Raum uns er⸗ 
druͤckt und das Futter uns zu ungleich zufliegt, ſpottete 
der Doktor. 

Auban antwortete in gleichem Tone. 

— Das iſt der Kampf ums Daſein, mein Freund, 
der Staͤrkere zermalmt den Schwaͤcheren — ſo hat die 
Natur es gewollt! 


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— Ja, dieſe Phraſe, das Schlagwort einer unver: 
ſtandenen Wiſſenſchaft, kam ihnen zur gelegenen Zeit! 

— Mit ihr entſchuldigen ſie ihre gewaltſame Unter⸗ 
druͤckung und Einengung der Natur in die unnatuͤrlichen 
Grenzen einer ſtaatlichen Zwangsgemeinſchaft und unter 
die ſtupiden Geſetze, die ſie fuͤr unfehlbar halten und 
die ſie doch ſelbſt geſchaffen. Es iſt immer dasſelbe: 
die Arbeit kann konkurrieren ſo lange, bis ſie inmitten 
des von ihr geſchaffenen uberfluſſes verhungert; das 
Kapital bleibt der Konkurrenz enthoben. 

Bei Aubans Worten war Hurt wieder plotzlich ſehr 
erregt geworden. 

— Alles kann ich vertragen, nur nicht, daß die Wiſſen⸗ 
ſchaft, die klare, ſichere, unerbittliche Wiſſenſchaft, die un⸗ 
beſtechliche, von dieſen Schwindlern der Gewalt und des 
‚Beitehenden‘ ihren Dienſten nutzbar gemacht und in 
dieſer Weiſe verfaͤlſcht wird! rief er. 

Auban ſpottete weiter. 

— Und was fuͤr herrliche Exemplare der Gattung 
Menſch aus dieſem Kampf ums Dafein als die 
‚Stärfften‘ hervorgehen, nicht wahr? — Ein Beiſpiel. 
Da iſt einer von unſeren oberen Zehntauſend, Mitglied 
der jeunesse dorée: hoher Hut, Monocle, Schnabelſchuhe. 
Er ruͤhrt keine Hand. Aber ſein Kapital arbeitet fuͤr 
ihn. Es wirft ihm jaͤhrlich 1000 Pfund in den Schoß. 
Er iſt faul, dumm, intereſſenlos, mit dreißig Jahren ein 
Wrack. 

Da ſind andrerſeits hundert Arbeiter, junge Burſchen, 
tatkraͤftig, friſch, voll Mut und Willen, ihre Kraͤfte zu 
verwerten — ſie koͤnnen nicht, wie ſie wollen. Alles 


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iſt ihnen verſchloſſen. Sie erlahmen, werden muͤde, 
ſtumpf, ſie erliegen. Ihr Leben iſt, wenn ſie ſterben, 
nichts geweſen als Arbeit und Schlaf. Sie beendeten 
jene nur, um ſich zu dieſem niederzulegen; und ſie ſtanden 
von dieſem nur auf, um ſich zu jener zu begeben. 

Der eine hat die Mittel, um nicht zu arbeiten; die 
andern haben die Mittel nicht, um zu arbeiten. So 
ſaugt der Vampyr einen nach dem andern auf: er iſt 
das Produkt der vergeudeten Arbeit von hundert Men— 
ſchen. Ein krankes, unproduktives Leben hat hundert 
geſunde, produktive Leben ganz einfach vernichtet. Jenen 
hat das Nichtstun entnervt; dieſen die Überarbeit ent— 
kraͤftet. 

Was iſt das, he? — Kampf ums Daſein? Goͤttliche 
Weisheit? Ordnung der Natur? — 

Er machte einen Augenblick halt und ſah auf den 
Doktor, der maͤchtige Rauchwolken aus ſeiner Pfeife 
blies. Dann ſprach er weiter. 

— Oder auch — ein anderes Bild, gleich anmutend. 
Die ‚gnädige Frau.. Den Tag über ließt ſie Romane, 
oder redet ihren Dienſtboten' in die Arbeit, von der 
ſie nichts verſteht. Abends laͤßt ſie ſich auf den Ball 
fahren. Was ſie auf dem Leibe traͤgt, der Schmuck der 
Diamanten hat an und fuͤr ſich gar keinen Wert — 

— An und für ſich hat nichts Wert, unterbrach ihn 
Hurt. 

— Aber es repraͤſentiert ein Vermoͤgen an Wert, fuhr 
Auban unbekuͤmmert fort. 

Doch er wurde von neuem unterbrochen. 

— Ach, laſſen wir das, Auban! murrte Hurt. — So 


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lange die Arbeiter nicht vernuͤnftiger werden, ſind ſolche 
Exiſtenzen, und weit ſchlimmere noch, die unausbleibliche, 
ganz natuͤrliche Folge. 

Es war ſpaͤt geworden, die Atmoſphaͤre des Zimmers 
druͤckend und heiß. Das Feuer war muͤde. Hurt ſah 
nach der Uhr. Aber bevor er ſich erhob, brach ploͤtzlich 
und ungeſtuͤm, wie eine Flamme, die heimliche, ſchamhafte, 
heiße, faſt widerwillige Liebe dieſes eigentuͤmlichen Mannes 
zu allen Unterdruͤckten und Leidenden aus zornigen Worten 
hervor, die polternd von ſeinen Lippen fielen: 

— Dieſe Toren! Wollen ſie nie klug werden? — 
Bomben zu werfen, welcher Unfinn! — Um es den 
Regierungen nur ja recht leicht zu machen, ſie zu ver— 
nichten, nicht wahr? — Aber es ſcheint mir, daß dieſe 
Menſchen es darauf anlegen, ſich gegenſeitig in Opfern 
zu überbieten und nicht im Siegen, ſondern im Unter: 
liegen ihren Stolz ſuchen! Opfer uͤber Opfer! Nein, 
ich will nichts mehr damit zu tun haben, wenn ſie nicht 
klug werden wollen, ſo ſollen ſie es bleiben laſſen! 

Er war aufgeſtanden. In ſcheinbar leichtem Tone 
fuͤgte er, ſich gegen Auban wendend, deſſen truͤbe Blicke 
ſich nicht von dem Tiſche wenden wollten, auf welchem 
die zerknitterten Zeitungen und Blaͤtter wie eine ungeloͤſte 
Aufgabe lagen, hinzu: 

— Sie duͤrfen von mir nicht zu viel verlangen, Auban. 
Ich ſtehe jeden Tag an Totenbetten — was will das 
Leben weniger einzelner, die gewaltſam herausgeriſſen 
werden, bedeuten gegen jene Scharen, die niemand zaͤhlt 
und die keiner nennt, und die doch nur Opfer waren 
der anderen, obwohl ſie ſich nie zu wehren verſuchen! 


— 303 — 


Er reichte ihm die Hand. 

— Leſen Sie die Geſchichte. Schlagen Sie ſie auf, 
wo Sie wollen, uͤberall die Siegenden und uͤberall die 
Unterliegenden. Die Sache iſt immer dieſelbe geweſen, 
nur die Zahlen waren verſchieden. Ob ſie fallen: er— 
ſchoſſen auf dem Schlachtfelde, verhungert an der Straßen- 
ecke, erdroſſelt vom Galgen — bleibt es ſich nicht gleich? 
— Nicht zu fallen, zu ſiegen — dafuͤr ſind wir da! 

Auban konnte nicht antworten. Eine unruhige Angſt 
hatte ihn ergriffen vor der Nacht, die kam, in der er 
allein mit ſich bleiben ſollte. 

Hurt ſchickte ſich zu gehen an. Doch als er ſchon 
den Tuͤrgriff in der Hand hatte, wandte er ſich noch 
einmal zu Auban, trat auf ihn zu und ſagte: „ubrigens 
will ich Ihnen noch danken. Ich wollte es laͤngſt ſchon 
tun. F 

Sie wiſſen, ich bin ein alter Skeptiker. Ich glaube 
an nichts und alle Utopien ſind mir ein Graͤuel. An 
die Freiheit als ein Ideal glaube ich alſo nicht. Aber 
Sie, nun — Sie haben eine Art gehabt, mir die Freiheit 
als ein business klar zu machen, daß ich Ihnen ſagen 
will, falls Ihnen daran etwas liegt: in Ihrem Sinne 
bin ich ein Anarchiſt!“ 

Damit druͤckte er ihm kraͤftig die Hand und die Blicke 
der beiden Maͤnner begegneten ſich fuͤr einen kurzen Augen— 
blick: nun kannten Sie ſich. Kein Blutbund war es, 
den ſie miteinander ſchloſſen. Kein Verſprechen, das ſie 
band, gaben ſie ſich. Keine Verpflichtung gingen ſie ein 
gegeneinander. 

Aber ſie ſagten ſich mit dieſem Blicke: Wir wiſſen, 


„53 | 


was wir wollen. Vielleicht iſt die Stunde nicht allzu 
fern, wo wir uns ſtark genug fuͤhlen, der Gewalt Stand 
zu halten. Dann mag es ſein, daß wir zuſammenſtehen. 
Bis dahin: Wachſamkeit und Geduld! ... 


Auban war allein. Und mit einer ungeſtuͤmen Be⸗ 
wegung richtete er ſich empor und durchmaß wohl eine 
Stunde lang ſein Zimmer, waͤhrend ſein Feuer voͤllig 
erloſch. 

Als die Muͤdigkeit ihn ergriff, klang es in ſeinen 
Ohren wieder: Lies die Geſchichte! 

Er griff wahllos nach dem naͤchſten Bande und las 
die Nacht durch bis zum Morgengrauen. 

Er watete bis an die Knie durch das Blut der Ver: 
gangenheit. Er ſah das Entſtehen und Vergehen der 
Voͤlker. Er ſah die Verantwortlichkeit für ihr Leben auf 
die Schultern Einzelner gewaͤlzt, und er ſah dieſe Einzelnen 
unter ihr zuſammenbrechen, oder mit ihr ſpielen, wie 
das Kind mit dem Balle... 

Er ſah, wie die, welche das ‚Gute wollten“, das 
Schlechte ſchufen: den Irrtum. 

Er ſah, wie die, welche das Schlechte erftrebten‘, 
das Gute brachten: den Irrtum zerſtoͤrten. | 

Er ſah, daß alles, was geweſen war, nicht anders 
haͤtte ſein koͤnnen, eben, weil es ſo und nicht anders 
geweſen. Nicht zu trauern und zu fluchen galt es daher, 
ſondern zu erkennen. 

Erkannte Irrtuͤmer zu vermeiden — das war die 


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Loſung, das der Nutzen und der Segen der Geſchichte, 
das war, was ſie lehrte. a 

Auban las. Und uͤber den Truͤmmern von Voͤlkern 
vergaß er Chicago. 

Dann ſchloß der Schlaf ſeine Augen. Behutſam zog er 
das Buch zwiſchen ſeinen Fingern fort. Es glitt zur Erde. 

Nur das Licht brannte weiter. 

Schwere Traͤume bedraͤngten den Schlaͤfer. Unruhig 
hob und ſenkte ſich ſeine Bruſt und der ſonſt in dem 
ſcharfen, harten Zug um die Mundwinkel verborgene 
Schmerz war aus ſeinem Verſteck hervorgekrochen und 
lagerte jetzt auf den mageren Wangen. Die blaſſen Lippen 
waren leicht geoͤffnet. 

So ging die Nacht zu Ende, die gefuͤrchtete. 

Als Auban erwachte, war der Morgen gekommen. 
Er wuſch ſich und kleidete ſich um. 

Dann erſt griff er nach den Zeitungen. Er wußte, 
was er leſen wuͤrde. Als er ſah, wie ſeine Hand zitterte, 
welche das Blatt umſchlug, ging er noch einigemale auf 
und ab, bevor er begann. Er wollte ſtark ſein. 

Dann las er, ohne Haft, bleich, mit einer unheim— 
lichen Ruhe. Aber ſein Herz ſtand ſtill. 

Das war der letzte Akt der Tragoͤdie von Chicago: 
der Morgen des 11. November. 

Die Stadt iſt im Zuſtand der Belagerung: jedes 
öffentliche Gebäude iſt bewacht — man befürchtet alles, 
vor allem Brandlegung: das Militaͤr iſt zuſammenge— 
zogen, die Feuerwehr alarmiert; in den Abſteigequartieren 
wird jeder Ankommende bewacht; die Mitglieder der Jury, 


der Richter, der Staatsanwalt, die Haͤupter der Polizei 
vin 20 


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find unter Schutz geſtellt ... Die größeren Fabriken 
haben geſchloſſen ... Das Gefängnis iſt umgeben von 
einer undurchdringlichen Reihe von bewaffneten Poli— 
ziſten ... Ein Tumult entſteht: eine verzweifelnde Frau 
irrt mit ihren weinenden Kindern laͤngs der lebendigen 
Mauer hin und verſucht in wahnſinniger Angſt zu ihrem 
Manne zu gelangen, ehe es zu ſpaͤt iſt. Sie wird von 
rohen Haͤnden gefaßt und muß die ſchrecklichſten Stunden 
ihres Lebens zwiſchen den ſteinernen Waͤnden einer Zelle 
verbringen. 

Schweigen, das Schweigen der Furcht herrſcht wieder. 
In den umliegenden Straßen draͤngen ſich die Menſchen. 
Wo ſie ſich ſammeln, gehen ſie wieder auseinander. Sie 
find gelaͤhmt unter der Wucht dieſer Stunden ... 

Im Innern des Gefaͤngniſſes: 

Die Verurteilten ſind erwacht. Sie ſchreiben ihre 
letzten Briefe, ſie werden auch jetzt noch belaͤſtigt von 
der niedrigen Aufdringlichkeit eines Prieſters, den ſie von 
ſich weiſen, ſie nehmen ihre letzte Mahlzeit ein, ſie tauſchen 
durch die Entfernung ihrer Zellen letzte Worte der Freund— 
ſchaft und der Hoffnung miteinander aus, die der Sache 
gelten, fuͤr welche ſie ſterben; und was ſie bewegt, dafuͤr 
finden ſie Ausdruck in Strophen, die ihnen ihr Gedaͤchtnis 
gibt, und deren ungewohnter Schall droͤhnend und macht: 
voll die ſtarren Waͤnde entlang irrt: 


Ein Fluch dem Goͤtzen, zu dem wir gebeten — 
Der uns geaͤfft, gefoppt und genarrt — 


Ein Fluch dem Koͤnig, dem Koͤnig der Reichen, 
Der uns wie Hunde erſchießen läßt — 


ee re 


— 307 — 


Ein Fluch dem falſchen Vaterlande = 
Wo nur gedeihen Schmach und Schande 


Und: 
„Poor creature! Afraid of the darkness, 
Who groan at the anguish to come? 
How silent I go to my home! 
Cease your sorrowful bell — 
I am well — — — 


Und jenes unfterbliche Lied, in welches fie alle Vier 
einſtimmen, die Marſeillaiſe der Arbeit, der nach Be: 
freiung ringenden Arbeit — —: 

i „Von uns wird einſt die Nachwelt zeugen! 
Schon blickt auf uns die Gegenwart ...“ 

Ja, die Gegenwart, welche bereit war, einer beſſeren 
Zukunft die Wege zu ebnen, nicht die, welche in ohn⸗ 
maͤchtiger Blindheit eine begrabene Vergangenheit wieder 
erſtehen laſſen wollte, hatte ihre Blicke in dieſer Stunde 
auf fie gerichtet, voll Schmerz und Trauer .. 

Der Sheriff erſcheint. Die Verurteilten umarmen 
ſich, druͤcken ſich die Haͤnde, die gefeſſelt werden; die Hin⸗ 


richtungsbefehle, tote Worte, mit denen die Gewalt ihren 


Mord zu beſchoͤnigen ſucht, werden verleſen. 
Der Gang zum Tode wird angetreten. l 
Sie durchſchreiten die Tuͤr, welche in den Hof des 

Gefaͤngniſſes fuͤhrt: der Galgen ſteht vor ihren Augen. 

Nacheinander ſteigen ſie die Stufen zu ihm hinauf, blaß, 

aber ungebrochen. Weiße Kappen werden über ihre Köpfe 

gezogen. In dieſem letzten Augenblick erſchallen hoͤrbar 
durch die Verhuͤllungen ihre Stimmen: 
— Die Zeit wird kommen, wo unſer Schweigen 
20* 


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maͤchtiger ſein wird als unſer Reden — — ertoͤnt die 
erſte. 
— Hurrah for Anarchy! — von einem Lachen noch 


begleitet, die zweite. Und: 

— Hurrah for Anarchy! Dies iſt der gluͤcklichſte 
Augenblick meines Lebens — faͤllt die dritte ein. 

Endlich die vierte und letzte: 

— Wird mir erlaubt werden zu reden? O Frauen 
und Männer meines lieben Amerika — — 

Der Sheriff gibt das Zeichen. Da noch einmal: 

— Laſſen Sie mich reden, Sheriff! Laſſen Sie die 
Stimme des Volkes gehoͤrt werden — 

Die Klappe fällt ... Und Feiglinge ſehen, wie 
Helden ſterben. — — — 


Bis hierher hatte Auban zu leſen vermocht, den 
folgenden Satz hatte ſein Blick nur geſtreift — denn vor 
ihm ſtand ploͤtzlich in greifbarer Deutlichkeit der Ge— 
faͤngnishof von Chicago: er ſieht die Menge von zwei⸗ 
hundert Perſonen, die ihn fuͤllt, die Zwoͤlf der Jury, 
die höheren Gerichtsbeamten, die Wächter, die Zeitungs: 
reporter — eine Herde feiger Knechte; er ſieht den Galgen, 
die vier Maͤnner, deren Zuͤge er ſo oft im Bilde geſehen, 
aufrecht, trotzig, groß; und er ſieht ihr Sterben, die 
zuckenden Bewegungen ihres Todeskampfes, welcher vier⸗ 
zehn Minuten dauert ... Vierzehn Minuten! Der 
Schlaͤchter tötet fein Vieh auf einen Streich, der Räuber 
ſein Opfer mit einem Schlag, nur dieſe Moͤrder ergoͤtzen 
ſich in ſcheußlicher Freude an dem „Sieg der Gerechtigkeit“, 


— 309 — 


die fie felber find, und verſchanzen die eigene Feigheit 
hinter dem Worte, mit dem immer und immer bisher 
die Gewalt alle Verbrechen entſchuldigt hat: „Sein Wille 
geſchehe — ...“ 

So deutlich ſtand vor Aubans Augen, wie eine 
Viſion, das Ende der Tragoͤdie, daß er es nicht mehr 
ertrug und die Stirn vornuͤber auf die uͤber den Tiſch 
hingeſtreckten Arme ſinken ließ. So lag er lange. Denn 
er hatte alles niederzukaͤmpfen, was von neuem in ihm 
erwacht war an Schmerz, Groll, Wut, an Trauer und 
an Haß. 

Als er ſich erhob, war er wieder er ſelbſt. Aber 
er durchmaß wieder und wieder die Laͤnge ſeines Zimmers 
mit ſeinen ruheloſen Schritten. - 

Die Tragddie von Chicago —: 

Welches Publikum! Jene ganze Menſchheit, die ſich 
ziviliſiert nennt! Kein Einziger unbeteiligt, Alle genötigt, 
Stellung zu nehmen .. 

Auf der einen Seite: geſtillter Blutdurſt, viehiſche 
Freude, jubelnder Sieg der Gewalt; erleichtertes Auf— 
atmen nach uͤberſtandener Gefahr; prahlend die ſchmutzige 
Geſinnung der Alltaͤglichkeit mit Genugtuung uͤber den 
Triumph der Ordnung; bruͤſtend die Moral ſich mit ihrer 
eigenen Borniertheit; erwachende Reue der Gewiſſen; neue, 
Angſt vor dem nun kommenden; und: beginnende Er— 
kenntnis! — 

Auf der anderen: Schreie des Schreckens, von Grauen 
und von Furcht erdroſſelt; ohnmaͤchtige Empoͤrung und 
knirſchender Zorn; Scham uͤber die eigene Feigheit, Wuth 
und Schmerz uͤber die der anderen; Bitterkeit, bis auf den 


— 310 — 


Grund der Herzen ſich ſenkend; dumpfe Ergebung in das 
Unvermeidliche; tauſend Hoffnungen auf irdiſche Gerechtig⸗ 
keit begraben, tauſend neue auf den endlichen Sieg der 
Sache entſtanden, welche die Bluttaufe empfangen; Durſt 
nach Rache am Tage der Abrechnung, bis zur Unerträg- 
lichkeit geſteigert; ſentimentale Wehmut; und — — be⸗ 
ginnende Erkenntnis! — — — 

Alle ſchlummernden Gefuͤhle, deren das Herz faͤhig 
iſt, geweckt! Alle Leidenſchaften, aus ihren Verſtecken ge— 
rufen, ſich bekaͤmpfend in der raſenden Gier, einander zu 
zerfleiſchen! In dieſe Wolken von Rauch und Blut jede 
uͤberlegung, jede ruhige Vernunft untergetaucht — das 
war es, was dieſer Mord ſchuf .. 


Die Tragoͤdie von Chicago —: 

Welche Szenen! Welcher Wechſel in ihnen! 

Im erſten Akt: 

Das Erbeben der Erde, welches den Ausbruch des 
Vulkans verkuͤndet. 

Die Scharen ſammeln ſich auf beiden Seiten zum 
Kampf. 

uͤberlegen, ſich ermannen, wollen; die Gefahr ahnen, 
alle Kraͤfte zu Hilfe rufen, ſich ruͤſten. 

Der Laͤrm des Feldgeſchreis: Achtſtundentag! 

Die erſten Zuſammenſtoͤße: das Pfeifen der Kugeln, 
das Knirſchen der Zaͤhne, das Geheul der Wut, die 
Schreie der Empoͤrung, das Stoͤhnen der Sterbenden, 
das Weinen der Weiber. 


— 311 — 


uͤber unzaͤhlige gluͤhende Koͤpfe und jagende Herzen 
hin das Rauſchen fieberhafter Worte voll Glut und Feuer. 

Ein donnernder Krach: Rauch und Geſchrei. Tod 
und Vernichtung. 

Der Reigen der Leidenſchaften raſt voruͤber — — 


— — — — — — — — — — — — — — 


Im zweiten Akt: 

Nach dem lauten, offenen Kampfe auf dem Felde der 
Offentlichkeit der ſtille, verſteckte, aber weit ſchrecklichere 
auf dem ‚Boden des Geſetzes“. 

Weite Gerichtsſaͤle und enge Kerkerzellen. Gitterſtaͤbe, 
welche die Freunde von den Freunden ſcheiden, und hohe 
Gefaͤngnismauern, ſo hoch, daß die Sonne ſelbſt ſie nicht 
erſteigt ... O goldene Sonne der Freiheit — achtzehn 
Monde dich nicht zu ſehen und dann, ohne einen deiner 
Strahlen erhaſcht zu haben, nieder in die ewige Nacht — 


— — — — — — — — — — — — — — 


Der Vorhang war gefallen. Aber die Tragoͤdie war 
nicht zu Ende. 

Nein, die, welche ſie in Szene geſetzt, hatten das 
Nachſpiel vergeſſen! 


— 312 — 


Ein Nachſpiel, ein ungeahntes Nachſpiel mußte folgen 
mit unabwendbarer Notwendigkeit. Das war die Propa⸗ 
ganda, welche dieſe fluchwuͤrdige Tat geſchaffen: das Echo, 
das die Geſchichte des Lebens und Strebens in un— 
zaͤhligen noch ſchlummernden Herzen zur Antwort erwecken 
wuͤrde. Tauſende wuͤrden fragen: „Warum mußten dieſe 
Männer ſterben?“ — Tauſende würden antworten: „Für 
die Sache der Unterdruͤckten.“ — Und weiter: „Die Unter⸗ 
druͤckten ſind wir, jede Stunde ſagt uns das. Aber iſt es 
nicht unſere Beſtimmung, zu leiden?“ Und wieder die 
Antwort: „Nein, Eure Beſtimmung iſt, gluͤcklich zu ſein. 
Die Tage Eurer Befreiung ſind gekommen. Fuͤr Euer 
Gluͤck ſind dieſe Maͤnner geſtorben. Leſt ihre Reden — 
hier ſind ſie. Lernt aus ihnen kennen, wer ſie waren, 
was ſie wollten, daß ſie keine Moͤrder, ſondern Helden 
geweſen.“ — Und die Unterdruͤckten werden wach. Sie 
erheben die arbeitsmuͤden Stirnen, und es klirren die 
Ketten an ihren Haͤnden. Und jetzt hoͤren ſie ihr Klirren. 
Da packt ſie die Wut, ſie baͤumen ſich auf und die Ketten 
reißen. Und hoch die eiſernen Waffen durch die Lüfte 
ſchwingend, ſtuͤrzen ſie ſich auf die Unterdruͤcker, greifen 
und wuͤrgen die um Gnade Schreienden. Ihre Haͤnde 
wollen ablaſſen, aber eine Stimme ruft: „Chicago!“ 
Nur dies eine Wort: „Chicago!“ Und alle Gedanken 
an Gnade ſchweigen. Ohne Barmherzigkeit wird der 
groͤßte Kampf zu Ende gekaͤmpft, den die erbebende Erde 
je geſehen. 

Zu den Graͤbern ihrer Toten treten die Sieger. Sie 
entblößen ihre Haͤupter und ſprechen: „Ihr ſeid geraͤcht. 
Schlaft in Frieden“. 


— 313 — 


Und heimkehrend, lehren fie ihre Knaben, wer jene 
geweſen ſind, die ſo ſie ehrten, wie ſie lebten und wie 
ſie ſtarben. 

Das würde das Nachſpiel der Tragoͤdie von Chicago 
en 


— 


uͤber die zerknitterten Zeitungen gebeugt lag Auban, 
ſie mit ſeinen Armen und ſeiner Stirne bedeckend, als 
koͤnne er ſo erſticken, was betaͤubend aus ihnen aufſtieg, 
wie der Dunſt friſchen Blutes ... Sein klopfendes Herz 
ſchrie nach einem Worte der Erloͤſung aus dieſer Stunde. 

„Torheit —“ fluͤſterte ſein Verſtand ihm zu. 

Aber er fuͤhlte, daß es ein zu wohlfeiles Wort war. 
Und ſo ſtarb es auf ſeiner Lippe. 


Achtes Kapitel 
Die Propaganda des Kommunismus 


Trupp war auf dem Wege zu ſeinem Klub. 


Es war der Abend eines Tages, an deſſen Morgen 
die Londoner Zeitungen die naͤheren Nachrichten uͤber 
den Mord in Chicago gebracht hatten, und ſeit Trupp 
ſie geleſen, war er, wie getrieben von Gefuͤhlen, fuͤr 
die er keine Bezeichnung hatte, und wie gehetzt und 
verfolgt von unſichtbaren Feinden, die er nicht kannte, 
durch das unermeßliche Haͤuſermeer gewandert, ziellos, 
zwecklos, kreuz und quer, ohne zu wiſſen, was er tat... 

Er ſah weder die Straßen, die er durchſchritt, noch 
die Menſchenſtroͤme, durch die er ſich ſeinen Weg bahnte. 
Wo er geweſen war, er wußte es nicht. Einmal hatte die 
Themſe vor ihm gelegen, und er hatte wohl eine Stunde 
lang, an das Gelaͤnder einer Bruͤcke gelehnt, geſtanden, 
ſtarr und verſtaͤndnislos niederblickend auf die ſchwarze 
Flut des Stromes; mehrere Male hatte er die Hauptadern 
des Verkehrs gekreuzt und ſich dann jedesmal inſtinktiv 
ſtillere und abgelegenere Straßen geſucht, wo nichts den 
jagenden Gedanken ſeines uͤberreizten Gehirnes in die 


Zügel fiel. 


NIE 


„ 


Er hatte den ganzen Tag nichts gegeſſen, als ein 
Stuͤck Brot, das er ſich, faſt ohne es zu wiſſen, beim 
Voruͤbergehen in einem Baͤckerladen gekauft, und nichts 
getrunken 

Nicht einmal, was er gedacht hatte, haͤtte er zu 
ſagen vermocht. Und doch hatte ſich Gedanke an Ge— 
danke in ſeinem Gehirn geſchloſſen, in raſend ſchneller 
Aufeinanderfolge, die ſich ununterbrochen zu einer einzigen 
Kette gereiht hatten, deren zahlloſe Glieder ſaͤmtlich ein 


Hund dasſelbe Zeichen trugen: Chicago! — 


So oft er aufgeſehen und ſein Blick die gleichguͤltigen 
Geſichter der Menſchen getroffen hatte, war eine unbe— 
zaͤhmbare Wut in ihm emporgequollen, ihnen an die 
Gurgel zu ſpringen, um ſie aufzuruͤtteln aus ihrer Ruhe 
mit brutaler Gewalt. Nur wenn er, den Kopf geſenkt, 
dahingeſchritten war, hatte nichts an ihm von dem 
Sturme geſprochen, der ſein Inneres bis auf die tiefſten 
Gruͤnde aufwuͤhlte und Wogen ohnmaͤchtiger Wut in ihm 
empor trieb. 

Erſt, als die Schatten des Abends ſanken, war er 
erwacht: wie aus einer dumpfen Betaͤubung, wie aus 
einem Opiumrauſche, nur daß ſeine Traͤume nicht ſuͤß 
und beſtrickend, ſondern folternd und herb geweſen waren, 
wie der eiſerne Druck einer Fauſt .. 

Da erſt hatte er ſich umgeſehen; denn er hatte keine 
Ahnung, wo er war. Er war im Edgware Road, im 
Norden vom Hyde Park — noch weit genug vom Klub, 
noch eine halbe Stunde und laͤnger, aber er haͤtte ſich 
ja auch in den aͤußerſten Vorſtaͤdten von Highgate oder 
Brixton finden koͤnnen, ſtundenweit von Tottenham ent— 


— 31$ — 


fernt, und unfähig, den Klub heute abend noch zu er— 
reichen. 

Noch halb betaͤubt von dem Schlage dieſes ent— 
ſetzlichen Tages, aber noch nichts von der toͤdlichen Er— 
mattung verſpuͤrend, die ſeinen Koͤrper ergriffen haben 
mußte nach dieſer raſenden Wanderung, machte er ſich 
mit ſchmerzenden Fuͤßen, ſchweißbedeckt am ganzen Koͤrper 
und zitternd vor Froſt in der kalten Abendluft auf den 
Weg. 

Er wußte jetzt genau, welchen Weg er nahm, und 
er achtete darauf, den kuͤrzeſten zu finden. 

Zwei Gefuͤhle hatten in dieſen letzten beiden Tagen 
unablaͤſſig in ihm gekaͤmpft. 

Das eine war das der tiefſten Niedergeſchlagenheit. 
Der Mord in Chicago war vollzogen, ohne daß von den 
Genoſſen der Verſuch gemacht worden war, die Boll: 
ſtreckung zu hindern. Oder, wenn ſie nicht zu hindern, ſo 
doch zu unterbrechen. Zwar hatte er daran nie mit voller 
Hoffnung zu glauben gewagt, denn er wußte nur zu gut, 
wie ſelten die Worte mit den Taten uͤbereinſtimmen, aber 
dennoch war dieſer ungetruͤbte Sieg der Gewalt ein 
furchtbarer Schlag fuͤr ihn. 

Das andere Gefuͤhl war ein Gefuͤhl der Beruhigung, 
wenn er daran dachte, wie unerſchoͤpflich die Quelle der 
Propaganda fließen wuͤrde, welche dieſem Maͤrtyrertode 
entſprang. Chicago war das Golgatha der Arbeiter ge— 
worden. Ewig, wie hier das Kreuz, wuͤrden dort die 
Galgen ragen. 

Mit dem Inſtinkt aber, den eine faſt zwanzigjaͤhrige 
Anteilnahme an der ſozialen Bewegung ihm verliehen, 


3 


ahnte er auch, daß die Frage des Anarchismus nun in 
ein anderes Licht geruͤckt war, in dem ſie für jeden Ber 
trachtenden von allen Seiten erkennbar nun ſtehen würde: 
in das Licht des Tages. Vieles, was bisher — bedeckt 
mit den Schleiern einer geheimnisreichen und fuͤr die 
meiſten unerreichbaren Zuruͤckgezogenheit — zweifelhaft 
geblieben war, mußte ſich jetzt entſcheiden. Ein wenigſtens 
zeitweiliger Stillſtand der Propaganda war ganz un⸗ 
vermeidlich. Die verlorene Spanne wuͤrde ſich wieder 
einholen laſſen — zweifellos. Aber uͤber der Pforte der 
naͤchſten Jahre ſtand für ihn und feine Genoſſen: Entz 
mutigung, Lethargie, Unluſt! — 

Dies alles, aber auch noch manches andere, bedruͤckte 
ihn mit dumpfer Schwere. Zunaͤchſt die Stellung Aubans. 
Er verſtand ſeinen Freund nicht mehr. Seine Beweg— 
gruͤnde, ſeine Ziele waren ihm unerfaßlich geworden. 
Das er eins mit ihm noch war in den Mitteln, wie 
er glaubte, hielt ſie noch zuſammen. 

Wie aber ſollten ſie ſich ferner noch verſtehen, nach— 
dem jener gerade das, was er, der Kommuniſt, als erſten 
und letzten Grund alles Elends und aller Unvollkommen— 
heit betrachtete: das Privateigentum, in Schutz nahm? 

An der lauteren Ehrlichkeit Aubans konnte kein Zweifel 
aufkommen. Er waͤre laͤcherlich geweſen. Auban wollte 
die Freiheit. Er wollte auch die Freiheit der Arbeit. Er 
liebte die Arbeiter. Er hatte tauſend Beweiſe davon 
gegeben. Ihre Intereſſen waren die ſeinen. 

Eine ſolche Liebe ſtarb nie. Trupp wußte das. 

Aber trotz alledem: er verſtand ihn nicht. Er wuͤrde 
ihn nie verſtehen. Nie wuͤrde er in dem Privateigentum 


— 318 — 


etwas anderes erblicken koͤnnen, als die Hochburg der 
Gegner. Und auf deren Zinnen ſtand Auban, ſein Freund, 
der Genoſſe ſo langer Jahre — er konnte den Gedanken 
nicht faſſen! . 

Dazu kamen die perſoͤnlichen Zwiſtigkeiten und Miß⸗ 
verſtaͤndniſſe im eigenen Lager, in der Gruppe, zu welcher 
er gehoͤrte. Nie hoͤrten ſie auf. Immer waren ſie 
geweſen, ſo lange er denken konnte, und nie hatten ſie 
etwas von der Widerwaͤrtigkeit fuͤr ihn verloren, mit 
der ſie die beſten ſeiner Kraͤfte gelaͤhmt hatten, ſeit 
er in London war. Die Genoſſen waren ihm zu ſchlaff, 
zu untaͤtig, zu unentſchloſſen. Er hatte in den letzten 
Jahren ſeine Anſpruͤche an ſich und andere maßlos ge— 
ſteigert. Nun enttaͤuſchte ihn alles; nun wurde keine 
ſeiner Erwartungen mehr befriedigt. \ 

Alles blieb hinter ihnen zuruͤck. Er ſelbſt hatte keinen 
anderen Gedanken mehr, als den an die Sache. Dieſer 
Gedanke nahm ſein ganzes Denken und Handeln gefangen. 
Er verfolgte ihn waͤhrend der muͤhſamen Arbeit ſeiner 
Tage mit der zaͤhen Unablaͤſſigkeit, mit welcher ſonſt nur 
die Liebe das Weſen des Menſchen beherrſcht; er hielt 
ihn wach bis in die Nacht und verſcheuchte die Muͤdig— 
keit uͤber den zahlreichen Arbeiten der Propaganda, mit 
denen man ſeine Schultern belud; er druͤckte ihm die 
Feder in die des Schreibens ſo wenig geuͤbte Hand, wenn 
die Spalten des Blattes Luͤcken aufwieſen, und entzog 
ſeinem durſtenden Munde das Glas, um das Geld dafuͤr 
auf den großen Altar zu legen, der beladen war mit 
Opfern der Arbeit. 

Dieſer Gedanke an die Sache war es, der aus ihm 


— 319 — 


die in ihrer Art bedeutende Perſoͤnlichkeit gemacht hatte: 
er hatte ſeine Faͤhigkeiten verzehnfacht, ſeine Kraft in 
die Form der Beſtaͤndigkeit und Unerſchuͤtterlichkeit ge— 
goſſen, ſeinem Leben Ziel und Richtung gegeben. Er 
beherrſchte ihn und er war ſein Sklave, wenn auch ein 
Sklave, der keine ſeiner Feſſeln je fuͤhlt, weil er glaubt, 
frei zu ſein. Er hatte ſeinem Koͤrper den Zaum dieſes 
Gedankens auferlegt und er hatte es dahin gebracht, daß 
er ihm gehorchte, wie ein Roß ſeinem Reiter: es durfte 
keine Ermuͤdung und keinen Hunger kennen, wenn dieſer 
es nicht wollte. 

Nicht weil er ſelbſt fuͤr ſich frei ſein, ſondern weil 
er durch nichts in dem Dienſt ſeiner Sache gehindert 
fein wollte, war er unverheiratet geblieben, oder viel: 
mehr: hatte er ſich nie auf laͤngere Zeit mit einem 
Weibe verbunden. Er war ein vorzuͤglicher Menſch, faſt 
in jeder Beziehung. Er hatte keine Fehler der Kleinheit; 
die Größe der Sache erſtickte fie. Von nicht gewoͤhn⸗ 
licher, wenn auch einſeitiger und wenig durchgebildeter 
Intelligenz, von unerſchuͤtterlicher Geſundheit, ohne Nerven 
und mit Muskeln von Stahl, mit einem eiſernen Willen 
und einem Zug ſchlichter Groͤße — ſo ſtand er da: an 
der Spitze des Volkes gleichſam, als ſein beſter und 
wuͤrdigſter Repraͤſentant, hoch aufgerichtet mit dem Stolze 
des Proletariers, der im erkannten Bewußtſein ſeiner 
Kraft, im Bewußtſein deſſen, daß er „Alles“ iſt, von 
einer bereits im Sinken begriffenen Klaſſe die Welt 
fordert, und ſie fordert mit dem Ungeſtuͤm eines Kindes, 
der Wut eines Empoͤrers, der Sicherheit eines Feldherrn, 
der ſeine Truppen kennt und weiß, daß ſie unbeſiegbar 


— 320 — 8 


ſind. Und der fie fordert, ohne zu ahnen, was er vers 
langt. 

Die Geſchichte braucht ſolche Menſchen, um ſie zu 
— verbrauchen. Sie find es, mit denen ſie ihre aͤußer⸗ 
lichen Schlachten ſchlaͤgt, indem ſie dieſelben an die Spitze 
der Maſſen ſtellt, deren Staͤrke entſcheidet. 

Die Freiheit ſieht in ihnen nur Hemmniſſe. Denn ſie 
kaͤmpft nur in den Einzelnen, welche nichts repraͤſentieren 
als ſich ſelbſt. 

Trupp war ein vorzuͤglicher Menſch. Aber er war 
oft auf beiden Augen blind. Er war ein Fanatiker. Er 
war zudem der Fanatiker einer Phantaſie. Denn eine 
Phantaſie iſt der Kommunismus, welche die Gewalt 
zu Hilfe rufen mußte, um troſtloſe Wirklichkeit zu 
werden.. — 

Trupp ſchritt dahin, und ſeine wachen Gedanken 
ſchnitten tiefer noch, und ſchmerzlicher empfand er ſie, 
als die Narkoſe der Betaͤubung, unter der er den Tag 
uͤber gelegen hatte. Er naͤherte ſich ſeinem Klub. — 


Die Revolutionäre des Sozialismus haben ſich ver⸗ 
ſtreut uͤber die ganze Welt. Sie haben den fernſten Erd— 
teil bereits erreicht und pochen mit ihren Faͤuſten an die 
entlegenſten Pforten. 

Sie glauben die Morgengaͤnger des neuen Tages zu 
ſein, welcher der Menſchheit kommt. 

uberall ſchließen ſie ſich zuſammen: hier nennen ſie 
ſich Partei und erſtreben auf den Wegen des allgemeinen 
Wahlrechts und ſtreng gefuͤgter Organiſationen unter er⸗ 


— 321 — 


waͤhlter Fuͤhrung Einzelner die politiſche Macht, um einſt 
in ihrem Beſitz die ſoziale Frage von oben herab loͤſen 
zu koͤnnen vermittels Gewalt; und dort nennen ſie ſich 
Gruppe und lehren den gewaltfamen Umſturz der aͤußeren 
Verhaͤltniſſe als einzige Rettung aus der unertraͤglichen 
Not, die immer ihren Hoͤhepunkt erreicht zu haben ſcheint 
und dennoch immer groͤßer wird, der Wolke gleichend, 
die naͤher und naͤher kommt, die wir geſtern noch kaum 
bemerkten, die heute ſchon mit ihrem drohenden Schatten 
uͤber uns ſteht, und die ſich morgen entladen wird — 
ſicherlich morgen; nur ihre Stunde, ihren Ort und die 
Groͤße ihrer Kraft kennen wir noch nicht. 

uͤberall hin verſtreuen ſie ihre Flugblaͤtter, ihre Bro— 
ſchuͤren. Überall gründen fie ihre Zeitungen ... Die 
meiſten dieſer Gruͤndungen vergehen allerdings ſo ſchnell 
wieder, wie fie entſtanden find: fie ſterben an Erſchoͤpfung, 
ſie werden unterdruͤckt, aber ihre Zahl iſt doch ſo groß, 
daß ſie nicht mehr feſtzuſtellen iſt. Es ſind Samen⸗ 
koͤrner, auf unfruchtbaren Acker und unter das Unkraut 
gefallen: nur einzelne ſchlagen Boden, gehen auf, tragen 
Fruͤchte für wenige Sommer ... Aber die Hand, welche 
ſie ſaͤete, wird nicht leer; Mut, Ausdauer und Hoffnung 
fuͤllen ſie immer wieder .. 

uͤber alle großen Staͤdte der Welt haben ſich die 
Revolutionaͤre des Sozialismus hin verteilt. 

Aber in keiner der ganzen Erde iſt ihr Schwarm ſo 
bunt wie in London. Nirgends draͤngt er ſich ſo zu— 
ſammen; nirgends weicht er fo auseinander. Nirgends 
bekaͤmpft er ſich bitterer untereinander und nirgends ſteht 
er mit größerer Bitterkeit dem gemeinſamen Feinde gegen— 

VIII 21 


— 322 — 


uͤber, wie hier. Nirgends redet er ſo verſchiedene Sprachen, 
wie hier, und nirgends ſpricht er in verſchiedeneren Lauten 
verſchiedenere Anſichten aus. 


Er weiſt alle Typen auf; und er zeigt ſie ſaͤmtlich 
ſowohl in ihren ausgepraͤgteſten und intereſſanteſten, wie 
auch in ihren verwaſchenſten und banalſten Formen. 

Für den Neuling iſt er ein Chaos. Aber das Chaos 
wird ihm bald zum beſten Lernfelde, auf welchem er 
bald ſich heimiſch fuͤhlt. 

Das Fluͤchtlingsleben von London hat eine große 
Geſchichte. 

Als der engliſche Sozialismus, deſſen langſames 
Wachstum noch heute nicht zur Reife gediehen iſt, noch 
in den Windeln lag, kamen die Flüchtlinge der vier⸗ 
ziger Jahre nach London und begruͤndeten in dem „Kom— 
muniſtiſchen Arbeiter-Bildungs-Verein“ — auf Anregen 
von Maͤnnern wie Marr und anderen — den erſten 
Fluͤchtlingsbund der deutſchen Arbeiter in London, der 
einſt die Mutter ſo verſchieden gearteter Kinder werden 
ſollte, daß ſich dieſelben untereinander nicht mehr als 
Geſchwiſter anerkennen wollten . 8 


Die Ruſſen kamen, mit Herzen an ihrer Spitze, der 
von hier aus ſeinen „Kolokol“ laͤutete; und Bakunin 
kam hierher aus ſeiner ſibiriſchen Verbannung. Freilig⸗ 
rath kam mit herrlichen Liedern auf bebenden Lippen; 
und Kinkel kam fuͤr kurze Zeit aus dem Gefaͤngnis von 
Spandau; und Ruge mit den zerſchlagenen Truͤmmern 
feiner „Jahrbuͤcher“ ... Hier lebte Mazzini, der große 
Patriot, der republikaniſche Verſchwoͤrer. Hier endlich 


noch als auf dem verlaſſenen Meere. 


— 323 — 


die Franzoſen: Louis Blanc, Ledru⸗Rollin und die Ge— 
noffen ihres Schickſals. 

Alle fanden ſie Ruhe und Frieden hier, die fried— 
loſe Ruhe des Exils und das duͤrftige Brot des Ver— 
bannten 

Dann hoͤren die großen Namen auf. Eine Pauſe tritt ein. 

Als die achtziger Jahre nahen und die Lehre des 
freien Kommunismus, der den Namen Anarchismus 
ſich beilegt, mit der Perſon eines ihrer erſten und taͤtigſten 
Vertreter nach London kommt, und derſelbe dort in der 
„Freiheit“ ihr erſtes Organ gruͤndet, hat ſich der „Kom⸗ 
muniſtiſche Arbeiter⸗Bildungs-Verein“ bereits in drei 
Sektionen geteilt, die ſich bald gaͤnzlich in bitteren 
Kaͤmpfen untereinander trennen: hier die Sozialdemokraten, 
die „Blauen“; dort die Anarchiſten, die „Roten“. Einige 
Jahre ſpaͤter wird der Erſcheinungsort der neuen Zeitung 
nach New Pork verlegt; London aber, wo ſeit 1878, dem 
Jahre der Annahme des Sozialiſtengeſetzes in Deutſchland, 
die Bewegung in ein ganz neues Fahrwaſſer getreten 
iſt, wird abermals das Hauptquartier aller deutſchen 
Fluͤchtlinge, wenn auch in anderer Weiſe, als vor dreißig 
Jahren 

Ihre Phyſiognomien, ihre Beſtrebungen, ihre Zwecke, 
wie ihre Ziele, ſie haben ſich total veraͤndert. — Alles 
iſt in Gaͤrung geraten. Alle ſtehen gegeneinander; alle, 
die kommen, — ermuͤdet von den erlittenen Strapazen, 
erbittert durch die maßloſen Verfolgungen, gereizt zu jeder 
moͤglichen Taͤtigkeit — werden hineingezogen: denn in 
dieſer Bucht des Exils brandeten die Wogen weit wilder 


* 


— 324 — 


Es ſcheint zeitweilig, als ob die Fluͤchtlinge den 
fernen Feind vergeſſen hätten, jo erbittert befämpfen ſie 
ſich untereinander. Von den Sektionen des Muttervereins 
loͤſen ſich ſchroff einzelne Gruppen ab, die ſelbſt den 
alten Namen nicht mehr behalten. Einzelne Perſonen, 
von Unruhe und Ehrgeiz angeſtachelt, ſuchen den Zwieſpalt 
zu benutzen, um die zerriſſenen Faͤden in der eigenen 
Hand wieder zu knuͤpfen und — zu behalten. Die Kaͤmpfe 
fuͤr und gegen dieſelben werden bis zur Erſchoͤpfung 
Wochen und Monate hindurch gefuͤhrt, bis ſie im Sande 
verlaufen und keine Spuren zurüclaffen als Entfremdung, 

einen Stoß Flugblaͤtter mit Verdaͤchtigungen gegeneinander, 
und eine zweckloſe Broſchuͤre. 

1887, im Jahre des Mordes von Chicago, waren 
die vier deutſchen Arbeiterklubs Londons nur noch durch 
das duͤnne und bereits bruͤchige Band der Affiliation mit⸗ 
einander verbunden. Nur einzelne der Mitglieder be: 
ſuchten ſich und verkehrten noch miteinander. Als Körper: 
ſchaften trafen ſie nur zuſammen, wenn es galt, mit den 
engliſchen Sozialiſten vereint eine Demonſtration zu ver: 
anſtalten, ein Meeting moͤglichſt impoſant in Szene zu 
ſetzen, oder die Tage des Maͤrz zu feiern. 


Trupp fand ſeinen Klub an dieſem Abend ſtark beſucht. 
Gewöhnlich waren ſeine Räume nur an den Sonntags 
Nachmittagen und «Abenden gefüllt, wenn die Mitglieder 
nicht nur, ſondern auch ihre Frauen und Kinder, und 
die eingefuͤhrten Gaͤſte kamen, um den regelmaͤßigen 
muſikaliſchen und theatraliſchen Aufführungen beizuwohnen. 


— 325 — 


Dieſe Aufführungen, zu welchem gegen Sirpence-Entree 
Jedermann Zutritt hatte, wurden veranſtaltet, um den 
Propagandakaſſen, dem Zeitungs- und Broſchuͤrenfonds, 
den zahllofen Gelegenheiten, die unaufhoͤrlich pekuniaͤre 
Unterſtuͤtzungen erheiſchten, neue Quellen zu eröffnen, und 
um bei Tanz und leichter Unterhaltung, in die oft nichts 
von den erregten Kaͤmpfen der Diskuſſionsabende und der 
geſchloſſenen Verſammlungen hineintoͤnte, die Sorgen der 
vergangenen Woche zu vergeſſen und die Gedanken an die 
kommende zu bannen. 

Kaum vermochte ſich Trupp durch den engen Gang 
zu drängen, der von der Tür her zu der fchmalen, in 
den tiefer als die Straße liegenden Saal, hinunter⸗ 
ſteigenden Treppe fuͤhrte. Der links vor der Treppe 
liegende Barraum war uͤberfuͤllt. Die meiſten ſtanden 
vor dem Schenktiſch, allein oder in Gruppen, das Glas 
in der Hand, waͤhrend nur die kleinere Anzahl an den 
wenigen Tiſchen Platz gefunden hatte. Aber fuͤr Trupp 
fand ſich doch noch ein Eckplatz auf einer der Baͤnke. 
Man ruͤckte noch enger zuſammen und haſtig ergriff er das 
naͤchſte der ihm dargereichten Glaͤſer, es mit einem Zuge 
leerend. 

Die Stimmung unter den Anweſenden war ſehr ver: 
ſchieden. Während einige Gruppen von den lauten Auss 
einanderſetzungen uͤber irgendeine Frage bewegt wurden, 
ſaßen andere faſt ſtumm. An dem Tiſch, wo Trupp noch 
Platz gefunden hatte, herrſchte druͤckendes Schweigen. An 
ſeinem anderen Ende ſaß ein junger Mann. Er las 
aus einer Zeitung vor, aber ſeine Stimme war undeutlich 
und Traͤnen ſtuͤrzten aus feinen Augen, als er die Einzel⸗ 


— 326 — 


heiten der Hinrichtung mitteilte. Man umſtellte ihn von 
allen Seiten. Auf allen Mienen lag ein drohender Ernſt. 
Aber nur unterdruͤckte Worte entflohen den zuſammen⸗ 
gepreßten Lippen und nur die Blicke gaben Zeugnis von 
dem, was die meiſten dachten. 

Ploͤtzlich erkannte Trupp in einer Gruppe von Ge⸗ 
noffen, die an dem Ausſchank ſtanden, von dem aus 
der Wirt und ſeine Frau unermuͤdlich die Wuͤnſche der 
Gaͤſte zu befriedigen ſuchten, Auban. Sie hatten ſich 
ſeit acht Tagen, ſeit ihrem gemeinſamen Eaſt End-Ausflug 
nicht mehr geſehen. 

Weshalb Auban heute Abend gekommen war? — 
Es war mehr ein Zufall als vorbedachte Abſicht geweſen, 
die ihn in die Naͤhe von Tottenham Court Road gefuͤhrt 
und ihm den Gedanken eingab, auf eine Stunde den 
Klub zu beſuchen. Der Tag war ihm in Arbeit ſchneller, 
als er zu hoffen gewagt, vergangen. Auf die Stuͤrme 
der Morgenſtunden war die Stille der Überwindung ge— 
folgt. Wer ihn an dieſem Abend ſah, fand ihn un⸗ 
veraͤndert kuͤhl und beherrſcht wie immer. 

Er war gleich bei ſeinem Eintritt von Bekannten be— 
grüßt worden. Man hatte ihm die neuen Raͤumlich— 
keiten des Hauſes gezeigt: die oberen Zimmer, wo ein 
Billard ſtand und die kleinen Beratungen in geſchloſſenem 
Kreiſe abgehalten wurden, und den großen, im Erdgeſchoß 
liegenden Verſammlungsſaal, der ſehr geraͤumig war und 
mit feinen hellen, ſauberen Wänden einen ſehr freund 
lichen Anblick bot. 

In fruͤheren Jahren hatten die Klubmitglieder nur 
das duͤſtere und unſaubere Hinterzimmer einer oͤffentlichen 


— 327 — 


Wirtſchaft zu ihrer Verfuͤgung gehabt, wo ſie nicht mehr 
bleiben mochten, beſonders nachdem es ihnen durch die 
Streitigkeiten, die es wochen- und monatelang duürch⸗ 
hallten, verleidet war. Und mit der immer bereiten 
Opferwilligkeit hatten ſie ſich nun dieſes Haus gemietet, 
wo ſie ſich wohl fuͤhlten. 

Im Barraum, der zu eng war fuͤr die ſich dorthin 
immer zuerſt Draͤngenden, war Auban ſchnell in ein Ge— 
ſpraͤch geraten. Man hatte von der letzten Diskuſſion 
gehoͤrt, die bei ihm ſtattgefunden, und viele Einwaͤnde 
gegen ſeine Theorien bereit. 

Wie? — Er wollte das Privateigentum beſtehen 
laſſen und den Staat abſchaffen? Aber der Staat fei ja 
gerade zum Schutze des Privateigentums da. Und einer 
der Anweſenden fragte auf engliſch: 

— Solange das Privateigentum beſteht, wird es des 
Schutzes beduͤrfen. Folglich kann der Staat nur fallen, 
wenn auch jenes faͤllt. Was haben Sie darauf zu ent⸗ 
gegnen? 

— Es iſt moͤglich, daß das Privateigentum des 
Schutzes bedarf. 

Ich werde mir dieſen Schutz kaufen, und ich werde 
mich mit Anderen zum Schutz unſeres Eigentums ver— 
binden, um es zu verteidigen, falls immer dies noͤtig 
ſein ſollte. Aber ich behaupte, daß neunundneunzig 
Prozent aller ſogenannten ‚Eigentumsverbrechen‘ von 
denen begangen werden, welche, von den heutigen Zus 
ſtaͤnden zur Verzweiflung getrieben, ihre Arbeit gar nicht 
oder nur tief unter der Grenze ihres Preiſes — an⸗ 
genommen, daß die Koſten die wahre Grenze des Preiſes 


— 328 — 


bilden — verwerten koͤnnen. Ich behaupte daher, daß 
dieſe ſogenannten Verbrechen eine Seltenheit werden 
muͤſſen von der Stunde an, in der Jeder ſich den vollen 
Ertrag ſeiner Arbeit zu ſichern im Stande iſt, d. h. von 
der Stunde an, in der die ſtaatliche Einmiſchung aufhoͤrt. 

Ferner behaupte ich, daß dieſer Selbſtſchutz eine viel 
wirkſamere Waffe ſein wird, als derjenige es iſt, welchen 
uns der Staat aufdraͤngt, ohne uns zu fragen, ob wir 
ihn verlangen. Ein Beiſpiel: 

Ich waͤre nicht faͤhig, einen Menſchen zu toͤten, ſei 
es im Kriege, im Duell, oder auf irgendeine andere 
geſetzlich erlaubte“ Art und Weiſe. Aber ich würde 
nicht einen Augenblick zaudern, dem Einbrecher, welcher 
mit der Abſicht, mich zu berauben und zu ermorden, in 
mein Haus dringt, eine Kugel durch den Kopf zu jagen. 
Und ich glaube, daß ſich dieſer Einbrecher dreimal beſinnen 
wuͤrde, den Einbruch zu wagen, wenn er ſicher waͤre, ſo 
empfangen zu werden, als wenn er, wie heute, weiß, daß 
mir bloͤdſinnige Geſetze die Verteidigung meines Lebens 
und meines Eigentums erſchweren, und ihm im ſchlimmſten 
Falle nur die und die Strafe erwaͤchſt. 

Ich habe dieſes Beiſpiel zugleich fuͤr diejenigen ge— 
waͤhlt, welche noch immer nicht ein defenſives von einem 
aggreſſiven Verhalten zu unterſcheiden vermoͤgen, alſo auch 
nicht ein freiwillig eingegangenes und jederzeit wieder 
loͤsliches Buͤndnis zu gegenſeitiger Staͤrkung in beſtimmten 
Faͤllen, z. B. eine Lebensverſicherung uſw., von einem Staats⸗ 
weſen, welches dem Einzelnen einmal die Wahl des Eintritts 
nicht freiſtellt, und ihm ferner den Austritt nur unter der Be⸗ 
dingung ermoͤglicht, daß er das Land ſeiner Heimat verlaͤßt. 


— 329 — 


Auban ſchwieg. Aber die, welche ihm zugehoͤrt hatten, 
knuͤpften lebhafte Auseinanderſetzungen an jeden dieſer 
Saͤtze. . 
Man ſuchte ihn in dieſe zu verwickeln. Doch Aus 
ban war heute nicht aufgelegt, viel zu ſprechen und er 
lehnte es ab. Er ſtieg die Treppe hinunter, die in 
den Verſammlungsſaal fuͤhrte. Der hatte ſich nun faſt 
gefuͤllt und Viele verlangten ungeduldig, man ſolle be— 
ginnen. 

Auban blieb unweit der Treppe ſtehen, am Eingang 
des Saales, deſſen an der Wand ſich hinziehende Baͤnke 
nun faſt bis auf den letzten Platz beſetzt waren. Da 
ſeine Mitte frei blieb bildeten die Verſammelten einen 
ovalen Kreis, in dem jeder Einzelne von Allen erkennbar 
war. So blieben denn auch die meiſten auf ihren Plaͤtzen 
ſitzen, wenn ſie ſprachen. 

An dieſem Abend waren wenig Frauen anweſend. 
Die Maͤnner waren meiſt jugendlich, in den zwanziger und 
dreißiger Jahren. 

Die Verſammlung unterſchied ſich in nichts von aͤhn— 
lichen Zuſammenkuͤnften der Arbeiter, es waͤre denn die 
verhaͤltnismaͤßig große Anzahl von kuͤhnen und energiſchen 
Koͤpfen geweſen, die das Gepraͤge einer ungewoͤhnlichen 
Intelligenz und hervorragenden Willenskraft trugen. In— 
deſſen waren das auch hier, wie uͤberall, immer nur die 
Einzelnen, welche ſich ſo abhoben, daß man ſie ſofort 
erkannte als die Bahnbrecher einer neuen Richtung — 
die arttragenden Pioniere und die Rufer einer neuen 
und beſſeren Zeit. 

Man ſprach uͤber Chicago. Viele ſprachen. Sofort 


— 330 — 


wenn der eine geendet, begann ein anderer, und noch 
manche Hand ſtreckte ſich in die Hoͤhe zum Zeichen, daß 
die Liſte der Redner noch nicht zu ſchließen ſei. 

Man ſprach meiſt kurz, aber heftig. Schon tauchten 
Plaͤne auf, in welcher Weiſe die Propaganda des Todes 
der Maͤrtyrer einzuleiten ſei. 

Einig war man darin, daß etwas Außergewoͤhnliches 
geſchehen muͤſſe . 

Dann kam die Debatte uͤber die Frage einer von den 
Klubs gemeinſam zu gruͤndenden und zu leitenden Schule 
fuͤr die Kinder aller Mitglieder, welche dieſe Kinder nicht 
von dem Kirchen- und Staatsglauben der heutigen oͤffent⸗ 
lichen Schulanſtalten vergiftet wiſſen wollten. 

Die lauten Stimmen ſtoͤrten ploͤtzlich Auban. Sie 
paßten nicht zu dem Zuſtande, in dem er war. Über 
Chicago heute abend — in einer Verſammlung von 
ſolcher Groͤße: er fuͤhlte, das war nicht richtig; und die 
Schulfrage — er konnte da doch nicht helfen; ſeine Arbeit 
war eine andere. 

Daher zog er ſich in den ſtilleren Hintergrund des 
Saales zuruͤck, wo einige Genoſſen ſaßen, die ſich hierhin 
mit ihrem Glaſe und ihren Zeitungen zurückgezogen hatten. 
Der eine las, der andere führte ein halblautes Geſpraͤch 
mit einem dritten, und der vierte war eingeſchlafen, uͤber— 
waͤltigt von der Muͤdigkeit der Arbeitstage. — Ein junger, 
blonder Mann mit freundlichem Geſichtsausdruck hielt ein 
Kind auf ſeinen Knien. Die Mutter desſelben war nicht 
lange nach der Geburt geſtorben und dem Vater, der es 
nicht allein zu Hauſe laſſen konnte, blieb nichts anderes 
übrig, als es mit in den Klub zu bringen, wo es auf: 


— 331 — 


wuchs, gepflegt und gehaͤtſchelt von rauhen Haͤnden, aber 
bewacht von guten und treuen Augen und gehegt mit 
jener zarten Geſinnung der Liebe, welche nur in jenen 
Herzen wohnt, die nicht nur zu lieben, ſondern auch zu 
haſſen verſtehen ... Der junge Mann hatte ſich des 
Kindes beſonders angenommen und es hing mit ſeinen 
mageren, kleinen Armen oft ſtundenlang an ſeinem Halſe, 
waͤhrend ſich der Vater an einer Diskuſſion beteiligte; 
und nichts war ſchoͤner als die Sorgfalt und Guͤte, mit 
der er und die andern ihm die Mutter zu erſetzen 
ſuchten. 

Auban laͤchelte, als er dieſes Bild wieder ſah. Er 
ſetzte ſich hinzu und ſcherzte mit dem Kinde, das keine 
Spur von Ermuͤdung verriet. Dann aber wurde er 
wieder uͤberwaͤltigt von ſeinen eigenen ſchweren und 
ernſten Gedanken, denn er hatte an demſelben Tiſche 
ein Geſicht geſehen, das er nur zu gut kannte. Es war 
ein Genoſſe, der unter dem Druck beſtaͤndiger Ver— 
folgungen wahnfinnig geworden war. Erſt uͤberreizt, 
dann von Schwermut befallen, war ſein Wahnſinn hier 
in London, wohin er ſich zuletzt gefluͤchtet, hier, wo er 
ſich in voller Sicherheit befand, zum Durchbruch ge— 
kommen. Er verbrachte die meiſte Zeit in dem Klub, 
wo er gewoͤhnlich in einer Ecke ſaß, keinen Menſchen 
ſtoͤrte und von allen, die ihn ſahen, mit freundlicher 
Teilnahme behandelt wurde. Helfen konnte ihm keiner 
mehr, aber man wollte ihn wenigſtens vor dem Irren— 
hauſe bewahren. 

Auban redete ihn abſichtlich nicht an. Er haͤtte ihn 
nur gequaͤlt. Denn der Ungluͤckliche war am gluͤcklichſten, 


— 332 — 


wenn man ihn allein in ſeinem Winkel ſitzen ließ, wo 
er ſtundenlang mit murmelnden Lippen vor ſich hin— 
ſtarren und mit den haſtigen Fingern unverſtaͤndliche 
Figuren auf die Tiſchplatte zeichnen konnte.. In 
Auban erweckte er ſtets die Erinnerung an einen anderen 
Genoſſen, den der Wahnſinn von einer anderen Seite 
erreicht hatte. Es war einer ſeiner jungen Pariſer Freunde 
geweſen. Feurig, begeiſtert, hingebend, lebte derſelbe nur 
fuͤr die Sache. Er haͤtte ſein Leben fuͤr ſie laſſen moͤgen. 
Er duͤrſtete danach, ſeine Liebe auch zu beweiſen und er 
fand keinen anderen Weg, als den einer „Tat“. Leiden⸗ 
ſchaftliche Reden und anfeuernde Verheißungen hatten ihn 
beeinflußt. Aber ſeine Natur, die vor Blutvergießen und 
Gewalt zuruͤckſchauderte, widerſtrebte. Und in dem langen 
Kampfe zwiſchen dem, was ihm als heiligſte Pflicht er— 
ſchien und dieſer Natur, die deren Erfuͤllung zur Un⸗ 
moͤglichkeit machte, war fein Geiſt erlegen ... 

Waͤhrend Auban in dem Banne dieſer Erinnerung 
ſtand, hoͤrte er Trupps laute, klare Stimme, wie ſie 
den ganzen Raum bis in ſeine Ecken durchdrang: 

— — — Nicht nur mit den Anſichten der Er: 
mordeten von Chicago, ſondern auch mit dem Bomben— 
wurf des 4. Mai, dieſer glorreichen Tat eines Helden, 
haben wir uns ſolidariſch zu erklaͤren! — 

Und vernahm den Jubel, welcher dieſen Worten von 
allen Seiten folgte. 

Es uͤberlief ihn kalt. Er haͤtte aufſtehen und ſeine 
Haͤnde beſchwoͤrend den Toren entgegenhalten moͤgen, 
welche ſich in den Abgrund zu ſtuͤrzen bereit waren, der 
ſich vor ihnen aufgetan. Aber ſeine Vernunft zeigte ihm 


5 a = 5 hi 


— 333 — 


auch ſofort das voͤllig Zweckloſe dieſes Vorhabens: ſtatt 
die Leidenſchaften zu daͤmpfen, wuͤrde ſein Wort ſie an 
dieſem Abend nur höher noch angefacht haben. 

Er ſtuͤtzte den Kopf in die Hand. 

Wenn moͤglich, wollte er noch heute Abend mit Trupp 
ein entſcheidendes Wort reden. 

Er fuͤhlte, daß hier nichts mehr fuͤr ihn zu tun war. 
Er glaubte uͤberhaupt nur noch an Selbſthilfe. Sie 
wuͤrden ihren Weg weiter gehen und ihre Erfahrungen 
machen muͤſſen, vor denen er ſie nicht und keiner be— 
wahren konnte. 

Und er ſtellte ſich wieder die Frage, die ihm oft in 
den letzten Jahren gekommen war: „Haſt du uͤberhaupt 
das Recht, zu helfen? zu beeinfluſſen? zu raten? — Gab 
es einen anderen Weg, als den der Erfahrung? Und 
mußte nicht jede Erfahrung ihre Zeit haben, um gemacht 
zu werden? War es richtig, ihr vorzugreifen? — —“ 

Auban hatte daher, ſeit er in London war, ſich nur 


noch ſelten an Diskuſſionen beteiligt. Mit Vergnuͤgen 


aber erinnerte er ſich immer eines Abends, als er in 
dem engen Barraum uͤber ihm in einer Geſellſchaft von 
vier oder fuͤnf anderen die Frage der Unentgeltlichkeit des 
gegenſeitigen Kredits diskutiert hatte. Jeder hatte ſich, 
nicht mit langen Auseinanderſetzungen, ſondern mit kurzen, 
knappen Fragen und Einwuͤrfen an dieſer Unterhaltung 
beteiligt, war zu Wort gekommen und im Stande geweſen, 
ſeine Gedanken zu formulieren und auszuſprechen, wie er 
es wollte, ſo daß jeder — als ſie auseinander gingen — 
lebhaft angeregt und begeiſtert von dieſer fruchtbaren Art 
und Weiſe des Gedankenaustauſches die Fortſetzung dieſes 


— 334 — 


Abends verlangt hatte. Aber als man wieder beiſammen 
war, diesmal nicht ausnahmsweiſe mehr in kleinem Kreiſe, 
ſondern in der gewohnten groͤßeren Anzahl, war alles 
wieder in die fruͤheren Geleiſe gelenkt: ein einzelner 
Redner ſtand auf, redete zwei Stunden — gemaͤß dem 
Prinzip der perfönlichen Freiheit hatte jeder das Recht, 
zu reden ſo lange wie er wollte und keiner das Recht, 
ihn zu unterbrechen — ſchweifte ab, geriet bald auf ganz 
andere Gebiete, ermuͤdete die einen und langweilte die 
andern, ſo daß Auban die Sache aufgegeben und ſich 
mißmutig entfernt hatte. Das war der letzte Verſuch 
dieſer Art geweſen, den er unternommen. 

Er hatte nicht nur Sympathie, ſondern auch Be⸗ 
wunderung fuͤr dieſe Maͤnner, welche ſich nach der harten 
Arbeit ihrer Tage mit den ernſteſten Fragen in hingebendſter 
Weiſe beſchaͤftigten, waͤhrend ſie ſahen, wie die andern 
ſich bei bloͤdem Kartenſpiel oder ſeichtem Geſchwaͤtz er⸗ 
holten. Er achtete ſie von Grund aus. Um ſo tiefer 
aber beklagte er die haltloſe Unklarheit ihrer Beſtrebungen, 
welche kein einziges Ziel erreichen, immer verzweifelter 
werden und nach tauſendfachen Opfern enden wuͤrden 
wie alle aͤhnlichen: in Blut und in Niederlagen. 

Denn ſie kaͤmpften in Wirklichkeit nicht um die Ver⸗ 
beſſerung ihrer eigenen Lage. Sie kaͤmpften um Ideale, 
die unerreichbar waren, da ſie in der Luft ſchwebten. 
Mehr noch: ſie hatten nur Verachtung und Spott fuͤr 
alle ‚praftifchen‘ Beſtrebungen ihrer Klaſſe, ſich ſelbſt 
zu helfen, welche ihren ‚großen Zielen“ der Befreiung 
der Menſchheit uſw. gegenuͤber nuͤchtern und kleinlich 
erſchienen. 


— 335 — 


Die Verwirrung in ihren Koͤpfen ſchien Auban faſt 
unheilbar, ſeit er ſie erkannte. Er hatte oͤfters Verſuche 
gemacht, zu ſehen, wie weit ſie ging und Reſultate ge— 
funden, die ihn erſt entſetzten, dann entmutigten, 

So ſtellte er einmal einer Anzahl ſeiner Bekannten 
— einem wie den andern — die erſte und einfachſte 
aller Fragen. 

— Wem gehoͤrt der Ertrag deiner Arbeit? — fragte 
er der Reihe nach: zunaͤchſt einige eingefleiſchte Sozial⸗ 
demokraten ſtrengſter Obſervanz; mehrere Kommuniſten, 
und zwar ſowohl folche, welche die Zwangsgeſellſchaft des 
Kommunismus in Schutz nahmen, als auch ſolche, welche 
in der Autonomie des Individuums das letzte Ziel ſahen 
und ſich fuͤr Anarchiſten hielten; endlich mehrere engliſche 
Sozialiſten. Waͤren ſie alle konſequente Denker ihrer 
Weltanſchauung des Sozialismus geweſen, ſo haͤtten ſie 
ſaͤmtlich ohne Ausnahme antworten muͤſſen: „Meine 
Arbeit gehoͤrt den andern: dem Staat, der Geſellſchaft, 
der Menſchheit ... Ich habe kein Recht auf ſie ...“ 
So aber erlebte es Auban, daß ein Sozialdemokrat ohne 
Beſinnen entgegnete: ſeine Arbeit gehoͤre ihm; und ein 
Autonomiſt: ſeine Arbeit gehoͤre der Geſellſchaft; daß die, 
welche ſich auf das bitterſte untereinander befehdeten, in 
dieſer einen Frage, aus der ſich alle anderen ergeben, 
uͤbereinſtimmten; und daß jene, welche auf ein und dem- 
ſelben ſtrengen Boden ſtanden, dieſelbe in direkt ent⸗ 
gegengeſetzter Weiſe beantworteten 

In der Tat: noch nichts war geklaͤrt. Nicht klare 
Gedanken, ſondern dumpfe Gefühle, die noch nicht die 
Schwere des Erwachens von ſich geſchuͤttelt hatten, hielten 


. 


die meiſten zuſammen. Mit dieſen Gefuͤhlen ſchlaͤgt man 
die Revolutionen, aber man ergruͤndet mit ihnen keine 
Wahrheiten. Erſt mußte das kuͤhle, friſche Bad der Er— 
fahrung den Erwachenden den Schlaf aus den Augen 
geſpuͤlt haben, ehe ſie an die Arbeit des neuen Tages 
zu gehen imſtande waren.. 

Es galt: geduldig zu ſein und den Mut nicht zu ver⸗ 
lieren. 

Auban dachte wieder an Trupp und verlangte ihn zu 
ſehen. Im Saale fand er ihn nicht mehr und ſtieg da— 
her die Treppen wieder hinauf. 


Als er den Schenkraum wieder betrat, ſah er den 
Geſuchten ganz allein im Geſpraͤch mit einem Manne 
ſtehen, deſſen Haltung und Kleidung ſofort verriet, daß 
er kein Arbeiter war, aber gerne als ſolcher erſcheinen 
wollte. Er ſtockte daher und fing in demſelben Moment 
einen Blick ſeines Freundes auf, den er auf der Stelle 
verſtand. Der Fremde, der einen Schluck aus dem 
vor ihm ſtehenden Glaſe genommen, konnte von dieſem 
blitzſchnellen, ſchweigenden Gedankenaustauſch nichts be— 
merkt haben. 

Die meiſten der Anweſenden hatten ſich in den Saal 
hinunter begeben. Nur an dem Tiſche ſaßen noch einige 
Genoſſen, leſend und kartenſpielend. Auban ſetzte ſich 
zu ihnen, und zwar fo, daß er Trupp den Ruͤcken zus 
kehrte. Dann begann auch er in einer der herum— 
liegenden Zeitungen ſcheinbar aufmerkſam zu leſen. 

Er konnte von dem hinter ihm gefuͤhrten Geſpraͤch 


N > 


nur einzelne Worte vernehmen, befonders, da deutſch ge⸗ 
ſprochen wurde. Die beiden Redenden daͤmpften ab: 
ſichtlich ihre Stimmen. Aber er hatte noch keine fuͤnf 
Minuten ſo geſeſſen, als er Trupps Hand auf ſeiner 
Schulter fuͤhlte: 

— Du gehſt wohl mit? — Wir wollen noch ein 
Glas Bier trinken. Er wandte ſich ſofort um, und ſah 
im Aufſtehen noch, wie wenig der Fremde ſeine peinliche 
uͤberraſchung uͤber dieſe Aufforderung zu unterdruͤcken 
vermochte. i 

Sie verließen alle drei zuſammen den Klub. Der 
Fremde verbarg ſeine Verlegenheit beim Durchſchreiten 
der Tuͤr hinter einer befliſſenen Hoͤflichkeit, mit der er 
Auban vorangehen ließ. 

Als ſie auf der Straße ſtanden, ſagte Trupp laut zu 
Auban: „Ein ausgewieſener Genoſſe von Berlin. 'ne 
nette Gegend, nicht wahr? —“ 

Auban biß ſich auf die Lippen. Bei ſolchen Gelegen— 
heiten war ſein Freund einzig. 

— Was ſind Sie? fragte er den Berliner in deutſcher 
Sprache. 

— Ich bin Schuhmacher, aber ich finde hier keine 
Arbeit — 

— So, Sie ſind Schuhmacher. Womit reinigen Sie 
denn Ihre Haͤnde, daß ſie ſo weiß ſind? fragte Auban 
weiter. 

Nun wurde der andere ernſtlich beunruhigt. Ab— 
wechſelnd flog ſein ſcheuer Blick vom einen zu andern. 


Er ging zwiſchen ihnen. Er wollte ſtehen bleiben, aber 
VIII 22 


— 338 — 


Auban und Trupp gingen ſo unbekuͤmmert weiter, daß 
er nur fragen konnte: „Sie glauben mir nicht?“ — 

Trupp brach in ein lautes Lachen aus, das ſo 
natuͤrlich klang, wie das eines Kindes. 

— Ach was, der Genoſſe macht ja nur Unſinn! Wer 
wird Ihnen denn nicht glauben? 

Und er wurde ploͤtzlich ſehr geſpraͤchig, ſo daß keiner 
der andern zu Wort kommen konnte. Alles aber, was er 
erzaͤhlte, drehte ſich um die Entlarvung von Spitzeln, 
Polizeiagenten und aͤhnlichem Geſindel. Er machte ſich 
luſtig uͤber die Dummheit ſowohl der Auftraggeber, als 
auch der Beauftragten. — Er ſprach auch von den frei⸗ 
willigen Spionen, die ſich in die Klubs und die Ver— 
ſammlungen geſchlichen hatten, fo lange überall umher— 
ſchnuͤffelten, bis ſie herausgeworfen wurden, worauf ſie 
ſchließlich die Zeitungen mit luͤgenhaften Berichten uͤber 
die kaum geſehenen und gar nicht verſtandenen Zuſtaͤnde 
gefuͤllt haͤtten. f 

Trupps Abſicht war nicht mehr zu verkennen, be⸗ 
ſonders da er ſich um Auban, der, ſcheinbar in ſeine 
eigenen Gedanken verſunken, dahin ging, nicht kuͤmmerte, 
ſondern Schritt fuͤr Schritt dicht an der Seite des 
Fremden blieb, der ihm nicht entrinnen konnte und in 
dem jedes ſeiner Worte die Unruhe und Angſt ſichtlich 
ſteigerte. 

Sie hatten eine enge und völlig duͤſtere Straße er⸗ 
reicht, die nur von einer einzigen Laterne erhellt wurde 
und ganz menſchenleer war. Mehrere Haͤuſer traten hier 
tief zuruͤck und ließen eine weite Ecke frei, ehe ſich die 
Gaſſe wieder verengte. 


4 
* 
4 
4 


— 3539 — 


Hier war Trupp an ſeinem Ziel, und er unterbrach 
fi ch plöglich ſelbſt. 

Der Spitzel ſah, daß alles verloren war. 

— Wohin gehen wir? ſtieß er mit Anſtrengung her 
vor und blieb ſtehen. — Ich will nicht weiter — 

Da hatte ihn bereits die Fauſt Trupps gepackt und 
wuchtig gegen die Wand geſtoßen. 

— Du Schurke! brach er los. — Jetzt habe ich 
dich! 

Und zweimal fiel ſeine freie Hand auf die Wangen 
des Elenden nieder: einmal von rechts und einmal von 
links, und beide Male hoͤrte Auban das klatſchende Auf— 
ſchlagen dieſer eiſernen Hand. 

Der Geſchlagene war wie betaͤubt. Nur wie zur 
Abwehr hob er die Arme empor, ſein Geſicht mit ihnen 
zu ſchützen. ö 

Aber Trupp herrſchte ihn an: „Die Arme nieder!“ 
Und willenlos, wie ein Kind, das von ſeinem Lehrer 
gezuͤchtigt wird, ließ er fie wieder ſinken. 

Noch einmal — und noch einmal ſauſte Trupps 
Hand nieder, und mit jedem Schlag machte ſich fein 
Zorn zugleich in Worten Luft: „Du Lump — du ge⸗ 
meiner Lump — du haſt uns verraten wollen, du Spion? 
— Warte, du kommſt nicht wieder!“ 

Und wieder fiel ſeine Hand. 

— Helfen Sie mir — er erwuͤrgt mich — rang es 
ſich keuchend von den Lippen des von Todesangſt Er⸗ 
griffenen. 

Aber Auban ſtand teilnahmlos, halb abgewandt, die 


Arme uͤber der Bruſt verſchraͤnkt und ruͤhrte ſich nicht. 
22* 


„ 


And wie eine Puppe von Stroh ſchuͤttelte Trupp fein 
Opfer. „Ja, erwuͤrgen ſollte man Euch Hunde,“ brach er 
wiederum los, „das waͤre das Beſte! — Euch alle mit⸗ 
einander, Euch Spitzel, Euch Schufte!“ — Und indem er 
den halb zur Erde Geſunkenen emporriß, ſchleifte er ihn, 
immer mit der einen Hand, die ſich in die Bruſt des 
andern unloͤslich eingekrallt zu haben ſchien, naͤher in 
den Schein des Lichtes, das unruhig flackernd niederfiel, 
und zeigte Auban das blaſſe, von Todesangſt entſtellte, 
unter dem Drucke dieſer moͤrderiſch-eiſernen Fauſt ver⸗ 
zerrte, feige Geſicht: „Auban, ſieh her: ſo ſehen ſie aus, 
dieſe Elenden, die das gemeinſte aller Handwerke treiben!“ 
Und er oͤffnete ſeine Fauſt, die wie ein Schraubſtock auf 
der Bruſt ſeines Opfers lag, und dieſes — kraftlos und 
von Schwindel ergriffen — taumelte zuruͤck, fiel nieder, 
raffte ſich wieder auf, murmelte einige unverſtaͤndliche 
Worte und verſchwand in dem Dunkel. 

Die beiden Freunde wandten keinen Blick mehr nach 
dem Geſtuͤrzten. Während fie ſchnell Oxford Street zu⸗ 
ſchritten, erzaͤhlte Trupp die Einzelheiten dieſes neuen 
Falles. Von jetzt ab ſprachen die Freunde franzoͤſiſch. 

Eines Tages ſei dieſer Menſch zu einem der Mit⸗ 
glieder gekommen, mit dem Empfehlungsbrief eines 
Berliner Genoſſen. Dieſes Mitglied habe den Über 
bringer auch in den Klub eingefuͤhrt, und eine Anfrage 
in Berlin habe beſtaͤtigt, daß die Empfehlung in Ordnung 
ſei. Dann aber habe ſich herausgeſtellt, daß der eigent- 
liche Empfänger derſelben mit dem Überbringer nicht 
identiſch ſei, daß alſo dieſer ſie von jenem erhalten und 
ſich unter fremdem Namen eingefuͤhrt haben mußte. 


— 341 — 


Daraufhin habe man einen der Genoſſen in unauffaͤlliger 
Weiſe mit ihm zuſammen wohnen laſſen und eines Tages 
denn auch die ganze Korreſpondenz des ſo auf Schritt 
und Tritt faſt Beobachteten in die Haͤnde bekommen, 
aus der ſich ergeben habe, daß man es mit einem direkt 
im Solde der deutſchen Polizei ſtehenden Spitzel zu tun 
hatte, der gegen ein monatliches Gehalt ſeinen Auftrags 
gebern uͤber alle Vorgaͤnge in den anarchiſtiſchen Klubs 
Londons jede gewuͤnſchte Auskunft zu geben ſich ver— 
pflichtet. — Man habe einen Skandal im Klub ver⸗ 
meiden wollen, um der engliſchen Polizei nicht die ſo 
erwuͤnſchte Gelegenheit zu geben, in den Klub zu dringen. 

Er ſelbſt, Trupp, habe die Zuͤchtigung eee 
von der Auban ſoeben Zeuge geweſen jet. N 

Derartige Entlarvungen waren weder n noch be⸗ 
ſonders ſelten. Meiſtens kamen die, welche ſich dieſem 
ſchmutzigſten und veraͤchtlichſten aller Gewerbe widmeten, 
mit einer Tracht Pruͤgel davon; oft rochen ſie Lunte und 
entzogen ſich der Entdeckung rechtzeitig durch die Flucht. 
Das Mißtrauen unter den Revolutionaͤren war infolge der 
unablaͤſſigen Hetzereien, Verdaͤchtigungen, Verfolgungen 
ſehr groß geworden. Plaͤne von Wichtigkeit wurden nie 
in groͤßerem Kreiſe mehr beſprochen, blieben meiſt das 
Geheimnis ganz weniger Vertrauten, oft in der Bruſt 
eines einzigen verſchloſſen. — Noch groͤßer aber, als 
gegen unbekannte Arbeiter, war das Mißtrauen gegen 
geiſtige Arbeiter geworden, infolge der trüben Erfahrungen, 
die man mit Zeitungsſchreibern und Literaten gemacht 
hatte. Nichts war gerechtfertigter, als die Vorſicht gegen⸗ 
über dieſen Leuten: unter zehn waren ſicher neun, die 


— 342 — 


unter dem Vorgeben, die Lehren des Anarchismus 
ſtudieren! zu wollen, nur in die Geheimniſſe der 
Propaganda einzudringen verſuchten, um ſodann ihren 
einſichts⸗ und urteilsloſen Leſern die haarſtraͤubendſten 
Schauergeſchichten uͤber dieſe Banden von Moͤrdern 
und Verbrechern“ auftiſchen zu koͤnnen. Daß durch 
dieſes Mißtrauen manch einer aus den Reihen des 
geiſtigen Proletariats, welcher unter dem Druck der 
heutigen Zuſtaͤnde ebenſo ſchwer, ja ſchwerer litt als 
der Handarbeiter, und daher von demſelben großen 
Haß gegen dieſe Zuſtaͤnde erfüllt war, verſcheucht wurde 
— wenn er kam, ſeine geiſtigen Kraͤfte in den Dienſt 
der „vorgeſchrittenſten aller Parteien“ zu ſtellen —, war 
eine Tatſache, die, wie Trupp ſagte, nicht „zu aͤndern 
war“. Um ſo groͤßer waren die Hoffnungen, welche 
Auban gerade auf dieſe zu ſetzen begann: ſie, durch keine 
Ruͤckſicht gehemmt, im Beſitz einer ſchwer auf ihnen 
laſtenden Bildung, würden ſicher die erſten und viel: 
leicht zunaͤchſt noch die einzigen ſein, welche die Konſe⸗ 
quenzen des Individualismus zu ziehen nicht nur bereit, 
ſondern auch faͤhig waren. 

Trupp war in ſeinem Geſpraͤch bei einem Punkte 
angekommen, der ihn ſtets ſehr erregte. 
L Die Sozialdemokraten behaupten, ſagte er mit 
ſeinem bitteren Lachen, — alle Anarchiſten ſeien Spitzel; 
oder auch, wenn es ihnen gerade beſſer paßt, es gaͤbe 
uͤberhaupt keine Anarchiſten. — Ah, fuhr er empoͤrt 
fort, — es gibt nicht eine Gemeinheit, die von dieſer 
Partei nicht gegen uns begangen worden waͤre, vor allem 
von ihren ehrenwerten Fuͤhrern, welche die Arbeiter 


ge 


— 343 — 


an der Naſe herumfuͤhren, daß es eine Schande iſt. Erſt 
haben ſie uns verhoͤhnt und verlacht, dann haben ſie uns 
verleumdet, verhetzt, haben uns uͤberall geſchadet, wo ſie 
nur konnten, vom Anfang an bis heute in uns die 
bitterſten Feinde geſehen, alles aus dem einzigen Grunde, 
weil wir verſuchten, dem Arbeiter die Augen uͤber die 
Nutzloſigkeit ſeiner Opfer, des Stimmkaſtenwahlſchwindels, 
der ganzen Parteimeierei zu oͤffnen. Du machſt dir keinen 
Begriff davon, Auban, wie korrupt die Partei in Deutſch⸗ 
land iſt: die koͤnigstreuen Preußen find nicht unſelb⸗ 
ftändiger und feiger ihrem Herrn und Meiſter, als die 
deutſchen Arbeiter, die zur Partei gehören, ihren Fuͤhrern“ 
gegenüber! ... Wie ſoll das enden? — 

— Nun, meinte Auban ruhig, — zwiſchen den Arbeitern 
als Klaſſe und den Sozialdemokraten als Partei iſt ein 
gewaltiger Unterſchied. Es iſt nicht denkbar, daß die 
einen einmal in die andern voͤllig aufgehen. Daher 
brauchen wir uns auch vor der Zukunft nicht zu ſehr zu 
fuͤrchten. — Ich glaube ſogar, daß die wichtigſten Schritte 
zur Befreiung der Arbeit gar nicht von den ſozialiſtiſchen 
Parteien ausgehen werden, ſondern von den hier und 
da zur allmaͤhlichen Erkenntnis ihrer wahren Intereſſen 
gelangenden Arbeitern ſelbſt. Sie werden die Partei 
einfach beiſeite ſchieben. 

Aber von euch werden ſie erſt recht nichts wiſſen 
wollen. Das muͤßt ihr euch klar machen. Denn erſtens 
koͤnnen ſie euch hoͤchſtens mit dem Herzen, nicht aber mit 
dem Verſtande verſtehen, und zur wirklichen Verbeſſerung 
ihrer Lage haben ſie gar nichts anderes noͤtig als ihren 
Verſtand, der ihnen den rechten Weg allein zeigen kann: 


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ich meine den des Egoismus. Und zweitens habt ihr 
durch widerſinnige Vermengung aller Lebensanſchauungen, 
weit mehr aber noch durch eure Taktik die Vorurteile 
der Dummheit derart herausgefordert und ihnen ſchein⸗ 
bar recht gegeben, daß Schon ein erzeptionell ſelbſtaͤndiger 
Wille und ein ganz ſeltener Erkenntnistrieb dazu gehoͤrt, 
um euren Wegen nachzugehen. Oder aber ein heißes 
Herz — das habt ihr ja alle! — 

— Als ob du das nicht haͤtteſt! lachte Trupp bie 
Ja, heiß genug, um die Sache der Freiheit immer 
zu lieben, wie ich hoffe. Aber nicht mehr heiß genug, 
um ſie durch Torheiten zu ſchaͤdigen. 

— Rt nennſt du eine Torheit? — Unſere Taktik? — 

— Das ſagſt du? — Frage ir; fait drohend. 

5 Ja, ich. 

— Nun, dann iſt es auch Zeit, daß wir uns eben 
darüber einmal gruͤndlich ausſprechen. 

— Gewiß. Aber laß uns erſt allein ſein. Nicht hier 
auf der Straße. 

Sie gingen haſtig weiter. Trupp ſchwieg. Als das 
Licht einer Laterne auf ſie fiel, ſah Auban, wie er am 
ganzen Koͤrper, wie von Froſt geſchuͤttelt, bebte, indem 
er mit dem Munde das einer Verletzung ſeiner Hand 
entſtroͤmende Blut aufſog, welche bei der Zuͤchtigung des 
Spitzels die Wand geſtreift haben mußte. 

— Du zitterſt? fragte er, da er glaubte, die Auf 
regung ſei daran ſchuld. 

Aber Trupp erklaͤrte ihm muͤrriſch, es ſei nie: 


* 


er ſei nur den ganzen Tag herumgelaufen und habe das 
Eſſen darüber vergeſſen. Auban ſchuͤttelte den Kopf. 

— Du biſt doch unverbeſſerlich, Otto! Den ganzen 
Tag nichts zu genießen, welcher Unſinn! 

Er nahm ihn beim Arme und zog ihn fort. Sie 
traten in ein kleines, beſcheidenes Reſtaurant, das in 
Oxford Street lag. Dort wußten fie ein wenig bes 
ſuchtes Hinterzimmer. Als ſie auf dem braunen Leder: 
ſofa in der ſtillen Ecke ſaßen und Trupp haſtig und 
ſchweigend aß, waͤhrend Auban ihm zuſah, wie er mit 
feinen kraͤftigen Zähnen das Fleiſch zerbiß, erinnerte er 
ihn daran, daß ſie in dieſem ſelben Raum auch den 
erſten Abend in London verbracht hatten, an dem ſie 
ſich nach Jahren zum erſtenmal wieder allein gegenuͤber 
ſaßen, und er ſagte laͤchelnd: i 

— Ft es nicht ganz wie damals?. 

Aber Trupp warf ihm einen bittern Blick des Vor— 
wurfs zu und ſchob Teller und Glas von ſich. Seine 
augenblickliche Schwaͤche war verſchwunden und er war 
ganz wieder der eiſerne Menſch, deſſen phyſiſche Kraft 
unerſchuͤtterlich war. 

— So, jetzt laß uns reden. Oder biſt du müde? 

— Ich bin nicht muͤde, ſagte Auban. 

Trupp ſann einen Augenblick nach. Er fuͤrchtete 05 
kommende Geſpraͤch, denn er ahnte, daß es entſcheidend 
ſein wuͤrde. Er wuͤnſchte von Herzen ſeinen Freund 
durch ſeine Worte für die Sache der Revolution zuruͤckzu⸗ 
gewinnen, fuͤr den Kampf des Tages, in dem er und 
ſeine Genoſſen ſtanden, denn er wußte, wie unſchaͤtzbar 
ſeine Kraft war. Er wollte nicht durch Schroffheit einen 


— 346 — 


Bruch abſichtlich herbeifuͤhren, aber er konnte auch die 
Vorwuͤrfe, welche ſich in ihm angeſammelt . nicht 
unausgeſprochen ſein laſſen. 

— Seitdem du in London biſt, begann er, — und 
das Gefaͤngnis verlaſſen haſt, biſt du ein anderer. Ich 
kenne dich kaum mehr wieder. Du haſt dich an nichts 
mehr beteiligt: an keiner Verſammlung, keinem Plane, 
keinem Unternehmen mehr. Du haſt nichts mehr ge⸗ 
ſchrieben: keine Zeile mehr. Du haſt faſt jede Fuͤhlung 
mit uns verloren. — Welche Entſchuldigung haſt du 
dafuͤr? 

— Welche Entſchuldigung ich habe? ange Auban 
mit einiger Schaͤrfe. — Wofuͤr? — Und gegenuͤber wem? 

— Gegenuͤber der Sache! antwortete Trupp heftig. 

— Meine Sache iſt meine Freiheit. 

— Einſt war die Freiheit deine Sache. 

— Das war mein Irrtum. Einſt glaubte ich bei den 
anderen anfangen zu muͤſſen; jetzt habe ich eingeſehen, 
daß es noͤtig iſt, bei ſich zu beginnen und immer von 
ſich auszugehen. 

Trupp ſchwieg. Dann begann Auban: 

— Wir haben vor vierzehn Tagen bei mir uͤber unſere 
Anſchauungen geſprochen, und ich hoffe dir gezeigt zu 
haben, wo ich ſtehe, wenn ich auch nicht hoffen darf, 
dir klar gemacht zu haben, wo du ſtehſt. Ich war 
bemuͤht, die eine Seite der Frage in ein grelles Licht 
zu ruͤcken. Die andere Seite liegt noch zwiſchen uns 
im Dunkeln: die der Taktik. Wenn wir nun heute Abend 
auch dieſe beleuchten, ſo ſetze ich voraus, du biſt davon 
uͤberzeugt, daß es nicht moraliſche oder aͤhnliche Bedenken 


— 347 — 


ſind, die mich dazu veranlaſſen, dir zu ſagen: ich halte 
die Taktik, die ihr befolgt, die ſogenannte „Propaganda 
der Tat“, nicht allein fuͤr unnuͤtz, ſondern auch fuͤr 
ſchaͤdlich. Ihr werdet nie mit ihr einen dauernden Sieg 
erfechten. 

Trupps Augen waren ſtarr auf den Sprechenden ge— 
richtet. Sie gluͤhten vor Erregung und ſeine blutende 
Hand, die er mit einem Tuch umwickelt hatte, fiel ge⸗ 
ballt auf den Tiſch. 

— Gut, daß wir reden! rief er. — Du verlangſt 
alſo, daß wir die Haͤnde in den Schoß legen und uns 
ruhig morden laſſen ſollen? 

Er ſprang auf. 

— Du verteidigſt unſere Feinde! ſtieß er hervor. 

— Im Gegenteil: ich habe eine Waffe gefunden, 
gegen die ſie machtlos ſind, ſagte Auban ruhig und legte 
ſeine Hand auf den Arm des Erregten, mit deren Druck 
er ihn auf ſeinen Platz zuruͤcknoͤtigte. 

— Ich haſſe die Gewalt in jeder Form! ſprach er 
weiter; und von nun an ſchien er es zu ſein, der den 
anderen uͤberzeugen und gewinnen wollte fuͤr ſeine Idee: 
— Es gilt, die Gewalt unmöglich zu machen. Das ges 
ſchieht nicht, indem man ihr ebenfalls Gewalt entgegen⸗ 
ſetzt: der Teufel laͤßt ſich nicht durch Beelzebub aus— 
treiben.. Schon habt ihr in fo manchem Punkte 
eure Anſicht geaͤndert. Einſt waret ihr die Verteidiger 
der Geheimbuͤnde und der großen Vereinigungen, welche 
die Proletarier aller Laͤnder und jeder Sprache vereinigen 
ſollten — dann ſaht ihr ein, wie leicht es der Regierung 

iſt, in die erſteren eines ihrer unſauberen Elemente ein⸗ 


— 348 — 


zuſchmuggeln, welches ihr das ganze Fadenbuͤndel auf 
einmal in die Hand gibt, und wie die letzteren noch 
jedesmal der Zerſplitterung, der Zeit und ihrem eigenen 
Schickſal erlegen ſind; und ſeitdem ſeid ihr immer mehr 
auf das Individuum zuruͤckgekommen, lehrt als das 
einzig Zweckmaͤßige das Zuſammenſchließen in moͤglichſt 
kleine Gruppen, die voneinander moͤglichſt wenig wiſſen, 
und die individuelle Tat als das einzig richtige; ſeitdem 
verwerft ihr ſelbſt das Vertrauen unter den intimſten 
Freunden in beſtimmten Faͤllen gaͤnzlich. — Einſt erſchien 
eure Zeitung in „Nirgendsheim“ und wurde von der 
„freien Gemeindruckerei“ gedruckt — heute erſcheint ſie, 
wie jede andere, mit Namen und Wohnung des Druckers 
auf der letzten Seite ... Und ſo iſt alles, die ganze 
Bewegung, mehr und . in das Acht der Öffentlichkeit 
gerückt, 

Er ſchwieg einen Augenblick. 

Dann ſagte er eindringlich: . 

— Eure ganze Taktik iſt eine falſche. Vergeſſen wir 
doch nie, daß wir Krieg fuͤhren. 

Was aber iſt das A und O aller: Kriegführung! — 
Jeder Leutnant kann es dir ſagen: 

Mit moͤglichſt geringem Verluſt an Opfern dem Feinde 
moͤglichſt große Niederlagen beizubringen. i 

Die moderne Kriegskunſt erkennt immer mehr er 
Wert der Defenſive an; fie verwirft immer mehr den 
nutzloſen Angriff. 

Lernen wir doch von ihr, wie wir von u allem benen 
ſollten, was irgend uns nur nuͤtzen kann. — 

Aber meine Bedenken ſind noch weit ernſterer FR 


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— 349 — 


Ich werfe euch ſogar vor, daß ihr die allererſte Be— 
dingung jeder Kriegsführung verachtet: die eigene Staͤrke, 
wie die des Feindes, genau kennen zu lernen. 

Es muß geſagt werden: Ihr überfchägt euch, und ihr 
unterſchaͤtzt den Feind! 

— Und was, fragte Trupp hohnvoll, — ſollen wir 
tun? Wenn ich fragen darf. 

— Was ihr tun ſollt, weiß ich nicht. Das muͤßt 
ihr ſelber wiſſen. — Aber ich behaupte: der paſſive 
Widerſtand gegen die aggreſſive Gewalt iſt das einzige 
Mittel, dieſelbe zu brechen. 

Trupp lachte, und zwiſchen den beiden Maͤnnern ent⸗ 


ſpann ſich ein erregtes Geſpraͤch. Jeder verteidigte ſeine 


Taktik, indem er Beiſpiele heranzog, ihre Wirkung zu 
beweiſen. 

Er war ſpaͤt, als ſie endeten: Auban durchdrungen 
von der Unmoͤglichkeit, ſeinen Freund je uͤberzeugen zu 
koͤnnen, und dieſer erbittert und gereizt über ſeinen ‚Ab: 


fall‘, 


Sie verließen das Public Houſe und ſtanden nach 
wenigen Schritten auf dem Platze, in dem Tottenham Court 
Road mit Oxford Street und den ſuͤdlichen Straßen zus 
ſammenſtoͤßt. Aber noch trennten fie ſich nicht. Indem 
ſie einige der engeren und weniger uͤberfuͤllten Straßen 
betraten und hier auf und nieder ſchritten, ſagten ſie 
ſich ihre letzten und entſcheidendſten Worte. 

— Ihr arbeitet den Regierungen mit eurer Propa— 
ganda in die Haͤnde. Ihr erfuͤllt ihre liebſten Wuͤnſche. 
Nichts kommt ihnen gelegener, als eure Taktik, um zu 
Mitteln der Unterdruͤckung greifen zu koͤnnen, fuͤr die 


— 350 — 


ihnen ſonſt jede Entſchuldigung fehlen würde. Beweis: 
die agents provocateurs, welche in ihrem Auftrage zu 
ſolchen Taten reizen. Es liegt eine ſchauerliche Komik 
in dem Gedanken, daß ihr — die freiwilligen Helfer 
der Gewalt ſeid, ihr, die ihr die Freiheit wollt!. 

Er ſchwieg und von fern her drang der Laͤrm der 
Orford Street zu ihnen in dieſe dunkle und ſtille Neben⸗ 
ſtraße, nur von wenigen ſcheuen Geſtalten durcheilt, 
die ſich von dem Menſchenſtrom der Hauptſtraße wie 
Aſchenfunken losgeloͤſt hatten. 

Trupp ſtand ſtill. An dem gepreßten Tone ſeiner 
Stimme erkannte Auban, wie ſchwer es ihm wurde, aus⸗ 
zuſprechen, was er ihm jetzt entgegnete. 

— Du biſt kein Revolutionaͤr mehr! Du haſt dich 
losgeſagt von der großen Sache der Menſchheit. — Fruͤher 
haſt du uns verſtanden und wir verſtanden dich. Heute 
verſtehen wir dich nicht mehr, weil du uns nicht mehr 
verſtehſt. Du biſt ein Bourgeois geworden. Oder viel⸗ 
mehr: Du biſt immer ein Bourgeois geweſen. Geh hin, 
woher du gekommen biſt. Wir werden auch ohne dich 
ans Ziel gelangen. 

Da lachte Auban. Er lachte ſo laut, daß die Vor⸗ 
uͤbergehenden ſtehen blieben und ſich umſahen. Und mit 
dieſem lauten, vollen, klaren Lachen, das bewies, wie 
wenig ihn dieſe Worte beleidigten, loͤſte ſich von ſeiner 
Bruſt, was ſie bedruͤckt hatte in dieſen Tagen. 

— Ich ſollte Euch nicht verſtehen, Otto! ſagte er 
und ſein Lachen verſchwand vor dem Ernſt ſeiner Worte. 
Du glaubſt ſelbſt nicht, was du ſagſt. Ich ſollte euch 
nicht verſtehen, ich, der ich jahrelang mit euren Gefühlen 


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— 351 — 


gefühlt und mit euren Gedanken gedacht habe?! — Wenn 
ihr die Staͤdte an hundert Ecken zugleich in Brand 
ſtecktet, wenn ihr die Laͤnder verwuͤſtetet ſo weit euer 
Arm reichte, wenn ihr die Erde in die Luft ſprengtet 
oder in Blut ertraͤnktet — ich wuͤrde euch verſtehen! 
Wenn ihr Rache naͤhmet an euren Feinden, indem ihr 
ſie vernichtetet bis auf den letzten — ich koͤnnte es be⸗ 
greifen! Und wenn es nötig wäre, um die Freiheit end⸗ 
lich zu erringen — ich wuͤrde in euren Reihen ſtehen 
und kaͤmpfen bis zu meinem letzten Atemzuge! — Ich 
verſtehe euch, aber ich glaube nicht mehr an den gewalt⸗ 
ſamen Fortſchritt der Dinge. Und weil ich nicht mehr 
an ihn glaube, verwerfe ich die Gewalt als ein Kampf: 
mittel der Toren und Uneinfichtigen . . . 

Und da ihm wieder die Worte einfielen, die Trupp eben 
geſagt, ſtieg das Lachen von neuem in ihm auf und er ſchloß: 

— Wirklich, es fehlt nur noch, nach allem, was du 
mir heute geſagt, die Behauptung, daß ich die Taktik 
der Gewalt verwerfe, um — die Feinde zu ſchonen! 

Aber wieder verſtummte ſein Lachen, als ſein Blick 
dem Trupps begegnete, der mit harter und faſt feind— 
ſeliger Stimme ſagte: 

— Wer nicht fuͤr uns iſt, der iſt wider uns! 

Die beiden Maͤnner ſtanden ſich gegenuͤber, ſo dicht, 
daß Bruſt ſich mit Bruſt zu beruͤhren ſchien. Ihre 
Blicke begegneten ſich in eiſerner Entſchloſſenheit. 

— Gut, ſagte Auban, und feine Stimme klang fo 
ruhig, wie immer, — werft weiter Bomben, und laßt 
euch weiter dafuͤr haͤngen, wenn ihr denn nie klug 
werden wollt. Ich bin der letzte, der dem Selbſtmoͤrder 


— 352 — 


das Recht beſtreitet, ſich ſelbſt zu vernichten. — Aber ihr 
lehrt eure Taktik als eine Pflicht gegen die Menſchheit, 
und ihr ſelbſt befolgt ſie nicht. Das iſt es, wogegen ich 
proteſtiere. Ihr nehmt eine furchtbare Verantwortung “er 
euch: die Verantwortlichkeit für das Leben anderer ... 

— Fuͤr das Gluͤck der Menſchheit RATEN Opfer ge 
bracht werden, ſagte Trupp finfter. 

— Dann bringt euch ſelbſt als Opfer! rief Auban. 
— Dann ſeid Maͤnner, und keine Schwaͤtzer! — Glaubt 
ihr wirklich an die Befreiung der Menſchheit mittels Ge— 
walt und kann euch keine Erfahrung von dieſem wahn⸗ 
ſinnigen Glauben heilen, dann handelt auch, ſtatt in euren 
Klubs zu ſitzen und euch gegenſeitig an euren Phraſen 
zu berauſchen! Dann erſchuͤttert die Welt mit euren 
Bomben, dann zeigt ihr das Geſicht des Schreckens, damit 
fie euch fürchtet, ſtatt euch wie heute nur zu haſſen! .. 

Trupp war erblaßt. Noch nie war dieſer wundeſte 
aller Punkte zwiſchen ihnen in ſolch mitleidsloſer Weiſe 
beruͤhrt worden. 

— Was ich tun werde, und nur von mir kann ich 
ſprechen, das weißt du nicht. Aber du wirſt es eines 
Tages erfahren, murmelte er. Nicht er war von den 
Worten Aubans getroffen worden. Er war eine Natur, 
die keine Feigheit und keine Unentſchloſſenheit kannte und 
die ſtark genug war, das Gewollte auch zu tun. Aber 
er fuͤhlte mit Bitterkeit, wieviel Wahres im allgemeinen 
in dem Vorwurf lag, den er ſoeben gehoͤrt. 

Und er machte dem Geſpraͤche abſichtlich ein Ende, 
indem er ſagte: 

— Was wollen wir denn eigentlich noch miteinander? 


— 353 — 


— Mein Leben iſt meine Sache. Du biſt mein Freund 
geworden, weil du mein Genoſſe warſt. Meine Genoſſen 
ſind meine Freunde. Ich kenne keine andere Freund— 
ſchaft. Du haſt dich losgeſagt von der Sache — wir 
haben nichts Gemeinſames mehr. Du wirſt ſie nicht 
verraten, aber du wirſt ihr nichts mehr nuͤtzen, ſo, wie 
du jetzt biſt. Es iſt beſſer, wir ſcheiden. 

Aubans Erregung hatte ſich wieder gelegt. 

— Du mußt handeln, wie du es fuͤr das beſte haͤltſt, 
Otto. Wenn du mich ſuchſt, ſo wirſt du mich finden, 
indem du die Richtung nimmſt, welche die Freiheit weiſt. 
— Wohin aber gehſt du? 

— Ich gehe mit meinen Bruͤdern, welche leiden 
wie ich! — 

Sie gaben ſich die Hand mit demſelben feſten Druck, 
wie immer. 


Dann gingen ſie auseinander: jeder von ihnen ſeinen 
eigenen, langen, einſamen Weg, in Gedanken verſunken. 
die ſo verſchieden waren wie die Richtung, die ſie nahmen. 
Sie wußten, daß es lange dauern wuͤrde, bis ſie ſich 
wieder ſehen ſollten; und ſie ahnten, daß ſie an dem 
heutigen Abend zum letztenmal allein miteinander ges 
ſprochen hatten. 

Bis heute waren ſie Freunde geweſen; von nun an 
wuͤrden ſie Gegner ſein, wenn auch nur Gegner im 
Kampfe um ein Ideal, das ſie beide mit demſelben 
Namen nannten: Freiheit. 


VIII 23 


Neuntes Kapitel 
Trafalgar Square 


London lag im Fieber. 

Es erreichte ſeine hoͤchſte Hoͤhe am zweiten Sonntage 
des November, dem, welcher auf die Ereigniſſe in Chicago 
folgte. 

Unter den vielen merkwuͤrdigen Tagen dieſes merk— 
wuͤrdigen Jahres ſollte dieſer 13. November eine erſte 
Stelle einnehmen. 

Die „Unemployed“ waren ſeit einem Monat je 
nach Laune der Polizeigewalt heute von Trafalgar Square, 
dem beſtgelegenen oͤffentlichen Verſammlungsplatz der 
Stadt, vertrieben, um morgen wieder zu ihm zugelaſſen 
zu werden. 

Dieſer Zuſtand wurde auf die Dauer unertraͤglich. 
Die Klagen der Hungernden wurden immer verzweifelter, 
während Hotelbeſitzer und Pfandleiher in den Verſamm⸗ 
lungen eine Schaͤdigung ihrer Geſchaͤfte ſahen und die 
Organe der ‚öffentlichen Gewalt‘ ihre Diener, zu ihrem 
Schutze herbeiriefen. 

Ein Drekret des Polizeikommiſſaͤrs verbot im Ans 
fang des Monats die fernere Abhaltung irgendeines 
Meetings auf Trafalgar Square. 


— 355 — 


Dreißig Jahre lang war dieſer Platz, „the finest 
site of Europe“, von allen Parteien zu unzaͤhligen Zu— 
ſammenkuͤnften bei den verſchiedenſten Gelegenheiten be— 
nuͤtzt worden. Ein Handſtreich ſollte alle vertreiben? 

Die Frage nach der „Geſetzmaͤßigkeit“ dieſer Gewalt— 
tat war die erſte, die ſich erhob. Die Spalten der 
Zeitungen fuͤllten ſich mit Paragraphen aus vergilbten 
Geſetzesbuͤchern, denen ſolche aus noch vermoderteren ent— 
gegengehalten wurden; mit jenen Inſignien einer uſurpierten 
Macht, die den im Glauben an menſchliche Autorität Er⸗ 
zogenen mit geheimnisvollem Schauder vor dem Unfaß— 
baren erfuͤllen. 

Jeder Buͤrger des Staates iſt Teilnehmer an den 
Geſetzen ſeines Landes, ſo ſagt man. Gibt es wohl 
einen einzigen unter Tauſenden, der weiß, was 57 
George III, cap. 19, sec. 23, oder 2 and 3 Vic., c. 47, 
sec. 52 bedeutet? Hieroglyphen. 

Natürlich war es dem Polizeihaͤuptling völlig gleiche 
gültig, ob feine Verfügung „geſetzlich“ oder „ungeſetzlich“ 
war. Hatte er die Macht, ihre Anerkennung heute zu 
erzwingen, ſo war ſie „geſetzlich“ und Trafalgar Square 
Eigentum der Koͤnigin und der Krone; war das „Volk“ 
ſtark genug, ihn und ſeine Leute morgen von Trafalgar 
Square zu vertreiben, ſo blieb der Platz, was er ge— 
weſen war, „Eigentum des Volkes“, und jedermann konnte 
auf ihm ſo viel und ſo lange reden, als er Hoͤrer fand, 
die ihm lauſchten. Oder auch noch laͤnger. 

Die Frage der Arbeitsloſen trat mit einem Schlage 
in den Hintergrund. Dem Tory-Regiment ſtanden nun 


plotzlich in Schlachtreihen die radikalen und liberalen 
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— 356 — 


Parteien gegenüber, welche die ſozialen verſtaͤrkten, und fie 
erhoben gegen den „Terrorismus“ jener ihren Ruf nach 
dem unveraͤußerlichen „Recht der freien Rede“. 

Sie beſchloſſen die Abhaltung eines oͤffentlichen 
Meetings auf Trafalgar Square für Sonntag den drei- 
zehnten und ſetzten auf die Tagesordnung: „Proteſt gegen 
die neuerliche Einkerkerung eines iriſchen Volksfuͤhrers.“ 

Die Vorbereitungen zu der Schlacht wurden auf 
beiden Seiten mit fieberhaftem Eifer betrieben: jene 
waren feſt entſchloſſen, jeden Verſuch, in den Square zu 
gelangen, blutig abzuſchlagen, dieſe, ihn zu nehmen um 
jeden Preis. 

Die Aufregung in der Stadt war mit jedem Tage 
gewachſen. Der Sonnabend brachte einen zweiten Ukas 
der Gewalt, in dem es verboten wurde, ſich Sonntag 
in Form einer Prozeſſion dem Square zu naͤhern. 

Es gab nicht wenige, welche waͤhnten, am Vorabend 
einer Revolution zu ſtehen 


Auban war ſpaͤter aufgeſtanden, als gewoͤhnlich. Sein 
Kopf war eingenommen. Dennoch hatte er ſich an ſeine 
Arbeiten begeben. Aber ein Beſuch unterbrach ihn. 

Als er den Namen ‚Friedrich Waller‘ auf der ihm 
uͤberbrachten Karte las, zuckte er die Achſeln. Was wollte 
dieſer Mann noch immer von ihm? — Als Knabe hatte 
er ihm ſeine Freundſchaft angeboten, die Auban nicht 
begehrt hatte. Spaͤter — er hatte ſich ein großes 
Geſchaͤft in Lothringen gegruͤndet und war viel auf Reiſen 
— hatte er ihn zweimal in Paris aufgeſucht und Auban 


— 357 — 


hatte dieſe Beſuche auf Rechnung ſeines damals ſo viel 
genannten Namens geſetzt, ihn kuͤhl empfangen, ihn kuͤhl 
entlaſſen. Jetzt, nach Jahren, naͤherte ſich aus jenen 
Kreiſen, die ihm ſtets bis in die tiefſte Seele hinein 
verhaßt geweſen waren, abermals dieſer Mann, mit 
welchem er nicht einen Gedanken, nicht ein Gefühl ge: 
meinſam hatte. Aber er wollte es heute erfahren, was 
jenen zu ihm trieb. 

Er wollte ihn direkt nach ſeinen Abſichten fragen. 
Doch der andere kam ihm zuvor, indem er aͤußerte, es 
ſei wohl eine Pflicht, ſeine Verwandten nicht ganz aus 
den Augen zu verlieren. Es war dasſelbe neugierige 
Intereſſe an dem fremdartigen Lebensſchickſal, das ihn 
einſt zu dem Knaben gezogen hatte. Er wußte wenig 
von Auban. Da er indeſſen die Freiheit ſeiner Anſichten 
ahnte, aͤußerte er vertraulich, auch er ſei nichts weniger 
als konſervativ, doch Auban werde wohl begreifen, 
wie ſehr ihn ſeine Stellung zwinge, die weitgehendſten 
Ruͤckſichten zu nehmen. Aber Auban hatte weder Geduld 
noch Verſtaͤndnis fuͤr Leute dieſes Schlages. Er huͤllte 
ſich in feine eifige Überlegenheit, uͤberging die Frage feines 
Verwandten nach feinem eigenen Schickſal vollſtaͤndig, 
tat keine Frage und aͤußerte feine Anfichten ſo ſchroff, 
wie ſie waren. Als der Beſucher ging, mußte er das 
Gefuͤhl haben, als ſei er beim Lauſchen an einer fremden 
Tuͤr ertappt worden, und nahm ſich vor, den heutigen 
Verſuch, Auban beizukommen, der ihm diesmal fo offen- 
kundig gezeigt hatte, wie wenig er von ihm und ſeiner 
ganzen Sippſchaft wiſſen wolle, fuͤr immer den letzten 
fein zu laſſen. 


— 358 — 


Fuͤr Auban war dieſer Beſuch der Anſtoß zu Er⸗ 
innerungen an laͤngſt verrauſchte Jahre, denen er ſich 
lange hingab. 

Welcher Unterſchied zwiſchen damals und heute! 

Und doch ſchien es ihm zuweilen, als aͤhnele ſein 
jetziges Ich mehr dem Knaben, der einſam und ver⸗ 
ſchloſſen mit weichen und ungeuͤbten Fingern die ehernen 
Pforten der Erkenntnis in ſtillen Naͤchten, wenn niemand 
ihn ſah, zu oͤffnen ſich muͤhte, als dem Juͤngling, welcher 
ſie mit Feuerbraͤnden einſt zu ſtuͤrmen ſich vermaß. 

Er war keine Natur, die es vertrug, unausgeſetzt 
dazuſtehen, tauſend Augen von allen Seiten auf ſich ge⸗ 
richtet. Er beſaß nicht genug Leichtfertigkeit, nicht genug 
Ehrgeiz, nicht genug Wichtigkeit und Selbſtgefaͤlligkeit 
dazu. 

Es war gut, daß fein Schickſäl ſich fo gewendet 
hatte 


Es war um die dritte Nachmittagsſtunde. 

Auban kam langſam vom Norden der Stadt. 

Alle Straßen, die er durchſchritt, waren faſt verlaſſen. 
Nur in Orford Street herrſchte ein kuͤmmerliches Leben. 
Die vierte Stunde konnte nicht mehr fern ſein, als er 
ſich Trafalgar Square naͤherte. In St. Martins Lane 
mußte er Halt machen: Menſchenmaſſen verſperrten die 
umliegenden Eingaͤnge der Nebenſtraßen. Er war in 
demſelben Augenblick gekommen, in dem die eine der 
vier Prozeſſionen, die in dieſer Stunde von vier ver⸗ 
ſchiedenen Seiten aus den Square zu erreichen ſuchten, 


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— 359 — 


die von Clerkenwell Green nahende, mit der fie hier er— 
wartenden Polizei zuſammenſtieß. Er draͤngte ſich vor, 
ſo weit es ging, doch war es ihm unmoͤglich, die letzte 
Menſchenreihe zu durchbrechen. Er mußte zwiſchen den 
Koͤpfen durch uͤber ſie hinweg zu ſehen ſuchen, was ſich 
ereignete. 

Der Prozeſſion voran ſchritt eine Frau. Sie trug 
eine rote Fahne. Auban glaubte in ihr und den ſie 
umgebenden Maͤnnern, die feſter ihre Stoͤcke umfaßten, 
Mitglieder der Socialiſt League zu erkennen. Der Fahnen⸗ 
traͤgerin auf dem Fuße folgte die Muſik. Sie ſpielte 
die Marſeillaiſe. Der ſich anſchließende Zug war ziemlich 
lang. Auban konnte ihn nicht uͤberſehen. Nur flatternde 
Fahnen erhoben ſich uͤber das ſchwarze Gedraͤnge. 

In geſchloſſener Linie erwarteten die Poliziſten den 
Zug. Sie lauerten, ihre Eichenknuͤttel gelockert haltend, 
auf das Zeichen des Superintendenten zum Angriff. 

Als der Zug ſich ihnen auf Pferdelaͤnge genaͤhert hatte, 
toͤnten Zurufe hinuͤber und heruͤber und noch in demſelben 
Augenblicke erfolgte mit ſolcher Wucht ein Angriff der 
Polizei, daß die geſchloſſenen Reihen des Zuges wie aus— 
einandergeriſſen erſchienen. Ein wildes Handgemenge 
entſtand. Ein baumlanger Poliziſt war auf die Frau 
losgeſprungen und wand ihr die Fahne aus den mit 
Aufbietung aller Kraft hochgehaltenen Händen, Sie 
taumelte und brach ohnmaͤchtig zuſammen, waͤhrend ein 
heftiger Stockhieb den Hals des Angreifers traf. Die 
Muſikanten rangen um ihre Inſtrumente, die ihnen ent⸗ 
riſſen, zertreten und zerſchlagen wurden. Einige ſuchten 
ſie zu retten und flohen. Mit eiſerner Wucht fielen von 


— 360 — 


ſeiten der Polizei die Knuͤttel nieder, unbekuͤmmert wohin 


ſie trafen. Verzweifelt wehrten ſich die Angegriffenen. 
Die meiſten trugen ſchwere Stoͤcke und ſchlugen in raſender 
Wut um ſich. Das Durcheinanderwogen war unbeſchreib⸗ 
lich. Die Luft war erfuͤllt von Fluͤchen, Schmerzens⸗ 
ſchreien, Schimpfworten, dem ſchrillen Geheul der Menge, 
die, wo ſie konnte, ſich in den Kampf ſtuͤrzte, den dumpfen 
Schlaͤgen, dem Geſtampf ſchwerer Schuhe auf dem harten 
Boden, dem Klirren der durch Steinwuͤrfe zerbrochenen 
Laternen ... Man ſchlug, trat, kratzte ſich, packte fich, 
ſuchte ſich gegenſeitig zu Fall zu bringen, krallte ſich 
aneinander feſt, ſo ſich niederreißend. 

Immer weiter drang die Polizei vor, die Menge 
vor ſich hertreibend, von ihr umſchloſſen, aber, ſich gegen⸗ 
ſeitig zu Hilfe eilend, mit den Schlägen ihrer Knuͤttel 
ſie zerſtreuend. Immer weiter wichen die Angegriffenen 
zuruͤck. Von einer geſchloſſenen Ordnung war keine Rede 
mehr. Die einen enteilten in ungeordneter Flucht, die 
andern kaͤmpften um den Platz, auf dem ſie ſtanden, 
bis ſie uͤberwaͤltigt, in die Mitte genommen und abgefuͤhrt 
wurden. Nach zehn Minuten war der Sieg der Uni 
formierten entſchieden: die Fahnen waren erbeutet, die 
Muſikinſtrumente zerſchlagen, der ganze Zug in fluͤchtender 
Unordnung ... Teils wurden die letzten feiner Reihen 
die ganze Laͤnge von Martins Lane hinauf verfolgt, 
teils in die engen Nebenſtraßen hineingetrieben, wo ſie 
ſich mit der heulenden Menge vermiſchten und von ihr 
mit und fortgeriſſen wurden in hoffnungsloſem Wirrwarr. 

So auch Auban. Er ſah, wie eine kleine Abteilung 
von Poliziſten ſich mit hochgeſchwungenen Knuͤtteln auf 


— 361 — 


den Eingang der Straße ſtuͤrzte, wo er ſtand, fuͤhlte, 
wie ſich der ihn umſchließende Menſchenknaͤuel ploͤtzlich 
in Bewegung ſetzte und, willenlos von ihm fortgeſchoben, 
befand er ſich in der naͤchſten Minute am entgegengeſetzten 
Ende der Straße, wo der Schrecken der Gejagten ſich 
in Zornworten, Gelaͤchter und Geheul loͤſte. 

Dann ſtroͤmte alles wieder der Richtung auf Tra— 
falgar Square zu. Auch Auban nahm ſie. Er wollte ihn 
zu erreichen verſuchen, ohne von neuem in ein allzu 
großes Gedraͤnge zu geraten. Doch blieb ihm kein anderer 
Weg, als der an der Kirche von St. Martin vorbei. 

Nach dem, was er eben geſehen, war er uͤberzeugt, 
daß keine der Prozeſſionen je den Square zu erreichen 
imſtande fein wuͤrde .. 


Trafalgar Square lag vor ihm: im Norden begrenzt 
von dem ernſten Gebaͤude der Nationalgalerie, von großen 
Klubhaͤuſern und Hotels im Weſten und Oſten, faͤllt er 
in allmaͤhlicher Senkung nach Suͤden nieder, wo er, ſich 
ausweitend, noch einmal eine breite Buchtung bildet, 
bevor er ſich in große und maͤchtige Straßenfluchten teilt. 

Seine innere, tiefer liegende Flaͤche, durch die Terraſſen 
der Straßen gebildet und ſuͤdlich die Nelſonſaͤule als 
impoſantes Wahrzeichen tragend, dieſe große, kalte, leere, 
nur mit zwei Rieſenfontaͤnen geſchmuͤckte Flaͤche, war 
heute, wie Auban auf den erſten Blick dar völlig 
in den Händen der Gewalt. 

Ein Schrecken ergriff ihn, als er daran dachte, daß 
man den Verſuch wagen koͤnne, dieſe nicht an Zahl, aber 


— 362 — 


an Ordnung und milttaͤriſcher Kampfgeuͤbtheit hundert— 
fach uͤberlegene Beſatzung von dem Platze zu vertreiben. 
Es war in der Tat ein Heerlager, welches ſich dort auf— 
geſtellt hatte: eine fluͤchtige Schaͤtzung ergab, daß ſeine 
Staͤrke 3—4000 Mann betragen mußte. Wer wollte die 
vertreiben? Nicht fuͤnfzig-, nicht hunderttauſend wuͤrden 
dazu imſtande fein. 

Er verließ langſam ſeinen Stand und ließ ſich an 
der Nationalgalerie entlang treiben. Die Menſchenmenge, 
welche hier durcheinanderwogte, wurde von der Polizei 
in beſtaͤndiger Bewegung gehalten. Wo der Blick der 
Konſtabler auf eine Stockung fiel, dahin richteten ſie ihre 
Angriffe, indem ſie die Keile ihrer Leute dazwiſchen trieben. 
„Move on! Move on!“ trieb es unaufhoͤrlich jeden Fuß, 
der ſtehen blieb, zum Weitergehen an. 

Auf Schritt und Tritt uͤberzeugte ſich Auban, waͤhrend 
er jetzt die Weſtſeite hinunterging, von dem wohluͤber⸗ 
legten Plan, der alle dieſe Vorbereitungen geſchaffen. 
Die nach dem Norden hinauffuͤhrenden Treppen waren 
mit Mannſchaften dicht beſetzt. In doppelter Reihe 
ſtanden hier und auf den beiden andern geſchloſſenen 
Seiten die Poliziſten, um jedes Überklettern der Ein⸗ 
faſſung und jedes Hinunterſpringen in die Flaͤche des 
Platzes zur Unmoͤglichkeit zu machen. 

Ein Reporter, der Auban kannte, gab ihm außerdem 


noch einige Zahlen, die er eben gehoͤrt und ſich nun 


ſelbſt notierte, waͤhrend dieſer ihm mit einigen Einzel— 
heiten uͤber die Clerkenwell-Prozeſſion aushalf. Seit 
neun Uhr morgens ſei der Square ſchon beſetzt. Seit 
zwölf mit voller Macht. Etwa 1500 Konſtabler und 


— 363 — 


an 3000 Poliziſten ſeien aufgeboten aus allen Enden 
Londons. Außerdem einige hundert Berittene. Die Life 
und die Grenadier Guards wuͤrden in Bereitſchaft ge— 


halten. 
Die ſuͤdliche offene Seite des Square, in deren Mitte 


ſich die Nelſonſaͤule auf einem maͤchtigen, in ſeinen Ecken 
von vier gewaltigen Loͤwen belagerten Fundamente erhebt, 
war am ſtaͤrkſten beſetzt, da keine Schranke hier den 
Eingang zur Innenflaͤche erſchwerte. In vier⸗ bis 
fuͤnffacher Tiefe ſtanden hier die Reihen der „Beſchuͤtzer 
der Ordnung“, in langer Linie war hier eine Abteilung 
berittener Poliziſten aufgeſtellt, welche von Zeit zu Zeit 
die Straßen beſtrich. 

Hier, auf dem weiten Raum vor der Saͤule, der 
durch den Zuſammenſtoß von vier großen Straßen ge⸗ 
bildet wird, hier, um das Denkmal Karls J. herum, 
waren die Menſchenanſammlungen am groͤßten. Mit 
jeder Minute ſchienen die Maſſen zu wachſen. Von allen 
Seiten ſtroͤmten in kleineren und groͤßeren Trupps Teile 
der geſprengten Prozeſſionen heran, nicht mehr mit Fahnen 
und Muſik und in freudigem Kampfgefuͤhl, ſondern Arm 
in Arm aneinander geſchloſſen, aufs hoͤchſte erbittert durch 
die erlittene Niederlage, kaum mehr in der Hoffnung, 
noch in den Beſitz des Platzes zu gelangen, aber ent⸗ 
ſchloſſen, bei kleineren Zuſammenſtoͤßen die eine oder 
andere Scharte noch auszuwetzen. i 

Auban ſuchte die Phyſiognomie der Menge zu er— 
kennen. Sicher beſtanden zwei von fuͤnf Teilen Aller 
aus Neugierigen, die gekommen waren, ein nie geſehenes 
Schauſpiel zu genießen. Sie ließen ſich von der Polizei 


— 364 — 


treiben, wohin dieſe ſie haben wollte. Aber doch verlor 
wohl mancher unter ihnen ſeinen Gleichmut, wenn er 
Zeuge der Brutalitaͤten war, die um ihn her veruͤbt 
wurden, und wurde, indem er ſich auf die Seite der An— 
gegriffenen ſtellte, gegen ſeinen Willen Teilnehmer an dem 
Ereignis des Tages. — Sicher fiel ein weiteres Fuͤnftel 
auf den „Mob“: die Truͤbſeefiſcher, die Pick-pockets von 
Profeſſion, die Ruffians, die Tagediebe, welche beſſer leben 
als der ehrliche Arbeiter, die Zuhaͤlter der Dirnen, kurz 
auf alle die, welche „uͤberall dabei ſind“, da nichts ſie 
bindet. Sie waren meiſt in ſehr jugendlichem Alter. 
Als perſoͤnlichſte Feinde der Polizei, mit der fie in taͤg⸗ 
lichem Kampfe lebten, ließen ſie keine Gelegenheit vor— 
uͤbergehen, an ihr Rache zu uͤben. Mit Stoͤcken, Steinen, 
kurzen Meſſern bewehrt, verſetzten ſie den Poliziſten 
empfindliche Verletzungen, entzogen ſich dann blitzſchnell 
durch die Flucht, in die Maſſe ſpurlos unterduckend und 
im naͤchſten Moment mit Geheul und Geſchrei an einer 
andern Stelle wieder emportauchend, ihr Muͤtchen aufs 
neue zu fühlen. Überdem waren fie bei allen Zuſammen⸗ 
ſtoͤßen dabei, den Tumult erhoͤhend, den Wirrwarr ver⸗ 


mehrend, die Wut mit ihrem Schreien aufs hoͤchſte 


ſtachelnd. — Und es waren nur noch die uͤbrigen zwei 
Fuͤnftel, welche, wie Auban ſchaͤtzte, auf die kamen, die 
in erſter Linie an dem heutigen Nachmittage beteiligt waren: 
die, welche in dieſem Kampfe eine ernſte politiſche Aktion 
ſahen, die Mitglieder der radikalen Parteien, die Sozialiſten, 
die Arbeitsloſen. Und jene wirklich Intereſſierten, die nicht 
nur Neugierde hierher gezogen, die beobachtenden und ur- 
teilenden Zuſchauer, zu denen er ſelbſt gehoͤrte. 


— 368 — 


Er war im Suͤden des Platzes angelangt: halb ge— 
ſtoßen, halb geſchoben. Hier war das Gedraͤnge enorm 
und die Maſſen in ſtetig wachſender Erregung. Die 
vierte Stunde hatte eben geſchlagen: Auban erkannte 
den Zeiger auf Dents Uhr. Am Fuß der Nelſon⸗ 
ſaͤule fand ein heftiger Zuſammenſtoß ſtatt. Zwei 
Maͤnner, ein ſozialiſtiſcher Fuͤhrer und ein radikales 
Parlamentsmitglied, ſuchten ſich mit Gewalt Einlaß zu 
bahnen. Sie wurden nach kurzem Handgemenge über: 
waͤltigt und verhaftet. 

Auban hatte nichts erkannt als geſchwungene Knuͤttel 
und Stoͤcke und erhobene Faͤuſte .. | 

Er ſuchte feinen Weg fortzufegen, was aber mit 
Schwierigkeiten verbunden war. Die berittene Polizei ber 
ſtrich fortwaͤhrend den Weg zwiſchen der Saͤule und dem 
Denkmal Karls I., um ihn zu ſaͤubern. Die ineinander 
gekeilten Maſſen ſtroͤmten nach allen Seiten auseinander: 
preßten ſich bei den Laternenpfaͤhlen in kleine Gruppen 
angſtvoll zuſammen, fluͤchteten Whitehall hinunter, oder 
wurden nahe an die Reihen der Polizei gedraͤngt, von der 
ſie brutal weiter fortgetrieben wurden. 

Auban wartete, bis die Pferdereihe an ihm voruͤber— 
gebrauſt war und erreichte dann einen der Übergaͤnge, 
wo er ſich an dem Laternenpfoſten ſicher glaubte. Aber 
ein Konſtabler trieb die hier Zuſammengefluͤchteten fort. 
„Move on, Sir!“ herrſchte er auch Auban an. Aber dieſer 
ſah ruhig in das erhitzte Geſicht des Zornigen und wies 
auf die von neuem anftürmenden Pferde. „Wohin?“ 
ſagte er. „Soll ich mich uͤberreiten laſſen oder in die 
Knuͤttel Ihrer Leute laufen?“ — Seine Ruhe machte 


— 366 — 


Eindruck. Als die Straße wieder fuͤr eine halbe Minute 
frei wurde, erreichte er ſicher das Trottoir vor Morleys 
Hotel an der Oſtſeite des Squares. 

Dort fühlte er ſich plöglich am Arm ergriffen. Vor 
ihm ſtand ein bekannter Englaͤnder. Sein Kragen war 
zerriſſen, ſein Hut beſchmutzt. Er befand ſich in hoͤchſter 
Aufregung. Nach einigen haftigen Fragen hin und her 
erzaͤhlte er, auch die große, von Suͤden her kommende 
Prozeſſion ſei aufgeloͤſt. 

Waͤhrend ſie — von der Polizei in beſtaͤndiger Be⸗ 
wegung erhalten — ſich aneinander feſthielten, um nicht 
auseinandergeriſſen zu werden, und mit der Menge, in 
die ſie gekeilt waren, auf und nieder trieben, erzaͤhlte 
der Englaͤnder in atemloſer Haſt: 

— Wir verſammelten uns in Rotherhithe: die radikalen 
und andern Vereine und Klubs von Rotherhithe, Ber— 
mondſey uſw. trafen auf unſerm Wege den Peckham Ra⸗ 
dical Club, die Vereinigungen von Camberwell und Wal— 
worth, und in Weſtminſter Bridge Road auch die von 
St. Georges — es war ein enormer Zug, mit zahl⸗ 
reichen Bannern, Muſikbanden, mit Gruͤn geſchmuͤckt, 
von einer unendlichen Menſchenmaſſe auf beiden Seiten 
begleitet, der in beſter Ordnung die voͤllig leere Bruͤcke 
von Weſtminſter uͤberſchritt. 

Wie verabredet, ſollten wir in Bridge Street am 
Parliamant Houſe mit dem Zuge von Lambeth und 
Batterſea zuſammentreffen. Dann ſollte in gerader Linie 


von Suͤden nach Norden, Whitehall hinauf, hierher 


marſchiert werden. Denken Sie ſich: ein einziger großer 
Zug von impoſanter Laͤnge, der ganze Suͤden von London 


3 


— 367 — 


vertreten, der ganze jenſeits der Themſe gelegene Stadt— 
teil — von Woolwich und Greenwich bis Batterſea und 
Wandworth !. 

Aber noch hatten unſere beiden Zuͤge ſich nicht ver— 
einigt, noch hatten wir Parliament Street nicht erreicht, 
als der Kampf begann. Ich befand mich ſo ziemlich in 
den erſten Reihen. Ah, die Brutes, im Galopp mit 
ihren Pferden in unſere Reihen hinein, die Fahnen zer— 
brochen und zerriſſen, niedergeſchlagen, was ihnen im 
Wege war — 

— Es war gut, daß Sie nicht weiter kamen, unter⸗ 
brach ihn Auban, — denn ich habe gehoͤrt, daß in 
Whitehall die Life Guards in Bereitſchaft ſtanden. Ich 
wundere mich, daß ſie noch nicht hier ſind, denn die 
Situation wird erregter ... 

— Aber wir haben uns gewehrt, rief der andere, 
— ich habe einen mit meinem Bleiknuͤttel — — 

Er beendete ſeinen Satz nicht. Denn eine Abteilung 
Poliziſten begann das Trottoir zu leeren, draͤngte die 
dort Stehenden fort, und im naͤchſten Augenblick war 
Auban wieder allein. Er war wieder in die Naͤhe von 
Morleys Hotel: die Treppe war ſoeben bis auf den 
letzten Mann geleert worden und fuͤllte ſich nun mit 
Blitzesſchnelle wieder. Auch Auban ſicherte ſich einen 
erhöhten Platz 

Von hier aus bot der frei uͤberſehbare Platz mit 
ſeinen Umgebungen einen großartigen Anblick. Seit vier 
Stunden war dieſe Menge, die ihn umwogte, in be 
ſtaͤndigem Wachſen begriffen und ſie ſchien jetzt ihre 
hoͤchſte Zahl, wie auch den Gipfelpunkt ihrer Erregung 


— 368 — 


erreicht zu haben. Die Fenſter und Balkons der um⸗ 
liegenden Haͤuſer waren beſetzt bis auf den letzten Platz 
mit Zuſchauern dieſes ganz ungewoͤhnlichen, einzigen 
Schauſpiels, die jedem Zuſammentreffen der Polizei mit 
dem Publikum mit leidenſchaftlicher Aufmerkſamkeit 
folgten und die Brutalitaͤten der erſteren mit Beifall 
begruͤßten. Von den Balkonen der gegenuͤberliegenden 
Klubs herab machte ſich die goldene Jugend Londons, wie 
Auban vorhin bemerkt hatte, das harmloſe Vergnuͤgen, 
auf den ‚Mob‘ zu ſpeien, vor welchem ſie ſich in ihrer 
erhöhten Poſition ja fo ſicher, wie in der Kirche fuͤhlten ... 

Im Suͤden des Platzes, dort, wo die Maſſen wie 
ein reißend angeſchwollener Strom das breite Bett der 
Straßen durchrauſchten, ſchien die Situation immer be— 
denklicher zu werden. Der Omnibusverkehr dauerte trotz⸗ 
dem — oft unterbrochen — fort. Hochbeladen ſchoben 
ſich die ſchweren Wagen Schritt fuͤr Schritt fort. Wie 
Barken ſchwammen ſie langſam durch die ſchwarze 
Menſchenflut. Auf ihren Verdecken ſtanden aufgeregte 
Menſchen, die mit den Haͤnden in der Luft umher 
fuchtelten und ſich die Gelegenheit, wenigſtens mit ver: 
einzelten Worten der Sympathie die Menge zu begruͤßen, 
nicht entgehen ließen. Und wie Schweife folgten den 
Wagen jedesmal eine Schar, der die Pferde und Raͤder 
Bahn brachen 

Von dort aus ſah Auban ploͤtzlich eine außergewoͤhn⸗ 
liche Aufregung, wie ein elektriſcher Strom, durch die 
Maſſen gehen und naͤher und naͤher kommen. Schneller 
fluͤchteten ſie noch beiſeite als vorher und aͤngſtlicher und 
lauter wurden die Schreie und Rufe. Was war es? — 


* 


— 369 — 


Berittene tauchten auf. 

Und: 

— The Life Guards! ertönte es in hundert Stimmen. 
Die Polizei ſchien vergeſſen. Alle Augen hingen an den 
blanken Kuͤraſſen und den federbuſchumwallten Helmen 
der Reiter, die, etwa zweihundert an der Zahl, langſam 
auf die Nelſonſaͤule zukamen, dann rechts ſchwenkten 
und in ruhigem Zuge an der Treppe, wo Auban ſtand, 
vorbei ihren Weg nach der National Gallery nahmen. 

Ein einzelner Herr in Zivil ritt an ihrer Spitze, 
zwiſchen den fuͤhrenden Offizieren, eine Papierrolle in 
der Hand. 

Und: 

— The Riots Act! tönte es wieder. Laute Ausrufe 
empfingen den Abgeſandten des Magiſtrats der Stadt. 

— Wir ſind alle gute Englaͤnder und friedliebende 
Buͤrger — wir brauchen keine — ſchrie einer. 

— Du verdammter Narr, ſteck' dein Papier ein — 
ein anderer. 

Da, als die Truppen an der Treppe, wo Auban 
ſtand, vorbeiritten, hoͤrte Auban, wie das Schlagen der 
Pferdehufe auf dem harten Boden von dem Beifalls— 
geſchrei, dem Haͤndeklatſchen, den jauchzenden Zurufen 
der ihn Umſtehenden uͤbertoͤnt wurde, und er wollte 
ſeinen Ohren nicht trauen. Waren das wirklich Zeichen 
des Beifalls? — Es war nicht moͤglich. Es konnte nur 
Hohn und Spott ſein. Aber ſo unverhohlen war die 
Freude des Haufens bei dem unverhofften Anblick dieſes 
glitzernden Blechs, dieſes pomphaften Aufzuges, und ſo 
berechnet war deſſen Wirkung, daß er nicht mehr zweifeln 

VIII 24 


— 370 — 


konnte: dieſelben Menſchen, die noch eine Minute vorher 
die ſie niederknuͤttelnden und niederreitenden Poliziſten 
mit dem Heulen ihrer Wut und dem Ziſchen ihres Haſſes 
uͤberſchuͤttet hatten, dieſe ſelben Menſchen jubelten jetzt 
in ſinnloſer Freude denen zu, welche geſandt waren, ſie 
niederzuſchießen . . 

Erſt hatte Auban unglaͤubig geſtutzt. Nun lachte er 
und ein Gedanke ergriff ihn. Er ließ einen ſcharfen 
Pfiff ertoͤnen. Und ſiehe da: um ihn herum wurde dieſer 
Pfiff aufgenommen und fortgepflaͤnzt, fo daß das Klatſchen 
des Beifalls eine Minute lang von dieſem Zeichen der 
Verachtung uͤbergellt wurde. Und Auban ſah, daß unter 
denen, welche jetzt pfiffen, dieſelben ſich befanden, die 
vorher zu den Beifallsrufern gehoͤrt hatten. 

Da lachte er. Aber ſein Lachen ſchwand bald vor 
dem Ekel, der ihn uͤberkam angeſichts dieſer ſinnloſen 
Unzurechnungsfaͤhigkeit. 

Was fuͤr alberne Kinder! dachte er. Eben noch bis 
aufs Blut von brutaler Hand gezuͤchtigt, jubeln ſie jetzt 
— wie das Kind der neuen Puppe — den bunten Fetzen 
dieſer laͤcherlichen Außerlichkeit zu, ohne den furchtbaren 
Sinn dieſes kindiſchen Schaufpiels auch nur zu ahnen! — 

Als er mit dem Entſchluß, dem widerwaͤrtigen Poſſen⸗ 
ſpiel zu entgehen, die Treppe und den Platz verlaſſen 
wollte, rückten die zur Verſtaͤrkung geſandten Grenadier 
Guards zu Fuß mit aufgepflanzten Bajonetten an, uͤberall 
mit ihrem blinkenden Stahl Furcht und Entſetzen ver⸗ 
breitend; die Treppe fuͤllte ſich um die doppelte Anzahl 
mit den Erſchreckten, die endlich — wie es ſchien — ein⸗ 
zuſehen begannen, um was es ſich handelte, und daß 


— 171 — 


vielleicht ein Zufall dieſes Spiel im Handumdrehen in 
den blutigſten Ernſt verwandeln konnte. Aber alles ſchien 
Drohung bleiben zu wollen. Ruhig umzogen die Truppen 
mehrmals die Außenſeite des Square. Nur einmal, als 
Auban bereits das Nordende bei St. Martin erreicht 
hatte, vernahm er, wie ein furchtbarer Angſtſchrei aus 
der Mitte der vor den eiſernen, unaufhaltſam in der 
ganzen Straßenbreite vorrückenden Bajonetten angſtvoll 
Fluͤchtenden das dumpfe Brauſen und Branden laut 
uͤbergellte. 

Was war geſchehen? — Lag jemand erſtochen in 
feinem Blute? — War eine Frau erdruͤckt in dem end⸗ 
loſen Haufen? — Die Erregung war ungeheuer. Alles 
begann in der nun bereits ſichtbar ſinkenden Daͤmmerung 
von dem Taumel der Furcht ergriffen zu werden, trotz⸗ 
dem ſich die wenigſten durch ihn zum Verlaſſen des 
Platzes bewegen ließen. 


Auban ging dem Strand zu. Hinter ihm her drang 
noch lange der Laͤrm. — Er ging ſo lange, bis die 
Menſchenmaſſen, welche in weitem Umkreis die um den 
Square liegenden Straßen durchwogten, aufhoͤrten und 
das gewoͤhnliche Getriebe begann. Er hegte den Wunſch 
nach Ruhe und Abgeſchloſſenheit. Daher ſuchte er das 
Speiſezimmer eines der großen engliſchen Reſtaurants 
auf und ſaß dort lange. 

Hier blitzte das Silber und dufteten die Blumen auf 
den ſchneeweißen Gedecken der Tiſche, die ſich in den 
hohen Spiegelſcheiben der Waͤnde wiederſahen. Die Gaͤſte, 

24* 


— 372 — 


die meiſten in Frack und in Geſellſchaftsanzug, traten 
ſchweigend ein und ließen ſich wuͤrdevoll auf ihre Plaͤtze 
nieder, der Wichtigkeit dieſes Augenblicks bewußt, in dem 
ſie ſich an das Studium des Menuͤs begaben. Über 
den mit dicken Teppichen belegten Boden eilten die 
Kellner mit unhoͤrbaren Schritten. Nichts war ver⸗ 
nehmbar in dieſem hohen, vornehmen, in dunklen Farben⸗ 
toͤnen gehaltenen Saale als das leiſe Klirren der Teller 
und Meſſer, das Rauſchen ſeidener Schleppen und zus 
weilen ein halblautes, melodiſches Lachen, welches das 
gedämpft geführte Geſpraͤch unterbrach .. 

Auban aß ſo einfach, wie immer, nur beſſer und zu 
einem zehnfachen Preiſe, mit dem er den Aufenthalt in 
dieſen Raͤumen bezahlte. Und waͤhrend er die Tafelnden 
um ſich herum betrachtete, verglich er unwillkuͤrlich ihre 
ſicheren, leichten, eleganten, aber eintoͤnigen und un⸗ 
charakteriſtiſchen Erſcheinungen mit den Geſtalten, aus 
deren Mitte er kam: den ſchweren, herben Geſtalten des 
Volkes, welche Hunger und Entbehrung in allem nieder: 
gedrückt und oft entſtellt hatten bis zur Unkenntlichkeit .. 

Als er nach einſtuͤndiger Ruhe wieder die Richtung 
nach Trafalgar Square nahm, kam er zufaͤllig an den 
Toren von Charing Croß Hoſpital vorbei. Der Ein⸗ 
gang und die ganze Straße, in der das Krankenhaus- 
lag, war dicht beſetzt: hier wurden die zerbrochenen 
Glieder wieder eingerenkt und die aufgeſchlagenen Köpfe 
zugenaͤht, die man ſich aus dem Kampf auf dem nahe 
gelegenen Schlachtfelde geholt hatte . 

Der Anblick war ernſt und komiſch zugleich: hier 
wankte, von zwei anderen geſtuͤtzt, ein Mann heran, 


Eh hl a ar Fe 
5 4 * 


— 373 — 


deſſen Geſicht mit Blut uͤberſtroͤmt war, welches aus 
einer klaffenden Stirnwunde ſchoß; dort trat ein bereits 
Verbundener aus der Eingangstuͤr, den einen Arm in 
der Binde, mit dem andern aber noch ſein zerbrochenes 
Blasinſtrument haltend. Hier hinkte ein Poliziſt, der 
mit feinem Pferde geftürzt war, herbei; und dort wurde 
ein Ohnmaͤchtiger auf einer Bahre herangetragen. 

Auban draͤngte ſich naͤher und warf einen Blick in 
den Vorraum des Hoſpitals. An den Wänden ſaßen 
friedlich die Feinde nebeneinander, die einen bereits ver— 
bunden, die anderen wartend, daß endlich eine der uͤber— 
mäßig beſchaͤftigten Hände der Helfer ſich auch ihrer er— 
barmen moͤchte. 

— Es ſind bis jetzt noch keine ſchwereren Verletzungen 
vorgekommen, ſagte einer der Umſtehenden. 

Es iſt eine Komödie, dachte Auban, erſt hauen fie 


ſich die Koͤpfe blutig, dann laſſen ſie ſich von derſelben 


Hand flicken — ein harmloſes Vergnuͤgen. Pack ſchlaͤgt 
ſich, Pack vertraͤgt ſich. 

Und er ging weiter, ſich ſeinen Weg nur mit Muͤhe 
durch die neugierige, gleichſam von dem friſchen Blut 
angelockte, eng um den Eingang zufammendrängende 
und nur den Verwundeten Platz machende Menge 
bahnend. 

Als er den Strand wieder betrat, floh ihm ein 
ſchreiender, ungewoͤhnlich zahlreicher Menſchenhaufe ent— 
gegen und zwang ihn zum Stillſtehen. Die Polizei trieb 
alſo jetzt auch die Menge die Nebenſtraßen weit hin— 
auf... 

Dennoch wollte er nicht umkehren, ohne noch zu 


— 374 — 


dieſer Stunde, wo die Fittiche des Abends bereits tief 
über der Erde hingen, einen Blick auf das Schauſpiel 
geworfen zu haben, das in dieſer Zwielichtbeleuchtung 
einen ganz andren Charakter angenommen haben mußte. 

Er wollte daher verſuchen, von Suͤden her den Square 
zu erreichen; und er bog vor dem Bahnhof Charing Croß 
in die links nach der Themſe abfallende Villiers Street 
ein. Dann durchſchritt er den Tunnel, der unter dem 
Bahnhof durchfuͤhrt. Genau fuͤnf Wochen waren ver⸗ 
gangen, ſeit er ihn zum letztenmal — vom jenſeitigen 
Ufer der Themſe kommend — an einem Samstagabend 
des Oktober, naßkalt wie der heutige, durchſchritten und 
— von traurigen Erinnerungen an fruͤhere Erlebniſſe 
erſchuͤttert — geflohen hatte. Heute hatte er keine Zeit 
zu Erinnerungen. 

Er eilte vorwaͤrts. Als er in Northumberland Avenue, 
dieſer Palaſtſtraße, ſtand, ſah er, wie von Seotland Yard, 
dem Hauptquartier der Polizei, immer neuer Zuzug nach 
dem Square getrieben wurde. Er nahm denſelben Weg. — 

Alles auf dem Square hatte ein veraͤndertes Aus⸗ 
ſehen erhalten: die Nelſonſaͤule ragte wie der rieſige 
Zeigefinger einer dunklen Rieſenhand drohend empor in 
das Dunkel; maͤchtig lag zur Rechten der enorme Rund⸗ 
bau des Grand Hotel mit ſeinen erleuchteten Fenſtern, 
hinter denen die Neugierigen immer noch nicht ver⸗ 
ſchwunden waren; ſchweigend lag die innere Flaͤche des 
Platzes, noch immer von der Polizei beſetzt; und durch 
die Straßen um ſie herum tobte noch immer der Kampf, 
der mit der einbrechenden Dunkelheit um ſo wilder ge— 
worden zu fein ſchien, je mehr er feinem Ende ſich nahte 


an 


— 378 — 


Die unzaͤhligen Lichter der Laternen waren aufge— 
flammt und beleuchteten mit zitternden Strahlen die 
dunklen Maſſen, die unter ihnen in fieberhaftem Uns 
geſtuͤm vorbeiwogten. 

Noch immer ritten die Life Guards in Zuͤgen, die ſich 
begegneten, die Straßen auf und nieder. Ihre Uniformen, 
die Bruſtpanzer, die weißen Hoſen und die roten Roͤcke, 
blitzten, von den Lichtern uͤbergoſſen. 

Immer maßloſer, brutaler und ungerechtfertigter 
waren die Angriffe der Polizei, vor allem die der Ber 
rittenen, geworden. In die dichteſten Menſchenhaufen 
in geſtrecktem Galopp hineinſprengend, ritten ſie nieder, 
was nicht ſchnell genug fluͤchtete, mit ihren Knuͤtteln auf 
die Fallenden und am Boden Liegenden niederſchlagend, 
gleichgültig dafür, wohin fie trafen, ob auf die Arme, 
Schultern oder Köpfe der Wehrloſen. In einem Augen: 
blick waren die Stellen, wo eben noch kein Stein haͤtte 
zur Erde fallen koͤnnen, nur noch bedeckt mit Kleider— 
fetzen, zertretenen Huͤten, zerbrochenen Stoͤcken. 

Trotzdem die Ermuͤdung der Angreifer wie der An⸗ 
gegriffenen unverkennbar war, ſchienen alle noch einmal 
ſo erbittert. Das Geheul klang jetzt, wo nichts mehr 
ſcharf zu erkennen war, tieriſcher als zuvor. 

Auban ſah Szenen, wohin er ſich wandte, die ſein 
Blut in Wallung brachten. 

Er ſtand, ohne ſich ruͤhren zu koͤnnen, in einem 
Haufen, der wie erſtarrt war von Angſt, und zwar in der 
vorderſten Reihe. Ein alter Mann fluͤchtete auf ihn zu. 
Seine weißen Haare waren mit Blut gefaͤrbt. Einer der 
Reiter verfolgte ihn, mit ſeinem Knuͤttel auf ihn immer 


— 376 — 


wieder niederhauend. Auban ſtuͤrzte vor. Aber er konnte 
nicht helfen. Denn von den Nachfolgenden wurde er mit 
ſolcher Heftigkeit fortgeriſſen, daß er ſelbſt zu fallen glaubte: 
die Polizei war von der andern Seite angeritten und 
hatte alles in Bewegung geſetzt.. 

Im Eingang zu Charing Croß konnte er endlich Fuß 
faſſen. Die Reiter kehrten um und raſten zuruͤck. Auban 
ſtellte ſich auf eine Treppe. 

— Seit den Tagen der Chartiſten hat London ſolche 
Szenen nicht geſehen! — rief ein aͤlterer Herr neben 
ihm. 

— Der Prinz von Wales hat die Bluthunde mit 
Branntwein betrunken gemacht, damit ſie uns morden! 
ſchrie ein Weib. 

Und es ſchien wirklich ſo zu ſein. Aber nicht nur 
die Polizei war trunken, ſondern auch das Publikum, 
trunken vor Wut und Haß. 


Am Eingang derſelben Straße, wo Auban ſtand, 
unfern des Grand Hotel, rottete ſich ein neuer großer 
Haufe zuſammen, offenbar bereit zum Widerſtande und 
ſich im Inſtinkt der Gemeinſamkeit eng zuſammenhaltend. 
Eine neue Abteilung der Polizei zu Fuß ruͤckte im Lauf: 
ſchritt an. Ein wuͤtendes Handgemenge entſtand. Steine 
durchflogen die Luft, Scheiben klirrten, man hoͤrte das 
Ringen der Kaͤmpfenden und das dumpfe Aufſchlagen 
der Stoͤcke, die Schreie und das dumpfe Grollen. 

Faſt wollte die Polizei zuruͤckweichen. Aber ſchon 
kamen die berittenen Reihen angeſprengt und der Streit 


DE 


3 


war entſchieden. Weit nach Charing Croß hinein wurden 
die Fluͤchtenden getrieben. Auban ward abermals willen— 
los von ihnen fortgeriſſen. 

Die Funken, welche die jagenden Pferdehufe auf dem 
Boden ſchlugen, ſpruͤhten in der Dunkelheit ... 

So wuͤrden der Laͤrm und die Zuſammenſtoͤße noch 
eine, hoͤchſtens zwei Stunden wuͤten, dann nachlaſſen; 
und dann würde der Kampf, auf der ganzen Linie zu⸗ 
gunſten der Gewalt ausgefochten, beendet und das Recht 
der freien Rede auf Trafalgar Square dem Volke vielleicht 
fuͤr immer, ſicher aber auf fuͤr lange hinaus verloren 
fein . 

Bevor Auban den Square verließ, nahm er noch 
einmal mit einem langen Blick das Bild dieſes Schau— 
ſpiels in ſich auf, das ihm unvergeßlich bleiben wuͤrde. 
Ohr und Auge, beide ermuͤdet, tranken noch einmal die 
dunkle Weite des Platzes, das ſchwarze Meer der Menſchen, 
das Getoͤſe ſeiner Flut, die flirrenden Lichter — all die 
tauſend Laute der Leidenſchaft, in einen zuſammengeballt 
— und nicht mehr ſo laͤcherlich, ſondern faſt furchtbar 
war das Gebruͤll, welches einem einzigen Munde zu 
entſtroͤmen ſchien. 


Auban entfloh ihm. Er ſehnte ſich nach Ruhe. Er 
ſehnte ſich nach einem Kampf, anders als dieſen, den er 
in ſeinen jungen Tagen ſo leidenſchaftlich, wie kein anderer, 
mitgekaͤmpft hatte, nach einem Kampf, deſſen Erfolg 
zweifellos war, weil er unerbittlich ſein mußte, in dem 
es andere Kraͤfte zu erproben galt, als die, welche heute 


— 378 — 


im Spiele miteinander gerungen hatten, gleichſam, wie 
um ſich kennen zu lernen. 

Als er den Fuß in den Wagen ſetzte, der ihn zu 
ſeinem ſtillen Zimmer bringen ſollte, hoͤrte er noch, wie 
bereits die Abendzeitungen, die das ſchilderten, was er 
an dieſem Nachmittage geſehen hatte, von den gellenden 
Stimmen ihrer Verkaͤufer ausgerufen wurden. 


Zehntes Kapitel 


Anarchie 


Die Wochen vergingen. | 

Der „bloody Sunday“ auf Trafalgar Square erregte 
die Gemüter nicht mehr zu leidenſchaftlichen Auseinander⸗ 
ſetzungen. Zwar hatte ſich am folgenden Sonntag zur 
Unterftügung der Polizei eine Schar freiwilliger Vaters 
landsverteidiger eingefunden, aber dieſelben hatten, nad): 
dem ſie ein paar Stunden lang auf dem Platz dem 
Geſpoͤtt und dem Hohn der neugierigen Menge, die 
keinen Verſuch machte, ein verlorenes Recht zuruͤckzu⸗ 
erobern, ausgeſetzt geweſen waren, von Regen durchnaͤßt 
und ohne die friſch gedrechſelten Knuͤttel geſchwungen zu 
haben, nach Hauſe ziehen muͤſſen. f 

Nach dem großen Schauſpiel die Komik freiwilliger 
Selbſterniedrigung, nach dem „bloody Sunday“ die 
„laughing stocks!“ 

Der Square war und blieb leer. 


Die Frage der „Arbeitsloſen“ war natuͤrlich nicht 
geloͤſt, aber fie war in den Hintergrund getreten und fie 
ſchrie nicht mehr in den gellenden Toͤnen des wee 
nach Antwort. 


RN: 


In Chicago waren die Leichen der Gemordeten unter 
beiſpielloſer Teilnahme der Bevölkerung zu Grabe ge: 
tragen worden. Es war geweſen, als habe man eine 
Schuld wieder gut machen wollen. 


Die Zeit der großen Geſchehniſſe war voruͤber. Alles 
ging wieder ſeinen gewohnten Gang. 

Die Tage waren um ſo kaͤlter und feuchter geworden, 
je ſchneller der Monat zu Ende ging. 

Auban hatte weder Trupp, noch irgendeinen anderen 
ſeiner gewohnten Freunde wiedergeſehen. Nur Dr. Hurt 
war zuweilen gekommen, ſeine Fuͤße zu waͤrmen' und 
ſeine Pfeife bei ihm zu rauchen. Sie lebten ſich geiſtig 
mehr und mehr ineinander ein und verſtanden ſich beſſer 
und beſſer. 

Die Sonntagnachmittag⸗Zuſammenkuͤnfte ſchienen 
nicht nur unterbrochen zu fein, ſondern gänzlich aufgehört 
zu haben. Auban dachte auch nicht daran, ſie wieder 
aufleben zu laſſen. Er war nun von ihrer Zweckloſigkeit 
uͤberzeugt. ‚ 

Auch die Klubs hatte er nicht mehr beſucht ſeit dem 
Abend ſeiner Auseinanderſetzung mit Trupp. Und — 
was die groͤßte Veraͤnderung in ſeinem Leben war — 
auch ſeine Wanderungen durch die Bezirke des Hungers 
hatte er aufgegeben. 5 

Er hatte viel zu tun. Er begann jetzt mit der Arbeit 
ſeines Lebens, gegen die alles, was er bisher getan, 
nur Vorbereitung geweſen war. 8 


— 381 — 


Fuͤr ſich ſelbſt hatte er in dieſer Zeit einen kleinen 
Sieg erfochten. 

Die Leitung des franzoͤſiſchen Sammelwerkes, zu 
deſſen Mitarbeiterſchaft er vor drei Jahren nach London 
berufen war, war nach und nach ganz in ſeine Haͤnde 
uͤbergegangen. Dank ſeiner Gewiſſenhaftigkeit, ſeiner 
Umſicht, ſeiner Selbſtaͤndigkeit hatte das Unternehmen, 
das dem Abſchluß entgegenging, einen glaͤnzenden Erfolg 
erzielt. Trotzdem er der buchhaͤndleriſchen Firma, einer 
der groͤßten Englands, unentbehrlich geworden war, hatte 
dieſe es unterlaſſen, feine Dienſte angemeſſen zu bone 
rieren und ſeine Beſoldung nur wenig erhoͤht. 

Er hatte lange auf die freiwillige Erfüllung dieſer 
Pflicht gehofft. Er wartete, bis er alle Truͤmpfe in ſeiner 
Hand hielt. Dann hatte er ſie eines Tages ausgeſpielt 
und ſeine Entlaſſung fuͤr das Ende des Jahres angezeigt. 

Eine lange Unterredung mit den beiden Inhabern der 
Firma war daraufhin gefolgt. Bei dem Ausbruch ihrer 
moraliſchen Entrüftung über den Bruch des Kontraktes, 
der zwar weder ſchriftlich, noch durch irgendein Wort 
Aubans, ſondern von ihrer Seite, wie ſie ſagten, nur 
auf „Treu' und Glauben“ eingegangen war, waren ſie 
von Auban gebeten worden, doch jede Sentimentalitaͤt in 
einer geſchaͤftlichen Auseinanderſetzung beiſeite zu laſſen. 
Dann bewies er ihnen mit Zahlen, daß das einzige 
Verdienſt, das ſie ſich bei der Herausgabe des Werkes 
erworben, das Herleihen des Kapitals geweſen war, daß 
dieſes Verdienſt ſich aber ſo belohnt hatte, ihnen etwa 
vier Fuͤnftel des Ertrages ſeiner Arbeit zu ſichern. 

Daraufhin ſeine Forderungen, als die Bitte an ihn 


— 382 — 


geſtellt wurde, noch ein Vierteljahr zu bleiben, bis zum 5 


vorlaͤufigen Abſchluß des Werkes: zunaͤchſt das Dreifache 
des Monatsgehaltes als bisher. 

— Noch nie haͤtten ſie einem ihrer Angeſtellten ein 
ſolches Salaͤr gezahlt — 

— Noch nie ſeien ihnen wohl auch von einem An⸗ 
geſtellten ſolche Dienſte geleiſtet worden — 

Ferner, und das war Aubans Hauptſchlag geweſen, 
mit dem er ſich feine Zukunft wenigſtens in etwas ficher- 
ſtellen wollte: einen Gewinnanteil an jeder Auflage des 
Werkes. 

— Ob eine ſolche Forderung wohl ſchon je geſtellt 
worden ſei — 

— Das ſei ihm ganz gleichguͤltig. Es ſtuͤnde in 
ihrem Belieben, ſie anzunehmen oder zu verwerfen — 

Sie taten das erſtere. 

Endlich Aubans dritte Forderung: eine Entſchaͤdigung, 
im Verhaͤltnis zu dem Erfolge ſeiner Arbeit ſtehend, fuͤr 
die bisher geleiſtete Arbeit, ſofort auszahlbar. 

— Das ſaͤhe verdammt einer Erpreſſung aͤhnlich — 

— Mochten ſie es nennen, wie ſie es wollten. Er 
habe von ihnen gelernt. Ob ſie das wundere? Druͤckten 
ſie nicht auch etwa die Loͤhne ihrer Arbeiter nieder, ſo 
tief wie es nur ging? Er ſtemmte ſich dagegen und 
druͤcke wieder — f 

Als er gegangen war, knirſchten die Kompagnons 
mit den Zaͤhnen. Als gewiegte Geſchaͤftsleute aber ge⸗ 
ſtanden ſie ſich ſtillſchweigend ein, daß ſie nie eine groͤßere 
Hochachtung fuͤr Auban empfunden hatten, als in dieſem 
Augenblick .. 


Se 


— 383 — 


Den Kontrakt, den beide Parteien daraufhin auf— 
ſetzten, ließ Auban von einem der erſten Rechtsanwaͤlte 
pruͤfen und fuͤr richtig befinden, ehe er ihn unterſchrieb 
und ſich fuͤr weitere drei Monate band. 

Dann war er frei fuͤr einige Zeit; und nie hatte er 
mit ſolcher Deutlichkeit gefuͤhlt, wie noͤtig dieſe pekuniaͤre 
Unabhaͤngigkeit war für das, was er tun wollte. 

Noch ein Vierteljahr, und er war in der Lage, nach 
Paris zuruͤckzukehren. Nach Paris! Sein Herz ſchlug 
hoͤher bei dieſem Gedanken. 

Er liebte London und bewunderte es, dieſes wunder— 
bare, maͤchtige London, und er liebte Paris. Aber dieſes 
liebte er doch anders.. 

London begann auf ihm zu laften mit feinen ewig 
grauen Himmel, feinem fahlen Nebel, ſeiner traurigen 
Daͤmmernis. 

Eine Sonne ſtieg ihm auf. Und dieſe Sonne hieß 
Paris. Bald wuͤrde er wieder beſchienen ſein von ihren 
Strahlen, die jo warm waren, fo belebend, fo ſchoͤn ... 


Von Aubans Schreibtiſch waren die Stoͤße mit 
Zeitungen und Broſchuͤren uͤber Chicago verſchwunden 
und neue Arbeiten bedeckten ihn, die ſeine ſpaͤrlichen 
freien Stunden erfuͤllten. 

Er war ſich klar uͤber das, was er wollte. 

Er ſtand allein: keiner ſeiner zahlreichen Freunde war 
in den letzten Jahren mit ihm gegangen; keiner unter 
ihnen war im Stande geweſen, mit ihm die letzten Konſe— 
quenzen zu ziehen. 


— 384 — 


So hatte er ſie hinter ſich zuruͤcklaſſen muͤſſen, er, 
der raſtlos vorgeſchrittengwar, der Freiheit zu. 

Aber er hatte neue Verbindungen angeknuͤpft und oft 
und immer wieder richtete ſich ſein Auge nach Amerika, 
wo von einer kleinen, aber ſtetig und ſicher wachſenden 
Schar ausgezeichneter Maͤnner ſeit Jahren bereits die 
Arbeit getan wurde, die in der alten Welt noch nicht 
angefangen war. 

Alles draͤngte dahin, auch hier mit ihr zu beginnen. 


Zwei Umſtaͤnde erſchwerten vor allem die Ausbreitung 
der Idee der Anarchie in Europa: 

Entweder ſah man in einem Anarchiſten einen Dyna⸗ 
mitarden; oder, hatte man einen Blick in den Ideen⸗ 
kreis der neuen Partei geworfen, einen Kommuniſten. 

Waͤhrend in Amerika bereits einige Lichtſtrahlen die 
trüben Blicke des Vorurteils und der Voreingenommen⸗ 
heit zu treffen begonnen hatten, waren in Europa noch 
alle verſchleiert. a 

Zuvor mußte der uͤberall mißverſtandene Sinn des 
Wortes neugepruͤft, erkannt und erklaͤrt werden. 

Die einen, die, welche alles nehmen, wie man es 
ihnen gibt, und in der Anarchie nur das Chaos und in 
dem Anarchiſten nur den gewaltſamen Umſtuͤrzler ſahen, 
mußten belehrt werden, daß Anarchie im Gegenteil das 
Ziel der Entwicklung der menſchlichen Geſellſchaft iſt 
und jenen Zuſtand bezeichnet, in dem die Freiheit des 
Individuums und feiner Arbeit Buͤrge iſt für fein Wohl, 
wie fuͤr den Wohlſtand der Allgemeinheit. 5 ö 


— 3885 — 


Und den anderen, jenen, die mit Recht an das Ideal 
der Freiheit im bruͤderlichen Kommunismus nicht glaubten, 
mußte gezeigt werden, daß die Anarchie die Freiheit des, 
Individuums, weit entfernt, ſie in Guͤtergemeinſchaft und 
Aufopferung zu ſehen, ſie im Gegenteil durch Bekaͤmpfung 
und Beſeitigung ganz beſtimmter, gewaltſamer Hemm— 
niſſe und kuͤnſtlicher Schranken zu erreichen ſucht. 

War dieſe erſte, roheſte und undankbarſte Vorarbeit 
geſchehen und hatte ſich, wenn auch vorerſt nur unter 
Wenigen, die Erkenntnis Bahn gebrochen, daß die Anarchie 
kein Himmel auf Erden iſt, und daß die Menſchen nur 
ihre wahre Natur und deren Beduͤrfniſſe zu erkennen, 
nicht aber dieſelbe „von Grund aus zu aͤndern“ brauchen, 
um die Freiheit zu ermöglichen, jo war die naͤchſte Auf: 
gabe gegeben: die Inſtitution des Staates zu kennzeichnen 
als groͤßtes und einziges Hemmnis der Menſchheit auf 
ihrem Wege der Entwicklung zur Kultur. 

Es galt zu zeigen: daß der Staat die privilegierte 
Gewalt iſt und daß Gewalt es iſt, die ihn erhaͤlt; daß 
er es iſt, der die Harmonie der Natur in die Unordnung 
des Zwanges verwandelt; daß ſeine Verbrechen es ſind, 
die die Verbrechen ſchaffen; daß er hier unnatürliche 
Vorrechte verleiht, waͤhrend er dort natuͤrliche Rechte 
ſchmaͤlert; daß er die wetteifernde Entfaltung der Kraͤfte 
auf allen Gebieten laͤhmt, den fruchtbaren Handel unter: 
bindet und damit den Wohlſtand des ganzen Volkes 
untergraͤbt; daß er in allem die Mittelmaͤßigkeit vertritt 
und daß alles, was er zu tun unternimmt, weit beſſer, 
allgemein zufriedenftellender, vorteilhafter ohne ihn aus⸗ 
gefuͤhrt werden koͤnnte, wenn es der freien Konkurrenz 

VIII 25 


— 386 — 


der Privaten uͤberlaſſen bliebe; daß eine Nation je reicher 
und gluͤcklicher iſt, deſto weniger ſie regiert wird; daß 
der Staat, geſchweige je der Ausdruck des Willens der 
Geſamtheit zu ſein, vielmehr immer und immer nur 
der Wille derjenigen iſt, die an ihrer Spitze ſtehen; und 
daß die, welche an der Spitze ſtehen, zwar immer fuͤr 
ſich und die ‚Ihrigen‘, nie aber für die ſorgen, welche 
ihnen ihre Sorge anzuvertrauen toͤricht genug ſind; daß 
der Staat nur geben kann, was er zuvor genommen hat, 
da er unproduktiv iſt, und daß er immer weniger zu⸗ 
ruͤckgibt, als er erhalten — kurzum, es galt zu zeigen, 
daß er, alles in allem genommen, nichts anderes iſt, 
als ein ungeheurer, fortgeſetzter, ſchamloſer Betrug, ver⸗ 
mittels deſſen die einen auf Koſten der anderen leben, mag 
er ſich nun genannt haben oder nennen, wie er will... 

War ſo auf einigen Punkten der Glaube an das 
allein ſeligmachende Idol des Staates erſchuͤttert und 
damit das Vertrauen in die eigene Kraft der Initiative 
geſtaͤrkt, ſo mußte jenen Geſetzen nachgegangen werden, 
die das wirtſchaftliche Leben beherrſchen. Es mußte die 
Wahrheit zur Erkenntnis gebracht werden, daß die Inter⸗ 
eſſen der Menſchen ſich nicht feindlich gegenuͤberſtehen, 
ſondern daß fie ſich harmoniſch vereinen, wenn ihnen 
nur der freie Spielraum zu ihrer Entfaltung nicht ge⸗ 
nommen oder geſchmaͤlert wird. 

Die Freiheit der Arbeit — errungen durch den Fall 
des Staates, der das Geld nicht mehr monopoliſieren, 
den Kredit nicht mehr laͤhmen, das Kapital nicht mehr 
vorenthalten, die Zirkulation der Werte nicht mehr hemmen, 
mit einem Wort: die Angelegenheiten der Einzelnen nicht 


3 
1 


— 387 — 


mehr kontrollieren kann — war fie zur Tatſache ger 
worden, ſo war die Sonne der Anarchie aufgegangen. 

Ihr Segen — man wuͤrde ihn wie Waͤrme fuͤhlen, 
nach der langen Nacht voll Kaͤlte und Not 

Aber verſprechen ſollte man nichts. Nur die, welche 
nicht wiſſen, was ſie wollen, verſprachen. Es galt zu 
uͤberzeugen, nicht zu uͤberreden. 

Das erforderte andere Kraͤfte, als die der geſchwaͤtzigen 
Zunge, welche die Maſſen beredet, gegen ihren Willen zu 
handeln, ſtatt dem Einzelnen die Wahl ſeiner Entſchluͤſſe 
zu laſſen und ſeiner Einſicht zu vertrauen. 

Die verſchiedenſten Wiſſensgebiete mußten herangezogen 
werden, um die Theorie der neuerwachenden Lehre zu 
beweiſen: die Geſchichte, um die Irrtuͤmer der Ver: 
gangenheit in der Zukunft zu vermeiden; die Pſychologie, 
um zu erkennen, wie die Seele den Bedingungen unter⸗ 
worfen iſt, die der Koͤrper ihr vorſchreibt; die Philoſophie, 
damit ſie zeige, wie alles Denken nur vom Individuum 
ausgeht, damit es zu ihm zuruͤckkehre . 

Nachdem ſo alles getan war, um die Freiheit des 
Individuums als Gipfelpunkt der Entwicklung zu beweiſen, 
blieb noch eine Aufgabe uͤbrig. N 

Nicht nur die Ziele mußten gezeigt, ſondern auch 
die beſten und ſicherſten Wege geſucht werden, auf denen 
dieſelben zu erreichen waren. In der Gewalt die groͤßte 
Feindin erblickend, galt es, die Gewalt zu vernichten. 
Auf welche Weiſe? 

Auch ſie war gefunden. Nicht zu einem Kampfe 
galt es den bis an die Zaͤhne bewaffneten und in 


allen Machtmitteln noch weit uͤberlegenen Staat heraus⸗ 
25* 


Ser 


zufordern. Er wäre entſchieden, noch ehe er begonnen 
haͤtte. Nein, dieſes Ungeheuer, das ſich von dem Blute 
unſerer Arbeit naͤhrt und erhaͤlt, mußte ausgehungert 
werden, indem man ihm den Tribut vorenthielt, den 
es als ſelbſtverſtaͤndlich forderte. Es mußte an Er⸗ 
ſchoͤpfung ſterben, verhungern, langſam zwar, ohne 
Zweifel, aber ſicher. Noch hatte es die Macht und das 
Anſehen, ſeinen Raub unweigerlich einzufordern oder den 
Verweigerer zu vernichten. Eines Tages aber wuͤrde es 
einer Anzahl von Maͤnnern, von beſonnenen, ruhigen, 
unerſchuͤtterlichen Maͤnnern begegnen, die mit verſchraͤnkten 
Armen ſeinen Angriff mit der Frage zuruͤckſchlagen wuͤrden: 
Was willſt du von uns? — Wir wollen nichts von dir. 
Wir verweigern dir jeden Gehorſam. Laß dich von 
denen ernähren, die dich brauchen. Uns aber laß in 
Ruhe! — 

An dieſem Tage wuͤrde die Freiheit ihren erſten Sieg 
erfechten, einen unblutigen Sieg, deſſen Ruhm die Erde 
mit der Eile des Windes durchfliegen und uͤberall die 
Stimme der Vernunft zur Antwort erwecken wuͤrde. 

Was waren die Streiks, vor welchen die Ausbeuter 
zitterten, anderes, als paſſiver Widerſtand? Mußten die 
Arbeiter mit ihnen nicht Erfolge erzielen koͤnnen? Er⸗ 
folge, auf die ſie vergeblich warten wuͤrden, vertrauten 
ſie weiter dem ruchloſen Spiel politiſcher Gaukler. 

Bisher in der Geſchichte des Jahrhunderts nur in 
vereinzelten Faͤllen hier und da und nur zeitweilig zur 
Erzwingung gewiſſer politiſcher Forderungen benuͤtzt, mußte 
einſt der prinzipiell angewandte paſſive Widerſtand gegen 
die Regierung — vor allem in der Form der Steuer: 


88 


verweigerung — zur vorgehaltenen Waffe werden, an 
welcher der Staat langſam verbluten würde... 

Bis dahin aber? .. 

Bis dahin galt es zu wachen und zu warten. 

Es gab keinen anderen Weg, das Ziel endlich zu er— 
reichen, als den der ruhigen, unermuͤdlichen, ſichern Auf⸗ 
klaͤrung und den des ſelbſt gegebenen Beiſpiels, das 
eines Tages Wunder wirken wuͤrde. 


So lag vor Auban in ihrem ganzen Umfange die 
Arbeit, der er ſein Leben zu widmen entſchloſſen war. 
Er uͤberſchaͤtzte ſeine Kraft nicht. Aber er vertraute ihr. 
Denn ſie hatte ihn gefuͤhrt durch die Irrtuͤmer ſeiner 
Jugend. So konnte ſie keine gewoͤhnliche Kraft ſein. 

Noch ſtand er allein. Bald wuͤrde er Freunde und 
Mitkaͤmpfer haben. Schon begann ſich in Paris unter 
den Kommuniſten eine ſtark individualiſtiſch-anarchiſtiſche 
Stroͤmung bemerkbar zu machen, die das Privateigentum 
in Schutz nahm. 

In dieſen Tagen waren ihm die erſten Hefte einer 
neuen Zeitſchrift — offenbar mit den beſcheidenſten 
Mitteln gegruͤndet — zugeflogen, die ein glaͤnzender 
Beweis fuͤr die in gewiſſen Arbeiterkreiſen ſeines Landes 
herrſchende Intelligenz war. Die „L'Autonomie indi- 
viduelle“ hatte ſich frei gemacht vom Kommunismus 
und wurde nun von ihm ebenſo angegriffen, wie dieſer 
einſt von den Sozialdemokraten. Auban vertiefte ſich in 
die Lektuͤre der wenigen Blaͤtter, aus denen ihm ein Geiſt 
der Freiheit entgegenwehte, der ihn entzuͤckte .. 


„ 


Ein Klopfen an der Tuͤr unterbrach ihn. 

Ein Brief wurde ihm uͤberbracht. Sein Inhalt bat 
um ein Rendezvous noch fuͤr dieſen Abend und trug 
keine Unterſchrift. Auban wollte ihn zuerſt beiſeite 
werfen. Dann aber, als er ihn zum zweiten Male las, 
nahm ſein Geſicht einen nachdenklichen Ausdruck an. 
In der Art und Weiſe, wie der Brief abgefaßt war, 
mußte etwas liegen, das ſeinen Entſchluß aͤnderte, denn 
er ſah nach der Uhr und blickte auf den großen Stadt⸗ 
plan von London, der an der Wand hing. 

Mit der unterirdiſchen Eiſenbahn fuhr er über Black: 
friars von Kings Croß nach London Bridge. Er mußte 
umſteigen und wurde dadurch aufgehalten. Dennoch er— 
reichte er noch vor der angegebenen Stunde die Straße 
und das bezeichnete Haus. Als er an der verſchloſſenen 
Tuͤr klopfte, wurde dieſe ſofort geoͤffnet. 

Auban brauchte den Namen nicht zu nennen, der ihm 
angegeben war. Er erſtarb auf ſeinem Munde in einen 
unwillkuͤrlichen Ausruf des Erkennens und des Er— 
ſchreckens, als er den Offnenden erkannte. Vor ihm 
ſtand ein Mann, der einſt eine der gefuͤrchtetſten und 
gefeierteſten Perſoͤnlichkeiten in der revolutionären Be: 
wegung Europas geweſen war, deſſen Name nun aber 
von den meiſten nur noch mit Haß und Verachtung 
genannt wurde. Jeden anderen haͤtte Auban jemals 
eher wiederzuſehen geglaubt, als dieſen Mann, der ihn 
ſchweigend empfing und jetzt ſchweigend die Treppe hin⸗ 
auf in ein kleines, niedriges Zimmer fuͤhrte. 

Dort an dem einzigen Fenſter ſtanden ſie ſich gegen— 
uͤber und Aubans Erkennen wich dem Gefuͤhl innerſter 


n 


n 5: 
* 


„„ 


Erſchuͤtterung, als er ſah, was die wenigen Jahre, in 
denen er ihn nicht mehr geſehen, aus ſeinem einſtigen 
Bekannten gemacht hatten. Damals war er aufrecht 
und ſtolz gegangen; jetzt ſtand er vor ihm wie gebuͤckt 
unter der Laſt eines furchtbaren Schickſals. Noch konnte 
er das fuͤnfunddreißigſte Jahr nicht erreicht haben und 
ſchon waren ſeine Haare grau wie die eines Fuͤnfzig⸗ 
jaͤhrigen; einſt war ſein Laͤcheln ſo ſiegesgewiß und 
zwingend geweſen, daß keiner ihm widerſtehen konnte 
— heute war es traurig und ſchmerzlich, als er ſah, 
wie wenig Auban ſein Erſchrecken und ſeine Erſchuͤtterung 
bei ſeinem veraͤnderten Anblick zu verbergen vermochte. 
Da nannte ihn Auban leiſe, als fuͤrchte er, die 
Waͤnde koͤnnten ihn hoͤren, bei ſeinem wirklichen Namen, 
dieſem einſt ſo viel genannten, heute faſt vergeſſenen 
Namen. 

— Ja, ich bin es, ſagte der andere, ohne daß das 
traurige Laͤcheln von ſeinen Lippen verſchwand. — Sie 
haͤtten mich wohl nicht einmal wiedererkannt, Auban? 

Auban ſchuͤttelte gewaltſam feine Erregung ab. 

— Wo kommen Sie her? Wiſſen Sie nicht — 

— Ja, ich weiß, man iſt mir uͤberall auf den Ferſen, 
ſelbſt hier in England. In Frankreich wuͤrde man mich 
ausliefern und in Deutſchland begraben fuͤr Lebenszeit, 
wenn man mich haͤtte. Auch hier bin ich nicht ſicher. 
Aber ich mußte noch einmal hierher, ehe ich untertauche 
fuͤr immer. Sie wiſſen, weshalb — 

Gewiß, Auban wußte es. Auf dieſem Manne lag 
der furchtbare Verdacht, einen Genoſſen verraten zu haben. 
Wie viel, wie wenig Wahrheit an dieſem Verdacht war, 


iR 


Auban konnte es nicht entſcheiden. Von ſozialdemo⸗ 
kratiſcher Seite war er zuerſt ausgeſprochen worden. 
Aber von dort aus waren ſchon fo viel gefliſſentliche 
Luͤgen über die Kommuniſten ausgegangen, daß auch 
dieſe aus der Luft gegriffen ſein konnte. Dann war er 
wiederholt worden von einer feindlichen Richtung im 
eigenen Lager. Der Beklagte hatte darauf geantwortet. 
Aber wollte oder konnte er nicht: kurz, die Sache war, 
trotz vieler Worte, nie ganz aufgeklaͤrt worden. Sicherlich 
war das uͤberhaupt in der Offentlichkeit unmoͤglich — 
uͤber zu vieles mußte geſchwiegen werden, was der Feind 
nicht erfahren durfte, zu viele Namen mußten ungenannt, 
die genannt, zu viele Verhaͤltniſſe unberuͤhrt bleiben, 
welche von Grund aus haͤtten eroͤrtert werden muͤſſen, 
als daß der ſo Angeſchuldigte je hoffen durfte, in aller 
Augen wieder unantaſtbar dazuſtehen. 

Das war der Fluch der Knechtſchaft, mit dem die 
falſche Taktik einen an den andern band, ſo daß keiner 
ſich ruͤhren und regen konnte, wie er wollte. 

Noch immer hätte der von allen Seiten bereits Un 
gegriffene aufrecht weiter wirken koͤnnen in dem alten 
Kreiſe der Genoſſen, wenn dieſe ſelbſt nicht auch wankend 
geworden waͤren. Da hatte er eines Tages alles hinter 
ſich abgebrochen und war verſchwunden. Sein Name 
wurde vergeſſen; vergeſſen wurde, was er getan hatte, 
nachdem mit feiner Perſon ihr großer Einfluß, der be: 
zaubernd geweſen war, wo er ſich geltend gemacht hatte, 
gewichen war. 

Auban wußte es und er ſagte daher: 

— Ihre Reiſe war nutzlos. 


n 


— 393 — 


— Ja, war die Antwort, und die Stimme war ſo 
truͤb, wie die Augen deſſen, der ſie gab, — ſie war 
nutzlos. 

Er ließ wie voͤllig gebrochen die Stirn ſinken, als 
er noch leiſer fortfuhr, als ſchaͤme er ſich ſeines Wieder— 
kommens, wie einer Feigheit: 

— Ich konnte es nicht mehr aushalten. Zwei Jahre 
bin ich allein geweſen. Da entſchloß ich mich, wieder— 
zukehren und einen letzten Verſuch zu wagen, mich zu 
rechtfertigen. Man glaubt mir nicht. Keiner glaubt 
WM 2%. 

— So glauben Sie an ſich ſelbſt! ſagte Auban feſt. 

— Heute dachte ich an Sie. Man hat mir von 
Ihnen geſprochen. Man warf Ihnen vor, daß Sie Ihre 
eigenen Wege gehen. Nun ja, Sie ſind noch der einzige, 
der ſich in der Wirrnis den freien Blick bewahrt hat. 
Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen ſind. 

Er ſchien wie erſchoͤpft, als hätten ihn ſchon dieſe 
wenigen Worte ermuͤdet. Vor drei Jahren war er ein 
glaͤnzender Redner geweſen, welcher drei Stunden lang 
geſprochen hatte, ohne Ermattung zu zeigen. 

Auban war tief erſchuͤttert. Er haͤtte ihm gern ge— 
ſagt, daß er ihm glaube. Aber wie konnte er das, ohne 
unehrlich zu ſein? — Ihm war jene ganze Angelegen— 
heit faſt fremd geblieben, ſo viel er auch uͤber ſie ge— 
hoͤrt hatte. Der andere ſchien es zu fuͤhlen. 

— Ich muͤßte Ihnen die ganze Geſchichte erzaͤhlen, 
um Ihnen ein Urteil zu ermoͤglichen. Aber das wuͤrde 
Stunden dauern und vielleicht waͤre es dann doch 
nutzlos geweſen. Nur ſo viel, und das koͤnnen Sie mir 


1 — 


glauben: ich habe einen Irrtum begangen, aber an dem 
Verbrechen, das man mir zur Laſt legt, bin ich un⸗ 
ſchuldig. Außerdem habe ich vieles verſaͤumt, was ich 
zu meiner Verteidigung gleich haͤtte tun muͤſſen. Das 
alles iſt jetzt zu ſpaͤt. 

Er ſah nach der Uhr. 

— Ja, es wuͤrde Stunden dauern und ich habe feine 
halbe mehr. Ich will noch heute fort. 

— Wohin? fragte Auban. 

— Zunaͤchſt die Themſe hinauf mit einem Schiff 
Und dann, und traurig laͤchelnd machte er eine Be: 
wegung mit der Hand in die Weite, — und dann weiter 
— irgendwohin — — 

Er griff nach einer kleinen Reiſetaſche, die fertig ge— 
packt neben ihm lag. 

— Ich habe nichts mehr hier zu tun, lasen Sie 
uns gehen, Auban. Begleiten Sie mich bis zur Bruͤcke, 
wenn es kein Umweg fuͤr Sie iſt. 

Sie verließen das Zimmer und das Haus, ohne daß 
ihnen jemand nachſah. Bis zur London Bridge gingen 
ſie ſchweigend nebeneinander her. 

Aber als fie die Brücke uͤberſchritten, brach der nieder⸗ 
gekaͤmpfte Groll des Ausgeſtoßenen doch los. 

— Ich habe der Sache alles gegeben, was ich beſaß: 
meine ganze Jugend und mein halbes Leben. Nachdem 
fie mir alles genommen, hat fie mir nichts zurück⸗ 
gelaſſen, nicht einmal den Glauben an ſie ſelbſt. 

— Es bleibt Ihnen noch ein halbes Leben, um den 
Glauben an ſich dafuͤr zuruͤckzugewinnen, dieſen einzigen 
Glauben, der nie enttaͤuſcht. 


N 
a 


e 


| 


— 3985 — 


Aber der andere ſchuͤttelte den Kopf. 

— Sehen Sie mich an, ich bin nicht mehr, der ich 
war. Allen Verfolgungen habe ich Trotz geboten, dem 
Hunger, dem Haß, dem Gefaͤngnis, dem Tod — aber 
von denen, die ich mehr geliebt habe, wie mich ſelbſt, 
davongejagt zu werden wie ein raͤudiger Hund, das hat 
mich getroffen! — Ach, ich bin ſo muͤde! — ſo muͤde! 
— fo müde! . 

Er trat in einen der Ruhepunkte der Brücke und 
ließ ſich auf eine der Baͤnke fallen, waͤhrend der Menſchen⸗ 
ſtrom weiterbrauſte. Auban ſetzte ſich neben ihn. Der 
Ton, mit dem der ungluͤckliche Mann die letzten Worte 
wiederholte, erſchuͤtterte ihn von neuem aufs tiefſte. Und 
waͤhrend hinter ihnen das grandioſe Leben die Bruͤcke 
uͤberſpuͤlte, erzählte er ihm, um ihm Zeit zu laſſen, 
ſich zu faſſen, von ſeinen eigenen truͤben Erfahrungen 
und Erkenntniſſen, und wie dennoch ſeine Kraft uner— 
ſchuͤttert und fein Mut ungelaͤhmt ſei, ſeit er ſich wieder: 
gefunden habe und nun — auf eigenen Fuͤßen ſtehend 
— tuend und laſſend, was er wolle — von keiner Partei, 
keiner Klique, keiner Richtung mehr abhaͤngig — keinem 
mehr Eingriffe in fein eigenes Leben geſtatte ... 

Aber der andere ſaß teilnahmslos. Er ſchuͤttelte den 
Kopf und ſah vor ſich hin. 

Ploͤtzlich ſprang er auf, griff nach ſeinem Gepaͤck, 
zeigte auf das Chaos von Schiffen und murmelte einige 
unverſtaͤndliche Worte. 


Dann, noch ehe Auban ihm antworten konnte, um: 
armte er den Überraſchten mit Heftigkeit und eilte, mit 


— 396 — 


der Hand ein Zeichen gebend, er wolle nicht weiter be— 
gleitet ſein, davon. 
Auban ſah ihm re nach. 

Opfer über Opfer, und alle umfonft, dachte er. — 
Lange noch ſah er vor ſich das gealterte Geſicht und die 
ergrauten Haare des Verfolgten, der — ein ruheloſer 
Verbannter — einer neuen Welt voll Geſchicken ent⸗ 
gegen zog, ohne Kraft mehr und ohne Mut, ein Leben 
noch weiter zu beſtehen, das ihn betrogen hatte.. 


Der Abend begann. 

Die Sonne ging unter. 

uͤber London Bridge fluteten zwei unermeßliche 
Menſchenſtroͤme, heruͤber und hinuͤber zogen in zwei 
ununterbrochenen Reihen raſſelnd und droͤhnend die 
Wagen. 

Das ſchwarze Gewaͤſſer der Themſe floß traͤge. 

Auban ſtand an dem Bruͤckenrand und nahm, gegen 
Oſten gewendet, das große Bild auf, das ſich ihm bot. 
Überall über die Haͤuſermaſſen zu beiden Seiten der Flut 
erhoben ſich Tuͤrme, Saͤulen, Schornſteine, Kirchturm⸗ 
ſpitzen ... Unten aber ein Wald von Maſten, Stangen, 
Segeln... Links Billingsgate, Londons großer, berühmter 
Fiſchmarkt ... Weiter, dort, wo die vier Türme ragen, 
das dunkle, unheimliche Gebäude des Tower. Roͤtlich 
lag die untergehende Sonne, die blaſſe, muͤde Sonne 
Londons, minutenlang auf ſeinen Fenſtern: dann war auch 
ihr Schein ploͤtzlich erloſchen und grauhelle Daͤmmerung 
zog ihre Streifen um die dunklen Maſſen der Waren⸗ 


a 5 
. 
3 


nnen. 


— 397 — 


haͤuſer, die g e der Schiffe, um die Pfeiler der 
Bruͤcke 

Schon zeigte die Zifferuhr an den Adelaide Buildings 
auf die ſiebente Stunde, aber noch immer war das Aus— 
laden des mächtigen Überfeeftenmers zu Aubans Füßen 
nicht beendet. Starke Maͤnner trugen Kiſten und Ballen 
in langen Reihen uͤber ſchwankende Bretterſtege ans Ufer. 
Die Stirn, den Kopf und den Nacken mit eigentuͤmlich 
geformten Polſtern gegen den zermalmenden Druck der 
ſchweren Laſt geſchuͤtzt, ſahen fie, wie fie gebuͤckt unter 
ihrer Buͤrde einherſchritten, aus, wie Stiere im Joche ... 

Eine große, wunderbare Stimmung uͤberkam Auban. 
Das war London, das rieſige London, welches mit ſeinen 
fünf Millionen menſchlicher Weſen ſiebenhundert Meilen 
Erde bedeckte; das war das London, wo jede fuͤnfte 
Minute ein Menſch geboren wurde, jede achte ein Menſch 
ſtarb. .. Das war das London, welches wuchs und 
wuchs, und, bereits unermeßlich, das Grenzenloſe er= 
ſtreben zu wollen ſchien . 

Ungeheure Stadt! Unbegreiflich und unerfaßlich lag 
ſie da zu beiden Seiten des Fluſſes und die Wolken von 
Rauch, Dunſt, Laͤrm, die ſie ausſpie, lagen wie Schleier 
über ihrem ſchnaufenden Leibe . 

Lichter um Lichter erflammten und vermengten der 
Feuchtigkeit der Nebel die Wärme der Glut. Ihre roͤt⸗ 
lichen Reflexe durchzitterten die Dämmerung. 

London Bridge donnerte und droͤhnte unter den 
Laſten, welche fie trug. 

Tag ſo fuͤr Tag, Woche fuͤr Woche, Jahr auf Jahr 
raſte ſo dieſes gewaltige Leben, das nie ermuͤdete. 


— 398 — 


Immer fieberhafter wurden die Schlaͤge ſeines Herzens, 
immer gewaltiger die Taten feines Armes, immer kuͤhner 
die Plaͤne ſeines Gehirns. 

Wann erreichte es den Hoͤhepunkt ſeiner Ziele? — 
Wann würde es ruhen?! — — 

War es unſterblich? — 

Oder drohte auch ihm die Vernichtung? — 

Und wieder ſah Auban ſie nahen, die Wolken des 
Verderbens, die den Blitz ſenden wuͤrden, der dieſe un⸗ 
geheure Maſſe von Zuͤndſtoff entladen wuͤrde. 

London, auch du biſt nicht unſterblich! .. Du 
biſt groß. Aber die Zeit iſt größer . . 

Es wurde dunkler und dunkler. 

Da wandte er ſich dem Norden zu, und wie er mit 
ſeinen ſchweren, langen Schritten dahinging, feſt auf den 
Stock geſtuͤtzt, ſah, wie immer, mancher Voruͤbereilende 
der hohen, hageren und ſtolzen Geſtalt nach, die der 
weite Mantel umflatterte. 


Und wie Auban Straße um Straße kreuzte und ſich 
mit jeder ſeiner Wohnung naͤherte, hatte er bereits die 
Erſchuͤtterung dieſer letzten Stunden uͤberwunden, und 
ſchon kreiſten wieder mit unruhigen Schlägen die Flügel 
ſeiner Gedanken um das erſehnte Licht der Freiheit. 

Wie wuͤrde ſich entwickeln und geſtalten, was noch 
als eben erſt befruchteter Keim im Schoß der Zeit ruhte? 

Eines war ihm ſicher: 

Schmerzlos mußte ſie ſich vollziehen, die Geburt der 
neuen Welt, ſollte ſie lebensfaͤhig ſein. 


„ 


5 — 


Die ſoziale Frage war eine wirtſchaftliche Frage. 
So und nicht anders konnte ſie ſich loͤſen: 

Mit der Schwaͤchung der ſtaatlichen Gewalt ſtellt 
ſich mehr und mehr das Individuum auf die eigenen 
Füße. Dem Gaͤngelbande des Paternalismus entfliehend, 
gewinnt es die Selbitändigkeit, eigenen Wollens und 
Handelns. Das Recht der Selbſtbeſtimmung uneinge⸗ 
ſchraͤnkt in Anſpruch nehmend, zielt es zunaͤchſt dahin, 
alle bisherigen Vorrechte null und nichtig zu machen. 
Nichts durfte von denſelben übrig bleiben, als ein uns 
geheurer Haufe modernden Papiers. Das unbenutzte 
Land, nicht laͤnger mehr beſchlagnahmt von denen, die 
es nicht bewohnen, wird bebaut und bevoͤlkert von jenen, 
die es okkupieren. Bisher brach gelegt, traͤgt es nun 
Frucht und Saat und reichlich naͤhrt es die befreiten 
Geſchlechter. Das Kapital, unfaͤhig, laͤnger ſich zu maͤſten 
von dem Schweiße fremder Arbeit, ſieht ſich genötigt, 
ſich ſelbſt aufzuzehren: ernaͤhrt es den Vater und den 
Sohn noch, ohne daß ſie die Hand zu ruͤhren brauchen, 
fo ſteht doch ſchon der Enkel vor der Alternative, den 
‚Ruhm der Väter‘ zu ſchaͤnden und zu arbeiten, oder 
zu verhungern. Denn mit dem Schwinden aller Privi⸗ 
legien iſt die Pflicht der Selbſtverantwortlichkeit auf 
die Schultern des Individuums gelegt. Ob es an ihr 
ſchwerer tragen wird, als an den tauſend Naͤchſten⸗ 
pflichten, mit denen bis dahin der Staat ſeinen Buͤrger, 
die Kirche ihr Mitglied, die Moral den Gerechten be— 
lud? — 

Nur eine Loͤſung der ſozialen Frage, nur die eine 
gab es: ſich nicht laͤnger in gegenſeitiger Abhaͤngigkeit 


1 


zu erhalten — ſich und damit den andern den Weg zur 
Unabhängigkeit zu Öffnen! —; nicht laͤnger mehr an die 
Starken die laͤcherliche Anforderung zu ſtellen: „Werdet 
ſchwach!“ — nein, den Schwachen endlich zuzurufen: 
„Werdet ſtark!“ —; nicht länger mehr der Hilfe „von 
oben her“ zu vertrauen, ſondern endlich ſich ermannen 
zu eigener Tat. 


Das neunzehnte Jahrhundert hat den „Vater im 
Himmel“ abgeſetzt. Es glaubt an keine göttliche Kraft 
mehr, der es untertan iſt. 


Die Kinder des zwanzigſten Jahrhunderts aber erſt 
wuͤrden die echten Atheiſten ſein. Zweifler an der goͤtt⸗ 
lichen Machtvollkommenheit, mußten ſie beginnen, die un⸗ 
erbittliche Kritik ihrer Vernunft auch an die e 
jeder menſchlichen Autoritaͤt zu legen. 

Das Bewußtſein der eigenen Wuͤrde mußte ſie durch⸗ 
dringen. Statt wie bisher in der Unterwuͤrfigkeit, der 
Hundetreue, der Hingabe ihren Stolz zu ſuchen, wuͤrden 
ſie erkennen, daß Befehlen eine Anmaßung, Gehorchen 
ein Entaͤußern, beides aber eine Selbſtentehrung iſt, die 
der Freie verachtet 


Das in den Uniformierungen verkruͤppelte Geſchlecht 
mochte lange Zeit brauchen, um den natuͤrlichen Wuchs 
und die aufrechte Haltung des Stolzes wieder zu er- 
langen. 

Auban war kein Träumer. Während er die Forde: 
rungen der Freiheit ſtellte, verlangte er von der Zeit nicht 
deren ſofortige Einloͤſung. Die großen Verſchiebungen 
der ſozialen Organe würden vielleicht Jahrhunderte er- 


1 


fordern, ehe fie den normalen Zuſtand gleicher Lebens⸗ 
bedingungen fuͤr Alle erreicht hatten. 

Deſto laͤnger wuͤrde der Prozeß der Entwicklung zur 
Freiheit dauern, je maͤchtiger und ſiegreicher die große 
Gegenſtroͤmung der Autorität werden würde, 

Gewaltſame Ereigniſſe würden den friedlichen Gang 
der Entwicklung überall unterbrechen. Sie waren uns 
vermeidlich. Zu groß waren der Haß, die Blindheit, 
die Unſicherheit auf beiden Seiten geworden, als daß 
nicht Zufammenftöße erfolgen mußten, unter denen die 
Erde in Schauern erbeben wuͤrde. 

Die Natur der Dinge mußte ihren Lauf nehmen. 

Die Logik der Tatſachen zerſtoͤrte die Wuͤnſche der 
Unmoͤglichkeit. 

Immer muͤſſen ſaͤmtliche Torheiten ihren Zoll der 
Erfahrung gezahlt haben, ehe ſich dieſe an das Licht 
noͤtigen laͤßt. 

Der Sozialismus war die letzte Univerſal-Dummheit 
der Menſchheit. Auch dieſe letzte Leidensſtation auf dem 
Wege zur Freiheit mußte zuruͤckgelegt werden. 

Dann erſt konnte der Gott des Wahns ans Kreuz 
geſchlagen werden. 

Dann erſt, wenn aller Glaube mit zerbrochenem 
Genick zu Boden lag und keiner Hoffnung mehr — 
um in die Himmel zu enteilen — die Fluͤgel leihen 
konnte, dann erſt war die Zeit gekommen fuͤr das wahre 
„Reich auf Erden“: das Reich des Gluͤcks, der Freude 
und des Lebensgefuͤhls, welches die Freiheit war... . 

Aber die Freiheit hatte auch einen maͤchtigen Helfer: 
die Zwietracht im Lager ihrer Feinde. 

vin 26 


1 


Überall Zerriſſenheit; überall Unruhe; überall Angſt. 
Und überall der Ruf nach mehr Gewalt! Gewalt, Ge 
walt — ſie ſollte alle Schaͤden heilen. Und die Armeen 
wuchſen aus der Erde, die Voͤlker ſtarrten in Waffen 
und die Angſt vor der blutigen Zukunft ſcheuchte den 
Schlaf aus den Augen der Sehenden. 

Die Gewalthaber wußten nicht mehr ein und aus. 
Gleich jenem Feldherrn des Altertums riefen ſie, man 
ſolle das Meer peitſchen, das mit ſeiner Woge das Deck 
uͤberſchwemmte und Mann und Maus zu verſchlingen 
drohte. 

Kriege, mit deren Blutſtroͤmen die Inhaber der Macht 
die Flammen der Empoͤrung ihrer Voͤlker zu loͤſchen ver⸗ 
ſuchen wuͤrden, waren unvermeidlich, Kriege, wie die Welt 
fie nie geſehen 

Zu groß war die begangene Schuld geworden und 
furchtbare Suͤhne wuͤrde genommen werden! 

Dann, nach dem Chaos der Revolutionen und den 
Metzeleien der Schlachten, wenn die verwuͤſtete Erde in 
Erſchoͤpfung zuſammengebrochen war, wenn die bitterſte 
Erfahrung den letzten Glauben an die Autoritaͤt ver⸗ 
nichtet haben wuͤrde, dann wuͤrde vielleicht verſtanden, 
wer ſie waren und was ſie wollten, ſie, die einzigen, 
welche ruhig und gefaßt in dem Taumel um ſie her der 
Freiheit vertrauten, die ſie nannten mit dem Namen: 
Anarchie 


Wie es wogte und brauſte, dieſes London! — Wie 
mit dem Sinken des Abends ſeine Pulſe ſchneller und 


8 


ſchneller ſchlugen! — Was deuteten dieſe tauſendfachen 
Stimmen? 

Weiter und weiter war Auban gegangen, bis er ſeine 
Wohnung erreichte. ö 

Nun war er wieder in der erſt vor Stunden ver— 
laſſenen Stille ſeines Zimmers. 

Noch gluͤhte das Feuer im Kamin. Aber bevor er ſeine 
Arbeit wieder aufnahm, ruͤckte er einen Stuhl heran und 
ſaß ſo eine kurze Zeit: die Haͤnde gegen die Waͤrme ge— 
ſtreckt und, vornuͤber gebeugt, die Blicke in die Glut ge— 
richtet. 

Eine große, faſt gewaltige Freude uͤberkam ihn, wie 
er ſie nie gefuͤhlt. 

Die Mauern dieſes Zimmers, die Nebel Londons, das 
Dunkel des Abends — alles verſank vor dem Bilde, 
welches er ſah: 

Eine lange Nacht iſt vergangen. Langſam erhebt ſich die 
Sonne uͤber die ſchlafenden Daͤcher und die ruhenden Felder. 

Ein einſamer Wanderer durchſchreitet die Weite. 

Auf den Graͤſern am Wegrande zittert noch der Tau 
der Nacht. Aus den Hainen am Huͤgelrande erklingen 
die erſten Stimmen der Voͤgel. Über die Gipfel der 
Berge kreiſt der erſte Aar. 

Allein geht der Wanderer. Aber er fühlt feine Eins 
ſamkeit nicht. Die keuſche Friſche der Natur teilt ſich 
ihm mit. 

Er fuͤhlt: es iſt der Morgen eines neuen Tages. 

Dann begegnet ihm ein zweiter Wanderer. Und ein 
dritter. Und ſie verſtehen ſich mit ihren Blicken, waͤhrend 
ſie aneinander voruͤberziehen. 

26* 


1 a 


Das Licht ſteigt und ſteigt. Und der Morgen⸗Waller 
breitet weit die Arme und begruͤßt es mit dem befreienden 
Schrei der Freude 


So war Auban. 

Der Fruͤhrot⸗Gaͤnger bei Anbruch des neuen Tages 
war er. 

Nach einer langen Nacht voll Irrtum und Wahn 
ging er durch einen Morgen voll Licht. 

Die Sonne der Erkenntnis war ihm aufgegangen und 
ſie ſtieg hoͤher und hoͤher. 

Viele Jahrtauſende mußten vergehen, ehe die Idee 
der Anarchie erwachen konnte. 

Alle Formen der Knechtſchaft mußten durchgangen 
werden. Immer die Freiheit ſuchend, um in der ge 
wechſelten Form nur dieſelbe Unfreiheit zu finden, waren 
die Voͤlker getaumelt. 

Nun war die Wahrheit gefunden, alle Formen zu 
verwerfen, welche Zwang waren. Die Gewalt begann 
zu unterliegen. 

Die wilde Jagd nahte ſich dem Ende. 

Noch aber hatte es zu kaͤmpfen, zu kaͤmpfen, zu 
kaͤmpfen — nicht zu ermuͤden und niemals zu ver— 
zweifeln! 

Nicht um nichtige Ziele handelte es ſich. Das Gluͤck 
der Freiheit, das erſtritten werden wollte, war unver⸗ 
welklich. 


8 


Wie der Wanderer war Auban. 

Und wie der Fruͤhlicht⸗Gaͤnger breitete auch er die 
Arme, gruͤßte die Zukunft mit dem Rufe der Freude 
und nannte ſie mit dem unſterblichen Namen: An⸗ 
archiel 

Dann ging er an ſeine Arbeit. 

Auf ſeinen hageren, herben Zuͤgen lag ein ruhiges, 
großes, ſicheres Laͤcheln. 

Es war das Lächeln der Unbeſiegbarkeit. 


Inhalt des achten und letzten Bandes. 


Die Anarchiſten. 
Kulturgemaͤlde aus dem Ende des XIX. Jahrhunderts. 


Bae zur Volksausgabteene sn 9 

N RE EEE 
Erſtes Kapitel. 

In Heizen der Weltſtade . es Al 
Zweites Kapitel. 

—. VVA. ß 
Drittes Kapitel. 

FP“ ᷣͤ VV ˙¹Cir,r%ẽ .... N TEEN 
Viertes Kapitel. 

„ t ee 
Fünftes Kapitel. 

e . 
Sechſtes Kapitel. 

e ,, . ee 
Siebentes Kapitel. 

Die Zragöble von Chieng e . 
Achtes Kapitel. 

Die Propaganda des Kommunismus. 514 
Neuntes Kapitel. 

JJ a 3, ee 
Zehntes Kapitel. 

P... . ( Sr 


Die erfte Auflage der „Anarchiſten“ erſchien Zürich 1891 
(ſoweit ſich feſtſtellen ließ, in 1500 Exemplaren). — 
Die Volks⸗Ausgabe in 5000 Exemplaren Berlin 1893 
und 1895. — Das ſiebente und achte Tauſend als 
„definitive Ausgabe“ Berlin und Leipzig 1903. — 
Waͤhrend demnach dieſe Auflage in dieſer Geſamt⸗ 
Ausgabe das neunte Tauſend bildet, erſcheint gleich⸗ 
zeitig das zehnte Tauſend in einer neuen Einzel⸗Ausgabe. 


Er, 
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550. 


S. Bd. 


Mackay, John Henry 


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Gesammelte 


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University of Toronto 
Library 


Acme Library Card Pocket 
LOWE-MARTIN CO, LIMITED 


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