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Full text of "Geschichte der chinesischen Litteratur"

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Die 



Litte raturen des Ostens 



in Einzeldarstellungren. 



Bearbeitet 



▼OD 



Doient Dr. G« Alezid, Budapest; Prof. Dr. C Brockelmann, Breslau; 

Prof. Dr. A. Brttckner, Berlin; Prof. Dr. K. Bndde, Blarburg; Dr. K. Dieterich, 

Mttnchen; Prof. Dr. K: Florenz, Tokyo; Prof. Dr. W. Grube, Berlin; Prof. Dr. 

G. Heinrich, Budapest; Prof. Dr. P. Hom, Strasburg; Dozent Dr. IL MurkO| 

Wien; Dozent Dr. J. Vlcdc, Prag; Prof. Dr. M. WintemiU, Prag; 

Prof. Dr. W. Wollner, Leipzig. 



Achter Band: 

Geschichte der chinesischen Litteratur. 

Von 

Dr. Wilh. Grube, 



a. o. Profeoor in Barlbn. 



Leipzig, 
C. F. Amelangs Verlag. 

1902. 



Geschichte 



?/'-' 



chinesischen Litteratur. 



Dr. Wilh. Grube, 

a. o. Profell ot In Bnlis. 




Leipzig, 

C. F. Amelangs Verlag. 

1902. 



7/f 



JitiSE 



Pierer'tche Hofbachdrackerei Stephan Geibel & Co. in Altenburg . 



Dem 



teuren Andenken meiner Schwester. 






';>0 



Vorwort. 



Dals die politischen Ereignisse der letzten Jahre China und 
das Chinesentum dem Interessenkreise unseres gebildeten Publi- 
kums um ein beträchtliches Stück nähergerückt haben, unter- 
liegt wohl keinem Zweifel. Die — quantitativ wenigstens — 
reiche, fast zu reiche Litteratur, welche in jüngster Zeit den 
Büchermarkt auf diesem Gebiet überschwemmt hat, scheint dies 
zur Genüge zu beweisen. Um so befremdlicher muls jedoch die 
Tatsache wirken, dafs ein wesentlicher, vielleicht der wesent- 
lichste Faktor des chinesischen Geisteslebens, die Litteratur, dabei 
so gut wie unberücksichtigt geblieben ist. Diese Lücke nach 
Kräften auszufüllen erschien nachgerade als eine selbstverständ- 
liche Forderung unserer Zeit, die nicht länger von der Hand zu 
weisen war, und ich bin daher mit Freuden, wenn auch nicht 
ohne gewichtige Zweifel an dem eigenen Können, auf den Vor- 
schlag meines Herrn Verlegers eingegangen, eine gemeinverständ- 
liche Darstellung der chinesischen Litteratur für das von ihm 
herausgegebene, ebenso zeitgemäfse wie dankenswerte Sammel- 
werk beizusteuern. Über die Schwierigkeit eines solchen Unter- 
nehmens habe ich mich freilich keiner Täuschung hingegeben. 
Es ist wohl nicht zu viel behauptet, wenn eine auf dem Studium 
der Originaltexte fufsende eingehende und zusammenfassende Dar- 
stellung des geistigen Schaffens der Chinesen geradezu als ein 
erster Versuch dieser Art in der deutschen Litteratur bezeichnet 
wird; war doch Schotts vor einem halben Jahrhundert er- 
schienener »Entwurf einer Beschreibung der chinesischen Littera- 
tur«, wie schon der Titel besagt, eben nicht mehr als ein Ent- 
wurf imd obendrein nach Form und Inhalt eine streng fach- 
wissenschaftliche Abhandlung, wohingegen Baumgartner, da 



— VIII - 

ihm die Kenntnis des Chinesischen abgeht, für den einschlägigen 
Abschnitt in seiner Geschichte der Weltlitteratur , unstreitig das 
Beste, was bisher über den Gegenstand in deutscher Sprache 
veröffentlicht worden ist, ausschliefslich auf die Benutzung von 
Quellen zweiter Hand angewiesen war. Auch was in anderen 
Sprachen auf diesem Gebiete vorliegt, ist dürftig genug. Meines 
verewigten Lehrers Wassiljew kurzer Beitrag zu der von 
Kor seh in russischer Sprache herausgegebenen Geschichte der 
Weltb'tteratur entsprach nicht entfernt den Erwartungen, zu 
denen der berühmte Name des Verfassers berechtigen durfte, und 
was die vor kurzem erschienene iHistory of the Chinese Litera- 
turec von H. A. Giles betrifft, so habe ich, um mir vollste Un- 
abhängigkeit zu wahren, erst nach Abschluls meines Manuskriptes 
von dieser in ihrer Art trefflichen Arbeit Kenntnis genonmien. 

Bedarf demnach das Buch, das hiermit der Öffentlichkeit 
übergeben wird, wohl keines weiteren Berechtigungsnachweises, 
so möchte ich doch nicht unterlassen, auf einen anderen Punkt 
hinzuweisen, der für seine Beurteilung, wie diese nun auch aus- 
fallen mag, in erster Linie in Betracht kommt. Wie in dem 
Verlagsprospekte ausdrücklich hervorgehoben wird, wendet sich 
die Sammlung, der auch der vorliegende Band angehört, nicht 
an gelehrte Kreise, sondern an die Gebildeten der Nation. 
Damit sind die wesentlichsten Gesichtspunkte gegeben, nach 
denen ich mich sowohl hinsichtlich der Darstellung als auch der 
Auswahl der zu behandelnden Gegenstände richten zu müssen 
glaubte. Wie ich einerseits keinerlei Fachkenntnisse voraus- 
setzen durfte, so habe ich mich anderseits bemüht, den Interessen 
und Bedürfnissen meiner Leser entgegenzukommen. Nicht sowohl 
auf erschöpfende Fülle als vielmehr auf eine richtige Auswahl und 
übersichtliche Gruppierung des Stoffes mufste es vor allem an- 
kommen. Aus diesem Grunde habe ich mir auch hie und da die 
Freiheit genommen, den streng chronologischen Gang der Dar- 
stellung zu unterbrechen, um das Mafsgebende und Charakteristische 
mehr in den Mittelpunkt rücken zu können: nur so war es 
möglich, die Schilderung der Litteratur zugleich zu einer Ge- 
schichte des geistigen Lebens in China auszugestalten und den 
Werdegang der nationalen Eigenart zur Anschauung zu bringen. 

So sehr ich auch bestrebt war, alles gelehrte Beiwerk nach 
Möglichkeit beiseitezulassen, liefs es sich bei der Fremdartigkeit 



— IX - 

des Gegenstandes doch nicht vermeiden, hin und wieder sachliche 
Erläuterungen beizufügen, die samt den Litteraturangaben in 
Fufsnoten untergebracht wurden. Um den Zusammenhang der 
Darstellung nicht allzu oft durch sonst unimigängliche Exkurse 
zu unterbrechen, muXste dieses Verfahren vor dem in den übrigen 
Bänden dieser Sammlung befolgten in dem gegebenen Falle den 
Vorzug verdienen. 

Dafs die angeführten Übersetzungsproben, wenn der Übersetzer 
nicht ausdrücklich als solcher genannt ist, sämtlich von mir selbst 
herrühren, bedarf wohl kaum einer besonderen Erwähnung. 

Wollen und Vollbringen sind zweierlei, und dafs angesichts 
der Neuheit und Schwierigkeit des Gegenstandes dieses keineswegs 
immer mit jenem gleichen Schritt zu halten vermocht, weils 
niemand besser als ich; um so berechtigter wird aber auch die 
Bitte um eine nachsichtige Beurteilung dessen, was hier nach 
bestem Wissen geboten wird, erscheinen. Kärrner und Bau- 
meister in einer Person zu sein ist eben nicht leicht. Ob und 
wie weit es mir aber geglückt ist, mein Schifflein zwischen den 
Klippen seichter Popularität und trockener Fachgelehrsamkeit 
hindurchzusteuem, mag der geneigte Leser selbst entscheiden. 

Fasano bei Gardone-Riviera , den 17. Oktober 1902. 

Willielm Grube. 



In betreff der Aussprache der im Texte enthaltenen chinesischen 
Namen und Ausdrücke sei folgendes bemerkt: 

Sämtliche Wörter sind einsilbig, aufeinanderfolgende Vokale, wie 
in kiUj hao, hiao, hoei u. s, w., als Di- resp« Triphthonge zu sprechen, 

ch lautet wie tsch, sh wie seh; j ist wie franz(ysisches j, y wie 
deutsches j zu sprechen. 

i in Sßi^ tssi und tsa^i hat eine dumpfe Aussprache, die annähernd 
dem polnischen y entspricht, 

rh, welches nur in dem Lautkomplez erh vorkommt, ist ein 
Mischlaut, der zwischen r und / die Mitte hält, so dafs erh ähnlich 
wie erl oder örl ausgesprochen wird. 

Ist ein Konsonant mit einem Spiritus asper versehen, so ist er 
aspiriert, d. h. von einem starken Hauchlaut begleitet auszusprechen« 
Demgemäfs lautet: 

ch"^ wie tschh in klatschhaft, 

Jt^ wie ckh in Backhuhn, 

P wie th in Rathaus, 

t^ wie pph in Klapphut u. s. w. 

Auslautendes h soll nur andeuten, dafs ursprünglich ein k, t oder 
p an seiner Stelle am Ende des Wortes gestanden hat, wie das in 
manchen südchinesischen Dialekten noch der Fall ist. Der davor- 
stehende Vokal wird stets kurz gesprochen. 



Inhalt 



Erstes Kapitel. Seite 

Mnleitong» Bpraohe und Bohrift in ihrem Verhältnis zur 
Idtteratar 1 

Zweites Kapitel. 
Confüoius und die klassisohe Iiitterator. 

I. Confucius 15 

II. Die Wu-king oder fünf kanonischen Bücher 33 

1. Das Yih-king oder kanonische Buch der Wandlungen 33 

2. Das Shu-king oder kanonische Buch der Urkunden . 37 

3. Das Shi-king oder kanonische Buch der Lieder ... 46 

4. Das Li-ki oder die Aufzeichnungen über die Riten . 62 

5. Ch*un-ts*iu, »Frühling und Herbst*, die Chronik des 

Staates Lu 68 

III. Die SzÖ-shu oder vier klassischen Bücher 80 

1. Das Lun-yÜ oder die Unterredungen 80 

2. Das Ta-hioh oder die grofse Lehre 90 

3. Das Chung-3^ung oder das Innehalten der Mitte ... 92 

4. Meng-tsz^ 95 

IV. Kanonische Schriften zweiter Ordnung 106 

Drittes Kapitel. 

liitteraturdenJcmäler aus der voroonfaoianisehen und oonfaoia- 
niBohen Zeit. Der ältere ConftLoianismuB und philoBophisohe 
Oegenströmungen. 

I. Litteraturdenkmäler aus der vorconfucianischen und con- 

fucianischen Zeit 111 

II. Die Geschichtschreibung bis um das Jahr 200 v. Chr. . . 118 
III. Der ältere Confucianismus und philosophische Gegen- 
strömungen 124 

Viertes Kapitel. 
Iiao-tSBÖ und der TaoismuB 139 

Fünftes Kapitel. 

Die Wiederbelebung der Dichtkunst: K4üh Yüan und die 

Megien von Ch«u 173 



— XII — 

Sechstes Kapitel. ^•*'* 

JJaB Zeitalter der Han: Wiedersebort des Altertums. Die Qe- 
■ohlohtBohreibung. Philosophie and Didhtktmst. 

I. Wiedergeburt des Altertums. SzS-ma Ts*ien und die Ge- 
schichtschreibung .• • • 184 

IL Philosophische und Brieflitteratur 207 

III. Die Dichtung im Zeitalter der Han 220 

Siebentes Kapitel. 

Vom Bturs der Han-Dynastie bis sur Herrschaft der T<ang 
(220-618). 

I. Der Buddhismus und sein Einflufs auf die Kultur und 
Litteratur Chinas. Die Reiseberichte der buddhistischen 

Pilger 227 

II. Die lyrische Dichtung 245 

III. Die Prosalitteratur 251 

Achtes Kapitel. 
Das Zeitalter der T<ang (618-907): Blüteseit der Lyrik. 

I. Die lyrische Dichtung im Zeitalter der T*ang und ihre 

Nachwirkung bis auf die Gegenwart 262 

1. Die äufseren Mittel des dichterischen Ausdrucks . . . 262 

2. Die lyrische Dichtung im Zeitalter der T*ang und ihr 

Einflufs auf die moderne Lyrik 277 

ill. Die Prosalitteratur 300 

Neuntes Kapitel. 

Das Zeitalter der Sung und sein Einflufs auf das moderne China. 

I. Geschichtschreibung und Philosophie. Die Erneuerung 
des Confucianismus durch Chu Hi. Die letzte Blüte- 
periode der Essaylitteratur 322 

II. Die neuere Zeit: Erstarrung des geistigen Lebens . . . 351 

Zehntes Kapitel. 
Dramatische und emählende Idtteratur. 

I. Die dramatische Litteratur 361 

1. Die Blüte der dramatischen Dichtung im Zeitalter der 

Mongolenherrschaft 362 

2. Theater und Drama der C^egenwart 396 

II. Die erzählende Litteratur 406 

1. Der Roman 406 

2. Die Novelle 446 

SehlnTsbetraohtang 460 

Index 464 



THC ' 

UNIVEPSITY 

Or 



ERSTES KAPITEL. 

Einleitung. 



Sprache und Schrift in ihrem Verhältnis zur Litteratur. 

Wie ein Kolofs aus grauer Vorzeit ragt China in unsere 
Gegenwart herein. Ein Zeuge längst vergangener Tage, 
wurzelt es nicht nur im Altertum, sondern ist auch bis auf den 
heutigen Tag darin stecken geblieben. Staatsverfassung, öffent- 
liches und privates Leben, Anschauungen, Sitten, Geschmacks- 
richtung — alles ist im grofsen und ganzen beim alten geblieben; 
vereinzelte Zugeständnisse, die durch den bald friedlichen, bald 
kriegerischen Verkehr mit den unternehmungslustigen Vertretern 
einer fremden, überlegenen imd dabei expansionsbedürftigen Zivili- 
sation, die im Laufe der letzten Jahrhunderte erzwungen worden 
sind, kommen daneben kaum in Betracht. Kaum merklich sind 
die Spuren innerer Wandlung und Entwicklung, und wer heute 
den Boden Chinas betritt, hat unwillkürlich das Gefühl, um zwei 
Jahrtausende zurückversetzt zu sein, — ein Gefühl, das sich um 
so intensiver geltend macht, je mehr der Beobachter in der Lage 
ist, seine aus der lebendigen Anschauung gewonnene Kenntnis von 
Land und Leuten durch das Studium der Sprache, Geschichte und 
Litteratur zu vertiefen. Was sich der Forscher auf anderen Gebieten 
geschichtlicher Vorzeit, sei es aus Sage tmd Überlieferung, sei es 
aus totem Gestein, mühsam und oft nur unter reichlicher Zuhilfe- 
nahme der Einbildungskraft rekonstruieren mufs, — hier sieht er 
es leibhaftig vor sich: ein Stück lebendigen Altertums. 

Freilich haben wir nachgerade auch hier mit den Jahr- 
tausenden ein wenig haushälterischer umzugehen, als man es 
früher zu tun pflegte, imd wir wissen jetzt, dafs die chrono- 

Grube, Geschichte der chinesischen Litteratur. 1 



— 2 — 

logisch beglaubigte Geschichte Chinas erst mit dem Jahre 
841 V, Chn begin nt *). Mit diesem Ergebnis der neueren Forschung 
wira jedoch cue Tatsache, dals die Geschichte Chinas ein sehr viel 



höheres Alter in Anspruch nehmen darf, keineswegs in Frage 
gestellt; nur vermindert sich die Möglichkeit einer genauen chrono- 
logischen Schätzung der Ereignisse und mit ihr natürlich auch 
die Zuverlässigkeit der Überlieferung in demselben Mafse, als 
diese sich über den angegebenen Zeitpunkt hinaus entfernt. Wenn 
nun aber das chinesische Reich bereits i m 9, Tahrhundert v. 
als ein bis ins einzelne organisiertes Staatswesen mit emer reich- 
gegliederten Beamtenhierarchie y mit einem höchst komplizierten 
Ritualwesen, eigenem Schrifttum und alten Traditionen erscheint, 
so bedarf es wohl keines Beweises mehr, d gfs e in Kulturgebilde 
von so hoher Vollendung nur als das Produkt einer jahrhunderte- 
langen Entwicklung denkbar ist. 

Was indessen der chinesischen Kultur einen so ganz be- 
sonderen Reiz verleiht, ist weniger ihr hohes Alter als ihre Eigen- 
art und Selbständigkeit. Sie ist durchaus sui generis, und alle 
bisherigen Versuche, ihr durch Zurückführung auf sumero-akka- 
dische Einflüsse einen fremden Ursprung zu vindizieren, dürfen 
als gescheitert angesehen werden. Aus dem Schofse des eigenen 
Volkstums ist die chinesische Gesittung hervorgegangen; aus 
eigener Kraft bat sie die Höhe erklommen, die zu erreichen ihr 
beschieden war. Nur ein Beispiel fremder Beeinflussung von 
nachhaltiger und allgemeinerer Wirkung hat die chinesische Ge- 
schichte aufzuweisen: das ist die Ei nfüh rung des Buddhismus. 
Die mächtige Anregung, die dieser namentUch"' aüF die bilden- 
den Künste, auf Malerei, Plastik und, soweit der Tempelbau in 
Betracht kam, auch auf die Baukunst, ausgeübt hat, die mancherlei 
neuen Ideen, Vorstellungen und Bilder, mit denen er das Volks- 
bewulstsein und mit ihm zugleich die Litteratur bereichert hat, 
sind Tatsachen, deren Bedeutung nicht geleugnet werden kann. 
Aber einerseits erfolgte dieJEinführung der indischen Lehre erst 
ysn den Beginn der christlichen Ära, zu einer Zeit also, da der 
Chinese seine Rationa le Individualität bereits zu vollster Reife 
gefestigt und ausgeprägt hatte, und andererseits war das Neue, 



*) Les M^moires historiques de Se-ma Ts'ien traduits et annot^s 
par Edouard Chavannes, t. L, Paris 1895, pp, CLVI u. 304. 



~ 3 — 

das durch den Buddhismus ins Land kam, doch wohl mehr stoff« 
|jr4ipr als formaler Natur , so dafs dadurch mehr der Denk- tmd 
A nsrhannngs i n b a 1 1 der Nation bereichert. „als^ihreDenk« tmd 



Anschauun g^ weise junggnandelt ^wuxde. Auch mag es noch 
fraglich sein, ob das Chinesentum mehr vom Buddhismus oder 
dieser mehr von jenem beeinflulst worden sei; denn dafs er seine 
erstaunliche Ausbreitung in China wie auch anderswo mindestens 
ebensosehr seiner bgkwxiteQ^An^assungsfä^^ wie seinen 
Lehren verdankte, dürfte wohl kaum einem Zweifel unterliegen. 
So ist denn das chinesische Volk in seinem historischen Ent- 
wicklungsgange im wesentlichen auf sich selbst angewiesen ge- 
wesen, und in dieser Isoliertheit liegt zugleich ^ ßtärke und 
die Schwäche sowohl d er Kultur als auch der geschichtlichen 
und politischen Stellung Chinas. Es fehlte der Kontakt tmd 
Wettbewerb mit gleich- und höherstehenden Nationen, die Gelegen- 
heit, die eigene Kraft an fremder zu messen und zu stählen. Im 
Laufe der Zeit dehnte China, das ursprünglich auf ein im Ver- 
hältnis zum gegenwärtigen nur enges Raumgebiet beschränkt 
gewesen war, seinen Machtbereich immer weiter aus, indem es 
die Nachbarvölker ringsumher teils seinem Szepter unterjochte, 
teils wenigstens in den Bannkreis seiner. Gesittung zog. So 
wurde es allmählich zum Kulturherde für ganz Mittel- und Ost- 
asien. Es war sein SchicksaL-jnehr. .gebe D als nehme n zu sollen; 
im Leben der Völker aber ist Nehmen seliger denn Geben, Erst 
in neuerer Zeit ist China aus seiner Lethargie unsanft aufgerüttelt 
worden, und nun es den Kampf um die Existenz gilt, mufs es 
sich über kurz oder lang zeigen, ob dieses in seiner Art hoch- 
begabte, dabei physisch kräftige und arbeitsame Volk noch 
regenerationsfähig ist oder nicht. 

Was von der Gesittung gilt, das gilt natürlich in gleichem 
Malse auch von der Litteratur . die ja stets das getreue Spiegel- 
bild jener ist. Auch hier die merkwürdige Erscheinung, dafs 
das A ltertum in vollster Kraft und Frische in der Geyenwart 
brtleb t. Während die Zahl derer unter uns, die das Nibelungen- 
Ikd oder gar den Heliand im Urtext gelesen haben, *7[och Wohl 
recht gering sein dürfte, kennt jeder einigerm afsen gebildete 
Chinese^die Lieder des Shi-king, die auf ein Alter von nahezu 
drei Jahrtausenden zurückblicken, auswendig. Eine solche Kon- 

nnmtät d er Überli eferung, wie sie China aufweist, ist einzig in 

— 1. 



I 



— 4 — 

ihrer Art; aber so sehr man sie auch bewundem mag: für die 
geistige Entwicklung der Nation ist sie schwerUch ein Segen 
gewesen. Durch seinen zähen Fortbestand zehrt das Alte an 
der Lebenskraft des Neuen, und die geheiligten Ba nde der Tradi- 
tion werden zu Fesseln des Geistes. Daher der Eindruck des 
btarreHpTCöhveritionellen und Geschraubten, den viele, wenn nicht 
die meisten Erzeugnisse der chinesischen Litteratur in unserem 
Empfinden zurücklassen, so dals den europäischen Leser bei der 
Lektüre etwa eines chinesischen Romans ab und zu das Gefühl 
beschleicht, lunter Larven die einzige fühlende Brüste zu sein. 
Bietet nun schon, wie aus dem Gesagten leicht ersichtlich, 
die chinesische Litteratur in ihrer uns so fremd anmutenden, in 
sich abgeschlossenen Eigenart dem Verständnis grofse, bisweilen 
schier tmüberwindliche Schwierigkeiten, so steigern sich diese 
Schwierigkeiten noch sehr wesentlich durch die Sprache. Wil l 
iQh in den Geist einer Dichtung eindringen, sie mir im wa^n 
Sinne des Wortes zu eigen machen, so muls ich sie im Urtexte 
lesen; jede Übersetzung, selbst die vollendetste, ist doch nur ein 
Notbehelf, im besten Falle eine mehr oder weniger getreue Kopie, 
die das Original allenfalls wiedergeben, aber nie ersetzen kann; 
und je verschiedener die Sprachen, um so weiter der Abstand 
zwischen Original und Kopie. Der Leser wird die scheinbare 
Trivialität dieser Bemerkung verzeihen, wenn er ihrem tieferen 
Sinne auf den Grund geht und die erforderlichen Folgerungen 
aus ihr zieht. Denn woran denkt jeder, wenn von einer National- 
litteratur, gleichviel welcher, die Rede ist, in allererster Linie? 
Doch wohl sicherlich an das einigende Band der Sprachgemein- 
schaft; im Anschluls hieran freilich auch nicht minder an das 
spezifisch nationale Gepräge, wodurch sie sich von jeder anderen 
ihresgleichen unterscheidet, das aber bei tieferer Überlegtmgschliels- 
lich doch wieder zum grofsen Teile in dem bestimmten Charakter 
der Sprache seine Erklärung findet. Ist doch noch kürzlich von 
einem bekannten englischen Schriftsteller, der das Deutsche mit 
gleicher Meisterschaft beherrscht wie seine Muttersprache, erklärt 
worden , 4^s Kants iKritik der reinen Vemunftc im Englischen 
ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre. Der Grund ist nicht 
schwer zu finden; er liegt weniger in dem. mehr oder minder 
reichen Wortschatze (obwohl auch dieser Umstand eine Rolle 
dabei spielt) als in der formalen Beschaffenheit der Sprachen, 



— 5' - 

in ihrer verschieden gearteten Ausdrucksfähigkeit. Der Bau de r 
Sprach e > der Sprachgeist , das, was Wilhelm v. Humboldt 
die innere Form der Sprache nenn t , ^das jnalsgehfiDde. Am 
deutlichsten wird sich diese Tatsache an Werken der Dichtkimst 
beobachten lassen; man vergleiche nur irgend eine beliebige Über- 
setzung des iFaustc mit dem Original, um sich davon zu tiber- 
zeugen. Die Sprache ist das Instru ment, dem der Dichter seine 




die Sprach en, T edes Instrument kann nur nach Mä fsgabe seiner 
spezitisciien , begrenzten Leistungs- und AusdrucksfäKigkeit Ver- 
wendet werden: so bleibt auch der üicnter an seme Tllülter- 
sprache ^^BOlIden, und wie vollkommen er sie auch beherrschen 
mag, — im letzten Grunde wird er doch von ihr beherrscht. Es 
erscheint daher unerläßlich, zunächst durch eine, wenn auch nur 
fluchtig hingeworfene Skizze den Bau und Charakter der Sprache 
in den wesentlichsten Zügen zur Anschauung zu bringen^). 

Das Chinesische gehört samt dem Siamesischen, Birmanischen, 
Tibetischen und verschiedenen anderen, ihm zum Teil nur form-, 
zum Teil aber auch stammverwandten Idiomen zu der Klasse der 
sogenannten monosyllabischen odef isolierenden Sprachen. Mono- ^ 
syllabisch werden sie genannt, weil sie keine anderen als ein- 
silbige Wörter kennen, isolierend, weil die granmiatischen Be- 
ziehungen der Wort- und Satzteile untereinander nicht durch 
Veränderungen im oder am Wortstamme, sondern ausschlielsli ch 
durch die Wortstellung und gewis se grammatische Hilfswörter '^ 
zum Ausdruck gebracht werden. Damit ist der Bau derSpracne 
in seinen Grundzügen charakterisiert. Umwandlung des Wort- 
stammes zimi Ausdruck der grammatischen Beziehungen, sei es 
durch Ab- oder Umlaut, sei es durch Anfügung formbildender 
Silben, nach Art unseres »sprichc, »spräche, iSpruchc, »sprech-enc, 
<spräch-ec, ige-sproch-enc u. dergl. mehr, ist dem Chinesischen 
unbekannt* Während wir unter >Wort< ein Lautsymbol als 
Äquivalent für einen Begriffswert verstehen, jedoch immer zu- 



') Die nachfolgende Schilderung der chinesischen Sprache und 
Schrift ist mit einigen wenigen Änderungen, Kürzungen und Zusätzen 
meinem Aufsatze: »Die klassische Litteratur der Chinesen«, Deutsche 
Rundschau, 1901, Bd. C, S. 348 ff., entnommen. 



— 6 — 

gleich im Sinne einer bestimmten grammatischen Kategorie — 
als Hauptwort, Eigenschaftswort, Zeitwort u. s. w. — , besitzt 
im Chinesischen das Wort als solches nur Begriffswert . Hier 
kann im Prinzip jedes Wort jeder g r^ty^pnatigrhpn f^ft ejgorie an - 
gehör en. Einen lautlichen Ausdruck für die grammatische Form 
gibt es von Haus aus nicht: weder Wort- noch Formenbildung, 
weder Flexion noch Agglutination, somit auch keine morpho- 
logische Unterscheidung der Redeteile. Daher kann der Wort- 
stamm in seiner unveränderten Gestalt bald als Hauptwort, bald 
als Eigenschaftswort, bald als Zeitwort u. s. w. fungieren, und 
die jeweilig^e granunatische Katego rie wird lediglich durch die 
Stel lung des Wortes im Sätzganzeir^estimmiT"" EMBSOWUStiig 
werden an einem Worte, das als Hauptwort fungiert, Geschlecht, 
Kasus und Zahl, oder an einem solchen, das als Zeitwort ver- 
wendet wird, Person, Zeit und Modus unterschieden. Der Laut- 
komplex shang z. B. bezeichnet als solcher, d. h. aulser allem 
Satzzusammenhange, nur den Begriff »obenc. Je nach seiner 
Stellung im Satzgefüge bedeutet er sodann als Hauptwort erstens 
»Oberteile, zweitens lObersterc, »Höchster« im Sinne von 
1 Kaiser« ; als Eigenschaftswort »oberer«, als Umstandswort »oben«, 
als Verhältniswort »auf« oder »über« und endlich als Zeitwort 
entweder »auf etwas steigen«, »besteigen« oder »sich einem über- 
legen zeigen«. Dementsprechend bedeutet mchshang Pferd — 
oben: »auf dem Pferde«, »zu Pferde«, hingegen in umgekehrter 
Stellung skang'ffta oben — Pferd: »aufs Pferd steigen«. 

de Gesetz e der Wortstellung bilden das eigentliche Wesen 
^ und Prinzip der chinesischen Grammatik. Das chinesische Wort, 
als grammatische Einheit betrachtet, verhält sich also zu unserem 
Worte etwa wie die unbestimmten Zahlengrölsen der Algebra 
zu den bestimmten der Arithmetik, und die grammatische Anal3rse 
eines chinesischen Satzes lälst sich dementsprechend am passendsten 
der Lösung einer algebraischen Gleichung an die Seite stellen. 
Der Vergleich würde vollständig sein, wenn die Gesetze der 
Wortstellung das einzige Mittel zum Ausdruck grammatischer 
Beziehungen wären. Das ist jedoch nicht der Fall; vielmehr 
wird die starre Gesetzmäfsigkeit und Monotonie^ der, Wortstellung 
t durch gewisse ^grammatische Hilfswö rter meist pronominalen und 
verbalen Ursprungs vielfach belebt und durchbrochen, die je nach 
ihrer Funktion und Bedeutung eine erstatmliche Beweglic hkeit 



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und Mannigfaltigkeit des Satzba ues ermöglichen. Aulserdem be- 
sitzt das Chinesisctie eine beträchtliche Anzahl von Partikeln , die, (^ 
ähnlich unserem »wohlc, igarc, »doch«, ^»haltc u. dergl. mehr 
lediglich zum Ausdrucke der Modalitä t verwendet werden. Sie 
verleihen dem Tone der Rede durch ihre überaus ieinen psy cho- 
logischen Sch attierungen nft^f^n rharalrti^r ^^f\m,it^ filbarer S ub- 
jeknvitat und kö nnen h^ j g^ <|^ ^ <;lr ^fy ^/^orwi^ndu T^g un gemejp re iz- 
voll wirken. So hat es die Sprache der ^anMn>"«'^hfn "^^ 
nachkonfucianischen Zeit zu einer Entwicklungshohe der Aus- 
HiriickäShigkeit und des Periodenbaues gebracht, die in An- 
betracht der höchst dürftigen Mittel doppelt bewundernswert er- 
scheinen mufs. 

Aber auch die rein lautliche §yite ^^ ^^prarVi^ darf nicht ^ 
unberücksichtigt bleiben. Da das Chinesische nur über einsilbige 
Wörter verfügt, ist die Zahl lautlich unterschiedener Wortindi- 
viduen selbstverständlich eine verhältnismäßig beschränkte ; noch 
mehr aber wird sie durch den Umstand verringert, dafs keine 
Konsonantengruppen, sondern nur einfache Konsonanten geduldet 
werden. Bedenkt man femer, dafs der ohnehin spärliche Laut- 
bestand in den Dialekten Nord- und Mittelchinas im Laufe der 
Zeit sehr erhebliche Einbu(sen erlitten hat, so wird man sich 
leicht eine Vorstellung von der geringen Auswahl möglicher 
Lautverbindungen machen können. Während die südlichen Dia- 
lekte, die die älteren Lautformen treuer bewahrt haben, noch 
Wörter aufweisen, die auf k, p, t, w, », ng^) auslauten, kennen 
die i^ord- und mittelchinesischen Mundarten keine anderen Aus- 
lautskonsonanten als n und ng (von der Neubildung rh abgesehen), 
so dafs z. B. Wörter wie shik, Stein, shity wahr, sMp, zehn, in 
Nord- tmd Mittelchina unterschiedslos shi lauten. Naturgemäfs 
wird durch alle diese Einschränkungen die Möglichkeit ver- 
schiedener Lautkomplexe auf ein Minimum reduziert, und während 
z. B. der l autreichste Dialek t Chinas, der von Fuhj^ch^ou, noch -^ 
gegen 800 lautlich verschiedene Wörter"" aufzuweisen hat, besitzt 
der Pekinyer Dialek t der lautärmste von allen, deren nur etwa 
420. Mit diesen 420—800 Lautkomplexen würde somit tatsächlich 



Gewisse Konsonanten, wie /s, sä, ch, ng, die wir durch mehrere 
Buchstaben umschreiben, sind vom lautphysiologischen Standpunkte 
als einfache, nicht zusammengesetzte Laute aufzufassen. 



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der ganze Wortschatz erschöpft sein, wenn die Sprache nicht ein 
Mittel besäfse, durch das sie in die Lage gebracht wird, ihr be- 
scheidenes Inventar von Lautgruppen zu vergrölsem. Dieses Mitse i 

y sind die Bet onungen oder Worttöne . Jeder Vokal kann nämlich 
nicht nur lang oder kurz, sondern auch mit gewissen Stimm- 
biegungen ausgesprochen werden, die sich allenfalls mit dem 
sogenannten i geschliffenen Accentec vergleichen lassen, wie er 
in manchen »singendenc Mundarten unserer Muttersprache vor- 
kommt. Wir bedienen uns des steigenden Tones in der fragen- 
den Rede, z. B. »So? sollte das wahr sein?«, wohingegen der 
fallende Ton in der bestätigenden Antwort: ija« zu hören ist; 
während jedoch bei uns diese Betonungen lediglich rhetorischer 
Natur sind , sind sie im £feinesischen unlöslich xxut,.(}snL Worte 
verbunden , dessen Bedeutu ng s ie mitbestimn^en. So bedeutet 
das Wort li sowohl Pflaume als auch Birne und obendrein noch 
Kastanie; im ersten Falle wird es (im Pekinger Dialekt) mit 
dem langsam steigenden, im zweiten mit dem rasch steigenden 
und im letzten mit dem fallenden Tone gesprochen. Natürlich 
erfordert ^«^ ri^btjgfi Beher rsc hung jJei:; Töne jahrelange Jpbung, 
ein sehr feines ip,^^ikaliscl^e^ Gehör und grofse Modulationsfähig- 
keit der Stimme; der Leser kann sich daher leicht vorstellen, 
welchen Mifsverständnissen , oft höchst drolliger Art, der Aus- 
länder in China auf Schritt und Tritt ausgesetzt ist. 

Es liegt nun auf der Hand, dals die Zahl der lautlich ver- 
schiedenen und durch die Betonung differenzierten Wörter nicht 
einmal annähernd genügt, um den stetig wachsenden Bedarf an 
sprachlichem Ausdruck zu decken; vielmehr ist es unvermeidlich, 
dafs zahllose Bedeutungswerte in ihrer lautlichen Form zusammen- 
fallen. Um der hieraus sich ergebenden Gefahr der Mehrdeutig- 
keit und des Mifsverständnisses vorzubeugen, bedient sich die 
Sprache, wenigstens soweit die gesprochene Rede in Betracht 

^ kommt, des Mittels H^r v^y-hip^n^p ci«nv^rwQtiHf#>r Wörter. 

Indem sich zwei an sich vieldeutige Wörter, die zufällig in einer 
ihrer vielen verschiedenen Bedeutungen zusammentreffen, ver- 
binden, ergibt sich dann aus dem beiden Komponenten Gemein- 
samen der Sinn des Kompositums. In diesem Verfahren, dessen 
sich die moderne chinesische Umgangssprache mit besonderer 
Vorliebe bedient, sowie in dem Überhandnehmen grammatischer 
Hilfswörter tritt bereits eine Tendenz zur Mehrsilbigkeit hervor, 



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die vielleicht bestimmt ist, das Chinesische einem neuen Stadium 
sprachlicher Entwicklung entgegenzuführen. 

And€>rs h^\\}}^*^ ^^^^ ^jp Srhriftsgra?^^ ^^^ chinesische 
Schrift ist nicht, wie die unsere, Buchstaben-, sondern ^Wort- 
Schrift , so dals jedem Bedeutungswerte, unabhängig von seiner 
Lautform, ein besonderes Schriftzeichen entspricht. Ähnlich dem 
Papiergelde, das auf Grund allgemein anerkannten Zahlungs- 
kredits als Äquivalent für das Metallgeld verwendet wird, dient 
das geschriebene Wortzeichen gewissermalsen als gleichwertiges 
Ersatzmittel zur Deckung des Defizits an Lautwerten, d. h. laut- 
lich unterschiedenen Wörtern. Man braucht nur ein beliebiges 
chinesisches Wörterbuch aufzuschlagen, um sich VQp dem Mils- 
yerhältnis zu überzeugen, das zwischen der geringen Zahl lautlich 
unterschiedener Worte/ un*3^'3em kaum übersehbaren Kapital an 
Begriffswerten besteht, die einen sprachlichen Ausdruck verlangen. 
So enthält z. B. das berühmte, unter der Regierungsperiode 
K'ang-hi (1662— 1722) zusammengestellte Wörterbuch über 40 000 
verschiedene Schriftzeichen, von denen freilich viele teils veraltet, 
teils wenig gebräuchlich, teils auch nur Varianten für eui tmd 
dasselbe Wort sind; immerhin ist es bezeichnend, dals die 303 
Lieder desShi-king allein nicht weniger aU gQ-^ft YfT^^''^^**ll*' 
S^hr^^^'T^fT ^'»^frwY"^^'^'^ ^11^f*" In einem neueren chinesisch- 
französischen Wörterbuche, das übrigens keineswegs Anspruch 
auf absolute Vollständigkeit machen kann, finde ich, um nur ein 
Beispiel zu nennen, den Lautkomplex shi durch nicht weniger 
als 239 verschiedene Schriftzeichen vertreten, von denen 54 auf 
den gleichen (hohen und tiefen), 40 auf den steigenden, 79 auf 
den fallenden und 66 auf den kurzen Ton entfallen. 

Unzweifelhaft bestand die chinesische Schrift in der ältesten 
Zeit aus Hierogl;gphen, die teils Bilder, teils SsSgibole darstellten, 
und es fehlt auch nicht an Zeichen dieser Art, die ihren Ursprung 
noch deutlich erkennen lassen. Es lag nahe, besonders Gegen- 
stände der umgebenden Aulsenwelt durch Bilder wiederzugeben, 
wie denn auch z. B. die Schriftzeichen für Sonne, Mond, Berg, 
Fluls, Baum, Mensch, sowie für verschiedene Körperteile, für 
mancherlei Tiere, u. dgl. m. ihren ideographischen Ursprung ver- 
raten, während anderseits ein Punkt über oder unter einem Strich 
für die Begriffe »obenc und cuntenc, ein durch eine Senkrechte 
halbierter Kreis für iMittec, ein geöffneter Mund für isprechenc* 



-^l> 



^ 



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Zeichen ^ymbolisch^i ni Charr^Vtf^^ darstellen. Bald genügte aber 
der Vorrat an derartigen einfachen Zeichen nicht mehr, und nian 
begann nun, sie in Gruppen zu vereinigen und auf diese Weise zu- 
sanimengesetzte^aphische Gebilde zu schaffen, dieKsweilehatifser- 
ordentiich kompliziert sind, und deren Bedeutung aus den Einzel- 
bedeutungen ihrer Teile ersichtlich zu sein pflegt. So ergab die 
Verbindung der Ideogramme für Sonne tmd Mond ein zusammen- 
gesetztes Schriftzeichen mit der Bedeutung »Lichte, »Klarheitc; 
in ähnlicher Weise bedeuten Mund und Vogel »singenc , Mund 
und Hund oder auch zwei Hunde »bellenc , Wasser und Auge 
»Tränenc, zwei Kinder »Zwillingec, zwei Bäume »Walde, drei 
Bäume »Dickichte Sinniger und zum Teil nicht ohne Witz 
sind folgende Verbindungen: Mensch und reden für »auf- 
richtige, »treue, »glaubene (man denke an unser Sprichwort: 
»Ein Mann, ein Worte), zehn und Mund für »alte (zehn Münder 
im Sinne von zehn Generationen), sagen und zehn für » zählen e, 
acht und Messer für »teilene (in acht Teile zerlegen), Mensch 
und zwei für » Menschlichkeit e (das Verhalten zweier Menschen 
zueinander), Weib und Besen für »Hausfraue, zwei Weiber für 
»Zanke, drei Weiber für »Ehebruche, »Ränkee, Herz und nehmen 
für »liebene, u. dergl. m. Oft gewährt uns auch die Fonq un d 
Zusammensetz unir deg^S€hriftzeichep& einen intese&sajotenJEjnblick 
in, die Kulturyerbäjitniiiiifr ^^^ Vorzeit: sie ersetzt dann in gewisser 
Hinsicht das, was in den Sprachen, die eine Lautschrift besitzen, 
die älteren Lautformen für die Etymologie imd den Bedeutungs- 
wandel leisten. Hier ein paar Beispiele. Wörter, welche Wert- 
gegenstände, Kostbarkeiten u. dergl. bezeichnen, pflegen gröfsten- 
teils mit dem Schriftzeichen für »Muschele zusammengesetzt zu sein. 
Der naheliegende Schluls, da£s also wohl in alter Zeit, wie anders- 
wo, auch in China Muscheln als Geld verwendet worden seien, 
wird in der Tat durch die geschichtliche Überlieferung bestätigt. 
Das Wort für »sitzen e wird durch ein Zeichen wiedergegeben, das 
zwei Menschen auf der Erde darstellt: ein Beweis dafür, dals 
man in China vor alters auf der Erde zu hocken pflegte, 
während die Chinesen heutzutage bekanntlich die einzigen Orien- 
talen sind, die auf Stühlen sitzen. Für die hohe wirtschaftliche 
Bedeutung, die im alten China der Viehzucht beigelegt wurde, 
legen heute noch manche Schriftzeichen ein beredtes Zeugnis ab. 
Wenn z. B. die Kombination der Zeichen für »Schafe und »grofse 



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die Bedeutung »schöne, »lobenswert« hat, so scheint daraus er- 
sichtlich zu sein, dafs der Besitz grolser und fetter Hammel und 
Schafe den Höhepunkt alles Schönen und Wünschenswerten 
bildete, wie anderseits die Zusammensetztmg von »Schaf« und 
»ich« mit der Bedeutung »Gerechtigkeit« offenbar ursprünglich 
wohl nichts anderes bedeutete als die Wahrung des eigenen 
Viehstandes gegen fremde Eingriffe, die gehörige Unterscheidung 
von Mein und Dein. Und wenn das Schriftzeichen für »Haus«, 
»Familie« ein Schwein unter einem Dache zeigt, so sollte damit 
vermutlich versinnbildlicht werden, daüs der Besitz von Schweinen 
die unerläfsliche Vorbedingung eines eigenen Hausstandes sei, 
und nicht etwa, dafs das chinesische Haus oft mehr einem Schweine- 
stall als einer menschlichen Behausung gleiche. 

Wenn vorhin gesagt wurde, dafs die chinesischen Schriftzeiche n 
die Bedeutung des Wortes unabhängig von seinem Lautwerte zum 
Au sdruck bringen, so ist das mit einer gewissen Einschränkung 
zu verstehen. Tatsächlich wird in den meisten Fällen auch der 
Lautwert, freilich in der Regel nur andeutunp;sweise kennt lich 
gema cht. Es gibt nämlich eine gröfsere Anzahl selbständiger 
Schri ftzeic hen, ungefähr anderthalbtausend, die Verbindungen 
mit anderen Zeichen eingehen, nur um als »phonetische Elemente« 
annäherungsweise den Lautwert des so entstandenen zusammen- 
gesetzten Gebildes anzugeben, während das andere Glied der Zu- 
sammensetzung die Bedeutungskategorie, unter die das Ganze fällt, 
zum Ausdruck bringt. In . dieser Weise sind ungefähr 20 000 
Schriftzeichen gebildet. Der Hauptmangel dieses Verfahrens liegt 
darin, daüs die Angabe des Lautwertes, wie gesagt, in den meisten 
Fällen nur eine annähernde und daher vielfach schwankende 
bleibt, wie denn z. B. das Schriftzeichen für kung, »Arbeit«, 
als phonetisches Element für die verwandten Lautkomplexe 
kung, k'ung, kung, kang, kiang verwendet wird; immer- 
hin bieten die mit phonetischen Elementen zusammengesetzten 
Schriftzeichen dem Sprachforscher ein wichtiges Hilfsmittel, sofern 
er sich mit den Problemen der lautgeschichtlichen Entwicklung 
des Chinesischen befassen will. Zur A ngabe der Bedeutung s- 
kateg orie dienen 214 Schr ^^^dfih^" meist ideographischen Charak - 
tef?, die al s »Radikal e« oder »Klassenhäußjer« bezeichnet werden. 
So^umralst das Klassenhaupt »Baum«, »Holz« alle Ausdrücke für 
Bäume einerseits und hölzerne Geräte anderseits, das Klassen- 



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haupt »Herze solche für Gefühle und geistige Tätigkeiten, 
während durch »Handc manuelle Tätigkeiten, durch »Wassere 
Gewässer aller Art wie auch Flüssigkeiten überhaupt bezeichnet 
werden, u. s. f. Auf diese Weise bedeutet das vorhin genannte 
phonetische Element kung mit »Herze verbunden Ungeduld, 
mit »Handc tragen, mit »Wassere Strom, mit »redene Zanky mit 
»Holze hölzerne Brücke. In den meisten chinesischen Wörter- 
büchern ist das gesamte lexikalische Material derart unter diesen 
214 Klassenhäuptem geordnet, dals die Zeichen, die mit dem 
gegebenen Klassenhaupte verbunden sind, nach der Zahl der ein- 
zelnen Striche, aus denen sie bestehen, aufeinander folgen. 
Kennt man also die Reihenfolge der Radikale und die Nummer 
jedes einzelnen derselben auswendig — imd Übung macht ja den 
Meister — , so ist das Nachschlagen ein leichtes. 

Es mag nun wohl auf den ersten Blick nicht recht er- 
sichtlich erscheinen, in welchem Zusammenhange all diese Er- 
örterungen mit dem Charakter der chinesischen Litteratur stehen 
sollen. Und doch ist ein solcher unverkennbar: jjjjjoJjL-BÜJjer 
in neren wie m it der äufseren Form r!#*r liftAra^yhen Erzeugnisse . 
Lälst doch schon der überwiegend abstrakt-begriffliche Charakter 
der Sprache auf einen gewissen Mangel an plastischer Anschau- 
lichkeit schliessen. Indem das Wort hier diese, dort jene Funktion 
vertritt, verliert es jede Individualität und sinkt gleichsam zu 
einem blolsen Träger verschiedener Exponenten herab, etwa 
einem Schauspieler vergleichbar, der, gewohnt, heute diesen, 
morgen jenen Charakter zu verkörpern, wohl schliefslich dahin 
konmien mag, auch im gewöhnlichen Leben inuner nur diese oder 
jene Rolle zu spielen und mehr zu scheinen als zu sein. Bedenkt 
man femer, wie mächtig z. B. allein die Unterscheidung des 
grammatischen Geschlechtes den Hang zur Personifizierung leb- 
loser Gegenstände genährt hat, der sich in den westasiatischen 
und abendländischen Litteraturen in so hervorragendem Mafse 
geltend macht, so wird man begreifen, wie sehr das Fehlen dieser 
Kategorie im Chinesischen die freie Tätigkeit der Phantasie 
hemmen mufste. Wenn daher an die Stelle der Personifikation 
lebloser Gegenstände, von der nur selten Gebrauch gemacht 
wird, die Metapher, an Stelle der Tierfabel, die, von vereinzelten 
Ansätzen und einigen Erzeugnissen der modernen Volkslitteratur 
abgesehen, in der chinesischen Litteratur überhaupt nicht vor- 



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banden ist ^), die Parabel tritt, so ist das nur natürlicb. Die nUcbtem 
verstandesmäfsigeGeistesricbtimgdesCbinesen läuft dem Cbarakter 
seiner Spracbe parallel. Mit dem Mangel an unmittelbarer An- 
schaulichkeit ist naturgemäls eine erklärliche Nüchternheit und 
Schwunglosigkeit der Phantasie verbunden, da doch dieEinbildtmgs- 
kraft auf der gestaltenden Macht des Anschauungsvermögens beruht. 
Die chinesische Liederdichtung, zumal die älteste, imShi-king 
enthaltene, vermag hier und da durch die naive Einfalt des 
Empfindens zu rühren und durch ihren sittlichen Ernst zu er- 
greifen, imi aber, »himmelhoch jauchzend, zum Tode betrübte, 
sich bald in die dunkelsten Tiefen hinab-, bald zu den lichtesten 
Höhen emporzuschwingen, dazu haftet ihr doch zu viel Erden- 
schwere an. 

Wi e nun a ber der grammatische Bau der Sprache die innere 
Form der Dichtung bednflu ist, so hat der Monosyllabismus'des 
Uhinesiscben, verbunden mit seinen lautlichen Eigentümlichkeiten, 
eine analoge Einwirkung auf ihre äufsere Form zur Folge. 
Indem die einzelne Silbe zugleich Wortwert imd Wortton besitzt, 
sind ganz unbetonte Silben ausgeschlossen, wodurch dem Rh3rthmus 
notwendigerweise eine gewisse Schwerfälligkeit und Monotonie 
anhaften muls. Anderseits mulste der Reichtum an gleich- 
lautenden Wörtern schon früh zur Verwendung des Reimes an- 
regen, wie denn auch bereits die Lieder des Shi-king mit ge- 
ringen Ausnahmen aus Reimversen bestehen. 

Und die Schrift? — Auch sie macht ihren Einflufs auf die 
Litteratur in mehr als einer Hinsicht geltend. Kompliziert und 
schwerfällig, wie die chinesischen Wortzeichen ohnehin ihrem 
Baue nach sind, wurden sie in der ältesten Zeit mit einem Schreib- 
stift auf Holz- und Bambustafeln eingeritzt, — ein Verfahren, 
das, ebenso umständlich wie zeitraubend, den Gebrauch der 
Schrift sehr wesentlich erschweren und beeinträchtigen mulste. 
Die Folge davon war das Bestreben, die Niederschrift eines 
Textes durch einen möglichst geringen Aufwand an Schrift- 
zeichen zu vereinfachen. Daher zeigt s ich der Einflufs jdßr 
Schrift auf den Stil in der gedrängten Knappheit und Kürze des 
sprachlichen Ausdruckes, die' denScKrIflifchkmSlerii'jener TrüHesten 

• ' - " . • 

^) Vgl. C. A r e n d t , Moderne chinesische Tieriabeln und Schwanke : 
Zeitschr. des Vereins für Volkskunde, 1891, Heft 3, S. 325. 



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eriode eigen sind. In späterer Zeit, als an die Stelle des bis- 
herigen Schreibmaterials zuerst Seidenstoff, dann Papier trat, der 
Schreibstift durch den handlicheren Pinsel verdrängt wurde und 
die ursprünglich eckigen und unbeholfenen Schriftzeichen eine 
gefälligere Kursivform anzunehmen begannen, macht sich als 
Folge der vervollkommneten technischen Hilfsmittel ein gröfserer 
Wortreichtum, verbunden mit einer behaglicheren Breite der 
Darstellung, allmählich immer mehr bemerkbar. Obwohl etwas 
ihrem Wesen nach Aulserliches, übt aber die chinesische Wort- 
schrift zugleich einen qjaflit^ auf z^;^ ^cf^/>f;c^ii^ w^-ir«»p ^^^ 

Utterarisghen Erzeugiiisse aus, die keine Buchstabenschrift je 
nachzubilden im stände wäre. Wie ich oben an einigen Bei- 
spielen zu zeigen versuchte, bringen die chinesischen Schrift- 
zeichen die Bedeutung des Wortes oft in einer höchst sinnigen 
Weise zum Ausdruck; sie bieten dadurch mehr, als das Wort 
als solches zu bieten vermöchte, Qnd^ersetzen bis zu . eingsi ^e- 
"Ibissen Grade, was der Sprache abgeht; die Anschaulichkeit und 
Poesie. "Was ist z. B. das blolse Wort »liebenc im Vergleich mit 
einem der dafür gebrauchten Schriftsymbole, das. aus einer Zu- 
sanunensetzung der Zeichen für Weib und Kind bestehend, dem 
Leser des Bild der Mutterliebe vor Augen führt? Die ästhetische 
Wirku&g der chinesischen Schrift liefse sich daher vielleicht nicht 
unpassend mit dem vergleichen, was durch unseren modernen 
»Buchschmücke angestrebt wird: weniger eine Illustration als 
eine bildli ch-svm bolische Aadcutung des im Text Gesagten. Darin 
liegt eben das T/ntf~^^^^'^*"nd^ df^ ^^«Til^iVKn littecatur, dals 
sie sich durch Wort und Bild zugleich an Ohr und Auge wendet; 
sie will daher im Urtext gelesen sein, um nach ihrem ästbeti,schen 
Qehalte voll gewürdigt zu werden. Es ist charakteristisch, dals 
der Ruhm eines Schriftstellers in den Augen des Chinesen erhöht 
wird, wenn derselbe zugleich ein hervorragender Schönschreiber ist. 



ZWEITES KAPITEL. 

Confucius und die klassische Litteratun 



L Confacias. 

Die Darstellung jener Schriftwerke, aus denen sich die 
klassische Litteratur der Chinesen zusammensetzt, hat den Co n- 
fucius zum Ausgangspunkt z u nehmen; nicht etwa weil er ihr 
Schöpfer ist — denn sie gehören zum Teil einer sehr viel älteren, 
zum Teil aber auch erst einer späteren Zeit an — , sondern weil 
er sie zu demjenigen gestempelt hat, was sie in den Augen des 
Volkes geworden und bis auf den heutigen Tag geblieben sind. 
So ist die für klassisch geltende Litteratur, wenn auch nicht un- 
mittelbar, so doch mittelbar sein Werk: seinem Wirken verdankt 
sie ihre Existenz, seinem Namen ihre Geltung. Weit über die 
Grenzen Chinas hinaus ist der Ruhm des Confucius gedrungen, 
und dennoch dürften sich die wenigsten von denen, die seinen 
Namen kennen, über seine eigentliche Bedeutung im klaren sein. 
Von unserem abendländischen Standpunkte aus betrachten wir 
ihn imwillkürlich mit anderen Augen als der Chinese, und die 
meisten werden sich bei näherer Bekanntschaft mit dieser eigen- 
artigen Verkörperung des chinesischen Volksgeistes einer ge- 
wissen Enttäuschung kaum erwehren können, die erst dann einer 
gerechten Würdigimg weichen wird, wenn sie im stände sind — 
ohne sich jedoch den Blick dadurch trüben zu lassen — , den 
Standpunkt des Chinesen einzunehmen . Von einem nationalen 
gero s, und ein solcher ist Confucius, erwartet man Gröfse der 
Persönlichkeit, die sich, gleichviel in welcher Weise und nach 
welcher Richtung, schöpferisch zur Geltung bring^. Confucius 
aber ist weniger Schöpfer seines Ruhmes als Träger desselben. 



— 16 — 

Mit anderen Worten: seine Bedeutung liegt weniger im In- 
halte als in der Art seines Wirkens. 

Diese weiiigen''~Bemerkungeh' " sollen nur zur vorläufigen 
Orientierung dienen. Was hier nur flüchtig angedeutet werden 
konnte, wird im weiteren Verlaufe der Darstellung seine Be- 
gründung und Ausführung erhalten. 

Es fehlt nicht an zahlreichen Einzelheiten aus dem Leben 
des Confucius, durch die eine pietätvolle Überlieferung sein An- 
denken in den Herzen der Nachwelt lebendig zu erhalten bemüht 
war, aber aus diesen Einzelheiten ein klares Bild seiner inneren 
Entwicklung zu gewinnen ist nicht leicht. Vergeblich sucht 
man nach einem entscheidenden Wendepunkte, der seinem Leben 
dramatische Bewegung verliehen hätte; weder hat es glänzende 
äufsere Erfolge noch auch schwere innere Kämpfe um die eigene 
Überzeugung aufzuweisen, nichts, was menschliche Teilnahme oder 
Bewunderung zu wecken geeignet wäre. Das Schicksal hat 
Confucius weder zum Helden noch zum Märtyrer bestimmt, und 
zu beidem hätte ihm wohl auch das Zeug gefehlt Es genügt 
daher, die wichtigsten Begebenheiten seines Lebens in einer 
kurzen Skizze zusammenzufassen ; das Verständnis seiner Geistes- 
richtung und die Erklärung seines Erfolges werden wir anderswo 
zu suchen haben als in seinen äufseren Lebensschicksalen. 

Ganittciixs. wurde ina Jahre 551 v. Chr. im kleinen Fürsteotum 
J^u geboren, das einen Teil der heutigen Provinz Shan-tung 
bildete. Seiner Familie wird fürstlicher Ursprung zugeschrieben, und 
die Reihe seiner Ahnen läfst sich bis ins zwölfte Jahrhundert vor 
(Chr. zurückverfolgen, so dafs seine Nachkommen, die noch heute in 
grofser Zahl vorhanden sind, auf einen dreitausendjährigen Bestand 
des Hauses K ' u n g ^) zurückblicken können. Als Confucius das 
Licht der Welt erblickte, scheint jedoch von dem einstigen Glänze 



*) Der Geschlechts- oder Familienname des Confucius lautet ICung, 
Der in Europa übliche Name Confucius ist weiter nichts als die 
latinisierte Form der chinesischen Bezeichnung ICung-fu-tssi, *der 
Meister K'ung^. Fu-tssi ist eine ehrende Bezeichnung, die berühmten 
Lehrern und Philosophen beigelegt wird und so viel wie unser »Lehrer«, 
»Meister« bedeutet Die in China übliche Bezeichnung des Confucius 
ist K'ung'tSBe, »der Meister Ä''««^« oder schlechthin fS5^, »der Meister«. 
Das Wort tssil bedeutet ursprünglich »Sohn«, »Kind«, dann aber auch 
»Herr«, »Meister«. 



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kaum mehr als die Familientradition übriggeblieben zu sein. 
Von seinem Vater Shuh -Hang Höh, der um jene Zeit bereits 
70 Jahre alt war und bald nach der Geburt seines Sohnes starb, 
wissen wir nur, dafs er sich als Offizier im Heere seines Heiniats- 

Staate S durch un g^^^^^^^^h^ Kraft nn^ ppfR/^nlirhpn Mut auS- 

gezeich net habe. Die Legende berichtet, dafs die Mutter des 
ConTuTius aus Furcht, dafs ihr bei dem hohen Alter ihres 
Gatten kein Kindersegen beschieden sein möchte, an den Geist 
des Hügels Ni-k*iu ein Bittgebet um die Geburt eines Sohnes 
gerichtet habe. Ztun Dank für die Erhörung dieses Gebetes hätte 
dann das Knäblein den Namen K^iUj d. h. »Hügelc, erhalten. 
Auch der zweite Name, Chung-ni, der dem Confuciusbei seiner 
Mündigkeit verliehen wurde, enthielte demnach eine Anspielimg 
auf den Namen jenes Hügels^). 

Über die Kindheit und Jugend desCönf ucius wissen wir so gut 
wie nichts, doch dürfen wir annehmen, dafs seine Mutter, unter deren 
Obhut er aufwuchs, ihm, soweit es ihre kärglichen Mittel zuliefsen, 
einen gründlichen Unterricht zu teil werden liefs, da er bereits 
in seinem 22. Lebensjahre als öffentlicher Lehrer auftritt. Interesse 
verdient jedenfalls die Angabe, dafs Co nf ucius in seiner Kindheit 
besonders gern mit Opfergefäfsen zu spielen pflegte, indem er 
sie in der vorgeschriebenen Reihenfolge aufstellte und dabei die 
althergebrachten Riten nachahmte. Dieser Vorliebe für das alte 
Ritualwesen ist er zeitlebens treu geblieben: das kindliche Spiel 
nahm bei dem reifen Manne die Gestalt ernsten Studiums an, imd 
der at^figya^j^ji-^iRtnrisrlie Hflu y bildete den Grundzuy sein es 
Wesen s, der für sein ganzes Lehren und Wirken mafsgebend wurde. 
Unwillkürlich denkt man dabei an das Puppentheater des jugend- 
lichen Goethe und an die nachhaltigen Spuren, die jene kindliche 
Neigung im späteren Manne zurückgelassen hat. 

^) Nach chinesischer Sitte wird dem Kinde bald nach der Geburt 
ein Ruf- oder Milchname (tning oder ju-ming) beigelegt. In seinem 
zwanzigsten Lebensjahre erhält dann der Knabe seinen eigentlichen 
Namen (tSß^^ womit im Altertume zugleich die Verleihung der Männer- 
mütze (der toga virilis bei den Römern entsprechend) verbunden war. 
Der Vater des Confucius soll neun Töchter aus erster Ehe besessen 
haben und aufser diesen einen verkrüppelten Sohn, den ihm eine 
Nebenfrau geboren hatte. Im Gegensatz zu diesem älteren Bruder 
erhielt Confucius den Namen Ckung, d. h. *der Mittlere« oder 
»Zweite«, während Nt dem Namen des Hügels entspricht. 

Grabe, Geschichte der chinesischen Litteratur. 2 



— 18 — 

Bereits mit 19 Jahren heiratet Confucius, und im darauf- 
folgenden Jahre wird ihm sein Sohn Li geboren. Die Ehe 
scheint nicht sonderlich glücklich gewesen zu sein, wenn auch 
die Angabe, dafs er seine Frau verstofsen habe, noch des Be- 
weises bedarf. Auch zu seinem Sohne, der ihm übrigens um 
wenige Jahre im Tode vorangegangen ist, scheint er in keinem 
näheren Verhältnis gestanden zu haben. Er wird kaum erwähnt, 
und hat als Schüler seines Vaters jedenfalls keine Rolle gespielt. 
Von seiner Verheiratung bis zum Tode seiner Mutter bekleidet 
JCjpnfucius nacheinander zwei imtergeordnete Ämter in der Ge- 
^reide- und Felderverwaltung ; desgleichen fällt, wie schon erwähnt, 
in diese 2eir3er1Beginn seiner öffentlichen Lehrtätigkeit. 24 Jahre 
alt, verlor er seine Mutter, und da er während der dreijährigen 
Trauerzeit kein öffentliches Amt bekleiden durfte, benutzte er die 
unfreiwillige Mufse, um sich seinen Studien zu widmen. Aber auch 
nach Ablauf der Trauerzeit scheint er kein öffentliches Amt bekleidet 
zu haben, und man darf wohl annehmen, dafs er auch während 
der nun folgenden sieben Jahre neben seiner Lehrtätigkeit seine 
emsigen Forschungen in dem Bereiche des Ritualwesens und der 
Geschichte des Altertums fortgesetzt habe. Jedenfalls mufs er 
sich in dieser Zeit den Ruf eines Kenners auf diesem Gebiete 
erworben haben, da im Jahre 517 Meng Hi, einer der höchsten 
Würdenträger von Lu auf seinem Sterbebette die Verfügung 
traf, dafs seine beiden Söhne von CiUjJjIHJJ-l^- i^ ^^^ RJtfn U]}t^r- 
"Wi^S^n YTf r<^*^^ *^olltf".i Dies war für ihn insofern ein Ereignis von 
gröfserer Tragweite, als er durch die Vermittlung und in Be- 
gleitung eines seiner beiden Schüler eine Reise nach L o h - y i h , der 
Hauptstadt des Reiches (in der heutigen Provinz Ho-nan gelegen) 
unternahm. Hier besuchte er den kaiserlichen Ahnentempel, die 
Audienzhalle, die Plätze, wo dem Himmel und der Erde geopfert 
wurde, imd es unterliegt wohl keinem Zweifel, dafs ihm auch 
das kaiserliche Archiv zugänglich war. Tp <;li> 7p^t *^Hp^? ^ yf ^T ^*- 
haltes in Lp h ;Xib jdtd aiach sein Besuch bei Lao-tsze verlegt 
von dem weiter unten die Rede sein wird. Der Aufenthalt in 
der Reichshauptstadt war jedoch kurz bemessen, und schon in dem 
selben Jahre kehrt er wieder heim. 

Bald darauf zwingen innere Unruhen den Fürsten von Lu, 
sein Land zu verlassen und im benachbarten Ts*i Schutz zu 
suchen. Auch Confucius wendet sich dorthin, und es gelingt 



— 19 — 

ihm, sich dem Fürsten Kine von TsM zu nähern und Einfluls 
auf ihn zu gewinnen. ISs scheint, dafs dieser an^gs Gefallen 
an ihm findet, doch machen sich bald entgegengesetzte Strömungen 
in der Umgebung des Fürsten geltend, die den Co.nfucius aus 
seiner Nähe zu verdrängen suchen. Auch mochte wohl der 
moralisierende Mentor dem Fürsten auf die Dauer lästig geworden 
sein, genug: seine Lehren und Ratschläge werden zwar mit der 
schuldigen Hochachtimg entgegengenommen, aber damit hat es 
auch sein Bewenden; einen dauernden Einflufs auf die Regierung 
vermag er nicht zu erlangen. »Ich bin zu alt imd kann ihn 
nicht verwenden c, soll der Fürst gesagt haben. So kehrt 
Confucius nach zweijährigem Aufenthalte in Ts*i, ohne einen 
praktischen Erfolg erzielt zu haben, wieder nach Lu zurück. 

Hier ist die Ordnung noch immer nicht wiederhergestellt, 
der Fürst weilt noch aulser Landes, so dals Confucius es vor- 
zieht, dem Staatsdienste nach wie vor fernzubleiben. 14 Jahre 
hält er sich nun lehrend und forschend in der Heimat auf. Ver- 

mete er sich während dieser Jahre hauptsächlich 
der Sammlung und Sichtung je ner alten Schriftwerke, die für 
alle Zeit mit seinem Namen verknüpft bleiben sollten. Nachdem 
inzwischen der Fürst Ting den Thron von Lu bestiegen hatte, 
werden seine Dienste wieder in Anspruch genommen. Im Jahre 
501 bekleidet er zunächst den obersten Verwaltungsposten in der 
Stadt Chung-tu und lenkt durch die Art, yd&J^ füT^die Hebung 
der S itten wirkt, die Aufmerksamkeit des Fürsten auf sich, der 
ihn zum Minister der öffentlichen Arbeiten und bald darauf zum 
Justizminister ernennt. Besonders erfolgreich soll er in dem 
letztgenannten Amte gewirkt haben. Aus dieser Zeit wird u. a. 
folgende Anekdote erwähnt, die für die Art und Weise 
charakteristisch ist, wie er einen Rechtsfall zum Anlafs nimmt, 
um der Obrigkeit die moralische Verantwortung;, die sie ihren 
^^B^Tt^"*^ p^g*"nflhPT TW t^f^gfp ^^^j ad oailos zu demonstrieren. 
Ein Vater führt Klage gegen seinen Sohn; Confucius läfst beide 
ins Gefängnis stecken. Drei Monate vergehen, ohne dafs er ein 
Urteil fällt. Endlich bittet ihn der Vater, die Sache auf sich 
beruhen zu lassen, worauf er die beiden Gefangenen wieder auf 
freien Fuls setzt. Wegen dieser seltsamen Behandlung eines 
Rechtsfalles zur Rede gestellt, sagt Confucius: »Einen Unter- 
gebenen zu töten, wenn sein Vorgesetzter vom rechten Wege 



o* 



— 20 — 

abwich, wäre widerrechtlich. Das Volk strafen , wenn es nicht 
in den Vorschriften der Kindesliebe unterwiesen worden ist, hiefse 
einen Unschuldigen treffen. Wenn sämtliche Truppen eine grofse 
Niederlage erlitten haben, kann man sie nicht dafür züchtigende ^) 
Wenn die Obrigkeit das Volk belehre, so werde es auch keine 
Verbrechen begehen. 

Während seiner kurzen staatsmännischen Wirksamkeit ge- 
lingt es ihm, die Macht der drei einflulsreichsten Familien des 
Fürstentimies Lu, die schon mehr als einmal dem Landesfürsten 
getrotzt hatten, zu brechen, indem er die Mauern von drei be- 
festigten Städten, die jene innehatten, schleifen lälst. Durch 
diese und andere Mafsregeln, durch die er das Ansehen des 
Fürsten zu heben und geordnete Verhältnisse in seinem Heimats- 
staate einzuführen sucht, erregt er allmählich den Argwohn und 
Neid der Nachbarfürsten, denen die wachsende Macht von Lu 
ein Dom im Auge ist. Schlief slich greift der Fürst von Ts*i 
zu einem höchst drastischen Mittel, um den unbequemen Re- 
former in aller Stille zu beseitigen: er schickt dem Fürsten von 
Lu achtzig schöne, der Musik und des Tanzes kundige Mädchen, 
die ihn durch ihre Reize umgarnen und seinen Sinn von den 
Regierungsgeschäften hinweglenken sollen. Die Intrigue gelingt, 
der schwache Fürst geht in die Falle, und Confucius sieht bald 
ein, dafs er einer Konkurrenz solcher Art nicht gewachsen ist. 
Zögernd nur imd schweren Herzens entsagt er der Vollendung 
seines so erfolgreich begonnenen Werkes. Nach dieser kurzen 
Episode, die nur vier Jahre gewährt, hat er nie wieder ein 
öffentliches Amt bekleidet. 

Es beginnt nun ein unstetes Wanderleben, das ifasjdixizdio 
Jahre lang von der Heimat fernhält. Wir sehen, wie er von 
Staat zu Staat zieht, hie und da, wie in We \, länger verweilend, 
stets von einer Schar von Schülern umgeben, bisweilen von einfluls- 
reichen Männern und hohen Würdenträgem gastlich aufgenommen, 
oft von Fürsten zu Rate gezogen, aber nirgends auf die Dauer 
festen Fufs fassend, bis er endlich, nachdem er seinen Lieblings- 
schüler Yen Hoei durch den Tod verloren, im Jahre 483 wieder 
als ein Greis von 68 Jahren in die Heimat zurückkehrt, um da- 
selbst seine Tage zu beschliefsen. Es scheint, dafs sein Schüler 



') Kia-yü, Kap. IL 



— 21 — 

Yen Y u, der einen hohen militärischen Posten in L u bekleidete, 
seine Zurtickberufung bewirkt hat. Hier wird er mit grofser 
7iivnrlrnn^n;i^phfiit behandelt, doch lebt er in stiller Zurück- 
gezogenheit als Privatmann, schreibt eine Vorrede zum Shu-^ 
kin_g , iLerfalst das Ch^un-ts^iu und redigiert endgültig den 
Text des Shu-king imd Shi^-king; auch scheint er sich 
während seiner letzten Jahre mit Vorliebe dem Studium des 
Yih-king zu widmen. Nur fünf Jahre hat er noch gelebt; 
im Jahre 478 stirbt er. Er ahnt sein Ende nahen imd geht ihm 
mit tyagi'ylii^r P<>cignafmn entgegen. »Eines Morgens früh,« so 
lesen wir im Li-ki, »trat Confucius, die Hände auf dem Rücken 
und seinen Stab nach sich ziehend, gemächlichen Schrittes vor 
die Tür hinaus und sang: 

,Der T^ai-shan*) stürzt ein, 
Der Dachbalken bricht zusammen, 
Der Weise welkt dahin!" 

Darauf ging er wieder ins Haus zurück und setzte sich der 
Tür gegenüber nieder. Sein Schüler Tsz6-kung hatte ihn ge- 
hört und sprach: ,Wenn derT^ai-shan einstürzt, zu wem soll 
ich dann emporblicken? Wenn der Dachbalken zusammenbricht 
und der Weise dahinwelkt, wen soll ich mir dann zum Vorbild 
nehmen? Ich fürchte, der Meister wird krank !^ Mit diesen 
Worten betrat er eilig das Haus. Da sprach der Meister: 
,Tsz*6'), warum kommst du so spät? Die Herrscher der Hia- 
Dynastie®) lielsen den Toten über die Ostliche Treppe tragen, 
gleichsam, als befände er sich an den östlichen Stufen (wie der 
Hausherr, der seine Gäste empfängt); die Leute von Yin trugen 
den Toten zwischen den beiden Pfeilern hindurch, indem sie ihn 
als Hausherrn und Gast zugleich behandelten; die Leute von 
Chou trugen ihn über die westliche Treppe, indem sie ihn als 
Gast behandelten. Ich stamme von den Yin*) her. Vorige 

") Einer der fünf heiligen Berge Chinas, in der Nähe von Con- 
fucius' Heimat, in der Provinz Shan-tung gelegen. 

*) Tsz*Ö ist der Rufname des Tszö-kung. 

■) Die Hia, Yin (oder Shang) und Chou sind die drei ersten 
Dynastien Chinas. Die Hia sollen angeblich von 2205 bis 1766, die 
Yin von 1766 bis 1122 v. Chr. regiert haben. Das Haus Chou, die 
langlebigste unter den Dynastien Chinas, regierte von 1122—255 v. Chr. 

*) Seine Vorfahren sollen mit dem Hause Yin verwandt ge- 
wesen sein. 



— 22 — 

Nacht träumte mir, ich säfse zwischen zwei Pfeilern , mit dem 
Totenopfer vor mir. Es ersteht kein erleuchteter Fürst; wer im 
Reiche vermöchte in mir seinen Lehrer zu sehen? Ich fürchte, 
es geht ans Sterbend Damit begab er sich in sein Schlafgemach, 
lag sieben Tage krank danieder und verschied, c 

Die Art, wie sich Confucius im öffentlichen und Privatleben, 
daheim und draulsen zu geben pflegte, sein ganzes äufseres Ge- 
baren, tritt uns mit plastischer Anschaulichkeit in folgender 
Schilderung vor Augen, die im zehnten Kapitel des Lun-yü 
enthalten ist und wohl ohne Zweifel von einem seiner unmittel- 
baren Schüler herrührt. Sie trägt jedenfalls den Stempel der 
Echtheit an sich und ist für den Verfasser mindestens ebenso 
charakteristisch wie für den Meister selbst. 

:»In seinem Heimatsdorfe gab sich K*ung-tsz6 einfältig, wie 
einer, der nicht zu reden vermag. Im Ahnentempel und bei 
Hofe redete er gewandt, aber stets vorsichtig. Wenn er bei Hofe 
war, sprach er mit Würdenträgem niederen Ranges frank und 
frei, mit solchen höheren Ranges offen und liebenswürdig. In 
Gegenwart des Fürsten bewegte er sich in kleinen Schritten und 
zeigte ein würdevolles Benehmen. Wenn ihn der Fürst beauf- 
tragte, einen Gast zu empfangen, veränderte sich sein Aussehen, 
er bewegte sich gemessenen Schrittes, er verneigte sich gegen 
die Umstehenden, bald die rechte, bald die linke Hand hebend 
und vom und hinten sein Gewand in Ordnung haltend, und eilte 
dann wie auf Schwingen vorwärts. Sobald sich der Gast zurück- 
gezogen hatte, versäumteer nicht, zu melden, dafs derselbe sich 
nicht mehr umblicke (damit der Fürst nach beendetem Empfange 
sich wieder zurückziehen konnte). Wenn er das Palasttor be- 
trat, krümmte er seinen Körper, als könne er nicht hindurch ; er 
blieb nicht in der Mitte des Torweges stehen, und wenn er hin- 
durchging, berührte er nicht die Schwelle. Wenn er am Throne 
vorbeiging, veränderte sich sein Aussehen, seine Beine schienen 
zu zittern, und er schien nicht im stände, ein Wort hervor- 
zubringen. Den Saum seines Gewandes emporhebend stieg er 
die Stufen zur Palasthalle hinauf, in gebückter Haltung, als ginge 
ihm der Atem aus. Sobald er beim Verlassen der Halle eine 
Stufe hinabgestiegen war, nahm er eine freiere Haltung und eine 
heitere Miene an-, sobald er die letzte Stufe hinter sich hatte, 
eilte er vorwärts wie auf Schwingen und nahm seinen Platz in 



- 23 - 

würdevoller Haltimg wieder ein. Wenn er das fürstliche Szepter 
trag, hielt er sich gebückt, gleich als wäre er der Last nicht 
gewachsen; er hielt es nicht höher, als wenn er die Hände zum 
Grufse heben, und nicht tiefer, als wenn er etwas darreichen 
wollte; dabei hatte er eine erregte Miene wie im Kampfe und 
hob die Füfse kaum, wie wenn er unsicher ginge. Galt es, ein 
Geschenk zu überreichen, so tat er es mit gelassenem Ausdruck. 
Bei Privataudienzen blickte er freudig drein. c 

Nach einigen Details über seine Kleidung heilst es dann 
weiter : 

»Was seine Nahrung anlangt, so verschmähte er es nicht, 
wenn der Reis gereinigt und das Fleisch feingeschnitten war. 
Feucht gewordenen und verdorbenen Reis, sowie faulen Fisch und 
verdorbenes Fleisch afs er nicht; was eine häfsliche Farbe hatte, 
als er nicht; was einen üblen Geruch hatte, afs er nicht; was 
schlecht zubereitet war, afs er nicht; was nicht der Jahreszeit 
entsprach, afs er nicht; was nicht richtig zugeschnitten war, afs er 
nicht; was ohne die zugehörige Sauce war, afs er nicht. Selbst 
wenn viel Fleisch vorhanden war, durfte es den Reis an Menge 
nicht übertreffen. Nur für den Wein gab es kein Mafs, doch 
liefe er es nie bis zur Trunkenheit kommen. Gekauften Wein 
und Dörrfleisch vom Markte genofs er nicht (aus Furcht, dafs 
beides unrein und daher gesundheitsschädlich sein könnte, wie 
der Kommentator bemerkt). Wenn er afs, durfte der Ingwer 
nicht fehlen. Er afs nicht viel. Wenn er einem fürstlichen 
Ahnenopfer beigewohnt hatte, liefs er das ihm zugewiesene 
Fleisch nicht über Nacht liegen*). Das Fleisch von einem häus- 
lichen Ahnenopfer liefe er nicht länger als drei Tage liegen, denn 
wenn man es länger als drei Tage liegen läfst, wird es un- 
geniefebar. Während der Mahlzeiten redete er nicht; im Schlaf- 
gemach redete er nicht. Selbst wenn er nur groben Rei oder 
eine Gemüsesuppe afs, brachte er voll Ehrfurcht etwas davon 
als Opfer dar. Wenn die Matte nicht gerade lag, setzte er sich 
nicht darauf^f 

Es liefsen sich noch so manche kleine Züge erwähnen, die zur 
Charakteristik des Confucius beitragen könnten, ohne jedoch dem 



') Nach beendeter Feier wurde das Opferfleisch unter die Teil- 
nehmer verteilt. 



- 24 - 

Gesamtbilde etwas wesentlich Neues hinzuzufügen; die angeführten 
Beispiele dürften daher genügen. Der deutsche Leser wird sich 
bei der obigen Schilderung des Weisen wohl kaum eines Lächelns 
erwehren können und vielleicht unwillkürlich an das bekannte 
Wort des Jägers in »Wallensteins Lagere denken: »Wie er 
räuspert und wie er spuckt, das habt ihr ihm glücklich ab- 
geguckte Man vergesse indessen nicht, dal &jeeren Auf serlichkeiten, 
wie sie hier mit ermüdender Ausführlichkeit registriert werden, 
in den Augen des Chinesen eine völlig andere und ungleich tiefere 
Bedeutung zukommt als bei uns. Die althergebrachten Formen 
sowohl religiöser wie auch profaner Natur sind mit minutiöser 
S[orgfalt kodifiziert worden und habea. die Geltung bindender Vor- 
schriften erlangt, die den ganzen öffentlichen und privaten Ver- 
kehr beherrschen, wüä derieft jede,*Trach" ^jg geringf ügigste Äufse- 

rung des täglichen Thebens iip|^^Q|;ffin7lSt- ^^ ^'nrrnvpr^tnfs 

ist in Z^hina^erHängnisvoll, — (fest plus qu'un crime, c'est une 
faute, wie der Franzose sagt. Confucius selbst hat, wie wir ge- 
sehen haben, zeitlebens dem Ritualwesen ein. ganz besonderes 
Interesse zugewandt und wird dessen Vorschriften ohne Zweifel 
aucE für seme Person mit peinlicher Gewissenhaftigkeit beobachtet 
haben. Daher ist jene Schilderung nicht etwa als eine Karikatur 
oder bewufste Satire aufzufassen, sondern als ein von pietätvoller 
Hand getreu nach der Natur gezeichnetes Bild: ^^zg^gt uns das 
chinesische Ideal eines Mannes von höchster Bildung und vollen- 
deten Umgangsformen. 

Überblicken wir nun, was wir über die Person und das 
Leben des Confucius erfahren haben, so müssen wir uns fragen: 
wie konnte ein Mann seines Schlages zu einer geschichtlichen 
Bedeutung gelangen, die so ganz einzig in ihrer Art ist ? China 
hat so manche hervorragendere Geister hervorgebracht als 
Confucius, — wie kommt es, dafs dennoch sein Ruhm sie alle 
tiberstrahlt hat? 

Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zunächst eine 
Vorstellung von der Zeit zu gewinnen suchen, in der Confucius 
lebte. Wir wissen, wie er stets bestrebt war, Einfluls auf den 
Gang der Ereignisse zu erlangen, und können daraus ersehen, 
wie sein Wirken von den Bedürfnissen seiner Zeit ausging und 
wie dasselbe folglich in der Richtung, die es einschlug, von den 
Zuständen und Anschauungen jener Zeit abhängig sein mulste. 



— 25 — 

Als Confucius geboren wurde, befand sich das Reich bereits 
seit nahezu sechs Jahrhunderten unter der Herrsdiaft des Hauses 
Chou . Von alters her trug die Verfassung Chinas, soweit man 
nach den spärlichen und nur mit Vorsicht zu benutzenden Über- 
lieferungen über die älteste Zeit urteilen kann, den Charakter 
einer Feudalm onarchie. Während jedoch früher die oberste Ge- 
walt nicht nur dem Namen nach, sondern auch tatsächlich in 
den Händen des Reichsoberhauptes gelegen zu haben scheint, 
bezeichnet die Geschichte der Chou -Djmastie eine Periode stetig 
zunehmender Dezentralisierung. Das Prinzip, besondere Ver- 
dienste um den Staat durch erbliche Belehnung zu belohnen — 
ursprünglich aus dem Bestreben der jungen Dynastie hervor- 
gegangen, ihre Blutsverwandten, sowie diejenigen, die ihr zur 
Herrschaft verholfen hatten, durch Bande der Freundschaft an 
sich zu ketten — , wurde allmählich zur Gepflogenheit und in 
solchem Mafse betätigt, dals die Zahl der Vasallenstaaten schon 
zur Zeit des Confucius eine kaum übersehbare ist. Bestimmt, die 
Dynastie zu stärken, wird das Feudalprinzip vielmehr zu deren Ruin. 
Die oberste Gewalt im Reiche sinkt, je länger je mehr, zu einem 
blofsen Scheinkönigtum herab, so dals der Untergang der 
Monarchie nur noch als eine Frage der Zeit erscheint. Durch 
Bündnisse unter den Vasallenstaaten bilden sich neue Staaten- 
gruppen, und einzelne unter den mächtigsten Lehensfürsten 
bringen es sogar zeitweise zu einer Art Hegemonie im Reiche. 
Und dazu kommt noch, dals sich derselbe Vorgang, den wir 
am ganzen Reiche im grofsen verfolgen, innerhalb der Teil- 
staaten im kleinen wiederholt. So sehen wir z. B., wie sich in 
dem winzigen Fürstentum Lu drei einflulsreiche Familien in 
offener Fehde gegen den eigenen Landesfürsten erheben luid 
diesen schlielslich zwingen, sein Gebiet preiszugeben und im be- 
nachbarten T s ' i Schutz und Zuflucht zu suchen. Je^ mehr sich 
die Einzelstaaten in wachsender Selbständigkeit gegeneinander 
abschlössen, um so mehr mufste sich auch das einigende Band ge- 
meinsamer Überlieferung imd althergebrachter Sitten und Bräuche 
lockern. Mit dem politischen Verfall ging der sittliche Hand in 
Hand, imd mit der staatlichen Einheit war auch die Einheit der 
Nation gefährdet. 

So war der Schauplatz beschaffen, auf dem sich das Leben 
des Confucius abspielte. Die richtig e Erkenntnis der politischen 



/ _ 26 — 

'. /> und sittlichen Zustände und der feste Wille, den Schäden seiner 
^eit abzuhelfen, diese beiden Momente sind Ausgangspunlct und 
Ziel seines ganzen Wirkens. Hatte sich ihm jene Erkenntnis von 
aufsen her mit unabweisbarer Notwendigkeit aufgedrängt, so 
entsprang die WahldesWeges, der allein nach seiner Ansicht 
z um Heile führen konnte, dem innersten Kern semes Wesens, 
der ihm angeborenen Liebe zum Altertum. Schon früh lenkt 
ihn seine Vorliebe für das altehrwürdice Ritualwesen auf das 



Studium des Altertums. Indem er bemüht ist, die alten Bräuche, 
die bereits zu seiner Zeit teils zu leeren Formen erstani, teils 
gänzlich in Vergessenheit geraten waren und vielfach mifs- 
verstanden wurden, durch historische Deutung ihres Sinnes dem 
Verständnis seiner Zeitgenossen näherzubringen, sieht erlich 
stets genötigt, die ältesten Überlieferungen zu Rate zu zieh^ 
In ihnen findet er das goldocie .ZlEüteJtgr» . dessen Wiederkehr er 
herbeisehnt; die halbmythischen Kaiser Yao und Shun, sowie 
die glorreichen Begründer der Chou-Djrnastie, —• das sind die 
Herrscherideale, 'Sie er den Fürsten seiner Zeit als Vorbilder vor 

Augen führt. In der Eü£kkeblLJHr.. J^.?!K?PÄ?^'^^i^ °^i* ihrem 
kraftvollen patriarchalischen Reginient, mit ihren lauteren Sitten 
und sinnreichen Bräuchen sieht er die einzige Möglichkeit einer 
nationalen Wiedergeburt. In diesem .Sinn sammelt er, was er 
an Aufzeichnungen über die alten Riten, an geschichtlichen 
Überlieferungen und Urkunden, an alten Liedern und Gesängen 
aufzufinden vermag ; mit dieser Absicht trifft 'er auch die Äus- 
wahl der Texte, die bestimmt waren, in der Wertschätzung seiner 
Landsleute bis auf den heutigen Tag alle übrigen Erzeugnisse 
des heimischen Schrifttums an Ansehen und Bedeutung zu über- 
ragen. Nicht um sie als wertvolle Materialien für die Erforschung 
de& vaterländischen Altertums ans Licht zu ziehen und der Nach- 
welt zu überliefern, sammelt und redigiert er jene alten Texte, 
sondern um in ihnen seinem Volke eine n Spieg el hinzuhalten, in 
welchem es seia hpsseres Selbst erkenpen soll. Nicht wissen- 
schaftliche, sondern ethisch-pädagogische Gesichtspunkte also waren 
es, von denen er sich dabei leiten liefs. Das ist wichtig sowohl 
für die richtige Beurteilung der klassischen Litteratur der Chinesen 
als auch des Confucius selbst. In dieser kompilatorischen Tätig- 
keit liegt sein Hauptverdienst-, seine eigenen Lehren, die ich hier 
zunächst übergehe, um sie im Abschnitte über das Lun-yü 



— 27 — 

eingehender zu behandeln, kommen daneben erst in zweiter Linie 
in Betracht : sie zeichnen sich weder durch Originalität noch durch 
besondere Tiefe des Gedankeninhalts aus. Confucius hat sich in 
bescheidener Selbsterkenntnis am treffendsten charakterisiert, in- 
dem er von sich sagte: »Ich bin ein Überlieferer, aber kein 
Schöpfer; ich glaube ans Altertum und liebe es.€ 

Aber wie hoch man die Bedeutung seiner kompilatorischen 
Tätigkeit auch schätzen mag, ohne die vielleicht jene unschätz- 
baren litterarischen Denkmäler der Nadiwelt für immer verloren 
gegangen wären, sie allein hätte nimmermehr ausgereicht, um 
ihm die Stellung zu erringen, die er in der Geschichte der geistigen 
Entwicklung seines Volkes einzunehmen berufen war, wenn sie 
nicht von einer tsrpischen Persönlichkeit getragen gewesen 
wäre, die ihr zum Siege verhalf. Confucius war jeder Zoll ein 
Chinese. Indem er das Chinesentum vorbildlich in seiner Person 
verkörperte, vermochte er sein Volk nach seinem Ebenbilde 
umzuschaffen. »Indem er nie über die Peripherie des spezifisch 
chinesischen Gesichtskreises hinausging, blieb er jedermann ver- 
ständlich; indem er seine ethischen Ideale ausschliefslich der his- 
torischen Vergangenheit seines Volkes entlehnte, erschienen die- 
selben erreichbar, realisierbar. Durch seinen oft kleinlichen 
Ritualismus wurde eine gewisse ethische Disziplin wesentlich er- 
leichtert, während die schwunglose Nüchternheit seines Wesens 
imd die hausbackene Trivialität so mancher seiner Aussprüche 
der trägen Menge ein bequemes Vorbild boten. Lauter bezeichnend 
^chinesische Züge, die ihren Träger weit mehr als Typus denn 
als Charakter erscheinen lassen, c >) 

Erfreute sich Confucius schon bei seinen Lebzeiten einer 
aulserordentlich grolsen Popularität, so stieg sein Ruhm nach 
seinem Tode mit jedem Jahrhundert. Bereits Tszg-kung, ein 
unmittelbarer Schüler des Weisen, sagt: »Solange Menschen leben, 
hat es keinen zweiten Confucius gegeben,€ und Meng-tsz6, der 
ungefähr ein Säkulum nach dem Tode des Confucius geboren 
wurde und jenen Ausspruch anführt, gibt seiner Ansicht über 
den Meister mit genau denselben Worten Ausdruck. Trotz 
seines Ansehens hat Confucius den ersehnten praktischen Erfolg 



^) S. meinen Aufsatz: *Der Konfucianismus und das Chinesen- 
tum«, Deutsche Rundschau, 1900, Bd. CHI, S. 68. 



— 28 — 

seines ganzen Lebens und Wirkens nicht erzielt: die Ereignisse 
nahmen ihren Lauf, und das Reich ging unrettbar, wenn auch 
langsam, seinem Ruin entgegen. Was ihm, dem Romantiker, nicht 
gelingen konnte, das hat drei Jahrhunderte später, freilich mit 
ganz anderen Mitteln und in anderem Geiste, der grOfste Real- 
politiker Chinas, der Kaiser Shi-hoang-ti aus der Ts4n- 
Dynastie vollbracht. Wurde somit Shi-hoang-ti zum poli- 
tischen Einiger Chinas, so gebührt dem Confucius der nicht ge- 
ringere Ruhm, der Schöpfer seiner nationalen Einheit zu sein. 
In der gemeinsamen Überlieferung, wie sie in den von Confucius 
gesammelten und redigierten Texten ihre endgültige Fassung er- 
hielt, hat die nationale Zusammengehörigkeit, der politischen 
Zerrissenheit zum Trotz, ihren bleibenden Ausdruck gefunden. 

Die Chou-Dynastie fristete noch während einer Dauer von 
250 Jahren nach dem Tode des Confucius ein Scheindasein. 
Mittlerweile beginnt allmählich in dem Antagonismus der Teil- 
staaten das Fürstentum Ts*in in den Vordergrund zu treten, 
bis es ihm schlielslich gelingt, seiner Nebenbuhler Herr zu werden. 
Im Jahre 221 v. Chr. vereinigt der Kaiser Shi-hoang-ti das 
Reich endgültig unter seinem Szepter, imd das Haus Chou hat 
nach neunhundertjährigem Bestände ein unrühmliches Ende ge- 
funden. Der Ts* in- Dynastie war zwar nur eine kurze Dauer 
beschieden, aber dennoch bezeichnet sie einen Wendepunkt in der 
Geschichte Chinas. Die an Stelle der bisherigen Feudalmonarchie 
durch Shi-hoang-ti begründete zentralisierte Monarchie ist, 
von vorübergehenden Spaltungen und Wirren abgesehen, bis auf 
die Gegenwart die herrschende Form der chinesischen Staats- 
verfassung geblieben. Aber das Mittel, wodurch er die politische 
Einheit des Reiches dauernd sichern will, sieht jener gewaltige 
Monarch nicht, wie Confucius, in der Wiedererweckung des 
Altertums, sondern in dessen Vernichtung. Auf den Antrag 
seines ersten Ministers, Li Sz6, erläfst der Kaiser ein Edikt, nach 
welchem sämtliche amtlichen Geschichtswerke mit alleiniger Aus- 
nahme derjenigen, die die Geschichte von Ts*in behandeln, 
den Flammen überliefert werden sollen. Alle Personen, die sich 
im Besitze des Shi-king oder Shu-king befinden, werden 
angewiesen, dieselben an die Behörden auszuliefern, damit diese 
sie durch Feuer vernichten. Nur den Mitgliedern des Gelehrten- 
kollegiums wird das Recht zugestanden, jene Bücher zu behalten ; 



— 29 — 

Zuwiderhandelnde unterliegen der Todesstrafe. Verschont bleiben 
einzig und allein Schriften, welche Medizin, Wahrsagekunst, 
Ackerbau oder Baumzucht zum Gegenstande haben. 

Im Jahre 213 v. Chr. fand die berüchtigte Bücherver- 
brennung statt. Diese Katastrophe kann in doppeltem Sinne als 
ein Markstein in der Geschichte der chinesischen Litteratur be- 
trachtet werden, denn während einerseits durch sie das alte 
Schrifttum dem Untergange geweiht wird, mufste doch ander- 
seits eben dadurch die allgemeine Aufmerksamkeit in weit 
stärkerem Grade, als es bis dahin der Fall gewesen, auf dasselbe 
gelenkt werden. Zugleich aber — und auch das ist wichtig — 
zeigt jene barbarische Malsregel mit eindringlicher Deutlichkeit, 
dafs der Name des Confucius schon damals als eine Macht 
empfunden wurde; war doch die Tradition, gegen die der Ver- 
nichtungskampf geführt wurde, der Hauptsache nach sein Werk. 
Daher darf es auch nicht wundernehmen, wenn die Flanunen 
des Bücherbrandes, statt den Confucius aus dem Gedächtnis 
seines Volkes zu vertilgen, vielmehr seine Gestalt mit der Aureole 
des Märtyrers umgeben haben. 

Gewifs sind durch jenen unheilvollen Gewaltakt litterarische 
Denkmäler von unschätzbarem Werte zu Grunde gegangen, und 
so manches von dem, was durch List oder Zufall vor dem 
Untergange gerettet worden, mag sechs Jahre später beim 
Brande von Hien-yang, der Residenzstadt des Shi-hoang-ti, 
vernichtet worden sein. Aber zum Glück nahm der Gang der 
Ereignisse eine Wendung, die es nicht zum Äufsersten konmien 
liefs. Schon im Jahre 202 v. Chr. wurde der kurzen Herrschaft 
der Ts*in ein jähes Ende bereitet, und unter der Han-Djmastie 
beginnt nun ein Zeitalter der Restauration. Hunderte von 
Händen regen sich, um die etwa noch vorhandenen Schätze aus 
Schutt und Trümmern ans Licht zu ziehen. Obwohl angesichts 
der überaus grolsen technischen Schwierigkeiten, mit denen, wie 
schon erwähnt, in damaliger Zeit das Niederschreiben von Texten 
verbunden war, die Zahl der ursprünglich vorhanden gewesenen 
Handschriften nur eine verhältnismäfsig geringe gewesen sein 
kann, so läfst sich doch der Ansicht derer, die da meinen, dafs 
solche überhaupt nur in Staatsarchiven vertreten sein konnten^ 
um so weniger beipflichten, als uns der Wortlaut des kaiserlichen 
Ediktes über die Bücherverbrennung eines Besseren belehrt. Aus 



- 30 — 

der Verfügung, dals ^Ue Personen, mit Ausnahme der Mitglieder 
des Gelehrtenkollegiums, die sich im Besitze des S h i - k i n g und 
Shu-king befanden, diese an die Behörden ausliefern sollten, 
geht mit unwiderleglicher Klarheit hervor, dals sich zum mindesten 
die beiden genannten Texte auch im Besitze von Privatpersonen 
befunden haben müssen. Da femer den Mitgliedern des Gelehrten- 
kollegiums, deren zur Zeit des Shi-hoang-ti siebzig erwähnt 
werden, der Besitz des Shi-king undShu-king ausdrücklich 
gestattet war, so ist wohl kaum anzunehmen, dafs der ganze 
ursprüngliche Bestand der auf den Index gesetzten Texte der 
Bücherverbrennung und dem darauffolgenden Brande von Hien- 
yang zum Opfer gefallen sei. Es ist daher nicht zu verwundem, 
wenn die Bemühungen, zu retten, was noch zu retten war, 
nicht erfolglos blieben. Ganze Generationen von Gelehrten 
widmeten sich mit rastlosem Eifer der Sammlung, Sichtung, 
Entziffemng^), Erklärung und Herausgabe der wieder auf- 
gefundenen alten Texte. Anderseits aber darf man wohl auch 
ohne weiteres annehmen, dafs gerade in einer solchen Zeit 
allgemeiner Begeisterung für die Wiederbelebung des alten 
Schrifttums jede neu entdeckte schriftliche Urkunde aus alter 
Zeit mit Gold aufgewogen wurde, und dals die Aussicht auf 
reichen Gewinn leicht genug zu Fälschungen verleiten koimte. 
In der Tat waren denn auch, wie wir wissen, in jener 
denkwürdigen Renaissanceperiode Chinas Fälschungen grolsen 
Stils an der Tagesordnung, und der wissenschaftlichen Textkritik 
liegt hier noch ein weites Feld offen, auf dem es gilt, die Spreu 
von dem Weizen zu sondern. Zum Glück bestand jedoch, 
wenigstens soweit das Shi-king und das Shu-king in Be- 
tracht kommen, neben der schriftlichen auch eine mündliche Über- 
lieferung , deren Bedeutung für die Entzifferung der alten Hand- 
schriften nicht zu unterschätzen ist. Einzelne zweifelhafte Stellen 
und Interpolationen abgerechnet, darf die Echtheit jener alten 
Texte in der Gestalt, wie sie uns vorliegen, als erwiesen be- 
trachtet werden. 



') Durch die von L i S z 6 erfundene neue Form der Schriftzeichen 
war die alte Schrift mittlerweile aufser Gebrauch gekommen und in 
Vergessenheit geraten, so dafs die Entzifferung der alten Handschriften 
bereits ein eingehendes paläographisches Studium erforderte. 



— 31 — 

Einmal dem drohenden Untergange entrissen und wieder- 
gewonnen, werden die Texte, die wir hier unter dem Namen 
der klassischen Litteratur der Chinesen zusammenfassen, seither 
als das Palladium der Nation mit einer an religiöse Verehrung 
grenzenden Pietät gehütet und bewahrt. Sie bilden fortan die 
Grundlage der gesamten Volkserziehung, nach der intellektuellen 
wie nach der ethischen Seite hin, sie gelten als die Summe und 
der Inhalt alles Wissens imd dienen zugleich als Norm für das 
sittliche Verhalten. Und selbstverständlich hält mit dem Kultus 
der klassischen Texte der des Confucius gleichen Schritt. Schon 
längst werden ihm nahezu göttliche Ehren erwiesen. Bereits 
im Jahre 194 v. Chr. sucht der erste Kaiser der H an -Dynastie 
sein Grab auf und opfert daselbst einen Ochsen. Im Jahr 57 
n. Chr. wird durch kaiserlichen Erlals angeordnet, dafs in den 
Schulen des Reiches dem Confucius Opfer dargebracht werden 
sollen, und im 7. Jahrhundert werden ihm sogar besondere Tempel 
errichtet. Zweimal im Jahre, im Frühling und im Herbst, werden 
ihm im ganzen Reiche feierliche Opfer dargebracht. Der Kaiser 
selbst nimmt an dieser Huldigung teil, indem er sich vor der 
Tafel, die auf dem Altar steht xmd mit dem posthumen Ehren- 
titel des Weisen versehen ist, auf sein Antlitz niederwirft und 
dabei je dreimal mit der Stirn den Boden berührt. Gegenwärtig 
soll sich die Zahl der dem Confucius geweihten Tempel auf 
nahezu 1600 und die Zahl der ihm alljährlich dargebrachten* 
Opfertiere auf imgefähr 17 000 belaufen. 

Die Schriftwerke, aus denen sich die klassische Litteratur 
der Chinesen zusammensetzt, zerfallen in zwei gesonderte Gruppen : 
die Wu-king oder »fünf Kingc und die Sz6-shu oder »vier 
Shu«. Das Wort king bedeutet ursprünglich den Aufzug oder 
Zettel eines Gewebes, sodann Richtschnur, Kanon und endlich, 
im übertragenen Sinne, jedes Buch, das als Regel oder Kanon 
zu gelten hat (wie denn auch z. B. die buddhistischen Sütras 
im Chinesischen mit dem Namen king bezeichnet werden), mithin 
so viel wie »kanonisches Buch«. Die Bedeutung des Wortes shu 
erhellt am besten aus der Zusammensetzung des Schriftzeichens, 
durch das es wiedergegeben wird. Dasselbe ist nämlich aus 
zwei ideographischen Bestandteilen gebildet, deren jeder auch 
als selbständiges Schriftzeichen vorkommt. Der obere Teil des 
Zeichens stellt eine Hand dar, die einen Schreibstift hält, und 



- 32 — 

bedeutet als selbständiges Wortzeichen »Schreibpinselc ; der untere 
Teil hingegen zeigt das Bild eines geöffneten Mundes und be- 
deutet »sprechen c. Aus der Kombination dieser beiden Elemente 
ergibt sich von selbst die Bedeutung: »Gesprochenes nieder- 
schreibency als Substantiv um : »Niederschriftc , »schriftliche Ur- 
kundec oder »Buche im allgemeinen. In dem gegebenen Falle 
soll der Titel SzS-shu, »die vier Bücher c, die Bücher bezeichnen, 
die sich mit den Lehren von vier Philosophen befassen. Im 
Gegensatz zu den Wu-king oder fünf kanonischen Büchern 
wird der Titel Sz£-shu durch »die vier klassischen Bücherc 
wiedergegeben. Zu den fünf King gehören das Yih-king 
oder kanonische Buch der Wandlungen, das Shu-king 
oder kanonische Buch der Urkunden, das Shi-king 
oder kanonische Buch der Lieder, sowie das Li-ki, d. h. 
die Aufzeichnungen über die Riten und die unter dem 
Namen Ch^un-ts'iu, »Frühling und Herbste, bekannte 
Chronik des Fürstentums Lu. Als die ältesten Denkmäler des 
chinesischen Schrifttums stehen sie, zumal die drei ersten, in 
besonders hohem Ansehen und können gewissermalsen als die 
im engeren Sinne klassische Litteratur bezeichnet werden, während 
die Sz^-shu sowohl inhaltlich wie auch sprachlich dem Ver- 
ständnis der grofsen Menge leichter zugänglich sind und sich 
aus diesem Grunde wohl einer noch gröfseren Volkstümlichkeit 
erfreuen. Die vier klassischen Bücher umfassen: 1. das Lun-yü, 
die Unterredungen*, 2. das Ta-hioh, die grofse Lehre-, 

3. das Chung-yung, das Innehalten der Mitte und 

4. das Buch Meng-tsz6. 

Die Einteilxmg in diese beiden Gruppen ist jetzt in China 
allgemein angenommen; es darf jedoch nicht unerwähnt bleiben, 
dafs sie verhältnismälsig jüngeren Datums ist und vielleicht erst 
aus der Zeit der Sung- Dynastie (960—1127 n. Chr.) herrührt 
Ursprünglich ist nur von fünf K i n g die Rede, deren Zahl später 
auf neun steigt, indem einerseits dasChou-li, die Riten der 
Chou, und das I-li, die Sitten und Bräuche, hinzukommen 
und anderseits das Ch'un-ts*iu in drei verschiedenen Aus- 
gaben, mit den erläuternden Texten der drei Kommentatoren Tso 
KMu-ming, Kung-yang Kao und Kuh Liang-ch'ih, auf- 
genommen wird. Zu Anfang des 7. Jahrhunderts n. Chr. er- 
scheint sogar eine Ausgabe der klassischen Texte, die nicht 



— 33 - 

weniger als dreizehn King oder kanonische Bücher umiafst, 
nämlich aulser den neun genannten noch das Erh-ya^ eine 
Sammlung von nach Bedeutungskategorien geordneten Wort- 
erklärungen, femer das Hiao-king oder kanonische Buch 
von der Kindesliebe und den Meng-tsz6. Heutzutage ist 
jedoch, wie gesagt, die Einteilung in fünf kanonische und vier 
klassische Bücher die in China selbst herrschende xmd soll daher 
auch der nunmehr folgenden Darstellung zu Grunde gelegt 
werden. Dem Inhalte wie der Zeit nach gehen die Texte dieser 
beiden Abteilungen sehr weit auseinander, und das einigende 
Band, durch welches sie zusammengefafst werden, ist einzig das — 
sei es immittelbare, sei es mittelbare — Verhältnis, in welchem sie 
zuConfucius stehen, indem sie sich um ihn als ihren Mittelpunkt 
gruppieren. 

II. Die Wo-king oder fnnf kanonischen Bücher. 

1. Das Yih-king oder kanonische Buch der 

Wandlungen*). 

In dem kaiserlichen Edikte, die Bücherverbrennung betreffend, 
waren, wie wir gesehen haben, diejenigen Schriftwerke, welche 
Medizin, Wahrsagekunst, Ackerbau und Baumzucht zum Gegen- 
stande hatten, von der Vernichtung ausgeschlossen. Das Y ih- 
kin g gehört der an zweiter Stelle genannten Kategorie an; wir 
dürfen daher mit Sicherheit annehmen, dafs uns zum mindesten 
dieser Text völlig imbeschädigt in seiner ursprünglichen Gestalt 
erhalten geblieben ist. Sowohl durch sein Schicksal also, wie 
auch seinem Inhalte nach nimmt es eine Sonderstellung imter 
den kanonischen und klassischen Büchern ein. Dafs das Yih- 
king eins der ältesten Denkmäler des chinesischen Schrift- 
tums ist, unterliegt keinem Zweifel, und ebensowenig kann ihm 
der Vorzug, wenn es ein solcher ist, abgesprochen werden, dals 
es das dunkelste und am schwersten verständliche Produkt der 



*) The sacred books of China. The texts of Confucianism, trans- 
lated by James Legge. Part II, The Yl king [The sacred books of 
the East, translated by various oriental sdiolars, and edited by 
F. Max Müller, vol. XVI.]. Oxford 1882. 

Le Yi-king, traduit d'apr^s les interprötes chinois avec la version 
mandchoue par C. de Harlez. Paris 1897. 

Grobe, Geschichte der chinesischen Litteratur. 3 



— 34 — 

gesamten chinesischen Litteratur ist. Aber so interessant es auch 
unstreitig als das älteste Handbuch der Wahrsagekunst vom 
kulturgeschichtlichen Standpunkte ist, kann es doch nur einen 
geringen litterarischen Wert beanspruchen. Es dürfte daher 
wohl genügen, dem Leser einen allgemeinen Begriff vom 
Charakter des Buches zu geben, ohne mehr als eben nötig auf 
seinen abstrusen Inhalt einzugehen. 

Den Grundtext des seltsamen Buches bilden, wenn in einem 
solchen Falle überhaupt von einem »Textec die Rede sein kann, 
64 Hexagramme, deren jedes aus sechs teils ganzen, teils ge- 
brochenen Linien besteht, wie z. B. 




u. s. w. Die Hexagramme ihrerseits gehen wiederum auf folgende 
acht Trigramme, die sogenannten acht Kua, zurück, deren mög- 
liche Kombinationen sie darstellen: 

1. ^^E kHen, Himmel. 

2. === tui, Wasser, und zwar im Sinne einer gröfseren 

Ansammlung von Wasser, wie etwa in Seen, 
Teichen etc. 

3. — — li, Feuer; Sonne; Blitz. 

4. =_= chen, Donner. 

5. — — suHj Wind; Holz. 

6. Z! Z k^an, Wasser, sowohl im Sinne fliefsender Gewässer, 

wie Ströme, Bäche, als auch atmosphärischer 
Niederschläge, wie Wolken, Regen; femer: Mond. 

7. =; = ken, Berge und Hügel. 

8. = = k'^un, Erde. 

Indem jedes der acht Trigramme mit jedem der übrigen 
zusammengesetzt wird, ergeben sich daraus die erwähnten 64 
Hexagramme. 

Die Entstehung dieser Tri- und Hexagramme verliert sich 
gänzlich im Dunkel der Vorgeschichte. Die landläufige Über- 
lieferung führt sie zwar auf den mythischen Kaiser Fuh-hi zu- 
rück ; da dieser jedoch selbst der Fabel, nicht der Geschichte an- 
gehört, so entbehrt auch jene Überlieferung der historischen 
Grundlage. Was nun die ganzen und gebrochenen Linien an- 
langt, so sind sie ein bildlicher Ausdruck des uralten natur- 
philosophischen Dualismus, der alles Bestehende aus dem Zusammen- 
wirken zweier einander entgegengesetzter kosmischer Urkräfte 



— 35 — 

herleitet. Die ganzen Linien stellen nämlich das Yang, das 
lichte, männliche, zeugende, die gebrochenen Linien das Yin, 
das dunkle, weibliche, empfangende Prinzip dar. Und da femer 
dem Yang die ungeraden, dem Yin die geraden Zahlen ent- 
sprechen, so spielt bei der Anordnung der Linien sowie bei der 
Deutung des ganzen Hexagrammes konsequenterweise auch die 
Zahlensymbolik eine bedeutsame Rolle. Steht beispielsweise in 
einem Hexagramme eine gerade Linie an erster, dritter oder 
fünfter, eine gebrochene an zweiter, vierter oder sechster Stelle, 
so ist das als günstig anzusehen, weil jede der beiden Linien 
den ihrem Wesen entsprechenden Platz einnimmt, während im 
entgegengesetzten Falle eine unheilvolle Bedeutung zu befürchten 
ist. In jedem Hexagramme stehen die erste und vierte, zweite 
und fünfte, dritte und sechste Linie in korrespondierendem Ver- 
hältnisse zueinander; von besonders schwerwiegendem Einflüsse 
sind jedoch die Mittellinien der beiden Trigramme, mithin die 
zweite und fünfte in jedem Hexagramme. 

Nach dem in China herrschenden Glauben hat Wen-wang, 
der Vater des Begründers der C ho u- Dynastie, der weise Held, 
von dem die alten Urkunden und Lieder so manches singen und 
sagen, dessen historische Persönlichkeit wir jedoch nur in schatten- 
haften Umrissen zu erkennen vermögen, die 64 Hexagramme in 
der uns vorliegenden Reihenfolge geordnet imd jedes derselben 
mit einer Bezeichnung versehen, die seiner allgemeinen Bedeutung 
entspricht. Ihm wird auch der Kommentar zugeschrieben, der 
jedem Hexagramm beigegeben ist und dessen Bedeutung mit 
wenigen Worten und meist in recht dunkler Weise präzisiert. 
Wen-wangs Sohn Tan, der jüngere Bruder des nachmaligen 
ruhmreichen ersten Herrschers der C ho u -Dynastie, Wu-wang, 
soll, als er noch »Fürst von Chouc, Chou-kung, war, den 
auf den soeben genannten folgenden Kommentar verfafst haben, 
der sich mit der Deutung der einzelnen Linien, der Hexagramme, 
befalst. Diese beiden Kommentare bilden, in Verbindung mit 
den 64 Hexagrammen, den eigentlichen Text des Yih-king. 
Dazu kommen dann noch sieben ergänzende Kommentare, die sämt- 
lich, aber durchaus mit Unrecht, dem Confucius zugeschrieben 
werden. Sie verraten gröfstenteils einen viel späteren Ursprung. 

Als ein Beispiel für die Art, wie zunächst das ganze Hexa- 
gramm und dann die einzelnen Linien gedeutet und miteinander 



— se- 
in Zusammenhang gebracht werden, greife ich das zwanzigste 



Hexagramm: S"= heraus. Die obere Hälfte desselben zeigt 
das Trigramm sse^s Stift, Wind oder Holz, die untere Hälfte 
das Trigramm ^ ^ k^un, Erde. Wen-wang bezeichnet das 
Hexagramm mit dem Worte ktian, Anblick (sowohl im Sinne 
des Anblickens als auch des Angeblickten) und erläutert es 
durch die Worte : »Die Hände (sc. des Opfernden) sind gewaschen, 
aber das Opfer ist noch nicht dargebracht.« An diesen Kommentar, 
der an Dunkelheit wenig zu wünschen übrig läfst, schUefsen sich 
nun folgende Erläuterungen des Chou-kung zu den einzelnen 
Linien, wobei zu bemerken ist, dafs die unterste Linie als erste, 
die oberste als letzte gilt: 

Erste Linie: Der Anblick eines Knaben: für den gemeinen 
Mann kein Tadel, für den Edlen schimpflich. 

Zweite Linie : Der Blick durch die Tür : gereicht dem rechten 
Verhalten des Weibes zum Vorteil. 

Dritte Linie : Aufs eigene Leben blicken : vorgehen imd sich 
zurückziehen. 

Vierte Linie: Auf des Reiches Glanz blicken: es ist vor- 
teilhaft, vom Könige als Gast behandelt zu werden. 

Fünfte Linie: Aufs eigene Leben blickend ist der Edle 
ohne Fehl. 

Sechste Linie : Wer auf des Edlen Leben blickt, ist ohne Fehl. 

Dazu gibt der zweite der zu ergänzenden Kommentare dann 
noch folgende Deutung des Hexagramms : »Der Wind fährt über 
die Erde hin (nämlich das Trigramm »Winde über dem Trigranun 
»Erde«). Indem die früheren Könige ihre Gebiete prüften und 
ihr Volk betrachteten*), führten sie Belehrung ein.« 

Welche von den verschiedenen Methoden der Divination beim 
Befragen des Loses an der Hand des Yih-king angewendet 
wurde, wissen wir nicht. Möglicherweise bediente man sich 
dabei der Stäbchen, die aus den Stengeln der Schafgarbe ge* 
schnitten wurden, — ein Verfahren, das im alten China sehr gebräuch- 
lich war. Es ist in solchem Falle nicht unwahrscheinlich, dafs 
wir in den ganzen und gebrochenen Linien Nachbildungen jener 
Stäbchen zu sehen haben. Wie dem auch sei, — so viel lälst sich 



^) Das Betrachten spielt auf die Bedeutung des Anblickens, die 
dem Hexagramme beigelegt ist, an. 



UNIVERSITY 

'»r I'.- ^»^^a 



— 37 



aus den geschichtlich überlieferten Beispielen ersehen, dals bei 
der Befragung des Loses immer zwei Hexagramme gezogen 
wurden, wobei jedoch nur eine Linie malsgebend war. So lesen 
wir z. B. im Tso-chuan unter dem 22. Regierungsjahre des 
Fürsten Chuang von Lu (671 v. Chr.) dafs der Fürst Li von 
Ch*en einen Astrologen beauftragt,, für seinen neugeborenen 
Sohn unter Anwendung von Schafgarbenstengeln das Los zu 
befragen. Der Astrolog zieht aufser einem anderen das oben 
erwähnte Hexagranmi kuan und verhelfst dann auf Grund des 
auf die vierte Linie bezüglichen Orakelspruches dem jungen 
Prinzen eine glänzende Laufbahn. 

In der Geistesgeschichte Chinas hat das Yih-king eine 
bedeutsame Rolle gespielt, und eine bändereiche Litteratur ist 
allein dem Studium dieses rätselhaften Buches gewidmet ^). Trotz 
seiner krausen Unverständlichkeit, oder vielleicht gerade infolge 
derselben, hat es mehr als irgend ein anderes Erzeugnis der 
chinesischen Litteratur das philosophische Denken angeregt. Schon 
Conf ucius scheint eine sehr hohe Meinung vom Yih-king gehabt 
zu haben'), ohne dafs sich jedoch ein Einflufs desselben auf seine 
Denk- und Anschauimgsweise nachweisen liefse; namentlich aber 
sind es die Vertreter der späteren Naturphilosophie des elften 
und zwölften Jahrhunderts, die das Yih-king zum Ausgangs- 
punkte ihrer metaphysischen Spekulationen machen. 

2. Das Shu-king oder kanonische Buch der 

Urkunden^). 

Da das Shu-king zu den auf den Index gesetzten Büchern 
gehörte, mithin der Vernichtung preisgegeben war, so ist zunächst 

^) In dem 120 Bände umfassenden Kataloge der kaiserlichen 
Bibliothek, k'in-ting sei k^u ts^üan shu tsung-muh, der im Jahre 
1790 herausgesreben wurde, sind nicht weniger als 336 Werke auf- 
gezählt, die sich ausschlief slich mit dem Studium des Yih-king befassen. 

') Nach Lun-yü VII, 16 soll Confucius gesagt haben: »Wenn 
mir noch einige Lebensjahre hinzugefügt würden, wollte ich deren 
fünfzig auf das Studium des Yih-king verwenden; dann könnte ich 
wohl von grofsen Fehlern frei sein.« 

*) Das Shu-king, Shi-king, Chun-ts<in (mit dem Tso-chuan) 
sowie die Szd-shu sind von James Legge, der lange Jahre als Mit- 
glied der London Missionary Society in China gewirkt hat und vor 
wenigen Jahren als Professor m Oxford gestorben ist, im Urtext mit 



— 38 — 

die Frage nach der Echtheit des uns unter diesem Namen über- 
lieferten Textes zu beantworten. Ohne mehr als nötig auf die 
Einzelheiten der textkritischen Untersuchung einzugehen, will ich 
mich darauf beschränken, den Leser über das Ergebnis der bis- 
herigen Forschungen auf diesem Gebiete kurz« zu orientieren. 

Nach einer weitverbreiteten Überlieferung soll das Shu-king 
in der ursprünglichen Redaktion des Confucius aus hundert 
Kapiteln bestanden haben. Falls diese Angabe auf Wahrheit 
beruht, was jedoch sehr zweifelhaft ist, so hätten wir den Ver- 
lust von 42 Kapiteln zu beklagen, da das Shu-king in seiner 
gegenwärtigen Fassung deren nur 58 enthält. Wie dem aber 
auch sei, wir haben es einzig und allein mit den 58 Kapiteln zu 
tun, die erhalten geblieben sind, und stehen somit vor der Frage^ 
ob wenigstens diese als echt anzusehen sind. 

Sz6-ma TsMen, der Verfasser der ersten Geschichte des 
chinesischen Reiches, der vermutlich um das Jahr 86 v. Chr. 
gestorben ist , berichtet , dals das Shu-king durch einen 
Mann namens Fuh Sheng, der zur Zeit des Shi-hoang-ti 
dem Gelehrtenkollegium angehört hatte, unter der Regierung 
des Kaisers Hiao-wen (179 — 157 v. Chr.) zuerst wieder ans 
Licht gebracht worden sei; doch sei es nur ein Bruchstück 
gewesen, das 29 Kapitel in 33 Abschnitten enthielt. Da dieser 
Text in der durch Li S z 6 eingeführten neuen Schriftform 
niedergeschrieben war, wird er als der »neuec Text bezeichnet. 
Um die Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. liefs der König 
Kung von Lu das Haus des Confucius niederreifsen, um seinen 
Palast zu erweitem, und bei dieser Gelegenheit fand man aulser 
demLun-yü, Li-ki und Hiao-king auch eine zweite Hand- 
schrift des Shu-king und zwar in der älteren Schriftform. 

englischer Übersetzung, ausführlichem Kommentar nndSpezialglossaren 
herausgegeben worden unter dem Titel: The Chinese Classics; with 
a translation, critical and e^cegetical notes, prolegomena and copious 
indexes. 7 Bde. Hongkong and London 1861—72. Die beiden ersten 
Bände dieses grundlegenden Werkes sind seitdem in zweiter Auflage 
erschienen. I>er8elbe Verfasser hat aufserdem als 3. Band der von 
F. Max Müller herausgegebenen Sacred Books of the East unter 
dem Titel: The Sacred Books of China; the texts of Confucianism, 
transl., by J. Legge Pt I. The Shü-king, the religious portions of the 
Shih-king, the Hsi&o-king. Oxford 1879 eine vollständige Übersetzung 
des Shu-king erscheinen lassen. 



- 39 - 

Dies ist der sog. »altec Text. K*ung An-kuoh, ein Nach- 
komme des Confucitis, machte sich an die Untersuchung des 
kostbaren Fundes und kam dabei zu dem Resultate^ dals das 
neuentdeckte Exemplar aufser den 29 resp, 33 bereits durch 
Fuh Sheng bekannt gewordenen Kapiteln noch 16 weitere 
Kapitel in 25 Abschnitten enthielt, so dals mithin die Gesamt- 
zahl der Abschnitte den 58 Kapiteln des traditionellen Shu-king 
zu entsprechen schien. 

Nun entstand aber wiederum eine neue Schwierigkeit. 
Während nämlich die von Fu Sheng aufgefundenen 33 Ab- 
schnitte sich mit den entsprechenden des K^ung An-kuoh 
decken y stiomien die neu hinzugekommenen Texte in der uns 
vorliegenden Fassung des Shu-king keineswegs mit dem über- 
lieferten alten Verzeichnisse derselben tiberein. Aus dieser 
Divergenz haben chinesische Kritiker den Schluls gezogen, dafs 
die 25 Kapitel, die jetzt als Bestandteil des Shu-king, wie wir 
es kennen, dem K^ung An-kuoh zugeschrieben werden, eine 
Fälschung seien. Der ursprüngliche, echte Text sei, so nehmen 
sie an, bei einem Palastbrande im Jahre 311 n. Chr. zu Grunde 
gegangen. Zu dieser Annahme scheint indessen ein absolut 
zwingender Grund nicht vorzuliegen. Sz6-ma Ts*ien hat den 
echten Text des K'ung An-kuoh gekannt; aber während er 
den 33 Kapiteln, die den Ausgaben des Fuh Sheng und des 
K'ung An-kuoh gemeinsam sind, zahlreiche Zitate entlehnt 
(und zwar, wo er Abweichungen zwischen den beiden Texten 
findet, mit Vorliebe nach der Lesart des sog. »neuenc Textes 
Fuh Sheng s), führt er nur ein einziges Zitat aus einem der 
neu hinzugekommenen 25 Kapitel an, aus dem zugleich hervor- 
geht, dafs der von ihm benutzte Text ein anderer war als der, 
den wir kennen. Chavannes ist daher wohl mit Recht der 
Ansicht, dafs man, ohne durchaus eine bewufste Fälschimg an- 
nehmen zu müssen, vermuten kann, dafs K'ung An-kuoh 
jene neu hinzugefügten Kapitel aus Fragmenten, die er vorfand 
(und die nachweislich vorhanden waren), rekonstruiert habe*). 

^) Die Frage nach der Echtheit des Shu-king: und die Geschichte 
des Textes ist neuerdings von Edouard Chavannes in eingehender 
und mustergültiger Weise behandelt worden, siehe M^moires histori- 
ques de Se-ma Ts'ien I, p. CXIII-CXXXVI. Auf seiner Unter- 
suchung fufst die obige Darstellung. 



— 40 — 

Ist diese Annahme richtig, so würde es auch begreiflich er- 
scheinen, warum Sz&-ma Ts'ien die neuen Abschnitte des K^ung 
An-kuoh nur ungern und mit grölster Vorsicht benutzte, und 
ihr Verlust Heise sich demnach verschmerzen. Als unzweifelhaft 
echt — dies ist das Ergebnis der Untersuchung — sind also nur 
die 29 resp. 33 Kapitel des Shu-king anzusehen, deren Er- 
haltung wir dem Fuh Sheng verdanken. 

Wenn das Shu-king bisweilen als das Buch der Annalen 
oder geschichtlichen Aufzeichnungen bezeichnet wird, so ist eine 
solche Wiedergabe des Titels falsch, weil sie mehr hineinlegt, 
als in demselben enthalten ist, und obendrein irreführend, weil 
sie etwas ganz anderes erwarten läfst, als das Buch bietet; denn 
obwohl eine Geschichtsquelle ersten Ranges, ist es doch nichts 
weniger als ein Geschichtswerk im eigentlichen Sinne. In der 
Tat bedeutet Shu-king nicht mehr und nicht weniger als 
»kanonisches Buch der Urkundenc, wobei das Wort »Urkundenc 
in dem ganz allgemeinen Sinn von schriftlichen Aufzeichnungen 
überhaupt zu verstehen ist. Diese Urkxmden nun, die von den 
ältesten Zeiten bis auf das siebente Jahrhundert v. Chr. herab- 
reichen, mithin, wenn man die landläufige Chronologie gelten 
lassen will, einen Zeitraum von anderhalb Jahrtausenden lun- 
fassen, enthalten zum weitaus grölsten Teile Reden, Erlasse und 
Ermahnungen, die teils den Herrschern selbst, teils hervor- 
ragenden Staatsmännern und Grofswürdenträgem in den Mund 
gelegt werden. Nur wenige Teile des Shu-king weichen hiervon 
ab. Zu diesen gehören vor allem das Yü-kung, »die Tribut- 
rolle des Ytif, das Angaben über die Topographie, Boden- 
beschaffenheit und Administration des Reiches zur Zeit des halb- 
mythischen Kaisers Y ü enthält. Die wissenschaftliche Bedeutung 
dieses Abschnittes als der ältesten Quelle unserer Kenntnis der oro- 
und hydrographischen Verhältnisse des damaligen China ist zuerst 
von F. von Richthofen*) in eingehender Weise gewürdigt 
und zu Ehren gebracht worden. Ganz anderer Art ist wiederum 
das Kapitel Hung-fan, idie grofse Regele, ein Traktat, der 
sich in seltsam schematischer Weise mit ethischen, politischen 
und philosophischen Fragen befafst, während das Kapitel Liü- 
hing, >die Strafen des Fürsten von Lti«, einen interessanten 



') von Richthofen, China I, S. 277—364. 



— 41 — 

Einblick in das chinesische Strafrecht während des zehnten Jahr- 
hunderts v. Chr. gewährt. Abgesehen von diesen wenigen Aus- 
nahmen sind die übrigen Teile des Shu-king durchweg von der 
oben gekennzeichneten Art. Doch ist der Charakter des Buches 
nut dem Gesagten nur nach der Seite des Inhalts erschöpft, wo- 
hingegen seine formale Eigenart unberücksichtigt blieb. Die 
letztere ist aber von nicht geringerer Bedeutung für die Be- 
urteilung seiner litterarischen Stellung imd bisher leider nicht 
gebührend gewürdigt worden. Überhaupt pflegt man das 
Shu-king viel zu einseitig im Sinne einer Sammlung archi- 
valischer Urkunden und Überlieferungen aufzufassen, während man 
in ihm meiner Ansicht nach in erster Linie ein dichterisches 
Erzeugnis erblicken sollte. Bevor ich jedoch auf diesen Punkt 
näher eingehe, möchte ich zunächst ein paar Beispiele voraus- 
schicken, die, aufs Geratewohl herausgegriffen, den im Grunde 
poetischen Charakter des Buches deutlich erkennen lassen. 

Der bereits hochbetagte Kaiser Yao (er regierte angeblich 
von 2357 bis 2255 v. Chr.) fühlt, dafs seine Kraft nicht mehr 
ausreicht, um die Bürde der Regierung allein zu tragen, und 
fordert daher seine Ratgeber auf, ihm einen geeigneten Mit- 
regenten vorzuschlagen. Dieser Hergang wird nun in folgen- 
der Weise erzählt: 

Der Kaiser sprach; »Heda, ihr Vorsteher der vier Berge ^)! 
Ich habe den Thron siebzig Jahre lang innegehabt. Ihr ver- 
mögt das Mandat des Himmels auszuführen : folget mir auf dem 
Throne Ic — Die Vorsteher der Berge sprachen: »Von geringer 
Tugend, würden wir den kaiserlichen Thron verunehren.« — 
Er sprach: »Bringet ans Licht einen Erleuchteten; ob er auch 
niedrig und von geringer Herkunft sei, hebet ihn empor, c — 
Die Schar sprach zum Kaiser: »Es gibt einen ledigen Mann 
im niederen Voke, der heilst Yü Shun.» — Der Kaiser sprach: 
»Wohl, ich habe von ihm vernommen. Wie ist er beschaffen?« 
— Die Vorsteher der Berge sprachen: »Er ist der Sohn eines 
Blinden. Sein Vater war unwissend, seine Mutter arglistig, [sein 
jüngerer Bruder] Sian g hochmütig; er hat es vermocht, sie durch 



') Unter den Vorstehern der vier Berge sind vermutlich Würden- 
träger zu verstehen, denen die Aufsicht Über die den vier Himmels- 
gegenden entsprechenden Teile des Reiches tibertragen war. 



— 42 ~ 

seine kindliche Liebe zur Eintracht zu bringen. Er hat sie alhnäh- 
lich gebessert, dals sie sich nicht der Bosheit hingeben, c — Der 
Kaiser sprach: »Ich will ihn auf die Probe stellen. Ich will 
ihm meine Töchter zu Frauen geben und ihn dann in seinem 
Verhalten zu den beiden Frauen beobachten.! — Er ordnete an, 
dals seine beiden Töchter an die Flüsse Kuei und Jui gesandt 
würden, auf dais sie Ehegesponse seien dem Yü. Der Kaiser 
sprach zu ihnen: »Seid ehrerbietig !c 

Zeichnet sich diese Erzählung nur durch ihre schlichte, jeg- 
lichen schmückenden Beiwerks bare Einfalt aus, so zeigt das 
folgende Beispiel schon ein gesteigertes Pathos, dem durch geschickte 
Verwendung gewisser rhetorischer Mittel eine eindrucksvolle 
Wirkung verliehen wird. Es handelt sich um eine Schlacht, die 
der Kaiser K • i (angeblich 2 197 — 2188 v. Chr.) einem aufständischen 
Vasallen zu liefern im Begriffe ist: 

Gewaltig kämpften sie bei Kan. Er (der Kaiser) rief seine 
sechs Heerführer zusammen. Der Kaiser sprach: »Ha! Ihr 
Leute der sechs Heeresteile, ich habe eine Verkündigung an euch 
zu richten! Der Herr von Hu hat die fünf Elemente verletzt 
und milsachtet, er hat die drei Lenker') vernachlässigt und preis- 
gegeben; daher will der Himmel ihn vernichten und seinem 
Leben ein Ende machen. Ich will jetzt lediglich in Ehrfurcht 
des Himmels Strafe vollstrecken. Tut ihr, die zur Linken seid, 
nicht auf der Linken eure Schuldigkeit, so achtet ihr meiner 
Befehle nicht; tut ihr, die ihr zur Rechten seid, nicht auf der 
Rechten eure Schuldigkeit, so achtet ihr meiner Befehle nicht; 
wifst ihr Wagenlenker nicht eure Rosse zu lenken], so achtet 
ihr meiner Befehle nicht. Die meinen Befehlen gehorchen, will 
ich vor meinen Ahnen belohnen; die meinen Befehlen nicht ge- 
horchen, will ich vor den Schutzgöttem des Erdbodens züchtigen: 
samt euren Kindern will ich sie verderben!« 

Um sich eine ungefähre Vorstellung von der wuchtigen Kraft 
und lapidaren Kürze des Ausdrucks zu machen, die keine Über- 
setzrmg auch nur annähernd zu erreichen vermag, braucht 

') Die fünf Elemente sind hier in ihren Beziehungen zu den vier 
Jahreszeiten gemeint; der Fürst hat die kaiserlichen Vorschriften für 
die einzelnen Monate milsachtet. Unter den drei Lenkern sind Himmel, 
Erde und Mensch zu verstehen, deren harmonisches Zusammenwirken 
die Grundlage der allgemeinen Ordnung ist. 



— 43 - 

man sich nur zu vergegenwärtigen, dafs jener Passus im Urtext 
nicht mehr als achtundachtzig Worte zählt. Wie die Felsblöcke 
einer Zyklopenmauer ohne Mörtel noch sonstige Bindemittel, so 
sind hier die achtundachtzig Einsilbler aneinander gefügt, ein 
jeder an seinem Orte und mit dem Vollgewicht seines Lautwertes 
und seiner Bedeutung. Es ist unvermeidlich, dafs die mächtige 
Wirkung des Originales in der Übersetzung, abgesehen von dem 
ungleich gröfseren Wortreichtum, besonders durch die grofse 
Menge unbetonter Silben und Wörter, beträchtlich geschwächt 
und verflüchtigt wird. 

Eine gröfsere Beweglichkeit des Stiles und Lebhaftigkeit der 
Diktion zeigt sich in der Rede, die dem Kaiser T ^ a n g (angeblich 
1766—1753 V. Chr.), dem Begründer der Sh an g -Dynastie, in 
den Mund gelegt wird. Kieh, der letzte Herrscher aus dem 
Hause Hia, hat durch sein grausames Regiment sein »himmlisches 
Mandate, d. h. sein Recht auf den Thron, verwirkt, sein Sturz 
wird als himmlisches Gebot aufgefafst, an dessen Ausführung 
mitzuwirken das Recht xmd die Pflicht des Volkes ist: die vox 
Dei wird zur vox populi. T^ang ist es nun, der die Massen 
durch die folgende Rede zum Aufruhr anfeuert. 

Der König sprach: »Kommet herbei, all ihr Scharen, und 
gebet sämtlich acht auf meine Worte! Nicht ich kleines Kind 
wage es, den Aufruhr zu verkünden. Weil der Herr von Hia 
sich viel zu Schulden kommen liefs, gebietet der Himmel, ihn zu 
vernichten. Ihr Scharen, ihr sprechet jetzt: ,TJnser Fürst hat 
kein Erbarmen mit uns, er unterbricht unsere Emtearbeit, um das 
Haus Hia anzugreifen und zu züchtigen.' Ich habe eure Rede 
wohl vernommen. Aber der Herrscher von Hia ist im Unrecht. 
Ich fürchte den höchsten Herrn*) und wage nicht, ihn (den 
Tyrannen) ungestraft zu lassen. Nun sprechet ihr: ,Was ist 
uns Hias Unrecht?' Der König von Hia bringt allenthalben 
die Kräfte des Volkes tmx Erschöpfung und fügt allenthalben 
den Städten von Hia Schaden zu; die Massen sind allenthalben 
lässig und wollen ihm nicht beistehen und sprechen: 

,0 Sonne, wann wirst du untergehn? 
Wir wollen mit dir zusammen vergehnf 



') Shang-ti, d. h. Gott- 



— 44 — 

Da Hia s Benehmen derartig ist, muis ich gegen ihn zu Felde 
ziehen* Ihr werdet^ ich hoffe es, mir einzelnem Menschen bei- 
stehen, des Himmels Strafe zu vollstrecken. Ich will euch 
auch reichlich belohnen, — dals keiner daran zweifle : ich mache 
keine leeren Worte*). Wenn ihr den Worten meiner Ver- 
kündigung nicht Folge leistet, werde ich euch samt euren 
Kindern verderben und in keinem Falle Gnade gewähren !< 

Und nun noch ein letztes Beispiel, das durch seine leiden- 
schaftliche Sprache und seinen rhetorischen Schwung im Shu- 
king ohnegleichen dasteht. Der Redner ist Fah aus dem 
Hause Chou, der Sohn des Wen-wang und nachmalige Be- 
gründer der Chou-Dynastie Wu-wang (1122 — 1115 v. Chr.). 
Nach einer fast sechshundertundfünfzigjährigen Herrschaft ist das 
Schicksal der Shang -Dynastie besiegelt. Shou (besser unter 
dem Namen Chou bekannt), der letzte Herrscher dieses Hauses, ist 
nur noch ein willenloses Werkzeug in den Händen seiner ränke- 
vollen Gemahlin T a h - k i ; durch Wollust und Grausamkeit führt 
er das Reich dem Ruin entgegen. Da ist es Fah von Chou, 
der die Fahne des Aufruhrs erhebt und sich, wie in dem letzt- 
erwähnten Beispiele T^ang, zum Vollstrecker der hinunlischen 
Gerechtigkeit aufwirft. Auf dem Felde von Muh (in der 
heutigen Provinz Ho-nan gelegen) hat er seine Truppen ver- 
sammelt und feuert sie vor Beginn der Schlacht durch eine An- 
sprache zur Tapferkeit und Pflichterfüllung an: 

Am Tage Kiah-tsz6*), als der Tag graute, begab sich 
der König am Morgen auf das Feld von M u h im Auf sengebiete 
der Stadt Shang (der Reichshauptstadt) und hielt eine Ansprache- 
Den linken Arm auf die gelbe (d. h. goldene) Streitaxt gestützt, 
mit der Rechten die weifse Standarte haltend imd sie schwenkend, 
um damit ein Zeichen zu geben, sprach der König : »Femher seid 
ihr herbeigekommen, Männer des westlichen Landes*)! Ha! Ihr 
Fürsten befreundeter Staaten, ihr Lenker der Staatsgeschäfte, 
Minister des Unterrichtes, des Krieges und der öffentlichen 
Arbeiten, ihr Würdenträger niederen Grades, Offiziere der Leib- 

') Wörtlich: ich esse meine Worte nicht 

*) Jahr, Monat, Ta^ und Stunde werden durch je zwei zyklische 
Zeichen bezeichnet. Dem Tage Kiah-tszd entspricht der vierte Tag 
des zweiten Monats. 

') Das westliche Land ist das Stammland der Chou. 



— 45 — 

wache, Anführer von Tausenden und Hunderten, und ihr, Männer 
von Yung, Shuh, Kiang, Mou, Wei, Lu, P^eng und 
Pub! Erhebet eure Lanzen, haltet eure Schilde aneinander 
und richtet eure Speere empor! Ich will eine Ansprache halten !c 
Er sprach: >Die Alten hatten ein Wort, das lautet: ,Die Henne 
kräht nicht am Morgen; kräht die Henne am Morgen, so geht 
das Haus zu Grunde.^*) Nun aber richtet sich König Shou 
von Shang einzig nach den Worten seines Weibes. In seiner 
Verblendung hat er die seinen Ahnen geziemenden Opfer ab- 
geschafft imd will ihnen [die Wohltaten, die sie ihm erwiesen] 
nicht vergelten; in seiner Verblendung hat er seine noch 
lebenden Vater- tmd Mutterbrtider von sich gewiesen und nicht 
erhoben. Nur die Flüchtlinge aus allen vier Himmelsgegenden,, 
zahlreicher Verbrechen schuldig, die ehrt er, die erhebt er,, 
denen vertraut er, die verwendet er, die ernennt er zu Grofs- 
würdenträgem und hohen Beamten, damit sie die hundert 
Familien') unterdrücken und milshandeln und durch ihre Ränke 
Verrat üben an den Städten von Shang. Jetzt will ich, Fah,. 
lediglich in Ehrfurcht die Strafe des Himmels vollstrecken. Beim 
heutigen Werke gehet nicht über sechs oder sieben Schritte vor, dann 
haltet ein und tretet ins Glied zurück ')• Tut euer Bestes, ihr 
Männer! Erneut den Angriff nicht mehr denn vier-, fünf-, sechs- 
oder siebenmal!, dann haltet ein imd tretet ins Glied zurück^ 
Tut euer Bestes, ihr Männer! Wohlan, seid mutig wie Tiger^ 
wie Panther, wie Bären, wie gelbe Bären ! Im Grenzgebiete vo» 
Shang sollt ihr denen, die da fliehen wollen, nicht entgentreten,. 
auf dals sie dem westlichen Lande (d, h. uns, den Chou) dienst- 
bar seien. Tut euer Bestes ihr Männer! Wo ihr nicht euer 
Bestes tut, wird es euch das Leben kosten!« 

Als bezeichnend für den poetischen Charakter dieser Stücke 
fällt auf den ersten Blick die mehrfache Wiederkehr derselben 
oder ähnlicher Wendungen auf, wie wir sie in der zweiten 
und vierten der angeführten Proben sehen. Es ist dies eine 



*) Der Sinn ist natürlich, dafs die Frau nicht das erste (oder, wie 
wir sagen würden: das letzte) Wort haben darf. 

*)l »Die hundert Familien« ist ein uralter, noch im heutigen Sprach- 
gebrauch erhalten gebliebener Ausdruck zur Bezeichnung des Volkes. 

•) Um unnützes Blutvergiefsen zu vermeiden. 



— 46 — 

Form der poetischen Diktion , die auch in den Liedern des 
Shi-king mit besonderer Vorliebe angewandt wird und lebhaft 
an den sog. Parallelismus der Glieder in der hebräischen Poesie 
erinnert Und die hier mitgeteilten Beispiele sind in dieser Be- 
ziehung durchaus nicht etwa Ausnahmen von der Regel. Von 
ähnlicher Wirkung ist meines Erachtens auch die stereotype 
Wendung: »Es heilst: wenn man das Altertum untersucht, 
so . . .,€ mit der vier Abschnitte des Shu-king beginnen. 
Wem fielen dabei nicht die Eingangsworte unseres Nibelungen- 
liedes ein: »Uns ist in alten maeren Wunders vil geseit!« 
Desgleichen ist noch ein anderer Umstand zu erwähnen, der 
ebenfalls dazu beiträgt, das Buch als ein Erzeugnis der Dicht« 
kunst zu kennzeichnen. Abgesehen nämlich von dem höheren 
Schwung des Ausdrucks, der bald als der schlicht erzählende 
Ton der Legende, bald in leidenschaftlich erregter Rede, bald 
in ernstem, würdevollem Pathos zu Tage tritt und von dem sonst 
üblichen Prosastil abweicht, finden wir im Shu-king vielfach 
gereimte Verse, die völlig unvermittelt und zwanglos in den 
Gang der Erzählung oder Rede hineinverflochten sind, ohne ihn 
zu unterbrechen. Ein Beispiel dieser Art, das sich durch zahl- 
reiche ähnliche ergänzen lielse, liefert die dritte der mitgeteilten 
Proben. Und selbst ein so vorwiegend nüchterner und dem 
Inhalte nach trockener Text wie das Yü-kung ist mit zahl- 
reichen metrischen Bestandteilen durchsetzt. Alles in allem ge- 
nommen, glaube ich daher, dafs das Shu-king ursprünglich 
nicht sowohl zum Lesen als vielmehr für den mündlichen Vor- 
trag bestimmt gewesen sei. Die geschichtliche Überlieferung 
berichtet freilich nicht, dafs fahrende Sänger und Geschichten- 
erzähler, wie sie im gegenwärtigen China so beliebt und all- 
gemein verbreitet sind, Abschnitte aus dem Shu-king vor ver- 
sammeltem Volke vorgetragen hätten, aber sollten wir deswegen 
nicht dennoch annehmen dürfen, dafs die Lust an solchen Unter- 
haltungen, die für den heutigen Chinesen so charakteristisch ist, 
auch schon im frühesten Altertum bestanden habe? 

3. Das Shi-king oder kanonische Buch der Lieder. 

Was wir vom Shu-king nur vermuten dürfen, das kann 
vom Shi-king, diesem köstlichen Vermächtnis einer sanges- 
frohen Vorzeit, mit vollster Sicherheit behauptet werden. Ver- 



-. 47 - 

dienen die Lieder des S h i - k i n g schon um ihrer selbst willen eine 
eingehendere Berücksichtigung , so haben sie speziell für den 
Deutschen noch dadurch ein besonderes Interesse, dafs sie durch 
Victor von Strauls'*) unübertreffliche Wiedergabe zu einem 
unveräulserlichen Besitz imserer klassischen Übersetzungslitteratur 
geworden sind. Nur wer in der Lage ist, diese Übersetzung an 
der Hand des Originals zu lesen, vermag sie nach ihrem 
dichterischen und wissenschaftlichen Werte voll zu würdigen. 
Aus den im folgenden mitgeteilten Proben wird sich der Leser 
überzeugen können, mit welch vollendeter Meisterschaft es hier 
der Übersetzer verstanden hat, selbst im deutschen Gewände die 
fremde Eigenart zu wahren. 

Der Text des Shi-king hat durch die Bücherverbrennung 
so gut wie gar nicht, jedenfalls weniger als irgend eins der 
anderen Bücher gelitten, die jener brutalen Mafsregel zum Opfer 
fielen, weil es, wie Pan Ku, der Historiogräph der älteren 
Han- Dynastie, ausdrücklich hervorhebt, in dem Gedächtnis des 
Volkes besser und sicherer aufgehoben war als auf Bambustafeln 
und Seide. Der mündlichen Überlieferung also ist es zuzuschreiben, 
dafs uns dieses kostbarste Kleinod altchinesischer Dichtung in nahezu 
unversehrtem Zustande erhalten geblieben ist. Dafs sich beim 
Niederschreiben des mündlich überlieferten Textes durch Hör- 
und Schreibfehler mancherlei Mifsverständnisse und Irrtümer ein- 
schlichen, war bei einer Sprache, die keine Laut-, sondern nur 
Wortschrift kennt, imvermeidlich, — ein Mangel übrigens, den 
man in solchem Falle gern mit in den Kauf nimmt, und dem 
aufserdem durch die verschiedenen Lesarten, die zu Gebote 
stehen, bis zu einem gewissen Grade wenigstens, abgeholfen 
werden kann. 

Die dreihimdertundfünf Lieder und Gesänge desShi-king, 
die mit Ausnahme von fünf angeblich noch älteren Stücken der 
Zeit vom zwölften bis zum siebenten Jahrhundert v. Chr. an- 
gehören, zerfallen nach der traditionellen Einteilung des Buches 
in vier Hauptabschnitte. Der erste trägt den Titel Kuoh-feng, 
d. h. »Sitten des Reichesc oder »Landesübliches«, und enthält 



*) »Schi-king». Das kanonische Liederbuch der Chinesen. Aus 
dem Chinesischen übersetzt und erklärt von Victor v. Straufs. 
Heidelberg 1880. 



- 48 — 

Lieder aus fünfzehn Feudalstaaten; den Inhalt der beiden folgenden 
Abschnitte, Siao-ya und Ta-ya, »kleine und grolse Festliederc, 
bilden Lieder, die vermutlich bei kleineren und gröfseren höfischen 
Festlichkeiten gesungen wurden, und der letzte Abschnitt, Sung, 
besteht aus Opfergesängen und Oden zu Ehren fürstlicher Ahnen. 
Von der Überzeugung ausgehend, dafs die in den Einzel- 
staaten herrschenden sittlichen Zustände ihren unverfälschten 
und treffendsten Ausdruck in den daselbst üblichen Liedern 
fänden, liefsen die alten Könige sie bei ihren Inspektionsreisen 
durch ihre Obermusikmeister, die sie stets begleiten mulsten, mit 
den zugehörigen Sangesweisen sammeln und im königlichen 
Archive aufbewahren. Diesem alten Brauche soll das Shi-king 
als systematische Liedersammlimg seine Entstehung verdanken, imd 
in der Tat hat auch eine derartige Sammlung, in welcher der Stoff 
nach den obenerwähnten vier Kategorien eingeteilt war, bereits 
vor Confucius' Zeit bestanden, so dals sich seine redaktionelle 
Tätigkeit am Shi-king in ziemlich engen Grenzen bewegt haben 
mufs. Er selbst sagt von sich in dieser Beziehung: »Nachdem 
ich von Wei nach Lu zurückgekehrt war*), wurde die Musik 
berichtigt, imd die Lieder des Ya imd Sung (die drei letzten 
Abschnitte des S h i - k i n g) erhielten jedes seinen Platz, c I>emnach 
scheint er sich also darauf beschränkt zu haben, die alten Sang- 
weisen in ihrer Reinheit wiederherzustellen imd die Lieder der 
drei letzten Abschnitte neu zu ordnen. 

Nach SzS-ma TsMen soll es ursprünglich dreitausend 
Lieder gegeben haben, — eine Angabe, an deren Richtigkeit 
wohl gezweifelt werden darf; da indessen von den 219 im Tso- 
chuan zitierten Liedern dreizehn nicht aus dem Shi-king 
herrühren, so ist damit immerhin der Beweis geliefert, dafs mit 
den dreihundertfünf Stücken des Shi-king nicht etwa der ganze 
Liederschatz des damaligen China erschöpft gewesen sei. Wir 
wissen, dals Confucius die Lieder des Shi-king ausschliefslich 
nach ihrem seiner Absicht entsprechenden erziehlichen Werte 
beurteilte; es mag daher möglich sein, dals er einige davon 
wie behauptet wird, ausgemerzt hat, weil sie ihm für seine Zwecke 
nicht geeignet schienen, aber wahrscheinlich ist es nicht, da das 
Shi-king eine ganze Reihe von Liedern enthält, die von 



1) Im Jahre 483 v. Chr. 



— 49 — 

Confucius ausdrücklich als für das Gemeinwohl verderblich be- 
zeichnet werden. Unter den Antworten, die er seinem Schüler 
Yen Yüan auf dessen Frage, wie man einen Staat regieren müsse 
gibt, lautet nämlich eine (Lun-yü XV, 10): »Verbanne die 
Töne von Cheng und halte die Schmeichler fem. Die Töne 
von Cheng sind zügellos, die Schmeichler sind gefährlich. c 
Unter den Tönen von Cheng sind die Lieder aus dem Staate dieses 
Namens gemeint, die das siebente Buch des ersten Abschnittes 
bilden. Es ist nicht recht ersichtlich, was ihn zu diesem strengen 
Urteil veranlafst haben mag, — es sei denn, dals er dabei zwei 
schmeichlerische Lieder an die Adresse des unwürdigen Prinzen 
S h u h und ein paar harmlose Liebeslieder im Sinne gehabt hätte. 
Abgesehen aber von diesem Tadel, der sich nur auf einige wenige 
Lieder bezieht, empfiehlt er nachdrücklich und zu wiederholten 
Malen das Studium des Shi-king. So ermahnt er z. B. seinen 
Sohn (Lun-yü XVII, 10): »Du solltest dich mit demChou-nan 
und Shao-nan (den beiden ersten Büchern des ersten Abschnittes) 
befassen. Gleicht nicht ein Mensch, der sich nicht mit dem 
Chou-nan und Shao-nan befalst hat, Einem, der mit dem 
Antlitz gegen die Wand gerichtet dasteht ?c Mit jemand, der 
das Shi-king nicht studiert hat, lasse sich nicht reden, sagt 
er ihm ein anderes Mal, und zu seinen Jüngern spricht er (Lun- 
yü XVII, 9): »Kinder, warum studiert keiner von euch die 
Lieder? An den Liedern kann man sich aufrichten, an ihnen sich 
selbst prüfen, an ihnen Geselligkeit lernen, an ihnen hassen 
lernen und lernen, daheim dem Vater und draufsen dem Fürsten 
zu dienen, und,« fügt er schulmeisternd hinzu, »man erfährt aus 
ihnen vieles über die Namen von Vögeln, Vierfüfslern, Kräutern 
und Bäumen.« Charakteristisch für seine nüchterne, einzig auf 
das Ethische gerichtete Auffassung sind auch seine an gewisse Verse 
aus dem Shi-king geknüpften exegetisch -homiletischen Be- 
trachtungen, die, wenn auch nicht alle aus seinem Munde stammend, 
doch durchweg den Stempel seines Geistes an sich tragen. So fragt 
sein Jünger Tsz6-kung (Lun-yü I, 15): »Arm, dabei nicht 
liebedienerisch, reich, dabei nicht hochmütig : was ist von solchen 
zu halten?« — Der Meister sprach: »Nicht übel; doch reichen 
sie noch nicht an die heran, die arm sind und dabei vergnügt, 
reich und dabei die Schicklichkeit lieben.« — Tsz6-kung sagte: 
»Im Shi-king heifst es: 

Grube, Geschichte der chinesischen Litteratttr. 4 



— 50 - 

Wie ausgehau'n, wie ziseliert, 
Wie abgefeilet, wie poliert. 

Sollte das nicht dasselbe bedeuten?« — Der Meister sprach: 
»Mit Tsz*6*) läfst sich 's schliefslich sogar über die Lieder reden.c 
In dem betreffenden Liede beziehen sich die angeführten Worte 
auf den Fürsten Wu von Wei, dessen glänzende innere und 
äufsere Gaben gepriesen werden. Und als Tsz6-hia^ ein anderer 
seiner Jünger, den Confucius (Lun-yü III, 8) fragt, was 
die Verse: 

Ein Lächeln lieblich zum Bestricken, 

Und schönster Augen glänzend Blicken, — 

Auf weifsem Grund mufs bunt entzücken*). 

bedeuten sollen, erwidert er: »Das Auftragen der Farben folgt 
auf das Grundieren. c — Tsz6-hia sagte: »Also kommen die 
Riten an zweiter Stelle ?c — Der Meister sprach: »Shang**) ist 
einer, der mich anregt; mit ihm kann man sogar über die Lieder 
reden, c — Wie bei einem Bilde — das ist der Deutung Sinn — 
erst der einfarbige Grund hergestellt sein muls, ehe mit dem 
Auftragen der Farben begonnen wird, so mufs auch die sittliche 
Grundlage vorhanden sein, bevor man an den äufserlichen Schmuck 
der guten Sitte und der Riten denken darf. Diese Deutung hat 
mit dem Liede selbst indessen nichts gemein, vielmehr sind die 
Verse in völlig willkürlicher Weise aus dem Zusammenhange 
herausgerissen; die betreffende Strophe, in der die Schönheit der 
Fürstin Chuang-kiang geschildert wird , lautet nämlich 
folgendermafsen : 

Die Hand wie Lilienknospen weich. 
Die Haut geronnenem Balsam gleich. 
Der Hals wie weifser Holzwurm bleich, 
Die Zahn' ein Kürbiskernbereich, 
Zikadenstime, Seidenbrau'n, 
Ein Lächeln lieblich zum Bestricken, 
Und schönster Augen glänzend Blicken! 

Die Verfasser der Lieder lassen sich nur in den seltensten 
Fällen und auch da meist nur mit gröf serer oder geringerer 



*) Der Rufname des Tszö-kung. 

■) Die beiden ersten Verse sind aus Shi-king I, v, 3 entlehnt, 
während der dritte vermutlich aus einem der ausgemerzten Lieder stammt. 
') Der Rufname des TszÖ-hia. 



- 51 - 

Wahrscheinlichkeit nachweisen. So z. B. wh-d für eine gröfsere 
Anzahl von Liedern die Autorschaft des Chou-kung, für 
einige andere die der Chuang Kiang, der zurückgesetzten 
Gemahlin des Fürsten Chuang von Wei (750—735 v. Chr.), 
in Anspruch genommen, eins wird dem Fürsten Wu von Wei, 
eins, und dieses mit Sicherheit, einem Eunuchen namens Meng- 
tsz6 (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Philosophen) 
zugeschrieben, u. s. w. Die überwiegende Mehrzahl der Lieder 
rührt jedoch von unbekannten Verfassern her. 

Was die äufsere Form der Lieder betrifft, so sind sie gröfsten- 
teils in Strophen von gleicher Verszahl gegliedert. Die Verse 
pflegen gereimt zu sein und bestehen in der Regel aus vier 
Worten resp. Silben, doch schwankt die Wort- oder Silbenzahl 
zwischen zwei und acht. Einer Eigentümlichkeit der chinesischen 
Dichtkunst, welche darin besteht, dals derselbe Gedanke in gleichen 
oder ähnlichen Wendungen derart wiederholt wird, dafs er in 
jeder Strophe wiederkehrt, ist schon Erwähnung getan worden; 
sie lälst deutlich erkennen, dafs die Lieder ursprünglich für den 
Gesang bestimmt waren. »Die chinesischen Herausgeber pflegen 
bei jeder Strophe anzumerken, ob sie unmittelbare Aussage (fu)^ 
oder ein Gleichnis (pi), oder eine sinnbildliche Einleitung enthalte. 
Nur dies letztere ist etwas Eigentümliches, indem da bei jeder 
Strophe, ehe sie zu dem wirklichen Gegenstande des Liedes über- 
geht, in einem oder ein paar Versen die Erwähnung einer be- 
sonderen Naturerscheinung oder eines bekannten Vorganges wie 
eine sinnvolle Arabeske vorausgeschickt wird, um Nachdenken, 
Empfindung imd Stimmung für das Folgende vorzubereiten. Das 
Sinnbild ist dann entweder in allen Strophen dasselbe, oder auch 
wohl jedesmal ein neues. Einigemal finden sich auch Wieder- 
holungen, wie unsere Refrains, am Ende, ausnahmsweise tmd 
selten am Anfang der Strophen.« ^) So finden wir z. B. in zwei 
voneinander unabhängigen Liedern dasselbe Bild als symbolische 
Einleitung verwendet. Das eine Mal (I, VI, 4) handelt es sich 
um die Sehnsucht eines Grenzsoldaten nach seiner Geliebten daheim: 

Ein angestautes Wasser 

Flöfst keine Brennholzbündel hin; — 

Und sie da drüben, die Geliebte, 

Ist nicht hier mit mir auf der Wacht in Shin. 



V. V. Straufs, a. a. O. S. 54. 



— 52 — 

Ach ihrer denk* ich, ihrer denk* ich! 

In welchem Mond zurück zur Heimat wieder lenk* ich? 

Ein angestautes Wasser 

Flöfst keine Reisigbündel zu; — 

Und sie da drüben, die Geliebte, 

Ist nicht hier mit mir auf der Wacht in Fu. 

Ach ihrer denk* ich, ihrer denk* ich! 

In welchem Mond zur Heimat wieder lenk* ich? 

Ein angestautes Wasser 

Flöfst keine Rutenbündel zu; — 

Und sie da drüben, die Geliebte, 

Ist nicht hier mit mir auf der Wacht in Hiu. 

Ach ihrer denk* ich, ihrer denk* ich! 

In welchem Mond zur Heimat wieder lenk* ich? 

Im andern Liede wird geschildert, wie Brüder fest zusammen- 
halten und dem Gerede anderer keinen Glauben schenken sollen: 

Ein angestautes Wasser 
Flöfst Domenbündel nicht herzu. 
Gar wenige nur sind sich Brüder; 
Wir aber sind es, ich und du. 
Vertraue nicht auf andrer Leute Reden! 
Sie tragen dir nur Lügen zu. 

Ein angestautes Wasser 
Flöfst Brennholzbündel nicht herbei. 
Gar wenige nur sind sich Brüder; 
Wir aber sind es uns, wir zwei. 
Vertraue nicht auf andrer Leute Reden! 
Sie meinen es fürwahr nicht treu. 

In beiden Liedern wird, wie man sieht, das gleiche Bild, 
das stehende Gewässer als trennendes Element im Gegensatz 
zum fliefsenden Strome, auf zwei verschiedene Fälle bezogen. 

Inhaltlich haben die Lieder des Shi-king eine grofse 
Mannigfaltigkeit aufzuweisen: neben dem schlichten Volksliede 
finden wir politische Oden imd Satiren, neben harmlosen Liebes- 
liedem feierliche Opfergesänge vertreten. Das ganze innere und 
äufsere Leben des Volkes, sein Fühlen und Empfinden, seine 
Freuden und Leiden, seine Sitten und Bräuche, seine politischen 
tmd sozialen Verhältnisse : das alles zieht in so greifbar anschau- 
lichen, in so lebendig bewegten Bildern an unsem Augen vor- 
über, dals das Shi-king neben seinem dichterischen Werte mit 



— 53 — 

vollstem Rechte zugleich den einer kulturgeschichtlichen Quelle 
allerersten Ranges beanspruchen darf. Und verwundert gewahren 
wir, dals das Volk jener Tage uns menschlich näher steht als 
der heutige Chinese mit seiner geschraubten Unnatur, dem un- 
erquicklichen Produkt eines durch Alter und Autorität geheiligten 
sozialen Konmients. Am naivsten und frischesten wirken natür- 
lich diejenigen Lieder, die, ohne jegliche Reflexion, den elemen- 
tarsten und darum allgemein menschlichen Regungen des Ge- 
mütes Ausdruck geben, die von der Liebe Lust und Leid, von 
Freude und Kummer singen, mithin so recht das Gepräge echter 
Volkslieder tragen. Mehrfache Proben dieser Art bietet der 
erste Abschnitt »Landesüblichesc , wie z. B. das folgende Lied 
der Wegerichpflückerinnen*) (I, I, 8): 

Pflücket, pflücket Wegerich, 
Eija zu, und pflücket ihn! 
Pflücket, pflücket Wegerich, 
Eija zu, ihr rücket ihn. 

Pflücket, pflücket Wegerich, 
Eija zu, ergreifet ihn! 
Pflücket, pflücket Wegerich, 
Eija zu, entstreifet ihn. 

Pflücket, pflücket Wegerich, 
Eija zu, nun packt ihn ein! 
Pflücket, pflücket Wegerich, 
Eija zu, nun sackt ihn ein! 

Man hört es diesem Liedchen an: der Inhalt hat wenig zu 
bedeuten, und der musikalische Rhythmus ist alles; es will eben 
gesimgen sein, damit die Arbeit im rhythmischen Takte nur um 
so flinker und lustiger von statten gehe. Inhaltlich und formell 
ungleich höher stehend ist schon das Lied (I, II, 12), dem Victor 
von Straufs die Überschrift: »Der schöne Jäger c gegeben 
hat, denn es beschreibt nicht mehr den blolsen Hergang allein, 
sondern schildert auch die Umgebung, innerhalb deren er sich 
abspielt; es gibt Episode und Bild zugleich, und zwar beides mit 
entzückender Grazie mehr angedeutet als ausgeführt: 



^) Die Überschriften der Lieder rühren sämtlich vom Übersetzer 
her. Im Originale werden sie, ähnlich den Veda-Hymnen, stets nur 
durch die Versanfänge bezeichnet. 



— 54 — 

Getötet liegt das Wild im Hain, 
Und Riedgras Überspreizet es. 
Lenzfreuden sinnt das Mägdelein, 
Ein schöner Jtlngling reizet es. 

Dicht stehn im Wald die Bäumelein, 
Getötet liegt der Hirsch im Hain, 
Und Riedgras hüllet rings ihn ein. 
Das Mägdlein gleicht dem Edelstein. 

«Gelassen! Und nur sachte, o! 

Nicht an mein Tuch zu rühren trachte, o! 

Und mache ja nicht, dafs mein Hündlein — belle!« 

Das Lied zeigt eine unverkennbare Ähnlichkeit mit dem 
Gedichte W a 1 1 e r s von der Vogelweide »Under der Hndenc, 
nur dafs die Stelle des Vögeleins, »daz mac wol getriuwe 
sin«, der Hund vertritt, auf dessen Verschwiegenheit weniger 
sicher gerechnet werden darf. Man sollte meinen, dafs dieses 
Lied doch eigentlich keiner gelehrten Deutung bedürfe, und 
dennoch haben es chinesische Erklärer fertig gebracht, einen 
tieferen Sinn herauszutüfteln, auf den wohl sonst kein gewöhn- 
licher Sterblicher verfallen wäre. In der sog. »kleinen Vorredec 
zum Shi-king, die, obwohl fälschlich dem Tsz6-hia zu- 
geschrieben, immerhin zu den ältesten Erklärungsversuchen der 
alten Lieder gehört, lesen wir: »Das Lied drückt den Abscheu 
vor der Unschicklichkeit aus. Ungestüm und Grausamkeit hatten 
zu gegenseitiger Vergewaltigung geführt, so dafs infolgedessen 
zügellose Sitten entstanden waren. Unter dem veredelnden Ein- 
flüsse des Wen-wang aber herrschte selbst in einem ver- 
worrenen Zeitalter Abscheu vor der Unschicklichkeit« — Noch 
ein in volkstümlichem Tone gehaltenes Lied (I, III, 17) mag hier 
Erwähnung finden, das ein verfehltes Stelldichein zum Gegen- 
stande hat und durch die Zartheit der Empfindung nicht weniger 
als durch die poetische Anmut des Ausdruckes fast an Goethesche 
Lyrik erinnert: 

Ein sauberes Mädchen, so schmuck und fein! 
Die harrt an der Ecke der Mauer wohl mein. 
Ich liebe sie, aber ich sehe sie nicht; 
Ich kraue den Kopf, steh' betreten allein. 

Das saubere Mädchen, so lieblich im Flor, 
Die schenkte mir ein rotglänzendes Rohr. 
Doch schimmert das rötliche Rohr auch sehr, 
Die Schönheit des Mädchens erfreuet mich mehr. 



— 55 — 

Sie hatte mir Knospen vom Felde beschert, 
Und trann, sie sind schön und bewundeningswert. 
Und doch, ihr selber, ihr seid nicht schön, 
Ihr seid's nur, weil euch mir die Schöne verehrt. 

In den sog. »kleinen Festliedemc tritt vielfach das be- 
schreibende Element mehr in den Vordergrund, und einzelne 
dieser Lieder gewähren dadurch einen Einblick in das gesellige 
Leben, in die herrschenden Sitten und Bräuche jener Zeit, wie 
wir ihn sonst in der gesamten altchinesischen Litteratur ver- 
geblich suchen würden. Ein Beispiel dieser Art ist jene köst- 
liche Schilderung einer fröhlichen Zecherei und ihrer unvermeid- 
lichen Folgen (II, VII, 6), Das Fest beginnt mit einem Wett- 
schief sen, wobei die Bogenschützen paarweise auftreten und der 
Besiegte stets pro poena einen Becher Wein leeren mufs. Wie 
dann die anfänglich würdevolle Haltung der Gäste allmählich 
einer alle Schranken durchbrechenden Ausgelassenheit weicht, 
die nur durch strengste Handhabung des Trinkkomments not- 
dürftig im Zaume gehalten werden kann, wird mit behäbigem 
Humor geschildert: 

Sobald die Gäste trunken worden. 
So schreien und lärmen sie umher. 
Verwirren uns die Napf und Schüsseln, 
Und tanzen taumelnd hin und her; 
Denn eben weil sie trunken worden, 
Merkt keiner seinen Unfug mehr. 
Die Hüte schief auf ihren Köpfen, 
So tanzen sie bis zum Erschöpfen. 
Ist man berauscht und geht davon, 
Ist's allgemein für Glück zu schätzen; 
Ist man berauscht, geht aber nicht. 
Das heifst die Schicklichkeit verletzen. 
Weintrinken ist gar schön und gut. 
Doch nur, wenn man's fein sittig tut. 

Bei jedem dieser Weingelage 
Wird mancher trunken, mancher nicht. 
Drum wird ein Trinkwart eingesetzet 
Und ein Gehilf' ihm zum Bericht. 
Und wenn die Trunkenen nicht guttun, 
Dafs Nichtberauschte Scham anficht, 
So mahnen sie die Unfolgsamen, 
Dafs Roheit nicht die Schranke bricht, 



— 56 — 

Dals Unsagbares nicht gesagt wird. 
Nicht Unbefolgbar^s vorgebracht; 
Da Worte Trunkener befolgen, 
Hornlose Widder *) ausgeh'n macht. 
Wem schon den Sinn drei Becher rauben, 
Wie darf sich der noch mehr erlauben? 

Als Gegenstück zu diesem Bilde möge die Schilderung eines 
Ahnenopfers dienen (II, VI, 5), in der wir den ganzen Verlauf 
der feierlichen Handltmg mit plastischer Anschaulichkeit sich 
abspielen sehen: 

Wo wild Gesträuch verworren stand, 
Rils man die Domen aus mit Händen; 
Warum ward das voreinst getan? 
Dafs unsVe Hirsen Anbau fänden; 
Dafs Hirs' uns reif im Überflufs 
Und Opferhirse zum Verschwenden; 
Und wären unsre Speicher voll, 
Und tausend Feimen aller Enden, — 
Zu Speis' und Wein sie zu verwenden, 
Zur Darbringung, zu Opferspenden, 
Um hinzutreten, einzuladen. 
Noch grölsem Segen herzuwenden. 

Voll Würd' und Anstand geh'n wir fein. 
Mit Stieren und mit Widdern rein. 
Zum Herbst- und Winteropfer ein. 
Die häuten ab, die kochen klein. 
Die richten zu, die tragen ein. 
Der Beter opfert türherein. 
Gar glänzend sind die Opferweih'n; 
Und herrlich zieh'n die Ahnen ein*); 
Es freuen sich die (Jeisterreih'n, 
Dem frommen Enkel zum Gedeihen; 
Sie lohnen ihm mit grofsem Segen, 
Sein Alter soll ohn' Ende sein. 

Am Herd ist eifriger Verkehr, 
Gewaltige Trachten stellt man her; 
Der bratet, und es röstet der. 
Die hohen Frau'n geh*n still einher 



*) D. h. Unnatürliches, sich selbst Widersprechendes zu Tage 
bringen (Anm. d. Übers.). 

*) Von dem an wird die Anwesenheit der Ahnengeister voraus- 
gesetzt (Anm. d. Übers.). 



— 57 — 

Und richten an der Schüsseln Heer. 
Die Fremden und die Gast' nmher 
Trinken sich zu in Kreuz und Quer. 
Man feiert ganz nach Brauchs Begehr; 
Lächeln und Wort sind schicklich sehr. 
Die Geister tun sich gnädig her 
Und lohnen es mit grofsem Segen, 
Zehntausend Jahren und noch mehr. 

Sind wir ermattet ganz und gar, 
Da nichts am Brauch versäumet war, 
So kommt dem weisen Beter Kunde, 
Der gibt's dem frommen Enkel dar: 
«Suis roch des frommen Opfers Weise; 
Die Geister freute Trank und Speise. 
Sie fügen, dals dich Glück umkreise, 
Gehoffterweis', verdienterweise. 
Du zeigtest Eifer, bliebst im Gleise, 
Du tatst es recht, du sorgtest weise: 
Sie schenken dir das Höchst' im Preise 
Zehntausend-, hunderttausendweise.« 

Erfüllt ist jeder Brauch zur Stunde, 
Es mahnten Glock' und Pauk' im Bunde, 
Der fromme Enkel ging zum Thron; 
Da konunt dem weisen Beter Kunde: 
»Satt ist des Weins der Geisterchor.« 
Da steht der Totenknab' empor 'X! 
Ihn leiten Pauk' und Glock hinaus; 
Die gnäd'gen Geister zieh'n nach Haus. 
Die Schar der Diener und der Frauen 
Trägt alles ungesäumt hinaus. 
Die Oheim' aber und die Brüder 
Vereinigt ein besondrer Schmaus. 

Spielleute treten ein, mit Tönen 
Den Folgesegen zu verschönen; 
Und sind die Speisen aufgetragen, 
Fühlt keiner Unlust, nur Behagen. 
Denn, satt von Speisen, satt vom Wein, 
Verneigt die Häupter grols und klein: 
*Die Geister werden, froh des Mahles, 
Lang' Leben unser'm Herrn verleih'n. 



') Der Totenknabe war ein lebender Vertreter des Verstorbenen, 
dem geopfert wurde. Man nahm dazu ein Kind, vorzugsweise einen 
Enkel, welcher, mit dem Oberkleide des von ihm vertretenen Ahnherrn 
bekleidet, alle Ehren desselben empfing (Anm. d. Übers.). 



— 58 — 

Ganz willig, ganz zur rechten Zeit 
Erfüllt er alles nach Gebühren. 
Ihr Söhn' und Enkel allzumal, 
Ermangelt nicht, es fortzuführen!« 

Eine Gattung für sich bilden die grofsen Oden, deren der 
zweite und dritte Abschnitt eine ganze Anzahl enthalten. Die 
innere und äulsere Lage des Reiches, das Elend des Volkes, die 
Milswirtschaft eines verrotteten Beamtentums, die Gewissenlosig- 
keit und der Wankelmut eines charakterlosen Herrschers, aber 
auch unheilvolle Naturerscheinungen, wie Sonnenfinsternis, Mifs- 
wachs und Dürre, die als gerechte Strafen des Himmels für ein 
schlechtes Regiment aufgefafst werden: das sind die Stoffe, die 
hier mit Vorliebe behandelt werden, tmd zwar mit schonungsloser 
Offenheit, mit einem Freimut, der selbst vor dem Throne nicht 
zurückweicht. Tritt mm das rein poetische Element in diesen 
Oden naturgemäls hinter den Inhalt zurück, so wirken nichts- 
destoweniger gerade sie durch das tiefe sittliche Pathos und die 
erhabene Schönheit des Ausdrucks oft wahrhaft ergreifend. I>er 
Umfang der meisten dieser Lieder verbietet es leider, das eben 
Gesagte durch eine Auswahl derselben zu erhärten; inmierhin 
möchte ich nicht unterlassen, wenigstens einige der bedeutendsten 
unter ihnen namhaft zu machen. Dazu gehört vor allem jene 
Ode (II, IV, 8), deren Verfasser, offenbar selbst ein hoher 
Würdenträger, die heillosen Zustände unter der Regierung des 
Königs Yu (781—770 v. Chr.) schildert, der, seiner Nebenfrau 
Pao-shi gegenüber gänzlich machtlos, das Reich an den Rand 
des Abgrunds führt. Es wird darin zunächst geschildert, wie 
Verleumder und gewissenlose Beamte, durchweg Kreaturen jener 
Pao-shi, ihre Gewalt milsbrauchen , wie das Volk durch 
Tyrannei geknechtet wird und Handel und Wandel daniederliegen : 

Wenn sich der Brand ringsum erhebt, 
Wer kommt ihm dann nu't Löschen bei? 
Das ruhmvoll ehrenreiche Chou, 
Pao-shi führt seinen Sturz herbei. 

Dann fährt der Dichter, den König selbst apostrophierend, fort : 

Dies Ende liegt mir stets im Sinn; 
Noch, von der Regennot umschlungen, 
Und da der Wagen schon bepackt, 
Weg wirist du deine Wagenrungen. 
Stürzt aber deine Ladung um. 
So rufst du: Herr, mir beigesprungen I 



— 59 — 

Würfst deine Rungen du nicht weg, 
Du würdest deinen Speichen frommen; 
Gäbst du auf deinen Fuhrmann acht, 
Der Ladung blieb* ihr Sturz benommen; 
Zuletzt ums Schlinmiste kämst du hin; — 
Doch das ist dir nie beigekommen. 

Ehrliche Beamten^ die noch im Dienste sind, sehen sich den 
Verleumdungen von Spionen ausgesetzt, und während oben Üppig- 
keit und Wohlleben herrschen, verschmachtet das Volk im Elend : 

Dem Volk ist nicht sein Tagsbedarf gelassen. 
Der Himmel schlägt mit Not die Massen; 
Und halten's noch die Reichen aus, — 
Weh\ wer allein steht und verlassen! 

Das gleiche Thema wird in dem Liede behandelt, das in 

V. von Strauls' Übersetzung den Titel: »Schlimme Zustände c 

trägt (III, III, 10) und das sich ebenfalls gegen die Pao-shi 

wendet : 

Vom Himmel wird der Aufruhr nicht gesandt. 
Vom Weibe konunt er in das Land. 
Nicht darf man Zucht noch Lehre suchen. 
Wo nur sind Weiber und Eunuchen. 

Ähnlichen Charakters ist auch »die Klage über das Elend 
im Reich, über die hohen Würdenträger und über den König« 
(II, IV, 10). Als Beispiel dieser Liedergattung sei hier das 
schöne »Klagelied auf die Dürre« (III, III, 4) angeführt, das 
einem gewissen Jeng Shuh, über den jedoch nichts Näheres 
bekannt ist, zugeschrieben wird, und dessen Worte dem König Süan 
(826— 780 v.Chr.) in den Mund gelegt werden. Dies sein Wortlaut: 

Hoch schimmerte die Milchstrafs* her, 
Und dreht am Himmel sich mit Prangen, 
Da sprach der König: Wehe, weh! 
Was haben wir Jetztlebenden begangen? 
Der Hinunel sendet Tod und Wirren, 
Stets wird des Hungerns mehr verhangen. 
Kein Geist ist, den ich nicht verehrt'. 
Kein Opfer, des ich mich erwehrt', 
Halbszepter, Szepter') sind zu Ende, — 
Weswegen werd' ich nicht gehört? 

^) Was Victor von Strauf s hier durch Szepter und Halbszepter 
wiedergibt, waren Abzeichen der Würde, die der König seinen Va- 
sallen bei deren Investitur verlieh; in welcher Art sie beim Opfer ver- 
wendet wurden, ist nicht bekannt. 



— 60 — 

Die Dürr' ist über Mafsen grofs; 
Stets wächst des heifsen Dunstes Wallen. 
Kein reines Opfer ward versäumt 
Vom Grenzherd bis zur Ahnenhallen. 
Auf-, abwärts opfert' ich, grub ein*); 
Ohn* Ehren blieb kein Geist von allen. 
Doch auch Hou-tsih^ vermochte nichts; 
Dem höchsten Herrn*) hat nichts gefallen. 
Des Landes Schwinden und Vergehen, 
O wär's auf mich allein gefallen! 

Die Dürr' ist über Malsen grofs, 

Ich kann's nicht von mir wälzen wollen. 

Ich bin erschrocken, bin entsetzt, 

Wie beim Gekrach, beim Donnerrollen. 

Vom Rest aus Chou's schwarzhaar'gem Volk 

Wird auch nicht einer bleiben sollen. 

Vor'm höchsten Herrn in Himmelshöh'n 

Werd' ich ja selbst nicht bleiben sollen. 

Wie fürchteten wir alle nicht, 

Dafs auch die Ahnen bald verschollen?^) 

Die Dürr' ist über Mafsen grofs, 
Und ihr ist nicht zu widersteh'n. 
Und diesem Brennen, diesem Glühen, 
Mir bleibt kein Ort ihm zu entgeh'n. 
Mein letztes Schicksal ist mir nahe, 
Kein Aufschau'n hilft, kein Hilfeflehen. 
Die vielen Fürsten, vor'gen Grofsen*)» 
Auch sie tun nichts, mir beizusteh'n. 
O Vater, Mutter, all' ihr Ahnen, 
Wie könnt ihr mich so leiden seh'n? 

Die Dürr' ist über Mafsen grofs, 
Verdorrend lechzen Flüss' und Flühen. 
Der Trocknis Dämon treibt es wild. 
Wie Feuerbrand, wie Flammensprühen. 



^) Die Opfergaben wurden nach vollzogener Darbringung ver- 
graben. 

*) Hou-tsih, der Ahnherr der Chou, wurde als Schutzpatron 
des Ackerbaues verehrt. 

*) Shang-ti, der höchste Herr, soviel wie Gott. 

*) Ihr Andenken wird erlöschen , weil keine Nachkommen mehr 
ihnen opfern können (Anm. d. Übers.). 

^) Die Geister der fürstlichen Vorfahren und ihrer. Minister 
(Anm. d. übers.). 



— 61 — 

Mein Herz ergrauset vor der Glut, 
Mein banges Herz ist wie im Glühen. 
Die vielen Fürsten, vor'gen Grofsen, 
Sie haben mir kein Ohr geliehen. 
O höchster Herr in Himmelshöh'n, 
Dafs du hinweg mich liefsest fliehen! 

Die Dürr' ist über Mafsen grofs; 

Ich ring' aus Furcht, mich's zu entbinden. 

Warum werd ich geschlagen mit der dürren Zeit? 

Ich kann die Ursach nicht ergründen. 

Gar zeitig betet' ich für's Jahr, 

VerspÄtet's nicht bei Erd' und Winden»). 

Der höchste Herr in Himmelshöh'n, 

Er läfst mich nicht Beachtung finden* 

Ehrt' ich die lichten Geister treu, 

Sollt' ihren Grimm ich nicht empfinden. 

Die Dürr' ist über Mafsen grofs; 
Die Ämter geh'n aus Rand und Band; 
O wie erschöpft sind all' die Grofsen, 
Wie lahm mein höchster Rat im Land, — 
Stallmeister, Gardenkommandant, 
Truchsefs, und wer mir sonst zur Hand, — 
Nicht einer, der nicht gern geholfen. 
Und nicht sich machtlos abgewandt. 
Ich schau empor zum hohen Himmel: 
Warum ward mir dies Leid gesandt? 

Ich schau empor zum hohen Himmel, 
Hell schimmert seiner Sterne Licht. 
Ihr Grofsen und ihr hohen Männer^ 
Ihr kämet glänzend, nichts gebricht; 
Doch mag das letzte Schicksal nahen. 
Entzieht euch der Vollbringung ^ nicht. 
Strebt ihr denn nur für mich alleine? 
Nein, ihr ermutigt jede Pflicht. 
Ich schau empor zum hohen Himmel, 
Ob seine Gnad' uns Trost verspricht. 

Der vierte Abschnitt endlich enthält^ wie schon erwähnt, grölsten- 
teils Opferlieder und einige Lobgesänge zu Ehren früherer Könige. 
Die Mehrzahl dieser Lieder, einunddreifsig an der Zahl, stanunen 



») Wörtlich: bei dem Erdboden und den Himmelsgegenden (deren 
Geistern geopfert wurde). 

*) Dem Vollbringen der Opfer und Gebete, wozu die hohen 
Würdenträger erschienen waren (Anm. d. Übers.). 



— 62 - 

aus der Zeit der Chou- Dynastie, nur fünf derselben sollen auf 
die Shang-DjTiastie zurückgehen. Die vier Lieder, die dem 
Fürstentume Lu angehören, sind wohl nur durch einen Zufall in 
diesen Abschnitt aufgenommen -worden; der Tradition zufolge soll 
Confucius sie in seinem Heimatsstaate Lu aufgefunden und 
dem Shi-king einverleibt haben. So interessant die Opfer- 
gesänge für die Kenntnis der Religion und des Kultus im alten 
China auch sind, so stehen sie doch an dichterischem Werte 
unstreitig hinter den übrigen Liedern des Shi-king zurück. 
Ich führe daher nur ein Beispiel (IV, I, 10) an, das vollkommen 
genügt, um Stil und Charakter dieser Liedergattung zu ver- 
anschaulichen. Es ist dies ein Lied, das zu Ehren des Hou-tsih, 
des mythischen Ahnherrn des Hauses Chou, der zugleich als 
Schutzpatron des Ackerbaues verehrt wurde, gesungen wurde: 

O auserwählter Hou-tsih! 

Du kannst dem Himmel dich gesellen. 

Getreide hätten unsre Völker 

Nicht ohne deine Stifterschaft. 

Du schenktest Weizen uns und Gerste, 

Vom Herrn bestimmt zur Nahrung aller. 

Und nicht war diese Grenze deine Schranke, 

In diesem Hia- Reich') ordnetest du Sitte. 

4. Das Li-ki oder die Aufzeichnungen über die 

Bräuche. 

Wie ich bereits bei einer früheren Gelegenheit bemerkt 
habe, geben uns die chinesischen Schriftzeichen oft durch ihre 
Bildung und Zusammensetzung über die ursprüngliche Bedeutung 
der durch sie wiedergegebenen Wörter in ähnlicher Weise Auf- 
schlufs wie die älteren Lautformen solcher Sprachen, die eine Laut- 
oder Buchstabenschrift besitzen. Das Schriftzeichen für das 
Wort tf, das hier durch > Bräuche« wiedergegeben ist, liefert ein 
Beispiel solcher Art. Es besteht nämlich aus zwei auch ge- 
sondert vorkommenden Bestandteilen, aus deren Verbindung sich 
die Grundbedeutung leicht erkennen läfst. Der eine derselben 
fungiert, wie das auch hier der Fall, als Klassenhaupt von Aus- 
drücken, die der Kategorie des religiösen Kultus angehören, wie 



') Das Reich wird hier so nach der Hia- Dynastie (angeblich 
2205—1766 V. Chr.) benannt. 



— 63 — 

>Geister«, »Opfere, »Betenc u. dergl. m. Das zweite Element 
wird zwar als selbständiges Zeichen auch im Sinne der Zusammen- 
setzimg in der Bedeutung »Ritenc , >Bräuchec gebraucht, be- 
deutet aber von Haus aus nur die Gefälse, die zu sakralen 
Zwecken verwendet wurden , mithin soviel wie Altar- oder 
Opfergefälse, Daraus ergibt sich mit einiger Sicherheit, dafe 
das Wort sich ursprünglich wohl ausschlielslich auf religiöse Riten 
bezogen habe. Soweit sich jedoch der Sprachgebrauch zurück- 
verfolgen läfst, findet man die Anwendung des Terminus // 
keineswegs auf das religiöse Gebiet beschränkt, vielmehr bedeutet 
derselbe, je nach dem Zusanmienhange, sowohl religiösen Ritus 
als auch höfisches Zeremoniell, aufserdem aber auch die Etikette 
der gesellschaftlichen Umgangsformen, das schickliche Verhalten 
in allen Lebenslagen und zugleich auch die jenem Verhalten 
.2U Grunde liegende innere Gesinnung, unseren Begriffen der Schick- 
lichkeit und Sittlichkeit entsprechend; // ist mithin im weitesten 
Umfange der Ausdruck für das schickliche innere und äufsere 
Verhalten im Verkehr mit anderen Menschen sowohl als auch 
mit den Manen Verstorbener und mit den Göttern. Die Wieder- 
gabe des Titels Li -ki durch > Auf zeichnimgen über die Bräuche« 
ist demgemäfs kein genaues Äquivalent für das chinesische 
Kompositum, sondern nur ein Notbehelf, mit dem wir uns in 
Ermangelung eines völlig gleichwertigen Ausdrucks begnügen 
müssen. Diese etwas weitschweifige Begriffsbestimmung war 
für das richtige Verständnis des in Rede stehenden Buches un- 
erläfsUch. 

Das chinesiche Altertiun hat drei Ritualsammlungen auf- 
zuweisen: das I-li, das Chou-li und das Li-ki, die ursprüng- 
lich sämtlich den King oder kanonischen Büchern beigezählt 
wurden. Erst seit die Einteilung in fünf kanonische und vier 
klassische Bücher zur allgemeinen Geltung gelangt ist, hat 
das Li-ki allein Aufnahme gefunden, während das I-li und 
das Chou-li allmählich unverdienterweise in Vergessenheit 
gerieten. 

Da in den Aussprüchen des Confucius zu wiederholten 
Malen der gröfste Nachdruck auf die Riten, ihr Studium, ihre 
Kenntnis und gewissenhafte Beobachtung gelegt wird, da wir 
femer bereits in den ältesten Denkmälern des chinesischen 
Schrifttums ein ausgebildetes und hochentwickeltes Ritualwesen 



— 64 — 

vor uns sehen, läfst sich wohl annehmen, dals es schon in vor- 
confucianischer Zeit schriftliche Sammlungen ritueller Vorschriften, 
oder doch zum mindesten eine solche, gegeben habe. Sprechen 
mithin Gründe der Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit einer 
solchen Voraussetzung, so fehlt doch leider ein tatsächlicher Be- 
weis für dieselbe, denn so oft Confucius von den Riten spricht, 
ist nie ersichtlich, ob er dabei lediglich an von altersher be- 
stehende Bräuche oder an eine Sammlung schriftlicher Satzimgen 
gedacht habe. Erst bei Meng-tsz6 stofsen wir ein paarmal 
auf Zitate, die zweifellos einem Ritualkodex entnommen sind, 
und, was noch wichtiger ist: die von ihm angeführten Stellen 
lassen sich im Li-ki nachweisen. Aber hier erhebt sich wieder 
eine neue Schwierigkeit: Sätze, die er im Zusammenhange an- 
führt und also wohl auch in diesem Zusammenhange gefunden 
hatte, finden sich im Li-j|:i in verschiedenen Büchern verstreut. 
Der Text, den Meng-tsz6 gekannt und benutzt hat, muls also 
eine von dem uns bekannten Li-ki abweichende Gestalt gehabt 
haben. Tatsache ist denn auch, daCs das Li-ki, wie wir es 
kennen, ein Produkt des zweiten Jahrhunderts unserer Zeit- 
rechnung ist, mithin einer sehr viel jüngeren Periode angehört 
als die übrigen kanonischen Bücher. 

Es liegt auf der Hand, dals das Edikt über die Bücher- 
verbrennung in erster Linie Schriften rituellen Inhalts ins Auge 
fassen mufste, da die durch ihr hohes Alter geheiligten Bräuche 
der lebendigste und zugleich der ehrwürdigste Ausdruck des 
Altertums waren : sie bildeten so recht eigentlich das Bindeglied 
zwischen Vergangenheit und Gegenwart und sorgten dafür, dals 
die Kontinuität der Überlieferung nicht zerrissen wurde. Sollte 
daher endgültig mit der Tradition gebrochen werden, so galt 
es vor allem, die alten Bräuche der Vergessenheit zu über- 
liefern. Auf diese Weise erklärt es sich, woher gerade die Texte 
rituellen Inhalts durch die Bücherverbrennung mehr gelitten 
haben als alle übrigen und daher in besonders beschädigtem 
Zustande auf uns gekommen sind. 

Was über die Entstehung des Li-ki bekannt ist, beschränkt 
sich auf folgende Daten. Bereits im Jahre 164 v. Chr. war auf 
Befehl des Kaisers Wen- ti der Traktat Wang-chi, »königliche 
Verordnungenc, redigiert worden, der das dritte Buch des Li-ki 
bildet. Um den Beginn der christlichen Ära stellte Tai Teh 



— 65 — 

eine Sammlung ritueller Texte zusanmien, die aus 85 Traktaten 
bestand und unter dem Namen Ta Tai ki, >die Aufzeichnungen 
des älteren Taic, bekannt ist. Sein jüngerer Vetter Tai Sh eng 
reduzierte die 85 Traktate auf 46 und schuf auf diese Weise die 
»Aufzeichnungen des jüngeren Tai«, Siao Tai ki, die auch 
unter dem Namen Li-ki bekannt sind imd im wesentlichen 
imserem Li-ki entsprechen. Im zweiten Jahrhundert n. Chr. fügte 
dann der Gelehrte Ma Jung (79 — 166) dieser Sanunlung noch 
drei Traktate hinzu , die das vierte, zwölfte und siebzehnte Buch 
unseres Li-ki bilden, doch enthält das Werk in der uns vorliegen- 
den Fassung trotzdem nicht 49, sondern nur 46 Bücher. So ist 
das ganze Werk eine Kompilation von Texten sehr verschiedenen 
Inhalts und Alters, die auch die Spuren ihrer Entstehung an dem 
gänzlichen Mangel eines einheitlichen Planes deutlich erkennen 
läfst. So folgt auf einen Traktat über Riten verschiedener Art ein 
solcher über Trauerriten, darauf einer über verschiedene Einzelheiten 
der Regierung, dann eine Art Festkalender, in welchem besonders 
von den Opfern gehandelt wird, die in jedem Monate dargebracht 
werden, nach diesem ein Traktat über die Erziehung des Thron- 
erben und dann wieder ein solcher über verschiedene Punkte der 
Trauerriten u. s. w. Trotz alledem bietet das Li-ki ein schier 
unerschöpflich reiches Material für die Erforschung des religiösen 
Ritus sowohl als auch der profanen Sitten und Bräuche im alten 
China. Wie selbst die geringfügigsten Äulserungen und Vor- 
kommnisse des täglichen Lebens an bestimmte Satzungen und 
Vorschriften gebunden sind, zeigt ein flüchtiger Blick in den 
Traktat Nei-tseh, »häusliche Regelnc, wo es von den Pflichten 
der Kinder gegen ihre Eltern u. a. heilst: 

Am Dienste der Eltern waschen sich die Söhne alle beim 
ersten Hahnschrei, spülen den Mund, kämmen sich, vimwinden das 
Haar mit einem Bande, stecken die Haarspange hinein, binden 
das Haar fest, stäuben es ab und setzen sich die Mütze auf, wobei 
sie die Mützenbänder festbinden und deren Enden herabhängen 
lassen. Dann legen sie das sackförmige Gewand und die ledernen 
Knieschienen an, umgürten sich und stecken ihr Notiztäfelchen 
in den Gürtel. Links und rechts befestigen sie die Gürtelgerät- 
schaften: links Taschentuch, Handtuch, Messer, einen kleinen 
Pfriemen, einen Schleifstein und den metallenen Brennspiegel (der 
ähnlich wie unser Brennglas zum Auffangen der Sonnenstrahlen 

Grube, Geschichte der chinesischen Litteratar. 5 



— 66 — 

verwendet wurde); rechts: Daumenring, Armschienen (beides beim 
Bogenschiefsen gebraucht), Futteral für den Schreibstift, Messer- 
futteral, einen Hornpfriemen (zum KnotenlOsen) und den hölzernen 
Feuerbohrer. Dann umwinden sie die Unterschenkel, ziehen die 
Schuhe an und binden diese fest. 

Die Frauen (der Söhne) dienen ihren Schwiegereltern, wie 
sie ihren Eltern dienen würden. Beim ersten Hahnschrei 
waschen sie sich alle, spülen den Mund, kämmen sich, umwinden 
das Haar mit einem Bande, stecken die Haarspange hinein, 
binden das Haar fest und legen Gewand und Gürtel an. Links 
am Gürtel hängen Taschentuch, Handtuch, Messer, Schleifstein, 
ein kleiner Pfriemen und der metallene Brennspiegel, rechts 
Nadelbüchse, Faden und Flockseide, beides in einem gestickten 
Täschchen befindlich, ein grolser Hornpfriemen und der hölzerne 
Feuerbohrer. Dann legen sie die Halsschnur mit dem Riech- 
täschchen um und binden sich die Schuhe fest. 

Alsdann begeben sie sich dorthin, wo sich die Eltern und 
Schwiegereltern befinden. Daselbst angelangt, fragen sie diese 
mit verhaltenem Atem und in freundlichem Tone, ob ihre Kleider 
auch warm seien. Wenn sie leidend sind oder einen Schmerz 
empfinden, wenn sie ein Beifsen oder Jucken fühlen, dann 
streicheln und reiben sie sie in ehrerbietiger Weise. Wenn 
sie (die Eltern) hinausgehen oder hereintreten, stützen sie sie 
ehrerbietig, bald vor, bald hinter ihnen schreitend. Wenn sie 
(die Söhne und deren Frauen) das Waschwasser hereinbringen, 
tragen die Jüngeren den Waschständer, die Älteren das Wasser; 
dann fragen sie, ob sie das Wasser eingiefsen dürfen, imd wenn 
das Waschen beendet ist, reichen sie das Handtuch hin. Sie 
erkundigen sich nach ihren Wünschen und beeilen sich, sie ehr- 
erbietig zu erfüllen. Sie tun es mit freundlicher Miene, um 
ihnen zu Gefallen zu sein. Reisbrühe, Hirsebrühe, Wein, Most, 
Gemüsesuppe, Bohnen, Weizen, Hanfsamen, Reis, Hirse, Sorghum, 
Klebreis bereiten sie ihnen je nach Wunsch und versüfsen die 
Speisen mit Jujuben, Kastanien, Zucker und Honig. Mit Reis- 
wasser, in welchem Kresse, Petersilie oder Ulmenschöfslinge, sei 
es frische, sei es getrocknete, abgekocht worden sind, machen 
sie die Speisen saftig, mit Fett und öl fetten sie sie an. Erst 
nachdem die Eltern und Schwiegereltern von dem Dargebotenen 
genossen haben, dürfen sie sich zurückziehen. € 



— 67 — 

Dann heilst es weiter: 

»Wenn sie (die Söhne und deren Frauen) sich in Gegenwart 
ihrer Eltern und Schwiegereltern befinden und diese ihnen einen 
Auftrag erteilen, so antworten sie: >Jac und entsprechen dem- 
selben in ehrerbietiger Weise, Wenn sie vortreten, zurücktreten, 
sich drehen und umwenden, beobachten sie ein vorsichtiges und 
ernstes Benehmen. Sie dürfen nicht rülpsen, niesen, husten, 
gähnen, sich recken, sich krumm halten oder anlehnen noch 
auch seitwärts blicken; sie dürfen nicht spucken noch sich 
schneuzen; wenn es kalt ist, dürfen sie nicht mehrere Kleider 
übereinander anziehen; wenn sie ein Jucken fühlen, dürfen sie 
sich nicht kratzen. Wenn es nicht einer besonderen Handlung 
zu Ehren geschieht (wie etwa beim Bogenschiefsen), dürfen sie 
nicht den Oberkörper entblöfsen, auch dürfen sie sich nicht 
aufschürzen, es sei denn, dals sie durch Wasser waten. Sie dürfen 
die Innenseite ihrer Alltagskleider und ihrer Bettdecken nicht 
sehen lassen, c — 

Als Schlüssel zum Verständnis der chinesischen Volksseele 
nimmt das Li-ki vielleicht die erste Stelle unter den Erzeug- 
nissen der gesamten Litteratur ein; seine Bedeutung liegt daher 
weit mehr auf sittengeschichtlichem als auf litterargeschicht- 
lichem Gebiete. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, dafs 
die zahllosen und minutiösen Vorschriften des Li-ki dem Volke 
derart in Fleisch und Blut übergegangen und zur eigensten 
Natur geworden sind, dafs der chinesische Volkscharakter ihnen 
geradezu seinen eigentümlichen Habitus verdankt. Die sprich- 
wörtliche UnWahrhaftigkeit des chinesischen Wesens, das Erstickt- 
werden der inneren Empfindung durch äufsere Formen, das Vor- 
walten einer Schablone, die keine rechte Individualität, keine 
subjektive Ursprünglichkeit zur Geltung konmien läfst, sind Er- 
scheinungen, die, wenn nicht ausschliefslich, so doch zum grofsen 
Teile dem nivellierenden Einflüsse des allbeherrschenden Ritualis- 
mus zuzuschreiben sind. Der ursprüngliche Unterschied zwischen 
sittlicher Verantwortung und äulserem Drill ist dem Volks- 
bewufstsein abhanden gekonunen, und an die Stelle des sitt- 
lichen Bewulstseins das Schicklichkeitsgefühl , an die Stelle der 
Moralität ein kalter, starrer Ritualismus getreten. 



— 68 — 

5. Ch'un-ts'iu, »Frühling und Herbste, die Chronik 

des Staates Lu., 

Mao K*i-ling, ein chinesischer Gelehrter des 17. Jahr- 
hunderts, sagt in seinem Kommentar zum Ch'un-ts^u: »Wenn 
im Altertum die Historiographen die Begebenheiten aufzeichneten, 
pflegten sie stets zuvörderst Jahr, Monat, Tag und Stunde fest- 
zustellen und dann die Begebenheiten unter diese Rubriken ein- 
zutragen. Das nannten sie Annalen. So mulste für das, was 
unter jedem Jahre verzeichnet wurde, stets die Jahreszeit an- 
gegeben werden. Indem sie dann dem Ganzen den Namen Ch^un- 
ts'iu gaben, konnte der Frühling zugleich den Sonmier, der 
Herbst zugleich den Winter mit einbegreifen.« ^) Nach dieser 
durchaus plausibeln Erklärung bedeutet mithin Ch*un-ts*iu, 
»Frühling und Herbst« — ein Ausdruck der übrigens schon vor 
der confucianischen Zeit in diesem Sinne gebräuchlich war — , 
als pars pro toto für alle vier Jahreszeiten geltend, soviel wie 
Annalen oder Chronik. 

Das Ch'un-tsMu ist das einzige unter den kanonischen 
Büchern, dessen Autorschaft dem Confucius zugeschrieben 
wird und vermutlich auch — freilich, wie wir sogleich sehen 
werden, wohl in einem bedeutend erweiterten Sinne — das einzige 
Buch überhaupt, das von des Meisters Hand herrührt. Diese 
Tatsache könnte auf den ersten Blick genügen, um das hohe 
Ansehen zu erklären, dessen gerade dieses Buch sich in den Augen 
der Chinesen erfreut. Schon anderthalb Jahrhunderte nach dem 
Tode des Confucius wird das Werk den gigantischen Taten 
des Kaisers Yü als ebenbürtige Leistung an die Seite gestellt. 
»Einst regelte Yü die überströmenden Wasser,« sagt Meng-tsz6 
(III, 11, IX, 11), »und das Reich hatte Frieden. Chou-kung 
unterwarf die Barbarenstänmie des Westens und Nordens und ver- 
trieb die wilden Tiere, und das Volk hatte Ruhe. K'ung-tsz6 
vollendete das Ch'un-ts'iu, und die aufrührerischen Minister 
und rebellischen Söhne gerieten in Schrecken.« Ja, Confucius 
selbst scheint eine aufserordentlich hohe Meinung von seinem Werke 
gehabt zu haben, wenn wir die Äulserung als authentisch an- 
sehen dürfen, die Meng-tszö ihm in den Mund legt: »Woran 
man mich erkennen wird, das ist das Ch'un-ts'iu; weswegen 

*) Legge, Chinese Classics V, p. 8. 



— 69 — 

man mich verurteilen wird, das ist das Ch*un-ts'iu« (III, II, 
IX, 8.) Demnach sollte man ein Geschichtswerk grolsen Stiles 
oder doch zum mindesten ein Geistesprodukt von ausgesprochen 
individuellem Gepräge erwarten, in welchem sich Wesen und 
Anschauungsweise des Meisters mit besonderer Schärfe und 
Klarheit widerspiegeln ; in jedem Falle aber ein reiches Quellen- 
material, da sich Confucius in dem Ch*un-ts*iu auf die 
Geschichte seines Heimatsstaates Lu vom Jahre 722 bis zum 
Jahre 481 v. Chr. beschränkt, für die ihm das fürstliche Archiv 
zu Gebote stand. Statt dessen finden wir ein nach Inhalt imd 
Form gleich dürftiges Machwerk, das nichts anderes bietet als 
eine chronologisch geordnete Sammlung kurzer Notizen über 
eine Reihe äufserer Begebenheiten in der denkbar knappsten 
Fassung. So wortkarg ist der Verfasser, dafs er nie auf Neben- 
umstände eingeht, nie einen erzählenden Ton anschlägt, geschweige 
denn das geringste Gewicht auf das ästhetische Moment der 
Darstellung legt. Chavannes meint*), um die Begeisterung 
der Chinesen für das Ch*un-ts*iu zu verstehen, müsse man in 
Betracht ziehen, dafs die Kunst der geschichtlichen Darstellung 
sich bei ihnen viel langsamer als in Griechenland entwickelt und 
zudem nie die gleiche Höhe erreicht habe. Das Ch*un-ts*iu 
sei ihnen bewundernswert erschienen, weil es ihnen zum ersten 
Male ein klares und deutliches Bild einer geschichtlichen Periode 
von 240 Jahren geboten habe. Wenn auch bereits ähnliche 
Werke in anderen Königreichen, wie z. B. in Ch'u und Tsin^ 
unternommen worden waren, so habe der Erfolg des Ch*un-ts4u 
diese unvollkommenen Versuche in Vergessenheit geraten lassen. 
Ich mufs gestehen, dafs mir diese Erklärung nicht recht über- 
zeugend erscheint, denn erstens lä Ist sich ein noch unvollkommenerer 
Versuch dieser Art als das Ch'un-ts'iu kaum denken: es 
entspricht bereits vollauf den höchsten Anforderungen an 
litterarische Un Vollkommenheit. Femer wissen wir, dafs das 
Archiv von Chou eine ganze Sammlung historischer Auf- 
zeichnungen enthielt, deren sich Confucius nach dem Zeugnisse 
des Sz6-ma Ts*ien bei der Herstellimg des Ch^un-ts'iu 
bedient hat. Über den höheren oder geringeren Grad der 
Vollkommenheit jener Aufzeichnungen können wir uns jedoch 



') Les M^m. bist, de Se-ma Ts*ien I, p. CXLVI. 



— 70 — 

kein Urteil erlauben, da sie bei der Bücherverbrennung sämtlich 
zu Grunde gegangen sind. Derselbe Sz6-ma Ts*ien sagt 
nämlich in dieser Beziehung: »Nachdem Ts'in*) seine Absicht 
erreicht (d. h. das ganze Reich unter seine Botmäfsigkeit ge* 
bracht) hatte, liefs er das Shi-king und Shu-king im Reiche 
verbrennen und die historischen Aufzeichnungen der Lehens- 
fürsten erst recht, weil sie Tadel und Kritik enthielten '). Wenn 
das Shi-king und Shu-king hernach wieder ans Licht kamen^ 
so ist das daraus zu erklären, dals sie vielfach in Privathäusem 
aufbewahrt wurden; die historischen Aufzeichnungen hingegen 
wurden ausschliefslich im Hause Chou aufbewahrt und sind 
daher zu Grunde gegangen. Wie beklagenswert! Wie be- 
klagenswert !c (Shi-ki XIII, p. 2 a.) Und wenn man endlich 
erwägt, dafs die Chinesen einerseits bereits lange vor der 
confucianischen Zeit Werke von so hoher Form^Ilendung , wie 
die Reden des Shu-king und die Lieder des Shi-king, hervor- 
gebracht und anderseits schon sehr bald nach dem Tode des 
Confucius so sprachgewaltige Schriftsteller, wie Meng-tsz6, 
Chuang-tszg, Siün-tsz6, Yang Chu, Moh Tih u.a.m., 
zu verzeichnen hatten, so ist nicht recht einzusehen, was uns 
berechtigt, ihre Befähigung zu einer vollkommeneren Darstellung 
in Zweifel zu ziehen. Ich bin vielmehr der Ansicht, dafs das Ch * un - 
t s * i u sein hohes Ansehen, abgesehen von dem Namen und Nimbus 
des Confucius, in erster Linie dem zugehörigen, unter dem 
Namen Tso-chuan bekannten Kommentare verdankt, durch 
den es zu einer Geschichtsquelle ersten Ranges geworden ist. 

Hier ergeben sich indessen wieder neue Schwierigkeiten, die 
endgültig zu beseitigen wohl kaum jemals gelingen wird. Je 
verworrener jedoch der Knäuel, um so berechtigter wenigstens 
der Versuch, ihn zu entwirren. 

In den »Geschichtlichen Denkwürdigkeiten« des Szf-ma 
Ts*ien lesen wir®): »Die Staaten TsM, Tsin, Ts'in und Ch*u 
waren zu Beginn der Chou- Dynastie höchst unbedeutend. Der eine 
von ihnen umfafste hundert, der andere fünfzig Li (chinesische 

') Damit ist der Ts'in-Kaiser Shi-hoang-ti gemeint, 

') D. h. weil sie Anlafs boten, an dem Vorgehen des Shi-hoang-ti 

Kritik und Tadel zu üben. 

*) Shi-ki XIV, p. 1^ bis 2* der mir vorliegenden ja];>anischen 

Ausgabe. 



— 71 — 

Meilen), Aber Tsin verschanzte sich in den drei Ho (Ho-kien, 
Ho-nan und Ho-nei), Ts*i reichte bis ans östliche Meer, 
Ch*u hatte denFluIsHoai zur Grenze, undTs^in machte sich 
die feste Lage von Yung zu nutze. Die vier Staaten erhoben 
sich der Reihe nach zur Blüte und errangen, einer nach dem 
anderen, die Hegemonie. Die von den Königen Wen und Wu 
mit grolsen Gebieten belehnten Vasallen gerieten sämtlich in 
Furcht und unterwarfen sich ihnen. Daher wandte sichK^ung- 
t s z 6 , in der Absicht, die Pflichten des Königs ins rechte Licht zu 
setzen, an mehr denn siebzig Fürsten, aber keiner von ihnen war im 
Stande, ihn zu verwenden. Da richtete er den Blick westwärts auf 
das Haus Chou und untersuchte die alten Berichte der historischen 
Aufzeichnungen. Das Fürstentum Lu zum Ausgangspunkt 
nehmend, stellte er das Ch*un-ts*iu zusammen. Nach oben 
hin verzeichnete? er [die Regierung des Fürsten] Yin, nach unten 
hin gelangte er bis zu der Festnahme des Einhorns unter dem 
Fürsten Ngai^). Er verkürzte die Ausdrucksweise, entfernte 
die Pleonasmen und Wiederholungen und stellte dadurch ein 
gerechtes Verfahren fest*). Indem die Pflichten des Königs klar- 
gestellt waren, wurden die menschlichen Angelegenheiten ge- 
fördert. Seine siebzig Schüler erhielten auf mündlichem Wege 
seine Hinweise in Betreff derjenigen Ausdrücke, die zu tadeln, 
zu loben oder auszumerzen waren, deren schriftlicher Form man 
das jedoch nicht ansehen konnte. Aus Besorgnis, dals die Schüler, 
die vielfach abweichenden Ansichten huldigten, ein jeder an 
seiner Auffassung festhalten möchten, erörterte Tso K'iu- 
ming, ein Edler aus Lu, infolgedessen auf Grund der histo- 
rischen Aufzeichnungen des K^ung-tszS dessen Aussprüche 
und verfafste das Ch'un-ts^iu des Tso.c Aus diesem Be- 
richte erfahren wir dreierlei. Erstens, dals Confucius sich 



') D. h. er begann seine Aufzeichnungen mit der Regierung des 
Fürsten Yin von Lu (721—711 v. Chr.) und führte sie bis zur Fest- 
nahme des Einhorns im Jahre 481, dem 14. Regierungsjahre des Fürsten 
Ngai. Confucius deutete das Erscheinen des Einhorns (lin) infolge 
der dasselbe begleitenden Nebenumstände als ein Zeichen von böser 
Vorbedeutung. 

*) Vielleicht besser zu übersetzen durch : >und stellte dadurch die 
Methode richtiger Deutung fest«. 



— 72 — 

bei der Abfassung des Ch*un-ts*iu ebensowenig wie bei seiner 
Sammlung und Redaktion der alten Litteraturdenkmäler durch 
wissenschaftlichen Forschungstrieb, sondern durch politische und 
ethische Gesichtspimkte leiten liefe. Diese Angabe bestätigt uns, 
was bereits oben zur Charakteristik des Confucius und seiner 
litterarischen und Lehrtätigkeit gesagt worden ist. Zweitens, 
dafe er historische Aufzeichnungen hinterlassen habe, deren sich 
Tso K*iu-ming als Grundlage für seinen Kommentar bediente, 
und die ohne weiteres mit dem dem Confucius zugeschriebenen 
Ch'un-tsMuzu identifizieren keineswegs ein unbedingt zwingen- 
der Grund vorliegt. Und endlich drittens, dals nach Sz6-ma 
Ts*iens Ansicht Tso K^iu-ming der Verfasser des Tso- 
chuan sei. Für uns ist vor allem die letztgenannte Angabe 
von Interesse. Wer war Tso K'iu-ming? — Dafs er ein 
Edler aus Lu gewesen sei, wie Sz6-ma Ts'ien versichert, 
ohne jedoch seine Behauptung zu begründen, besagt herzlich 
wenig. Die Gelehrten aus der Zeit der Han -Dynastie gehen 
einen Schritt weiter, indem sie ihn mit einem angeblichen Zeit- 
genossen des Confucius identifizieren, der während der Jahre 
509—467 V. Chr. gewirkt haben soll, und der im Lun-yü ein 
einziges Mal von Confucius erwähnt wird. Die betreffende 
Stelle (Lun-yü V, 24) lautet: »Der Meister sprach: Glatte 
Reden, eine gefällige Miene und übertriebene Höflichkeit: Tso 
K M u - m i n g schämte sich dessen ; ich schäme mich dessen 
gleichfalls. Seinen Hals zu verbergen und den Freund zu 
spielen: Tso K*iu-ming schämte sich dessen; ich schäme mich 
dessen gleichfalls.« Da das Chinesische bekanntlich die Zeiten 
des Verbums nicht unterscheidet, so läfst sich auf Grund des 
Originals auch nicht entscheiden, ob das Verbum »sich schämen c 
in diesem Falle in der Gegenwart oder in der Vergangenheit 
aufzufassen, mit anderen Worten: ob unter Tso KMu-ming 
ein Zeitgenosse des Confucius oder vielleicht eine Persönlich- 
keit der Vorzeit zu verstehen sei. Nach der landläufigen Auf- 
fassung soll er freilich ein Schüler des Weisen gewesen sein ; da 
wir jedoch keinerlei authentische Berichte über seine Persönlich- 
keit besitzen, bleibt, um über die Wahrscheinlichkeit oder über- 
haupt die Möglichkeit einer solchen Annahme urteilen zu können, 
nichts anderes übrig, als das Tso-chuan auf seinen Inhalt, seine 
Darstellungsweise, sowie auch auf die Geschichte des Textes hin 



— 73 - 

zu prüfen und auf diese Weise an Stelle der fehlenden äulseren 
eventuell innere Gründe sprechen zu lassen. 

Fast jedem einzelnen Satze des Ch'un-ts*iu fügt das 
Tso-chuan einen ausführlichen Exkurs hinzu, der in der Regel 
nicht nur die im Ch'un-ts^u kurz vermerkten Begebenheiten 
durch einen Bericht über die begleitenden Nebenumstände ergänzt 
und so den geschichtlichen Zusammenhang herstellt, sondern zu- 
gleich auch einen synchronistischen Überblick über die Ereignisse 
in den übrigen Teilstaaten gibt, wenigstens soweit durch sie die 
Geschicke des Fürstentums Lu beeinflufst wurden. So bietet es 
unendlich viel mehr, als der Titel erwarten läfst : über den engen 
Rahmen eines blofsen Kommentars hinausgehend, erweitert es 
die dürre Chronik eines unbedeutenden Duodezstaates zu einer 
Geschichte nahezu des ganzen damaligen Reiches. Aber nicht 
blols exegetisch verhält sich der Verfasser zu seinem Texte — er 
steht ihm auch kritisch gegenüber, indem er in vielen Fällen 
von ihm abweicht, in manchen ihn berichtigt. Hier finden wir 
nicht mehr die Teilnahmlosigkeit des Chronisten, der sich darauf 
beschränkt, Tatsachen zu registrieren, ohne nach ihrem inneren, 
kausalen und ethischen Zusammenhange zu fragen ; vielmehr wird 
Personen und Ereignissen reichlich Lob und Tadel gespendet, je 
nachdem sie den sittlichen Forderungen des Verfassers entsprechen 
oder nicht. Auch formell, in Ausdruck und Darstellung, nimmt 
das Werk einen hohen Rang in der zeitgenössischen Litteratur 
ein. Der Mann, der ein solches Werk hervorbrachte, mulste 
nicht nur ein bedeutender Schriftsteller sein, der zugleich über 
einen für damalige Zeiten einzig dastehenden Reichtum an Quellen- 
material verfügte, — er mufs auch ein ungewöhnlich hohes persön- 
liches Ansehen genossen haben, um, wie er es tut, über Menschen 
und Dinge zu Gericht sitzen zu dürfen. Wäre er wirklich ein 
Schüler des Confucius gewesen, so hätte uns die Überlieferung 
sicherlich über seine Person und seine Schicksale nicht so gänz- 
lich im Dunkeln gelassen; aber auch abgesehen davon ist es 
bei der Stellung, die Confucius seinen Jüngern gegenüber ein- 
nahm, schlechterdings undenkbar, dafs er als solcher gewagt 
haben sollte, von den Aussprüchen und Meinungen seines Meisters 
abzuweichen imd gar sie zu kritisieren. 

Um jedoch von diesem rein negativen Ergebnis zu einem 
mehr positiven zu gelangen, müssen wir, wie mir scheint, einen 



— 74 — 

Schritt weiter gehen und der Frage nähertreten, ob wir denn 
wirklich unbedingt genötigt sind, den TsoK'iu-ming, von 
dem doch aufser dem Namen nichts Sicheres bekannt ist, ftlr den 
Verfasser des Tso-chuan zu halten; und da kann ich hier nur 
kurz wiederholen, was ich bereits an anderer Stelle über diesen 
Pimkt ausgeführt habe*). Wenn der Titel Tso-chuan durch 
»Kommentar des Tsoc wiedergegeben wird, so geschieht das 
unter der stillschweigenden Voraussetzung, da£s Tso, der Über- 
lieferung gemäfs, ein Eigenname sei. Aber von der Überlieferung 
abgesehen, die uns ohnehin auf halbem Wege im Stiche lälst, 
liegt für diese Annahme durchaus kein absolut zwingender Grund 
vor. Das Wort tso ist in der Bedeutung »linkere, »linksc ein 
ganz alltäglicher Ausdruck. Da nun die Chinesen bekanntlich 
in senkrechten, von rechts nach links aufeinander folgenden Zeilen 
schreiben, so stehen Anmerkungen uäd Zusätze nicht, wie bei 
uns, unter, sondern hinter dem Texte, d. h. in diesem Falle links 
von demselben. Fassen wir also im gegebenen Falle tso in 
diesem Sinne auf, so erhalten wir für den Titel Tso-chuan die 
Bedeutung: >der linke Kommentar« oder »der Kommentar links 
vom Texte«. 

Damit wären wir aber der Frage nach dem Verfasser zu- 
nächst noch um keinen Schritt nähergekommen. Da derselbe, 
wie gesagt, unmöglich ein Schüler oder Nachfolger des 
Confucius — sei es ein unmittelbarer oder ein mittelbarer — 
gewesen sein kann, so bleibt wohl nur die Möglichkeit übrig, 
dafs jener Kommentar dem Meister selbst zuzuschreiben sei. 
Wollte man gegen diese, auf den ersten Blick gewagt erscheinende 
Annahme geltend machen, dafs Confucius unmöglich seinen 
eigenen Tod berichtet haben könne, der doch im Tso-chuan 
erwähnt sei, so ist es nicht schwer, diesen Einwand zu entkräften. 
Wir wissen, dafs das Tso-chuan erst in der ersten Hälfte des 
zweiten Jahrhunderts v. Chr. ans Licht der Öffentlichkeit ge- 
kommen ist. Dafs ' es vielfach mit späteren Zusätzen und 
Interpolationen versetzt ist, ist ebenfalls eine allgemein an- 
erkannte Tatsache und erklärlich genug. Warum sollte es also 
nicht auch während der drei Jahrhunderte, die zwischen dem 
Tode des Meisters und der Herausgabe des Werkes durch C hang 



') Die klassische Litteratur der Chinesen, a. a. O. S. 370 ff. 



- 75 — 

Ts*ang liegen, über den Schlufs hinaus von fremder Hand durch 
Nachträge fortgeführt und ergänzt worden sein ? Wenn wir aber 
den Confucius als den Verfasser annehmen, so würde dadurch 
in der Tat auch manches seine Erklärung finden, was sonst un- 
verständlich bleiben müfste. Das Tso-chuan beschränkt sich 
nicht, wie das Ch*un-tsMu, auf das Fürstentum Lu, sondern 
zieht fast das ganze damalige Reich in den Kreis seiner Be- 
trachtung ; sein Autor mu(s daher sehr umfassende Quellenstudien 
gemacht haben, um den inmierhin umfangreichen Stoff so bis in 
seine Einzelheiten beherrschen zu können. Von Confucius 
aber wissen wir, dafs er das Staatsarchiv von Chou benutzt hat, 
und dürfen wohl annehmen, dafs er während seiner langen Wander- 
jahre auch in anderen, fürstlichen Archiven Forschungen an- 
gestellt habe. In dieser Beziehung ist auch eine von Legge*) 
zitierte chinesische Notiz aus der Zeit der H an- Dynastie von 
Interesse, nach welcher Confucius, nachdem er den officiellen 
Auftrag erhalten, die Annalen zu verfassen, den Tsz6-hia 
und einige andere seiner Schüler ausgesandt hätte, lun nach 
den historischen Aufzeichnungen von Chou Umschau zu 
halten. Dieselben sollen daraufhin kostbare Schriftwerke aus 
120 Staaten aufgefunden haben. Legge bemerkt dazu, das sei 
eine der willkürlichen Behauptungen (wild Statements), wie wir 
sie bei vielen Schriftstellern der Han- imd Ts in -Zeit fänden. 
Es sei in dem Werke nichts enthalten, was zu der Annahme 
nötige, als seien irgend welche andere Aufzeichnungen aulser 
denen des Staates Lu dabei zu Rate gezogen worden. Diese 
Bemerkung ist vollkommen zutreffend, solange man nur das 
Ch^un-tsMu im Auge hat; sobald wir die Angabe jedoch auf 
das Tso-chuan beziehen, haben wir gar keinen Grund, an 
ihrer Richtigkeit zu zweifeln. Aufserdem spricht Sz6-ma Ts* ien, 
wie wir sahen (oben S. 71) von >historischen Aufzeichnungenc 
des Confucius, die keineswegs mit dem Ch*un-ts*iu 
identisch zu sein brauchen. Was hingegen den Text des Ch^un- 
tsMu anlangt, so heifst es in dem obenangeführten Zitate aus 
Sz6-ma Ts^iens Geschichtlichen Denkwürdigkeiten 
ausdrücklich, Confucius habe das Ch^un-tsMu aus den ihm 
zugänglichen Quellen zusammengestellt, woraus wir, wie 



') Chin. Classics, V, p. 9. 



— 76 « 

schon Chavannes^) mit Recht hervorhebt, noch keineswegs 
zu schlielsen brauchen, dals er es auch verfalst habe. Höchst- 
wahrscheinlich ist der Text des Ch^un-ts^iu nichts anderes als 
eine von Confucius angefertigte Abschrift oder vielleicht auch 
nur ein Auszug aus der Staatschronik von Lu, und wir dürfen 
daher wohl annehmen, dals Confucius sich der kurzen Sätze des 
Ch^un-tsMu gleichsam nur als eines Fadens bedienen wollte, um 
an ihm die Begebenheiten, die den Inhalt des Tso-chu an bilden, 
aufzureihen. Lassen wir nun aber die Möglichkeit gelten, dals das 
Tso-chuan dem Meister selbst zuzuschreiben sei, so wird auch 
jene vorhin zitierte, dem Confucius von Meng-tsze in den 
Mund gelegte Aulserung, auf das Tso-chuan bezogen, ebenso 
begreiflich wie berechtigt erscheinen, während sie sich im Hinblick 
auf das Ch^un-ts4u mit seiner tms sonst bekannten Selbst- 
erkenntnis und Bescheidenheit kaum in* Einklang bringen lielse. 
Von diesem Standpunkte ausgehend, hätten wir es zwar dem 
Confucius zu verdanken, dals ims die Chronik von Lu erhalten 
geblieben ist, ohne daüs wir jedoch in ihr sein Werk im Sinne 
geistigen Eigentums zu erblicken hätten. Und wenn Confucius 
von dem Ch*un-ts*iu als von seinem Werke spricht, so mag 
er damit sehr wohl Text und Kommentar zusammengenommen 
gemeint haben, wie ja auch heute der eine nie ohne den anderen 
herausgegeben zu werden pflegt. 

Ich bin auf diese Frage mit einer Ausführlichkeit eingegangen, 
die vielleicht in einem nicht für Fachleute bestimmten Buche 
unangebracht erscheinen könnte. Indessen glaube ich, dals es 
einmal manchen meiner Leser nicht unwillkommen sein wird, 
wenn sie hier nicht nur mit den gesicherten Resultaten der 
Wissenschaft bekannt gemacht werden, sondern auch hin und 
wieder einen Einblick in den Gang der Forschung über noch 
schwebende Fragen erhalten ; dann aber gewinnt auch durch die 
vorgetragene Hypothese — und nur als solche möchte ich sie 
mit allem Vorbehalt betrachtet wissen — die Gestalt des Con- 
fucius eine völlig neue Beleuchtung: der grofse Reformator, 
den wir bisher nur als Überlieferer gekannt haben, tritt uns mit 
einem Schlage zugleich als der Begründer der chinesischen Ge- 
schichtschreibung entgegen. Vor allem aber gewährt uns diese 
Hypothese die Möglichkeit, den peinlichen Gegensatz zwischen 



') 1. c. III, p. 18, n. 6. 



— 77 — 

dem objektiven Werte des Ch'un-ts*iu und der subjektiven 
Wertschätzung des Werkes durch Confucius aufzuheben. 

Ein Beispiel genüge, um das Verhältnis, in welchem das 
Ch'un-ts^iu und das Tso-chuan nach Inhalt und Umfang 
sowohl wie nach Darstellimg und Behandlung des Gegenstandes 
zueinander stehen, zu veranschaulichen. 

Unter dem zweiten Regierungsjahre des Fürsten Stian von 
Lu (607 v. Chr.) berichtet das Ch*un-ts'iu lakonisch: »Im 
Herbste, im neunten Monate, am Tage Yih-ch*ou^) tötete C h a o 
Tun von Tsin seinen Fürsten I^kao.c Dazu gibt das Tso- 
chuan folgenden Exkurs : »Der Fürst L i n g *) von Tsin benahm 
sich nicht als Fürst. Er erschwerte die Abgaben, mn seine Wände 
mit Schnitzereien schmücken zu können, er schofs vom Turme 
aus mit seiner Armbrust auf die Menschen und beobachtete, wie 
sie seinen Kugeln auszuweichen suchten. Als einmal sein Koch 
die Bärentatzen') nicht gargekocht hatte, liefs er ihn töten und, 
in einen Korb gelegt, von Frauen am Palaste vorbeitragen. 
Chao Tun und Shi Ki hatten seine Hand erblickt (die aus 
dem Korbe heraushing), und nachdem sie sich über den Sach- 
verhalt erkundigt hatten, nahmen sie sich die Angelegenheit 
derart zu Herzen, dafs sie beschlossen, deshalb vorstellig zu 
werden. Shi Ki sagte (zu Chao Tun): ,Wenn deine War- 
nung nicht angenommen wird, wird niemand sie erneuern wollen. 
Lafs mich zuerst vorgehen; wenn meine Warnung kein Gehör 
findet, kannst du dein Heil versuchen.' Erst nachdem er zum 
dritten Male bis zur Mittelhalle vorgedrungen war, bemerkte ihn 
der Fürst und sprach: ,Ich bin mir meiner Fehler bewufst und 
will sie gutmachen.* Shi Ki verneigte sich, indem er mit der 
Stirn den Boden berührte, und sprach : ,Wer unter den Menschen 
hätte keine Fehler? Wenn man jedoch im stände ist, einen be- 
gangenen Fehler wieder gutzumachen, so gibt es nichts Besseres. 
Im Shi-king heilst es: 

Es mangelt nie beim Anbeginn, 
Doch wenige bestehn am Ende*). 



^) D. h. am 27. Tage des neunten Monats. 

^) Ling ist der postume oder Tempelname des Fürsten I-kao. 

') Bärentatzen waren ein beliebter Leckerbissen. 

*) Shi-king IHm, I. 



— 78 — 

Ist dem so, dann sind derer, die ihre Fehler zu bessern ver- 
mögen, wohl nur wenige. Wenn aber du, Fürst, im stände bist, 
,am Ende zu bestehen^, so sind damit die Altäre der Landes- 
götter gesichert. Würden es dann etwa nur deine Minister sein, 
die dir vertrauen? — An einer anderen Stelle heilst es: 

Ist in des Königs Kleid ein Rils, 

So weils auch Chung Shan-fu ihn wieder zuzuwehen*). 

Wenn du, o Fürst, im stände bist, deine Fehler gutzu- 
machen, dann wird dein Gewand nie verderben.' 

Nichtsdestoweniger änderte der Fürst sich nicht. Süan- 
tszfe'*) warnte ihn zu wiederholten Malen, bis der Fürst dessen 
überdrüssig ward und den Ch^u Mi beauftragte, ihn zu er- 
morden. Als dieser sich in aller Frühe dorthin begab, fand er 
die Tür des Schlaf gemachs offen. Chao Tun hatte sein Staats- 
gewand angelegt, um zur Audienz zu gehen ; da es jedoch noch 
früh war, sals er da und benutzte die Zeit zu einem Schläfchen. 
C h ' u Mi trat zurück und sprach seufzend : ,Ohne die schuldige 
Ehrerbietung (vor dem Fürsten) zu vergessen, ist er doch der 
Hort des Volkes. Den Hort des Volkes zu töten wäre illoyal; 
den Befehl des Fürsten aufser acht zu lassen wäre treulos. Da 
mir nur eins von beiden übrig bleibt, will ich lieber sterbend Mit 
diesen Worten warf er sich gegen einen Akazienbaum und starb. 

Im Herbste, im neunten Monate, lud der Fürst von Tsin 
den Chao Tun zu einem Trinkgelage ein. Er hatte Ge- 
panzerte in einem Hinterhalt, die ihn überfallen sollten. T^i-mi 
Mi ng, der zur Rechten des ChaoTunim Wagen gesessen hatte, 
erfuhr es, eilte (in die Halle hinauf) und sprach: ,Es schickt 
sich nicht, dals ein Untertan, der am Mahle seines Fürsten teil- 
nimmt, mehr denn drei Becher trinke!' Mit diesen Worten zog 
er ihn hinab. Der Fürst hetzte seinen grolsen Köter auf ihn, 
aber T*i-mi Ming tötete ihn mit einem Schlage. Chao Tun 
sprach: ,Nachdem er die Menschen aufgegeben hat, bedient er 
sich der Hunde. Aber so wütend er auch ist, was hilft es 
ihm?' Er schlug sich kämpfend (durch die Gepanzerten, die ihn 
inzwischen umringt hatten) durch, während TM-mi Ming für 
ihn den Tod erlitt. 



') Shi-king III, iii, VI. Chung Shan-f u war ein tugendhafter 
Minister des Königs Süan (827—781 v. Chr.). 

') Süan-tszö ist der Ehrenname des Chao T^un. 



— 79 - 

Als ChaoSüan-tszS bei einer früheren Gelegenheit einmal 
auf einer Jagd am Berge Shou-shan unter einem schattigen 
Maulbeerbaume verweilte, bemerkte er dort einen gewissen L i n g 
Cheh, der in verhungertem Zustande war. Auf seine Frage, was 
ihm fehle, sprach er: ,Ich habe seit drei Tagen nichts gegessen'. 
Als ihm ChaoSüan-tszg darauf zu essen gab, legte jener die 
Hälfte der Speisen beiseite. Deswegen zur Rede gestellt, sagte 
er: ,Ich habe mich seit drei Jahren für den Staatsdienst vor- 
bereitet und weifs nicht, ob meine Mutter noch am Leben ist 
oder nicht. Jetzt bin ich der Heimat nahe und bitte, ihr dieses 
geben zu dürfen.' Chao Süan-tsz6 aber hiels ihn alles auf- 
essen und machte einen Korb mit Reis und Fleisch zurecht, den 
er in einen Sack packte und ihm mitgab. Dieser Mann war jetzt 
mit unter den Gepanzerten des Fürsten gewesen, aber mit um- 
gedrehtem Spielse hatte er die Leute des Fürsten zurückgehalten 
und auf diese Weise den Chao Süan-tsz6 befreit. Als dieser 
ihn nun fragte, wie er dazu komme, erwiderte er: ,Ich bin der 
verhungerte Mann unter dem Maulbeerbaume.' Auf die Frage 
nach seinem Namen und Wohnort gab er keine Antwort, sondern 
zog sich zurück. In der Folge verschwand er. 

Am Tage Yih-ch*ou ermordete Chao Ch'uan (ein 
Vetter des Chao Süan-tsz6) den Fürsten Ling im Pfirsich- 
garten. Süan-tszS hatte das Gebirge noch nicht überschritten *) . 
Der Grolsastrolog schrieb: ,Chao Tun hat seinen Fürsten 
getötet', und machte seinen Bericht bei Hofe bekannt. Süan- 
tsz6 sprach: ,Mit nichten.' Jener aber entgegnete: ,Herr, du 
bist der erste Minister, Du warst geflohen, hattest aber die 
Grenze noch nicht überschritten; du bist zurückgekehrt, aber du 
hast den Mörder nicht bestraft. Wenn du es nicht warst, wer 
sonst?' Süan-tsz6 sprach: ,Wehe! 

Durch das, was ich im Herzen hegte, 
Hab* ich mir selbst den Gram bereitet *)! 

Das scheint auf mich gemünzt zu sein.' 



^) Er war im Begriffe gewesen zu fliehen, hatte aber das Grenz- 
gebirge von Tsin noch nicht überschritten; auf die Nachricht von der 
Ermordung des Fürsten kehrte er wieder um. 

^) Dieses Zitat stammt nicht, wie Legge meint, aus Shi-king 
I, m, VIII, sondern ist einem der von Confucius ausgemerzten Lieder 
entnommen. 



- 80 — 

K^ung-tszS sagt*): ,Tung Hu war ein trefflicher Chro- 
nist; er schrieb nach der Regel, nichts zu verheimlichen. Chao 
Süan-tsz6 war ein trefflicher Grofswürdenträger : in Ausübung 
des Gesetzes nahm er das Böse auf sich. Schade! hätte er die 
Grenze überschritten, so wäre er entkommen I'c — 

Wir besitzen, wie bereits erwähnt, aulser dem Tso-chuan 
noch zwei Kommentare zum Ch^un-ts^iu, von denen der eine 
dem Kung-yang Kao, der andere dem Kuh-liang Ch'ih 
zugeschrieben wird, die im 5. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben 
und Schüler des Tszg-hia, des bekannten Jüngers des Con- 
fucius, gewesen sein sollen. Diese beiden Kommentare sind 
ebenfalls erst im zweiten Jahrhundert v. Chr. veröffentlicht worden» 
Da sie jedoch neben dem Tso-chuan nur einen sehr unter- 
geordneten Wert beanspruchen dürfen, genügt es, sie der Voll- 
ständigkeit halber erwähnt zu haben. 

Mit dem Ch'un-tsMu hat die Reihe der fünf kanonischen 
Bücher ihren Abschluls gefunden. 

IL Die Sze-shn oder vier klassischen Buchen 

1. Das Lun-yü oder die Unterredungen"). 

Im Gegensatz zu den fünf King gehören die vier klassischen 
Bücher sämtlich der nachconfucianischen Zeit an; sie stellen, als 
Ganzes genommen, so recht eigentlich das Credo der confucia- 
nischen Schule dar. 

Als die Gelehrten der H an- Dynastie an die Wiederauffin- 
dung, Herstellung und Herausgabe der von der Bücherver- 
brennung verschont gebliebenen Reste der klassischen Bücher 
gingen, fanden sie zunächst zwei Abschriften desLun-yü, von 
denen die eine aus Lu, dem Heimatsstaate des Con fucius, die 



') Dieser Ausspruch des Con fucius ist sonst nicht bekannt. Ge- 
wöhnlich werden übrigens ethische Urteile dieser Art im Tso-chuan 
mit den Worten: »Der Edle sagt« eingeleitet. 

*) Legge, The Chinese Classics, vol. I, containing Confucian Ana- 
lects, the Great Leaming, and the Doctrine of the Mean. 2^ ed. Ox- 
ford, 1893. — Es existiert auch eine deutsche, jedoch sehr verbesserungs- 
bedürftige Übersetzung des Lun-yü: Werke des tschinesischen 
Weisen Kung-fu-dsu und seiner Schüler. Zum ersten Mal aus der 
Ursprache ins Deutsche übersetzt und mit Anmerkungen begleitet 
von Wilhelm Schott. I. Teil. Halle 1826. IL Teil. Berlin 1832, 



— 81 — 

andere aus dem benachbarten Ts'i stammt. Bald darauf, um 
die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., wurde, wie bereits er- 
wähnt, zugleich mit den Handschriften des Shu-king, Hiao- 
king und Li-ki auch eine solche des Lun-yü ans Licht ge- 
fördert, die im wesentlichen mit dem ausLu stammenden Texte 
übereinstimmte. Auf Grund einer sorgfältigen Vergleichung der 
drei Handschriften haben dann die Gelehrten der späteren Han- 
Dynastie, unter denen sich besonders der berühmte Cheng Hüan 
(127 — 200 n. Chr.) hervortat, den uns vorliegenden Text her- 
gestellt 

Vermutlich ist das Lun-yü, wie Legge nachzuweisen 
sucht, den Schülern der Schüler des Confucius zuzuschreiben, 
da die mehrfach verfochtene Ansicht, dals es ein Werk seiner 
unmittelbaren Schüler sei, aus inneren Gründen unhaltbar ist. 
Es ist demnach anzunehmen, dafs es aus dem Ende des 5. oder 
aus dem Anfange des 4. Jahrhunderts v. Chr. herrührt. 

Als die zuverlässigste Quelle für die Kenntnis sowohl der 
Lehrmeinungen wie auch der Lehrweise des Confucius ist das 
Lun-yü von unschätzbarem Werte. Was aber dem Buche seinen 
besonderen Reiz verleiht, das ist der ungezwungen einfache 
Gesprächston, der den darin aufgezeichneten Äufserungen des 
Meisters den Stempel der Echtheit aufdrückt. Wie schon der 
Titel vermuten läfst, enthält es Unterredungen des Confucius 
mit seinen Schülern; doch sind es nicht etwa kimstvolle Dialoge, 
die den Gegenstand in dialektischer Behandlung zu erschöpfen 
suchen, sondern in der Regel nur flüchtig hingeworfene Sen- 
tenzen, meist als Antworten auf Fragen, die an den Meister ge- 
richtet wurden. Man hat durchaus den Eindruck, dals das 
Lun-yü aus gesammelten Reminiszenzen der Jünger des Con- 
fucius entstanden sei, und es entspricht daher auch völlig dem 
Charakter des Buches, wenn Legge den Titel durch »Analektenc 
wiedergibt. Das Fehlen einer Gruppierung der behandelten 
Gegenstände nach ihrem inneren Zusammenhange läfst die An- 
ordnung mehr als ein Werk des Zufalls, denn bewufster Über- 
legung erscheinen: Fragen meist ethischen oder politischen Inhalts 
werden aufgeworfen und beantwortet, wie es die Gelegenheit 
gerade mit sich bringt. Man darf eben nicht vergessen, dafs 
Confucius kein Systematiker, überhaupt kein philosophischer 

Grnbe, Geschichte der chineuschen Litteratar. 6 



- 82 — 

Denker im eigentlichen Sinne war: was er zu sagen hat, gibt 
ihm der Augenblick ein. 

Versuchen wir, um uns dadurch zugleich mit dem Inhalte 
des Lun-yü bekannt zu machen, aus den durcheinander* ge- 
worfenen aphoristischen Aussprüchen des Confucius den Kern 
seiner Lehren herauszuschälen, so finden wir als den Mittelpunkt 
der confucianischen Ethik die kindliche Pietät, hiaOj die als Aus- 
druck des sittlichen Verhaltens der Kinder zu ihren Eltern auf- 
gefalst wird^). Die kindliche Pietät, die zugleich Ehrerbietung 
imd unbedingten Gehorsam in sich schliefst, ist die tief imd un- 
ausrottbar im Volksbewufstsein haftende Kardinaltugend, die bis 
auf den heutigen Tag die sittliche Grundlage des chinesischen 
Lebens in Familie und Staat geblieben ist. iSolange der Vater 
lebt, blicke auf seinen Willen; wenn er tot ist, blicke auf seinen 
Wandel. Wer drei Jahre lang nicht von seines Vaters Wegen 
abweicht, kann schliefslich pietätvoll genannt werden. c »Das 
Alter seiner Eltern soll man kennen: einesteils als Anlafs zur 
Freude, andemteils als Anlafs zur Sorge, c Von der Familie auf 
den Staat übertragen, entspricht der Unterwerfung unter den 
väterlichen Willen der Gehorsam gegen die Obrigkeit : »Menschen, 
die eitern- und bruderliebend sind und sich dabei gegen ihre 
Obrigkeit auflehnen mögen, dürften selten sein; solche aber, die 
sich nicht gegen ihre Obrigkeit auflehnen und dennoch Aufruhr 
anzetteln mögen, hat es noch nicht gegeben. c Anderseits aber 
erweitem sich Kindes- und Bruderliebe, indem sie über den 
Kreis der Familie hinausgehen, zur Humanität: »Kindes- und 
Bruderliebe, sind sie nicht die Wurzel der Menschlichkeit ?c 
Die Menschlichkeit ist die seltenste, aber dafür auch die höchste 
der Tugenden, denn sie überwindet alles: »Noch habe ich keinen 
gesehen, der die Menschlichkeit liebte und das, was nicht human 
ist, verabscheute. Für den, der die Menschlichkeit liebt, gibt es 
nichts Höheres als sie, imd wer, was nicht human ist, verab- 
scheut, wird seine Menschlichkeit ^dadurch betätigen, dafs er nichts, 
was nicht human ist, an sich heranläfst. An dem, der im stände 
ist, einen Tag lang seine Kraft im Dienste der Menschlichkeit zu 
üben, habe ich noch nicht erlebt, dais seine Kraft versagte. Es 



^) S. meinen Aufsatz: Der Confucianismus und das Chinesentum, 
Deutsche Rundschau 1900, Bd. CHI, S. 62 ff. 



— 83 — 

mag ja auch solche Fälle geben : gesehen habe ich noch keinen, c 
Die Menschlichkeit darf jedoch keinesfalls mit der Gerechtigkeit 
in Konflikt geraten und kann daher auch nie den christlichen 
Charakter der Feindesliebe annehmen. Als jemand den Confucius 
fragte ob man Unrecht mit Güte vergelten solle, entgegnet er: 
»Womit wolltest du dann Güte vergelten ? Mit Gerechtigkeit ver- 
gelte man Unrecht, Güte mit Gtite.€ Selbst der Hals wird durch 
die Menschlichkeit nur gewissermafsen legitimiert, nicht aber be- 
seitigt : >Nur der Humane ist fähig, andere zu lieben und andere 
zu hassen.c Es ist für die Denkweise des Confucius be- 
zeichnend, dals er auch in seinen ethischen Idealen nie über das 
menschlich Erreichbare hinausgeht, wodurch ihnen immer noch 
bedenklich viel Erdenschwere anhaftet. So scheint auch die 
stillschweigende Voraussetzung seiner so hoch gepriesenen 
> Menschlichkeit c im Grunde doch der Satz zu sein, dals jeder 
sich selbst der Nächste sei. Als jemand die Überzeugung aus- 
spricht, dals ein human gesinnter Mensch, wenn er hört, dalis 
einer in einen Brunnen gestürzt sei, sich ihm sofort nachstürzen 
werde, weist der Meister ein solches Ansinnen mit der trockenen 
Bemerkung zurück: »Warum nicht gar! Der Edle wird sich 
wohl bewegen lassen, hinzugehen, aber nicht, sich zu ertränken; 
er mag sich wohl betrügen lassen, aber er läfst sich nicht zum 
Narren halten. c In welchem Sinne Confucius den Begriff der 
Menschlichkeit aufgefalst wissen will, geht vielleicht am klarsten 
aus der folgenden Äufserung hervor. Als sein Jünger Tsz6- 
kung ihn fragt, ob es ein Wort gebe, das man zur Richtschnur 
seines Handelns machen könne, antwortet der Meister ihm mit 
der bekannten Lebensregel des Tobias: »Vielleicht ,Gegen- 
seitigkeit^ Was du nicht willst, dals man dir tu', das füg' auch 
keinem andern zu.€ 

Neben der Menschlichkeit ist es besonders der ziemlich un- 
bestimmt und feirblos gehaltene Begriff der Tugend, der im 
Lun-yü eine Hauptrolle spielt. Es scheint, dals Confucius 
darunter mehr die sittliche Anlage als solche, denn ihre Be- 
tätigung nach auEsen verstanden wissen will. >Wer die Regie- 
rung durch Tugend ausübt, gleicht dem Polarstem : er bleibt an 
seinem Platze, während das Heer der Sterne ihn umkreist. c 
»Leitet man das Volk durch Gesetze, regiert man es durch 
Strafen, so sucht es sich ihnen zu entziehen, ohne Scham zu 

6* 



— 84 — 

empfinden; leitet man es durch Tugend, regiert man es durch 
Schicklichkeit (oder Riten, li), so wird es Scham empfinden 
und überdies sich bessernde Die Tugend wirkt nicht durch 
aktives Eingreifen, sondern durch ihr blofses Dasein, als 
Vorbild. Darin liegt auch der Unterschied zwischen Tugend 
und Klugheit: »Der Kluge freut sich am Wasser, der Tugend- 
hafte freut sich an den Bergen. Der Kluge ist tätig, der Tugend- 
hafte ist still. Der Kluge ist fröhlich, der Tugendhafte ist lang- 
lebig.« Das Wasser ist hier als das bewegte und bewegende 
Element gedacht, während durch die Berge die feste, in sich 
ruhende Unbeweglichkeit versinnbildlicht wird, eine Auffassung, 
die Lao-tszSs Lehre vom Nichttun nahe zu kommen scheint. 
Ohne äulseres Wirken zieht daher die Tugend an : »Die Tugend 
bleibt nicht verwaist, sie findet sicher Nachbarschaft.« 

Das menschliche Ideal sittlicher Vollkommenheit ist »der 
Edle«, Kiün-tsze. Wörtlich übersetzt bedeutet Kiün-tsz& 
»Fürstensohn« und bezeichnet somit einen Mann, in welchem der 
innere Adel der Gesinnung mit dem der äulseren Formen gepaart 
ist. »Der Edle betätigt zuvörderst seine Worte und lälst sie 
hinterdrein folgen.« — »Der Edle erhebt weder die Menschen 
mn ihrer Worte willen, noch verwirft er die Worte um der 
Menschen willen.« — »Der Edle ist auf neunerlei bedacht: beim 
Sehen auf Klarheit, beim Hören auf Deutlichkeit, bei seiner 
Miene auf Milde, bei seinem Auftreten auf Höflichkeit, bei seinen 
Worten auf Aufrichtigkeit, bei seinen Geschäften auf ehrerbietige 
Hingebung, bei zweifelhaften Fällen auf Erkundigung; im Ärger 
gedenkt er der Schwierigkeiten, die aus demselben entstehen 
können, und wenn er sieht, dafs er einen Vorteil erlangen kann, 
so ist er auf Rechtlichkeit bedacht.« — »Der Edle sucht beim 
Essen nicht seinen Bauch zu füllen; daheim strebt er nicht nach 
Ruhe; er ist gewissenhaft in seinem Tun und vorsichtig in seiner 
Rede. Indem er sich den Rechtschaffenen nähert, richtet er sich 
an ihnen auf.« — Dem Edlen wird wiederholt und in ver- 
schiedenen Beziehungen der Alltagsmensch gegenübergestellt. 
»Der Edle ist umfassend und nicht parteiisch; der Alltagsmensch 
ist parteiisch und nicht umfassend.« — »Der Edle hat die 
Tugend, der Alltagsmensch den Besitz im Sinne; der Edle hat 
das Gesetz, der Alltagsmensch die Gunst im Sinne.« — »Der 
Edle ist hochgesinnt, aber nicht hochmütig; der Alltagsmensch 



— 85 - 

ist hochmütig, aber nicht hochgesinnt. c — »Der Edle hat, was 
er sucht, in sich selbst; der Alltagsmensch sucht es in anderen.« 
u. a. m. 

Bei seinem stets auf das Tatsächliche gerichteten Blick, bei 
dem regen Interesse, das er den praktischen Fragen des öffent- 
lichen Lebens entgegenbrachte, ist es erklärlich, wenn Confucius 
mit Vorliebe die Bedingungen einer gesunden politischen Ent- 
wicklung zum Gegenstande seiner Erörterungen macht. Die 
Erkenntnis, dals die politische Zerfahrenheit seiner Zeit nur eine 
Folge des sittlichen Verfalles sei, führt ihn zu der Überzeugung, 
dais die Politik sich nicht von der Moral lossagen könne, ohne 
sich selbst zu schaden. Daraus ergibt sich ihm mit logischer 
Notwendigkeit als erste Forderung die sittliche Hebung des 
staatlichen Lebens. Mit den Worten: >Der Fürst sei Fürst, der 
Untertan sei Untertan, der Vater sei Vater, der Sohn spi Sohne 
sucht er daher allen, Regierenden wie Regierten, die Pflichten 
ihrer Stellung zum Bewufstsein zu führen. Der Fürst soll in 
richtiger Erkenntnis seiner Verantwortung nicht den eigenen 
üVillen zum obersten Gesetz erheben, sondern bewährtem Rate 
auch dann ein williges Ohr leihen, wenn dieser den eigenen 
Wünschen und Neigungen zu widersprechen scheint. Auf die Frage 
des Fürsten Ting vonLu, ob es ein Wort gebe, durch das der 
Staat zur Blüte gebracht werden könne, antwortet Confucius: 
>Ein einzelnes Wort vermag so Grofses nicht zu bewirken, doch 
gibt es einen Spruch, der lautet: ,Fürst zu sein ist schwer, 
Minister zu sein ist nicht leicht.' Ist erst die Erkenntnis vor- 
handen, dals es schwer ist, Fürst zu sein, möchte dann nicht 
dieses eine Wort einen Staat zur Blüte bringen ?€ Jener fragte 
weiter: >Gibt es ein Wort, durch das ein Staat zu Grunde ge- 
richtet werden kann?€ Confucius erwiderte: >Ein einzelnes 
Wort vermag so Grofses nicht zu bewirken; doch gibt es einen 
Spruch, der lautet: ,Ich habe keine Freude daran, Fürst zu sein, 
es sei denn, dafs niemand sich meinem Worte widersetze.' Ist 
sein Wort gut, und niemand widersetzt sich ihm, so ist das frei- 
lich auch gut ; wenn es aber nicht gut ist imd sich ihm dennoch 
niemand widersetzt, möchte dann nicht dieses eine Wort einen 
Staat zu Grunde richten ?c Daraus ergibt sich für den, der 
seinem Fürsten in der rechten Weise dienen will, die Pflicht, 
Hingebung mit Freimut zu verbinden; auf die Frage seines 



- 86 — 

Schülers Tsz6-Ia, wie man dem Fürsten dienen solle, antwortet 
daher der Meister: »Hintergehe ihn nie, aber widersprich ihm.« 
Von den Regierenden aber verlangt er Besonnenheit und einen 
auf das Grolse und Wesentliche gerichteten Blick: »Man ver- 
lange keine Überhastung und sehe nicht auf geringfügigen Vor- 
teil. Wer Uberhastung verlangt, dringt nicht durch, und wer 
auf geringfügigen Vorteil sieht, vermag keine grofsen Taten zu 
vollbringen. € Wie die Tugend schon allein durch ihr vorbild- 
liches Dasein einen veredelnden Einflufs ausübt, so wirkt auch 
eine gute Regierung durch das Beispiel, das sie dem Volke gibt, 
nachhaltiger als durch Gesetze und Strafen. Daher mufs, wer 
über andere herrschen will, an seiner eigenen Person den Än- 
iang machen. »Regieren heilst zum Rechten führen. Wenn du 
es (das Volk) in rechter Weise leitest: wer wollte dann wagen, 
nicht recjitschaffen zu sein?€ — »Wenn man nur die eigene Person 
zum Rechten führt, was hat dann die Ausübung der Regierung 
für Schwierigkeit? Wie aber will, wer sich selbst nicht zum 
Rechten zu führen vermag, es an anderen timPc — Als Ki 
K^ang, das Oberhaupt eines der drei Dynastengeschlechter, die 
zur Zeit des Confucius die Herrschaft über das Fürstentum 
Lu an sich gebracht hatten, an den Meister die Frage richtet, 
ob er recht handle, indem er um der Gesitteten willen die Un- 
gesitteten hinrichten lasse, gibt ihm dieser den Bescheid : »Wenn 
du in Wahrheit regierst, wozu bedarf es dann des Tötens? 
Wolle nur selbst das Gute, so wird auch das Volk gut werden. 
Der Edle gleicht in seinem Wesen dem Winde, der Alltags- 
mensch dem Grase: wenn der Wind über das Gras dahinfährt, 
mufs es sich beugen. c Und als ebenderselbe Ki K'ang ihn um 
Rat fragt, wie er dem Räuberwesen in seinem Staate steuern 
solle, erwidert er ihm: »Herr, wenn du selbst nicht habgierig 
bist, werden auch deine Untertanen nicht stehlen, selbst wenn 
du sie dafür belohnen wolltest, c Die Grundbedingung einer ge- 
deihlichen Regierung bleibt aber das Vertrauen des Volkes. Als 
Tsz6-kung den Meister fragt, durch welche Mittel ein Staats- 
wesen zu lenken sei, antwortet dieser daher : »Durch hinreichende 
Ernährung, hinreichende Wehrkraft und das Vertrauen des 
Volkes. c Tsz6-kung macht nun den Einwand: »Wenn man 
aber nicht umhin kann, auf eines davon zu verzichten, welches 
von den dreien wäre dann zuerst preiszugeben ?c »Die Wehr- 



— 87 - 

kraftc, lautet die Antwort. Tsz6-kung fährt fort: »Und wenn 
man nicht umhin kann, auch auf eines von den beiden übrigen 
zu verzichten, was wäre dann zuerst preiszugeben?« Der Meister 
sagt : »Die Ernährung. Von alters her ist der Tod allen gemein- 
sam, ohne Vertrauen aber kann ein Volk nicht bestehen.« 

Als Praktiker schätzt Confucius das Wissen im Sinne 
toter Gelehrsamkeit nicht sonderlich hoch. »Wenn einer alle 
dreihundert Lieder des Shi-king rezitieren kann, aber, mit der 
Regierung betraut, nicht durchzudringen weils, mit einer Bot- 
schaft nach auswärts beauftragt, nicht selbständig Rede und Ant- 
wort zu stehen vermag : was nützt ihm da sein Wissen, so reich 
es auch sein mag?« Auf die Frage, was Wissen sei, gibt er 
die verständige, aber nicht gerade tiefsinnige Antwort: »Von 
dem, was man weifs, zugeben, dais man es wisse; von dem, 
was man nicht weils, zugeben, dals man es nicht wisse: das ist 
Wissen.« Dennoch ermahnt er zu eifrigem Studium: »Lerne, 
wie wenn du nie dein Ziel erreichen könntest und obendrein 
fürchten mülstest, es zu verfehlen.« Und^yon sich selber sag^ 
er: >In einem Flecken von zehn Familien mag es wohl manchen 
geben, der ebenso treu und aufrichtig ist wie ich, aber keinen, 
der wie ich zu lernen liebte.« Worin aber für ihn das wahre 
Wissen bestand, lehrt der Ausspruch: »Wissen ist Menschen- 
kenntnis.« Daher sagt er an einer anderen Stelle: »Ich gräme 
mich nicht, wenn mich die Menschen nicht kennen, wohl aber, 
wenn ich die Menschen nicht kenne.« 

Von besonderem Interesse sind diejenigen Äulserungen des 
Confucius, die ein Licht auf sein inneres Leben werfen, auf 
seine Stellung zur Religion und zu metaphysischen Fragen über- 
haupt. Leider ist indessen, wie übrigens nicht anders zu er- 
warten war, der Ertrag auf diesem Felde recht dürftig, denn 
»worüber der Meister nicht redete, waren wunderbare Erschei- 
nungen, Gewaltäufserungen , Aufruhr und Geister.« So fertigt 
er denn auch seinen Jünger Tsz6-lu auf dessen Frage, wie 
man den Geistern dienen solle, mit der ausweichenden Antwort 
ab: »Du weilst noch nicht, wie du den Menschen dienen sollst: 
wie wolltest du wissen können, wie man den Geistern zu dienen 
habe?« Und nicht besser ergeht es dem Tszö-lu mit seiner 
Frage nach dem Tode: »Du kennst das Leben noch nicht 
einmal,« belehrt ihn da der Meister, »wie wolltest du den Tgd 



- 88 — 

kennen ?€ — Als Confucius einmal krank damiederlag, bat 
Tsz6-lU; für ihn beten zu dürfen. »Hätte das einen Sinn?« 
fragte Confucius. Tsz6-lu erwiderte: »Freilich. In den 
Gebeten für Tote heilst es: ^Durch das Gebet wendet man sich 
an die himmlischen und irdischen Geistert Der Meister sagte: 
>DaIs ich gebetet habe, mag lange her sein.« — Für das religiöse 
Glaubensbedürfnis sind diese Aussprüche des Confucius freilich 
ebensowenig befriedigend wie seine Mahnung, man solle die 
Geister ehren, sie aber fernhalten. Dennoch wäre es unbillig, 
ihm daraufhin ohne weiteres religiösen Indifferentismus vorwerfen 
zu wollen; was hier auf den ersten Blick den Eindruck kühler 
Skepsis macht, mag vielmehr mit grölserer Wahrscheinlichkeit 
auf eine gewisse ehrfürchtige Scheu vor dem Übersinnlichen 
zurückzuführen sein. Manche seiner Äulserungen lassen keinen 
Zweifel daran, dals Confucius im Grunde eine tief religiöse 
Natur war. Als ihn auf einer Reise von Wei nach Ch*en sein 
Weg durch das Fürstentum Sung führte, wurde er von Leuten 
des Huan T*ui, eines Grofswürdenträgers von Sung, der ihm 
nach dem Leben trachtete, überfallen. Die Schüler drängten ihn 
zu eiliger Flucht, er aber sprach gelassen: »Der Himmel hat 
die Fähigkeiten in mir hervorgebracht; was kann Huan T*ui 
mir anhaben?« So konnte nur ein Mann reden, der von dem 
festen Glauben durchdrungen war, dafs sein Leben in der Hand 
des Himmels sei, der die Geschicke der Menschen lenkt. Dals 
er auch an die Kraft des Gebetes glaubte, beweist der Ausspruch: 
»Wer sich an dem Himmel versündigt, hat niemand, zu dem er 
bete.« — Charakteristisch ist auch die Stellung, die er dem 
Ahnenopfer gegenüber einnimmt; hier ist ihm die aufrichtige 
Gesinnung die Hauptsache : »Er opferte den Manen Verstorbener, 
als wenn sie zugegen wären; er opferte den Geistern, als wenn 
sie zugegen wären.« Jedoch wollte er die Ahnenverehrung auf 
den vorgeschriebenen häuslichen und staatlichen Kult beschränkt 
wissen; daher sagt er: »Anderen als den eigenen Manen (d. h. 
den Manen der eigenen Vorfahren) zu opfern ist Schmeichelei.« 

Zum Schlüsse noch eine kurze Blütenlese aphoristischer 
Aussprüche aus dem Lun-yü als Proben confucianischer Lebens- 
weisheit : 

Tsz^-kung fragte: »Was ist von einem Menschen zu halten, 
der bei seinen Dorf genossen allgemein beliebt ist?« Der Meister 



— 89 — 

antwortete: >Das will noch nichts sagen.€ — >Aber von einem 
solchen, der bei seinen Dorf genossen allgemein verhafst ist?€ — 
»Auch das will noch nichts sagen. Es ist mehr wert, wenn die 
Guten im Dorf ihn lieben und die Schlechten ihn hassen, c 

> Mache Treue und Aufrichtigkeit zur Hauptsache. Befreunde 
dich nicht mit solchen, die dir nicht gewachsen sind. Hast du 
einen Fehler begangen, so scheue dich nicht, ihn gut zu 
machen.« 

»Fehlen, ohne sich zu bessern, das eben nennt man 
Fehlen.« 

»Das Rechte sehen und es nicht tun ist Mangel an Mut.« 
»Betrachte der Menschen Art zu sein, beobachte die Beweg- 
gründe ihres Handelns, prüfe das, woran sie Befriedigung finden. 
Wie kann ein Mensch sich verbergen! Wie kann ein Mensch 
sich verbergen!« 

»Siehst du einen Weisen, so trachte danach, ihm gleich zu 
kommen*, siehst du einen Nichtweisen, so gehe in dich und prüfe 
dich selbst.« 

»Die Alten lernten um ihrer selbst willen; die Heutigen 
lernen um der Menschen willen.« 

»Lernen ohne zu denken, ist eitel, — denken ohne zu lernen, 
gefährlich.« 

»In einem geordneten Staatswesen sind Armut und geringe 
Stellung eine Schande; in einem ungeordneten Staatswesen sind 
Reichtum und angesehene Stellung eine Schande.« 

»Solange ich groben Reis als Nahrung, Wasser als Getränk 
imd meinen gebogenen Arm als Stütze habe, kann ich auch 
dabei fröhlich sein. Reichtum und Ansehen, wenn nicht auf 
rechtem Wege erworben, gleichen nur fliehenden Wolken.« 

»Wer nicht immer wieder fragt : ,Wie verhält sich 's damit ?' — 
mit dem wüIste ich schliefslich nichts anzufangen.« 

»Ein Heer kann seines Führers, aber der Einzelne nicht 
seines Willens beraubt werden.« 

»Dafs Keime nicht zum blühen kommen — ach, das kommt 
vor! — Dafs Blüten nicht zu Früchten werden — ach, das 
kommt vor!« 

»Von Natur sind die Menschen einander nah; durch ihre 
Gewohnheiten entfernen sie sich voneinander.« 



— 90 — 

»Nur die AUerklügsten und die Allerdümmsten ändern sich nie.c 
So hat uns die Betrachtung des Lun-yti Gelegenheit ge- 
boten, das vorhin entworfene Bild desConfucius durch manchen 
charakteristischen Zug zu ergänzen und zu vertiefen. 

2. Das Ta-hioh oder die grofse Lehre. 

Das Ta-hioh und das Chung-yung sind kurze Traktate, 
die ursprünglich zwei Kapitel desLi-ki bildeten, bevor sie, erst 
in viel späterer Zeit, als selbständige Texte in die Gruppe der 
vier klassischen Bücher aufgenommen wurden. Der Verfasser 
des Ta-hioh läfst sich nicht mit Sicherheit feststellen. Die von 
Chu Hi, dem berühmten Polyhistor des 12. Jahrhunderts, ver- 
fochtene Ansicht, dafs der Grundtext des Ta-hioh von Con- 
f ucius selbst, der zugehörige Kommentar aber von dessen Schüler 
Tseng Ts*an herrühre, ist von Legge mit überzeugenden 
Gründen als unhaltbar nachgewiesen worden; der berühmte 
Herausgeber der »Chinese Classicsc schliefst sich seinerseits, und 
wohl mit Recht, dem Zeugnis des Kia K*uei, eines Gelehrten 
aus dem ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, an, nach 
welchem K*ung Kih, ein Enkel des Confucius, der besser 
unter seinem Ehrennamen Tsz6-sz6 bekannt ist, sowohl das 
Ta-hioh wie auch das Chung-yung verfafst habe. Die An- 
ordnung des Textes des Ta-hioh ist im Li-ki und in den 
Sz6-shu eine verschiedene, und es dürfte wohl kaum einem 
Zweifel unterliegen, dafs die Redaktion desselben, wie wir sie im 
Li-ki finden, als die ältere den Vorzug verdient; da jedoch die 
jüngere Lesart, die den Text in der Anordnung des Chu Hi 
bietet, inzwischen allgemeine Aufnahme gefunden hat, haben wir 
uns im gegebenen Falle an diese zu halten. Nach ihr zerfällt 
das Ta-hioh in zwei gesonderte Bestandteile, von denen der 
eine den angeblich von Confucius herrührenden Grundtext, 
der andere den zugehörigen Kommentar enthält, der dem Tseng 
Ts*an zugeschrieben wird. Der leitende Gedanke des ersteren 
ist nun der, dafs die Gnmdlage eines geordneten Staatswesens 
in der Selbstkultur des Einzelnen liege, dafs diese aber nur durch 
das Wissen erreicht werden könne, das seinerseits auf dem 
Eindringen in die Natur der Dinge beruhe. Dieser an sich ein- 
fache Gedanke findet folgenden, mehr durch die umständliche 
Form als durch den Inhalt charakteristischen Ausdruck: 



- 91 — 

»Der Weg der grofsen Lehre liegt in der Offenbarmachung 
der lichten Tugend, in der Liebe zum Volke und in dem Stehen- 
bleiben bei dem Höchstguten. Weils man, wo man stehen zu 
bleiben hat, dann steht man fest; steht man fest, dann vermag 
man Ruhe zu finden; hat man Ruhe gefunden, dann vermag 
man Frieden zu erlangen; hat man Frieden erlangt, dann vermag 
man zu Überlegen; hat man überlegt, dann vermag man sein 
Ziel zu erreichen. Die Dinge haben Ursache und Wirkung 
(wörtlich: Wurzel und Wipfel), die Angelegenheiten haben An- 
fang und Ende. Weils man, was vorangeht tmd was nachfolgt, 
so ist man der Vemtmftnorm nahe. Wenn die Alten die lichte 
Tugend offenbar machen wollten im Reiche, ordneten sie zuvor 
ihren Staat; wenn sie ihren Staat ordnen wollten, regelten sie 
zuvor ihr Hauswesen ; wenn sie ihr Hauswesen regeln wollten, ver- 
vollkommneten sie zuvor ihre eigene Person ; wenn sie ihre eigene 
Person vervollkommnen wollten, machten sie zuvor ihr Herz recht- 
schaffen ; wenn sie ihr Herz rechtschaffen machen wollten, machten 
sie zuvor ihre Gedanken wahrhaftig; wenn sie ihre Gedanken 
wahrhaftig machen wollten, vervollständigten sie zuvor ihr Wissen ; 
wenn sie ihr Wissen vervollständigen wollten, ergründeten sie 
zuvor die Dinge. Waren die Dinge ergründet, dann war das 
Wissen am Ziel; war das Wissen am Ziel, dann waren die Ge- 
danken wahrhaftig; waren die Gedanken wahrhaftig, dann war 
das Herz rechtschaffen; war das Herz rechtschaffen, dann war 
die eigene Person vervollkommnet; war die eigene Person ver- 
vollkommnet, dann war das Hauswesen geregelt; war das Haus- 
wesen geregelt, dann war der Staat geordnet; war der Staat 
geordnet, dann herrschte im Reiche Eintracht. Das gilt für alle, 
vom Himmelssohne bis zum gemeinen Mann herab. Für alle 
bildet die Selbstvervollkommntmg die Grundlage. Dafs bei un- 
geordneter Grundlage, was aus ihr entspringt, geordnet sei, 
ist ausgeschlossen. Es ist noch nicht dagewesen, dafs das 
Wichtige als nebensächlich und das Nebensächliche als wichtig 
behandelt worden wäre.c 

Dieses Thema wird dann in den folgenden Abschnitten mit 
ermüdender Weitschweifigkeit und Monotonie breitgetreten, ohne 
dafs dem Gesagten ein neuer Gedanke hinzugefügt würde. 



— 92 — 

3. Das Chung-yung oder das lonehalten der Mitte. 

Als den Verfasser des Chung-yung bezeichnet schon 
K^ung Fu^ ein Nachkomme des Confucius, der im dritten 
Jahrhundert v. Chr. lebte, den bereits erwähnten Enkel des 
Weisen, Tsz6-sz6, und da auch Sz6-ma Ts'ien dieses Zeugnis 
bestätigt, so liegt kein triftiger Grund vor, es in Zweifel zu 
ziehen. Wie im Ta-hioh, so ist auch im Chung-yung der 
eigentliche Gedankengehalt des ganzen Traktates im ersten 
Kapitel erschöpft; was die übrigen 32 Kapitel bieten, ist nicht 
viel mehr als ein Kommentar, der das dort Gesagte erläutert, 
durch Beispiele illustriert und weiter ausführt, ohne jedoch die 
Grundgedanken philosophisch zu entwickeln. Dennoch steht das 
Chung-yung inhaltlich und formell auf einer höheren Stufe als das 
Ta-hioh: inhaltlich, sofern es, wenigstens im ersten Kapitel, 
durch die Verknüpfung des kosmischen Prinzips mit dem ethischen 
die ersten Ansätze zu metaphysischer Spekulation innerhalb der 
confucianischen Schule erkennen läist; formell, indem es sich, im 
Gegensatz zu der nüchternen Prosa des Confucius und seiner 
Schüler, durch einen gewissen rhetorischen Schwimg auszeichnet« 

Chung-yung bedeutet, wörtlich übersetzt, das Innehalten 
der Mitte, wobei unter »Mittec nach der chinesischen Termino- 
logie das innere Gleichgewicht zu verstehen ist, jener Zustand 
des Gemütes, in welchem die Affekte gleichsam im latenten Zu- 
stande ruhen. Diesem inneren Gleichgewicht der ruhenden ent- 
spricht in der äulseren Betätigung der bewegten Triebe die 
Harmonie. In der Verknüpfung des inneren Gleichgewichts mit 
der äulseren Harmonie ist die sittliche und physische Weltord- 
nung begründet. Dies ist ungefähr der Sinn des ersten Kapitels, 
das folgenden Wortlaut hat: 

»Des Hinunels Ordnung heilst Natur; die Gemäfsheit der 
Natur heilst Vemunftnorm; die Pflege der Vemunftnorm heilst 
Unterweisung. Die Vemunftnorm kann nicht für einen Augen- 
blick verlassen werden; könnte sie das, so wäre sie nicht die 
Vemunftnorm. Daher ist der Edle behutsam gegenüber dem, 
was er nicht sieht, und ängstlich gegenüber dem, was er nicht 
hört. Nichts ist sichtbarer als das Verborgene und nichts offen- 
barer als das Geheimnisvolle; daher gibt der Edle acht auf sein 
Alleinsein. 



— 93 — 

Den Zustand, da Freude und Zorn, Trauer und Heiterkeit 
noch nicht hervorgetreten sind, nennt man das innere Gleich- 
gewicht (die Mitte); wenn sie hervortreten und dabei das rechte 
Mals treffen, nennt man das Harmonie. Das innere Gleichgewicht 
ist das grolse Fundament der Welt, und die Harmonie ist die 
die Welt durchdringende Vemunftnorm, Sind inneres Gleich- 
gewicht und Harmonie vollkommen, so stehen Himmel und Erde 
fest, und alle Dinge gedeihen, c 

Die Vemunftnorm, tao, von der hier die Rede ist, wie nicht 
minder der Mystizismus, der sich in dem Worte von der Sicht- 
barkeit des Verborgenen ausspricht, legt die Vermutung nahe, 
dals der Verfasser dieser Sätze vielleicht auch von der taoistischen 
Spekulation, die inzwischen von Lao-tsz6 ausgegangen war, 
nicht ganz unbeeinflulst gewesen sei. Um so verwunderlicher 
erscheint es daher, dafs er, statt den nur flüchtig angedeuteten 
Gedanken eines gesetzmälsigen Zusammenwirkens des inneren 
Gleichgewichtes mit der äulseren Harmonie weiter zu entwickeln 
und etwa zu einem ethischen System auf pantheistischer Grund- 
lage auszugestalten, hier kurz abbricht, um sich von nun an fast 
ausschliefslich auf das ethische Gebiet zu beschränken. Was 
jetzt folgt, ist zunächst eine Reihe von Aussprüchen, die dem 
Confucius in den Mund gelegt werden und das Innehalten 
der Mitte zum Gegenstande haben; doch ist hier unter > Mitte € 
weniger das innere Gleichgewicht als vielmehr die goldene Mittel- 
stralse im Gegensatze zu den Extremen gemeint. Daran schliefsen 
sich längere Exkurse über das Wesen und die Wirksamkeit des 
Edlen, über das Wirken der Geister, die, obwohl mit den Sinnen 
nicht wahrnehmbar, doch allezeit gegenwärtig seien, über die 
kindliche Pietät, wie sie sich insonderheit in den grolsen Herrschern 
der Vorzeit verkörpert habe, über die Regierung, die im letzten 
Grunde in der Wahrhaftigkeit des Einzelnen wurzele. Der Satz, 
dafs die Wahrhaftigkeit die Norm des Himmels, ihre Bewahr- 
heitung die Norm des Menschen sei, führt den Tsz6-sz6 dann 
zu einer längeren Betrachtung über das Wesen der Wahrhaftig- 
keit und dessen, der sie in sich verkörpert, die schliefslich in 
folgende überschwängliche Lobpreisung des Confucius aus- 
klingt ^) : 



»)Chung.yung XXX-XXXII. 



- 94 — 

»Chung-ni (Confucius) überliefert Yao undShun^ als 
wären sie seine Vorfahren; sie zu seinem Vorbilde nehmend, be- 
leuchtet er die Könige Wen und Wu. Nach oben hin befolgt er die 
Jahreszeiten, nach unten hin richtet er sich nach Wasser und Erde. 

Er gleicht dem Himmel, der alles deckt und schirmt, und 
der Erde, die alles hält und umfalst ; er gleicht den vier Jahres- 
zeiten, die der Reihe nach wirken ; er gleicht der Sonne und dem 
Monde, die abwechselnd leuchten. 

Alle Wesen werden ernährt, ohne dafs sie einander schädigen ; 
sie alle gehen ihren Weg, ohne sich gegenseitig zu beeinträch- 
tigen. Die geringeren Kräfte flielsen, Strömen gleich, dahin, 
während die grofsen Kräfte sich entfalten und umbilden. Das 
ist es, wodurch Himmel und Erde grofs sind. 

Nur der Höchstheilige im Reiche ist vermöge seiner Ein- 
sicht, Erleuchtung, Klugheit und Weisheit zur Herrschaft, ver- 
möge seiner Weitherzigkeit, Grölse, Güte und Milde zur Nach- 
sicht, vermöge seiner Tätigkeit, Stärke, Festigkeit und Willens- 
kraft zur Beharrlichkeit, vermöge seines gleichmäfsigen und ernsten 
Wesens, seines inneren Gleichgewichtes und seiner Geradheit zur 
Verehrung, vermöge seiner Bildung, Vernunft, Freiheit und Urteils- 
kraft zur Unterscheidung geeignet. Grofs und umfassend, ein 
tiefer Born, äutsert er sich zu seiner Zeit. Grofs und umfassend, 
gleicht er dem Himmel; ein tiefer Born, gleicht er einem Ab- 
grunde. Erscheint er, so ist keiner im Volke, der ihn nicht ehrte; 
redet er, so ist keiner im Volke, der ihm nicht glaubte; wirkt 
er, so ist keiner im Volke, der sich dessen nicht freute. Daher 
hat sich sein Ruhm wie eine Flut über das Mittelreich ergossen 
imd sich bis zu den Barbarenstämmen verbreitet. Soweit Schiffe 
und Wagen gelangen, soweit menschliche Kraft vordringt, soweit 
der Himmel sich wölbt und die Erde reicht, soweit Sonne und 
Mond leuchten und Reif und Tau sich niedersenken, gibt es unter 
allem, was Blut und Odem hat, kein Wesen, das ihn nicht ehrte 
und liebte. Daher heifst es: Er kommt dem Himmel gleich. 

Nur der Höchstwahrhaftige im Reiche vermag die Fäden 
zu der grofsen Richtschnur des Reiches zu einigen, das grofse 
Fundament des Reiches zu legen und das umgestaltende und 
nährende Wirken von Himmel und Erde zu erkennen. Wie 
sollte er einer Stütze bedürfen ? Unermüdlich ist seine Menschen- 
liebe, unergründlich seine Tiefe, unermefslich sein Himmel! 



— 95 — 

WeTy wenn nicht der wahrhaft Einsichtige, Erleuchtete, Heilige 
und Weise, der in die himmlische Tugend eindringt, vermöchte 
ihn zu begreifen ?€ 

4. Meng-tsz6^). 

So hoch das Ansehen war, dessen sich Confucius schon 
bei seinen Lebzeiten erfreuen durfte, so weit sein Ruhm sich 
zumal nach seinem Tode verbreitete: es bleibt doch fraglich, ob 
er eine so dauernde und unbestrittene Herrschaft über die Ge- 
müter seiner Volksgenossen als deren »König ohne äulsere Ab- 
zeichenc, Su-wang, wie er genannt wird, erlangt hätte, wenn 
ihm nicht in Meng-tsz6 ein Jünger und Nachfolger erstanden 
wäre, der es verstand, die Lehren des Meisters in ein wahrhaft 
volkstümliches Gewand zu kleiden und dadurch mächtiger denn 
irgend ein anderer zu ihrer Ausbreittmg und Fördenmg bei- 
zutragen. Es entspricht daher nur seinem Verdienste um Con- 
fucius, wenn er in der Wertschätzung des Volkes diesem als 
ider zweitec oder lim Range folgende Heiligec, Ya-sheng, 
an die Seite gestellt wird. Aber es währte lange genug, bis es 
so weit kam: im Jahre 1083 wurde ihm der erste Tempel er- 
richtet und erst zweihundert Jahre später der soeben erwähnte 
Ehrentitel verliehen. Bis dahin war die Volkstümlichkeit seines 
Namens hinter der seines Werkes beträchtlich zurückgeblieben; 
der alles überstrahlende Ruhm des Confucius hatte eben die 
dii minorum gentium ivöUig in Schatten gestellt. Dieser Um- 
stand mag auch die sonst unvel'ständliche Tatsache erklären, 
dals das Buch, das Meng-tszgs Namen trägt, der Vernichtung 
durch die Bücherverbrennung entgehen konnte. 

»Der Philosoph Meng« — denn das bedeutet der in Europa 
besser in der latinisierten Form Mencius bekannte Name 
Meng-tsze — wurde um das Jahr 372 v. Chr. geboren. Er 
stammte aus Tsou, einem winzigen Nachbarstaate des Fürsten- 
tums Lu, dessen Name noch in der heutigen, zur Präfektur 
Yen-chou-fu gehörenden Bezirksstadt Tsou -hie n in der Pro- 
vinz Shan-tung erhalten ist. Das Wenige, was über die 

*) Legge, The Chinese Classics, vol. II containing the Works 
of Mencius. 2^ ed. Oxford 1895. Ernst Faber, Eine Staatslehre auf 
ethischer Grundlage oder Lehrbegriff des chinesischen Philosophen 
Mencius. Elberfeld 1877. 



— 96 — 

äofseren Lebensschicksale des Meng-tsz6 bekannt ist, beschränkt 
sich auf folgende Daten. Nachdem er bereits in der frühesten 
Jugend den Vater, von dem die Überlieferung so gut wie nichts 
zu berichten weifs, verloren hatte, wuchs er unter der Obhut seiner 
Mutter auf, die als leuchtendes Vorbild mütterlicher Fürsorge 
einen Ehrenplatz unter den berühmten Frauen Chinas einninmit. 
Es wird erzählt, dals sie sich nach dem Tode des Gatten zuerst 
in der Nähe eines Friedhofes einmietete. Als sie jedoch gewahrte, 
wie der kleine Meng K'o gar bald die Szenen, die sich vor den 
Gräbern abspielten, zum Gegenstande seiner kindlichen Spiele 
machte, hielt sie es für ratsam, ihren Wohnsitz an den Markt- 
platz zu verlegen. Aber auch dieser Ort erwies sich als un- 
geeignet, denn es dauerte nicht lange, so nahm sich der Knabe 
das Schachern und Feilschen der Händler, die er täglich vor 
Augen hatte, zum Muster. Da mietete die besorgte Mutter ein 
Haus, das in der Nähe einer öffentlichen Schule gelegen war, 
und hier endlich fand der Nachahmungstrieb des Kindes die ge- 
eignete Nahrung. 

Zum Manne herangereift, scheint Meng -tsz6 nie eine feste 
Anstellung bekleidet, sondern bis ans Ende seiner Tage in freier 
Ausübung seines Lehrberufes ein unstetes Wanderleben geführt 
zu haben. Es kann wohl mit Sicherheit angenommen werden, 
dals auf die Wahl und Art seiner Wirksamkeit aulser seinen 
persönlichen Neigungen auch die politischen Zustände jener Zeit 
von bestimmendem Einflüsse gewesen seien. Die Macht des 
Hauses Chou, deren Verfall schon Confucius beklagte, war 
inzwischen noch tiefer gesunken. Als Folge davon drohte der 
wachsende Antagonismus der Teilstaaten in völlige Anarchie 
auszuarten. Alte Staatengebilde gingen zu Grunde, neue traten 
an ihre Stelle : es herrschte ein beständiger Wechsel in der Ver- 
teilung von Macht und Gebiet. Je länger je mehr treten all- 
mählich Ch*u und Ts*in als die beiden mächtigsten unter den 
Lehensfürstentümem in den Vordergrund, jenes in den heutigen 
Provinzen Ho-nan und Ngan-hoei, dieses in der Provinz 
Shen-si gelegen. Von dem schlielslichen Ausgange des 
Kampfes zwischen diesen zwei rivalisierenden Mächten hing das 
Geschick des Reiches ab. Kein Wunder, dals sich in einer Zeit 
so heilloser Zerfahrenheit allerhand Ratgeber, gebeten und un- 
gebeten, an den Fürstenhöfen einfanden, die durch ihr politisches 



I 



— 97 - 

Intrigantentmn den verderblichsten Einfluls auf die Gestaltung 
der Dinge ausübten. Nach Art der griechischen Sophisten zogen 
sie im ganzen Lande umher und boten allenthalben ihre Dienste 
£eiL So finden wir auch Meng-tsz6, von einem treuen Schüler- 
kreise umgeben, bald hier, bald dort, heute an diesem, morgen 
an jenem Fürstenhofe tätig, stets mit gutem Rate zur Hand, wo 
er um solchen angegangen wird. Freilidi aber darf er nicht 
etwa mit jenen Glücksrittern auf eine Stufe gestellt werden, die 
mir den eigenen Vorteil im Auge hatten. Ihm war es heiliger 
Ernst mit seiner Lehre, dals nur durch sittliche Hebung ein 
politischer Aufschwung möglich sei. Immerhin lälst sich nicht 
leugnen, dals er durch die Art, wie er Vasallenfürsten die Mittel 
und Wege zur Erlangung der Königswürde im Reiche schildert, 
bisweilen nicht allzu weit von dem entfernt ist, was man mit 
Recht als Hochverrat bezeichnen kann. Aber so wenig sich 
auch ein solches Vorgehen mit den Gesinnungen und Lehren 
seines Meisters in Einklang bringen lälst, wird man doch zu 
seiner Entschuldigung sagen dürfen, dals es nicht unberechtigt 
und auch nicht unpatriotisch war, wenn ihm die Erhaltung des 
Reiches höher stand als die einer Dynastie, die ohnehin und 
durch ihr eigenes Verschulden dem Untergange geweiht war. 
Ein praktischer Erfolg war ihm allerdings ebensowenig beschieden, 
wie anderthalb Jahrhunderte früher dem Confucius. Der er- 
sehnte Retter aus der Not fand sich nicht, — erst sechzig Jahre 
nach seinem Tode sollte der Einiger des Reiches erscheinen. Er 
kam in der Person des gewaltigen Kaisers Shi-hoang-ti aus 
dem Hause Ts'in, der den morschen Bau mit rauher Hand 
über den Haufen warf und auf dessen Trünunem ein neues Reich 
errichtete, das jetzt nach manchen Wechselfällen auf ein mehr 
als zweitausendjähriges Bestehen zurückblicken kann. 

83 Jahre alt, starb Meng-tsz6 im Jahre 289. 

Über die Frage, ob das Buch, das Meng-tsz6s Namen 
trägt, auch von seiner Hand herrühre, gehen die Ansichten aus- 
einander. Der Historiker Sz6-ma Ts'ien und Chao-K*i, 
ein Gelehrter des 2. Jahrhunderts n. Chr., der sich besonders 
um unsem Philosophen verdient gemacht hat, sagen, dafs 
Meng-tsz£ das Buch unter Beihilfe seiner Schüler, vornehmlich 
des Kung-sun Ch'ou und des WanChang, niedergeschrieben 
habe, während der berühmte Han Yü (768—824) der Ansicht 

Grabe» Geschichte der chinesischen Litterator. 7 



— 98 - 

ist, dals es zwar die Worte des Meng-tsz6 enthalte, aber erst 
nach dessen Tode von seinen Schülern kompiliert worden sei. 
Wie dem auch sei — wir werden kaum umhin können, den 
Worten des Chu Hi recht zu geben: »Betrachtet man seine 
Schreibweise, so ist sie wie aus einem Gusse und nicht etwas 
durch Flickwerk Entstandenes. Der nach Ton und Inhalt ein- 
heitliche Charakter des Werkes spricht zur Genüge für seinen 
einheitlichen Ursprung, gleichviel, ob die endgültige Niederschrift 
von Meng-tsz6 allein oder im Verein mit seinen Schülern be- 
werkstelligt wurde : der Wortlaut — und das ist die Hauptsache — 
rührt tmzweifelhaft von ihm selbst her.c Das ist es ja auch, was 
an dem Buche auf den ersten Blick ins Auge fällt, dals uns hier 
zum ersten Male innerhalb der confucianischen Schule nicht nur 
ein Denker, sondern auch ein Schriftsteller von scharf aus- 
geprägter Individualität entgegentritt. Hier haben wir es nicht 
mehr mit aphoristischen Sentenzen, kurzen Traktaten oder histo- 
rischen Aufzeichnungen zu tun : hier zeigt sich eine künstlerische 
Gestaltungskraft, die mit bewufster Absicht den Stoff zu formen 
weils. Ein Zeitgenosse des Sokrates, ist Meng-tsz6 ihm 
auch geistesverwandt: wie jener, so sucht auch er seine Gedanken 
in wirkungsvoll belebter Rede und Gegenrede zu entwickeln; 
daher, von vereinzelten aphoristischen Aussprüchen abgesehen, 
durchgehends die Form des Dialoges. Und in ähnlicher Weise 
wie der platonische Sokrates sucht auch Meng-tsz6 mit 
allen Künsten der Überredung, sei es durch überraschende 
Schlulsf olgerungen , sei es an der Hand historischer Beispiele 
und Beweise, hier mit feiner Ironie, dort durch überlegenen 
Hiunor seinen Gegner ad absurdum zu führen. Weniger im 
Gedankengehalt als in der Lehrweise und der Art des Vortrages 
liegt seine Bedeutung und das Neue in seiner Erscheinung: er 
ist der erste Dialektiker aus der Schule des Confucius. 

Als echter Confucianer behandelt auch Meng-tsz6 mit Vor- 
liebe Fragen des praktischen Lebens, und unter diesen spielen 
wiederum die Pflichten, die der Staat Regierenden und Regierten 
auferlegt, die Hauptrolle. Dafs ein Staatswesen nur auf sittlicher 
Grundlage gedeihen könne, ist das thema probandum, das immer 
wiederkehrt. Nicht den Vorteil soll daher der Fürst erstreben, 
sondern Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Mit diesem Leitmotiv, 
das den Gegenstand eines Gespräches zwischen Meng-tsz6 und 



— 99 — 

dem Könige Hoei von Liang bildet, beginnt denn auch das 
Buch. Als Meng-tsz6 den König besucht, apostrophiert ihn 
dieser mit den Worten: »Ehrwürdiger Herr, da du, tausend 
Meilen nicht für weit erachtend, hierher gekommen bist, wirst 
du wohl auch in der Lage sein, meinem Staate Vorteil zu 
bringen ?€ — Meng-tsz^ erwiderte: »Warum, o König, mulst 
du von Vorteil reden? es gibt doch auch Menschlichkeit imd 
Gerechtigkeit, und die dürften genügen. Fragt der König : ,Wie 
bringe ich meinem Staate Vorteil?' so fragen die Grolswürden- 
träger: ,Wie bringen wir imserem Hause Vorteil?' und die 
niederen Beamten und das Volk : , Wie bringen wir unserer Person 
Vorteil?' — Wenn Obrigkeit und Untertanen sich gegenseitig 
den Vorteil streitig machen, möchte der Staat gefährdet werden. 
Wer in einem Staate von zehntausend Schlachtwagen dessen 
Fürsten tötet, mufs über ein Hauswesen von tausend Schlacht- 
wagen verfügen, und wer in einem Staate von tausend Schlacht- 
wagen dessen Fürsten tötet, mufs über ein Hauswesen von 
hundert Schlachtwagen verfügen. Tausend von zehntausend 
und hundert von tausend sollte man nicht für gering achten. 
Wer die Gerechtigkeit hintansetzt und den Vorteil voranstellt, 
findet ohne Raub kein Genüge. Noch hat es keinen Humanen 
gegeben, der seine Nächsten im Stiche gelassen, keinen 
Gerechten, der seinen Fürsten hintangesetzt hätte. Der König 
sage doch auch : ,Menschlichkeit und Gerechtigkeit' — und damit 
ist's gut. Warum mufs von Vorteil die Rede sein?€ 

Obenan aber steht die Menschlichkeit: sie ist die höchste 
tmter den Tugenden und daher die einzig sieghafte unter ihnen. 
Derselbe König Hoei von Liang klagt einmal dem Meng- 
tsz6 seine Not und sagt: »Dafs es keinen mächtigeren Staat 
im Reiche gab als Tsin*), ist dir, ehrwürdiger Herr, bekannt. 
Seit Tsin an meine Person gekommen ist, bin ich im Osten von 
Ts*i geschlagen worden, wobei mein ältester Sohn den Tod er- 
litt. Im Westen verlor ich siebenhundert Meilen Landes an 
Ts*in, und im Süden ward ich von Ch^u gedemütigt. Ich 
möchte tun der Toten willen die Schmach ein für allemal tilgen; 

*) Der Staat Tsin war unter die drei Geschlechter W e i («= L i a ng), 
Chao und Han geteilt worden, so dafs der König Hoei also nur 
über einen Teil desselben herrschte; nichtsdestoweniger spielt er sich 
hier als Herrn über das ganze Tsin auf. 

?♦ 



— 100 — 

was mnlis ich tun, um das zu ermöglichen ?€ — Meng-tszfi 
antwmlet: »Selbst mit einem Gebiete von hmidert Meilen lälst 
sich die Ktaigswürde erlangen. Wenn der König dem Volke 
eine menschenfreundliche Regierang gewährt, Körper- und Geld- 
strafen verringert, Zölle und Abgaben erleichtert, dals es tief 
pflttgen und sorgfältig jäten könne, dats die rüstigen Männer 
ihre Mufsetage benutzen, um Kindes- und Bruderliebe, Treue 
und Aufrichtigkeit zu pflegen, daheim ihren Vätern und älteren 
Brüdern, drauüsen ihren Älteren und Vorgesetzten zu dienen, 
dann kann er sie Stöcke schneiden lassen und damit die starken 
Panzer und Waffen von TsMnundCh'u zurückschlagen. Jene 
(d. h. die übrigen Fürsten) rauben dem Volke seine Zeit und 
lassen es nicht zum Pflügen und Jäten kommen, um die Eltern 
zu ernähren, so dals diese Frost und Hunger leiden und die 
Brüder, Weiber tmd Kinder getrennt und versprengt sind. Da 
jene ihr Volk zu Grunde richten, soUte der König sich aufmachen, 
sie zu züchtigen: wer wollte sich ihm widersetzen? Daher heilst 
es: ,Der Menschenfreundliche hat keinen Widersacher.' Ich 
bitte, der König wolle nicht daran zweifeln. c — Das gleiche 
Thema behandelt Meng-tsz£ in einem Gespräche mit dem 
Könige Siang von Liang, dem Sohne und Nachfolger des 
vorigen. Von einer Audienz beim Könige heimkehrend, sagt er 
zu seiner Umgebung: »Als ich ihn von fem erblickte, schien er 
mir nicht einem Fürsten zu gleichen, und nachdem ich mich ihm 
genähert, gewahrte ich nichts Ehrfurchtgebietendes. Plötzlich 
richtete er die Frage an mich, wie das Reich gefestigt werden 
könne. Ich antwortete: ,Durch Einigung wird es gefestigt.' — 
,Wer vermag es zu einigen?' Ich erwiderte: ,Wer keine Lust 
daran findet, Menschen zu töten, vermag es zu einigen.' — ,Wer 
vermöchte ihm beizustehen?' — ,Es würde Keinen im Reiche 
geben,' erwiderte ich, ,der ihm nicht beistünde. Kennt der 
König wohl jene Saatenkeime ? Im siebenten und achten Monate, 
während die Dürre herrscht, werden die Keime trocken; aber 
sobald der Himmel sich dicht mit Wolken bedeckt und sich in 
Strömen der Regen ergielst, heben sie erfrischt ihre Köpfe. 
Wenn dem so ist, wer vermöchte sie zurückzuhalten? — Nun 
aber hat es unter den Menschenhirten noch keinen gegeben, der 
keine Lust daran fände, Menschen zu töten ; gäbe es einen solchen, 
so würde das ganze Volk, die Hälse reckend, zu ihm emporblicken» 



— 101 — 

Wenn dem in Wahrheit so wäre, so würde das Volk sich ihm 
zuwenden, dem Wasser gleich, das abwärts fliefst: wer vermöchte 
den Strom dann zurückzuhalten ?^€ — Der König fragt dann 
weiter, welcher Art die Tugend sein müsse, um die Königswürde 
erlangen zu können, und gibt dadurch dem Meng-tsz6 Gelegen- 
heit, dem Könige dessen besseres Selbst zu enthüllen, indem er 
ihm zeigt, wie bei ihm unter der leichten Hülle einer schwäch- 
lichen Sentimentalität der wahre Schatz echter Menschlichkeit 
verborgen liegt. Auf jene Frage also antwortete Meng-tsz6: 
»Beschirme das Volk, so wird dich niemand an der Eiiangung 
der Königswürde hindern könnende Darauf jener: »Ist es denn 
für einen Mann meines Schlages möglich, das Volk zu be- 
schirmen ?€ — »Freilichf, sagte Meng-tsz6. »Woher weilst du, 
dals ich es kann?€ fragte der König. Meng-tsz6 sagte: »Ich 
habe den Hu Ho folgendes erzählen hören. Der König safs 
einmal oben in seiner Halle, da ging ein Mann unterhalb der- 
selben vorbei, der einen Ochsen führte. Als der König ihn er- 
blickte, fragte er, wohin der Ochse gehe. Jener Mann erwiderte: 
,Ich will mit seinem Blute eine Glocke weihen.' Da sprach 
der König: ,Lass' ihn frei; ich kann es nicht ertragen, wenn 
er zittert, wie einer, der unschuldig zum Richtplatze geht.' 
Sprach jener: ,Soll ich also die Glockenweihe unterlassen?' — 
,Wie dürftest du sie unterlassen?' sagte der König, ,vertausche 
den Ochsen gegen ein Schaf.' — Ich weils nicht, ob sich das 
so zugetragen hat?c — » Allerdings, c erwiderte der König. Da 
sagte Meng-tsz6: »Ein solches Gemüt reicht hin, um die 
Königswürde zu erlangen. Die hundert Familien hielten den 
König für geizig: ich aber weifs, dafs der König den Anblick 
nicht ertragen konnte.€ — »So ist es, c sagte der König; »und 
doch liegt in Wirklichkeit etwas Wahres in der Meinung der 
hundert Familien. Aber so eng und klein auch der Staat Ts^i 
ist, — wie hätte ich mit einem Ochsen geizen können? Ich 
konnte es nur eben nicht ertragen, wenn er zitterte, wie einer, 
der unschuldig zum Richtplatze geführt wird ; aus diesem Grunde 
wollte ich ihn gegen ein Schaf vertauscht haben. c Meng-tsz6 
sagte: »O König! wundere dich nicht darüber, dals die hundert 
Familien dich für geizig hielten. Du wolltest Grolses gegen 
Kleines vertauscht haben — : wie sollten jene das verstehen? Wenn 
du mit dem Ochsen Mitleid empfandest, weil er unschuldig zum 



— 102 — 

Richtplatze ging — was war da zwischen Ochs und Schaf zu 
wählen ?€ Der König sprach lächelnd: »Welch eine Gesinnung 
fürwahr! Ich geizte nicht mit seinem Werte und wollte ihn 
doch gegen ein Schaf vertauschen! Mit Recht nannten die 
hundert Familien mich geizig.c Meng-tsz6 sagte: »Es hat 
nichts zu bedeuten; die Menschlichkeit hatte dir eben einen 
Streich gespielt: den Ochsen hattest du gesehen, aber das Schaf 
noch nicht. Der Edle ist in seinem Verhalten zu den Tieren 
derart, dals er, nachdem er sie lebend gesehen, es nicht erträgt, 
sie sterben zu sehen, imd nachdem er ihre Stimme gehört, es 
nicht erträgt, ihr Fleisch zu essen; daher hält der Edle Schlacht- 
hof und Küche fem.€ Der König sprach erfreut: »Im Shi-king 

heilst es: 

Was wohl ein andrer hat im Herzen, 
Ich rat' es, — ich betrachte ihn. 

Das palst auf dich. Allerdings verfuhr ich so; aber als ich in 
mich ging, tun meinen Gefühlen auf den Grund zu konmien, 
da vermochte ich mein Gemüt nicht zu fassen; als du es aus- 
sprachst, da regte sich in meinem Herzen ein Gefühl des Mitleids. 
Was ist es nun, wodurch ein solches Gemüt zur Erreichung der 
Königswürde geeignet ist?€ Meng-tsz6 erwiderte: »An- 
genommen, es berichtete dir jemand: ,Meine Kraft reicht aus, 
um dreilsig Zentner zu heben, sie reicht aber nicht aus, um eine 
Feder aufzuheben; meine Sehkraft reicht aus, um die Spitzen 
der Herbsthärchen ^) zu unterscheiden, aber nicht, um eine Fuhre 
Brennholz wahrzunehmen,^ — würdest du das zugeben ?c — 
»Neinc, sagte der König. — »Nun aber reicht deine Güte hin, 
um sich bis auf die Tiere zu erstrecken, aber deine Wohltaten 
gelangen nicht bis zu den hundert Familien. Wie kommt das 
nur? Wenn einer eine Feder nicht aufhebt, so liegt es doch 
daran, dals er seine Kraft nicht anwendet, und wenn einer eine 
Fuhre Brennholz nicht wahrnimmt, so liegt es daran, dafs er 
seine Sehkraft nicht anwendet. Wenn du, o König, die könig- 
liche Gewalt nicht ausübst, so ist auch hier die Ursache die, dals 
du es nicht tust, nicht aber, dafs du es nicht vermöchtest, c Der 
König fragte: »Wodurch unterscheidet sich der Form nach das 



^) Es sind hier die noch feinen Härchen des neuen Felles gemeint, 
welches den Tieren im Herbste wächst. 



— 103 — 

Nichttun vom Nichtkönnen?€ — Meng-tszfi sprach: iWenn 
es sich darum handelte, dais einer den T^ai-shan unter den 
Arm stecken und mit demselben über das nördliche Meer laufen 
sollte, und er sagte zu den Leuten: ,Ich kann es nicht^, so war 
er dazu in Wahrheit nicht im stände; sollte er aber für einen 
Älteren einen Ast abbrechen und spräche: ,Ich kann es nicht', 
so lag es daran, dafs er es nicht tat, nicht aber, dals er es 
nicht gekonnt hätte. Wenn du, o König, die königliche Gewalt 
nicht ausübst, so gleichst- du darin nicht dem, der mit dem T'ai- 
shan unterm Arme über das nördliche Meer laufen, sondern 
dem, der einen Ast abbrechen sollte. Wenn wir unsere Alten als 
Alte behandeln und diese Behandlung auch auf die Alten anderer 
Menschen ausdehnen, wenn wir unsere Jungen als Junge be- 
handeln imd diese Behandltmg auch auf die Jungen anderer 
Menschen ausdehnen, dann läfst sich das Reich auf der Hand- 
fläche drehen. Im Shi-king heilst es: 

Sein Beispiel war der Gattin Leiter 

Und ging auf seine Brüder weiter, 

Bis es auf Häuser und auf Länder kam^). 

Das besagt: er beschränkte sich darauf, seine Gesinnung auf jene 
zu übertragen. Wer die Güte betätigt, ist daher im stände, alles 
Land innerhalb der vier Meere zu beschirmen, wer aber die Güte 
nicht betätigt, vermag nicht einmal Weib und Kinder zu be- 
schirmen. Dasjenige, worin die Alten den Heutigen so sehr über- 
legen waren, ist nichts anderes: was sie taten, verstanden sie 
eben auch durchzuführen. Nun aber reicht deine Güte hin, um sich 
bis auf die Tiere zu erstrecken, aber deine Wohltaten gelangen 
nicht bis zu den hundert Familien. Wie konmit das nur? — 
Durch Wägen erkennt man das Gewicht, durch Messen die 
Länge : das ist bei allen Dingen so, und beim Gemüt erst recht. 
Ich bitte dich, o König, erwäge das. Oder empfindest du Freude 
im Herzen, wenn du Panzer und Waffen in Bewegung gesetzt, 
Soldaten und Offiziere in Gefahr gebracht und bei den Lehens- 
fürsten Unzufriedenheit wachgerufen hast?€ — Der König sprach: 
»Nein; wie sollte ich daran Freude haben? Ich erstrebe dadurch 
nur, was ich sehnlich wünsche. c Meng-tsz6 fragte: »Darf ich 
erfahren, was der König so sehnlich wünscht ?€ Der König 



^) Diese Verse beziehen sich auf den König Wen-wang. 



— 104 — 

lächelte, ohne ein Wort zu sagen. Meng-tszfe fuhr fort : »Fehlt 
es etwa an fetten und stilsen Speisen für deinen Gaumen? an 
leichten und warmen Kleidern fttr deinen Leib? oder fehlt es 
an bunten Farben, um von deinen Augen betrachtet, an Lauten 
und Tönen, um von deinen Ohren gehört zu werden? oder an 
Schmeichlern und Günstlingen, die vor deinen Augen deine Be- 
fehle ausfahren? Deiner Diener sind genug, um dir solches zu 
gewähren. Oder sollte es dir dennoch darum zu tun sein?c — 
Der König sagte: »Nein, daran ist mir nicht gelegen.€ »Nun,c 
fuhr Meng-tsz6 fort, »dann lälst sich schUefslich erkennen, was 
du so sehnlich wünschest. Du möchtest dein Ländergebiet er- 
weitem, die Fürsten von Ts*in und Ch^u an deinen Hof ziehen, 
über das Mittelreich herrschen tmd die Barbarenstämme der vier 
Himmelsgegjsnden unterwerfen. Durch das, was du tust, er- 
streben, was du wünschest, heilst aber auf einen Baum steigen, 
um Fische zu suchen.« — »Ist es so arg?« fragte der König. 
Meng-tsz6 erwiderte: »Womöglich gar noch ärger; wenn 
jemand auf einen Baum steigt, um Fische zu suchen, so findet 
er zwar keine, aber es hat doch kein Unheil zur Folge; wer 
aber durch das, was du tust, erstrebt, was du begehrst, dem steht 
in der Folge sicherlich Unheil bevor.« Eter König sagte : »Kann 
ich darüber noch etwas zu. hören bekommen?« — Meng-tszS 
sprach: »Gesetzt den Fall, die Leute von Tsou lägen mit denen 
von C h ' u im Kampfe : wer von beiden würde nach des Königs 
Meinung siegen?« — »Die Leute von Ch'u,« erwiderte der 
König. »Also,« fuhr Meng-tsz6 fort, »können die Kleinen 
sicherlich nicht einem Grolsen, Wenige sicherlich nicht einer 
Vielheit, Schwache sicherlich nicht einem Starken widerstehen. 
Das Land innerhalb der vier Meere umfalst neun Gebiete von 
je tausend Meilen im Geviert, und Ts^i hat deren alles in allem 
eins; wolltest du nun mit einem Teile acht unterwerfen, was 
wäre das anderes, als wenn die Leute von Tsou denen 
von C h ' u Widerstand leisten wollten ? Du solltest doch der 
Sache auf den Grund gehen. Wenn du, o König, jetzt bei Aus- 
übung der Regierung Menschlichkeit verbreitest, so wird die 
Folge davon sein, dals alle Beamten im Reiche an deinem Hofe 
zu stehen, alle Ackerbauer auf deinen Feldern zu pflügen, alle 
Kaufleute ihre Waren auf deinen Märkten aufzustapeln, alle 
Reisenden auf deinen Strafsen zu wandern und alle, die einen Groll 



— 105 — 

gegen ihren Fürsten hegen, dir ihre Klage vorzubringen 
wünschen. Wenn dem so wäre, wer vermöchte sie zurück- 
zuhalten ?€ Der König sprach: >Ich bin einfältig und vermag 
nicht, hierin einzudringen. Ich wollte, Meister, du kämest meinen 
Absichten zu Hilfe, indem du mich in klarer Weise belehrtest; 
fehlt es mir auch an Scharfsinn, so möchte ich den Versuch dodi 
wagen. c Meng-tszS sprach : > Ohne ein beständiges Einkommen 
eine beständige Gesinnung zu haben, dazu ist nur der Gebildete 
im Stande ; was das Volk betrifft, so wird es ohne ein beständiges 
Einkommen auch keine beständige Gesinnung haben. Wenn es 
aber keine beständige Gesinnung hat, ist es schliefslich zu jeder 
Art von Zügellosigkeit , Schlechtigkeit, Verkehrtheit und Aus- 
schweifung fähig. Es aber, nachdem es einmal in Missetaten 
versunken ist, hinterdrein verfolgen und züchtigen wollen, 
hiefse das Volk umgarnen. Wie wäre es nun denkbar, dais, 
während ein human gesinnter Mann den Thron innehat, das 
Volk umgarnt werden sollte? Daher regelt ein erleuchteter 
Fürst das Einkommen des Volkes derart, dafs es nach oben hin 
Genüge hat, um den Eltern zu dienen, und nach unten hin in 
der Lage ist, Weib und Kinder zu ernähren, so dals es in glück- 
lichen Jahren alle Tage satt wird und in Jahren der Not dem 
Verderben entrinnt. Hernach mag er es zum Guten anspornen, 
denn dafs das Volk ihm gehorche, ist eine Kleinigkeit. Jetzt 
aber regelst du das Einkommen des Volkes derart, dafs es nach 
oben hin nicht Genüge hat, den Eltern zu dienen und nach 
unten hin nicht in der Lage ist, Weib und Kinder zu ernähren. 
In glücklichen Jahren ist es steten Leiden und in Jahren der 
Not dem Verderben preisgegeben. So sucht es nur, dem Tode 
zu entrinnen, in steter Angst, dem nicht gewachsen zu sein. Wie 
soll es da Mufse finden, um Schicklichkeit und Gerechtigkeit 
zu pflegen ! Wenn du, o König, deine Absicht betätigen möchtest, 
warum gehst du der Sache nicht auf den Grund? — Anwesen 
▼on fünf Morgen lasse mit Maulbeerbäumen bepflanzen, dann 
werden die Fünfzigjährigen sich in Seide kleiden können; lasse 
die für die Züchtung von Hühnern, Ferkeln, Hunden und 
Schweinen erforderliche Zeit nicht verloren gehen, dann werden 
die Siebzigjährigen Fleisch essen können. Einem Acker von 
hundert Morgen entziehe nicht die ihm zukommende Zeit, dann 
werden Familien von acht Köpfen nicht zu hungern brauchen; 



— 106 — 

richte deine Aufmerksamkeit auf den Unterricht in den Schulen 
und lasse durch ihn die Bedeutung von Kindes- und BruderUebe 
einschärfen, dann werden die Grauhaarigen keine Lasten tragen 
auf Straüsen und Wegen. Lasse die Alten sich in Seide kleiden 
und Fleisch essen, sorge dafür, dals das schwarzhaarige Volk 
nicht Hunger noch Frost leide — : dals unter solchen Umständen 
die Königswürde nicht erlangt worden wäre, ist noch nicht da- 
gewesen, c 

Ich habe diesen Dialog absichtlich in seinem vollen Umfange 
wiedergegeben, einerseits, weil in ihm Meng-tszSs Lehre von 
den Existenzbedingungen des Staates und den aus ihnen sich er- 
gebenden Aufgaben und Pflichten seiner Leiter gewissermaüsen 
m nuce enthalten ist, anderseits aber auch, weil er so recht dazu 
angetan ist, dem Leser ein anschauliches Bild von des Philo- 
sophen Lehr- und Darstellungsweise zu geben. Denn gerade 
die Darstellungsweise ist es, an der sich der gewaltige Fort- 
schritt gegenüber dem Confucius und der bisherigen confuda- 
nischen Schule erkennen läfst: in ihr liegt Meng-tszSs litterar- 
geschichtliche Bedeutung. Confucius war zufrieden, wenn er 
für das, was er zu sagen hatte, einen knappen und verständ- 
lichen Ausdruck fand; Meng-tszö hingegen will nicht nur be- 
lehren, sondern auch überreden und überzeugen; er ist daher in 
erster Linie darauf bedacht, anschaulich zu reden. Was dem 
Confucius gänzlich fehlte, die poetische Gabe der Einbildungs- 
kraft, besitzt Meng-tsz6 in reichem Mafse, und dals er sich 
ihrer durch glücklich gewählte Bilder und Gleichnisse mit Vor- 
liebe bedient, verleiht seiner Darstellung einen so eigenartigen 
und unvergänglichen Reiz. 

Auf eine eingehendere Darstellung der Lehrmeinungen des 
Meng-tsz6 darf an dieser Stelle um so eher verzichtet werden, 
als auf seine berühmt gewordene Lehre von der angeborenen 
Güte der menschlichen Natur noch im dritten Kapitel im Zu- 
sammenhange mit der sich an jene Lehre knüpfenden Kontroverse 
zurückzukommen sein wird. 

HL Kanonische Schriften zweiter Ordnung. 

Es ist auf S. 32 erwähnt worden, dals die Einteilung der 
klassischen Schriftwerke in fünf King und vierShu vermutlich 
erst aus der Zeit der Sung-Djmastie herrührt, dafs dagegen 



— 107 - 

ursprünglich nur die fünf King genannt werden, deren Zahl zu- 
nächst auf neun und sdüielslich, im 7. Jahrhundert, auf dreizehn 
steigt, indem aulser den fünf King noch die drei Konmientare 
zum Ch^un-tsMu, die beiden Ritualwerke I-li und Chou-li, 
sowie das Hiao-king, das Erh-ya, das Lun-y ü und das Buch 
Meng-tszS den kanonischen Büchern beigezählt werden. Die 
überschüssigen, d. h. nicht unter die fünf King und vier Shu 
aufgenommenen Texte fasse ich unter der Bezeichnung »kanonische 
Bücher zweiter Qrdnungc zusammen. Da von den drei Kommen- 
taren zum Ch'un-ts^iu bereits die Rede gewesen ist und das 
Erh-ya als blolses Wörterbuch ein litteraturgeschichtliches Inter- 
esse kaum beanspruchen kann, so bleibt nur noch übrig, die 
beiden Ritualwerke und das Hiao-king nach Inhalt und Be- 
deutung kurz zu charakterisieren. 

Das I-li und das Chou-li unterscheiden sich ihrer ganzen 
Anlage nach dadurch vom Li-ki, dals sie sjrstematisch geordnete 
Kompendien sind; inhaltlich beschränken sich beide, ebenfalls im 
Gegensatze zum Li-ki, auf die regierenden Klassen: das niedere 
Volk bleibt in ihnen gänzlich unberücksichtigt. Gleich den Frag- 
menten, aus denen das Li-ki kompiliert wurde, sind auch die 
Bambustafeln, die den Text des I-li und Chou-li enthielten, 
im 2. Jahrhundert y. Chr. beim Abbruch des Hauses des Con- 
f ucius ans Licht gefördert worden. Die Tradition nennt zwar 
den Chou-kung als ihren Verfasser, doch verdient diese ohne» 
hin durch keinen Beweis unterstützte Angabe auch aus dem 
Grunde keinen Glauben, weil die beiden Bücher eine so hohe 
Stufe staatlicher Organisation erkennen lassen, wie solche nur 
als das Produkt einer langen Entwicklungsdauer denkbar er- 
scheint; unmöglich können sie daher schon zu einer Zeit verfalst 
worden sein, da die Dynastie erst im Entstehen begriffen war. 

Das I-li^) — der Titel bedeutet etwa: »konventionelle 
Ritenc — umfalst das ganze Gebiet der im Staate geltenden 
öffentlichen Bräuche sowohl religiösen wie profanen Charakters. 
In 17 Büchern behandelt es der Reihe nach die vorgeschriebenen 
Bräuche bei der Mündigkeitsfeier, bei der Eheschlielsung und beim 



^) I-li, C^r^monial de la Chine antiqüe avec des eztraits des 
meilleurs commentaires, traduit pour la premi^re fois par C. de Harlez. 
Paris 1890. 



- 108 — 

öffentlichen Bogenschiefsen, dann das Zeremoniell für den Em- 
pfang von Gesandtschaften und für Bankette, wie sie in regel- 
mäfsiger Wiederkehr an den Fürstenhöfen stattfanden , endlich 
mit besonderer Ausführlichkeit die Trauer- und Opferriten. Da 
die Lehensfürsten in dem Buche eine Hauptrolle spielen, wohin- 
gegen das Oberhaupt des Reiches nur nebenher erwähnt wird, 
wird es vermutlich während der letzten Periode der C h o u - 
Dynastie entstanden sein. 

Das Chou-li^), die Riten der Chou, trug ursprüngUch 
den Titel Chou-kuan, »die Ämter der Chouc, und dieser ältere 
Name entspricht auch weit besser dem Inhalte des Buches, das 
sich nicht sowohl mit den Riten, als vielmehr mit der vielfältig 
gegliederten Hierarchie des Beamtentums zur Zeit der Chou- 
Dynastie befalst. Es ist eine Art Staatshandbuch, das eine bis 
auf die geringfügigsten Einzelheiten sich erstreckende Darstellung 
des aulserordentlich komplizierten Verwaltungsmechanismus der 
damaligen Zeit enthält. 

So wichtig nun auch diese beiden Bücher als Quellenwerke 
für die chinesische Altertumskunde sind, so kommt ihnen als 
litterarischen Erzeugnissen, ebenso wie dem Li-ki, doch nur 
eine untergeordnete Bedeutung zu. Wenn nun aber gerade 
dieses allein unter die kanonischen Bücher aufgenommen wurde, 
während jene allmählich immer mehr in Vergessenheit gerieten, 
so kann diese Auszeichnung keineswegs etwa seinem inneren 
Werte zugeschrieben werden, da vielmehr das I-li und das 
Chou-li als einheitlich und planmälsig angelegte und in sich 
abgeschlossene Werke unbedingt höher stehen als das Li-ki, 
das den Charakter des Zufälligen, die Mängel einer ziemlich 
kritiklosen Kompilation nur zu deutlich verrät. Eher wird man 
annehmen dürfen, dafs jene, eben weil sie sich einerseits auf das 
Zeitalter der Chou beschränken, anderseits aber ausschlief slich 
die regierenden Klassen ins Auge fassen, unter den späteren 
Djoiastien nur noch ein historisches Interesse beanspruchen konnten, 
während das Li-ki durch seine Bezugnahme auf die häuslichen 
Riten des Volkes, sowie nicht minder durch die Mannigfaltig- 
keit der behandelten Gegenstände einen nachhaltigen Einfluls 



*) Le Tcheou-li ou Rites des Tcheou, traduit pour la premi^re 
fois du chinois par feu J^ouard Biet. Paris MDCCCLI. 



- 109 — 

auf das sittliche und soziale Leben der Nation gewinnen muüste 

und daher selbst heute noch in vielen Beziehungen als eine j 

Art Kanon des guten Tones in Geltung steht. 

Was endlich das Hiao-king^), das kanonische Buch 
von der Kindesliebe, anlangt, so gehört es ebenfalls zu den im 1 

Hause des Confucius entdeckten Texten. Es ist ein kurzer j 

Traktat in 18 Kapiteln, der in Gesprächen zwischen Confucius 
und seinem Schüler TsengTs'an besteht und, wie schon aus dem I 

Titel ersichtlich, die Kindesliebe zum Gegenstande hat. Dals dieses 
ziemlich seichte Produkt, wie die landläufige Überliefertmg will, 
teils von Confucius selbt, teils von Tseng-tsz6 verfafst sein 
soll, ist kaum anzunehmen; vermutlich ist es, wenigstens in der 
uns vorliegenden Gestalt, späteren Urspnmgs. Da das Hiao- 
king immerhin, schon um seines Gegenstandes willen, in hohem 
Ansehen steht, so mögen die folgenden Proben zur Charakteristik 
seines Inhaltes tmd Stiles genügen: 

iDie Kindesliebe ist die Wurzel aller Tugend; aus ihr geht 
die Unterweisimg hervor, c 

»Leib und Gliedmafsen, Haar und Haut haben wir von 
imseren Eltern empfangen: dafs wir sie nicht zu zerstören noch 
zu schädigen wagen, ist der Kindesliebe Anfang. Seine Person 
zur Geltung bringen, seine Pflicht erfüllen, seinen Namen auf 
spätere Geschlechter übertragen, um Vater und Mutter berühmt 
zu machen, ist der Kindesliebe Schlufs. Denn die Kindesliebe 
beginnt mit dem Dienste der Eltern, sie findet ihre Fortsetzimg 
im Dienste des Fürsten und endet mit dem Geltendmachen der 
eigenen Person.« 

»Unter allem, was Himmel und Erde hervorgebracht, ist 
der Mensch das Vornehmste ; unter den Handlungen des Menschen 
ist die Kindesliebe die grölste; in der Kindesliebe ist nichts 
gröfser als der Respekt vor dem Vater; in dem Respekt vor dem 
Vater ist nichts gröfser, als ihn dem Himmel gleich zu achten.« 

»Wer seine Nächsten liebt, wagt nicht, anderen Menschen 
gegenüber Hals zu hegen; wer seine Nächsten ehrt, wagt nicht, 
andere Menschen geringschätzig zu behandeln. Sind Liebe und 



*) S. Legge s Übersetzung in The Sacred Bocks of the East, vol. 
III. — Femer: Le'Hiao-king, Livre sacr6 de la pi6t6 filiale, publik 
en chinois avec une traduction fran^aise et un commentaire perp^tuel 
emprunt^ auz sources originales par L^on de Rosny. Paris 1889. 



— 110 — 

Ehrerbietung im Dienste der Nächsten erschöpft, dann überträgt 
sich die Unterweisung auf die hundert Familien und wird zum 
Vorbilde innerhalb der vier Meere, c 

Interessanter ist das 17. Kapitel, in welchem sklavischer 
Gehorsam als mit wahrer Kindesliebe unvereinbar erklärt wird. 

Als Tseng-tszfe den Meister fragt, ob das Kindesliebe 
genannt werden könne, wenn man den Befehlen des Vaters ge- 
horche, antwortet Confucius: »Im Altertum hatte der Hinmiels- 
sohn sieben Beamte, die ihn warnten: wenn er auch pflicht- 
vergessen war, so verlor er doch nicht das Reich. Der Lehens- 
fürst hatte drei Beamte, die ihn warnten: wenn er auch pflicht- 
vergessen war, so verlor er doch nicht seinen Staat. Der Grofc- 
wtirdenträger hatte einen Beamten, der ihn warnte: wenn er 
auch pflichtvergessen war, so verlor er doch nicht sein Haus. 
Wenn der niedere Beamte einen Freund hat, der ihn warnt, so 
scheidet er nicht von seinem guten Namen; wenn der Vater 
einen Sohn hat, der ihn warnt, so verfällt er nicht in Un- 
gerechtigkeit. Daher: liegt eine Ungerechtigkeit vor, so darf 
der Sohn nicht unterlassen, seinen Vater zu warnen; der 
Minister darf nicht unterlassen, seinen Fürsten zu warnen. Liegt 
eine Ungerechtigkeit vor, so warne man davor. Den Befehlen des 
Vaters gehorchen — wie könnte man das Kindesliebe nennen !c 

Freilich ist auch dieser Gedanke nicht neu: Confucius 
spricht ihn, wenn auch mit anderen Worten, im Lun-yti 
(IV, 18) aus, und auch im Li-ki findet er zu wiederholten 
Malen Ausdruck. 

Die Sonderstellung, welche die kanonischen und klassischen 
Bücher in der Wertschätzung der Nation einnehmen, erheischte 
eine eingehendere Berücksichtigung derselben, als sie vielleicht 
ihrem inneren Werte allein entsprochen hätte. Nach Zeit, Inhalt 
und Form verschieden , bilden sie i doch eine einheitliche, in sich 
geschlossene Gruppe, die den Confucius zu ihrem Mittelpunkte 
hat. Dadurch sind sie zu einer Macht geworden, die ihren Ein- 
fluls nicht auf die Litteratur allein, sondern auf d^ ganze 
geistige Leben und die Gesittung des Volkes ausgeübt hat und 
noch ausübt. Als der voUkonmienste Ausdruck der confucia- 
nischen Ideale ist die klassische Litteratur der Chinesen das 
geistige Kapital, von dessen Zinsen die Nation noch heute zehrt. 



DRITTES KAPITEL. 

Litteraturdenkmäler aus der vorconfucianischen 

und confucianischen Zeit Der ältere Confucia- 

nismus und philosophische Gegenströmungen. 



I. Litteratardenkmäler aus der vorconfadanischen und 

confncianischen Zeit 

Was wir über die Litteratur der vorconfucianischen Periode 
wissen, beschränkt sich im wesentlichen auf die von Confucius 
gesammelten nnd später unter dem Namen der fünf kanonischen 
Bücher zusammengefalsten Texte. Die geschichtlichen Urkunden, 
wie solche sowohl im königlichen Archive der C ho u- Dynastie 
als auch in den verschiedenen fürstlichen Archiven aufbewahrt 
wurden, kennen wir nur aus den Kommentaren zum Ch^un- 
tsMu und einigen ähnlichen Bearbeitungen, die ebenfalls schon 
einer späteren Zeit angehören und im zweiten Abschnitte dieses 
Kapitels zu erwähnen sein werden. Was sonst aus jener Periode 
auf uns gekommen ist, lälst sich mit wenigen Worten erledigen, 
zumal die' Echtheit der in Betracht kommenden Texte keines- 
wegs über jeden Zweifel erhaben ist. Dahin gehört vor allem 
das Shan-hai-king oder kanonische Buch der Berge 
und Meere, eine für uralt geltende Länderbeschreibung, die 
jedoch dermafsen phantastisch gehalten ist, dafs schon Sz6-ma 
Ts*ien, wie er ehrlich bekennt, das Buch der vielen darin er- 
zählten Wunderdinge wegen nicht zu zitieren wagt. In der Tat 
sind die zahllosen darin enthaltenen Berichte von rinderförmigen 
Fischen mit Flügeln und Schlangenschwänzen, vogelköpf igen 
Schildkröten, Vögeln mit menschlichem Antlitz und was der- 



— 112 - 

gleichen Fabelwesen mehr sind, nicht gerade dazu angetan^ die 
Glaubwürdigkeit selbst der rein topographischen Angaben zu er> 
höhen. Übrigens wird das Shan-hai-king weder von Con- 
fucius noch in den von ihm redigierten Texten jemals erwähnt, 
so dals es mehr als fraglich erscheint, ob es zu jener Zeit über- 
haupt schon existiert habe. Da von dem Buche vielmehr zum 
ersten Male zur Zeit der älteren Han-D3mastie die Rede ist, 
wird man wohl annehmen dürfen, dafs es schwerlich vor dem 
3. Jahrhundert v. Chr. entstanden sei*). 

Aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. rührt dann noch, falls der 
überlieferte Text echt ist, das dem Kuan-tsz6 zugeschriebene 
Buch her, das seinen Namen trägt. Kuan-tszS oder, wie sein 
eigentlicher Name lautet, Kuan Chung war einer der aus- 
gezeichnetsten Staatsmänner des alten China. Seiner geschickten 
und umsichtigen Leitung hatte es das Fürstentum Ts*i zu ver- 
danken, dafs es zu jener Zeit an Macht und Ausdehnung die erste 
Stelle unter den Lehensstaaten einnahm. Dals jedoch unter 
seinen glänzenden Eigenschaften Lauterkeit des Charakters nicht 
gerade die hervorragendste war, läfst sich nach seinem eigenen 
Zeugnis leider nicht bezweifeln. Mit immerhin anerkennenswerter 
Offenheit verschweigt er durchaus nicht, wie wenig schön er sich 
gegen Pao Shuh-ya benonmien, dessen Freundschaft er erst 
sein Leben und dessen Fürsprache er dann seine späteren Er- 
folge zu verdanken hatte. Vom Fürsten Huan von Ts^i an 
die Spitze der Regierung berufen, führt er sich diesem gegenüber 
durch folgendes Selbstbekenntnis ein: »Vormals, da ich arm war, 
pflegte ich mit PaoShuh-ya Handel zu treiben. Teilten wir den 
Gewinn, so eignete ich den Löwenanteil mir zu; PaoShuh-y.a 
aber rechnete es mir nicht als Habgier an, denn er wufste, daXs 
ich arm war. Einst führte ich für ihn Geschäfte und verarmte 
dabei vollends; er aber rechnete es mir nicht als Dummheit an, 
denn er wufste, dals die Gewinnaussichten je nach der Zeit ver- 
schieden sind. Dreimal habe ich Ämter angenommen, und dreimal 
bin ich vom Fürsten abgesetzt worden; Pao Shuh-ya hielt mich 
darum nicht für unwürdig, denn er wufste, dafs ich nicht die 
geeigneten Zeitläufte vorgefunden hatte. Ich habe dreimal ge- 
kämpft und bin dreimal geflohen ; PaoShuh-ya hielt mich darum 

^) Vgl. de Harlez im T'oung- pao, V 122. 



— 113 — 

nicht für feige ^ denn er wuIste, dals ich eine alte Mutter hatte. 
Als Prinz Kiu geschlagen wurde, folgte ihm Chao Huh in den 
Tod, während ich mich durch Gefangenschaft entehrte; Pao 
Shuh-ya hielt mich danun nicht für schamlos, denn er wuIste, daüs 
ich um einer Kleinigkeit willen nicht errötete, mich wohl aber 
schämte, wenn meine Verdienste und mein Name im Reiche nicht 
bekannt wurden. Die mir das Leben gegeben haben, sind meine 
Eltern: der mich kennt, ist Pao Shuh-ya.c ^) 

Das imter Kuan-tszös Namen überlieferte Buch enthält 
86 Kapitel in 24 Büchern und behandelt Fragen der Politik und 
Moral, die fast das ganze Gebiet des staatlichen und wirtschaft- 
lichen Lebens umfassen. Teils werden die behandelten Themata 
in zusammenhängender Rede, teils in Dialogform vorgetragen, 
vielfach auch Lehrverse und Sentenzen eingeflochten, von denen 
die ersteren vielleicht aus verlorengegangenen Lieder- und 
Spruchsammlungen stammen mögen. Dals das Buch von Kuan 
Chungs Hand herrühre, ist wohl ausgeschlossen, da es dem 
hergebrachten Brauche zuwiderlaufen würde, dafs der Verfasser, 
wie hier geschieht, von sich als Tszft, »Meistere, spricht. Des- 
wegen braucht jedoch noch keineswegs die Echtheit des Wort- 
lautes in Zweifel gezogen zu werden ; vielmehr scheint mir diese 
im grossen und ganzen schon durch die Angabe des Sz6-ma 
Ts'ien verbürgt zu sein, dals die Nachkommen des Kuan 
Chung in einer Reihe von mehr denn zehn Generationen im 
Fürstentume Ts'i in erblichem Solde standen und Städte zu 
Lehen hatten. Da sie femer, wie der genannte Historiograph 
hinzufügt, zu allen Zeiten namhafte Grolswürdenträger waren, 
werden sie auch jedenfalls, wie man bei der in China herrschen- 
den Pietät für die Vorfahren wohl annehmen darf, dafür gesorgt 
haben, das ruhmvolle Andenken ihres erlauchten Ahnherrn zu 
erhalten und seine Lehren der Nachwelt zu überliefern. Auch 
darf nicht vergessen werden — ein Punkt, auf den ich noch im 
folgenden Abschnitte dieses Kapitels zurückkomme — , daüs im 
alten China über die Reden hervorragender Männer, die sich mit 
ihrem Rate an der Staatslenkung beteiligten, gleichsam Buch 
geführt wurde. In dieser Befolgung des Gnmdsatzes: scripta 
tnanent liegt also auch schon eine gewisse Gewähr für die Echt- 

*) G. von der Gabelentz, Vorbereitendes zur Kritik des Kuan- 
tsr. Sitzber. d. kgl. preufs. Akad. d. Wiss, 1892, X, 5. 

GrubCp Geschichte der chinesischen Litteratur. 8 



— 114 - 

heit überlieferter Reden und Lehren, wie sie anderseits zugleich 
als eine prophylaktische Malsregel gegen allzu dreiste Fälschungen 
betrachtet werden kann. 

Nach welchen Grundsätzen Kuan Chung einen Staat 
regiert wissen wollte, setzt er in dem »Die Staatslenkungc be- 
titelten 48. Kapitel folgendermalsen auseinander: 

»Im allgemeinen ist die notwendige Voraussetzung der 
Staatslenkung die Hebung des Volkswohlstandes. Ist das Volk 
reich, so ist es leicht zu regieren; ist das Volk arm, so ist es 
schwer zu regieren. Woher weif s ich , dafs dem so sei ? — Ist 
das Volk reich, so hält es Ruhe in den Bezirken und sorgt für 
seine Familien; hält es Ruhe in den Bezirken und sorgt es für 
seine Familien, dann ehrt es seine Obrigkeit und hat Scheu vor 
Missetaten; ehrt es seine Obrigkeit imd hat es Scheu vor Misse- 
taten, dann ist es leicht zu regieren. Ist das Volk arm, so 
bringt es die Bezirke in Gefahr und vernachlässigt seine Familien; 
bringt es die Bezirke in Gefahr und vernachlässigt es seine 
Familien, dann wagt es, seine Obrigkeit zu mifsachten und die 
Verbote zu verletzen; mifsachtet es die Obrigkeit und vernach- 
lässigt es die Verbote, dann ist es schwer zu regieren. Daher 
^sind geordnete Staatswesen stets reich, ungeordnete Staatswesen 
stets arm. So wird denn, wer sich auf die Staatslenkung ver- 
steht, sicherlich zuerst des Volkes Wohlstand heben und dann 
erst es regieren. 

Wie kommt es, dafs in früheren Jahren 79 Generationen 
von Fürsten, obwohl ihre Anordnungen nicht von gleicher Art 
und ihre Befehle verschieden waren, dennoch durchweg die 
Königsgewalt im Reiche besessen haben? Sicherlich, weil ihr 
Staat reich und das Getreide in Fülle war. Nun geht aber der 
Staatswohlstand und der Getreidereichtum aus dem Ackerbau 
hervor; daher hielten die früheren Könige diesen in Ehren. Bei 
der Staatsverwaltung kommt es im allgemeinen vor allem darauf 
an, nichtiges Getue und prunkvollen Aufwand zu verbieten. 
Sind nichtiges Getue und prunkvoller Aufwand verboten,, so hat 
das Volk keinen Anlafs zum Vagabundentum; hat das Volk 
keinen Anlafs zum Vagabundentum, so wird es sich dem 
Ackerbau zuwenden; wendet es sich dem Ackerbau zu, so 
werden die Felder bebaut; werden die Felder bebaut, so nimmt 
das Getreide zu; nimmt das Getreide zu, so wird der Staat reich; 



- 115 — 

ist der Staat reich, so ist sein Heer stark; ist das Heer stark, 
so siegt es im Kriege; durch kriegerische Siegestaten wird das 
Gebiet erweitert. Somit wnisten die früheren Könige, dals ein 
zahlreiches Volk, ein starkes Heer, ein grolses Gebiet imd ein 
reicher Staat aus dem Getreidebestande hervorgehen; indem sie 
daher nichtiges Getue untersagten und imgewöhnlichen Aufwand 
verboten, erblickten sie ihren Vorteil im Ackerbau, Heutzutage 
gibt man sich nichtigem Getue und ungewöhnlichem Aufwände 
hin, so dals auf einen Arbeitstag fünf Tage des Schmausens 
kommen. Die Ackerbauer mögen das runde Jahr hindurch 
arbeiten und haben doch nicht genug, um sich selbst zu ernähren. 
Unter solchen Umständen vernachlässigt das Volk seine wichtigste 
Angelegenheit, um sich nichtigem Getue hinzugeben; wenn es 
aber seine wichtigste Angelegenheit vernachlässigt und sich 
nichtigem Getue hingibt, dann liegen die Felder brach, und der 
Staat verarmte 

Endlich ist noch imter den Zeitgenossen des Confucius 
der Stratege Sun Wu, auch Sun-tsz6 genannt, zu erwähnen, 
der ein Buch in 13 Kapiteln über die Kriegskunst verfafst hat. 
Der König Ho-lu von Wu^) (514—496 v. Chr.), der das Buch 
gelesen hatte und ihn daraufhin auf die Probe stellen wollte, 
liels ihn zu sich bescheiden und fragte ihn, ob er sich anheischig 
mache, durch Anwendung seiner strategischen Grundsätze selbst 
aus Weibern eine kriegstüchtige Truppe heranzubilden. Jener 
erklärt sich sofort dazu bereit, worauf ihm 180 Damen aus dem 
königlichen Frauenpalaste zu diesem Zweck zur Verfügung ge- 
stellt werden. Sun-tsz6 formiert aus ihnen zwei Korps, die er 
unter den Befehl der beiden Favoritinnen des Königs stellt, und 
erteilt ihnen darauf die nötigen Instruktionen. Als nun aber 
das Exerzieren beginnen soll, erfolgt statt der verlangten Evolu- 
tionen ein unbändiges Gelächter von selten der Schönen, die für 
den Ernst der Situation nicht das mindeste Verständnis zeigen. 
Sun-tsz6 lälst sich dadurch in keiner Weise beirren, sondern 
wiederholt seine Instruktion, indem er sie noch mehr dem Ver- 
ständnis der Damen anzupassen sucht, allein das Resultat bleibt 
dasselbe. Da reifst ihm denn die Geduld, und er gibt kurzer 
Hand den Befehl, die beiden untauglichen Anführerinnen zu ent- 



^) Der Staat Wu lag in der heutigen Provinz Kiang-su. 

8* 



-^ 116 - 

haupten. Vergeblich legt sich der König ins Mittel: Sun-tsz6 
besteht auf der Ausführung seiner drakonischen Malsregel, die 
beiden Favoritinnen werden enthauptet, und siehe da : nun klappt 
alles aufs beste. Sun-tsz6 hat seinen Zweck erreicht und läüst 
nunmehr den König zur Besichtigung der neuen Truppe ein- 
laden : jetzt könne er sie nach Belieben verwenden und, wenn er 
wolle, sogar durch Wasser und Feuer hindurchmarschieren lassen. 
Als der König indessen auf das Schauspiel zu verzichten vorzog, 
sprach Sun-tsz6 enttäuscht: »Der König findet nur an den 
Worten Gefallen; die Sache selbst vermag er nicht sich an- 
zueignende — Inmierhin sah der König jetzt ein, dafs Sun-tszg 
sich auf die Behandlung der Truppen verstand, und ernannte ihn 
zu seinem Oberbefehlshaber. Die Folge davon war, dafs er im 
Westen die Macht des Staates Ch'u brach, indem er dessen 
Hauptstadt besetzte, und im Norden die Fürstentümer Ts'i und 
Tsin seine Autorität fühlen liefs. 

Diese Anekdote, die von Sz6-ma Ts^ien im 65. Kapitel 
seiner Historischen Denkwürdigkeiten erzählt wird, sie 
mag nun wahr oder erfunden sein, lehrt, dafs Sun-tsz6 die 
Grundbedingung kriegerischen Erfolges vor allem in der energi- 
schen Durchführung einer eisernen Disziplin erblickte. In seiner 
Kriegskunst begnügt Sun-tsz6 sich damit, allgemeine Grund- 
sätze aufzustellen, ohne viel auf taktische Einzelheiten einzugehen. 
Das Heer ist die wichtigste Angelegenheit des Staates. Das- 
jenige, wodurch seine Leistungen bestimmt werden, sind Unter- 
richt, Himmel, Erde, der Feldherr und die Disziplin. Der Feld- 
herr soll von den Unternehmungen und Absichten des Feindes 
imterrichtet sein, er soll sein Augenmerk darauf richten, den 
Feind in seinen Bewegungen zu beeinflussen, ihn dagegen über 
die eigenen Absichten im unklaren lassen imd zu überraschen 
trachten. Genaue Ortskenntnis ist unerläfsliche Vorbedingung ge- 
eigneter Operationen; auch konunt es weniger auf die grofse 
Zahl der Truppen an, die unter Umständen sogar hinderlich sein 
kann, als auf Mannszucht und tüchtige Leitung. Stets mufs 
die Verbindung zwischen den eigenen Truppen im Auge behalten 
werden, damit sie einander im Notfalle zu Hilfe kommen können; 
dagegen soll man das feindliche Heer auseinanderzusprengen 
suchen. Ein tüchtiger Feldherr darf nicht unvorbereitet in den 
Kampf gehen, nicht auf den Zufall vertrauen; nichtsdestoweniger 



- 117 — 

soll er aber auch nicht einen vorgefalsten Plan um jeden Preis 
durchführen wollen, sondern mit den gegebenen Umständen zu 
rechnen und wohl zwischen wahrem Vorteil und Scheinvorteil, 
zwischen wahrem Verlust und Scheinverlust zu unterscheiden 
wissen. Um einen siegreichen Erfolg erwarten zu können, hat 
der Feldherr fünf Momente zu berücksichtigen: er mufs wissen, 
wann es Zeit ist, vorzugehen und sich zurückzuziehen, er mufs 
je nach den Umständen die richtige Truppenstärke verwenden, 
den Soldaten die gleiche Zuneigimg erweisen wie den Offizieren, 
die gegebenen Umstände richtig verwerten und endlich die Über- 
zeugung haben, bei jedem Schritte, den er tut, der Billigung 
seines Fürsten gewifs zu sein. Auch an humanitären Vorschriften, 
als da sind: Schutz der städtischen und ländlichen Bevölkerung 
und menschenfreundliche Behandlung der Gefangenen, läfst es 
Sun-tsz6 nicht fehlen*). 

Lao-tsz6, der ja ebenfalls zu den Zeitgenossen des Con- 
fucius gehört, nimmt eine so eigenartige Stellung ein, dafs es 
angebracht erscheint, seine Lehre und die von ihm ausgehende 
neue geistige Strömtmg im nächstfolgenden Kapitel gesondert 
darzustellen. 

So ist denn die Ausbeute aus jener ältesten Epoche der 
chinesischen Litteratur dürftig genug. Diese auf den ersten 
Blick befremdliche Erscheinimg wird jedoch verständlich, wenn 
man bedenkt, wie mühsam und zeitraubend die Niederschrift von 
Texten sein mufste, solange man dabei auf Schreibstift und 
Bambustafeln angewiesen war. Es leuchtet ohne weiteres ein, 
dafs die technischen Schwierigkeiten eines so umständlichen Ver- 
fahrens nur einen hemmenden Einflufs auf die litterarische Pro- 
duktion ausüben konnten. Man wird wohl annehmen dürfen, 
dafs das vorhandene Material an schriftlichen Urkunden der 
Hauptsache nach in den staatlichen Archiven vereinigt war. 
Wie sehr gerade diese durch die inneren Kämpfe während der 
letzten Jahrhunderte der Chou-Dynastie gelitten haben, erwähnt 
bereits Meng-tszfi; und dafs es wiederum jene Archive waren, 

') Da mir der chinesische Originaltext von Sun-tszSs Kriegs- 
kunst leider nicht zugänglich ist, bin ich genötigt gewesen, der obigen 
kurzen Inhaltsübersicht die französische Übersetzung des P. Amiot 
(M^moires concernant Thistoire etc. des Chinois VII, p. 47 ff.) zu 
Grunde zu legen. 



— 118 — 

die in erster Linie der Bücherverbrennung zum Opfer fielen , ist 
ebenfalls bekannt. Dazu kommt endlich noch, dals die von 
Confucius redigierten kanonischen Texte bald einen so hohen 
Grad von Volkstümlichkeit und .Ansehen erlangten, dals sonst 
etwa noch vorhandene Litteraturdenkmäler durch sie völlig in 
Schatten gestellt werden mulsten. Auf diese Weise mag manches 
im Laufe der Zeit in Vergessenheit geraten und schliefslich 
spurlos verschwunden sein. 

IL Die Geschichtechreibong bis om das Jahr 200 v. Chr. 

Pan Ku, der Historiograph der älteren Ha n- Dynastie 
(206 V. Chr. bis 25 n. Chr.), berichtet, dals es zur Zeit der Chou 
zwei nebeneinander bestehende Arten von Annalisten gegeben 
habe, die der Linken tmd die der Rechten, von denen jene die 
Tatsachen, diese die Reden aufzuzeichnen hatten. Gleichviel, ob 
eine solche Zweiteilung wirklich bestanden hat oder, wie 
Chavannes annimmt, nur eine Hypothese ist, die erst während 
der Ha n -Dynastie erdacht worden ist, um die Erklärung für 
zwei ihrem Wesen nach verschiedene Gattungen der Geschicht- 
schreibung zu finden, — es ist eine Eigentümlichkeit gerade der 
ältesten geschichtlichen Texte, dals in ihnen die Reden über- 
wiegen, während die Tatsachen gewissermafsen nur nebenher 
berücksichtigt werden, um das Verständnis zu erleichtem. So 
bestehen beispielsweise, wie wir gesehen haben, die Bücher des 
Shu-king, soweit sie historischen Inhalts sind, hauptsächlich 
aus Reden, und den gleichen Charakter zeigen auch die beiden 
Texte, die im folgenden zu besprechen sind: das Kuoh-yü und 
das Chan-kuoh-ts*eh. 

Das Kuoh-yü*) wird gleich dem Tso-chuan dem Tso 
KMu-ming zugeschrieben. »Tso K'iu-ming,< so lesen wir, 
»empfing von Chung-ni den Kanon (gemeint ist das Chun- 
ts*iu) und verfalste den Kommentar zum Ch*un-ts*iu. Indem 
er dann, auf die früheren Geschlechter zurückgehend, Blüte und 
Niedergang der Staaten, lobenswerte Reden und treffliche Ge- 
spräche aufzeichnete, schuf er das Kuoh-yü. Da diese Texte 

') Koue-yü, Discours des Royaumes, traduits pour lapremi^re 
fois par C. de Harlez. Paris 1894. Diese Übersetzung enthält jedoch 
nur die drei ersten Bücher. 



— 119 — 

nicht in den Kanon aufgenommen waren, bezeichnete er sie als 
den äulseren Kommentar zum Ch'un-tsMu. Indem das Tso- 
chuan den inneren und das Kuoh-yü den äulseren Kommentar 
desselben darstellt, ergänzen sich die beiden Bücher derart, dals 
alles, was in dem einen ausführlich behandelt wird, in dem 
andern eine kürzere Fassung erhält, und umgekehrt.! ^) 

Die Angabe, dals Tso K*iu-ming der Verfasser des 
Kuoh-yü sei, bedarf nach allem, was bereits über diese rätsel- 
hafte Persönlichkeit gesagt worden ist, kaum einer Widerlegung ; 
überhaupt weichen das Tso-chuan und das Kuoh-yü in so 
vielen Punkten voneinander ab, dals sie unmöglich von demselben 
Verfasser herrühren können. Ebensowenig aber kann das Kuoh- 
yü für einen Konmientar zum Ch*un-ts'iu gelten; vielmehr 
ist es zweifellos als ein durchaus selbständiges Werk anzusehen. 
Wie schon der Titel : »Gespräche der Staatenc oder etwa »Poli- 
tische Gesprächec besagt, enthält es Gespräche und Reden von 
Fürsten imd Staatsmännern; sie sind auf 21 Kapitel verteilt tmd 
nach den acht Staaten, in denen sie stattfanden, geordnet. Des 
näheren auf den Inhalt des Buches einzugehen erscheint kaum 
der Mühe wert, da die darin überlieferten Reden dem Nicht- 
sinologen im allgemeinen nur wenig Interessantes bieten und über- 
dies historische Detailkenntnisse voraussetzen, deren Mangel 
nur durch einen ausführlichen fortlaufenden Kommentar ab- 
zuhelfen wäre. 

Bedeutend interessanter ist dagegen das Chan-kuoh-ts'eh. 
Mit dem Namen Ch an -kuoh, »kämpfende Staatenc, bezeichnet 
der Chinese die Periode innerer Fehden, welche die letzten 
250 Jahre der Chou- Herrschaft ausfüllen und erst mit der 
Einigung des Reiches durch den Ts^in-Kaiser Shi-hoang-ti 
ihren Abschluls finden. Es war dies zugleich die Blütezeit poli- 
tischen Streber- und Intrigantentums jeglicher Art. Von der 
Aussicht auf Gewinn imd Erfolg gelockt, zogen Scharen poli- 
tischer Abenteurer im Lande umher und boten den streitenden 
Parteien ihre Dienste an; doch findet sich neben gewissenlosen 
Glücksrittern und redegewandten Sophisten auch hie und da ein 
emstgesinnter Patriot, der den vergeblichen Versuch wagt, dem 
abwärtsrollenden Rade in die Speichen zu fallen und durch 



') Ku-wen-yüan-kien V, 1». 



— 120 — 

weisen Rat das drohende Verhängnis abzuwenden. Die Worte 
solcher politischen Ratgeber im guten wie im bösen Sinne sind 
es nun, die den Inhalt des Chan-kuoh-ts'eh bilden. Daher 
auch der Titel: »Ratschläge an die kämpfenden Staatenc Bis- 
weilen zeichnen sich die in dem Buche der Nachwelt über- 
lieferten Reden durch grolse rhetorische Gewandtheit und sogar 
durch einen gewissen poetischen Schwung aus, und manche der- 
selben legen jenen erfrischenden unerschrockenen Freimut dem 
Throne gegenüber an den Tag, der selbst heute noch im auto- 
kratisch regierten China unter den Zensoren keineswegs aus- 
gestorben ist. Ein charakteristisches Beispiel dieser Art ist die 
Strafpredigt, die C h u a n g Sin, ein Edler von C h * u ^), an den 
König Siang-wang (298 -263 v. Chr.) wegen des unter seiner 
Regierung herrschenden Günstlingsunfuges richtet: 

»Chuang Sin sprach zum Könige Siang-wang: ,0 König, 
du hast zu deiner Linken den Chou-hou, zu deiner Rechten 
den Hia-hou, und die Begleiter deines Wagens sind Yen- 
ling-kung und Shou-ling-kung'). Wenn du inmierzu der 
Ausschweifung, dem Genüsse, der Verschwendung und Üppigkeit 
frönst, ohne dich um die Regierung des Staates zu kümmern, 
dürfte deine Residenz sicherlich in Gefahr geraten.* Siang- 
wang sprach: ,Herr, du bist wohl altersschwach geworden? 
Bildest du dir ein, in Ch*u Wunder wirken zu können?* 
Chuang Sin sagte: ,Ich sehe in Wahrheit, dals es dahin 
kommen mufs; nicht dals ich mir einzubilden wagte, in Ch^u 
Wunder v/irken zu können. Wenn du, o Fürst, bis zuletzt nicht 
davon ablassen wirst, die vier Herren zu begünstigen, so wird 
der Staat Ch'u wohl bestimmt zu Grunde gehen. Ich bitte, 
mich nach Chao^) zurückziehen zu dürfen, um von dort aus 
den Gang der Dinge zu verfolgen.* 

Darauf begab sich Chuang Sin nach C h a o , und nachdem 
er dort fünf Monde verweilt, hatte der Staat Ts*in in der Tat 
die (zu Ch*u gehörenden) Ortschaften Yen, Ying, Wu, Shang- 
ts'ai und Ch*en an sich gerissen. Der König hatte die Flucht 



*) Der Staat Ch'u umfafste die heutige Provinz Hu-kuang und 
einen Teil der Provinz Ho-nan und Ngan-hoei. 
') Vier Günstlinge des Königs. 
') Der Staat Chao befand sich in der heutigen Prov. Chih-li. 



— 121 — 

ergriffen und hielt sich in Ch^en-yang auf. Darauf sandte 
er Leute mit einem Wagen aus dem königlichen Marstall nach 
Chao, um denChuang Sin zu sich zu bitten. Dieser willigte 
ein imd kam. Da sprach der König: Jch bin nicht im stände 
gewesen, von den Worten der früheren Könige Gebrauch zu 
machen; daher sind die Dinge so weit gediehen. Was bleibt 
mir nun zu tun übrig ?^ 

Chuang Sin erwiderte: ,Ich habe ein volkstümliches 
Sprichwort vernommen, das lautet: ,Hat man einen Hasen er- 
blickt, so ist immer noch Zeit, den Hund herbeizuwinken; hat 
man ein Schaf verloren, so ist es noch nicht zu spät, den Stall 
auszubessern.' Ich habe gehört, dafs die Könige T'ang und 
Wu mit einem Gebiete von hundert Meilen*) zu Glanz gelangt, 
dagegen Kieh und Chou^) mit einem ganzen Reiche zu Grunde 
gegangen sind. Nun ist ja der Staat Ch^u freilich klein, doch 
milst er an Länge und Breite immerhin noch etliche tausend 
Meilen. Es handelt sich also doch nicht nur um hundert Meilen ! — 
O König, hast du denn nicht die Libelle gesehen, wie sie mit 
ihren sechs Beinen und vier Flügeln zwischen Himmel und Erde 
umherschwebt und bald hemiederfliegend eine Mücke aufschnappt 
und verzehrt, bald aufwärts gerichtet den sülsen Tau schlürft? 
Sie wähnt sich aller Sorgen ledig und hat keinen Streit mit 
den Menschen. Sie ahnt nicht, dafs jener fünf Spann hohe Knabe 
sie im nächsten Augenblicke mittels Reiszuckers an einen Faden 
heften und von einer Höhe von vier Klaftern den Ameisen als 
Lockspeise hinhalten wird. Das kommt daher, weil die Libelle 
klein ist. So pickt auch der Distelfink ein Reiskorn vom Boden 
auf, fliegt damit in die Höhe, lälst sich auf einem dichtbelaubten 
Baume nieder und schlägt dann mit den Flügeln und sträubt 
die Federn. Er wähnt sich aller Sorgen ledig und hat keinen 
Streit mit den Menschen. Er ahnt nicht, dafs irgend ein junger 
Prinz, die Armbrust in der Linken, nur mit der Rechten die 
Kugel zu fassen braucht, um Vögel seinesgleichen aus einer 



') Die chinesische Meile, li, beträgt ungefähr 600 Meter. Es 
sind hier natürlich Quadratmeilen gemeint. 

*) T'ang gründete die Shan'g-, Wu die Che u -Dynastie. Kieh 
und Chou waren die letzten Herrscher der Dynastien Hia und 
Shang, die sich und ihr Reich durch ihr tyrannisches Regiment zu 
Grunde richteten. 



— 122 — 

Höhe von zehn Klaftern m seine Gewalt zu bringen. Er, der 
sich am Tage noch im dichten Laub der Bäume getummelt, wird 
am Abend mit Essig und Salz als Speise zubereitet. Im Hand- 
umdrehen war er dem jungen Prinzen in die Hände gefallen ! — 
Das kommt daher, weil der Distelfink klein ist. So auch die 
Wildgans, die auf Strömen und Meeren umherschwimmt und 
sich auf grofsen Teichen niederläfst; in der Tiefe fängt sie Aale 
und Karpfen, und an der Oberfläche rupft sie Wassernüsse und 
Leberkraut; dann hebt sie sich in die reinen Lüfte empor und 
schwebt, vom Winde getragen, in hohem Fluge dahin. Sie 
wähnt sich aller Sorgen ledig und hat keinen Streit mit den 
Menschen. Sie ahnt nicht, dals der Schütze im Begriff ist, den 
mit einer Steinspitze versehenen Pfeil an den schwarzen Bogen 
zu legen und ihn, an eine Schnur befestigt, ihr hundert 
Klafter weit nachzusenden. Von der scharfen Pfeilspitze getroffen 
und von der dünnen Schnur gezogen, sinkt sie, die reinen Lüfte 
durchschneidend, herab. Sie, die am Tage noch auf Strömen 
imd Seen umhergeschwommen, wird am Abend im Kessel ge- 
sotten. Das kommt daher, weil die Wildgans klein ist. — So 
stand es auch mit der Angelegenheit des Markgrafen Ling von 
Ts*ai^). Im Süden trieb er sich bei Kao-pi umher, im Norden 
bestieg er den Berg Wu-shan, trank dort aus den Gebirgs- 
bächen und afs Fische aus dem Siang-Flusse; bald umarmte 
er seine jungen Kebsweiber, bald gab er sich seinen Favoritinnen 
hin und fuhr mit ihnen in Ts'ai umher, ohne sich um das 
Staatswesen zu künmiern. Er ahnte nicht, dals TszS-fah just 
vom Könige Ling-wang*) den Befehl erhalten hatte, ihn mit 
einer roten Schnur zu fesseln und vor sein Antlitz zu bringen. 
So erging es dem Markgrafen Ling von Ts*ai, weil er klein 
war. Und so hast auch du, o König, zur Linken den Chou- 
hou und zur Rechten den Hia-hou, während Yen-ling- 
kung und Shou-ling-kung deinem Wagen folgen. Du ver- 
zehrtest dein Lehenseinkommen, verbrauchtest das vom Lande 
gelieferte Gold und fuhrst mit jenen auf dem Yün-mang-See 



*) Die Markgrafschaft Ts*ai befand sich in der heutigen Provinz 
Ho-nan. Der Markgraf Ling regierte von 542—531 v. Chr. 

*) Ling-wang (540—529 v. Chr.) war ein Vorfahr des Siang- 
wang; Tszö-fah war ein Grofswürden träger von Ch*u. 



— 123 — 

umher, ohne dich um Reich und Staat zu sorgen. Du ahntest 
nicht, dals Jang-hou just vom Könige von TsMn*) den Be- 
fehl erhalten hatte, das Gebiet innerhalb der Grenzmarken von 
Meng zu besetzen und dich daraus zu vertreiben.' 

Als der König das vernahm, wechselte er die Farbe und 
erzitterte am ganzen Leibe. Er reichte ihm alsdann das Jade- 
täfelchen, das er in den Händen hielt'), ernannte ihn zum 
Yang-ling-kiUn und gab ihm das Gebiet nördlich vom 
Hoai- Flusse zum Lehen. < 

An sonstigen historischen Texten aus jener Zeit sind nur 
noch die »Bambusannalenc, Chuh-shu-nien-ki, zu erwähnen, 
so genannt, weil sie auf Bambustafeln geschrieben waren. 
Dieselben wurden im Jahre 279 n. Chr. bei der Plünderung einer 
fürstlichen Grabstätte in der heutigen Provinz Ho-nan ans Licht 
gebracht. Sie beginnen mit dem mythischen Kaiser Hoang-ti 
und schliefsen mit dem zwanzigsten Regierungsjahre des Königs 
Ngai von Wei, das dem Jahre 299 v. Chr. entspricht. Da 
dieser Fürst als »der gegenwärtige Könige bezeichnet wird, mufs 
das Buch um jenes Jahr herum verfafst worden sein. Übrigens 
bietet es nichts als eine wortkarge und dürre Aufzeichnung der 
Ereignisse in chronologisch fortlaufender Reihe und kommt somit 
nur als Quellenwerk für die Chronologie der älteren Geschichte 
Chinas in Betracht. 

Ein Werk anderer Art, das sich speziell mit Confucius 
befafst, ist das Kia-yü, d. h. »häuslicbec oder »vertrauliche 
Gesprächec «). Wie schon der Titel andeutet, enthält es Unter- 
redungen, die der Meister teils mit Fürsten und Staatsmännern, 
teils mit seinen Jüngern geführt hat. Es sind hier wiederum 
die gewohnten Themata : Staatslenkung, Bräuche, Musik, ethische 
Fragen u. dgl. m., die seinen Inhalt bilden. Obwohl das Buch 
den Anspruch erhebt, ein Werk der unmittelbaren Schüler des 
Meisters zu sein, rührt es dennoch ohne Zweifel aus einer sehr 
viel späteren Zeit her. Allerdings wird ein Werk dieses Namens 
schon im 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erwähnt, doch 



') Chao-wang (306—251 v. Chr.). Jang-hou war sein Minister. 
•) Als Abzeichen der neuverliehenen Würde. 
*) Kong-tze Kia-yu. Les Entretiens familiers de Confucius, 
trad. pour la 1'« fois par C. de Harlez. Paris et Louvain 1899. 



— 124 -~ 

steht unumstölslich fest, dals dieses mit dem uns überlieferten 
Text nicht identisch ist. Das Kia-yü, wie wir es kennen, ist 
vielmehr erst im Jahre 240 n. Chr. von einem Gelehrten namens 
Wang Su redigirt worden. Abgesehen von äulseren sprechen 
auch mancherlei innere Gründe zur Genüge gegen die Echtheit 
dieses Textes. So wird z. 6., um nur ein Moment heraus- 
zugreifen, Confucius darin gewissermalsen als ein Schüler des 
Lao-tsz& hingestellt, — eine Auffassung, die natürlich keiner 
Widerlegung bedarf. Als Quelle für das Leben und die Lehren 
des Confucius ist das Kia-yü nur mit äufserster Vorsicht 
zu benutzen. 

III. Der ältere Confucianismtts und philosophische Gegen- 
strömungen. 

Das Zeitalter des Confucius und die nächstfolgenden Jahr- 
himderte werden durch ein unaufhaltsames Sinken der staatlichen 
Machtstellung charakterisiert, zu dem der mächtige Aufschwung 
des geistigen Lebens im grellsten Gegensatze steht Während 
die inneren Fehden unter den Teilstaaten den schlielslichen Zu- 
sammensturz des Reiches herbeiführten, zeitigten die Kämpfe 
auf geistigem Gebiete, zum Teil durch jene veranlalst, eine Fülle 
neuer Gedanken, die jenes Zeitalter in einem Glänze erstrahlen 
lassen, wie China ihn weder zuvor noch hernach gesehen hat. 
Es war eine Zeit, da die Geister aufeinander platzten. Noch 
war der Confucianismus , in so hohem Ansehen auch damals 
schon sein Stifter stand, nur eine Lehre unter vielen, die um ihr 
Dasein kämpfen mufste ; noch war er nicht zum Dogma erstarrt, 
an dem, einem Felsen gleich, die Wogen der geistigen Strömung 
wirkungslos abprallten. Überall ein jugendfroher Wettstreit um 
ideale Güter, um sittliche imd geistige Werte, ein buntes Ehirch- 
einander verschiedener Welt- und Lebensanschauungen, die um 
den Sieg ringen, bis sie endlich dem alles nivellierenden Einflüsse 
der confuoianischen Orthodoxie unterliegen, — ein Schauspiel voll 
des kräftigsten Wollens, des tüchtigsten Könnens, des edelsten 
Strebens und der tiefsten Tragik. Eine ganze Reihe von Männern 
werden genannt, die sich an dem Streite der Meinungen be- 
teiligten, aber nur die wenigsten unter ihnen haben sich einen 
selbständigen Platz in der Geschichte der Litteratur zu erobern 



— 125 — 

gewulst. Zwei unter ihnen sind es vor allen, die unsere Auf- 
merksamkeit verdienen, weil sie besonders durch die Polemik, 
die Meng-tszö gegen sie führt und zum Anlals seiner Lehre 
von der angeborenen Güte der menschlichen Natur nimmt, be- 
rühmt geworden sind: Yang Chu und Moh Ti. 

Yang Chu^), der um die Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. 
gelebt haben muls, ist uns hauptsächlich aus dem siebenten Buche 
des Lieh-tszö bekannt, wo seine Lehre einigermalsen im Zu- 
sanmienhange vorgetragen wird. Man hat ihn mit Recht als 
Sensualisten und Epikureer bezeichnet. Der theoretische Pessimis- 
mus in seiner Auffassung der menschlichen Natur sowohl wie 
des Daseins im allgemeinen führt ihn zu einem praktischen Eudä- 
monismus, der in der Forderung gipfelt, man solle seine Wünsche 
und Begierden nach Möglichkeit zu befriedigen suchen, ohne 
sich viel um das Wohl und Wehe seiner Mitmenschen zu kümmern, 
im übrigen aber Leben und Tod mit Gleichmut hinnehmen. Das 
Leben ist kurz, dabei an Leiden reicher als an Freuden, und mit 
dem Tode ist alles aus. Dem Tugendhaften ist der Ruhm, dem 
Lasterhaften der Abscheu der Nachwelt beschieden. Aber was 
ist der Nachruhm? Ein leeres Wort! Das einzig Wirkliche ist, 
was die Sinne befriedigt. Wen preist man höher als Shun, 
Yü, Chou-kung und Confucius? Nun wohl: >Jene vier 
Heiligen hatten im Leben nicht einen Tag der Freude, aber 
nach ihrem Tode währt ihr Ruhm durch zehntausend Genera- 
tionen. Aber der Nachruhm schafft die Wirklichkeit nicht herbei. 
So viel man sie auch preise, sie wissen nichts davon; so sehr 
man sie auch ehre, sie wissen nichts davon. Sie sind nicht mehr 
von einem Baumstumpf oder Erdklofs zu unterscheiden.c Und 
anderseits: wer wäre mehr gehalst als die Tyrannen Kieh und 
Chou? Nichtsdestoweniger waren ihnen Reichtum, Macht und 
Ehren im reichsten Mafse beschieden, und in eitel Lust und 
Freude lebten sie bis ans Ende ihrer Tage. »Jene beiden Böse- 
wichte genossen, solange sie lebten, die Freude, ihren Begierden 
zu frönen, und wurden nach ihrem Tode als Toren imd Tyrannen 
bezeichnet. Aber die Wirklichkeit ist nicht etwas, das der 
Name gibt. Ob man sie schmäht, sie wissen nichts davon; ob 



') Legge, Chinese Classics, II, p. 92 ff. — Vgl. auch A. Forke 
im Journal of the Peking Oriental Society, vol. III. p. 203 ff. 



— 126 — 

man sie preist, sie wissen nichts davon. Wodurch wären sie von 
einem Baumstumpf oder Erdklols unterschieden ?c 

Wie bei Yang Chu pessimistische Grundstimmung und 
hedonistische Lebensphilosophie Hand in Hand gehen, zeigt mit 
besonderer Schärfe und Deutlichkeit folgender Passus: 

Yang Chu sprach: »Hundert Jahre sind die äufserste 
Grenze einer langen Lebensdauer. Dals einer hundert Jahre alt 
wird, kommt unter tausend Fällen nicht einmal vor. Aber ge- 
setzt den Fall, es gäbe einen solchen: die Kindheit, die er auf 
dem Arme verbracht, und das stumpfe Greisenalter füllen nahezu 
die Hälfte aus; die Zeit, die er nachts im Schlafe bewufstlos ver- 
bracht und tagsüber wachend vertrödelt, nimmt gleichfalls nahezu 
die Hälfte ein ; und desgleichen geht auch unter Schmerzen und 
Krankheit, Kummer und Sorge, Verlust und Furcht nahezu die 
Hälfte hin. So mögen denn etwa zehn Jahre fröhlicher Zufrieden- 
heit übrigbleiben; aber auch in ihnen gibt es nicht eine Stunde 
völliger Sorgenfreiheit. Was ist also das menschliche Leben? 
Worin bestehen seine Freuden? Einzig und allein in Prunk und 
Fülle, in Tönen und Farben! Aber Prunk imd Fülle können 
nicht immer gewährt, Töne und Farben nicht beständig genossen 
werden. Dazu kommt noch, dafs man durch Strafen abgeschreckt 
imd durch Belohnungen angespornt, durch Ruhm vorwärts- 
getrieben imd durch Gesetze zurückgehalten wird. Hastig kämpft 
man um den leeren Beifall eines Augenblicks und macht den 
Ruhm nach dem Tode zum Kompals seines Handelns; ängstlich 
achtet man auf die Wahmehmimgen der Augen und Ohren imd 
ist auf das bedacht, was der eigenen Person \md ihren Absichten 
zum Heil oder Unheil gereicht. So bringt man sich lediglich 
um den höchsten Lebensgenuls und vermag nicht eine Stunde 
lang den eigenen Neigungen zu folgen. Wodurch unterscheidet 
sich ein solcher von einem, der in Kerkerhaft gefesselt ist? 

Die Alten wuIsten, dafs der Mensch nur für eine kurze 
Weile ins Leben kommt, sie wufsten, dafs er nach einer kurzen 
Weile durch den Tod dahingeht. Daher folgten sie den Regungen 
ihres Herzens, ohne sich dem zu widersetzen, was sie ihrer Natur 
nach liebten. Genüsse, die sich ihnen boten, flohen sie nicht. 
Daher lielsen sie sich nicht durch Ruhm anspornen, sondern 
lebten ihrer Natur gemäfs dahin, ohne sich dem zu widersetzen, 
was aller Kreatur begehrenswert erscheint. Sie trachteten nicht 



— 127 — 

nach Ruhm und wurden daher auch nicht von Strafen ereilt. 
Ob Ruhm und Preis ihnen vorangingen oder nachfolgten, ob 
der ihnen bestimmten Jahre viele oder wenige waren, kam für 
sie nicht in Betracht. < 

Yang Chu sprach: »Das, wodurch alle Wesen verschieden 
sind, ist das Leben; das, worin sie gleich sind, ist der Tod. Im 
Leben gibt es Weise und Toren, Vornehme imd Geringe, — darin 
liegt die Verschiedenheit. Im Tode gibt es moderndes Gebein, 
Schwund und Vernichtung: darin liegt die Gleichheit. Gleich- 
wohl liegen Weisheit und Torheit, Ansehen und Niedrigkeit 
ebensowenig in ihrer Macht wie moderndes Gebein, Schwund 
und Vemichtimg. Somit hängen Leben und Tod, Weisheit imd 
Torheit, Ansehen und Niedrigkeit nicht von ihnen ab; vielmehr 
leben und sterben alle Wesen in gleicher Weise, wie sie in 
gleicher Art weise und töricht, vornehm oder gering sind. Zehn- 
jährige sterben ebensogut wie Himdertjährige, Menschenfreund- 
liche und Heilige sterben ebensogut wie Bösewichte und Toren. 
Die bei Lebzeiten Yao und Shun waren, sind nach ihrem Tode 
moderndes Gebein; die bei Lebzeiten Kieh und Chou*) waren, 
sind nach ihrem Tode moderndes Gebein. Als moderndes Gebein 
sind sie eins; wer vermöchte da ihre Verschiedenheit zu er- 
kennen? So freuen wir uns denn des Lebens, — was künmiert 
uns, was nach dem Tode kommt Ic 

Somit gilt ihm die Lust als höchster Lebenszweck. Aber 
anders als Epikur, der die Lust durch die Einsicht in ihre 
Folgen ethisch geläutert wissen will und sie daher nur dem 
Tugendhaften zugänglich macht, anders auch als Schopen- 
hauer, dessen Pessimismus in eine auf das Mitleid gegründete 
altruistische Ethik ausläuft, gelangt Yang Chu von seinem 
einseitig hedonistischen Standpunkte aus in folgerichtiger Weise 
zu einem bedingungslosen Egoismus. Nicht ein Haar des eigenen 
Leibes, so wird im folgenden Dialoge ausgeführt, soll dem Wohle 
der Gesamtheit geopfert werden: 

»Yang Chu sprach: ,Poh Ch*eng Tsz6-kao*) hat nicht 

^) Kieh (angeblich 1818-1767 v. Chr.) war der letzte Herrscher 
der Hia-, Chou (angeblich 1154—1123 v. Chr.) der letzte Herrscher 
der Shang- oder Y i n - Dynastie, beide sind als berüchtigte Tyrannen 
bekannt. 

*) Eine mythische Persönlichkeit, nach einigen eine frühere In- 
karnation des Lao-tszS. 



— 128 — 

mit einem Haare das Wohl seiner Mitmenschen gefördert; er 
veriiefs den Staat und lebte zurückgezogen als Landmann. Der 
grolse Yü hat sein Lebenlang nicht dem eigenen Wohle ge- 
dient, und die eine Seite seines ganzen Leibes ward gelähmt. 
Die Alten opferten kein Haar, auch wenn sie damit das Wohl des 
ganzen Reiches gefördert hätten ; und wäre ihnen dafür das ganze 
Reich dargebracht worden, sie hätten es nicht angenommen. Keiner 
von ihnen schädigte sich tun ein Haar, keiner von ihnen förderte 
das Wohl des Reiches, und im Reiche herrschte Ordnung.* 

K*in-tsz6 fragte den Yang Chu: ,Wenn du durch die 
Entfernung eines Haares der ganzen Mitwelt helfen könntest, 
würdest du es tun?* Yang-tsz6 erwiderte: ,Die Welt ist 
nicht derart, dals ihr durch ein Haar geholfen werden könnte.* 
K^in-tszß sagte: , Nehmen wir an, es könnte ihr geholfen, 
werden, — würdest du es tun?' Yang-tszö liefs ihn ohne Ant- 
wort. Da ging K^in-tszß hinaus und sprach darüber mit 
Meng Sun-yang. Dieser sagte: ,H6rr, du bist nicht in des 
Meisters Auffassung eingedrungen; erlaube, dafs ich sie dir er- 
kläre. Würdest du dich um ein Stück Fleisch und Haut beein- 
trächtigen lassen, so du dafür zehntausend Goldstücke ge- 
wännest?' — ,Gewifs,' sagte er. Darauf Meng Sun-yang: 
,Würdest du dir ein Glied abhacken lassen, so du dafür ein 
Reich erhieltest?' — K*in-tsz$ schwieg. Nach einer Weile 
fuhr Meng Sun-yang fort: ,Ein Haar ist geringer als ein 
Stück Fleisch und Haut, und ein Stück Fleisch und Haut ist 
geringer als ein ganzes Glied, — das leuchtet dir ein. Aber an- 
gehäuft werden Haare zu Fleisch und Haut, angehäuft werden 
Fleisch und Haut zum Gliede. Ein Haar, gewils, ist ein Ding, 
das nur ein Zehntausendstel des ganzen Leibes ausmacht, — 
wolltest du es darum gering achten?' — K*in-tsze sprach: 
,Ich vermag dir darauf keine Antwort zu geben. Gleichwohl: 
wenn ich den Lao Tan*) oder denKuan Yin") über deine 
Worte befragte, so behieltest du recht ; und wenn ich den grofsen 
Yü oder den Moh Tih über meine Worte befragte, so behielt 
ich recht.' — Meng Sun-yang wandte ihm den Rücken und 
redete mit seinen Schülern über andere Dinge, c 



^) Lao-tszö. 

■) Angeblich ein Schüler des Lao-tsz€. 



— 129 — 

Im schroffsten Gegensatze zum egoistischen Individualismus 
des Yang Chu steht nun der extreme Altruismus des Moh 
Tih»). 

Moh Tih soll im Dienste des Staates Sung gestanden 
haben. Die Frage, wann er gelebt habe, lälst sich nur ganz 
allgemein dahin beantworten, dals er jünger als Confucius, 
aber älter als Meng-tsz6 ist, denn er beruft sich mehrfach auf 
Confucius, während Meng-tsz6 seinerseits den Moh Tih 
als einen gefährlichen Irrlehrer bekämpft. Ein Werk, das seinen 
Namen trägt, jedoch zweifellos nicht von ihm selber, sondern 
von einem oder mehreren seiner Schüler herrührt, ist erhalten. 
Soweit wir ihn nach diesem Texte beurteilen dürfen, steht 
er als Schriftsteller und Stilist nicht sonderlich hoch. Die Weit- 
schweifigkeit seiner Ausdrucksweise wirkt ermüdend, und die 
endlosen Wiederholungen ganzer Gedanken- und Satzreihen rufen 
die Empfindung hervor, als drehe man sich wie auf einem 
Karussell immer nur im Kreise, ohne wirklich vorwärtszu- 
kommen. Bei alledem ist er jedoch ein, wenn auch nicht gerade 
tiefer und konsequenter, so doch immerhin origineller und kühner 
Geist. Es liegt unstreitig ein revolutionärer Zug in seiner Denk- 
weise. Gehörte gewils schon Mut dazu, einem Confucius 
Opposition zu machen, so erscheint es in noch höherem Grade 
gewagt, an Anschauungen, Bräuchen und Institutionen zu rütteln, 
die von alters her als unantastbar galten und sozusagen zum 
eisernen Bestände der nationalen Kultur und Eigenart gehörten. 
Beides tut Moh Tih. 

Wie vor ihm Confucius und nach ihm Meng-tsz6, so 
scheint auch er durch die mit dem staatlichen Verfall Hand in 
Hand gehende sittliche Korruption zum Nachdenken angeregt 
worden zu sein; aber im Gegensatze zu jenen beiden treten bei 
ihm politische Fragen gegenüber den ethischen in den Hinter- 
grund. Ihm war die Läuterung der sittlichen Anschauungen 
und damit die Hebung des sittlichen Lebens die Hauptsache, aus 
der sich eine Besserung der politischen Zustände von selbst 
ergeben mufste. Wie sich im übrigen die staatlichen Macht- 

Die Grundgedanken des alten chinesischen Sozialismus oder 
die Lehre des Philosophen Micius, zum ersten Male vollständig aus 
den Quellen dargelegt von Ernst Faber. Elberfeld 1877. Vgl. 
auch Legge, Chinese Classics, II, p. 100 ff. 

Grube, Geschichte der chinetischen Litteratur. 9 



- 130 — 

Verhältnisse gestalten, welche unter den möglichen Formen der 
Staatsverfassung die wünschenswerteste sein mochte, das sind 
Fragen, die er offen läfst. Der Kern- und Angelpunkt seiner 
Lehre liegt in seiner Auffassung des Begriffes der Menschen- 
liebe, die in der Tat ein völliges Novum in der Geschichte des 
chinesischen Denkens bedeutet. Was der Chinese vor Moh Tih 
und auch nach ihm unter Menschenliebe verstand und versteht, 
ist im allgemeinen wenig mehr als das von der Familie auf das 
öffentliche Leben ausgedehnte und übertragene Prinzip der 
Kindesliebe, der kindlichen Pietät, die ihrerseits im Grunde doch 
nur den Gehorsam gegenüber der natürlichen Autorität bedeutet. 
So ist die Menschenliebe in diesem Sinne nicht sowohl die freie 
Betätigung einer sittlichen Anlage als vielmehr eine auf dem 
Verhältnis der Subordination beruhende ethische Disziplin. Anders 
bei Moh Tih. Was er zum sittlichen Prinzip erhebt, ist die 
allgemeine Menschenliebe, die sich in gleichem Malse auf alle 
Mitmenschen ohne Rücksicht auf Blutsverwandtschaft oder äulsere 
Lebensstellung erstreckt; das ist nicht mehr das confucianische 
Prinzip der »Gegenseitigkeit c, sondern warme, werktätige Liebe, 
die es über sich gewinnt, mit dem eigenen Ich zu Gunsten 
anderer einzutreten und es, wo es nottut, dem Wohl der Ge- 
samtheit zu opfern. »Einen Mitmenschen töten, um das Reich 
zu erhalten, heilst nicht ihn töten, um dem Reiche Vorteil zu 
bringen. Sich selber töten, um das Reich zu erhalten, das heilst 
sich töten, um dem Reiche Vorteil zu bringen. <^) 

»Indem der Heilige, < so beginnt Moh Tih sein Kapitel 
über die allgemeine Menschenliebe, »die Lenkung des Reiches 
zu seinem Geschäfte macht, mufs er wissen, wodiirch der Auf- 
ruhr entstanden ist, um ihn unterdrücken zu können; weifs er 
nicht, wodurch der Aufruhr entstanden ist, so vermag er ihn 
auch nicht zu imterdrücken, ebenso wie z. B. der Arzt, der die 
Krankheiten der Menschen behandelt, wissen muls, wodurch eine 
Krankheit entstanden ist, um gegen sie angehen zu können; 
weils er nicht, wodurch die Krankheit entstanden ist, so vermag 
er auch nicht, gegen sie anzugehen. Warum sollte sich's mit 
der Unterdrückung eines Aufruhres allein anders verhalten? 



') G. V. d. Gabelentz, Über den chinesischen Philosophen Mek 
Tik, Ber. d. kgl sächs. Ges. d. Wissenschaft, 1888, S. 69. 



— 131 - 

Man muls wissen, wodurch der Aufruhr entstanden ist, um ihn 
unterdrücken zu können ; weifs man nicht, wodurch der Aufruhr 
entstanden ist, so vermag man ihn auch nicht zu unterdrücken. 

Indem der Heilige die Lenkung des Reiches zu seinem Ge- 
schäfte macht, kann er nicht imihin, zu untersuchen, wodurch der 
Aufruhr entstanden ist. Untersucht er aber, wodurch der Auf- 
ruhr entstanden ist, so erweist sich 's, dals er aus dem Fehlen 
gegenseitiger Liebe entstanden ist. Wenn der Untertan oder 
der Sohn seinem Fürsten oder seinem Vater keine Pietät erweist, 
so heilst das Aufruhr. Der Sohn liebt sich selbst, aber er liebt 
nicht seinen Vater : daher benachteiligt er seinen Vater, um sich 
selbst zu nützen; der jüngere Bruder liebt sich selbst, aber er 
liebt nicht seinen älteren Bruder: daher benachteiligt er seinen 
älteren Bruder, um sich selbst zu nützen; der Untertan liebt 
sich selbst, aber er liebt nicht seinen Fürsten: daher benach- 
teiligt er seinen Fürsten, lun sich selbst zu nützen. Aber selbst 
wenn der Vater nicht gütig ist gegen seinen Sohn, der ältere 
Bruder nicht gütig gegen seinen jüngeren Bruder, der Fürst 
nicht gütig gegen seine Untertanen, so wird auch dieses im 
Reiche als Aufruhr bezeichnet. Der Vater liebt sich selbst, aber 
er liebt nicht seinen Sohn: daher benachteiligt er seinen Sohn, 
um sich selbst zu nützen ; der ältere Bruder liebt sich selbst, aber 
er liebt nicht seinen jüngeren Bruder: daher benachteiligt er 
seinen jüngeren Bruder, um sich selbst zu nützen; der Fürst 
liebt sich selbst, aber er liebt nicht seine Untertanen: daher be- 
nachteiligt er seine Untertanen, um sich selbst zu nützen. Wie 
kommt das? Dies alles kommt daher, weil sie einander nicht 
lieben, c 

Ich habe diesen Passus mit Absicht möglichst wörtlich über- 
setzt, tun dem Leser ein anschauliches Bild von der Schreibweise 
unseres Philosophen zu geben, und glaube nun, mich im folgen- 
den darauf beschränken zu dürfen, den weiteren Gedankengang 
des Traktates in seinen Hauptpunkten kurz zu skizzieren. 

Da das Fehlen der Nächstenliebe des Übels Kern ist, so ist 
eben die Nächstenliebe das einzige Mittel zur Beseitigung des 
Übels. Angenommen, die Menschen liebten sich gegenseitig, wie 
jeder sich selbst liebt, so gäbe es auch keine Räuber und Diebe 
mehr. Wenn jeder des anderen Haus wie das seine betrachtete, — 
wer wollte dann stehlen? Wenn jeder des anderen Person wie 

9* 



— 132 — 

die seine betrachtete, — wer wollte dann rauben? Und weiter: 
wenn die Fürsten frcrmde Staaten wie ihre eigenen betrachten 
wollten, — wo gäbe es dann einen Anlals zum Kriege? Auf 
den Einwand, dals die allgemeine Menschenliebe zwar gut, aber 
schwer zu verwirklichen sei, meint Moh Tih, dals das nur so 
schwer erscheine, weil man ihren Nutzen nicht einsehe. An der 
Hand historischer Beispiele sucht er dann zu zeigen, wie die 
Untertanen zu allen Zeiten und auf jegliche Art bestrebt gewesen 
seien, den Wünschen und Neigungen ihrer Fürsten zu entsprechen, 
selbst wo es ihnen zum Schaden gereichte: so liebte es ehemals 
Fürst Wen von Tsin, wenn seine Beamten schlecht gekleidet 
waren, daher trugen seine Minister Schafspelze, lederne Schwert- 
gurte und Mützen aus gebleichter Seide; Fürst Ling von Ch*u 
liebte es wiederum, wenn seine Beamten einen schlanken Wuchs 
hatten, und alle seine Minister afsen nur einmal am Tage, sie hielten 
den Atem an, wenn sie sich umgürteten, und vermochten sieb 
nur aufzurichten, wenn sie sich gegen die Mauer stützten. Aus 
welchem Grunde taten sie das? Weil der Fürst seine Freude 
daran hatte. So brauchten die Fürsten also auch nur an der 
allgemeinen Menschenliebe Freude zu finden, so würden die 
Völker sich ihr zuwenden. Alles Elend in der Welt, als da sind: 
Vergewaltigimg des Schwachen durch den Starken, Unterdrückung 
der Minderheit durch die Mehrheit, Übervorteilung des Einfältigen 
durch den Schlauen, Hochmut des Vornehmen gegenüber dem 
Geringen u. s. w., geht darauf zurück, dals Unterschiede zwischen 
den Menschen gemacht werden, während die allgemeine Menschen- 
liebe stets niu- zusammenfalst , statt zu unterscheiden. Man hat 
auf Grund dieser Lehren den Moh Tih als Sozialisten be- 
zeichnet, — sehr mit Unrecht, denn was er bekämpft, ist keines- 
wegs die soziale Ungleichheit als solche, sondern nur ihre ver- 
derblichsten Auswüchse. 

Obwohl mm Meng-tsz6 den Yang Chu wie den Moh 
T i h mit gleicher Leidenschaft bekämpft, so läfst sich doch nicht 
in Abrede stellen, dafs er diesem ungleich näher steht als jenem. 
Was ihn an Moh Tih verletzt, ist, dafs durch dessen Lehre 
von der allgemeinen Menschenliebe die kindliche Liebe als das 
Grunddogma der confucianischen Ethik zu kurz kommt, dafs 
durch eine allgemeine Verbrüderung, wie er sie predigt, die 
natürlichen Bande der Blutsverwandtschaft gelockert werden* 



— 133 — 

In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Meng-tszß sagt: 
»Dem Yang ist es um das eigene Ich zu tun; daher gibt es für 
ihn keinen Herrn. Für Moh mit seiner allumfassenden Liebe 
gibt es keinen Vater. Weder einen Vater noch einen Herrn zu 
haben ist tierisch. Wenn den Lehren des Yang und Moh 
nicht ein Ende gemacht wird und die Lehren des K'ung-tsz6 
nicht ans Licht kommen, so werden die verderblichen Reden das 
Volk betören und Menschlichkeit und Gerechtigkeit erstickt 
werden.« Derselbe Meng-tsz6 aber, der so einseitig und un- 
gerecht über Moh Tih urteilt, hätte nur die Konsequenzen aus 
seiner eigenen Lehre von der angeborenen Güte der mensch- 
lichen Natur zu ziehen gebraucht, um zu nahezu demselben Er- 
gebnisse zu gelangen wie dieser. Es sei daher gestattet, an dieser 
Stelle den berühmten Dialog auszugsweise wiederzugeben, in 
welchem Meng-tszß jene Lehre dialektisch zu begründen sucht: 

>Kao-tsz6*) sagte: ,Die Natur des Menschen gleicht dem 
Weidenbaume, die Gerechtigkeit aber einem Becher oder Napfe. 
Aus der Natur des Menschen formt man Menschenliebe und Ge- 
rechtigkeit, wie man aus dem Weidenbaume Becher und Näpfe 
formt.* 

Meng-tsz6 erwiderte: , Vermagst du in Gemäfsheit mit der 
Natur des Weidenbaumes Becher und Näpfe daraus zu formen? 
Du mulst ihm Gewalt antun, um es zu können. Wenn du nun 
dem Weidenbaume Gewalt antun mufst, um Becher und Näpfe 
daraus zu formen, mulst du auch dem Menschen Gewalt antun, 
um Menschenliebe und Gerechtigkeit aus ihm hervorzubringen? 
Deine Worte sind sicherlich derart, dals sie die Menschen ver- 
leiten könnten, Menschlichkeit imd Gerechtigkeit für ein Unglück 
zu halten!' 

Kao-tsz6 sprach: ,Die menschliche Natur gleicht einem 
Wasserstrudel; bricht man ihm Bahn nach Osten, so fliefst er 
ostwärts; bricht man ihm Bahn nach Westen, so flielst er west- 
wärts. Die menschliche Natur macht so wenig einen Unterschied 
zwischen gut und nicht gut, wie das Wasser zwischen Ost und 
West.' — Meng-tsz6 entgegnete: ,Das Wasser, traun, macht 
keinen Unterschied zwischen Ost und West, — aber macht es 



^) Kao Puh-hai, ein Gegner des Meng-tszö, von dem nichts 
Näheres bekannt ist. 



— 134 - 

auch keinen zwischen aufwärts und abwärts? Die Güte der 
menschlichen Natur gleicht dem Abwärtsströmen des Wassers. 
Unter den Menschen gibt es so wenig einen, der nicht gut wäre, 
als es ein Wasser gibt, das nicht abwärts flösse. Nun aber ver- 
hält sich's mit dem Wasser so, dafs, wenn du es peitschest imd 
hüpfen machst, du wohl bewirken kannst, dafs es dir über die 
Stirn hinwegspritze, und wenn du es eindämmst und seinen Lauf 
bestinunst, kannst du es bergauf leiten, — aber liegt denn solches 
darum in der Natur des Wassers? Durch Gewalt bringst du es 
dahin. Wenn der Mensch veranlafst werden kann, nicht gut zu 
sein, so verhält sich's mit seiner Natur just ebenso.'c 

Und weiter heilst es: 

>Kung-tu-tsz6 (ein Schüler des Meng-tsz6) sprach: 
,Kao-tsz6 sagt, die Natur (des Menschen) sei weder gut noch 
nicht gut. Andere sagen, die Natur könne dahin gebracht werden, 
dafs sie gut und auch dafs sie nicht gut werde. Daher habe zur 
Blütezeit der Könige Wen und Wu das Volk das Gute geliebt, 
während es zur Blütezeit der Könige Yu und Li *) die Grausam- 
keit liebte. Wieder andere sagen, es gebe solche, die von 
Natur gut, und solche, die von Natur nicht gut seien. Daher 
habe es \mter einem Fürsten wie Yao einen Siang, mit einem 
Vater wie Ku-Sou*) einen Shun und mit einem Neffen und 
obendrein Fürsten wie Chou einen K*i von Wei und einen 
Pi-kan®) gegeben. Nun sagst du: die (menschliche) Natur ist 
gut. So sind also jene sämtlich im Irrtum?' 

Meng-tsz6 erwiderte: ,Ihrem Triebe folgend, können die 
Menschen gut sein: das ist es, was ich unter ,gut' verstehe. 
Wenn sie nicht gut sind, so liegt die Schuld nicht an ihrer An- 
lage. Das Gefühl des Mitleids und Erbarmens ist allen Menschen 
eigen, das Gefühl der Scham und des Absehens ist allen Menschen 
eigen, das Gefühl der Achtung imd Ehrerbietimg ist allen Menschen 
eigen, das Gefühl der Billigung und Mifsbilligung ist allen Menschen 



*) Li (878-828 v. Chr.) und Yu (781-771) waren zwei durch 
ihre Grausamkeit berüchtigte Könige der Chou -Dynastie. 

■) Siang war der entartete Stiefbruder, Ku Sou der ungerechte 
Vater des weisen Kaisers Shun (angeblich 2255—2206 v. Chr.). 

*) Pi-kan wurde von dem Tyrannen Chou gezwungen, sich das 
Leben zu nehmen; K*i von Wei sah sich genötigt, das Land zu ver- 
lassen. 



— 135 — 

. eigen. Das Gefühl des Mitleids und Erbarmens ist Menschlich- 
keit, das Gefühl der Scham und des Absehens ist Gerechtigkeit, 
das Gefühl der Achtung und Ehrerbietung ist Schicklichkeit, 
und das Gefühl der Billigimg und Milsbilligung ist Weisheit. 
Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Schicklichkeit und Weisheit sind 
nicht von au(sen her in uns hineingepflanzt, vielmehr sind sie uns 
sicherlich eigen, nur dafs wir nicht daran denken. Daher heilst 
es: ,Strebt nach ihnen, so werdet ihr sie erlangen; lasset sie bei- 
seite, so werdet ihr sie verlieren.*« 

Meng-tszSs Lehre von der angeborenen Güte der mensch- 
lichen Natur ist jetzt, sozusagen, Gemeingut der Nation geworden, 
— beginnt doch das San-tszg-king, eine gereimte Kinderfibel, 
die als Grundtext des chinesischen Elementarunterrichts im ganzen 
Reiche verbreitet ist, mit den Worten: iDie Menschen sind von 
Anbeginn ihrer Natur nach gut; von Natur einander nah, gehen 
sie durch ihre Gewohnheiten auseinander.« Dennoch hat es ihr 
auch nicht an heftigen Gegnern gefehlt, unter denen zeitlich so- 
wohl wie seiner Bedeutung nach Siün K^uang, gemeinhin 
Siün K*ing*), ider Meister Siün« genannt, die erste Stelle 
einnimmt. Er lebte im 3. Jahrhundert v. Chr., war also nur 
wenig jünger als Meng-tsz6, doch wissen wir von seinen 
Lebensschicksalen nur, dafs er in den Fürstentümern Ts*i und 
Ch*u amtliche Stellimgen bekleidet haben soll, und dafs Li Szß^ 
der erste Minister des Kaisers Shi Hoang-ti, sein Schüler 
war. In seinen Schriften, die in Form von kurzen Essays Fragen 
philosophischen, vorwiegend ethischen Inhalts zum Gegen- 
stande haben, zeigt er eine charakteristische Vorliebe für epi- 
grammatisch zugespitzte Sentenzen. Beispiele wie die folgenden 
finden sich auf Schritt und Tritt: 

»Wenn man nicht einen hohen Berg erklimmt, erkennt man 
nicht die Höhe des Himmels; wenn man nicht in einen tiefen 
Schlund hinabsteigt, erkennt man nicht die Dicke der Erde; 
wenn man nicht die hinterlassenen Reden der früheren Könige 
vernimmt, erkennt man nicht die Gröfse der Erfahrung.« 

»Einst pflegte ich ganze Tage lang nachzudenken; eine 
kurze Weile zu lernen ist mehr wert. Einst pflegte ich, auf den 
Fufsspitzen stehend, in die Ferne zu blicken; eine Höhe er- 
klimmend, den Blick zu. erweitem, ist mehr wert.« 

') Legge, Chinese Classics, II, p. 78 ff. 



— 136 - 

»Wer eine Anhöhe erklimmt und mit den Armen winkt, ist, 
ohne länger geworden zu sein, doch weithin sichtbar; wer mit 
dem Winde ruft, dessen Stinmie ist, ohne an Stärke zugenonmien 
zu haben, doch weithin vernehmbar; wer sich eines Wagens und 
Pferdes bedient, legt, ohne die Kraft seiner Fülse vergröfsert zu 
haben, tausend Meilen zurück; wer sich eines Nachens und Ruders 
bedient, vermag, ohne schwimmen zu können, Flüsse und Ströme 
zu überschreiten. Nicht anders verfährt der Edle im Leben: 
er bedient sich der Aulsendinge, c 

»Der Edle unterwirft sich die Dinge; der Alltagsmensch 
wird von den Dingen geknechtet. € 

»An Begabung, Charakter, Wissen und Können mögen der 
Edle und der Alltagsmensch eins sein; in der Liebe zum Ruhm 
und in der Abneigung gegen die Schande, in der Liebe zum 
Vorteil und in der Abneigung gegen den Schaden mögen sie 
einander gleichen; aber die Wege, auf denen sie ihr Ziel er- 
streben, sind verschieden.« 

»Den Befehl befolgen und dabei seinem Fürsten nützen, heilst 
Gehorsam; den Befehl befolgen, ohne dadurch seinem Fürsten 
zu nützen, heifst Liebedienerei ; sich dem Befehle widersetzen und 
dadurch seinem Fürsten nützen, heifst Loyalität ; sich dem Befehle 
widersetzen, ohne dadurch seinem Fürsten zu nützen, heilst 
Ungehorsam.« 

Die eigentliche Bedeutung des Siün KMng liegt jedoch, 
wie schon angedeutet wurde, in seiner Polemik gegen Meng- 
tszßs Lehre von der angeborenen Güte der menschlichen Natun 
Nach Siün K' in g ist des Menschen Natur böse und das Gute 
in ihm »künstlich«, d. h. ein Werk der Erziehimg. Durch Lehre 
imd Vorbild werden die Tugenden geweckt und entwickelt. »Ein 
krummes Holz bedarf des Winkelmafses und der Hitze, um gerade 
zu werden ; ein stumpfes Metall bedarf des Schleifeteins, mn scharf 
zu werden. Da nun des Menschen Natur böse ist, bedarf es 
sicherlich der Vorschriften von Lehrern zu ihrer Aufrichtung, der 
Schicklichkeit und Gerechtigkeit zu ihrer Leitung.« — »Was in 
dem Menschen liegt, ohne dafs er es zu lernen oder zu erstreben 
braucht, heifst Natur; alles, wozu er durch Lernen fähig ist, und 
was er durch Streben in sich zu vervollkommnen vermag, heilst 
künstlich erzeugt.« Daher ist alles, was über die Befriedigung 
der natürlichen Triebe hinausgeht oder sie gar unterdrückt, nicht 



— 137 — 

der Natur gemäls. Der Hungernde sehnt sich nach Sättigimg, 
der Frierende nach Erwärmung, der Arbeitende nach Ruhe : das 
ist des Menschen natürlicher Trieb. Wenn er trotzdem zu Gunsten 
anderer auf die Erfüllung seiner Wünsche verzichtet, so wider- 
spricht ein solches Verhalten seiner Natur und seinen angeborenen 
Trieben. »Fragt mm jemand, woher denn Schicklichkeit und 
Gerechtigkeit entstehen, wenn die Natur des Menschen böse sei, 
so lautet die Antwort: Schicklichkeit und Gerechtigkeit sind 
durchweg von den Weisen künstlich hervorgebracht, nicht aber 
in der menschlichen Natur enthalten. So ist auch, wenn der 
Töpfer den Ton zu einem Gefälse formt, das Gefäfs durch die 
Kunstfertigkeit des Meisters entstanden, nicht aber aus der Natur 
des Tons hervorgegangen.« — iWenn das Auge die Farben, 
das Ohr die Töne, der Mund das Schmackhafte, das Herz den 
Vorteil, der Leib das Behagen liebt, so geht dies alles aus den 
Trieben imd der Natur des Menschen hervor: der Reiz wirkt 
unmittelbar, ohne eine besondere Tätigkeit zu erfordern. Wenn 
jedoch der Reiz nicht unmittelbar wirkt, sondern eine besondere 
Tätigkeit erforderlich ist, um die Wirkung hervorzubringen, so 
ist das ein Zeichen, dals diese künstlich erzeugt ist.« 

Siün K*ing geht so weit, in dem Streben nach dem Guten 
gerade den Beweis dafür zu sehen, dafs der Mensch von Natur 
nicht gut sei: »Dafs die Menschen den Wunsch haben, gut zu 
sein, kommt daher, weil sie von Natur böse sind. Der Dünne 
wünscht dick, der Häfsliche schön, der Engherzige weitherzig, 
der Arme reich, der Geringe vornehm zu sein; was sie nicht in 
sich selber haben, wollen sie notgedrungen von aufsen her er- 
langen. Betrachtet man es von diesem Standpunkte, so ist der 
Mensch bestrebt, gut zu sein, weil er von Natur böse ist.« Bliebe 
der Mensch der Herrschaft seiner natürlichen Triebe über- 
lassen, so würde das daher zu einem Kriege aller gegen alle 
führen. »Nehmen wir an, es gäbe keine Macht der Obrigkeit, 
keine Veredelung durch Schicklichkeit und Gerechtigkeit, keine 
Zügelung durch Körper- und Geldstrafen, und betrachten wir, 
wie sich unter solchen Umständen die Menschen im Reiche zu- 
einander verhalten würden, so würde sich ergeben, dafs der 
Stärkere den Schwächeren schädigt und beraubt, dafe die Mehr- 
heit die Minderheit unterdrückt und überschreit, und dafs der all- 
gemeine Wirrwarr, in dem sich alle gegenseitig zu Grunde richten. 



— 138 — 

keinen Augenblick auf sich warten lielse. Von diesem Stand- 
punkte aus betrachtet, dürfte es einleuchten, dals die Natur des 
Menschen böse und das Gute in ihm künstlich erzeugt ist.c Indem 
Meng-tszg den Satz von der angeborenen Güte der mensch- 
lichen Natur aufstelle, verkenne er die geschichtliche und ethische 
Bedeutung der weisen Herrscher der Vorzeit, die gerade darin 
liege, dats sie durch Lehre und Vorbild die Menschheit zu ver- 
edeln suchten. — 

Werfen wir einen Rückblick auf die geistigen Kämpfe 
während der ersten Jahrhunderte des Confucianismus , so finden 
wir, dals, so lebhaft und bisweilen erbittert die Kontroverse 
auch geführt wird, die Gegensätze innerhalb der verschiedenen 
Auffassungen und Lehrmeinungen dennoch durch eine gewisse 
Gemeinsamkeit der Interessen und der Tendenz miteinander 
verbunden sind. Sie alle beschränken sich im Grunde aus- 
schlielslich auf den Menschen, und zwar auf den Menschen in 
seiner doppelten Eigenschaft als sittliche und politische Persön- 
lichkeit. Fragen, welche über die Grenzen der sinnlichen Wahr- 
nehmimg hinausgehen, wie die nach dem Verhältnis des 
denkenden Subjektes zur Aufsenwelt, nach Ursprung und Ziel 
des Daseins u. dgl. m., blieben so gut wie unberücksichtigt. In 
der Tat haben wir bisher aber auch nur eine Seite der intel- 
lektuellen Bewegung jener Zeit ins Auge gefalst. Um das so 
gewonnene Bild zu vervollständigen, müssen wir uns jetzt der 
Betrachtung einer dem Confucianismus gleichzeitigen geistigen 
Strömung zuwenden, die jedoch, aus einer anderen Quelle genährt 
als jener, auch andere Bahnen einschlug. Hier handelt es sich 
nicht mehr um blofse Lehrroeinungen , die in einzelnen Punkten 
voneinander abweichen, sondern um zwei ihrem Wesen nach ver- 
schiedene Richtungen des menschlichen Denkens, um grundsätz- 
lich entgegengesetzte Weltanschauungen. 



VIERTES KAPITEL, 

Lao-tszS und der Taoismus. 



Vermochten wir auf Grund zuverlässigen Queilenmaterials 
ein verhältnismälsig klar umschriebenes und von phantastischem 
Beiwerk freies Bild der historischen Persönlichkeit des Confucius 
zu gewinnen, so bleibt sein älterer Zeitgenosse Lao-tsz6 in 
ein um so undurchdringlicheres Dunkel gehüllt, und es ist wohl 
leider mehr als zweifelhaft, dafs es der wissenschaftlichen Forschung 
je gelingen werde, den Schleier zu lüften, der seine Gestalt vor 
unseren Blicken verbirgt. 

Die älteste biographische Notiz über Lao-tsz6 ist in den 
bereits mehrfach zitierten Historischen Denkv^ürdigkeiten des 
Sz^-ma Ts*ien enthalten und hat folgenden Wortlaut: 

>Lao-tsz6 war aus dem Dorfe K'tih-jen im Lehensstaate 
Ch*u gebürtig. Sein Geschlechtsname war Li, sein Milchname 
Erh, sein Mannesname Poh-yang, sein posthumer Ehren- 
name Tan^). 

Er war Beamter im königlichen Archive von Chou. 

K*ung-tsz6 (Confucius) begab sich nach Chou, um 
ihn über die Bräuche zu befragen. Lao-tsz6 sagte: ,Die 
Menschen, von denen du sprichst, Herr, sind bereits samt ihren 
Gebeinen vermodert. Wenn der Edle seine Zeit findet, kommt 
er vorwärts; findet er seine Zeit nicht, so geht er und läfst das 
Unkraut sich häufen. Ich habe gehört, ein kluger Kaufmann 
verberge seine Vorräte in der Tiefe, so dafs es leer aussieht, 
und der Edle, obwohl von vollendeter Tugend, erscheine in 
seinem äulseren Wesen einfältig. Lafs ab, Herr, von deinem 

') Der Milchname wird dem Kinde gleich nach der Geburt, der 
Mannesname dem Jünglinge im zwanzigsten Jahre bei Verleihung 
des Männerhutes und der posthume Name dem Toten gegeben. 



— 140 ~ 

hochfahrenden Wesen und von deinen vielerlei Wünschen, von 
deinem äulseren G^tue und deinen ausschweifenden Plänen; dies 
alles ist von keinem Nutzen für dich. Das ist alles, was ich 
dir zu sagen habe.' — K'ung-tszg ging fort und sprach zu 
seinen Schülern: ,Von den Vögeln weife ich, dals sie fliegen 
können, von den Fischen weifs ich, dals sie schwimmen können, 
von den Vierfülslem weils ich, dafe sie laufen können. Die 
Laufenden können umgarnt werden, die Schwinunenden können 
geangelt werden, die Fliegenden können geschossen werden; 
was jedoch den Drachen anbetrifft, so vermag ich es nicht 
zu begreifen, wie er, auf Wind und Wolken dahinfahrend, auf- 
steigt gen Himmel. Ich habe heute den Lao-tsz6 gesehen; — 
gleicht er nicht dem Drachen?' 

Lao-tszg befleilsigte sich des Tao^) und der Tugend. Bei 
seinen Studien war er bestrebt, verborgen zu bleiben und nicht 
berühmt zu werden. Er hatte lange in Chou gelebt; da er 
aber Chous Verfall sah, zog er von dannen und kam an einen 
Grenzpals. Da sprach der Befehlshaber des Grenzpasses Yin 
Hi^): ,Herr, da du im Begriffe bist, dich in die Einsamkeit 
zurückzuziehen, so bemühe dich, um meinetwillen ein Buch zu 
schreiben.' Daraufhin schrieb Lao-tsz6 ein Buch in zwei Ab- 
schnitten, in welchem er in einigen fünftausend Worten vom 
Tao und der Tugend handelte, und ging fort. Niemand weifs, 
wo er geendet. Lao-tsz6 war ein Edler, der in der Ver- 
borgenheit lebte. € 

Darauf folgen kurze Angaben über fünf Nachkommen des 
Weisen, die ich übergehe, und dann heifet es weiter: 

»Die Anhänger des Lao-tsz6 verwerfen die Schule des 
K*ung-tsz6, und die Anhänger des K^ung-tsz6 verwerfen 
den Lao-tszS. In den Grundsätzen uneins, können sie sich 
nicht miteinander verständigen. Wie sollten sie das auch ? Nach 
Li Erh (d. h. Lao-tszS) wird man durch Nichttun von selbst 
umgewandelt und durch lautere Ruhe von selbst veredelt.« 

Damit schliefst die Biographie, zu der noch hinzuzufügen 
wäre, dals Lao-tszS, wie wir aus einem anderen Berichte wissen, 

^) Ich lasse hier das Wort unübersetzt, um im folfi:enden des 
näheren auf seine Bedeutung einzugehen. 

') Derselbe wird gewöhnlich mit dem auf S. 128 erwähnten Kuan 
Yin identifiziert. 



— 141 - 

im Jahre 604 v. Chr. geboren wurde, mithin 55 Jahre älter 
war als Confucius. 

In diesem an greifbaren Tatsachen armen Berichte mutet uns 
so manches legendenhaft an, und das Gespräch mit Confucius 
beruht auch sicherlich auf einer apokryphen Überlieferung* 
Nichtsdestoweniger gibt uns die sonst wohlverbtirgte Glaub- 
würdigkeit und Gewissenhaftigkeit des Sz6-ma Ts*ien kein 
Recht, die historische Existenz des Lao-tsz6 in Zweifel zu 
ziehen. Damit ist aber noch verhältnismälsig wenig gewonnen, 
denn die Hauptschwierigkeit, gewissermalsen das punctum saliens 
des ganzen Berichtes liegt für uns in der lakonischen Angabe, 
dals Lao-tszS ein Buch in zwei Abschnitten verfalst habe, in 
welchem er in einigen fünftausend Worten vom Tao und der 
Tugend handelt. Dieses Buch wird nämlich nach der land- 
läufigen Auffassung mit dem Tao-teh-king oder »kanonischen 
Buch vom Tao und der Tugend c identifiziert, und es fragt sich 
mithin, ob die Annahme, dals das Tao-teh-king ein Werk 
des Lao-tsz6 sei, Glauben verdiene oder nicht. Dabei ist jedoch im 
Auge zu behalten, dals es sich bei der Entscheidung dieser Frage 
nur um einen höheren oder geringeren Grad der Wahrscheinlich- 
keit handeln kann, da ein unbedingtes Ja oder Nein, wie die 
Dinge nun einmal liegen, schlechterdings ausgeschlossen erscheint* 

Es ist unstreitig eine schwer ins Gewicht fallende Tatsache, 
dals wir nicht] eine einzige authentische Äulserung des 
Confucius besitzen*), aus der sich folgern lielse, dals er den 
Lao-tsz6 oder auch nur das Tao-teh-king gekannt hätte» 
Allerdings beruft er sich in den sogenannten »Fragen des Tseng- 
tszfe«, einem der Bücher des Li-ki, auf LaoTan; da indessen 
schon der berühmte Kritiker und Kommentator Cheng Hüan 
(127 — 200) zu dieser Stelle bemerkt, dals Lao Tan im Altertum 
eine Bezeichnung für Männer von langer Lebensdauer gewesen 
sei, so erscheint es zum mindesten fraglich, ob darunter dennoch 
Lao-tsz6 verstanden werden dürfe. Abgesehen von diesem 
Buche des Li-ki findet sich in der gesamten klassischen Litte- 
ratur des Confucianismus weder eine Erwähnung des Lao-tsz6 
noch auch ein Zitat aus dem Tao-teh-king; es sei denn, dals 
man in dem Ausspruche des Meng-tszfe, dafs, wer keine Lust 



Das Kia-yü kommt hier natürlich nicht in Betracht. 



— 142 — 

daran finde, Menschen zu töten, das Reich einigen könne ^), eine 
Anspielung auf das 31. Kapitel des Tao-teh-king erblicken 
wollte, wo es in ähnlichem Sinne heilst: »Wer sich freut, 
Menschen zu töten, kann seine Absicht am Reich nicht erreichen, c 
Aber so auffallend dieses Schweigen auch ist, so lälst sich daraus 
zunächst doch nur zweierlei entnehmen: entweder haben Con- 
fucius und seine Jünger den Lao-tsz6 überhaupt nicht ge. 
kannt, und das wäre so unmöglich nicht, daLao-tsz^, wie aus 
dem Berichte des Sz6-ma Ts^ien hervorgeht, dem Ruhme ab- 
hold war und die Einsamkeit liebte, also wohl auch schwerlich 
einen grölseren Kreis von Schülern um sich versanunelt haben 
wird; — oder aber Confucius und die Seinen zogen es vor, 
den seltsamen Weisen, dessen ganze Weltanschauung der ihren 
so diametral entgegengesetzt war, absichtlich zu ignorieren. Be- 
denklicher als das Schweigen des Confucius und seines An- 
hanges ist aber die Tatsache, dals uns auch die Philosophen aus 
der Schule des Lao-tsz6 über diesen Punkt im Zweifel lassen. 
Von Lao-tsz6 ist zwar bei Lieh-tsz6, Chuang-tszS, Han 
Fei-tsz6 und Hoai-nan-tszS oft genug die Rede, aber des 
Tao-teh-king tut keiner von ihnen Erwähnung. Auch an 
Zitaten aus dem Tao-teh-king fehlt es bei ihnen keineswegs, 
doch werden dieselben, wenn überhaupt, immer nur mit den 
Worten: >Lao-tsz6 sagte eingeleitet; zudem weicht der Wort- 
laut der Zitate nicht selten von dem des Tao-teh-king ab. 
Übereifrige Kritiker haben sich durch diesen Umstand veranlalst 
gefunden, das ganze Tao-teh-king für eine dreiste Fälschung 
zu erklären, die aus unverdauten Lesefrüchten aus den Werken 
der Chuang-tszS, Han Fei-tsz6 und Hoai-nan-tszß zu- 
sammengestoppelt sei ■). Nun ist ja blinder Zweifel nicht weniger 
unkritisch als blinder Glaube, und wie es Fanatiker des Glaubens 
gibt, so gibt es auch Fanatiker des Zweifels : mit beiden ist nicht 
zu rechten. Wo, wie hier, das Zeugnis einheimischer Über- 
lieferung vorliegt, ohne dafs es durch dokumentarische Beweise 
erhärtet werden kann, ist, scheint mir, doppelte Vorsicht, vor 
allem jedoch historischer Takt vonnöten. 



^) S. oben S. 100. 

^ Diesen Standpunkt vertritt H. A. Giles, The Remains of Lao 
Tzü. Hongkong 1886. 



— 143 — 

Vielleicht kommt man der Wahrheit am nächsten, wenn 
man sich den Sachverhalt in folgender Weise zu erklären ver- 
sucht. Aus den Worten des Szß-ma Ts*ien ergibt sich 
zweifellos, dals der weitabgewandte Sinn ein besonders charak- 
teristischer Wesenszug des Lao-tszg war. Ein gröf serer Kreis 
immittelbarer Schüler ist demnach, wie gesagt, schwerlich an- 
zunehmen. Dazu kommt noch, dafs seine Lehre, wie der Leser 
aus dem weiteren Verlaufe dieser Darstellung ersehen wird, 
durch ihren dunklen Mystizismus nicht dazu angetan war, ent- 
gegenkonmiendes Verständnis und weite Verbreitung zu finden. 
Nach der obigen Erzählung sollte man sogar annehmen, dals die 
Lehre des Lao-tsz6 ihn selbst kaum überdauert haben würde, 
wenn er sie nicht dem YinHi auf dessen Bitte mitgeteilt hätte. 
Sollte nicht vielleicht gar durch jene wunderliche Begegnung 
gerade angedeutet werden, dafs Lao-tsz6 eben nur den einen 
Jünger besafs, der ihm zu folgen vermochte, und dem er daher 
seine Lehre anvertraute ? Nehmen wir femer an, dafs die Über- 
lieferung des Textes vermutlich auf mündlichem und nicht, wie 
es in dem Berichte heilst, auf schriftlichem Wege stattgefunden 
habe, so wird sich das Entstehen verschiedener Lesarten, wie sie 
im Tao-teh-king und den daraus entlehnten Zitaten bei den 
taoistischen Philosophen zu Tage treten, unschwer erklären lassen. 
Man vergesse auch nicht, dafs sich selbst beiMeng-tsz6 Zitate 
aus dem Shi-king finden, die abweichende Lesarten bieten. 
Der Gedankengang des Lao-tsz6 bewegt sich zudem nicht auf 
dem gewohnten Geleise, sondern schlägt mit Vorliebe imbetretene 
Pfade ein, so dafs schon diese Eigentümlichkeit seiner Spekulation 
leicht zu Mifsverständnissen und falschen Deutungen verleiten 
konnte. Dals femer das Ta o-teh-kingnie unter diesem Namen 
angeführt wird, mag darin seinen Grund finden, dafs der Text 
zu jener Zeit, ebenso wie z. B. der des Meng-tsz6, wohl nur 
unter dem Namen iLao-tsz6< bekannt war. Wie die fünf King 
erst in verhältnismälsig später Zeit als solche bezeichnet werden, 
so mag auch der Titel Tao-teh-king möglicherweise erst im 
6. Jahrhundert n. Chr. entstanden sein, ohne dafs wir darum 
genötigt wären, um des Titels willen an der Existenz des Buches 
zu zweifeln. Stanislas Julien und James Legge, die 
beiden gröfsten Sinologen des vorigen Jahrhunderts, denen sicher- 
lich niemand Leichtfertigkeit des Urteils vorwerfen wird, waren 



— 144 — 

von der Echtheit desTao-teh-king tiberzeugt, und ich glaube^ 
dals wir auch heute noch vollauf berechtigt sind, darin ein Werk 
des Lao-tszfi — wenn auch nicht in dem Sinne einer authen- 
tischen, eigenhändigen Niederschrift — zu erblicken. Wollten 
wir annehmen, dals es das Werk eines späteren Fälschers sei, 
so mülsten wir auch zugeben, dals derselbe, trotz aller Dunkel- 
heit und schweren Verständlichkeit des Ausdrucks, eine Origi- 
nalität und Kühnheit des Denkens an den Tag legt, die im 
Mittelreiche ihresgleichen sucht. 

Was nun das Tao-teh-king selbst anlangt, so ist es ein 
metaphysisch-ethischer Traktat, der aus achtzig kurzen Kapiteln 
besteht. In China ist das Buch heutzutage fast in Vergessenheit 
geraten, während es bei uns in Europa eine Popularität erlangt 
hat wie kein anderes Erzeugnis der chinesischen Litteratur. Es 
gibt davon nicht weniger als zwei französische, drei englische 
und drei deutsche Übersetzungen *). Wenn jedoch ein des Chine- 
sischen nicht kundiger Leser diese acht Übersetzungen miteinander 
vergleicht, wird er vermutlich den Eindruck davontragen, dafs es 
mit der Sinologie doch wohl noch gar sehr im argen liegen müsse, 
denn sie weichen in der Tat in den meisten Punkten so beträcht- 
lich voneinander ab, dals man kaum glauben möchte, Über- 
tragungen eines und desselben Originaltextes vor sich zu haben. 
Diese auffallende Divergenz erklärt sich jedoch, wenn man be- 
rücksichtigt, dafs das Tao-teh-king wohl das tiefsinnigste, 
eigenartigste und schwierigste Erzeugnis der gesamten chinesi- 
schen Litteratur ist. Die mystische Tiefe seines Gedankengehaltes, 
die Vieldeutigkeit so mancher der ausschlaggebenden Begriffe, 
die gedrängte Kürze des sprachlichen Ausdrucks und, nicht zum 

Ich nenne nur Stan. Julien, Lac Tseu Tao Te king. Le 
Li vre de la voie et de la vertu composä dans le VI® sifecle avant T^re 
chr^tienne par le philosophe Lao-Tseu, traduit en fran^ais et publik 
avec le texte chinois et un commentaire perp^tuel. Paris 1848. — 
Victor von Straufs, La6-ts^s Taö t^ king. Aus dem Chinesischen 
ins Deutsche übersetzt, eingeleitet und kommentiert. Leipzig 1870. — 
J. Legge, The Sacred Bocks of China. The Texts of Tftoism (The 
Sacred Bocks of the East, vol. XXXIX und XL). Oxford, 1891. — 
Ich halte mich bei den im folgenden angeführten Beispielen, von gering- 
fügigen Änderungen abgesehen, an die Übersetzung vcn Victor 
von Straufs. Die deutschen Übersetzungen des Tao-teh-king von 
R. von Plänckner und Noack bleiben am besten unerwähnt. 



— 145 — 

wenigsten y der sicherlich vielfach beschädigte Zustand des Textes 
erschweren das Verständnis nicht nur in ganz ungewöhnlich hohem 
Grade, sondern machen oft eine sichere Deutimg imd Wiedergabe 
des Originales geradezu unmöglich. Es ist nicht zuviel gesagt, 
wenn behauptet wird, dals das Verständnis des Buches dem chine- 
sischen Gelehrten kaum geringere Schwierigkeiten bereitet als dem 
europäischen Sinologen. Um dasTao-teh-king übersetzen zu 
können, ist selbst die eingehendste Kenntnis der Sprache noch 
nicht ausreichend, sondern es bedarf dazu aufserdem einer kon- 
genialen Denkweise, die den Übersetzer befähigt, den Gedanken- 
gang des Verfassers instinktiv nachzuempfinden und ihm gleich- 
sam ahnend zu folgen. Das hat wie kein anderer V. von Straufs 
vermocht, wenn er auch vermöge seiner eigenen stark mjrstisch 
angehauchten Denkweise hie und da der Versuchung anheimfällt, 
den Mystizismus des Lao-tsz6 womöglich noch zu übertrumpfen ^). 
Ich wage nicht zu behaupten, dafs seine Wiedergabe die kor- 
rekteste von allen sei, — die geistvollste ist sie sicherlich. 

Der Grundbegriff und Ausgangspunkt der ganzen Lehre des 
Lao-tsz6 ist, wie schon aus der Bezeichnung »Taoismusc er- 
sichtlich, das Tao; und gerade dieser Terminus leidet an einer 
Vieldeutigkeit, die nichts zu wünschen übrigläfst. Die Grund- 
bedeutung des Wortes ist ider Wege, woraus sich die weiteren 
Bedeutungswerte »Methodec, »Norme und endlich, im Sinne des 
normalen Verhaltens, »das Vernunftprinzipc entwickelt haben; 
aufserdem aber bedeutet tao auch noch »redenc, »sagen«, »be- 
zeichnen«. Somit entspricht das Tao, wenn wir alle diese Be- 
deutungswerte zusammenzufassen versuchen, etwa dem Logos- 
begriffe. Was Lao-tsz6 unter dem Begriffe Tao verstanden 
wissen will, geht vielleicht noch am klarsten aus dem 25. Kapitel 
hervor, wo es heilst : »Es gab ein Etwas, chaotisch imd zugleich 
vollendet, ehe denn Himmel und Erde entstanden. So still, so 
unkörperlich ! Es allein beharrt imd wandelt sich nicht ; es dringt 
überallhin und gefährdet sich nicht. Man darf es ansehen als 
der Welt Mutter. Ich kenne nicht seinen Namen. Will ich es 
bezeichnen, so nenne ich 's Tao. Bemüht, ihm einen Namen zu 
geben, nenne ich's grofs, als grofs nenne ich's dahineilend; als 



So z. B., wenn er Tao mit dem Artikel männlichen Geschlechts 
versieht tmd dadurch personifiziert. 

Grabe, Geschichte der cfaineuschen Litteratar. 10 



~ 146 - 

dahineilend nenne ich*s fem-, als fem nenne ich 's zurückkehrend, c 
Hieraus ergibt sich, dals unter Tao die erste Ursache alles 
Seienden verstanden sein soll, die als solche zugleich, mit 
Spinoza zu reden, causa sui ist. Eine weitere Begriffe- 
bestimmung des Tao, die wir im 40. Kapitel finden, lautet: 
1 Alle Wesen des Universiuns sind aus dem Sein entstanden ; das 
Sein ist aus dem Nichtsein entstanden«, wobei unter »Nichtsein« 
offenbar nichts anderes gemeint ist als eben das Tao, und zwar 
in dem Sinne, dafs es als die ratio essendi, als die Ursache und 
Norm des Seins nicht mit dem Sein selbst identifiziert werden 
darf. Wie nun aber alles Seiende aus dem Tao hervorgegangen 
ist, so kehrt es zum Schlüsse auch wieder ins Tao zurück. In 
diesem Sinne heilst es: >Alle Dinge gehen gemeinsam hervor, 
und wir sehen sie dann wieder zurückkehren. Nachdem die 
Wesen zur höchsten Blüte gelangt sind, kehren sie zu ihrem 
Ursprung zurück. Zurückgekehrt sein heilst Ruhe; Ruhe heilst 
seine Bestimmung erfüllt haben ; seine Bestinmiung erfüllt haben 
heilst Beständigkeit (d. h. die beständige Ordnung der Dinge); 
die Beständigkeit erkennen heilst Einsicht.« Somit ist das Tao 
nicht nur die erste Ursache, sondern auch das letzte Ziel des Da- 
seins : der Kreislauf der Entwicklung findet an demselben Punkte 
seinen Abschluls, von dem aus er begonnen hatte. Das ist die 
ewige imd ewig gleiche Ordnung und Gesetzmäßigkeit des Da- 
seins, deren Erkenntnis die höchste Einsicht ist. Wer die Ein- 
sicht erlangt hat, ist weise; er ist, wieLao-tsz6 sich ausdrückt, 
»der heilige Mensch«. Aber nicht durch diese Einsicht allein ist 
der heilige Mensch charakterisiert, sondern zugleich auch da- 
durch, dafs er sich in seinem Verhalten nach dem Tao richtet, 
und mit dieser zweiten Bestimmung tritt ein völlig neues Moment 
hinzu. Während wir das Tao bisher nur als kosmisches Prinzip 
kennen gelernt hatten, erscheint es nunmehr zugleich als die 
Richtschnur des sittlichen Handelns. 

Von dem Verhalten des Tao, nach dem sich der heilige 
Mensch in dem seinigen zu richten hat, sagt Lao-tszS: »Das 
Tao ist ewig ohne Tun und doch ohne Nichttun«, verständlicher 
ausgedrückt: das Tao wirkt, ohne zu handeln. Dies ist die be- 
rühmte Wu-wei-Theorie, die Lehre von dem »Nichttun«, auf 
der sich die ganze taoistische Ethik aufbaut. So heilst es im 
Sinne jenes Satzes: »Drum sagt der heilige Mensch: Ich bin 



— 147 — 

ohne Tun, und das Volk bessert sich von selbst; ich liebe die 
Ruhe, und das Volk wird von selbst redlich; ich bin ohne Ge- 
schäftigkeit, und das Volk wird von selbst reich; ich bin ohne 
Begierden, und das Volk wird von selbst einfach. c Und an 
einer anderen Stelle : »Der heilige Mensch verweilt in der Tätig- 
keit des Nichttuns und übt Belehrung aus ohne Worte, c Er 
wirkt also, wie wir sagen wtirden, durch seine vorbildliche 
Persönlichkeit. 

Unsere ganze Erkenntnis beruht nach Lao-tsz6 auf dem 
Satze des Widerspruchs: »Erkennen alle in der Welt des Schönen 
Schönsein, dann auch das Hälsliche; erkennen alle des Guten 
Gutsein, dann auch das Nichtgute; denn 

Sein und Nichtsein einander fi:ebären: 
Schwer und leicht einander bewähren, 
Lang und kurz einander erklären, 
Hoch und niedrig einander entkehren. 
Ton und Stimme einander sich fügen, 
Vorher und nachher einander folgen.« 

Demgemäfs ergeben sich auch die sittlichen Werte aus dem 
Satze des Widerspruchs; sie bedingen sich gegenseitig und sind 
mithin nicht absolut, sondern nur bedingt. Es gibt weder ein absolut 
Gutes noch ein absolut Böses, sondern das Gute ist gut im Gegen- 
satz zum Bösen, wie das Böse böse ist im Gegensatz zum Guten. 
Nur das kann Lao-tsz6 meinen, wenn er sagt: »Wenn das 
Tao in Verfall gerät, dann gibt es Menschlichkeit und Gerechtig- 
keit; kommt Klugheit und Scharfsinn auf, dann gibt es Heuchelei; 
sind die sechs Arten von Blutsverwandten uneinig, dann gibt es 
Kindesliebe und Elternliebe; wenn die Landesherrschaft in Ver- 
fall imd Zerrüttung gerät, dann gibt es treue Untertanen.« — 
Diese Sätze, die scheinbar aus lauter Widersprüchen bestehen, 
erweisen sich bei näherer Betrachtung als logische Folgerungen 
aus dem Begriffe des Tao, wie Lao-tsz6 ihn auffalst. Da das 
Tao als das Absolute einheitlich und ungeteilt, ewig sich selber 
gleich bleibt, so schliefst es jeden Gegensatz aus. Erst mit dem 
Sein entsteht die Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt und mit 
ihr die Gegensätze. Erst durch die Gegensätze entstehen die 
Begriffe von gut und böse, nach denen die Tugenden von den 
Lastern unterschieden werden. Aus dieser Betrachtungsweise 
ergibt sich indessen noch keineswegs eine Verwerfung oder auch 

10* 



— 148 — 

nur Geringschätzung der Tugenden als Mittel zur sittlichen Ver- 
vollkommnung. Gegen einen Verdacht solcher Art braucht 
der Mann nicht erst verteidigt zu werden, der bereits sechs- 
hundert Jahre vor Christus mit den schlichten Worten : »Vergilt 
Feindschaft mit Gütec das höchste Gebot der Menschenliebe 
verkündet hat. Wohl aber werden die Tugenden als relative 
Werte erkannt und können daher freilich nur als Lückenbüfser 
für das Absolute gelten, das eben durch den Verfall des Tao 
verlorengegangen ist. 

Das sittliche Leben hat nach Lao-tsz6 einen ähnlichen 
Kreislauf der Entwicklung durchzumachen wie alle Kreatur. 
Wie für den natürlichen, kosmischen, so ist auch für den ethischen 
Entwicklimgsprozels das Tao Anfang imd Ende; daher ist die 
Rückkehr zum Tao das Endziel auch des sittUchen Lebens. Das 
Tao ist gleichsam das verlorene Paradies, das wiedergewonnen 
werden soll. Das Mittel aber zur Erreichung dieses Zieles ist 
das Wu-wei, das Nichttun, weil dieses allein dem Verhalten 
des Tao entspricht. >Die fünf Farben«, heilst es im 12. Kapitel, 
»machen das Auge blind, die fünf Töne machen das Ohr taub, 
die fünf Geschmäcke machen den Mund verwirrt, Pferderennen 
und Jagd machen das Gemüt wild, schwer erlangbare Güter 
machen des Menschen Wandel verkehrt. Daher ist es dem heiligen 
Menschen um sein Inneres, nicht um der Augen Lust zu tun.€ 
Wer so durch Selbsterkenntnis, Selbstüberwindung und Selbst- 
genügsamkeit das Herz freimacht von den Begierden und den 
Reizen der Aulsenwelt entsagt, betritt den Weg des Wu-wei, 
des Nichttuns, der Askese, der zum ewigen Tao zurückführt. — 

Als der älteste unter den Nachfolgern des Lao-tsz6 dürfte 
wohl Lieh-tsz6^) zu betrachten sein, obwohl uns auch über 
ihn die geschichtliche Überlieferung nahezu völlig im Dunkeln 
lälst und manche daher so weit gehen, ihn für ein blofses Phantasie- 



') Der Naturalismus bei den alten Chinesen sowohl nach der Seite 
des Pantheismus als des Sensualismus, oder die sämtlichen Werke des 
Philosophen Licius zum ersten Male vollständig übersetzt und er- 
klärt von Ernst Faber. Elberfeld 1877. Vgl. auch die treffliche 
Abhandlung von A. Forke, Yang-chu the Epicurean in bis relation 
to Lieh-tse the Pantheist, in: Journal of the Peking Oriental Society» 
vol. III, p. 203 ff. 



— 149 — 

gebilde des Chuang-tszS zu erklären. Allerdings ist es ja 
auffallend, dals SzS-ma Ts^ien ihn gänzlich mit Stillschweigen 
übergeht; doch fällt gegenüber diesem Schweigen die Tatsache 
um so schwerer ins Gewicht, dafs der um 150 Jahre ältere Liü 
Puh-wei ihn in seinem Ch^un-tsMu ausdrücklich neben 
Lao-tszfi, Confucius, Moh Tih und anderen als einen der 
vollendetsten Weisen erwähnt. In Ermangelung sicherer An- 
gaben wird man wohl mit Faber annehmen dürfen, dalsLieh- 
tsz6 in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. gelebt 
habe. Der unter Lieh-tsz6s Namen überlieferte Text rührt 
in der Gestalt, wie wir ihn kennen, zwar sicherlich nicht un- 
mittelbar von ihm her ; auch ist derselbe zweifellos durch spätere 
Interpolationen und Zusätze vielfach entstellt. Nichtsdestoweniger 
sind wir deswegen noch keineswegs berechtigt, der Annahme 
beizupflichten, dafs das ganze Buch das Werk eines Fälschers 
sei, der Entlehnungen aus Chuang-tsz6, mit späteren Zu- 
sätzen vermischt, geschickt zu einem Ganzen verwoben habe. 
Entlehnungen ohne Angabe der Quelle sind in der chine- 
sischen Litteratur nichts Seltenes und werden durchaus nicht als 
litterarischer Diebstahl empfunden; es ist daher auch nicht ein- 
zusehen, warum, wenn wir bei Lieh-tszS und Chuang-tsz6 
zahlreiche gleichlautende Stellen finden, diese nicht tatsächlich 
von Chuang-tsz6 dem älteren Meister entlehnt sein sollten. 
Wollte man um jeden Preis eine Fälschung annehmen, so läge 
hier wiederum ein ähnlicher Fall vor wie vorhin: man müfste 
dann eben zugeben, dafs der Fälscher ein Denker war, wie es 
deren in China nicht viele gegeben hat; denn gerade unter den 
Abschnitten im Buche des Lieh-tsz6, die sich bei Chuang- 
tsz6 nicht wiederfinden, gibt es solche, in denen er seinem an- 
geblichen Vorbilde an Gedankentiefe zum mindesten gleichkommt. 
Dahin gehört beispielsweise der folgende Passus, der die kosmo- 
gonische Theorie des Lieh-tszS enthält. 

»Was die Dinge hervorbringt, ist selbst nicht hervorgebracht ; 
was die Dinge umwandelt, ist selbst nicht umgewandelt. Als 
Selbstleben, Selbstwandlung, Selbstform, Selbstfarbe, Selbstwissen, 
Selbststärke, Selbstauf lOsung , Selbstvergehen es Leben, Um- 
wandlung, Form, Farbe, Wissen, Stärke, Auflösung, Vergehen 
zu nennen, wäre jedoch verkehrt. 

Der Meister Lieh-tsz6 sprach: Vor alters fafsten die 



- 150 - 

Heiligen Himmel und Erde im Yin und Yang*) zusammen. 
Wenn nun aber das, was Form hat, aus dem Formlosen entstanden 
ist, woraus sind dann Himmel und Erde hervorgegangen? — 
Daher heilst es: Es gab eine grofse Wandlung, einen grofsen 
Ursprung, einen grofsen Anfang und eine grofse Gleichartigkeit. 
In der grofsen Wandlung ist die Kraft noch nicht sichtbar; der 
grofse Ursprung ist der Anfang der Kraft; der grofse Anfang 
ist der Anfang der Form ; die grofse Gleichartigkeit ist der An- 
fang des Stoffes. Kraft, Form und Stoff sind vereint, aber noch 
nicht voneinander gesondert ; daher nennt man es Chaos. Chaos 
bezeichnet den Zustand, in welchem sämtliche Wesen durch- 
einandergemengt und noch nicht voneinander gesondert sind. 
Blickt man es an, so sieht man es nicht; lauscht man ihm, so 
vernimmt man es nicht; verfolgt man es, so fafst man es nicht"). 
Daher nennt man es Wandlung. Die Wandlung hat kein Eben- 
mafs der Form.« 

Unter »Wandlung« ist also offenbar der Entwicklungsprozefs 
zu verstehen, durch den aus der Wechselwirkung von Kraft, 
Form und Stoff das Universum als Kosmos, d. h. als ein in sich 
geordnetes Weltganzes hervorgeht. L i e h - 1 s z f geht dann weiter, 
indem er zwischen der Erscheinungswelt und dem derselben zu 
Grunde liegenden iDinge an sich« oder, wie wir sagen würden, 
zwischen dem wahrnehmenden Subjekte und dem wahrgenommenen 
Objekte unterscheidet: 

»Es gibt ein Lebendes und etwas, das das Leben hervor- 
bringt; es gibt ein Geformtes und etwas, das es zu solchem 
macht; es gibt ein Tönendes und etwas, das es zu solchem 
macht; es gibt ein Farbiges und etwas, das es zu solchem macht; 
es gibt ein Schmeckendes und etwas, das es zu solchem macht. 
Das, wodurch das Leben Leben ist, ist der Tod ; aber das Leben- 
erzeugende hat noch nie geendet. Das, wodurch die Form Form 
ist, ist die Wirklichkeit; aber was die Form zur Form macht, 
hat noch nie vorgelegen. Das, wodurch der Ton Ton ist, ist 
das Gehör; aber was den Ton zum Tone macht, ist noch nie 



') Yin und Yang sind die kosmischen Dualkräfte. Yin ist das 
dunkle, weibliche, gebärende, Yang das lichte, männliche, zeugende 
Prinzip. 

•) Dasselbe wird Tao-teh-king XIV offenbar vom Tao ausgesagt. 



- 151 — 

hervorgetreten. Das, wodurch die Farbe Farbe ist, ist die Sicht- 
barkeit; aber was die Farbe zur Farbe macht, ist noch nie offen- 
bar geworden. Das, wodurch der Geschmack Geschmack ist, ist 
das Geschmacksvermögen; aber was den Geschmack zum Ge- 
schmacke macht, ist noch nie erschienen. Dies alles ist das Wirken 
des Nichttuns. Es kann Yin und Yang, weich und hart, kurz 
und lang, rund und viereckig, lebendig und tot, heils und kalt, 
obenauf schwimmend und untersinkend, Grundton und Sekunde, 
hervorkommend und untergehend, tiefblau und gelb, übel- und 
wohlriechend sein: ohne Wissen und ohne Können, ist es all- 
wissend und all vermögend.« 

Auch das Unendlichkeitsproblem berührt Lieh- tsz6 in dem 
Gespräche, das er dem halb m3rthischen Kaiser T ' a n g (angeblich 
1766 — 1753 V. Chr.), dem ersten Herrscher der Yin-Dynastie, 
und dessen Grofswürdenträger Hia Koh in den Mund legt: 
>T*ang von Yin fragte den Hia Koh, ob es im Uranfange 
Dinge gegeben habe. Hia Koh erwiderte: ,Wenn es im Ur- 
anfange keine Dinge gegeben hätte, woher sollten wir sie jetzt 
nehmen ? Ist es etwa denkbar, dafs zukünftige Menschen meinen 
sollten, es habe gegenwärtig keine Dinge gegeben?' — ,Also 
haben die Dinge kein Vorher und Nachher?' fragte T^ang. 
Hia Koh entgegnete: ,Der Dinge Ende und Anfang hat eben 
von Haus aus keinen Anfang. Bald erscheint das Ende als An- 
fang, bald der Anfang als Ende. Wie soll ich ihre Folge 
kennen ? Denn was jenseit der Dinge ist, . und was vor den Tat- 
sachen war, vermag ich nicht zu erkennen.* T^ang von Yin 
fragte: ,Also haben oben und unten und die acht Weltgegenden ') 
keinen Abschluls?' — Hia Koh erwiderte: ,Das weils ich nicht.' 
Da T^ang jedoch auf seiner Frage bestand, sagte er: ,Wenn 
sie keinen haben, so sind sie unendlich, und wenn sie einen haben, 
so sind sie begrenzt. Wie soll ich es wissen? Aber wenn es 
jenseit des Unendlichen wiederum ein Nichtunendliches und inner- 
halb des Unbegrenzten wiederum ein Nichtunbegrenztes gäbe, 
so würde die Unendlichkeit wiederum nichtunendlich und die 
Unbegrenztheit wiederum nichtunbegrenzt sein. Daher begreife 
ich wohl die Unendlichkeit und Unbegrenztheit, nicht aber die 
Endlichkeit und Begrenztheit.'« 

') Nämlich die vier Himmelsgegenden und die vier dazwischen- 
liegenden Regionen: NW, NO, SW und SO. 



— 152 — 

Schon die Erkenntnis dieser kosmologischen Antinomie ist 
ein Denkakt, der zur. Bewunderung nötigt ! 

Eine charakteristische Eigentümlichkeit der taoistischen Schule 
ist der Hang zum Phantastischen und, damit Hand in Hand 
gehend, ein mehr oder weniger willkürliches Umspringen mit 
dem Tatsächlichen. Daraus erklären sich nicht nur zahlreiche 
freie Erfindungen in historischem Gewände, sondern auch geschicht- 
liche Anachronismen, die in den Schriften der taoistischen Schule 
nichts Seltenes sind. Wer solche als untrügliche Beweismittel 
gegen die Echtheit der in Frage kommenden Texte benutzen 
wollte, würde diese daher mit falschem Mafse messen. Man be- 
denke nur, was z. B. Lieh-tszg aus Confucius macht: wo 
er nicht als ein Mann hingestellt wird, der mit seiner Weisheit 
bald den kürzeren zieht, erscheint er geradezu als ein über- 
zeugungstreuer Anhänger des Lao-tsz& Das phantastische 
Element, das schon bei Lieh-tszg eine hervorragende Rolle 
spielt, herrscht in noch ausgedehnterem Malse bei Chuang- 
tsz6 vor, der seine Gedanken mit Vorliebe in allegorische Bilder 
kleidet. 

Chuang-tsz6^) oder, wie sein Name eigentlich lautet, 
Chuang Chou lebte während der letzten Hälfte des vierten 
und der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts v. Chr. Er war 
aus dem Staate Liang (in der heutigen Provinz Ho-nan) ge- 
bürtig und bekleidete einen kleinen Beamtenposten inTs^i-yüan, 
einer Ortschaft, die vermutlich in der heutigen Provinz S han- 
tung gelegen war. Es scheint jedoch, dais er den grölsten 
Teil seines Lebens als Privatmann ohne öffentliche Anstellung 
verbracht hat, denn als ihm, wie Sz6-ma Ts*ien berichtet, 
der König Wei von Ch*u (339-329 v. Chr.) unter Über- 
Sendung reicher Geschenke einen Ministerposten anbieten liels, 
antwortete Chuang-tsz6 dessen Gesandten lachend: »Tausend 
Unzen Goldes sind ein grofser Gewinn, und der Posten eines 
Ministers ist eine ehrenvolle Stellimg. Aber habt ihr Herren 
niemals einen Opferochsen für das Grenzopfer ■) gesehen ? Nach- 

Chuang Tzü, Mystic, Moralist, and Social Reformer. Trans- 
lated from the Chinese by H. A. Giles. London 1899. — Legge, 
The Sacred Bocks of China: the Texts of TÄoism (s. oben S. 144). 

■) Das Grenzopfer ist das Opfer, das zur Winter- und Sommer- 
sonnenwende dem Himmel und der Erde dargebracht wurde. 



— 153 — 

dem man ihn jahrelang gemästet hat, wird er, mit gestickten 
Seidenstoffen bekleidet, in den grofsen Tempel geführt. Wohl 
möchte er in einem solchen Augenblicke ein armseliges Ferkel 
sein, — aber kann er das? Geht schleunigst eurer Wege, ihr 
Herren,* und besudelt mich nicht. Ich ziehe es vor, mich in 
meinem schmutzigen Graben zu vergnügen, statt mich von Macht- 
habem tyrannisieren zu lassen. Bis an mein Lebensende trete 
ich nicht in den Staatsdienst, um meinen Neigungen folgen zu 
können.c Im Buche des Chuang-tszfi wird dieser Vorgang 
zweimal erzählt: das eine Mal (im 32. Kapitel) in derselben 
Weise wie bei Sz6-ma-Ts*ien, nur mit dem Unterschiede, 
dals dem Ochsen statt des Ferkels ein Kalb gegenübergestellt 
wird; das andere Mal (im 17. Kapitel) in abweichender Fassung 
folgendermalsen : >Chuang-tsz6 angelte am Flusse P'uh; da 
traten zwei von dem Könige von C h * u abgesandte Grof swürden- 
träger vor ihn hin und sagten ihm, dals es des Königs Wunsch 
sei, ihn in die Verwaltung seines Staates zu ziehen. Chuang- 
tsz6 behielt die Angelrute in der Hand und sagte, ohne sich 
umzublicken: ,Im Staate Ch^u soll es eine heilige Schildkröte 
geben, die schon seit dreitausend Jahren tot ist, und die der 
König in einem mit einem Tuche bedeckten Korbe in seiner 
Ahnenhalle aufbewahrt. Was würde diese Schildkröte wohl vor- 
ziehen: dals ihrer zurückgebliebenen Schale nach ihrem Tode 
Verehrung erwiesen werde, oder aber lebend ihren Schwanz 
durch den Kot zu schleifen?' — Die beiden Grolswürdenträger 
sprachen: ,Sie würde vorziehen, lebend ihren Schwanz durch 
den Kot zu schleifen.' ,So geht denn eurer Wege, ihr Herren,' 
sagte Chuang-tsz6; ,auch ich will meinen Schwanz durch den 
Kot schleifen.'f 

Über das Ende des Chuang-tsz6 wissen wir nichts, wohl 
aber, dals er demselben mit philosophischem Gleichmute entgegen- 
sah. Er will sich nicht einmal, wie es der Väter Brauch vor- 
schreibt, begraben lassen. Gegen Schluls des 32. Kapitels heilst 
es: Als Chuang-tsz6 dem Tode nahe war, gaben seine Schüler 
den Wunsch kund, ihn prunkvoll zu bestatten; aber Chuang- 
tszg sprach: »Himmel und Erde dienen mir als innerer und 
äulserer Sarg, Sonne und Mond habe ich als Insignien meiner 
Würde, die Gestirne und Sternbilder sind mein (reschmeide, und 
die gesamte Kreatur bildet mein Trauergefolge. Ist damit nicht 



— 154 — 

für mein Leichenbegängnis genügend gesorgt ? Was wolltet ihr 
dem noch hinzufügen?! — »Wir fürchten,! sagten die Schüler, 
>dafs dich die Krähen und Weihen fressen könnten. c Chuang- 
tsze entgegnete: »Droben werde ich von Krähen und Weihen, 
drunten würde ich von Maulwurfsgrillen und Ameisen gefressen 
werden. Was soll die Parteilichkeit, dafs ihr mich jenen rauben 
und diesen geben wollt ?c 

Ohne ein systematischer Denker zu sein, istChuang-tszg 
doch einer der gedankenreichsten Geister und glänzendsten Schrift- 
steller, die China je hervorgebracht. Nicht nur den chinesischen 
Prosastil hat er zu einer bis dahin nicht gekannten Vollendung 
emporgehoben , er besitzt auch eine dichterische Erfindungsgabe 
und Gestaltungskraft wie kein Schriftsteller vor ihm. Als 
Denker wandelt er in Lao-tszös Bahnen, doch ist sein Mysti- 
zismus bereits mit einer beträchtlichen Dosis Skeptizismus ver- 
setzt, und diese eigentümliche Mischung von mystischem Tief- 
sinn und kritischem Zweifel macht ihn zugleich zum Humoristen 
und Satiriker, als welcher er uns schon in den soeben angeführten 
Beispielen entgegentrat. Eine ausführliche Analyse der inhalt- 
lich ziemlich buntscheckigen 33 Abschnitte seines Buches *) würde 
zu weit führen ; ich mufs mich daher mit dem Versuche begnügen, 
an der Hand weniger Beispiele die Eigenart des Chuang-tsz6 
als Denker und Schriftsteller dem Leser vor Augen zu führen. 

An philosophischem Gedankengehalt ist wohl das zweite 
Kapitel des Nan-hoa-king das bedeutsamste und tiefsinnigste 
des ganzen Buches. In kühnem Adlerfluge eilt der Gedanke 
dahin, während das Wort ihm kaum zu folgen vermag. Man 
kann hier so recht ein förmliches Ringen zwischen Begriff und 
Wort, zwischen einem alle Schranken der Erfahrung durch- 
brechenden Denken und der Gebundenheit des sprachlichen Aus- 
drucks beobachten, und, wie das so oft der Fall, so erweist sich 



') Im Jahre 742 n. Chr. wurde der Name von Chuang-tszSs 
Geburtsort auf kaiserlichen Befehl O'edoch nur zeitweilig) in Nan-hoa 
umgewandelt, und Chuang-tszS selbst erhielt den Ehrennamen 
Nan-hoa-chen-jen. Chenjen, »der Wahrhaftige*, ist ein Ehren- 
titel für Anhänger der Taolehre, welche die Unsterblichkeit erlangt 
haben. Gleichzeitig wurde auch dem Texte des Chuang-tszö der 
Titel Nan-hoa-king, »das kanonische Buch von Nan-hoa*, gegeben, 
den es seitdem trägt. 



- 155 — 

auch hier die Sprache als ein nur gar dürftiger Notbehelf, als ein 
Instrument, das den Anforderungen und Absichten des Künstlers 
nicht entfernt gewachsen ist. Es liegt auf der Hand, dals bei 
solchem Mif sverhältnis zwischen Inhalt und Form einer wortgetreuen 
Wiedergabe gerade dieses Abschnittes stellenweise schier unüber- 
windliche Schwierigkeiten im Wege stehen. Den eigentlichen 
Gegenstand des Kapitels bildet die schon von Lao-tszg an- 
gedeutete und von Lieh-tsz6 weiter ausgeführte wechselseitige 
Bedingtheit der Gegensätze, die in dem fundamentalen Gegen- 
satze von Subjekt und Objekt gipfelt und in folgenden Worten 
zum Ausdruck gebracht wird: 

»Es gibt nichts, was nicht Objekt, nichts, was nicht Sub- 
jekt*) wäre. Wenn man vom Objekte ausgeht, wird es nicht 
sichtbar, sondern durch die eigene Erkenntnis erkennt man es. 
Daher heifst es: das Objekt geht aus dem Subjekt hervor, das 
Subjekt hat das Objekt zur Ursache. Das besagt, dals Objekt 
und Subjekt auseinander hervorgehen. Gleichwohl ist mit dem 
Leben der Tod, mit dem Tode das Leben, mit der Möglichkeit 
die Unmöglichkeit, mit der Unmöglichkeit die Möglichkeit ge- 
geben, und die Bejahung gründet sich auf die Verneinung, wie 
sich die Verneinung auf die Bejahung gründet. Daher befolgt 
der Heilige nicht diesen Weg, sondern betrachtet es im Lichte 
des Himmels ^) und gründet sich dabei zugleich auf das Subjekt. 
Wenn nun das Objekt zugleich Subjekt und das Subjekt zugleich 
Objekt ist, so schliefst jedes von ihnen einen Gegensatz in sich. 
Existieren nun also Objekt und Subjekt tatsächlich, oder ist nicht 
vielmehr keines von beiden vorhanden? — Wenn Objekt und 
Subjekt ohne Widerpart sind, so nennt man das die Achse des 
Tao, und wenn diese Achse sich im Mittelpunkte des Ringes 
befindet, so dafs sie dem Unendlichen entspricht, lösen sich Be- 
jahung und Verneinung in eine unendliche Einheit auf. Daher 
heifst es: Nichts geht über die Einsicht. c 

Die Aufhebung der Gegensätze in der Identität von Subjekt 
und Objekt ist also das Tao. Aber nur ein durchdringender 

') Für die Umschreibung der Begriffe Objekt und Subjekt bedient 
sich Chuang-tszö in Ermangelung einer philosophischen Termino- 
logie der Fürwörter »jenes« und -dieses'. 

Er bewegt sich nicht innerhalb der Gegensätze, sondern be- 
trachtet diese sub specie aeternitatis. 



— 156 - 

Verstand vermag diese Einheit zu erkennen. Wer seinen Geist 
abplagt, indem er ihn auf das einzelne richtet, ohne das Gemein- 
same zu erkennen, erinnert an die Geschichte vom Affenhüter *). 
Ein Affenhüter verteilte Eicheln unter seine Affen und sagte: 
»Am Morgen gebe ich euch drei, am Abend vier Mals voll.« 
Darüber gerieten die Affen in Wut. »Wohlan,« sprach er, »so 
will ich euch morgens vier und abends drei Mals geben.« Da 
waren sie alle vergnügt. Obwohl sachlich ohne Unterschied, be- 
wirkte der Vorschlag das eine Mal Zorn, das andere Mal Freude. 
Das war nichts anderes als eine Folge jenes einseitigen Stand- 
punktes. 

Aber das Tao ist unnennbar und unerkennbar, ein un- 
ergründliches Geheimnis, das nur geahnt wird, dessen Schleier 
zu lüften jedoch menschlichem Scharfsinn versagt bleibt; daher 
bleiben Leben und Tod nach wie vor ungelöste Rätsel. Dies 
ist denn auch der Punkt, an dem bei Chuang-tszS der 
Skeptizismus einsetzt. »Wie weifs ich, dafs die Freude am Leben 
nicht eine Täuschung sei? Wie weifs ich, dals, wer den Tod 
halst, nicht dem Kinde gleiche, das den Weg verloren hat und 
nicht heimzukehren weifs? — Li Ki war die Tochter eines 
Grenzwächters von Ngai. Als sich der Fürst von Tsin ihrer 
bemächtigte, weinte sie, dafs ihre Zähren den Busen ihres Ge- 
wandes netzten. Als sie jedoch, in den Palast gekommen, des 
Königs Lager teilte und die wohlschmeckenden Speisen genofs, 
bereute sie nachträglich, geweint zu haben. Wie soll ich nun 
wissen, ob nicht auch die Toten bereuen, dafs sie einst das Leben 
erstrebt? Die von Essen und Trinken träumten, mögen am 
Morgen weinen und schluchzen, und die von Weinen und 
Schluchzen träumten, mögen am Morgen sich an der Jagd ver- 
gnügen. Während sie träumen, wissen sie nicht, dafs sie 
träumen, — ja, sie mögen sogar im Traume einen Traum aus- 
legen; wenn sie jedoch erwacht sind, wird ihnen bewufst, dads 
sie geträumt haben. Wenn erst das grofse Erwachen kommt, dann 
werden wir erkennen, dafe wir geträumt. In unserer Einfalt 
wähnen wir zu wachen und zu wissen, wer Fürst, wer Hirt ist, — 
Toren, die wir sind! — K^iu(Confucius) sowohl wie du selbst, ihr 
beide seid nur Traumgebilde ; und ich, der ich dir sage, dafs du 

') Diese Anekdote ist dem zweiten Kapitel des Lieh-tszö ent- 
lehnt, wo sie in etwas ausführlicherer Fassung erzählt wird. 



- 157 - 

ein Traumgebilde bist, bin gleichfalls nur ein Traumgebilde, c — 
Derselbe Gedanke kehrt am Schlüsse des Kapitels in anderem 
Gewände wieder: »Einst träumte mir, ich, Chuang Chou, 
sei ein Schmetterling, lustig umherflatternd als ein rechter 
Schmetterling. Ich wuIste nicht mehr, dafs ich Chuang Chou 
sei. Plötzlich erwacht, war ich wieder der Chuang Chou von 
ehedem. Nun weils ich nicht, ob Chuang Chou im Traume 
ein Schmetterling oder der Schmetterling im Traume Chuang 
Chou sei. Und doch besteht zwischen ChuangChou und einem 
Schmetterling sicherlich ein Unterschied. Das nennt man Um- 
wandlung der Wesen. € — Wem fielen bei diesen Worten nicht 
Calderons schöne Verse ein: 

Was ist Leben? Hohler Schaum! 
Ein Gedicht, ein Schatten kaum! 
Wenig kann das Glück uns geben, 
Denn ein Traum ist alles Leben, 
Und die Träume selbst ein Traum! — 

Ist aber das Leben nur ein wirrer Traum, eine leere Illusion, 
so wird ihm der Weise den durch kein eitles Gaukelspiel ge- 
störten Frieden des Todes vorziehen. Dieser Gedanke bildet den 
Gegenstand des im 18. Kapitel enthaltenen Zwiegespräches 
zwischen Chuang-tszg und einem Totenschädel, dessen grausiger 
Humor an die Totengräberszene im »Hamlete erinnert: 

>Als Chuang-tszß unterwegs war, erblickte er einen 
leeren Schädel, der, obschon gebleicht, doch noch wohlerhalten 
war. Indem er ihn mit der Reitgerte berührte, fragte er ihn: 
jHerr, hattest du in deinem Lebensdrange die Vernunft verloren, 
dafs du in solchem Zustande bist, oder bist du für Taten, die 
das Reich ins Verderben stüi-zten, durch die Axt hingerichtet 
worden? Hast du durch üblen Wandel den eigenen Schimpf 
auf Vater und Mutter, auf Weib und Kinder vererbt? Bist du 
im Elend vor Hunger und Frost umgekommen, oder hast du das 
Ziel deiner Lebensdauer erreicht?' Nachdem er diese Worte 
gesprochen, nahm er den Schädel an sich, benutzte ihn als 
Nackenstütze und schlief dann ein. Um Mitternacht erschien ihm 
der Schädel im Traimie und sprach: ,Herr, deine Rede gleicht 
den Worten der Sophisten. Alles, was du sagtest, bezieht sich 
auf die Wirmisse des menschlichen Lebens; im Tode aber ist es 
nicht also. Willst du, Herr, vernehmen, wie es um den Tod 



_ 158 — 

bestellt ist?' — ,Freilich/ sagte Chuang-tszS. Da fuhr der 
Schädel fort : ,Im Tode gibt es weder Obrigkeit noch Untertanen, 
auch nichts, was mit dem Wechsel der Jahreszeiten zusammen- 
hängt. In Ruhe erreichen wir das Alter von Himmel und Erde, 
und nicht einmal die Freuden eines mit dem Antlitze gen Süden 
gerichteten Königs*) vermöchten die unseren zu übertreffen.^ 
Chuang'tszg wollte das nicht glauben und sagte: ,Gesetzt den 
Fall, ich wäre Herr der Geschicke und gäbe deinem Leibe samt 
Fleisch und Bein das Leben wieder, so dafs du zu Vater und 
Mutter, zu Weib und Kindern, zu den Freunden deiner Heimat 
zurückkehren könntest, — würdest du das wünschen?' — Da rifs 
der Schädel die Augen weit auf, zog die Stirn in Falten und 
rief: ,Wie könnte ich die Freuden eines mit dem Antlitze gen 
Süden gerichteten Königs preisgeben, um die Plagen des Menschen- 
daseins aufs neue auf mich zu nehmen I'c 

Unerschöpflich istChuang-tsz6 in seinen Angriffen gegen 
Confucius, den er bald als überzeugungstreuen Anhänger des 
Lao-tsz^ schildert, bald wieder in schonungsloser Weise lächer- 
lich macht. Ein Beispiel übermütigster Satire dieser Art ist das 
29. Kapitel, wo geschildert wird, wie Confucius sich aufmacht, 
um den berüchtigten und allgemein gefürchteten Räuber Chih 
auf den Pfad der Tugend zurückzuführen und sich dann gefallen 
lassen mufs, von jenem wie ein Schuljunge abgekanzelt zu werden. 
Er, der Moralprediger, mufs es hinnehmen, dafs der Räuber, den 
er bekehren wollte, ihn selbst als den gröfsten aller Räuber be- 
zeichnet, der es aus Ehrgeiz und Habgier stets mit den Mäch- 
tigen halte und diesen behilflich sei, das Volk zu knechten. Das 
Ende vom Liede ist, dafs ihm der Rat erteilt wird, er solle den 
Mund halten und machen, dafs er fortkomme, — ein Rat, den 
der tapfere Kämpfer für Menschlichkeit und Gerechtigkeit denn 
auch eiligst befolgt, jedoch nicht ohne sich vorher demütigst 
durch eine zweimalige Verbeugung von dem Räuber verabschiedet 
zu haben. Erscheint Confucius hier als eine groteske Kari- 
katur, so hat für die Figur des Räubers Chih unverkennbar 
der im vorigen Kapitel erwähnte Philosoph Yang Chu als 
Modell gedient, da die ihm in den Mund gelegten Äulserungen 
zum Teil den im siebenten Buche des Lieh-tszS enthaltenen 
Aussprüchen des Yang Chu entlehnt sind. 

*) Der Thron des Königs steht nach Süden gerichtet. 



— 159 — 

In wohltuendem Gegensatze zu dieser grobkörnigen Persi- 
flage steht die feine Ironie, mit der Chang-tszfe im 31. Kapitel 
die weltverbessemde Vielgeschäftigkeit des Confucius gegen- 
über der weisen Einfalt eines alten Fischers den kürzeren ziehen 
läfst Besonders reizvoll wirkt diese Erzählung aber auch zu- 
gleich durch die dichterische Anmut der Form, in die sie ge- 
kleidet ist. >K'ung-tsz6, der im Walde Tszfe-wei lust- 
wandelte, hatte sich auf einer mit Aprikosenbäumen bewachsenen 
Anhöhe niedergelassen, um auszuruhen. Während seine Schüler 
ihre Bücher zur Hand nahmen, spielte er die Laute und sang 
ein Lied dazu. Noch hatte er sein Lied nicht bis zur Hälfte 
gebracht, da trat ein Fischer aus seinem Nachen und kam 
herbei. Brauen und Bart waren weils, das aufgelöste Haar um- 
flatterte sein Haupt, und die Ärmel hingen ihm lang herab; so 
durchschritt er die Furt. Aufs Trockene gelangt, blieb er stehen 
und lauschte, die Linke aufs Knie gelehnt und mit der Rechten 
das Kinn stützend, dem Gesänge. Als das Lied aus war, winkte 
er Tszfe-kung und Tsz6-lu*) herbei. Als diese, dem Zeichen 
entsprechend, zu ihm gekommen waren, fragte er sie, auf K*ung- 
tsz6 weisend: ,Was ist jener für ein Mann?' worauf Tsz6-lu 
erwiderte: ,Es ist ein Edler aus Lu.' Als der Fremdling dann 
nach seinem Namen fragte, antwortete Tsz6-lu: Er ist vom 
Geschlechte K^ung.' — Der Fremdling fragte weiter: ,Was 
treibt denn der Herr K*ung?' — Bevor Tsz6-lu darauf ant- 
worten konnte, erwiderte Tszf-kung: ,Herr K'ung widmet 
sich der Treue und Aufrichtigkeit, in seinem persönlichen Ver- 
halten übt er Menschenliebe und Gerechtigkeit, er befalst sich 
mit dem Schmucke der Riten und der Musik und untersucht die 
sittlichen Beziehungen der Menschen'); nach oben hin hält er 
seinem angestammten Herrn die Treue, und nach unten hin ver- 
edelt er die Masse des Volkes. Dadurch sucht er das Reich zu 
fördern. Das ist's, was Herr K'ung treibt.' Jener fragte 
darauf: ,Gebietet er als Fürst über ein Land?' — ,Nein,' sagte 
Tsz6-kung. — ,Ist er Minister eines Fürsten ?' — Tsz6-kung 
erwiderte: ,Nein.' — Da lachte der Fremdling und begab sich 

Beides Schüler des Confucius. 

■) Gemeint sind damit die Beziehungen zwischen Fürst und Unter- 
tanen, Vater und Sohn, älteren und jüngeren Brüdern, Mann und Frau 
sowie die zwischen Freunden. 



— 160 — 

wieder zurück. Im Gehen aber sprach er die Worte : ^Menschen- 
liebe hin, Menschenliebe her, — ich fürchte nur, er wird seinem 
Schicksale nicht entgehen! Indem er seinen Geist peinigt und 
seinen Leib abplagt, bringt er seine innere Wahrhaftigkeit in 
Gefahr. Ach! weit entfernt ist er vom Tao!'f 

NachdemTszö-kung, wieder zurückgekehrt, dem K^ung-tsz6 
Bericht erstattet hatte, schob dieser die Laute beiseite, erhob sich 
dann und sprach : ,Das muüs ein Heiliger sein !' Darauf stieg er 
hinab, ihn zu suchen. Als er das Ufer des Sees erreicht hatte, 
war jener gerade im Begriff, seinen Nachen mit der Bootsstange 
heranzuziehen. Als er jedoch, sich umwendend, den K*ung-tsz& 
gewahrte, kehrte er wieder zurück und trat vor ihn hin. K^ung-tsz6 
trat zurück, warf sich zweimal nieder und näherte sich ihm 
dann. ,Herr, was ist dein Begehr?* fragte ihn der Fremdling. 
K*ung-tsz6 erwiderte: ,Meister, du bist vorhin, ohne deine 
Rede zu beendigen, von dannen gegangen. Ich Unwürdiger ver- 
stehe nicht, was du damit meintest und warte nun bescheidentlich, 
ob es mir vergönnt sein möchte, ein Wort aus deinem Munde 
zu vernehmen, durch welches du mir endgültig helfen könntest.* — 
,Ei, Herr,* sagte der Fremdling, ,du scheinst ja sehr lern- 
begierig zu sein!* — K^ung-tszg warf sich abermals zweimal 
nieder, erhob sich dann und sprach: ,Von Jugend auf bis jetzt 
habe ich mich dem Studium gewidmet. Schier neunundsechzig 
Jahre bin ich alt, ohne dals es mir gelungen wäre, die höchste 
Lehre zu vernehmen: wie sollte ich ihr nicht ein reines Herz 
entgegenbringen ?*c 

Nun beginnt der Fremde seine Unterweisung. Solange der 
Himmelssohn, der Lehensfürst, der Grolswürdenträger und der 
gemeine Mann jeder seine Pflicht erfülle, sei die Ordnung im Reiche 
gesichert. Er, Confucius, begehe aber den Fehler, dals er 
sich um Dinge kümmere, die ihn nichts angingen. Ohne durch 
amtliche Stellung dazu befugt zu sein, befasse er sich mit Riten 
und Musik, mit den sittlichen Beziehungen der Menschen, mit 
der Veredelung des Volkes, — ob das nicht doch des Guten zu 
viel wäre? >K*ung-tsz6 seufzte betrübt; darauf warf er sich 
zweimal nieder, erhob sich dann und sprach: ,Zweimal ward ich 
ausLu vertrieben, inWei mufste ich mich verborgen halten, in 
Sung wurde der Baum über mir gefällt, in Ch*en undTs^ai 
ward ich umzingelt. Ich weifs nicht, worin ich gefehlt, dals mir 



— 161 - 

diese vier Widerwärtigkeiten zustiefsen/ — Da nahm der Fremd- 
ling einen verdriefslichen Ausdruck an und sprach: ,Du bist 
wohl sehr schwer von Begriffen, Herr. Es war einmal ein Mann, 
der fürchtete sich vor seinem Schatten und halste seine Fufsspur, 
und um beiden zu entgehen, ergriff er die Flucht. Aber je öfter 
er den Fufs hob, um so häufigere Spuren liefs er zurück, imd 
so schnell er auch lief, löste sich der Schatten doch nicht von 
seinem Körper. Da wähnte er, er säume noch zu sehr, und be- 
gann noch schneller zu laufen, ohne Rast, bis seine Kraft er- 
schöpft war und er starb. Er hatte nicht gewufst, dafs er nur 
an einem schattigen Orte zu weilen brauchte, um seinen Schatten 
loszusein, dafs er sich nur ruhig zu verhalten brauchte, um 
keine Fufsspur zurückzidassen. Töricht genug l'c 

Dieses Gleichnis, das offenbar Lao-tsz6s Lehre vom Nicht- 
tun veranschaulichen soll, wendet der Fremdling alsdann auf 
Confucius an, der, statt sich selbst zu bessern, immer nur auf 
die Besserung anderer bedacht sei. Hätte er sich statt dessen 
die Selbstvervollkommnung zur Aufgabe gemacht und mit Be- 
dacht die innere Wahrhaftigkeit gewahrt, so wären ihm jene 
Widerwärtigkeiten erspart geblieben. Auf des Confucius' Frage, 
was er unter der inneren Wahrhaftigkeit verstehe, belehrt ihn 
der Fremdling, dafs die innere Wahrhaftigkeit der Höhepunkt 
der lauteren Wahrhaftigkeit sei. Ohne Lauterkeit, ohne Wahr- 
haftigkeit könne man nicht auf die Menschen wirken. Er- 
zwtmgenes Wehklagen habe nichts mit aufrichtigem Schmerze 
zu ttm, gekünstelter Zorn erwecke keine Scheu \ vielmehr bedürfe 
der wahre Schmerz keines Lautes, gleichwie der wahre Zorn 
Scheu erwecke, ohne sich zu äufsem. Damit berührt er den 
wunden Punkt der confucianischen Lehre, die übertriebene Be- 
tonung des Ritualismus, und fährt nun fort : »Die Riten sind ein 
Erzeugnis der herrschenden Sitte, die Wahrhaftigkeit hingegen 
ist etwas, das der Mensch vom Himmel erhalten hat; sie ist 
spontan und unwandelbar. Daher nimmt sich der heilige Mensch 
den Himmel zum Vorbilde und schätzt die Wahrhaftigkeit. Der 
Tor macht es umgekehrt : er ist nicht im stände, sich den Himmel 
zum Vorbilde zu nehmen, sondern richtet sich nach den Menschen; 
er weils die Wahrhaftigkeit nicht zu schätzen, sondern jagt 
^Glücksgütem nach und ändert sich nach den Menschen; daher 
kennt er kein Genüge. Schade um dich, Herr, dafs du so früh 

Grabe, Geschichte der chineiitchen Litterator. 11 



— 162 — 

in Irrtum versunken bist und so spät erst das grolse Tao kennen 
lernst Ic — Confucius preist die Begegnung mit dem Fremd- 
ling als ein vom Himmel gesandtes Glück und bittet ihn, ihm 
als Schüler folgen zu dürfen. »Der Fremdling aber antwortete: 
Jch habe gehört, mit einem geeigneten Genossen möge man 
wohl selbander bis zum geheimnisvollen Tao gelangen, doch 
solle man sich vor ungeeigneten Genossen hüten, die das Tao 
nicht anerkennen; nur so. sei man vor Schaden sicher. Tue, 
was in deinen Kräften steht, Herr. Ich mufs dich verlassen, — 
ich mufs dich verlassen!' Mit diesen Worten stiefs er den 
Nachen ab und verschwand im grünen Schilf. Yen Yüan*) 
kehrte zum Wagen zurück, und Tsz6-lu ergriff die Zügel. 
K*ung-tsz6 aber blieb unverwandten Blickes stehen und 
wartete, bis sich die Wellen geglättet hatten; erst als er den 
Ruderschlag nicht mehr vernahm, wagte er, zu seinem Gefährt 
zurückzukehren, c 

Deutlicher als durch dieses Gespräch kann der ganze 
fundamentale Gegensatz zwischen den beiden rivalisierenden 
Richtungen nicht veranschaulicht werden: auf der einen Seite 
ein Mann, der mit beiden Füfsen auf dem Boden der Wirklich- 
keit steht und, nach dem Grundsatze, dals das Bessere des Guten 
Feind, nur nach dem Erreichbaren strebt, — auf der anderen 
Seite das Wolkenkuckucksheim eines einsamen, weltfremden 
Denkers ; dort zielbewußtes Streben nach staatlicher Reform auf 
sittlicher Grundlage, hier asketische Weltflucht und mystisches 
Versenken ins ewig-eine Tao. Diese Kluft zu überbrücken und 
die Lehre des Lao-tsz6 auf das praktische Leben anzuwenden, 
war nun die Aufgabe, die ein Staatsmann und Philosoph des 
3. Jahrhunderts v. Chr., Han Fei-tszö mit Namen, sich 
gestellt hatte. 

Han Fei stammte aus dem fürstlichen Geschlechte von 
Han^), dessen Namen er auch trug. Als ein Genosse des nach- 
maligen ersten Ministers des Ts^in-Kaisers Shi-hoang-ti, 
LiSzfi, studierte er in seiner Jugend mit diesem zusammen 
unter der Leitung des Siün K *ing*), um sich später der Rechts- 

*) Ein Schüler des Confucius. 

') Han ist der Name eines alten Vasallenstaates, der in der heu- 
tigen Provinz Shen-si lag. , 
«) S. oben S. 135 ff. 



— 163 — 

künde zu widmen. Als Shi-hoang-ti einst seine Schriften las, 
geriet er darob in solche Begeisterung, dals er ausrief: »Ach! 
wenn es mir gelänge, mit diesem Manne zusammenzutreffen, so 
würde ich ohne Bedauern sterben Ic — Dieser Wunsch sollte ihm 
bald erfüllt werden. Um jene Zeit war Ts^in gerade in einen 
Krieg mit dem Staate Han verwickelt, und in seiner Bedrängnis 
schickte der König von Han den Han Fei als Unterhändler 
nach Ts4n. Shi-hoang-ti fand so grolses Gefallen an ihm, 
dals er die Absicht kundgab, ihn in seine Dienste zu nehmen. 
Li Sz6 gab ihm jedoch zu bedenken, dafs Han Fei in solchem 
Falle vermutlich bestrebt sein würde, die Interessen seines 
Heimatstaates zu vertreten, und riet ihm daher, ihn lieber hin- 
richten zu lassen und auf diese Weise unschädlich zu machen. 
Shi-hoang-ti befolgte den Rat, indem er den Han Fei ein- 
kerkern liels; Li Sz6 aber sandte ihm Gift, damit er sich das 
Leben nehme. Han Fei wollte sich persönlich rechtfertigen, 
doch setzte er es nicht durch, von Shi-hoang-ti empfangen 
zu werden. Dieser bereute zwar hinterdrein seinen Schritt und 
sandte Boten aus, die ihn aus der Haft befreien sollten, allein es 
war zu spät: Han Fei war nicht mehr am Leben. Sein Tod 
fällt in das Jahr 233 v. Chr. 

Seine Schriften umfassen 55 Kapitel, die auf 20 Abschnitte 
verteilt sind und fast ausschlielslich politische und ethische Gegen- 
stände behandeln. Weder als Denker noch als Schriftsteller 
lälst er sich auch nur entfernt mit Chuang-tsz6 vergleichen: 
seine phantasielose Nüchternheit und eine oft pedantische Weit- 
schweifigkeit des Ausdruckes gemahnen eher an entsprechende 
Eigentümlichkeiten der confucianischen Schule. Auch erscheint 
bei ihm die Lehre des Lao-tsz6 vielfach verflacht und gewisser- 
mafsen ins Triviale herabgezogen. Gleichwie die Mimose bei der 
leisesten Berührung ihre Blättchen schliefst und sie welk und 
schlaff herabhängen lälst, so vermochte auch ein Gedankengebilde, 
das aus so feinen Fäden gesponnen ist, die Berührung mit der 
rauhen Wirklichkeit nicht zu ertragen. Ohne Lao-tsz6s Lehre 
Gewalt anzutun, vermochte H a n F e i sie nicht auf das praktische 
Leben anzuwenden. Charakteristisch ist in dieser Beziehung, 
wie er im Kapitel über das Tao des Fürsten die Theorie vom 
Nichttun auf das politische Gebiet zu übertragen versucht: 

»Das Prinzip (tao) des erleuchteten Fürsten beruht darin, 

11* 



— 164 — 

dais er die Klugen ihre Pläne ausführen lälst und daraufhin 
seine Entschlüsse trifft: auf diese Weise fehlt es ihm nie an 
Klugheit Die Tüchtigen tun, was in ihren Kräften steht, und 
der Fürst verwendet sie demgemäfs im Amte: auf diese Weise 
fehlt es dem Fürsten nie an Können. Ist das Resultat günstig, 
so wird es der Weisheit des Fürsten zugeschrieben; schlägt es 
fehl, so trägt der Beamte die Schuld: auf diese Weise fehlt es 
dem Fürsten nie an Ruhm. So ist er, auch wenn er selbst nicht 
tüchtig ist, doch das Oberhaupt der Tüchtigen und steht, auch 
wenn er selbst nicht klug ist, doch an der Spitze der Klugen« 
Die Beamten haben die Arbeit, der Fürst hat das Verdienst, 
Das neimt man die Richtschnur des weisen Fürsten.! 

>Der erleuchtete Fürst ist im Belohnen wie rechtzeitiger 
Regen, während dessen die Sonne durch die Wolken scheint, 
und das Volk macht sich seine Wohltaten zu nutze; im Strafen 
ist er furchtbar, wie der Donner und Blitz, und selbst ein Mann 
von göttlicher Weisheit vermöchte ihm nicht zu entweichen. 
Daher darf ein erleuchteter Fürst mit Belohnungen nicht geizen 
und bei Strafen keine Nachsicht üben. Geizt er mit Belohnungen, 
so werden verdiente Beamte ihre Pflicht vernachlässigen ; übt er 
bei Strafen Nachsicht, so werden sich die Verräter dem Unrecht 
zuwenden. Liegt daher in Wahrheit ein Verdienst vor, so soll 
er es belohnen, selbst wo es sich um Femstehende und Geringe 
handelt; und liegt in Wahrheit ein Vergehen vor, so soll er es 
ahnden, selbst wo es sich um Nahestehende und Günstlinge 
handelt. Dann werden die Fernstehenden und Geringen nicht 
nachlässig, die Nahestehenden und Günstlinge nicht übermütig 
werden, c 

Dasselbe Thema behandelt HanFei-tsz6 auch im sechsten 
Kapitel : 

»Ein erleuchteter Fürst braucht nur zwei Handhaben^ um 
seine Beamten zu leiten und zu regieren. Diese beiden Hand- 
haben sind: Strafen und Wohltaten. Fragt man, was unter 
Strafen und Wohltaten zu verstehen sei, so lautet die Antwort: 
Hinrichtungen nennt man Strafen, Belohnungen nennt man Wohl- 
taten. Die Beamten fürchten sich vor Strafen und halten Be- 
lohnungen für Vorteil. Wenn daher ein Fürst von Strafen und 
Belohnungen Gebrauch macht, werden die Beamten seine Autorität 
fürchten imd sich ihrem Vorteil zuwenden. Nun sind aber die 



— 165 — 

treulosen Beamten unserer Zeit nicht also: wenn sie jemand 
hassen, so wissen sie den Fürsten dahin zu bringen, dafs er ihn 
strafe, tmd wenn sie jemand begünstigen, so wissen sie den 
Fürsten dahin zu bringen, dals er ihn belohne. Wenn aber ein 
Fürst nicht zu bewirken weifs, dafs Strenge und Vorteil in Ge- 
stalt von Strafen und Belohnungen von ihm ausgehen, sondern 
bei Ausübung derselben auf die Eingebungen seiner Beamten 
hört, so wird das ganze Volk im Reiche die Beamten fürchten 
und den Fürsten gering achten, sich den Beamten zuwenden imd 
den Fürsten im Stiche lassen. Darin liegt der Übelstand, wenn 
der Fürst die Strafen und Belohnungen aufiser acht läfst Das, 
wodurch der Tiger im stände ist, den Hund zu überwältigen, 
sind seine Krallen und Zähne. Man braucht ihm seine Krallen 
und Zähne nur zu entfernen, um zu bewirken, dafs umgekehrt 
der Tiger dem Hunde unterliege. Strafen und Wohltaten sind 
es, wodurch ein Fürst seine Beamten regiert. Wenn nun der 
Fürst seine Strafen und Wohltaten preisgibt und ihre Anwendung 
seinen Beamten überläfst, so wird im Gegenteil er es sein, der 
von seinen Beamten regiert wird.c 

Auf einer vollends abschüssigen Bahn bewegt sich L i u N g a n , 
ein Philosoph, der im 2. Jahrhundert v. Chr. lebte und bei den 
Taoisten in hohem Ansehen steht. Liu Ngan war König des 
kleinen Staates Hoai-nan und ist daher besser unter dem 
Namen Hoai-nan-tsz6, >der Philosoph von Hoai-nanc, be- 
kannt. Nachdem der H an -Kaiser Wu-ti (140—87 v. Chr.) 
seinen ältesten Sohn durch den Tod verloren hatte, setzte er 
seinen jüngsten, erst siebenjährigen Sohn zum Thronerben 
ein. Diese Mafsregel stiefs jedoch auf Widerspruch von Seiten 
der Grofsen im Reiche. Liu Ngan, obwohl seinen Neigungen 
nach mehr Philosoph und Alchimist als Politiker, beteiligte sich 
an der allgemeinen Bewegung, indem er als Enkel des Kaisers 
Kao-ti, des Gründers der H an -Dynastie, seine Rechte auf den 
Thron geltend zu machen suchte. Das Unternehmen schlug 
jedoch fehl und endete damit, dafs Liu Ngan im Jahre 122 v. Chr. 
seinem Leben ein Ende machte. Die Schriften des Hoai- 
nan-tsz6 bieten zwar für die Kenntnis des Volksglaubens und 
der abergläubischen Anschauungen seiner Zeit ein unschätzbares 
Quellenmaterial, doch tritt in ihnen schon gleichzeitig jenes üppige 
Überwuchern einer schrankenlosen Phantasie zu Tage, das fortan 



— 166 — 

mit der taoistischen Spekulation unzertrennlich verbunden bleibt. 
Man vergleiche nur den wüsten Gallimathias über die welt- 
bildende Kraft und Tätigkeit des Tao mit der vorhin erwähnten 
gedankentiefen kosmogonischen Theorie des Lieh-tsz6. So 
hebt, um nur ein Beispiel zu geben, der Abschnitt über das 
»ursprüngliche Taoc mit folgenden Worten an: >Das Tao 
überwölbt den Himmel und umfafst die Erde. Es umspannt die 
vier Himmelsgegenden und berührt die acht Kardinalpunkte ^). 
Seine Höhe ist unermefslich, seine Tiefe unergründlich. Es umfafst 
Himmel und Erde und bringt das Formlose hervor. An seinem Ur- 
sprünge ergiefst sich der Quell ins Leere und füllt es allmählich; 
trübe und unrein, wird er allmählich klar. Aufgerichtet füllt das 
Tao den Raum zwischen Himmel und Erde, querüber erstreckt es 
sich bis an die vier Meere. Von unendlicher Ausdehnung, kenn\ es 
weder Morgen noch Abend. Aufgerollt, überdeckt es die sechs 
äufsersten Punkte'), während es zusammengeschrumpft nicht 
eine Handvoll ausmacht. Zusammengezogen, vermag es sich zu 
entfalten; dunkel, vermag es zu leuchten; schwach, vermag es 
stark zu werden; weich, vermag es sich zu erhärten. Es um- 
spannt die vier Weltgegenden und schliefst das Yin und Yang 
in sich. Es umspannt das Universum wie mit einem Netze und 
läfst die drei Himmelslichter ^) leuchten; es ist sehr flüssig und 
safthaltig, dabei äufserst fein und zart. Es ist das Tao, wodurch 
die Berge ihre Höhe, die Abgründe ihre Tiefe, die Vierfülsler 
ihr Gehvermögen, die Vögel ihre Flugkraft, Sonne und Mond 
ihr Licht erhalten, wodurch die Gestirne ihre Bahn beschreiben, 
das K'ilin einherwandelt xmd der Phönix^) dahinschwebt.c 

Es folgt nun eine Schilderung der paradiesischen Zeit des 
Urzustandes, der Zeit des Nichttuns und Nichtredens, da alle 
Dinge spontan gediehen und alle Wesen ohne jegliche Beein- 
trächtigung von aufsen her den normalen Lauf ihres Daseins 
vollendeten. Dann fährt Hoai-nan-tszg fort : > Vor alters fuhren 



^) Nämlich die vier Himmelsge£:enden samt den dazwischenliegen- 
den Punkten: NW, NO, SW und SO. 

«) Nord, Süd, Ost, West, Zenith und Nadir. 

•) Sonne, Mond und Sterne. 

*) Das K^ilin ist eine Art Einhorn. Das Auftreten dieser beiden 
Fabeltiere galt als ein Zeichen von günstiger Vorbedeutung. 



— 167 — 

Feng-i und T*ai-ping') auf ihrem Wolkengefährt über den 
Regenbogen und durch den feinen Nebel dahin. Dahingetragen, 
durchmafsen sie unsichtbar die Weiten und drangen bis zu den 
höchsten Höhen vor: Reif und Schnee überschreitend, hinter- 
lielsen sie keine Spuren ; vom Glanz der Sonne beschienen, warfen 
sie keinen Schatten. Vom Sturme bewegt und vom Wirbelwinde 
emporgehoben, schwangen sie sich über Berge und Ströme hin- 
weg zum Kunlun-Gebirge hinan und drangen, das Eingangs- 
tor sprengend, zur Himmelspforte ein. Wagenlenker sonder- 
gleichen, selbst wenn sie die leichtesten Gefährte, die besten Rosse, 
die stärksten Peitschen und die spitzesten Sporen hätten, ver- 
möchten nicht mit ihnen zu wetteifern. Daher sind die grolsen 
Männer still und ohne Gedanken, zufrieden und ohne Sorgen; 
mit dem Himmel als Baldachin und der Erde als Wagen, mit 
den vier Jahreszeiten als Rossen und Yin und Yang als 
Wagenlenkem steigen sie auf den Wolken zum Firmamente 
empor, allwo sie sich mit der schaffenden Kraft vereinen. Nach 
' Wunsch und Belieben fahren sie durch den Himmelsraum dahin, 
bald im Schritt, bald mit Windeseile. Sie heifsen den Regengott 
die Wege sprengen und den Windgott den Staub kehren; den 
Blitz haben sie als Peitsche und den Donner als Wagenräder. 
Droben lustwandeln sie in den Gefilden des Äthers, dort schreiten 
sie durch das Tor der Unendlichkeit. Sich umblickend, nehmen 
sie alles in sich auf, und heimkehrend bewahren sie ihre Ganz- 
heit. Nachdem sie die vier Weltgegenden durchmessen, kehren 
sie zu ihrem Ursprünge zurück.c 

Interessant sind diese Phantasmagorien durch die Verquicktmg 
einer philosophisch sein sollenden Spekulation mit mjrthologischen 
Gebilden, die dem herrschenden Volksglauben entlehnt sind. 
Freilich ist es schwer zu entscheiden, ob nicht die Götter des Regens, 
des Windes und der himmlischen Gestirne als blolse poetische 
Allegorien aufzufassen sind. Immerhin bleibt es charakteristisch, 
dals Hoai-nan-tsz6 dergleichen Zutaten nicht verschmäht. 
Ungleich nüchterner und verständiger ist wiederum die Schilde- 
rung, wie durch die Berührung mit der Aulsenwelt die in der 
menschlichen Natur schlummernden Triebe geweckt werden: 



') Feng-i ist der Geist des Windes, während T*ai-ping mit 
T*ai-poh, dem Geiste des Planeten Venus, identifiziert wird. 



— 168 — 

»Die Ruhe bei des Menschen Geburt ist seine himmlische Natur. 
Sobald er durch äulsere Reize bewegt wird, nimmt seine Natur 
Schaden. Die Gegenwirkung des Geistes auf die Berührung 
mit den Aulsendingen ist der Beginn der Erkenntnis. Sobald 
die Erkenntnis mit den Aufsendingen in Berührung kommt, ent- 
stehen Liebe und Hafs. Sobald Liebe und Hafs Gestalt ge- 
wonnen haben, wird die Erkenntnis von den Aufsendingen an- 
gezogen, so dafs sie nicht mehr zu sich selbst zurückkehren kann, 
und die hinmilische Vemunftordnung geht zu Grunde. Daher 
wird, wer in das Tao eingedrungen ist, den Himmel nicht für 
den Menschen dahingehen. Obwohl er sich nach aulsen hin den 
Dingen akkonmiodiert , gibt er doch seine innere Natur nicht 
preis. € Wenn auch die Aufsendinge an ihn herandringen, wird 
er sich doch durch sie nicht verwirren lassen, sondern sein 
eigenes Mafs zu behalten wissen. »Nimmt er die höchste Stelle 
ein, so wird das Volk es nicht schwer empfinden; steht er an 
der Spitze, so wird die Menge dadurch nicht geschädigt. Das 
Reich wird sich ihm zuwenden, und die Missetäter und Böse- 
wichte werden ihn fürchten. Weil er keinen Streit mit der Welt 
hat, wird auch niemand mit ihm zu streiten wagen.c 

Der philosophische Taoismus hat seinen Stifter nur um 
wenige Jahrhunderte überlebt. Die ganze Weltanschauung des 
Lao-tsz6 mit ihrem abstrakten Mystizismus war viel zu sehr 
dem praktischen Leben und seinen Bedürfnissen abgewandt, mit 
einem Worte viel zu unchinesisch, um im Volke Wurzel fassen 
und sich ausbreiten zu können. Es konnte daher dem Con- 
fucianismus nicht schwer fallen, dieser weltfremden, nur einer 
Minderzahl auserwählter Geister zugänglichen Lehre gegenüber 
das Feld zu behaupten. Wollte der Taoismus, wenigstens dem 
Namen nach, seine Existenz sichern, so konnte er nicht umhin, 
dem Empfinden imd Denken der grofsen Menge gewisse Zu- 
* geständnisse zu machen. Er tat das, indem er in seiner weiteren 
Entwicklung zwei neue Richtungen einschlug, die sich, je 
länger je mehr, von der uiisprünglich philosophisch-spekulativen 
Tendenz entfernten: eine vorwiegend alchimistische und eine 
vorwiegend religiöse Richtung, die sich wohl auch als esoterischer 
und ei;ioterischer oder Vulgärtaoismus unterscheiden lassen. Man 
kann sagen, dafs HoaT-nan-tszö an der Wegscheide steht, von 
der aus diese neue Entwicklungsphase ihren Anfang nimmt. 



— 169 — 

Das Ziel des esetorischen oder alchimistischen Taoismus 
lälst sich kurz als ein doppeltes bezeichnen : erstens Verlängerung 
der Lebensdauer und zweitens Herstellung von Gold auf künst- 
lichem Wege. 

Schon im 4. Jahrhundert v. Chr. beginnt sich die Kunde 
von fabelhaften Inseln zu verbreiten, die sich irgendwo im 
Meere P'o-hai, das dem Golfe von Peh-chih-li entspricht, 
befinden und von imsterblichen Genien bewohnt sein sollten« 
In den historischen Denkwürdigkeiten des Sz6-ma Ts'ien 
finden wir bereits folgende Beschreibung jener Inseln: >Obwohl 
sie nicht weit von den Menschen entfernt sind, werden die Schiffe 
leider, sobald sie in ihre Nähe gelangen, von widrigen Winden 
fortgetrieben; doch sind in früheren Zeiten Menschen dorthin 
gelangt. Es gibt dort Unsterbliche sowie auch ein Heilmittel, 
das den Tod verhindert. Alle lebenden Wesen, Vögel sowohl wie 
Vierfülsler, die auf jenen Inseln leben, sind weils; die Paläste und 
Tore sind eitel Gold und Silber. Wenn man, sich ihnen nähernd, 
sie aus der Feme erblickt, gleichen sie Wolken, aber sobald 
das Schiff sie erreicht, versinken sie ins Wasser. Kommt man in 
ihre Nähe, so wird das Schiff von Winden wieder fortgetrieben, 
so dafs niemand sie erreichen kann.€ Unter jenem Heilmittel, 
das den Tod verhindert, ist offenbar das ling-chi-ts^ao ge- 
meint, eine Pilzart, durch deren Genuls die Unsterblichkeit er- 
langt wird. Der Glaube an die Existenz und Wunderkraft dieses 
Gewächses ist noch heute in China sehr verbreitet. Seit dem 
4. Jahrhundert v. Chr. sind zu wiederholten Malen Versuche 
gemacht worden, jene Inseln der Glückseligen aufzusuchen und 
das auf ihnen wachsende Wunderkraut zu finden. Einen be- 
sonders hohen Grad erreichte aber dieser Aberglaube in den 
letzten Jahrzehnten des 3. Jahrhunderts v. Chr. Gerade der 
Kaiser Shi-hoang-ti, jener Realpolitiker gröfsten Stiles, 
zeichnete sich durch einen wahrhaft kindischen Wunderglauben 
aus, und es ist ein merkwürdiger Anblick, wie dieser Mann, der 
mit den realen Mächten so wohl zu rechnen verstand, dem Banne 
jener Mächte der Einbildungskraft völlig wehrlos zum Opfer 
fiel. Mit jedem Jahre geriet er mehr unter den Einfluls der 
sogenannten Fang-shi — ein Wort, das sich am besten durch 
»Zauberer« oder »Magier« übersetzen lälst — , bis er schlielslich 
eine Expedition ausrüstete, die, aus einer Schar von Knaben- und 



— 170 -~ 

Mädchen bestehend, unter der Leitung eines Magien^ die fabel- 
haften Inseln aufsuchen sollte. Die Ausgesandten kehrten nach 
einiger Zeit unverrichteter Dinge heim und gaben vor, die Inseln 
zwar aus der Feme gesehen zu haben , doch sei das Schiff, als 
es sich ihnen zu nähern versuchte, von einem heftigen Gegen- 
winde wieder fortgetrieben worden. 

Der Stein der Weisen, der den doppelten Vorzug besitzt, 
sowohl in Gold umgewandelt werden als auch Unsterblichkeit 
verleihen zu können, wird zuerst unter deqj Kaiser Wu-ti 
(140—87 V. Chr.) erwähnt, unter dessen Regierung der al- 
chimistische Taoismus seine üppigsten Blüten trieb. Ein Magier ' 
namens Li Shao-kiün gab ihm den Rat, dem alchimistischen 
Herde ein Opfer darzubringen, wodurch es ihm gelingen werde,' 
übernatürliche Wesen herbeizurufen und Zinnober in Gold um-"" 
zuwandeln. Wenn er dann aus dem so gewonnenen Golde Efs- 
und Trinkgeschirr anfertige, könne er dadurch seine Lebensdauer 
verlängern und die unsterblichen Genien auf der Insel P'eng- 
lai von Angesicht sehen. Hier finden wir zum ersten Male das 
Zinnober erwähnt, das seitdem bis auf den heutigen Tag in der 
taoistischen Alchimie eine sehr wichtige Rolle spielt. Es wird 
daraus sowohl eine lebenverlängemde Pille, Kin-tan, d. h. 
»Goldzinnober c, genannt, als auch ein Elixier der Unsterblichkeit 
bereitet. Der Kaiser Hüan-tsung der T^ang-Dynastie 
(713^754) genols jenes Elixier in solchem Übermafse, dafs er 
an den Folgen desselben das Zeitliche segnete, — eine Ironie 
des Schicksals, durch die indessen der felsenfeste Glaube an die 
Wunderkraft nur vorübergehend erschüttert werden konnte. Die 
Zubereitung jener wunderwirkenden Droge war natürlich nur 
wenigen Auserwählten bekannt und überdies mit grofsen 
Schwierigkeiten verbunden, da sie eine Zeit von neun Monaten 
erforderte, während deren neun Umwandlungen stattfanden, — 
ein Prozels, der offenbar in einem mystischen Analogiezusammen- 
hange mit der Entwicklung des Fötus im Mutterleibe stand. 
Ich bin auf den ganzen Hokuspokus dieser okkulten Wissenschaft 
nur aus dem Grunde des näheren eingegangen, weil er einer-' 
seits die Tendenzen des späteren Taoismus veranschaulicht, ander-; 
seits aber eine auffallende Ähnlichkeit mit unserer mittelalter^ 
liehen Alchimie erkennen läfst. 

Meist sind es Einsiedler, die sich in strenger Weltabgeschieden- 



— 171 — 

heil der »schwarzen Kunst« widmen, und diejenigen unter ihnen, 
denen es gelang, das Zaubennittel herzustellen und dadurch die 
Unsterblichkeit zu erlangen, werden als Sien oder Genien be- 
zeichnet. Das Schriftzeichen, das diesen Begriff ausdrückt, be- 
steht aus einer Kombination der Zeichen für »Mensch« undf- 
»Bergc und bedeutet somit seiner Zusammensetzung nach einem 
Menschen, der in der Bergeinsamkeit lebt, einen Einsiedler. Den 
Sien wird die Fähigkeit zugeschrieben, ihre Seele vom Körper 
loszutrennen, von der körperlichen Hülle befreit gen Himmel zu 
steigen und jederzeit wieder körperliche Gestalt anzunehmen, — 
eine Vorstellung, die durchaus an die bekannten Materialisationen 
unseres modernen Spiritismus erinnert. Die Litteratur, die sich 
mit dem weitverzweigten Gebiete des taoistischen Okkultismus 
befalst, füllt zahllose Bände, kann jedoch füglich mit Stillschweigen 
übergangen werden. 

So sind denn die beiden Ziele, auf die das Streben des eso- 
terischen Taoismus gerichtet ist, Verlängerung der Lebensdauer 
und Herstellung von Gold, zwei sehr materielle Güter, während 
doch Lao-tsz6 die Güter und Schätze dieser Welt gering ge- 
achtet imd im Gegensatz zu ihnen die Erlangung desTao, das 
Aufgehen im ewigen Tao als einziges erstrebenswertes Ziel hin- 
gestellt hatte. Ein schrofferer Gegensatz, sollte man meinen, als 
zwischen diesen beiden Richtungen lielse sich kaum denken. Und 
dennoch verehren die Vertreter der Alchimie imd Magie in Lao- 
tsz6 den Stifter und Schutzpatron ihrer Lehre. In der Tat lälst 
sich auch das Bindeglied zwischen den beiden entgegengesetzten 
Polen unschwer aufdecken. Wie wir gesehen haben, ist 
das Tao nach Lao-tszö der Urquell und Endzweck alles Seins: 
Alles, was ist, ist aus dem Schofse des Tao hervorgegangen, 
um schlielslich wieder dorthin zurückzukehren ; das T a o ist ewig, 
es ist das einzige Bleibende in der Erscheinungen Flucht. Wenn j 
es nun das Ziel des heiligen Menschen ist, das Tao in sich zu . 
verkörpern, so lag der Schluls nahe, dals alsdann auch ihm selbst 
ewige Dauer zu teil werden müsse. So mag die Idee von der 
Erlangbarkeit der Unsterblichkeit entstanden sein. Das Tao ist 
die schöpferische und erhaltende Kraft: es bedurfte nur eines 
Schrittes, um von der Idee der Erlangung des Tao im meta- 
ph]rsischen Sinne zur Idee seiner Dienstbarmachung zu gelangen.. 
Ist dieser Schritt aber getan, so hat sich das Tao aus der 



— 172 — 

unsichtbar wirkenden Kraft des Kosmos, als welche es ursprüng- 
lich gedacht war, in eine geheimnisvolle Wwiderkraft verwandelt, 
deren sich der Mensch, sobald er sie erlangt hat, zur Erreichimg 
seiner Zwecke bedienen kann. Aus dem metaphysischen Prinzip 
ist ein Zaubermittel geworden. 

Der Vulgärtaoismus scheint sich, soweit sein religiöser. 
Glaubensgehalt in Betracht kommt, im wesentlichen darauf be- 
schränkt zu haben, die disjecta tnembra der alten Volksreligion 
in sich aufzunehmen, die bis dahin neben dem öffentlichen Kultus 
der Staatsreligion ein nahezu verborgenes Dasein geführt hatte. 
Das spezifisch taoistische Element tritt im Exorzismus hervor, der 
die eigentliche Wirkungssphäre des religiösen Taoismus ausmacht 

So sehen wir, wie die tiefsinnige Lehre des Lao-tsz6 im 
Laufe weniger Jahrhunderte in einen abstrusen Okkultismus aus- 
artet, während die von Confucius ausgehende Richtung all- 
mählich zu einem verknöcherten Dogmatismus erstarrt. Auf der 
einen Seite ein wüster Aberglaube, der in der unumschränkten 
Herrschaft einer geist- und sinnlosen geomantischen Doktrin, dem 
sogenannten Feng-shui, den Unsinn zum System erhoben 
hat, auf der anderen Seite ein leblos-starrer Ritualismus, — das 
sind die beiden Kemübel, welche seither die von Haus aus 
fruchtbaren Kulturkeime in ihrem Wachstum gehemmt und nahezu 
erstickt haben. Nie wieder hat das Geistesleben Chinas eine so 
grolse Regsamkeit und produktive Kraft an den Tag gelegt 
wie während der letzten fünf Jahrhunderte, die dem Beginn 
unserer Zeitrechnung vorangingen. 



FÜNFTES KAPITEL. 

Die Wiederbelebung der Dichtkunst: K1uh 

und die Elegien von Ch'u. 



Dem 7. Jahrhundert v. Chr. gehören die jüngsten Lieder 
des Shi-king an. Sei es, dais vor dem Schwertgeklirr 
der miaufhörlichen Kämpfe die Klänge der Leier verstummen 
mulsten, sei es, dals brennende Tagesfragen und intellektuelle 
Interessen die Gemüter derart erfüllten, dals es an Zeit und 
Stimmung fehlte, um dichterischem Schaffen Beachtung zu 
schenken, — genug, vier Jahrhunderte lang scheint des Sängers 
Mund zu schweigen, und wir erfahren schlechterdings nichts, 
was während jener langen Zeit auf das Vorhandensein einer 
nationalen Dichtung schlielsen Heise. Erst um den Beginn des 
3. Jahrhunderts v. Chr. tritt die Poesie wieder in ihre Rechte^ 
und es ist dabei bezeichnend, dafs es wiederum die politischen 
Zeitläufte mit ihren beklagenswerten Begleiterscheinungen sind, 
die, wie auf das Denken, so auch nicht minder auf das Dichten 
befruchtend wirken. Als Staatsmann und als Dichter gleich 
hoch gefeiert, lebt K'iüh Yüan durch die tiefe Tragik seines 
Schicksals noch heute als nationaler Heros im dankbaren Ge- 
dächtnisse seines Volkes. Er ist es, dem die so lange vemach-' 
lässigte Dichtkunst ihre Wiederbelebung, die Kunstdichtung ihr 
Dasein verdankt. 

KMüh Yüan, geboren im Jahre 332 v. Chr., war ein Ver- 
wandter des regierenden Hauses von Ch^u*) und Ratgeber des 



*) Der Teilstaat Ch*u erstreckte sich über die heutige Provinz 
Hu-kuang und einen Teil der Provinzen Ho-nan undNgan-hoei» 



— 174 — 

Königs Hoai-wang (328—299). Er war kenntnisreich und 
willensstark, er verstand sich auf die Kunst des Regierens in 
guten und bösen Zeiten und war zugleich ein Meister des Wortes. 
Durch die Gunst und das Vertrauen des Königs ausgezeichnet, 
erregte er jedoch durch die Macht seines Einflusses den Neid 
und die Eifersucht der übrigen Grofsen. Einst, da ihn der König 

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mit der Ausarbeitung eines Dekretes^beauftragt hatte, versuchten 
die Grofswlirdenträger, ihm die Arbeit zu entreifsen, bevor er 
sie vollendet hatte, und als KMüh Yüan sich gegen den Ein- 
griff wehrte, beschuldigten sie ihn beim Könige, dals er, so oft 
er von diesem einen Auftrag erhielte, sich damit brüstete, dafs 
es aufser ihm niemand gebe, der Ähnliches leisten könnte. Der 
König schenkte den böswilligen Einflüsterungen Gehör und ent- 
fernte den K*iüh Yüan. Dieser aber gab seinem Kummer in 
der berühmten Elegie Li-sao, d. h. >df>f]ri TTpypi^^^ Y?lifftU?"^i 
ergreifenden Ausdruck. 

Kaum aber war K'iüh Yüan in Ungnade gefallen, als es 
zu Feindseligkeiten zwischen den Staaten TsM und Ts4n kam. 
Die Könige von Ts^i und Ch^u standen damals gerade im Be- 
griffe, das Bündnis zwischen ihren Staaten durch Verschwägerung 
ihrer Häuser zu kräftigen. Da sandte der König von Ts*in 
seinen in allen Künsten der Intrige wohlerfahrenen Minister 
Chang I zum Könige von Ch^u, um ihn unter Zusicherung 
der sechshundert Li umfassenden Gebiete von Shang und Yü 
zum Verzichte auf das geplante Ehebündnis zu bewegen. Hoai- 
wang war, ungeachtet der Warnungen eines seiner Ratgeber, 
unvorsichtig genug, in die Falle zu gehen; als er sich aber 
anschickte, die versprochenen Gebiete in Besitz zu nehmen, 
gab Chang I mit der gröfsten Unverfrorenheit vor, ihm nicht 
sechshundert, sondern nur sechs L i in Aussicht gestellt zu haben. 
Wütend über den frechen Betrug, dem er zum Opfer gefallen 
'war, zog Hoai-wang nun mit seiner ganzen Heeresmacht gegen 
Ts*in zu Felde, wurde jedoch aufs Haupt geschlagen und hülste 
bei dieser Gelegenheit einen grolsen Teil seines Landes ein. 
Gleichzeitig wurde Ch*u von Wei angegriffen, während der 
Staat Ts*i, gekränkt durch die Wortbrüchigkeit seines ehe- 
maligen Bundesgenossen, sich gänzlich passiv verhielt. Von allen 
Seiten bedrängt, erbot Hoai-wang sich schliefslich, die Provinz 
Han-chung abtreten zu wollen, falls ihm dafür Chang I aus- 



— 175 — 

geliefert würde. Dieser erklärte sich verdächtigerweise sofort 
bereit, seine Person zum Opfer zu bringen, und erschien auch 
tatsächlich in Ch^u. Hier gelang es ihm mit Leichtigkeit, einer- 
seits den ersten Minister zu bestechen, anderseits die Geliebte 
des Königs für sich zu gewinnen und dann durch deren Für- 
sprache bei dem charakterlosen Fürsten Begnadigung und freie 
Rückkehr in die Heimat für sich zu erwirken. Um diese Zeit 
kehrte K^iüh Yüan, der keine amtliche Stellimg mehr be- 
kleidete, ausTs*i, wohin er geschickt worden war, zurück und 
machte dem Könige Vorwürfe, dals er den C hang I nicht hatte 
töten lassen. Da bereute der König die begangene Torheit und 
liefs den C hang I verfolgen, doch gelang es nicht mehr, seiner 
habhaft zu werden. 

Das war im Jahre 311. Die Feindseligkeiten wurden aufs neue 
aufgenommen und dauerten mit kurzen Unterbrechungen fort, 
bis endlich im Jahre 299 der König Chao-wang von Ts*in 
die Absicht kundgab, sich durch ein Ehebündnis mit dem regie- 
renden Ha'use von Ch'u zu verschwägern und dem Könige zu 
diesem Zwecke eine Zusammenkunft in Ts'in vorschlug. KMüh 
Yüan beschwor den König, nicht abermals in die Falle zu gehen; 
>Ts*in€, sagte er, »ist ein Land von Tigern und Wölfen, dem 
nicht zu trauen ist; lieber solltest du nicht hingehen.« *) Hoai- 
wang aber liels die Warnung seines treuen Ratgebers un- 
beachtet und nahm auf Zureden seines jüngeren Sohnes Tszg- 
nan die Einladung an. Die Folge solchen Leichtsinnes war, 
dals er unterwegs in einen Hinterhalt gelockt und überfallen 
wurde. Sein ganzes Gefolge wurde niedergemacht, er allein 
entkam mit knapper Not und suchte Zuflucht beim Könige von 
Chao. Dieser aber lieferte ihn anTs'in aus, wo er bald darauf 
starb. K^iüh Yüan suchte nun im Interesse des Landes auf 
den neuen König K^ing-siang-wang einen heilsamen Einflufs 
auszuüben, allein, seine Bemühungen blieben erfolglos. Der 
jüngere Bruder des Königs — derselbe, auf dessen Zureden H o a i - 
wang jene verhängnisvolle Einladung des Königs von Ts*in 



^) So in der Lebensbeschreibung KMüh Yüans in SzÖ-ma 
T s ' i e n s Geschichtlichen Denkwürdigkeiten, Kap. 84. Im 40. Kap. des- 
I selben Werkes werden hingegen diese Worte dem Chao Ts*iü, einem 

I anderen Grofswürdenträger von Ch<u, in den Mund gelegt. 



— 176 — 

angenommen hatte — wälzte nun die Schuld an dem ganzen Un- 
glück auf KMüh Yüan^ suchte ihn überhaupt auf jegliche 
Weise zu verleumden und setzte es schliefslich durch, dafs er in 
die Verbannung geschickt wurde. 

Auf seiner Wanderung gelangte K' i ü h Y ü a n an den Fluls '). 
>Mit aufgelöstem EUiar^c so lesen wir in Szfi^ina TsHens 
Geschichtlichen Denkwürdigkeiten, »irrte er am morastigen Ufer 
umher. Sein Aussehen war vergrämt, sein Leib abgehärmt. So 
erblickte ihn ein Fischer und fragte ihn : ,Herr, bist du nicht ein 
Grofswürdenträger, der einem der drei königlichen Geschlechter 
angehört? Wie konmist du hierher?' — K'iühYüan sprach: 
,Die Welt ist in Schmutz versunken, und ich allein bin rein ; die 
Menschen sind alle trunken, und ich allein bin nüchternen Sinnes. 
Daher sehe ich mich verbannt.' Da sagte der Fischer: ,Der 
Weise lälst sich nicht von den Aufsendingen den Weg versperren, 
sondern weifs sich der Welt anzupassen. Ist die ganze Welt in 
Schmutz versunken , — warum folgst du nicht ihrem Laufe, statt 
gegen den Strom zu schwimmen? Wenn alle trunken sind, — 
warum begehrst du leichteren Wein, statt dich mit ihnen von 
der Hefe zu nähren? Warum hast du deinen Sinn auf kostbare 
Kleinodien*) gerichtet und dir dadurch die Verbannung zuge- 
zogen?' — K*iüh Yüan erwiderte: ,Ich habe gehört: wer sich 
eben gereinigt, wird sicherlich auch seine Mütze abstäuben, und 
wer eben ein Bad genommen, wird sicherlich auch seine Ge- 
wänder putzen. Wer wäre zudem im stände, sich seine innere 
Lauterkeit durch den Unrat der Aufsenwelt besudeln zu lassen? 
Lieber will ich mich in die ewigen Fluten stürzen, um in dem 
Bauche eines Fisches mein Grab zu finden. Wie könnte ich das 
blendende Weifs (meiner Gesinmmg) den Wirmissen der Welt 
aussetzen?' Darauf verfafste er ein Gedicht, in dem er seiner 
Liebe zur Heimat Ausdinick gab, nahm einen Stein in die Arme 
und stürzte sich in die Fluten des Mih-lo, in denen er seinen 
Tod fand.c 

Zum Andenken an seinen Tod wird alljährlich am fünften 
Tage des fünften Monats das sogenannte Drachenbootfest gefeiert. 



*) Gemeint ist der S i a n g - Flui s in der heutigen Prov. H u - k u a n g. 
*) Unter den kostbaren Kleinodien ist die innere Lauterkeit und 
unbestechliche Gesinnung gemeint. 



— 177 — 

Auf festlich geschmückten und phantastisch aufgeputzten Booten 
findet ein Wettrudem statt, wobei kleine, konisch geformte Reis- 
kuchen in die Fluten geworfen werden. Sie gelten als ein Opfer, 
das den Manen des KMüh Yüan dargebracht wird. 

Die Dichtung nun, durch welche KMüh Yüan eine neue 
Gattung geschaffen und seinen Dichterruhm begründet hat, ist 
dasLi-sao*), »dem Ungemach verfallene, jene Elegie, in der er, 
vom Konige verstolsen, dem Kummer xmd Groll, der sein Herz 
erfüllte, Luft gemacht hat. Zunächst ein Wort über die äufsere 
Form des Gedichtes, da diese für die ganze Gattung, der es zum 
Vorbilde gedient hat, typisch geworden ist. Es besteht aus vier- 
zeiligen Strophen, deren das Li-sao die stattliche Zahl von 
vierundneunzig aufweist. Die Verse sind von unregelmälsiger 
Silbenzahl und mit alternierenden Reimen versehen. Die Eigen- 
tümlichkeit, dals der erste und dritte Vers jeder Strophe mit der 
Interjektion hi schliefst, die etwa unserem »achc oder >o« ent- 
spricht, hat für unser Empfinden eine gewisse Monotonie zur 
Folge, die indessen einigermalsen durch den Umstand gemildert 
wird, dafs das Gedicht zunächst für den Gesang bestimmt ist, 
wie denn ja der Chinese überhaupt, wenn er ein Gedicht rezitiert, 
es nicht nach unserer Weise zu deklamieren, sondern balfe. 
singend, in einer Art von Rezitativ vorzutragen pflegt. 

Was nun 4pn Inhalt und Gedankengang des Gedichtes an- 
langt, so hebt es damit an, dafs sich der Verfasser durch Nennung 
von Herkunft und Namen einführt. Schon die ihm vom Vater 
verliehenen Namen lassen die Vorzüge seines Charakters er- 
kennen, die er denn auch gebührend hervorhebt: 

Obwohl so reich an edler Eigenschaften Zier, 
Vermehrt' ich sie durch meines Könnens stete Pflege. 
Die Blüten der Angelica, an Ufern und im Talgrund, 
Las ich und wob aus Herbstes Orchideen mir den Gürtel. 

Rastlos, dem Strome gleich, als könnf das Ziel ich nicht erreichen. 
Aus Furcht, dafs meiner Jahre Zahl zu knapp bemessen. 
Pflückt' ich Magnolien am Berge Pih des Morgens 
Und Abends spät der Inseln immergrünes Kraut. 



Le Li-sao, Po^me du III« si^cle avant notre 6re, traduit du 
chinois, accompagn^ d'un commentaire perp^tuel et publik avec le texte 
chinois par le Marquis d'Hervey de Saint- Den ys. Paris 1870. 

Grube, Geschichte der chinetischen Litteratur. 12 



— 178 — 

Die Tage und die Monde, sie vergehn in kurzer Dauer, 
Und in beständigem Wechsel folgt dem Lenz der Herbst. 
Das Gras verdorrt, der Bäume Blätter fallen, — 
Ach, es wird Abend schier, eh' die Geliebte kommt! 

Warum, solang noch Zeit, entsagst du nicht dem Bösen? 
O liefsest du doch ab von der gewohnten Regel! 
O eiltest du zu mir auf feurig flinkem Rosse, 
Dafs auf der Alten Pfad ich wieder dich geleite! 

Ich habe mich bei der Übersetzung der Strophen, deren 
formelle Mängel ich mit Nachsicht zu beurteilen bitte, möglichst 
treu an den Wortlaut des Originals gehalten, um dem Leser ein 
annähernd deutliches Bild von der Diktion des Dichters zu geben. 
Was hier zuerst in die Augen springt, ist das Streben nach 
einem eigentümlich gekünstelten Schmy <;fc ^er l?^e^ verbunden 
mit einem gewissen Mangel an plastischer Gestaltungskraft. 
Statt der unmittelbaren. Anschaulichkeit poetischer Bilder ver- 
wendet der Dichter mit Vorliebe symbolische For men, unter dere n 
fremdart iger ttülle er seine Cje Hank'eiTjy^erbi.rgt. Im Gegensatze 
zu der natürlichen, ungesuchten Einfachheit der Lieder des Shi- 
kTn^ bedarf daher hier fast jede Strophe eines erläuternden 
Konimentä'res. Mit den Blumen z. B., von denen m den obigen 
Versen die Rede ist, und die im Gedichte beständig wiederkehren, 
symbolisiert der Dichter die Lauterkeit seines Charakters und 
Strebens. Er schmückt mit ihnen seinen Gürtel ,• d. h. er widmet 
sic6"'der Pflege seiner trefflichen Eigenschaften; er pflückt sie 
morgens früh und abends spät : damit will er sagen, dafs er ohne 
Unterlals beflissen ist, sein ganzes Wollen und Können in den 
Dienst seines Fürsten zu stellen. Das Immergrün der Insel- 
kräuter symbolisiert die Beständigkeit seiner Gesinnimg, die der 
Zeiten Wechsel nicht unterworfen ist, wie ja auch die immer- 
grüne Fichte in der chinesischen Kunst und Kunstindustrie als 
beliebtes Symbol eines langen und glücklichen Lebens häufige 
Verwendung findet. Unter der Geliebten endlich, auf die der 
Dichter vergeblich wartet, ist der König gemeint, der seinen 
wohlgemeinten Ratschlägen gegenüber eine ablehnende Haltung 
bewahrt. Charakteristisch ist jedoch die Naivitä t des Dichte rs, 
die den König bald als solchen, bald als die von ihm umworbene 
Geliebte erscheinen «•^Jlst. Während aber eine solche Willkür 
unser Formgefühl verletzt, scheint der Chinese gegen poetische 
Freiheiten dieser Art völlig unempfindlich zu sein. 



— 179 — 

Um nun nach dieser Abschweifung wieder auf den Inhalt 
des Gedichtes zurückzukommen, so klagt K^iühYüan im An- 
schlufs an die oben mitgeteilten Strophen , dals er, obwohl alle- 
zeit dem Könige zur Seite und bestrebt, ihn durch guten Rat 
auf den rechten Weg zu leiten, unbeachtet bleibe, während die 
Verleumdungen der Günstlinge und Hofschranzen stets ein ge- 
neigt^ Ohr fänden. Unterdessen naht das Alter , und mit ihm 
Schleicht sic h die Befürchtung in sein Herz, dals sein guter Name 
bei der Nachwelt in Vergessenheit geraten möchte. Das Be- 
WTifctsein, seiner Pflicht genügt zu haben, ist sein einziger Trost: 

Am Morgen trink' den Tau ich, der an Orchideen perlt. 
Nähr' mich am Abend von der Chrysanthemen Blättern: 
Dem Edlen trauend und bedacht auf das, was nottut, — 
Was kümmert mich mein abgehärmtes Antlitz? 

Bald aber verfällt er aufs neue in die alten Klagen und 
spricht nun den schon vorher einmal flüchtig angedeuteten Ent- 
schlufs aus, seinem Leben lieber ein Ende zu machen: 

Von Kummer und von Gram verzehrt, bin ich entmutigt. 
Steh' einsam da, erschöpft von dieser Zeit Bedrängnis. 
Will lieber eines schnellen Tods in der Verbannung sterben. 
Denn nicht vermag ich, solchem Wandel mich zu fügen. 

Noch einmal geht er mit sich zu Rate, noch einmal läfst er 
sein ganzes Leben an sich vorüberziehen und legt sich die Frage 
vor, ob er nicht sein Heil im Dienste eines anderen Fürsten ver- 
suchen soll . Da kommen ihm die Worte seiner S chweste r Niü^- 
jjü in den Sinn, wie sie ihn durch sanftes Zureden ermahnte, 
doch von seinen stolzen Plänen abzulassen und nicht durch über- 
grofse Offenheit hervorzutreten, da doch seine Feinde wie Un- 
kraut den Hof füllten. Nun begibt sich der Dichter zum Grabe 
Shuns . in der Hoffnung, hier Erleuchtimg zu finden. Den 
Manen dieses grofsen Kaisers trägt er seine Klagen vor und 
beruft sich dabei auf Beispiele aus der Geschichte, die den Be- 
weis liefern, dals tyrannische und pflichtvergessene Fürsten nie 
der wohlverdienten Strafe entgingen, denn > der erh abene Himmel 
kennt keine Parteilichkeit: je nach der Menschen Tugend ge- 
währt oder versagt er seine Hilfec. Während er so, .in Gedanken 
versunken, am Grabe kniet und Tränen den Busen seines Ge- 
wandes netzen, wird ihm klar, dals er recht gehandelt hat, und 

12* 



— 180 — 

in einer Art Ekstase sieht er sich plötzlich von einem Drachen- 
gespann in die Lüfte emporgehoben. An den Wohnungen der 
Unsterblichen vorbei geht die Fahrt, miaufhaltsam^ durch un- 
gemessene Weiten. " W^an^-shu, der Wagenlenker des Mondes^ 
ist sein Vorreiter, und FeMien, der Gott der Winde, folgt 
ihm als Trabant« So gelangt er ans Himmelstor, aber der 
Pförtner verwehrt ihm den Einlafs. Es beginnt zu dunkeln, und 
er muis die Nacht draulsen verbringen, denn selbst im Hiinißels- 
palaste. .tXiä&il^Neid und . M i fsgnnst den S i eg flh( a:, <k s,,,S3^ ^' 
von. Am nächsten Morgen erklimmt er de n Lang- feng^ 
einen Gipfel des Kunlun-Gebirges, auf dem sich die Woh- 
nungen der Unsterblichen befinden, aber auch hier findet er die 
Jungfrau nicht, die er zu freien begehrt. Endlich sendet er 
Feng-lung, den Gott des Donners, aus, dafs er die Prinzessi n 
Fuh p^ine Tochter des mythischen Kaisers Fuh-hi, aufsuche 
und sich für ihn um ihre Hand bewerbe. Allein, so schön sie 
ist, weifs doch auch sie die Gebote der Schicklichkeit nicht zu 
beobachten, und so mufs er auch von dieser Werbung A¥)stand 
nehmen. Unverrichteter Dinge steigt er aus den Himmelshöhen 
wieder auf die Erde herab. Weder im Hinmiel noch auf Erden 
vermag er sein Ziel zu erreichen und irrt ruhelos umher. In 
seiner Verzweiflung läfst er X in g Fen, einen Wahrsager der 
Vorzeit, das Los befragen, und dieser gibt ihm den Rat, er 
solle den M ut nicht sinken lassen, sondern seiner Heimat den 
Rücken kehren und anderswo sein Glück versuchen. Der Magier 
"Vyu Hien, ebenfalls dem grauen Altertum angehörend, erscheint 
ihm darauf, von einem Gefolge zahlloser Geister begleitet, und 
bestätigt ihm, dafs das Orakel des Ling Fen der Erfüllung 
seiner Wünsche günstig sei. So begibt er sich denn aufs neue 
auf die Wanderschaft. Abermals schwingt er sich mit seinem 
Drachengespann über das Kunlun- Gebirge hinweg zum Himmel 
empor. Aber von kurzer Dauer ist dieses Mal die Fahrt, denn 

Der Wagenlenker klagte: »Meine Rosse langen heimwärts!« 
Ermattet blickte ich zurück und hemmte meinen Lauf. 

Mit einem kurzen Epiloge schliefst nun das Gedicht: 

Ich sprach: »Es ist vorbei! 

Im Reich gibt's keine Männer, keinen, der mich kennt. 

Warum sollt* ich nach meiner Heimat mich noch sehnen? 

Da es doch keinen gibt, der wert wär\ ihm zu dienen, 

Will lieber dorthin ich mich wenden, wo P*eng Hien weilt.« 



— 181 — 

P^eng Hien, von dem hier die Rede ist, war ein sagen- 
hafter Staatsmann des Altertums, der aus Gram darüber, dals 
er bei seinem Fürsten kein Gehör fand, seinem Leben durch 
Ertränken ein Ende gemacht haben soll. Seinem Beispiel be- 
schlielst der Dichter zu folgen. 

Von den grötsten J ^,^Yfi)rpm f|f r T * " n g - PfirijT^"* abgesehen, 
vermag sich wohl kein Dichter Chinas an Volkstümlichkeit m it 
KMüh Yüan zu messen, und seit zwei Jahrtausenden wird sein 
Li-sao mit übers chwenjg^lichem Lobe gepriesen^ Um solche Be- 
geisterung zu verstehen, muls man eben in Betracht ziehen, dals 
der Chinese sich bei der Würdigung poetischer Erzeugnisse eined 
von dem unseren abweichenden Malsstabes bedient. Auch wir 
werden ja dem L i - s a o grofse dichterische Schönheiten im einzelnen 
nicht absprechen wollen: der tiefe sittliche Ernst und der hohe 
Schwung der Phantasie sind sicherlich Vorzüge, die wir gern 
anerkennen werden. Dabei darf nicht vergessen werden, dals 
selbst die beste Übersetzung inmier nur ein leidiger Notbehelf 
bleibt und auch die Verschiedenheit der Empfindungsweise hüben 
^ pd drübe n eipi vojl^^ Verständnis ausschliefst. Aber trotz alle- 
dem drängen sich uns die Formlosigkeit des Gedichtes, die un- 
beholfene Gliederung des Stoffes, die Geschraubtheit des Aus- 
druckes und der Vergleiche als störende Mängel auf, die den 
Genufs des Ganzen doch recht erheblich beeinträchtigen. Per Chi- 
nese urteilt an ders. Natürlicher Ausdruck der Stinmiung und un- 
mittelbareÄiiscHäulichkeit der Bilder erscheinen ihm leicht als seichte 
Trivialität. Das Wort, dafs die Sprache dem Menschen gegeben 
sei, um seine Geda nken zu verbergen, gilt ihm geradezu als 
ästhetisc he Fgr jerung. Je undurchdringlicher die Hülle, je ver- 
borgener und gesuchter die Andeutung, um so grölser der Kunst- 
genufs für den litterarischen Feinschmecker. Das L i - sao wimmelt 
förmlich von historischen Anspiel ungen, s ymbo lischen Vergleichen / 
und wei ^g gebräuch lichen Ausdrücken und Schriftzeichen , die J^ ^ 
die angewöhnliche Kunst und Gelehrsamkeit des Dichters in ihrem 
vollgB,„Glan;ze. erscheinen lassen: um so gröfser nun aber auch 
die Genugtuung des Lesers, wenn er Scharfsinn und Belesenheit 
genug besitzt, um die dargebotenen Rätsel zu lösen. Schon 
Sz6-ma Ts*ien spricht in den Ausdrücken höchster Bewunde- 
rung von KMüh Yüan und dem Li-sao. »Der Himmele, 
sagt er, »ist des Menschen Ursprung, Vater und Mutter bilden 



- 182 — 

seine Wurzel. Sind seine Kräfte erlahmt, so wendet er sich an 
seine Eltern; ist er von Mühsal und Beschwerden aufs äulserste 
erschöpft, so ruft er den Himmel an. K*iüh Yüan war un- 
beirrt den geraden Weg gewandelt und hatte im Dienste seines 
Fürsten seine Treue erschöpft und sein Wissen aufgeboten, Bis 
er durch die Ränke der Verleumder zum Äufseifsten gebracht 
ward. Seine Aufrichtigkeit stiefs auf Mifstrauen, seine Treue 
auf Verleumdung, — wie sollte er dabei keinen Groll empfinden? 
In den Liedern des Kuoh-feng erscheint c|ie Lieb e ohne 
Zügellosigkeit, in den Gesängen des Siao-ya*) finden wir Vor- 
würfe und Klagen frei von Unbotmäfsigkeit , und vom^jr^sao 
^äfst sich sagen, dals es darin mit ihnen übereinstimmt. Indem 
er (K^lüB Yüan) die Zustände seiner Zeit tadelt ^und die Er- 
habenheit von Pflicht und Tugend sowie die Grundsätze der 
Staatslenkung beleuchtet, bleibt nichts unklar. Bündig im Stil, 
fein im Ausdrucke, war er von lauteren Absichten und von un- 
bestechlichem Wandel. Von den nächsten Dingen ausgehend 
läist er einen femliegenden Sinn erkennen'). Weil seine Ab- 
sichten lauter waren, ist er edel in der Wahl seines Ausdruckes; 
weil er von imbestechlichem Wandel war, blieb er bis an sein 
Ende sich selber treu. Obwohl mitten in Schmutz und Unrat 
lebend, entzog er sich der Besudelung, einer Zikade gleich, die ihre 
Hülle abwirft, und wandelte aufserhalb des Staubes dieser Welt 
dabin, ohne sich von der Mitwelt besudeln zu lassen. Wenn man 
die fleckenlose Reinheit solcher Gesinnung betrachtet, so möchte 
sie an Glanz wohl mit Sonne und Mond wetteifern können.c — 
Und am Schlüsse seiner Lebensbeschreibung des K'iüh Yüan 
sagt Sz6-ma TsMen: »Als ich auf dem Wege nach Ch'ang- 
sha") an der Stelle vorbeikam, von wo K*iüh Yüan sich hinab- 
gestürzt hatte, vermochte ich mich der Tränen nicht zu erwehren 
tmd dachte daran, welch ein Mensch er gewesen. Als ich dann 
das Klagelied des Kiah I auf ihn las, verwunderte ich mich, 
dafs KMüh Yüan mit seinen Fähigkeiten nicht in dem Staate 



^) Kuoh-feng, »Landesübliches«, und Siao-ya, »kleine Fest- 
lieder«, sind die Bezeichnungen der beiden ersten Bücher des Shi-king. 

■) Mit diesen Worten meint SzS-ma Ts^ien die symbolische 
Ausdnicksweise des Dichters. 

*) In der heutigen Provinz Hu-nan. 



— 183 — 

eines anderen Fürsten Aufnahme fand und sich zum Äulsersten 
getrieben sah.c 

K'iüh Yüan hat aulser dem Li-sao noch neun Opfer- 
gesänge Göttern zu Ehren verfalst, die im Lande Ch^u eine 
besondere Verehrung genossen; doch sind diese Oden nahezu in 
Vergessenheit geraten, während er durch sein Li-sao gewisser- 
ma£sen Schule gemacht hat. Fünf Dichter werden angeführt, 
die das von ihm geschaffene Genre kultiviert haben: Sung Yüh, 
King Tsz*£, Kiahl, Chuang Ki und der bereits als Philo- 
soph erwähnte Hoai-nan-tszfi. Die von ihnen hinterlassenen 
Dichtungen werden unter dem Namen Ch'u-tsz*6, »die Elegien 
von Ch^Uf, zusammengefalst. Der bedeutendste unter ihnen ist 
wohl tmstreitig Sung Yüh, ein Neffe des K*iüh Yüan, der 
seinem Oheim ins Exil gefolgt war. Seine Elegie : »Der Wintere 
hat einen dem des Li-sao ähnlichen Inhalt. Unter dem Bilde 
des Winters schildert der Dichter den Zustand seines Vater- 
landes, das, gleich der ihres Schmuckes beraubten winterlichen 
Natur, den Anblick traurigster Öde darbietet. Schutzlos der 
Winterkälte preisgegeben, irrt der treue Minister als Verbannter 
in der Fremde umher und beklagt das harte Geschick, das ihm 
durch die Verblendung seines Fürsten beschieden. Im Gegensatz 
zu der dumpfen Resignation des KMüh Yüan schliefst jedoch 
Sung Yüh seine Elegie mit dem Entschlüsse, zu seinem Könige 
zurückzukehren und ihm aufs neue seine Kräfte zu weihen. — 
Kiah I ist der Verfasser eines Klageliedes auf K*iüh Yüan, 
dem Sz6-ma Ts*ien hohes Lob zollt. Übrigens hat er sich 
nicht nur als Dichter hervorgetan. Wir besitzen von ihm eine 
Abhandlimg über die politischen Fehler des Hauses Ts^in, in 
der er die Ursachen des kurzen Bestandes der von Shi-hoang-ti 
begründeten D3mastie untersucht. Schärfe des politischen Urteils 
und ein gereifter historischer Sinn des noch jugendlichen Ver- 
fassers — Kiah I starb 165 v. Chr. im Alter von 34 Jahren — , 
das sind die Vorzüge, die dieser Abhandlung einen bleibenden 
Wert verleihen; zugleich aber steht sie auch als Muster klassi- 
scher Prosa in hohem Ansehen. — Was die übrigen Dichter 
dieser Gruppe anlangt, so genügt die Erwähnung ihrer Namen. 



SECHSTES KAPITEL, 



Das Zeitalter der Han: Wiedergeburt des Alter- 
tums. Die Geschichtschreibung. Philosophie und 

Dichtkunst. 



I. Wiedergeburt des Altertums. Sze-ma Ts'ien und die Geschictit- 

schreibung. 

Schon Kiah I weist in seiner Abhandlung über die Fehler 
des Hauses Ts' in darauf hin, dafs Nehmen und Behalten zweierlei 
sei. In der Tat hat der gewaltige Shi-hoang-ti im Nieder- 
reifsen Gröfseres geleistet als im Wiederaufbauen. Es war ihm 
wohl gelungen, den Fehden, die seit Jahrhunderten an dem Marke 
des Landes gezehrt, ein jähes Ende zu machen, indem er das 
verrottete Feudalsystem über den Haufen warf und durch die 
Macht seines Schwertes das ganze Reich unter seinem Scepter 
vereinigte, — aber Bedingungen zu schaffen, durch die er dem neu 
errungenen Besitze dauernden Bestand gesichert hätte, dazu war 
er nicht im stände. Der brutale Bruch mit der Tradition war 
der schwerste Fehler, den er begehen konnte, denn schon im 
damaligen China war sie eine Macht, die selbst der Stärkste nicht 
ungestraft milsachten durfte. Shi-hoang-ti war ein Autokrat 
in des Wortes eigentlichster Bedeutung \ sein Regiment war so ganz 
auf seine Person zugeschnitten, dafs nur ein Herrscher gleichen 
oder ähnlichen Schlages es hätte fortsetzen können. Daher ging, 
was er mit der Gewalt des Schwertes erobert hatte, bereits unter 
seinem unfähigen Nachfolger wieder verloren. Im Jahre 205 v. Chr. 
hat die Herrschaft des Hauses Ts*in ihr Ende erreicht, die 
Han- Dynastie tritt an ihre Stelle*), und mit ihr beginnt eine der 

^) Die Han- Dynastie regierte bis zum Jahre 220 n. Chr. 



— 185 - 

glänzendsten^ aber freilich auch in ihren Nachwirkungen auf das 
geistige Leben zugleich eine der verhängnisvollsten Epochen in 
iler Geschichte Chinas. 

Unter der Regierung der H an- Kaiser gewinnt das Reich 
durch die Unterwerfung halbwilder Nachbarvölker eine Aus- 
dehnung, die es nie vorher besessen hatte. Zum ersten Male 
erscheint jetzt das Chinesentum in seiner weltgeschichtlichen Rolle 
als Träger einer Kulturmission, indem es die unterjochten fremden 
Stämme dem assimilierenden Einflüsse seiner höheren Gesittung 
unterwirft, und zwar mit solchem Erfolge, dafs sie ihre nationale 
Eigenart im Laufe der Zeit bis auf den letzten Rest einbülsen. 
Mit der Ausbreitung des Territorialbesitzes hielt die Erweiterung 
des intellektuellen Gesichtskreises gleichen Schritt. Gesandt- 
schaften, die im Süden bis nach Annam, im Westen bis in die 
alten Kulturgebiete des Oxus und Jaxartes vordrangen, brachten 
Kunde von fernen Ländern und Völkern, von deren Dasein man 
nichts geahnt h^tte. Eine völlig neue Welt schien sich auf zutun. 
Eroberer grofsen Stiles, haben die Kaiser der Ha n- Dynastie den 
Gnmd zum modernen China gelegt. Durch die Art, wie sie den 
Einheitsgedanken des Shi-hoang-ti zu verwirklichen suchten, 
haben sie zugleich bewiesen, dals sie besalsen, was jenem abging: 
historischen Sinn. Daher sind ihre Unternehmungen auch von 
dauerndem Erfolge gekrönt gewesen. Der Form nach behielten 
sie, wenn auch in engeren Grenzen, das Feudalsystem bei, indem 
sie Angehörige ihres Hauses zu Lehensfürsten ernannten, doch 
achteten sie durch sorgfältige Überwachung ihrer Vasallen streng 
darauf, dafs diese nie zu selbständiger Macht gelangten. Allem 
Anschein nach haben sie die Politik der Belehnungen von Haus 
aus nur als ein Übergangsstadium im Sinne einer schonenden 
Rücksichtnahme auf die bisherige Gepflogenheit aufgefafst. Durch 
die Teilung des Grundbesitzes, welche den bis dahin von der Erb- 
folge ausgeschlossenen jüngeren Söhnen zu gute kam, schwächten 
sie die Macht des grundbesitzenden Adels und formten dadurch 
allmählich das alte Feudalsystem auf friedlichem Wege in eine 
zentralisierte Monarchie um. Hand in Hand mit der Schwächung 
des Adels geht die Demokratisierung der Staatsverwaltung, in- 
dem die Privilegien der Geburt durch die des Talentes und des 
Wissens verdrängt werden. Persönliche Tüchtigkeit gilt als das 
allein Entscheidende, Rang und Herkunft kommen nicht mehr in 



— 186 — 

Betracht, und es ist eine für diese Tendenz charakteristische Tat- 
sache, dafs eine ganze Reihe von führenden Männern jener Epoche 
Leute niederer Herkunft sind, die sich lediglich durch eigenes 
Verdienst zu den höchsten Ämtern emporgearbeitet haben. Auf 
diese Weise erklärt sich der beispiellose Einfluls, den das Ge- 
lehrtentum unter den Han auf den Gang der öffentlichen Dinge 
gewinnt. Es ist dies eine Erscheinung von nicht zu unter- 
schätzender und keineswegs etwa vorübergehender Bedeutung, 
da das zünftige Gelehrtentum von nun an als mafsgebender poli- 
tischer Faktor die führende Rolle übernimmt und der politischen 
imd geistigen Entwicklung Chinas für alle Folgezeit den Stempel 
seiner Eigenart aufdrückt. Der später in der Form staatlicher 
Prüfungen eingeführte gelehrte Wettbewerb als tmerläfsliche 
und, im Prinzip wenigstens, einzige Vorbedingung für die Be- 
amtenlaufbahn ist nur die logische Konsequenz der von den 
Han -Kaisem inaugurierten Politik: an die Stelle des Geburts- 
adels tritt der Beamten- oder — was in diesem Falle eben auf das- 
selbe hinauskommt — Gelehrtenadel, an die Stelle des aristokrati- 
schen Regiments das bureaukratische. 

Durch die Fehler des Shi-hoang-ti belehrt, richteten die 
Han- Kaiser ihr Augenmerk darauf, dieselben nicht nur zu ver- 
meiden, sondern auch so weit als möglich wieder gutzumachen. 

Sie besalsen politische Einsicht genug, imi zu erkennen, dafs 
es für sie geradezu eine Lebensfrage war, sich durch Anerkennung 
der Tradition, der politischen sowohl wie der litterarischen, ge- 
wissermafsen zu legitimieren. Um solches zu ermöglichen, mulste 
aber vor allen Dingen das Band zwischen Altertum tmd Gegen- 
wart, das Shi-hoang-ti zerrissen hatte, wiederhergestellt 
werden. Daher ist ein förmlicher Kultus der Chou- Dynastie 
an der Tagesordnung, ihre Institutionen werden mit Eifer 
studiert und als leuchtendes Vorbild nachgeahmt, die Rückkehr 
zur ruhmreichen Vergangenheit gilt als höchstes Ziel der Staats- 
weisheit. Mit geschichtlicher Notwendigkeit erscheint das Zeit- 
alter der Han als die Renaissanceperiode des klassischen Alter- 
tums. Es ist bereits in den vorhergehenden Kapiteln zu wieder- 
holten Malen darauf hingewiesen worden, mit welchem Eifer imd 
Erfolge die Herrscher der Han- Dynastie bemüht gewesen sind, 
die Reste der alten Litteraturdenkmäler, die durch ein günstiges 
Geschick von den Flammen der Bücherverbrennung verschont 



— 187 — 

geblieben waren und noch hie und da verborgen gehalten wurden^ 
ausfindig zu machen , zu sammeln und ans Licht zu fördern. 
Ihren Bemühungen, bei denen sie von Gelehrten wie Liu Hiang 
und LiuHin, TaiTeh und TaiSheng, Majung, Cheng 
Hüan und vielen anderen unterstützt wurden , ist es zu ver- 
. danken , dafs die klassische Litteratur Chinas erhalten geblieben 
ist. Der Ruhm des Confucius erstrahlt in neuem Glänze: war 
er es doch gewesen, der als erster die Rückkehr zum Altertum 
als den einzigen Weg zum Heil bezeichnete und in diesem Sinne 
die ehrwürdigen Urkunden des alten Schrifttums sammelte, die 
nun im Begriffe waren, zu neuem Leben zu erwachen. Ein 
Nachkomme des Confucius, K^ung Tsang mit Namen, ist 
es, dem die Oberaufsicht über das öffentliche Unterrichtswesen 
zuerteilt wird, ein Vetter jenes K^ung Ngan-kuoh, der sich 
mit besonderem Eifer um die Wiederauffindung der alten Texte 
verdient machte. Unter den Han vollzieht sich jene unheilvolle 
Wandlung, durch welche Chinesentum und Confucianismus zu 
einem identischen Begriffe zu verschmelzen beginnen. Die fünf 
kanonischen Bücher werden als Inbegriff der confucianischen 
Lehren zum nationalen Credo, und damit ist der tote Punkt in der 
geistigen Entwicklungsgeschichte Chinas erreicht. Als Han- 
tszg, d. h. »Söhne der Hanc, pflegen die Chinesen sich selbst mit 
Stolz zu bezeichnen, und Söhne der Han sind sie bis auf den 
heutigen Tag geblieben. 

Es liegt auf der Hand, dafs eine Zeit, deren geistiges Inter- 
esse fest ausschliefslich auf die kompilatorisch-kritische Tätigkeit 
des Sammeins, Edierens und Kommentierens gerichtet ist, der 
Entwicklung schöpferischer Talente nicht günstig sein konnte, und 
es darf daher nicht wundernehmen, wenn sich eigentlich nur ein 
Gebiet der Litteratur anführen läfst, auf dem im Zeitalter der 
Han wahrhaft Grofses geleistet worden ist: die Geschicht- 
schreibung, die sich ja auch ihrem inneren Wesen nach mit rück- 
wärts gerichtetem Blicke durchaus im Fahrwasser der damals herr- 
schenden Zeitströmung bewegt. Dafür hätte aber auch Sz6-ma 
Ts'iens Name allein genügt, um jener denkwürdigen Epoche 
dauernden Ruhm in der chinesischen Litteratur zu sichern. 

In seiner Autobiographie bezeichnet SzS-maTs^ien seinen 
Vater Sz6-ma T'an als den Begründer des Werkes, das er 
nur fortgesetzt habe. Von seinem Vater berichtet er, dals er 



— 188 — 

sich mit dem Studium der hinunlischen Gestirne und des Yih- 
king, sowie mit der Lehre vom Tao befafst habe, mit anderen 
Worten: dafs er Astrologie und Wahrsagekunst getrieben und 
der taoistischen Schule angehört habe. Von 140 bis 110 v.Chr. 
bekleidete er den Posten eines Grofsastrologen am Hofe des 
Kaisers Wu-ti, eine Stelltmg, die übrigens nach Sz6-ma 
Ts Mens eigenen Worten keineswegs sonderlich geachtet gewesen 
zu sein scheint. Nach dem uralten Volksglauben der Chinesen 
bestand zwischen den himmlischen Gestirnen und der Menschen- 
welt ein verborgener Kausalzusammenhang, dessen Deutung in 
jedem gegebenen Einzelfalle den von Staats wegen dafür an- 
gestellten Astrologen oblag. Jedem der Teilstaaten sowohl wie 
auch dem ganzen Reiche entsprach ein himmlisches Gestirn, das 
seine Geschicke lenkte und bestimmte, so dals das gestirnte Firma- 
ment gleichsam die himmlische Projektion des irdischen Reiches 
darstellte. Es gehörte daher zu den Berufspflichten des Astro- 
logen, nicht nur über die hinmilischen Erscheinungen, sondern 
auch über die ihnen entsprechenden irdischen Ereignisse Buch zu 
führen. So mochte Szfi-ma T^an die Anregung zu seinem 
Geschichtswerke erhalten haben. Über seine sonstigen Lebens- 
schicksale erfahren wir so gut wie nichts und dürfen daher wohl 
annehmen, dals sie nichts Bemerkenswertes dargeboten haben, 
da sich sonst sein Sohn und Biograph sicherlich grölserer Aus- 
führlichkeit in seinen Angaben befleilsigt hätte. Wir erfahren 
nur, dafs Sz6-ma T^an im Jahre 110, auf einer Reise nach 
dem heiligen Berge T^ai-shan, wohin er den Kaiser Wu-ti 
zum Zwecke einer feierlichen Opferzeremonie begleiten sollte, zu 
Lo-yang (in der heutigen Provinz Ho-nan) starb* 

Sz6-ma TsMens Geburtsjahr läfst sich nicht genau be- 
stimmen, doch dürfte aus mancherlei Gründen das Jahr 145 
als solches anzunehmen sein^). Er selbst gibt den in der Nähe 
der Stadt Han-ch^eng in der heutigen Provinz Shan-si 
gelegenen Berg Lung-men als seinen Geburtsort an, wo sich 
auch die Grabstätte seiner Vorfahren befand. Er berichtet von 
sich, dafs er in seiner Kindheit an den Feldarbeiten teilgenommen 
und das Vieh gehütet, nichtsdestoweniger jedoch schon mit zehn 



') VgL Chavannes, Les M^moires historiques de Se-ma Ts^ien 
I, p. XXIV. 



— 189 - 

Jahren alte Texte auswendig gekonnt habe. Zwanzig Jahre alt 
begibt er sich auf Reisen, die ihm Gelegenheit geben , fast das 
ganze Reich in seinem damaligen Umfange aus eigener An- 
schauung kennen zu lernen. Charakteristisch für den künftigen 
Begründer der chinesischen Geschichtschreibung ist dabei, dafs er 
mit Vorliebe historisch-denkwürdige Stätten aufsucht, wie z. B. 
die Höhle am Berge Koei-ki (in der heutigen Provinz Cheh- 
kiang), wohin sich der Kaiser Yü kurz vor seinem Tode zurück- 
gezogen hatte, sowie auch die Heimat des Confucius und 
Meng-tszfi. 

Nach seiner Heimkehr erhielt er eine Anstellung an einer 
der hauptstädtischen Verwaltungsbehörden und wurde bald dar- 
auf, im Jahre 111, mit einer Inspektionsreise in die neu imter- 
worfenen Gebiete von Sz6-ch*uan und Yün-nan betraut, von 
der er im darauffolgenden Jahre wieder zurückkehrte. In dem- 
selben Jahre starb sein Vater, dessen Amt als Grofsastrolog er 
dann nach Ablauf der vorgeschriebenen Trauerzeit von 27 Mo- 
naten antrat. Sieben Jahre lang konnte sich nun Sz6-ma 
Ts'ien in emsiger Arbeit seinen historischen Studien widmen, 
bis plötzlich ein unerwartetes Ereignis dazwischentrat, das für 
ihn von tragischen Folgen begleitet war. Die alten Erbfeinde 
Chinas, die Hiung-nu, ein türkischer Nomadenstamm an der 
Westgrenze des Reiches, mit dem die H an- Dynastie während 
der ganzen Dauer ihres Bestehens in steter Fehde lag, nötigten 
den Kaiser durch ihre wiederholten Raubeinfälle zu energischer 
Gegenwehr. Im Jahre 99 schickte Wu-ti den General Li 
Kuang-li gegen sie zu Felde, während er den Li Ling mit 
der Führung der Nachhut betraute. Diesem aber liels sein Ehr- 
geiz keine Ruhe, bis es ihm gelang, die kaiserliche Erlaubnis zu 
einem selbständigen Angriffszuge gegen die Barbaren zu er- 
wirken. Nur widerstrebend gab der Kaiser seine Einwilligung 
zu dem Plane. Li Lings Expedition schlug fehl, seine Mann- 
schaften wurden trotz heftiger Gegenwehr in einen Engpals 
getrieben und aufgerieben, er selbst ergab sich schliefslich 
dem Feinde« Sein Milserfolg gab seinen Gegnern unter den Höf- 
lingen die erwünschte Gelegenheit, ihn beim Kaiser anzuschwärzen. 
Um seine Meinung befragt, sprach sich Sz6-ma TsMen mit 
anerkennenswertem Freimut dem Kaiser gegenüber zu Gunsten 
des Li Ling aus. Dieses tapfere Eintreten für seine Über- 



— 190 — 

Zeugung sollte ihm indessen teuer zu stehen kommen. Der 
Kaiser nämlich erblickte inSz6-ma Ts^iens Verteidigung des 
Li Ling nur einen Versuch, den Li Kuang-li in ein schlechtes 
Licht zu setzen, weil dieser, selbst in bedrängter Lage, dem Li 
Ling nicht zu Hilfe gekonunen war. In seinem Zorne lälst 
Wu-ti den Sz6-ma TsMen den Gerichten Überliefern, die ihn 
denn auch schuldig sprechen, den Kaiser wissentlich getäuscht 
zu haben, und SzS-ma Ts4en muis daraufhin zur Strafe eine 
schimpfliche Verstümmelung über sich ergehen lassen. Sich der 
Schande, wie es nach den damaligen Gesetzen möglich gewesen 
wäre, durch eine Geldstrafe zu entziehen, gestatteten ihm seine 
Mittel nicht. Dieses Ereignis fällt in das Jahr 98. — Nach einem 
anderen Berichte soll jedoch Sz6-ma TsMens Eintreten für 
Li Ling niu- das Mals seiner Sünden vollgemacht haben und 
er des Kaisers Zorn vielmehr schon vorher durch eine bittere 
Kritik der von diesem und seinem Vater begangenen Fehler hervor- 
gerufen haben und dafür nach vollzogener Verstünunelung hin- 
gerichtet worden sein. Dieser Bericht verdient indessen keinen 
Glauben, vielmehr scheint Sz6-ma Ts*ien nach der Kata- 
strophe die Gunst des Kaisers wieder erlangt zu haben, da er 
während seiner letzten Lebensjahre den ehrenvollen Vertrauens- 
posten eines Chung-shu-ling bekleidete und als solcher die 
Oberaufsicht über die Staatspapiere, die Eingänge an den Thron 
und die kaiserlichen Dekrete hatte. Dafs er die an ihm voll- 
zogene Operation um mehrere Jahre überlebt hat, beweist ein 
erhalten gebliebener Brief von ihm aus dem Jahre 9L Das 
Todesjahr des Sz6-ma TsMen läfst sich nicht mit Sicherheit 
feststellen; vermutlich ist er während der ersten Jahre der 
Regierung des Kaisers Chao-ti (86 — 74) gestorben. 

Das Werk, das den Namen des Szfe-maTs*ien unsterblich 
gemacht hat, trägt den Titel Shi-ki, »Geschichtliche Denkwürdig- 
keiten«, und ist als die erste vollständige, planmälsig imd kritisch 
angelegte Darstellung der Geschichte Chinas von epochemachen- 
der Bedeutung für die Geschichte der chinesischen Litteratur. 
In der Art, wie Sz$-ma Ts'ien die überreiche Fülle des ihm 
aus den benutzten Quellen zuströmenden Materials zu gruppieren 
sucht, wie er gleichsam mit dem Stoffe ringen muls, um ihn ge- 
stalten zu können, zeigt sich so recht die Neuheit, aber auch die 
ganze gewaltige Gröfse des Unternehmens. Noch imfähig, den 



— 191 — 

ungeheuren Stoff zu einem organisch gegliederten Ganzen zu 
formen, teilt er ihn in gesonderte Rubriken ein, deren jede gleich- 
sam ein in sich abgeschlossenes Werk darstellt. Fünf solcher 
Rubriken oder Abschnitte sind es, auf die sich die 130 Bücher 
oder Kapitel des ganzen Werkes verteilen. Den Anfang bilden 
die Pen-ki oder »grundlegenden Annalenc, in denen die Be- 
gebenheiten des Reidies an der Hand der Regierungsjahre der 
Herrscher, also in streng chronologischer Reihenfolge berichtet 
werden. Ihnen folgen die Nien-piao oder »Jahrestabellent, in 
denen der erste Versuch gemacht wird, auf Grund genealogischer 
Tabellen der regierenden Häuser eine synchronistische Übersicht 
der Ereignisse zu geben. Der dritte Abschnitt trägt den Titel 
Pah-shu, >die acht Traktate«. Es ist dies eine Gruppierung 
kulturgeschichtlicher Daten, die in dieser Form überhaupt erst 
durch Sz6-maTs'ien in die chinesische Historiographie ein- 
geführt worden ist. Die acht Traktate haben der Reihe nach 
die Riten, die Musik, die Metrologie, den Kalender, die himm- 
lischen Gestirne, die Opfer F eng und Sh an*), die Hydrographie 
(Flüsse und Kanäle) und den Handel zum Gegenstande. Der 
vierte Abschnitt enthält unter dem Titel Shi-kia, »erbliche 
Familien«, d. h. Dynastengeschlechter, eine chronologisch ge- 
ordnete Geschichte der Feudalstaaten, wobei die Regierungsjahre 
der betreffenden Lehensfürsten zu Grunde gelegt sind. Was der 
erste Abschnitt für das Reich als Ganzes geleistet hatte, leistet 
mithin der vierte in analoger Weise für die Teilstaaten. Er- 
wähnenswert, weil bezeichnend für die hohe Verehrung, die Sz6-ma 
Ts'ien für Confucius hegt, ist die Tatsache, dals er dessen 
Biographie nicht unter die übrigen Lebensbeschreibungen, sondern 
in diesen Abschnitt, der sich sonst nur mit den regierenden 
Fürsten befafst, aufgenommen hat, — eine Auszeichnung, die ihm 
allein, als dem »ungekrönten Könige«, zu teil vrird. Der fünfte 
und letzte Abschnitt, Lieh-chuan, enthält mit Ausnahme von 
sechs Büchern geographischen und ethnographischen Inhalts Bio- 
graphien geschichtlicher Persönlichkeiten. Je nach der doppelten 

^) Diese beiden Opfer sollen im frühesten Altertume von den 
Kaisem, das erste dem Himmel, das zweite der Erde, dargebracht 
worden sein. Sie waren bereits in Vergessenheit geraten, als der 
Kaiser Wu-ti sie mit grofsem Pompe wieder einführte und ihnen eine 
besondere Bedeutung beilegte. 



— 192 — 

Bedeutung des Wortes lieh läfst sich der Titel sowohl durch »Über- 
lieferungen über ausgezeichnete Menschen und Dingec als auch 
durch »geordnete Überlief erungent übersetzen. Obwohl seither 
in der chinesischen Geschichtschreibung allgemein gebräuchlich 
als Bezeichnung für den biographischen Teil, ist der Ausdruck 
in diesem Sinne doch erst von Szfi-ma Ts*ien geschaffen 
worden. Dieser Abschnitt, der 70 Bücher oder Kapitel umfalst, 
ist nicht nur der umibngreichste, sondern auch der weitaus inter- 
essanteste Teil des ganzen Werkes. 

Mit bewundernswertem Fleilse hat Szfi-ma Ts'ien das 
gesamte ihm zu Gebote stehende Quellenmaterial verarbeitet. 
Für die ältere Zeit bis zum Sturze der Chou- Dynastie sah er 
sich hauptsächlich auf die uns bereits bekannten Werke der 
klassischen Litteratur, so vor allem auf das Shu-king, das 
Ch'un-ts^iu samt seinen Kommentaren, das Kuoh-yü und das 
Chan-kuoh-ts^eh angewiesen, da die offiziellen Annalen der 
Einzelstaaten wohl jedenfalls in erster Linie dem Edikte der 
Bücherverbrennung zum Opfer gefallen sein werden. Immerhin 
müssen ihm auch einzelne Quellen dieser Art vorgelegen haben^ 
da er z. B., wenn er vom Staate Yen oder Wei spricht, Wen- 
dungen wie »unser Heer«, »unsere befestigten Plätze«, »unsere 
Hauptstadt« gebraucht. Offenbar zitiert er in solchen Fällen 
einheimische Lokalquellen. Wesentlich günstiger als für die 
ältere Periode bis zum Sturze der Chou-Dynastie war Sz6-ma 
Ts*ien für die neuere Geschichte seit der Einigung des Reiches 
durch Shi-hoang-ti daran. Da er in seiner Eigenschaft als 
Grofsastrolog freien Zutritt zum Palastarchive hatte, konnte es 
ihm für diese Zeit an Material nicht fehlen. Dennoch läfst sich 
unter den Quellenwerken, die er hier benutzt hat, mit Sicherheit 
nur ein einziges nachweisen; das nicht mehr erhaltene Werk 
trug den Titel Ch*u Han ch*un-ts*iu, »Chronik der Staaten 
Ch^u und Han« und hatte einen gewissen Luh Kiah zum 
Verfasser. Im übrigen wird er hauptsächlich archivalisches Akten- 
material benutzt haben, das ihm jedenfalls in reicher Fülle vor- 
gelegen haben muls. 

Als Chronist ist Sz6-ma Ts^ien im wesentlichen Kompi- 
lator. Er berichtet die Tatsachen mit den Worten der Quellen- 
urkunden, denen er sie entninunt, ohne den Bericht durch eigenes 
Urteil zu würzen. Daher fehlt auch seinem Stile die individuelle 



— 193 — 

Färbung gänzlich. Das einzige, was Leben und Schwung in die 
Darstellung bringt, sind die Unterredungen, Raisonnements und 
Eingaben von Persönlichkeiten, die selbsttätig in den Gang der 
Ereignisse eingegriffen haben. An solchen Beispielen ist besonders 
der biographische Teil sehr reich, der freilich auch Quellenstudien 
anderer Art erforderte als die Abschnitte, die sich ausschliefslich 
mit der politischen Geschichte befassen. Zumal wo es sich um 
Biographien von Philosophen und Schriftstellern handelte, war 
eine genaue Kenntnis ihrer Werke unerläfelich, und in der Tat 
zeichnet sich Sz6-ma TsMen auch auf diesem Gebiete durch 
eine erstaunliche Belesenheit aus. So erweitert sich der bio- 
graphische Teil der Historischen Denkwürdigkeiten in gewissem 
Sinne zu einer Geschichte des geistigen Lebens im alten China 
und gewinnt durch diesen Umstand sehr wesentlich an Interesse 
und Bedeutung. Manche der ausführlicheren Biographien, nament- 
lich solche, die Persönlichkeiten aus der jüngsten Vergangenheit 
zum Gegenstande haben, mochten wohl auch nicht nur auf 
archivalischen Studien, sondern daneben zum Teil auf lebendiger 
mündlicher Überlieferung, zum Teil vielleicht auch auf eigenen 
Erinnerungen des SzS-ma Ts*ien beruhen und sind dadurch 
als zeitgeschichtliche Schilderungen aufserordentlich lehrreich. 
Das gilt z. B. wohl zweifellos von der Lebensbeschreibung des 
Li Sz$, die schon durch die in ihr behandelte Epoche ein be- 
sonderes Interesse beanspruchen darf. 

LiSz6 ist als der einflulsreichste Ratgeber und allmächtige 
Minister des grofsen Kaisers Shi-hoang-ti eine der markan- 
testen Persönlichkeiten in der Geschichte Chinas. Aus Ch^u 
gebürtig, bekleidete er daselbst auch eine Zeitlang einen unter- 
geordneten Beamtenposten. Auf die Dauer konnte eine solche 
Stellung seinem Ehrgeize jedoch nicht genügen, und er beschlofs 
daher, in dem benachbarten, mächtig emporstrebenden Ts^in sein 
Glück zu versuchen. Im Jahre 247 trat er in die Dienste des 
Lü Puh-wei, der in jener Zeit die führende Rolle in Ts*in 
spielte. Dieser erkannte bald die ungewöhnlichen Fähigkeiten 
des Li Sz6 und vermittelte seine Ernennung zum Offizier der 
königlichen Leibwache. Als solcher zur näheren Umgebung des 
Königs und nachmaligen Kaisers Shi-hoang-ti gehörend, nahm 
er bald eine Gelegenheit wahr, diesem in folgenden Worten sein 
Regierungsprogramm zu unterbreiten : »Kleinliche Menschen ver- 

Grube, Geschichte der chinesitchen Litteratnr. 13 



— 194 - 

säumen die sich ihnen darbietende Gelegenheit ; wer aber Grolses 
vollbringen will, macht sich die Mängel anderer erbarmungslos 
zu nutze. Wodurch kam es, dafs ehemals der Fürst Muh-kung 
von Ts*in (659—621), obwohl er die Hegemonie besafs, doch 
schliefslich die sechs Staaten^) im Osten nicht in seine Gewalt 
brachte ? Die Lehensfürsten waren noch zahlreich, und die Kraft 
der C h o u - Dynastie war noch nicht gesunken; daher erhoben 
sich die fünf führenden Fürsten der Reihe nach und ehrten ab- 
wechselnd das Haus Chou. Seit der Zeit des Fürsten Hiao- 
kung (361 --338) sank das Haus Chou, die Lehensfürsten ver- 
bündeten sich untereinander, und in Kuan-tung^) bildeten sich 
die sechs Staaten. Dafs Ts^in die Gelegenheit wahrgenommen 
und die Lehensfürsten unter seine Botmäfsigkeit gebracht hat, 
ist nachgerade sechs Menschenalter her. Jetzt sind die Vasallen- 
staaten Ts'in Untertan wie Provinzen. Mit der Macht und 
Gröfse von Ts*in und mit der Weisheit seines Königs genügt 
es, gleichsam nur den Herd rein zu kehren, um die Lehens- 
fürsten zu vernichten. Um ein Kaisertum zu gründen und das 
Reich zu einigen, ist jetzt ein Augenblick, wie er nicht wieder- 
kehrt. Wenn jetzt gesäumt und nicht schleunigst vorgegangen 
wird, werden die Lehensfürsten aufs neue erstarken und sich 
miteinander verbünden; dann aber dürfte nicht einmal die Weis- 
heit eines Hoang-ti mehr im stände sein, das Reich zu einigen. c 
Diese Worte fanden den Beifall des Königs, der Li Sz6 zxmächst 
zum ältesten Historiographen und bald darauf zum Minister er- 
nannte. Auf seinen Rat wurden nun politische Agenten im 
Reiche umhergeschickt, die die Aufgabe hatten, die hervor- 
ragendsten Ratgeber der Teilfürsten durch reiche Bestechungen 
für T s ^ i n zu gewinnen. Da infolgedessen zahlreiche Ausländer 
nach Ts'in kamen und daselbst Verwendung fanden, entstand 
allmählich eine fremdenfeindliche Gärung unter den einheimischen 
Beamten, »undc, fährt Sz6-maTs*ien fort, »die Grofswürden- 
träger von Ts*in sprachen zum Könige: ,Die Leute der Lehena^ 
fürsten, die herkommen, um Ts^in zu dienen, treiben sich hier 
grölstenteils nur im Interesse ihrer Landesherren umher, um 



') Nämlich die Staaten Han, Wei, Chao, Ch'u. Yen und Ts*i. 

") Dieser Name, der gegenwärtig die Mandschurei bezeichnet, 

bezog sich im Altertum auf einen Teil der heutigen Provinz Shan-si. 



— 195 - 

gegen Ts'in zu intrigieren. Wir bitten, die Fremden aus- 
nahmslos aus dem Lande zu verweisen,' Li Sz6 tiberlegte, 
dals auch er in diesem Falle sich in der Zahl der zu Vertreiben- 
den befinden würde, imd richtete folgende Eingabe an den Thron : 
,Es ist zu meiner Kenntnis gelangt, dals die Beamten den 
Rat erteilt haben, die Fremden auszuweisen. Nach meiner un- 
malsgeblichen Ansicht würde das ein Milsgriff sein. Als ehe- 
mals der Fürst Muh- kung von Ts*in nach tüchtigen Männern 
Umschau hielt, zog er im Westen den Yu Yü von den Jung- 
Barbaren, im Osten den Poh-li Hi aus Yüan an sich; aus 
Sung lud er den Kien Shuh ein und berief P'ei Pao und 
Kung-sun Chi aus Tsin. Indem Muh-kung sich dieser 
fünf Männer, obwohl sie nicht aus Ts*in gebürtig waren, be- 
diente, gelang es ihm, zwanzig Staaten zu vereinigen und die 
Oberherrschaft über die Barbarenstämme des Westens zu erlangen. 
Der Fürst Hiao-kung (361—338) führte die Gesetze des 
Fürsten Yang von Shang^) ein und brachte dadurch einen 
Umschwung in den Sitten und Gebräuchen hervor: das Volk 
ward infolgedessen wohlhabend und blühend, der Staat reich und 
mächtig; das Volk liels sich mit Freuden verwenden, und die 
Lehensfürsten fügten sich gutwillig. Er nahm die Heere von 
Ch*u und Wei gefangen und eroberte ein Gebiet von tausend 
Li. Bis auf den heutigen Tag blieb die Regierung kräftig. 
König Hoei-wang (337—311) bediente sich der Ratschläge 
des Chang I*): er eroberte das Gebiet von San-ch*uan^), 
vereinigte im Westen Pah und Shuh*), bemächtigte sich im 
Norden des Distriktes Shang-kiün^) und nahm im Süden 
Han-chung*) in Besitz. Er unterwarf die neun Barbaren- 



*) Auf den Rat des Fürsten Wei Yang von Shang wurde, wie 
im 5. Buche des Shi-ki berichtet wird, im Jahre 359 eine Reform 
der Gesetze und Strafen in Ts'in eingeführt. 

«) S. oben S. 174 ff. 

*) San-ch*uan, *das Gebiet der drei Ströme«, entspricht der 
heutigen Präfektur Ho-nan-fu in der gleichnamigen Provinz. Die 
drei Ströme sind der Hoang-ho, der I- und der Loh-Flufs. 

^) Pah entspricht der Präfektur Chung-k*ing-fu, Shuh der 
Präfektur Ch*eng-tu-fu, beide in der Provinz Szö-ch*uan gelegen. 

*) Shang-kiün entspricht der Präfektur Yen- ng an in der Pro- 
vinz Shan'-si. 

•) Ebenfalls in der Provinz Shan-si. 

13* 



— 196 — 

Stämme und beherrschte Yen mid Ying^); im Osten bemächtigte 
er sich des steilen Berggeländes von Ch^eng-kao und rils das 
fruchtbare Bodengebiet an sich. Darauf sprengte er den Bund 
der sechs Staaten und zwang sie, nach Westen gerichtet Ts'in 
zu dienen. Seine Erfolge erstrecken sich bis auf den heutigen Tag. 
Der KönigChao-wang (306— -251) nahmFan-sui, setzte den 
Fürsten von Jang ab und vertrieb den Fürsten von Hoa-yang"); 
er stärkte das fürstliche Haus und schob privaten Bestrebungen 
einen Riegel vor; er absorbierte die Lehensfürsten, wie die 
Seidenraupe die Blätter frifst, und machte es auf diese Weise 
möglich, dals Ts*in die Kaiserherrschaft erlangte. 

Diese vier Fürsten haben sich sämtlich die Verdienste von 
Fremden zu nutze gemacht. Haben sich nun etwa, von diesem 
Standpunkte betrachtet, die Fremden Ts^n gegenüber undank- 
bar bewiesen? — Gesetzt den Fall, die vier Fürsten hätten die 
Fremden ausgewiesen, statt sie aufzunehmen, und die tüchtigen 
Männer femgehalten, statt sich ihrer zu bedienen, so würden sie 
dadurch den Staat um die Früchte des Reichtums und Vorteils 
und lun den Ruhm der Macht und Grölse gebracht haben. 

Wenn nun Ew. Majestät Edelsteine aus dem Kun-lun- 
Gebirge kommen lälst, die Kleinode von Sui und Huo') be- 
sitzt, sich mit Perlenschnüren schmückt und mit dem T^ai-ngo- 



^) Ying war die Hauptstadt von Ch'u, und Yen befand sich 
ebenfalls in Ch^u, beide in der heutigen Provinz Hu-peh. 

') Ch^eng-kao, Jang und Hoa-yang befanden sich sämtlich 
in der Provinz Ho-nan. 

') Ein aus dem achten Jahrhundert stammender Kommentar 
zum Shi-ki bemerkt zu dieser Stelle: 'Der Lehensfürst von Sui 
begegnete einmal unterwe^i^s einer grofsen Schlange, die mitten durch- 
gehackt war. Da er vermutete, dafs sie übernatürliche Kräfte besitze, 
schickte er Leute hin, die sie durch Anwendung von Heilmitteln wieder- 
herstellten. Darauf war die Schlange wieder im stände, sich fort- 
zubewegen. Zum Andenken an diesen Voriall erhielt der Ort den 
Namen Tuan-she-k^iu, d. h. ,der Hügel der durchschnittenen 
Schlange\ Ungefähr ein Jahr darauf brachte die Schlange eine leuch- 
tende Perle dar, die einen Durchmesser von ungefähr einem Zoll hatte, 
vollkommen weifs war und einen Glanz ausstrahlte. Dieselbe erhielt 
daher den Namen: ,Die Perle von Sui'. Das Juwel von Huo ist das 
aus Pien-huo stammende Siegel desShi-hoang-ti, das dieser zum 
erblichen Reichssiegel machte.* 



- 197 — 

Schwerte') umgürtet, mit prächtigen Rossen einherfährt oder 
mit blauen Phönixfedem geschmückte Standarten und mit Krokodil- 
haut bespannte Pauken aufstellen lädst, so wird doch keine von 
all diesen Kostbarkeiten in Ts'in erzeugt, und dennoch hat 
Ew. Majestät Freude daran, — wie kommt das? — Wenn jeder 
Gegenstand von TsMn hervorgebracht sein müfste, wai zugelassen 
zu werden, so dürften die selbstleuchtenden Nephrittafeln nicht die 
Halle des Palastes schmücken und die Geräte aus Rhinozeros- 
hom und Elfenbein nicht als Nippsachen dienen, die Jungfrauen 
von Cheng und Wei dürften nicht den Frauenpalast füllen und 
die Ställe nicht voll sein von edlen Rossen, Gold und Zinn aus 
dem Kiang-nan-Gebiete dürften nicht benutzt und die bunten 
Farben aus dem westlichen Shuh nicht als Schmuck verwendet 
werden. Wenn der Schmuck des Frauenpalastes und die Schar 
der Dienerinnen, wenn alles, was Herz und Sinn erfreut, was 
Auge imd Ohr ergötzt, durchaus in TsMn erzeugt sein mülste, 
um gestattet zu sein, so würden die perlengeschmückten Haar- 
spangen und Ohrgehänge, die seidenen Gewänder aus Ngo^) 
und die prächtigen Brokate nicht herbeigeschafft werden, und 
die feingesitteten, verführerisch schönen Mädchen aus Chao 
würden nicht an Ew. Majestät Seite stehen. Gegen irdene Krüge 
und Töpfe schlagen, die zwölfsaitige Zither spielen und dazu mit 
knöchernen Täf eichen den Takt schlagen und die Laute: wu- 
wu als Gesang ertönen lassen, — was auf solche Art Ohr und 
Auge erfreut, sind die echten Klänge von Ts*in. Die Lieder 
von Cheng und Wei') und das Sang-kien, Shao-yü 
und Wu-siang*) sind fremde Weisen. Wie kommt es nun, 
dals Ew. Majestät das Topfschlagen und Zitherspiel verschmäht 
und dagegen die Lieder von Cheng und Wei bevorzugt? 
Wenn das, was den Sinn erfreut, vor Augen ist, so genielst 
man es eben, und damit gut. Wo sich's aber darum handelt^ 



*) T'ai-ngo ist der Name eines berühmten Schwertes. 

*) Ngo, berühmt durch seine Seidenstoffe, war eine Stadt in der 
heutigen Provinz Shan-tung. 

') Unter den Liedern von Cheng und Wei sind vermutlich die 
aus diesen Staaten herrührenden Lieder im ersten Buche des Shi- 
king gemeint. Von den Liedern aus Cheng hatte Confucius 
keine günstige Meinung, s. oben S. 49. 

*) Namen von Liedern resp. Melodien. 



— 198 — 

Menschen zu gewinnen , wird nicht also verfahren. Da wird 
nicht gefragt^ ob sie brauchbar oder nicht, ehrlich oder unehrlich 
seien, — wer nicht aus Ts*in stammt, wird entfernt, wer ein 
Fremder ist, wird ausgewiesen. Liegt also etwa der Wert 
in Augenlust und Musik, in Perlen und Edelsteinen und der 
Unwert in der Nationalität der Menschen? — Dies ist nicht 
das Mittel, durch welches man das Gebiet innerhalb der vier 
Meere beherrscht und über die Vasallenfürsten gebietet. 

Ich habe sagen hören: wenn das Gebiet ausgedehnt ist, 
gibt es Getreide in Fülle, wenn der Staat grofs ist, sind die 
Menschen zahlreich, und wenn das Heer stark ist, so sind die 
Offiziere tapfer. Der T*ai-shan weicht nicht vor einer Erd- 
scholle zurück, daher kann er seine Gröfse vollenden ; die Ströme 
und Meere wählen keine engen Strombetten, daher können sie 
ihre Tiefe erreichen; ein rechter König weist die grolse Masse 
nicht von sich, daher kann er seine Kraft zur Geltung bringen. 
Auf diese Weise gibt es im Lande keinen Unterschied nach den 
vier Himmelsgegenden, das Volk kennt keine verschiedenen 
Staaten, die vier Jahreszeiten bringen des Schönen die Fülle, 
und die Geister und Dämonen senden Glück hernieder. Das ist 
es, wodurch die fünf Kaiser und die drei Könige keine Rivalen 
hatten. Wollte man jetzt durch die Zurückweisung des Volkes 
den feindlichen Staaten nützen und durch die Vertreibung der 
Fremden die Lehensfürsten stärken, so würde die Folge davon 
sein, dals die Tüchtigen im Reiche sich zurückziehen und nicht 
mehr wagen, sich westwärts zu wenden, dafs ihnen die Füfse 
gebunden sind und sie nicht mehr das Gebiet von Ts'in be- 
treten. Das hiefse die Rebellen mit Waffen unterstützen und 
die Räuber mit Zufuhr versorgen. Unter den Dingen, die nicht 
in Ts^in hervorgebracht werden, gibt es aber viele, die als kost- 
bar zu schätzen sind, auch gibt es zahlreiche tüchtige Männer, 
die, ohne aus Ts*in gebürtig zu sein, doch den Wunsch haben, 
ihre Loyalität zu bekunden. Wenn man jetzt die Fremden ver- 
treibt, fördert man dadurch die rivalisierenden Staaten; indem 
man das eigene Volk benachteiligt, bringt man den Feinden 
Vorteil, und indem man sich selbst entblöfst, säet man Un- 
zufriedenheit unter den Lehensfürsten. Wer auf diesem Wege die 
Sicherheit des Landes erstrebt, wird sie nicht bewirken können.' 



— 199 — 

Der König zog daraufhin den Befehl der Fremdenansweisung 
zurück, den Li Szfi aber setzte er wieder in sein Amt ein und 
bediente sich bis an sein Lebensende seines Rates. Bald be- 
förderte er ihn zum Justizminister, und nachdem der König un- 
gefähr zwanzig Jahre später (221) das Reich geeinigt und den 
Kaisertitel angenommen hatte, ernannte er den Li Sz6 zu seinem 
ersten Minister.c Darauf fährt Sz6-ma Ts*ien fort: »Im vier- 
unddreilsigsten Jahre seiner Regierung (213) veranstaltete Shi- 
hoang-ti ein Gastmahl im Palaste von Hien-yang*). Einige 
Mitglieder des Gelehrtenkollegiums, unter ihnen Chou Ts^ing- 
ch*en, priesen die Majestät und Tugend des Shi-hoang-ti. 
Da trat ein aus Ts*i gebürtiger Mann, namens Shun-yü Yüeh, 
vor und sprach die mahnenden Worte: ,Ich habe gehört, dals 
die Könige der Dynastien Yin und Chou während mehr denn 
tausend Jahre ihre Söhne, jüngeren Brüder und verdienten Unter- 
tanen mit Gebieten zu belehnen pflegten, um sich dadurch eine 
Stütze zu schaffen. Nun besitzt Ew. Majestät das Land inner- 
halb der Meere, während Ihre Söhne und jüngeren Brüder ein- 
fache Privatleute sind. Wenn es schlielslich zu einem Ärgernis 
wie jene mit T^ien Ch^ang') und mit den sechs leitenden 
Würdenträgern") kommen sollte, wird bei den Untertanen keine 
Hilfe zu finden sein. Woher soll dann die Rettung kommen? 
Dals jemand, der sich in den öffentlichen Angelegenheiten nicht 
nach den Alten richtete, auf die Dauer hätte bestehen können, 
ist mir nicht bekannt. Nun haben TsMng-ch^en und Genossen 
obendrein durch persönliche Schmeichelei die Fehler Ew. Majestät 
noch verschlimmert. Das sind keine loyalen Untertanen.' Der 
Kaiser übergab die beiden Gutachten seinem ersten Minister 
Li-Sz6.€ 

Jener Versuch des Shun-yüYüeh, das alte Feudalsystem 
wieder einzuführen, ist insofern von geschichtlichem Interesse, 
als er dem Li-Sz6 die Veranlassung bot, seine berühmte Ein- 

Hien-yang war unter der Ts* in -Dynastie die Hauptstadt 
des Reiches und befand sich in der Nähe des heutigen Si-ngan-fu 
in der Provinz Shen-si. 

*) T*ien Ch'ang aus Ts*i hatte im Jahre 481 v. Chr. seinen 
Fürsten ermordet. 

*) Die sechs führenden Familien von Tsin, die schlielslich die 
ganze Regierungsgewalt an sich gerissen hatten. 



— 200 — 

gäbe an den Thron zu richten, in der er dem Kaiser den Rat 
erteilt, durch Ausrottung der schriftlichen Tradition endgültig 
mit der Vergangenheit zu brechen. Dieses folgenschwere Schrift- 
stück, das in der Biographie des Li- Sz 6 nur im Auszuge wieder- 
gegeben ist, hat nach dem sechsten Buche der »Historischen 
Denkwürdigkeiten € folgenden Wortlaut: 

»Die fünf Kaiser kamen nicht einer auf den anderen zurück, 
und die drei Dynastien richteten sich nicht nacheinander; eine 
jede von ihnen hatte ihre Regierungsweise: nicht dals sie sich 
zueinander in Gegensatz stellten, aber die Zeiten änderten sich. 
Dafs Ew. Majestät jetzt ein grolses Werk begründet und einen 
Erfolg errungen hat, der zehntausend Generationen überdauern 
wird, geht den einfältigen Gelehrten sicherlich nicht in den Sinn. 
Zudem beziehen sich ja die Worte des Shun-yüYüeh auf die 
Angelegenheiten der drei Dynastien. Sollten die etwa nach- 
ahmenswert sein? In anderen Zeiten, da die Lehensfürsten noch 
sämtlich miteinander im Streit lagen, legten dieselben Wert da- 
rauf, die umherwandemden Sophisten an sich heranzuziehen. Jetzt 
aber steht das Reich gefestigt da, die Gesetze gehen von Einem 
aus, das Volk und die Familienhäupter wenden ihre Kraft dem 
Ackerbau und Handwerk zu, während die Gebildeten sich dem 
Studium der Gesetze und Verbote widmen. Die Gelehrten aber 
studieren, statt sich nach der Gegenwart zu richten, das Alter- 
tum, um die Gegenwart ins Unrecht zu setzen und Mifstrauen 
und Verwirrung im schwarzhaarigen Volke hervorzurufen. In- 
dem ich, der Minister Sz6, mir zu verhehlen suche, dals ich 
durch meine Worte den Tod verdiene, sage ich: im Altertum 
war das Reich geteilt und in Verwimmg, und keiner vermochte 
es zu einigen; infolgedessen erhoben sich die Lehensfürsten alle 
auf einmal. In ihren Reden berufen sie (die Gelehrten) sich alle 
auf das Altertum, um dadurch die Gegenwart schlecht zu machen; 
sie bedienen sich des Schmuckes leerer Worte, imi dadurch den 
Tatbestand zu verwirren. Die Leute gefallen sich in dem, was 
sie privatim gelernt haben, um damit die Institutionen der Obrig- 
keit zu tadeln. Nachdem jetzt Ew. Majestät das Reich geeinigt, 
Schwarz von Weils geschieden und ein . einheitliches Oberhaupt 
eingesetzt hat, suchen sie von ihrer voreingenommenen Meinung 
aus die Gesetze und Lehren zu bemängeln. Sobald sie erfahren 
haben, dafs ein Edikt erlassen worden, so beurteilt es ein jeder 



— 201 — 

von seiner Lehrmeinung aus: daheim tadeln sie es in ihrem 
Innern, und draulsen reden sie darüber auf den Gassen. Den 
Herrscher zu verherrlichen ') halten sie für rühmlich, abweichender 
Ansicht zu sein erscheint ihnen erhaben, und indem sie sich an 
die Spitze der Massen stellen, setzen sie Verleumdungen in Um- 
lauf. Wenn man solches nicht untersagt, so wird oben die Macht 
des Herrschers sinken, während unten Parteiungen entstehen. 
Es zu untersagen wäre von Nutzen. Ich bitte, die offiziellen 
Geschichtswerke mit Ausnahme der Annalen von Ts'in sämt- 
lich verbrennen zu lassen. Alle, welche, ohne das Amt eines 
Mitgliedes des Gelehrtenkollegiiuns zu bekleiden, Exemplare des 
Shi-king, Shu-king oder der Abhandlungen der hundert 
Schulen *) aufzubewahren wagen, haben dieselben ohne Ausnahme 
an die Behörden auszuliefern, damit diese sie' verbrennen. Die- 
jenigen, die da wagen, sich miteinander über das Shi-king 
oder S h u-k i n g zu unterhalten, sollen (nach erfolgter Hinrichtung) 
auf den Marktplatz geworfen, diejenigen, die auf Grund des 
Altertums die Gegenwart tadeln, samt ihren Angehörigen dem 
Tode überliefert werden. Beamte, die von Übertretimgen Kenntnis 
haben und sie nicht zur Anzeige bringen, verfallen der gleichen 
Strafe. Wer binnen dreifsig Tagen nach Erlals des Ediktes (die 
betreffenden Schriften) nicht verbrannt hat, wird gebrandmarkt 
und zur Zwangsarbeit verurteilt. Von der Konfiskation aus- 
geschlossen sind Bücher über Medizin, Pharmakopoe, Wahrsage- 
kunst, Ackerbau und Baumzucht. Wer den Wunsch hat, die 
Gesetze und Verordnungen zu studieren, möge sich Beamte zu 
Lehrmeistern nehmen.« — 

Drei Jahre nach der Bücherverbrennung (210) besuchte Shi- 
hjoang-ti den Berg Koei-ki, woselbst er den Manen des 
Kaisers Yü ein Opfer darbrachte. In seiner Begleitung befanden 
sich u. a. Li SzS und der Intendant des kaiserlichen Wagenparkes, 
C h a o K a o. Auf dem Rückwege in S h a - k ' i u (in der heutigen 
Provinz Chih-li) angelangt, starb der Kaiser, und als eine Probe 
des erzählenden Stiles mag hier noch ein Teil der Schilderung 



In der Biographie des Li Szd heilst es an dieser Stelle ab- 
weichend: »Den Herrscher zu tadeln halten sie für rühmlich*, eine Les- 
art, die entschieden den Vorzug verdient. 

*) Darunter sind die Schriften der verschiedenen Philosophen- 
schulen zu verstehen. 



\ 



— 202 — 

seines Todes und der darauf folgenden Verschwörung gegen 
den legitimen Thronerben folgen. 

>Shi-hoang-ti hatte zwanzig Söhne, deren ältesten, Fu-su, 
der Kaiser, weil er ihn zu wiederholten Malen offen zur Rede 
gestellt, nach Shang-kiün geschickt hatte, um die daselbst 
unter dem Oberbefehl des Generals Meng T*ien stehenden 
Truppen zu inspizieren. Der jüngste Sohn, Hu-hai, der in be- 
sonderer Gunst stand, hatte gebeten, den Kaiser begleiten zu 
dürfen, und auch die Erlaubnis dazu erhalten. Von den übrigen 
Söhnen war ihm keiner gefolgt. Im siebenten Monat kam Shi- 
hoang-ti nach Sha-k*iu, und da er dort schwer erkrankte, 
beauftragte er den Chao Kao, ein Schreiben an den Prinzen 
Fu-su zu richten tmd diesem zuzustellen, in welchem er ihm 
befahl, sich seinem Leichenbegängnisse anzuschliefsen und ihn in 
Hien-yang zu bestatten. Der Brief war bereits versiegelt, 
aber noch nicht dem Boten übergeben worden, als Shi-hoang-ti 
verschied. Brief und Reichssiegel befanden sich beide bei Chao 
Kao. Nur der Sohn Hu-hai, der Minister Li Sz6, Chao 
Kao und fünf oder sechs in besonderer Gunst stehende Eunuchen 
wuIsten, dals der Kaiser tot war; von den übrigen Beamten 
wufste es keiner. In der Erwägimg, dals der Kaiser auswärts 
gestorben war und es noch keinen legitimen Thronerben gab, 
hielt L i S z 6 den Tod geheim. Er liefs die Leiche in einen ver- 
schlossenen Wagen setzen, und wie bisher fuhren die Beamten 
fort, ihre Vorträge zu halten und dem Kaiser sein Mahl zu ser- 
vieren, während ein im Wagen verborgener Eunuch die Ge- 
nehmigung zu den verschiedenen Anträgen erteilte. Chao Kao 
behielt daraufhin das für Fu-su bestinmite Reichssiegel samt 
dem Briefe zurück und sprach zum Prinzen Hu-hai: ,Der Kaiser 
ist gestorben, und es liegt kein Edikt vor, durch welches seine 
Söhne mit Ländereien belehnt werden; nur für den ältesten Sohn 
allein hat er ein Schreiben übergeben. Sobald dieser angekommen 
ist, wird er den Thron besteigen und Kaiser werden. Was soll 
dagegen geschehen?' — Hu-hai sagte: ,Gewiss. Ich habe sagen 
hören : »Ein erleuchteter Fürst kennt seine Untertanen; ein erleuchte- 
ter Vater kennt seine Söhne." Da nun mein Vater gestorben ist, 
ohne seine Söhne zu belehnen, — wie wäre darüber ein Wort zu 
verlieren?' — ,Mit nichten*, entgegnete Chao Kao, ,sondem 
gerade in diesem Augenblicke liegt die Macht des Reiches 



- 203 - 

und seine Zukunft bei dir, Herr, bei mir und beim Minister Li 
SzS. Ich wünschte, du überlegtest das. Und dann: wie Heise 
sich die Frage, ob man die Menschen zu Untertanen machen oder 
von ihnen zu Untertanen gemacht, ob man die Menschen be- 
herrschen oder von ihnen beherrscht werden solle, an einem Tage 
entscheiden?' — Hu-hai sagte: ,Den älteren Bruder zu be- 
seitigen^ um den jüngeren auf den Thron zu setzen, wäre un- 
gerecht; des Vaters Befehl aus Furcht vor dem Tode nicht an- 
zunehmen, wäre unkindlich ; bei schwachem Können und geringea 
Fähigkeiten sich mit Gewalt die Verdienste anderer zu nutze zu 
machen, wäre Ohnmacht. Diese drei Arten des Vorgehens ver- 
stolsen gegen die Tugend. Das Reich würde sich nicht fügen, 
ich selbst geriete in Gefahr, und den Schutzgöttem des Landes 
würden keine Opfer mehr dargebracht werden.' — Da sagte 
Chao Kao: ,Ich habe gehört, dals die Könige T^ang und Wei 
ihre Gebieter getötet haben: dennoch preist die Welt ihre Ge- 
rechtigkeit, ohne sie für illoyal zu halten; der Fürst von Wei 
erschlug seinen Vater: dennoch blickt der Staat Wei zu seiner 
Tugend empor, und K^ung-tszg berichtet von ihm, ohne ihn 
für unkindlich zu erklären. Bei grolsen Unternehmungen gelten 
nun einmal keine kleinlichen Rücksichten, und die vollendete 
Tugend ist nicht nachgiebig. Jeder Dorfflecken hat seine Be- 
rechtigung, und die hunderterlei Beamten sind nicht von einerlei 
Verdienst. Wer daher über der Rücksicht auf das Kleine das 
Grolse vergibt, wird später sicherlich Nachteil davontragen, und 
wer wankelmütig und unentschlossen ist, für den kommt später 
sicher die Reue nach. Wer aber entschlossen zu handeln wagt, 
dem weichen die Geister und Dämonen aus dem Wege, und der 
Erfolg bleibt nicht aus. Ich wünschte, Herr, du befolgtest das.' — 
Hu-hai sprach seufzend: ,Noch hat das Begräbnis nicht statt- 
gefunden, noch sind die Trauerfeierlichkeiten nicht beendet, — 
wie erschiene es da angebracht, wenn ich dem Minister mit dieser 
Angelegenheit käme?' — Chao Kao aber rief: ,Es ist Zeit? 
es ist Zeit! Ein flinkes Rols, das mit Proviant beladen ist, hat 
nur die eine Sorge, dafs es die Zeit versäumen könnte!' — 

Nachdem alsdann Hu-hai Chao Kaos Vorschlag gebilligt 
hatte, sagte dieser: ,Wenn wir uns nicht mit dem Minister be- 
sprechen, werden wir, fürchte ich, die Sache nicht bewerkstelligea 
können; ich bitte daher, mich mit dem Minister beraten zu dürfen.'c 



\ 



— 204 - 

Es wird alsdann des weiteren erzählt, wie es Chao Kao 
nicht ohne Schwierigkeiten gelingt, Li Sz6 zur Teilnahme am 
Komplott zu überreden, und wie der rechtmäfsige Thronerbe 
Fu-su, sowie auch der General Meng T*ien durch ein ge- 
fälschtes Schreiben des Shi-hoang-ti gezwungen werden, sich 
selbst den Tod zu geben. Hu-hai wird auf den Thron erhoben 
und erweist sich als ein willenloses Werkzeug in den Händen des 
ränkevollen Chao Kao. Vergeblich sucht Li Sz6 Einfluls auf 
den Kaiser zu gewinnen und den grausamen Lüstling zur Ver- 
nunft zu bringen; schliefslich zieht jedoch auch er es vor, mit den 
Wölfen zu heulen und sich durch ein unwürdig schmeichlerisches 
Schreiben die Gunst des Kaisers zu sichern. Nun aber regt sich 
auch alsbald in Chao Kao die Eifersucht auf den gefährlichen 
Nebenbuhler, und durch eine geschickt eingefädelte Intrige ge- 
lingt es ihm in der Tat, ihn zu stürzen. Der einst allmächtige 
Minister wird gefesselt in den Kerker geworfen und muls sogar 
eine Bastonade von tausend Stockhieben über sich ergehen lassen. 
Unter den Qualen der Folter legte er zwar zunächst ein falsches 
Geständnis ab, richtete aber darauf aus dem Gefängnisse folgendes 
Schreiben voll bitterer Ironie an den Kaiser, in dem er sich im 
Vertrauen auf dessen bessere Einsicht zu rechtfertigen sucht: 

»Ich habe über dreifsig Jahre lang als erster Minister die 
Regierung über das Volk geführt. Als ich herkam, war das 
Gebiet von Ts*in eng und beschränkt, unter dem früheren 
Könige umfafste es kaum mehr als tausend Li, während das Heer 
etwa hunderttausend Mann stark war. Indem ich meine geringen 
Fähigkeiten aufbot, fügte ich mich gewissenhaft den Gesetzen 
imd Befehlen. Im stillen sandte ich politische Agenten aus, ver- 
sah sie mit Gold und Edelsteinen und liefs sie als Sophisten bei 
den Lehensfürsten umherziehen. Im stillen setzte ich Panzer 
und Waffen in Bereitschaft und brachte die Lehren der Regie- 
rungskunst zur Vollendung. Ich stellte tüchtige Krieger als 
Offiziere an und ehrte verdienstvolle Beamte, indem ich sie an 
Rang und Einkünften erhöhte. Dadurch brachte ich es schliefs- 
lich dahin, Han einzuschüchtern, Wei zu schwächen, Yen und 
Chao zu zertrümmern, Ts*i und Ch^u zu vernichten, bis ich 
zuletzt die sechs Staaten vereinigte, ihre Könige gefangen nahm 
und den König von Ts*in auf den Thron erhob und zum 
Kaiser machte. Das war mein erstes Vergehen. 



— 205 — 

Im Norden vertrieb ich die Hu- und M o h - Barbaren , im 
Süden stellte ich die Ruhe unter den hundert Barbarenstänmien 
von Yüeh her und liefe dadurch Ts^ins Stärke sehen. Das 
war mein zweites Vergehen. 

Ich ehrte die hohen Beamten, indem ich sie an Rang und 
Würden erhöhte, um dadurch ihre Anhänglichkeit zu sichern. 
Das war mein drittes Vergehen. 

Ich errichtete Altäre für die Schutzgötter des Landes und 
stellte den kaiserlichen Ahnentempel wieder her, um dadurch die 
Weisheit des Herrschers offenbar zu machen. Das war mein viertes 
Vergehen. 

Ich änderte die Schriftzeichen ^), führte ein einheitliches Mals- 
imd Gewichtssystem ein und verbreitete den Glanz der Bildung 
im Reiche, um dadurch Ts^ins Ruhm zu begründen. Das war 
mein fünftes Vergehen. 

Ich legte Heerstralsen an und errichtete Aussichtstürme, um 
dadurch zu zeigen, dals der Herrscher seine Absicht erreicht habe. 
Das war mein sechstes Vergehen. 

Ich erliels die Strafen und erleichterte die Abgaben, um des 
Herrschers Wunsche, die Menge zu gewinnen, Folge zu geben, 
so dals alles Volk zu ihm emporblickte und selbst im Tode seiner 
nicht vergals. Das war mein siebentes Vergehen. 

Ein Beamter meines Schlages hätte, sollte ich meinen, um 
seiner Vergehen willen sicherlich schon längst den Tod verdient. 
Indem der Kaiser mein Können und meine Kräfte aufzuwenden 
geruht hat, ist es nunmehr so weit mit mir gekommen. Ich 
wünschte, Ew. Majestät möchten dies prüfen, c 

Als das Schreiben eintraf, wies Chao Kao seine Beamten 
an, es zu beseitigen. >Denn,€ sagte er, »wie darf ein Gefangener 
ein Schreiben an den Kaiser richten ?c — Darauf beauftragte er 
zehn seiner Klienten, die sich für Zensoren, kaiserliche Adjutanten 
und Palastbeamte ausgeben sollten, den Li Sz6 nochmals zu 
verhören; nachdem aber Li Sz6 dieses Mal der Wahrheit gemäls 
geantwortet hatte, liels er ihn aufs neue prügeln. Darauf er- 
schienen Abgesandte des Kaisers bei Li Szfi, die ein Verhör 
mit ihm anstellen sollten; Li Sz6 aber glaubte, dals es ihm 



*) Li Szö hat die sog. »kleine Siegelschrift« eriunden, eine ver- 
einfachte Form der bis dahin üblichen »grofsen Siegelschrift«. 



\ 



— 206 — 

ebenso ergehen würde wie das vorige Mal, und wagte daher 
nicht, seine Aussage zu wiederholen, sondern bekannte sich 
schuldig. Als der Bericht dem Kaiser vorgelegt wurde, sprach 
dieser erfreut: »Ohne den Herrn Chao wäre ich vermutlich dem 
Minister zum Opfer gefallen, c 

Infolge falscher Angaben, die Chao Kao gegen ihn macht, 
wird Li Sz6 schlief slich verurteilt, auf dem Marktplatze von 
Hien-yang mittendurchgesägt zu werden. »Als Li Szfe mit 
seinem zweiten Sohne, beide gefesselt, aus dem Kerker heraus- 
trat, blickte er sich nach seinem Sohne um und sprach: ,Ach, 
konnte ich doch mit dir zusammen, den gelben Hund zur Seite, 
zum Osttore von Shang-ts*ai hinausgehen und den schlauen 
Hasen jagen !^ Vater und Sohn brachen in Tränen aus, und das 
^anze Geschlecht ward ausgerottet.« — 

Der hier mitgeteilte, nur kurze Auszug aus einem der siebzig 
Bücher, die den biographischen Teil der »Historischen Denkwürdig- 
keiten« bilden, gibt, wie mich dünkt, einen zutreffenden Begriff von 
Sz6-ma Ts*iens Darstellungstalent. Die geschickte Art, wie 
•er hier die Einzelbiographie zu einem Zeitgemälde auszugestalten, 
den fortlaufenden Gang der Erzählung durch Einflechtung von 
Rede und Gegenrede zu unterbrechen und zu beleben weifs, ver- 
rät ohne Zweifel eine hohe Kunst. Mit so plastischer Deutlich- 
keit treten Menschen und Dinge vors Auge, dals man sich 
gleichsam mitten in die um zwei Jahrtausende zurückliegenden 
Zeitverhältnisse hineinversetzt fühlt. Wie lehrreich sind solche 
Einblicke für den Historiker, wie wertvoll für den Diplomaten, 
den sein Beruf ins Reich der Mitte führt. Ist doch das von 
Sz6-ma Ts*ien so meisterlich geschilderte Intrigenspiel auch 
heute noch in der Politik Chinas auf der Tagesordnung; nur die 
Rollen sind anders besetzt, während der Gang der Handlung 
und die altbewährten Mittel dramatischer Verwicklung dieselben 
geblieben sind wie ehedem. Aber nicht nur in dem inneren 
Werte seines Werkes als einer Geschichtsquelle allerersten Ranges 
liegt Sz6-maTs*iens litterargeschichtliche Bedeutung, sondern 
2um mindesten im gleichen Mafse auch in der Anregung, die 
von ihm ausgegangen ist. Seine »Historischen Denkwürdigkeiten« 
haben allen späteren offiziellen Darstellungen der Geschichte Chinas 
als Vorbild gedient, so dals er recht eigentlich als der Begründer 
der chinesischen Geschichtschreibung bezeichnet werden muls. 



— 207 - 

Ihm folgten zunächst Pan Piao (3 — ^54 n. Chr.) und dessen 
Sohn Pan Ku mit ihrer Geschichte der älteren Han-Dynastie 
(206 V. Chr. bis 24 n. Chr.) und später, im fünften Jahrhundert, 
Fan Yeh als Verfasser der Geschichte der jüngeren Han 
(25 — 200). Seitdem hat ununterbrochen die Sitte fortbestanden, 
dals nach dem Erlöschen einer jeden Dynastie deren Geschichte 
unter der nächstfolgenden von Staats wegen auf Grund des vor- 
handenen Aktenmaterials veröffentlicht wird. Diese offiziellen 
Geschichtswerke werden mit Einschluls von Sz6-ma Ts^iens 
»Historischen Denkwürdigkeiten c unter dem Namen der »Vierund- 
zwanzig Reichsannalenc, Nien-sz6-shi, zusammengefalst. Sie 
erstrecken sich bis zum Jahre 1643, d. h. bis zum Untergange 
der Ming-Dynastie, und enthalten die stattliche Zahl von 
3164 Büchern. Mit Recht dürfen sich die Chinesen daher rühmen, 
das einzige Kulturvolk der Welt zu sein, das auf eine dreitausend 
Jahre umfassende, lückenlose und beglaubigte geschichtliche 
Überlieferung zurückblicken kann. Bemerkenswert ist aber auch, 
däfs eine chinesische Verlagsfirma in Shanghai Neudrucke des 
ganzen ungeheuren Sammelwerkes veranstaltet hat, von denen 
der eine etwa 300, der andere gar nur 100 Mark kostet. Diese 
Tatsache genügt, um den Wissensdrang einer Nation zu kenn- 
zeichnen, deren abgeschlossene und schwer zugängliche Eigenart 
bei uns auch heute noch oft genug ins Lächerliche gezogen, aber 
leider selten genug verstanden wird. 

IL Philosophische und Brieflitteratar. 

So sehr auch im Zeitalter der Han einerseits das geschicht- 
liche, anderseits das philosophisch-antiquarische Interesse vor- 
herrschte, ging doch auch die Philosophie nicht ganz leer aus. 
Hoai-nan-tsz6, von dem bereits im vorigen Kapitel im Zu- 
sammenhange mit den übrigen Philosophen der taoistischen Schule 
die Rede gewesen ist, gehört zeitlich in diese Periode ; desgleichen 
genols der aus Ch*eng-tuin der heutigen Provinz Sz6-ch*uan 
stammende Yang Hiung (53 v. Chr. bis 18 n. Chr.) als Ver- 
treter der confucianischen Richtung lange Zeit eines grolsen 
Ruhmes, obwohl er nicht eigentlich zu den selbständigen Denkern 
gerechnet werden kann. In seinen ethischen Ansichten nimmt 
er eine Art Mittelstellung zwischen dem Optimismus des Meng- 



— 208 — 

t s z S und dem Pesshnismus des S i ü n K ' i n g ein. »Des Menschen 
Natur, c sagt er, »ist ein Gemisch von gut und böse. Wer das 
Gute pflegt, wird ein guter Mensch, wer aber das Böse pflegt, 
wird ein böser Mensch. Ist nicht der Trieb das Rofs, das dem 
Guten wie dem Bösen zustrebt ?€ (Fah-yen II, p. 8— 9.) Nach 
Meng-tsz6 war, wie der Leser sich erinnern wird, der an- 
geborene Trieb ursprünglich auf das Gute gerichtet, während 
er nach Yang Hiung nur die Richtung einschlägt, die ihm 
vorgeschrieben wird. »Betrachte die Selbstvervollkommnung als 
Bogen, den entschlossenen Sinn als Pfeil, die Rechtlichkeit als 
Ziel: schieise den Pfeil nicht eher ab, als bis du das Ziel ins 
Auge gefalst hast, so wirst du es sicher treffen. c (Fah-yen II, 
p. 7.) Die sittliche Vollkommenheit sieht er in der Vereinigimg 
der fünf Kardinaltugenden. »Was die Anwendung von Menschen- 
liebe, Rechtlichkeit, Schicklichkeit, Weisheit und Aufrichtigkeit 
betrifft, so ist die Menschenliebe die Stätte des Verweilens, die 
Rechtlichkeit der Weg, die Schicklichkeit das Gewand, die Weis- 
heit die Leuchte und die Aufrichtigkeit das Erkennungszeichen. c ^) 
(Fah-yen II, p. 10.) Die höchste aber unter den Kardinal- 
tugenden ist ihm die Weisheit: »Es gibt in der Welt drei Klassen: 
Die von den Leidenschaften und Begierden ausgehen, gehören 
zu der Klasse der Tiere; die von der Schicklichkeit und Recht- 
lichkeit ausgehen, gehören zu der Klasse der Menschen; die von 
der Weisheit allein ausgehen, gehören zu der Klasse der Hei- 
ligen.€ (Fah-yen II, p. 14.) 

In betreff des Confucius äufsert sich Yang Hiung in 
dem Sinne, dals die Verwirklichung seiner Lehren erst von der 
Zukunft erwartet werden dürfe. »Als jemand (den Yang 
Hiung) fragte, ob es unter den Lehensfürsten zur Zeit des 
K*ung-tszfi solche gegeben habe, die seine Weisheit erkannten, 
sagte er: ,Sie erkannten sie wohl.' — ,Wenn sie sie erkannten, 
warum machten sie dann keinen Gebrauch von ihm?* — Er ant- 
wortete : ,Obschon sie seine Weisheit erkannten, waren sie dennoch 

^) Das Wort /m, welches ich hier durch * Erkennungszeichen« 
wiedergegeben habe, bedeutet eigentlich ein Holztäfelchen, dessen man 
sich bei Verträgen bediente. Dasselbe wurde mittendurchgeschnitten, 
und jeder der beiden Kontrahenten behielt eine Hälfte. Durch Zu- 
sammenlegen der genau zueinander passenden Teile konnte jederzeit 
die Echtheit des Dokuments geprüft werden. 



— 209 — 

nicht fähig, von ihm Gebrauch zu machen/ — ,Darf ich darüber 
etwas Näheres erfahren?* fragte jener. Yang Hiung sagte: 
,Hätten sie von ihm Gebrauch machen wollen, so hätten sie ihm 
folgen müssen; um ihm zu folgen, hätten sie ihren Gepflogen- 
heiten entsagen, ihren Neigungen zuwiderhandeln, ihre Schwäche 
stärken, auf ihr eigenes Können verzichten und ihre ganze Energie 
aufwenden müssen. Nur der Allertugendhafteste im Reiche wäre 
im Stande gewesen, von ihm Gebrauch zu machen.* Ein anderer 
fragte: ,Wenn K'ung-tsz6 wuIste, dafs seine Lehren keine An- 
wendung finden würden, wie in aller Welt vermochte er das 
zu ertragen?* — ,Er verliefs sich auf edle Männer kommender 
Geschlechter,* erwiderte Yang Hiung.c (Fah-yen VI, p. 3.) 
Eine von der des Yang Hiung abweichende Richtung 
schlug Wang Ch*ung (27 — 98) ein. »Ohne sich einer der 
herrschenden Schulen anzuschliefsen , ging er unbeirrt seinen 
eigenen Weg. Schon in frühester Jugend zeigte er ein grübleri- 
sches, in sich gekehrtes Wesen. Während seine Altersgenossen 
sich damit vergnügten, Vögel oder Zikaden zu fangen oder mit 
Geld zu spielen, fand er keinen Gefallen an solchen Dingen, so 
dafs sein Vater sich über ihn verwunderte. Als er sechs Jahre 
alt war, lehrte dieser ihn lesen. Er war ernst, aufmerksam, gut- 
herzig und pflichttreu, dabei von schicklichem Benehmen und 
kindesliebend.« So schreibt er selbst über sich. Acht Jahre alt, 
kam er zur Schule, wo er sich bald so auszeichnete, dafs sein 
Lehrer ihm das Lun-yü und das Shu-king gab, in denen er 
täglich tausend Worte las. Von früh auf ein Bücherwurm, kennt 
er schon als Knabe kein gröfseres Vergnügen als die auf dem 
Markte von Loh-yang ') ausgestellten Bücher zu betrachten, 
die zu kaufen ihm seine Mittel nicht erlaubten. Nach beendeten 
Studien beginnt er seine Laufbahn als Schulmeister, um sie als 
Unterpräfekt der Hauptstadt zu beschliefsen. Im Jahre 88, zehn 
Jahre vor seinem Tode, zieht er sich ins Privatleben zurück, tun 
ungestört seinen litterarischen Neigungen leben zu kQnnen. Zwar 
läfst ihm der Kaiser C h a n g - 1 i (76—89), dem der Ruhm seiner 
Gelehrsamkeit zu Ohren gekommen war, einen Posten anbieten, 



*) Loh-yang, westlich vom heutigen Ho-nan-f n in der Provinz 
Ho-nan gelegen, war unter der späteren H an -Dynastie die Haupt- 
stadt des Reiches. 

G rube, Geschichte der chinetitchen Litteratnr. 14 



— 210 — 

Wang Ch*ung aber schützt Krankheit vor, um das ehrenvolle 
Anerbieten ablehnen zu können. Von seinen zahlreichen Schriften 
ist nur eine umfangreiche, Lun-heng, d. h. »Kritische Er- 
wägungenc betitelte Sammlung von Abhandlungen über die ver- 
schiedensten Gegenstände auf uns gekommen. Schon die Titel 
der einzelnen Abhandlungen, wie: »Über das Glücke, »Über- 
treibungen desConfuciusc, »An Confucius gerichtete Fragenc, 
»Zur Kritik des Meng-tszß«^, »Über den Hinmielc, »Über die 
Sonnec, Ȇber Drachenc, Ȇber Tiger, Insekten und Ominac^ 
»Über den Tode , »Über Dämonenc , »Über Sparsamkeit bei 
Leichenbegängnissen c , »Über den Ahnenkulte , »über Opfere 
u. dgl. m. geben einen Begriff von der reichen Mannigfaltigkeit 
des Inhaltes, von dem bisher leider nur der geringste Teil durch 
Übersetzungen zugänglich gemacht worden ist^). Ein kritisch 
nüchterner, allem Mystizismus abgewandter Sinn und eine ge- 
schworene Feindschaft gegen jegliche Art von Aberglauben, auch 
gegen den Autoritätenglauben : das scheinen die hervorstechendsten 
Merkmale seiner geistigen Eigenart zu sein. 

In der Abhandlung über den Tod zieht Wang Ch'ung 
gegen den Glauben an ein persönliches Fortleben nach dem Tode 
zu Felde. Die Seele ist nach ihm durchaus von der Lebenskraft 
abhängig, die ihren Sitz im Blute hat. Wenn der Leib durch 
den Tod zerfällt, wird durch die Zersetzung des Blutes auch die 
in ihm befindliche Lebenskraft, und mit ihr die Seele, vernichtet« 
Vor der Geburt des Menschen bildet die Seele einen Teil des 
form- und intellektlosen ursprünglichen Odems. Ich vermute, 
dafs hierfür im Urtexte der Ausdruck K*i gebraucht ist, der in 
der philosophischen Terminologie der Chinesen unserem Begriffe 
der Kraft entspricht. Bei der Geburt gerinnt gleichsam ein ge- 
wisses Quantum dieses Odems und gelangt in diesem Zustande 

') Da mir das Lun-heng im Urtexte leider nicht zu Gebote 
steht, bin ich für das folgende auf zwei einschlägige Abhandlungen 
angewiesen gewesen. A. B. Hutchinson, The Critical Disquisitions 
of Wang Ch^ung (China Review VII und VIII) enthält die Über- 
setzung der Abhandlungen Wen-K^ung, • An Confucius gerichtete 
Fragen«, und Tsz'Sh*Meng, «Zur Kritik des Meng-tszä«, sowie 
der Autobiographie des WangCh^ung. A. Forke gibt in seinem 
Aufsatze: «Wang Ch'ung and Plato on Death and Immortality* 
(Joum. of the China Brauch of the Royal Asiatic Society, vol. XXXI, 
p. 1 ff.) einen Auszug aus der Abhandlung über den Tod. 



- 211 — 

in den menschlichen Leib, tun für die Dauer seiner Lebenszeit 
in ihm zu verbleiben und nach dem Tode wieder in seinen ur- 
sprünglichen Zustand zurückzukehren. Wenn es ein persönliches 
Fortleben dert von ihrer körperlichen Hülle befreiten Seele gäbe, 
dann müfsten, meint Wang Ch^ung, die Geister der Ver- 
storbenen ihr Dasein auf irgend eine Weise bekunden, was jedoch 
nicht geschehe. Bemerkenswert ist auch der Einwand, da£s, wer 
an die Unsterblichkeit der menschlichen Seele glaube, das Gleiche 
auch von der Tierseele annehmen müsse, da zwischen dem 
Menschen imd den übrigen lebenden Wesen ein fundamentaler 
Unterschied mcht bestehe. Ein bewulstes Fortleben der vom 
Körper getrennten Seele, fährt Wang Ch*ung fort, sei un- 
denkbar, da die geistigen Funktionen durchweg vom Körper ab- 
hängig seien. Sobald wichtige Organe des Körpers durch Krank- 
heit oder andere Ursachen geschädigt seien, werde auch die Seele 
dadurch beeinflufst: diese Erwägung nötige zum Schlüsse, dals 
der Tod des Körpers auch ein Aufhören der seelischen Funk- 
tionen zur Folge haben müsse. Wang Ch'ung vergleicht die 
Seele mit dem Feuer. Sei das Feuer erloschen, so könne die 
Asche nicht wieder zum Brennen gebracht werden : ebensowenig 
könne die Seele, nachdem der Leib vernichtet sei, wieder auf- 
leben, denn der Leib verhalte sich zur Seele, wie das Brenn- 
material zum Feuer*). 

Mehr jedoch als durch seine philosophischen Lehren hat sich 
Wang Ch^ung .durch die Stellung, die er Confucius und 
Meng-tsz 6 gegenüber einnahm, berühmt, oder, vielleicht richtiger 
ausgedrückt, berüchtigt gemacht. In den beiden Abhandlungen: 
»An Confucius gerichtete Fragenc und >Zur Kritik des Meng- 
tszgc geht er mit den beiden Weisen ziemlich schonungslos ins 
Gericht, indem er ihnen auf Schritt und Tritt Irrtümer und 
Widersprüche in ihren Lehren nachzuweisen sucht. Hier ein 
Beispiel für die Art, wie er dabei zu Werke geht. 

Es handelt sich um Lun-yü XII, 7: >Tsz6-kung fragte, 
durch welche Mittel man ein Staatswesen lenke« Der Meister 
sprach : ,Durch hinreichende Ernährung, hinreichende Wehrkraft 
und das Vertrauen des Volkes.' — Tszfe-kung sagte: ,Wenn 
man aber nicht umhin kann, auf eines davon zu verzichten, 



^) S. Forke, a. a. O., S. 6 ff. 

14 



- 212 — 

welches von den dreien wäre dann zuerst preiszugeben?* — ,Die 
Wehrkraft*, lautete die Antwort. — Tsz6-kung fuhr fort: 
,Und wenn man nicht umhin kann, auch auf eines von den beiden 
übrigen zu verzichten, was wäre dann zuerst preiszugeben?* — 
Der Meister sagte : ,Die Ernährung. Von alters her ist der Tod 
allen gemeinsam, ohne Vertrauen aber kann ein Volk nicht be- 
stehen.*c — Wang Ch'ung macht nun dagegen den Einwand: 
wenn ein Staat nicht in der Lage sei, das Volk mit hinreichender 
Nahrung zu versorgen und dieses Hunger leiden müsse, so werde 
es die Vorschriften der Schicklichkeit imbeachtet lassen; ohne 
Schicklichkeit sei aber Vertrauen nicht denkbar. In Zeiten der 
Not gingen selbst die elementarsten Gefühle der Eltern- und 
Kindesliebe verloren — wie könne da noch von Vertrauen die 
Rede sein? Als Gegenbeweis führt er dann folgende Stelle 
(Lun-yü XIII, 9) an: »Als der Meister nach Wei kam, hatte 
er den Yen Yu als Wagenlenker. Der Meister sagte: ,Wie 
zahlreich die Bevölkerung ist!* — ,Da sie bereits zahlreich ist,* 
fragte Yen Yu, ,was könnte noch für sie getan werden?* — 
,Man bereichere sie*, sagte er. — ,Und wenn sie reich ist,* fuhr 
Yen Yu fort, ,was könnte dann noch für sie getan werden?* — 
,Man unterweise sie*, lautete die Antwort, c — In diesem Falle gehe 
also die Bereicherung der Unterweisung voran ; nun komme aber 
doch hinreichende Ernährung und Wohlstand einerseits imd Ver- 
trauen und Unterweisung anderseits im Grunde auf dasselbe hin- 
aus. Die Auskunft, dieConfucius seinen beiden Schülern gebe, 
enthalte also einen Widerspruch. Was für eine Folgerichtigkeit 
sei nun in seinen Ansichten über die Staatslenkung ? ^) 

Wang Ch^ung übersieht bisweilen, dafs Confucius eben^ 
sozusagen, Gelegenheitsphilosoph war und sich in seinen Ant- 
worten nach der Persönlichkeit des Fragestellers und nach den 
begleitenden Nebenumständen zu richten pflegte, eine Eigentüm- 
lichkeit, aus der sich, wenn auch nicht alle, so doch manche 
scheinbare Widersprüche in seinen Äulserungen erklären lassen. 
Oft genug artet auch — das läfst sich gleichfalls nicht in Abrede 
stellen — Wang Ch'ungs Kritik in kleinliche Wortklauberei 
aus, aber das Bedeutsame seines Vorgehens liegt auch weniger 
in der Art und dem inneren Werte seiner Kritik, als in jenem 



») S. China Review VII, p. 172-173. 



^^ OrTHC ^J 

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— 213 — 

Vorgehen selbst. Dals er in einer Zeit, da bereits ein förmlicher 
Kultus mit dem Namen des Confucius getrieben und das 
jurare in verba magistri geradezu als eine Art Legitimation 
der Gesinnungstüchtigkeit angesehen wird, mit offenem Visier 
der allgemein anerkannten Autorität des Meisters entgegenzutreten 
wagt, beweist auf jeden Fall einen sittlichen Mut, der An- 
erkennung verdient. Sein Vorgehen hat denn auch, wie nicht 
anders zu erwarten war, weder Anklang noch Nachahmung ge- 
funden. 

Unter den sonstigen litterarischen Denkmälern der Han- 
Periode ragt als ein mit Recht gepriesenes Muster klassischen 
Brief Stiles des Li Ling Schreiben an seinen Freund Su Wu 
hervor, das durch seinen hohen dichterischen Schwung und Glanz 
des Ausdruckes eine Art Mittelstellung zwischen der prosaischen 
und poetischen Litteratur jener Zeit einnimmt. Verfasser des 
Briefes ist der bereits oben erwähnte Li Ling*), der nach seinem 
kriegerischen Milserfolge aus Furcht vor dem Zorne des Kaisers 
im Lande der Hiung-nu wohnen blieb und daselbst auch als 
Schwiegersohn des Khans seine Tage beschlols. Sein Freund 
Su Wu aber war mit der Mission beauftragt worden, die in 
chinesischer Ge^ngenschaft befindlichen Gesandtender Hiung-nu 
in ihre Heimat zurückzugeleiten. Hier geriet er jedoch selbst in 
die Gefangenschaft, aus der er erst nach neunzehn Jahren befreit 
wurde. Wieder daheim, richtete er ein Schreiben an Li Ling, 
in welchem er auch ihn zur Rückkehr zu bewegen sucht. Als 
Antwort darauf erhielt er den folgenden Brief: 

> Verehrter Freund Ts z 6 - k*i n g ! ■) Glücklich bist du fürwahr, 
der du mit Eifer deine edlen Eigenschaften zur Geltung gebracht, 
dir in guten Zeiten einen Namen gemacht und deinen Ruhm 
allerorten verbreitet hast! Weit weg, an ein fremdes Land ge- 
bunden zu sein, gehört zu den Dingen, die schon die Alten be- 
klagten. Wie sollte ich, dessen Gedanken in die Feme gerichtet 
sind, nicht vor Sehnsucht vergehen? Dals du mich nicht auf- 
gegeben, sondern mich aus der Feme eines Antwortschreibens 
gewürdigt hast, in dem du mich mit Eifer zu trösten und zu er- 
mahnen suchst, ist mehr als ein Bruder hätte tun können. 



') S. oben S. 189 E 

■) Ts2Ö-k<ing war der Beiname des Su Wu. 



— 214 — 

Aber wie sollte ich trotz meiner Einfältigkeit nicht betrübt 
sein ? Seit meiner Übergabe bis auf den heutigen Tag sitze ich, 
aller Hilfsmittel beraubt , einsam da, in Trübsal versunken, und 
den ganzen Tag sehe ich nichts als fremde Gestalten. Durch 
lederne Handschuhe und ein Filzzelt schütze ich mich gegen 
Wind und Regen, mit ranzigem Fleisch und Milchbranntwein 
stille ich meinen Hunger und Durst, Verlangt mich nach fröh- 
licher Unterhaltung, so finde ich niemand, mit dem ich mich er- 
heitern könnte. Das ganze Land der Hu^)- Barbaren ist grau 
von Eis, in den Grenzgebieten ist der Erdboden von Frost ge- 
borsten, und ich höre nichts als den schrillpfeifenden Ton des 
trübseligen Windes. Im neunten Herbstmonat ist es so kalt, dafs 
jenseit der Grenze die Gräser verdorren. Nachts finde ich keinen 
Schlaf und höre geneigten Ohres, wie in der Feme die Barbaren 
ihre Pfeifen blasen, die weidenden Pferde klagend wiehern und 
sich zu Haufen sammeln, bis endlich von allen vier Seiten her 
Lärm ertönt. Und wenn ich am frühen Morgen hinhorche, ent- 
strömen mir unwillkürlich die Tränen. Ach, Tszfe-k'ing! wie 
sollte denn mein Herz beschaffen sein, dafs ich anders als traurig 
sein könnte? Seit ich von dir getrennt bin, fühle ich mich noch 
hilfloser. Ich denke an meine alte Mutter, die, hochbejahrt, hin- 
gerichtet wurde, an mein Weib und meine Kinder, die schuldlos 
ins Verderben gerieten'). Ich habe meinem Lande mit Undank 
gelohnt und werde nun von der Mitwelt bedauert. Du bist ruhm- 
gekrönt heimgekehrt, während ich mit Schande bedeckt zurück- 
blieb. Das ist Schicksal, — was ist dabei zu tun! Aus ge- 
sitteten und rechtschaffenen Verhältnissen hervorgegangen, bin 
ich in eine unwissende Umgebung geraten. Dafs ich, den Wohl- 
taten meines Fürsten und meiner Eltern entsagend, mein Leben 
dauernd unter den Barbaren hinbringen mufs, ist wohl traurig! 
Dafs aber an die Stelle der Nachkommen meiner Vorfahren ein 
barbarisches Geschlecht treten wird'), ist für mich noch be- 



^) Hu ist die allgemeine Bezeichnung der Barbarenstämme, zu 
denen auch die Hiung-nu gehörten. 

*) Auf die Kunde hin, dafs Li Ling die Truppen des Khans der 
Hiung-nu ausbilde, hatte der Kaiser seine Mutter, sein Weib und 
seine Kinder hinrichten lassen. 

') Damit meint er die Nachkommenschaft aus seiner Ehe mit der 
Tochter des Fürsten der Hiung-nu. 



— 215 — 

klagenswerter. Die Gröfse meines Verdienstes und die Gering- 
fügigkeit meines Vergehens sind keiner aufklärenden Unter- 
suchung gewürdigt worden, und den geheimen Vorsatz, mit dem 
ich mich trug, hat man verschmäht. So oft ich daran denke, 
m($chte ich meines Lebens vergessen ! Es würde mir nicht schwer 
fallen, mir das Herz zu durchbohren, um mich zu rechtfertigen, 
oder mir den Hals abzuschneiden, um meine Absicht zu bekunden. 
Aber wenn ich berücksichtige, dafs der Staat mich schon abgetan 
hat, so würde es nutzlos sein, wollte ich meinem Leben ein Ende 
machen; vielmehr würde ich die Schande dadurch nur noch 
vergröfsem. Daher zwinge ich mich jedesmal wieder, den 
Schimpf zu ertragen und mein Leben fortzuführen, so gut es 
eben geht. Leute aus meiner Umgebung suchen mich zwar 
durch Vergnügungen, die mein Herz unberührt lassen, zu trösten 
und aufzurichten, aber die Freuden der Fremde machen mich 
nur traurig und vermehren meinen Kummer. Ach, Tsz6-k* ing! 
Leute, die einander kennen, legen Wert darauf, dals einer des 
anderen Herz kenne! — Mein voriges Schreiben war eilig ge- 
halten und erschöpfte nicht, was mein Inneres erfüllte-, daher 
will ich es dir noch einmal in Kürze sagen. 

Der verstorbene Kaiser hatte mir fünftausend Mann Fufsvolk 
mitgegeben, mit denen ich in entfernten Gebieten Krieg führen 
sollte. Fünf Heerführer hatten den Weg verloren, ich allein er- 
reichte den Kriegsschauplatz. Mit Proviant für einen Marsch 
von zehntausend Li versehen, überschritt ich an der Spitze meines 
Fufsvolkes die Grenze des Reiches und betrat das Gebiet der 
Hu-Barbaren. Mit einer Schar von fünftausend Mann stand ich 
einem Heere von hunderttausend gegenüber. Meine ermatteten 
Truppen anfeuernd, trat ich einer Reiterei mit frischgezäumten 
Rossen entgegen. Dennoch tötete ich ihren Befehlshaber und 
bemächtigte mich ihrer Fahnen. Ich verfolgte sie nordwärts, wie 
Staub fegte ich ihre Spur weg und machte ihre heldenmütigen 
Führer nieder. Meine Leute aber hatte ich so weit gebracht, 
dals sie auf den Tod blickten, als handelte sich's um die Heim- 
kehr. In meiner Unfähigkeit hoffte ich auf ein hohes Amt und 
glaubte damals ein Verdienst errungen zu haben, das seines- 
gleichen suchte. 

Nachdem die Hiung-nu geschlagen waren, machten sie 
jedoch im ganzen Reiche das Heer mobil und wählten die tüch- 



— 216 — 

tigsten Truppen aus, die über hunderttausend Mann stark waren. 
Der Shan-yü^) erschien auf dem Kampf platze und schlols uns 
persönlich von allen Seiten ein. War schon die Stärke der ein- 
heimischen Truppen und der unseren eine ungleiche, so war der 
Abstand zwischen Reiterei und Fufsvolk erst recht ein gewaltiger. 
Aufs neue kämpften die erschöpften Truppen, wobei sie Einer 
gegen Tausend standen. Dennoch überwanden sie die Schmerzen 
ihrer Wunden und kämpften mit Todesverachtung um die Wette, 
Tote und Verwundete deckten das Feld, der übriggebliebenen 
waren keine hundert, und selbst diese waren den Leiden nicht mehr 
gewachsen und nicht im stände, Schild und Speer zu halten. Als 
ich jedoch, die Arme erhebend, ihnen zurief, da richteten sich 
alle auf, Verwundete und Kranke, und erhoben ihre Schwerter 
gegen den Feind, so dafs die Pferde der Hu -Barbaren in wilder 
Flucht dahinrasten. Die Waffen waren hin, die Pfeile auf- 
gebraucht, aber dennoch suchten die Leute, unbewaffnet wie sie 
waren, einander durch gegenseitige Zurufe zuvorzukommen. Aber 
gerade um diese Zeit lielsen Himmel und Erde ihren Zorn über 
mich aus. Um meinetwillen tranken die Krieger Blut. Der 
Shan-yü, überzeugt, dafs er sich meiner doch nicht mehr be- 
mächtigen könne, wollte sich gerade zurückziehen, als ihn ein 
Verräter über unsere Lage unterrichtete. Da nahm er den 
Kampf wieder auf, und nur so ist es gekommen, dafs ich ihm 
nicht zu entrinnen vermochte. 

Als vor Zeiten der Kaiser Kao-ti*) mit einem Heere von 
dreihunderttausend Mann in P*ing-ch*eng eingeschlossen war, 
da hatte er tapfere Feldherren und ratskundige Minister in Hülle 
und Fülle: nichtsdestoweniger hatte er sieben Tage lang nichts 
zu essen und vermochte nur mit knapper Not zu entkonmien. 
Um wieviel weniger konnte das ein Mann wie ich zuwegebringen? 
Aber die Leiter der öffentlichen Angelegenheiten reden wider mich 
und tadeln mich, dafs ich nicht gestorben bin. Dafs ich nicht 
starb, war also ein Vergehen! 

Sieh mich an, Tszg-k'ing! Bin ich ein Mann, der darauf 
bedacht ist, sein Leben zu sichern und dem es leid wäre, zu 
sterben? Wollte ich etwa lieber Fürst und Eltern den Rücken 



Shan-yü ist die Bezeichnung des Fürsten der Hiung-nu. 
') Der erste Kaiser der H an- Dynastie, regierte 206—195 v.Chr. 



— 217 — 

kehren und Weib und Kinder im Stiche lassen^ um daraus Vorteil zu 
ziehen? Dafe ich nicht starb, hatte seinen Grund. Ich wollte, 
wie ich in meinem vorigen Briefe sagte, dem Landesherrn meine 
Dankbarkeit bekunden. Eine Pflicht zu erfüllen ist mehr wert 
als um nichts und wieder nichts sein Leben zu lassen, empfangene 
Wohltaten zu vergelten mehr wert als seinen Namen auszulöschen. 
Vor alters hat Fan Li den Schimpf von Koei-ki nicht mit dem 
Tode gehülst, noch hat Ts*ao Moh um der Schande willen, 
zweimal geschlagen worden zu sein, den Tod zu erleiden 
gehabt: und schlielslich hat jener den Kou-tsien gerächt und 
dieser Lus Schande gesühnt. Das war es, wonach ich mich im 
Grunde meines Herzens sehnte. Wie hätte ich ahnen sollen, dals 
ich, bevor noch mein Vorsatz feststand, getadelt und bevor mein 
Plan ausgeführt ward, an meinem eigenen Fleisch und Blut ge- 
straft*) werden würde? Das ist es, weshalb ich, zum Himmel 
emporblickend, mir die Brust schlage und blutige Tränen weine 1 

Du sagst, mein Freund, da£s das Haus Hau gegen seine 
verdienten Untertanen nicht schäbig verfahre. Du bist selbst ein 
Würdenträger des Hauses Han, — wie dürftest du anders reden! 
Aber ehedem sind Siao und Fan gefesselt, Han und P*eng 
gevierteilt, Tsch'ao Ts*oh enthauptet, Chou und Wei ver- 
urteilt worden, und andere tüchtige Männer, die sich durch 
Unterstützung ihres Fürsten ein Verdienst errangen, wie Kia I 
und Ya-fu, beides in Wahrheit weltbekannte Talente, welche 
die Fähigkeiten von Feldherren und Staatsministem in sich ver- 
einigten, mulsten den Schimpf erleiden, durch die Verleumdungen 
niedrig gesinnter Menschen zu Grunde gerichtet zu werden, so 
dafs schlielslich infolge falscher Beurteilung ihre angeborenen 
Talente und ihre Tüchtigkeit nicht zur Geltung kommen konnten. 
Wer möchte angesichts des hochherzigen Benehmens dieser beiden 
Männer ihr Los nicht beklagen? — Mein Grofsvater, dessen Ver- 
dienste und Kriegskunst Himmel und Erde erfüllten, der durch 
seine Redlichkeit und Tapferkeit das ganze Heer tiberragte, 
mulste sich, blols weil er den Absichten eines hervorragenden 
Würdenträgers nicht entsprochen hatte, fem von der Heimat 
den Hals abschneiden. Das ist es, weshalb verdiente Untertanen 



^) Seine Mutter und Gattio waren hingerichtet worden. 



— 218 — 

und rechtschaffene Männer, auf ihren Speer gestützt, tief auf- 
seufzen! Wie kannst du das >nicht schäbige nennen? 

Und auch du, mein Freund, als du auf einem einzelnen Wagen 
als Abgesandter hinausgeschickt, auf den Feind stiefsest, der über 
hunderttausend Schlachtwagen gebot, fandest Zeitläufte, die dir 
nicht günstig waren. Du warst nahe daran, dich in dein Schwert 
zu stürzen und, um nur den Unbilden zu entgehen, in den nörd- 
lichen Gefilden dein Leben zu lassen ! In der Blüte deiner Jahre 
hinausgesandt, bist du weilshaarig heimgekehrt. Deine bejahrte 
Mutter war inzwischen aus dem Leben geschieden und deine 
noch lebende Gemahlin einem anderen Manne gefolgt. Der- 
gleichen wird selten in der Welt vernommen und ist weder im 
Altertum noch in der Gegenwart vorgekommen. Selbst die 
Barbaren priesen deine Treue, — um wievielmehr hätte man 
solches vom Gebieter des Reiches erwarten dürfen! Ich meine, 
dir hätte eine Handvoll in Hundszahn eingewickelte Erde ^) und ein 
Gebiet von tausend Schlachtwagen als Lohn gebührt: wie ich höre, 
sind dir nur zwei Millionen und der Posten eines Statthalters in 
einem der tributpflichtigen Gebiete verliehen worden, während 
Würdenträger, die nur den Verdiensten und Fähigkeiten anderer 
hindernd im Wege stehen, zu Lehensfürsten über zehntausend 
Familien erhoben, und habsüchtige Speichellecker unter den Ver- 
wandten des Herrscherhauses sämtlich zu Ministem des kaiser- 
lichen Hofes gemacht werden. Wenn es schon mit dir so steht, 
was habe ich da zu hoffen? Zudem hat das Haus Han mich 
reichlich dafür bestraft, dals ich nicht gestorben bin, während es 
deine Pflichttreue kärglich belohnt hat. Einen Untertan, der 
solches in der Feme veminunt, bewegen zu wollen, dafs er, dem 
Befehle folgend, herbeieile, ist in der Tat ein schwieriges Unter- 
nehmen! Daher empfinde ich, so oft ich daran denke, keine 
Reue. Wenn ich mich auch undankbar erwiesen habe, so hat 
doch auch das Haus Han unrecht an mir gehandelt. Die Alten 
hatten ein Wort: ,Auch ohne ein Held zu sein, betrachtet der 
Treue den Tod wie eine Heimkehr.' Ich kann wahrhaftig ruhig 
sein, aber wird auch der Fürst jemals gern daran zurückdenken 



Bei Belehnungen wurde dem also Ausgezeichneten eine Hand- 
voll Erde, in Hundszahn eingewickelt, übersandt, als Symbol des ihm 
verliehenen Landes. 



I. 



— 219 — 

können? Wenn ein braver Mann, solange er lebt, nicht dazu 
kommt, sich einen Namen zu machen und nach seinem Tode 
unter den Barbaren begraben wird, wer wird es dann noch über 
sich gewinnen, fuIsfäUig sich dem Throne zu nahen, damit Richter, 
deren Schreibstifte Schwertern gleichen, ihr willkürliches Spiel 
mit ihm treiben? Ich wollte, mein Freund, du schautest nicht 
mehr nach mir aus! 

Ach, Tsz6-k*ing! Was soll ich noch reden? Tausend 
Meilen trennen uns voneinander, und unsere Wege sind ver- 
schieden. Lebend gehöre ich einer anderen Welt an, und im 
Tode wird mein Geist in fremden Regionen hausen. Gleichviel 
ob ich lebe oder sterbe, sage ich dir für immer Lebewohl ! Habe 
die Güte, den alten Freunden zu danken und strenge dich an im 
Dienste des weisen Fürsten ! — Deinem Sohne ^) fehlt nichts, mache 
dir seinethalben keine Sorgen. Schone dich nach Kräften, und 
wenn sich eine Gelegenheit nach Norden bietet, so erfreue mich 
wieder durch eine Nachricht. Es grüfst dich Li Ling.c 

Die chinesische Litteratur ist ziemlich reich an Sanunlungen 
klassischer Stilmuster nach Art unserer Chrestomathien, und es 
zeugt sicherlich von feinem litterarischen Verständnis, dals in 
diesen Sammelwerken dem Briefstil eine besonders hervorragende 
Stelle eingeräumt wird. Besitzt doch gerade diese Litteratur- 
gattung, eben weil sie von Haus aus nicht für die breite Öffent- 
lichkeit bestimmt ist und dadurch die Möglichkeit eines freien 
Sichgehenlassens bietet, intime Reize wie keine andere. Vom 
Roman abgesehen, der in China erst späteren Ursprungs ist, ge- 
währt keine andere Form schriftlicher Mitteilung ein so anschau- 
liches Bild vom inneren und äufseren Leben der Zeit wie die 
Brieflitteratur, und manche jener Briefe, zu denen unstreitig auch 
der oben mitgeteilte gehört, lassen obendrein ein ungleich tieferes 
und feineres poetisches Empfinden erkennen als die an bestimmte 
Regeln gebundene und dadurch unfreie Kunstdichtung. Das 
gilt insonderheit vom Zeitalter der Han, das, obwohl sich die 
Herrscher dieser Dynastie die Pflege der Dichtkunst nach Kräften 
angelegen sein lielsen — vielleicht auch gerade, weil sie es 
taten — , nur wenige poetische Erzeugnisse von bleibendem 
Werte aufzuweisen hat. 



^) Er meint einen Sohn, den Su Wu mit einem Hiung-nu- 
Weibe gezeugt hatte. 



\ 



— 220 — 

III. Die Dichtung im Zeitalter der Han« 

Es lassen sich in der poetischen Litteratur jener Zeit zwei 
ihrem Inhalte nach gesonderte Gattungen unterscheiden: eine 
sakrale Dichtung ^ die ausschliefslich auf den religiösen Kultus 
beschränkt blieb , und neben dieser eine profane Dichtung teils 
didaktisch-beschreibenden, teils Ijnischen Inhalts. 

Der Kaiser Wu-ti wandte sich, seiner jegliche Art von 
Aberglauben begünstigenden Geistesrichtung entsprechend, mit be- 
sonderer Vorliebe einer Reform der gottesdienstlichen Bräuche 
zu, die er mit neuem Glänze zu umgeben trachtete. Mit diesen 
Bestrebungen stand die Gründung einer besonderen MusikbehOrde 
in Zusammenhang, der die Aufgabe zuerteilt wurde, Hymnen, 
die bei den hauptsächlichsten Opferzeremonien gesungen werden 
sollten, zu dichten und in Musik zu setzen. Zu den tätigsten 
Mitgliedern jener Behörde gehörten die Dichter Sz6-ma Siang- 
ju und Li Yen-nien, denen wohl auch die sechsunddreilsig 
in der Geschichte der älteren Han überlieferten Hymnen, zum 
Teil wenigstens, zuzuschreiben sind. Ich versuche, im folgenden 
möglichst getreu den Wortlaut der Hymne wiederzugeben, die 
am Tage der Wintersonnenwende bei der nächtlichen, im Süd- 
bezirke der Hauptstadt stattfindenden Feier des Himmelsopfers 
gesungen wurde: 

Gewählt sind Jahreszeit und Tag: 

Erwartend blicken wir empor. 

Der Duft von siedendem Fett und Beifufs, 

Er dringt nach den vier Winden. 

Offen steh'n die Himmelspforten, 

Und der Gottheit Banner 

Senden Gunst und Gnade nieder, 

Reich an Glück und Wohltot. 

Siehe, wie der Gottheit Wagen 

Dunkle Wolken um sich sammelt I 

Von fliegenden Drachen gezogen, 

Mit Federn und Fahnenschmuck, 

Steigt die Gottheit nieder, 

Wie auf Windesrossen. 

Zur Linken den blauen Drachen, 

Zur Rechten den weifsen Tiger, 

Kommt die Gottheit heran: 

Wunderbar ist ihr Nahen! 

Regen sendet sie voraus, 

Der sich ringsumher verbreitet: 



— 221 - 

Also ist der Gottheit Nahen. 

Glückspendend umhtLllt sie alles, 

Und wie mit Schauer füllend. 

Bewegt sie unser Herz. 

Sobald die Gottheit Platz genommen. 

Ertönt das klingende Spiel. 

Bis Morgengrauen währt die Freude, 

Bis sie befriedigt ist. 

Mit kleingehömten Opfertieren, 

Mit Schüsseln duft'ger Hirse, 

Mit zimmtgewürztem Wein 

Bewirten wir der Götter Schar. 

Die Gottheit weilt, wir singen 

Der Jahreszeiten Lieder. 

Blickt um euch her und sehet 

Das funkelnde Gestein des Saals, 

Der schönen Frauen Schar — 

Welch reiche, wunderbare Pracht I 

Mit blütenweifsen Wangen, 

Wie dicht gedrängt sie sind! 

In herrlicher Gewänder Zier, 

Die Stoffe leicht wie dünner Nebel, 

Aus feinem Linnen, zarter Seide, 

Mit Perlen und Juwelenschmuck, 

Am Busen duft'ge Kräuter 

Und Orchideensträufse! — 

Ergriffen und voll ernster Würde 

Weih'n wir den Glückwunschbecher. 

Schon Sz6-ma-Ts^ ien weist darauf hin, dass diese Dichtungen 
erst dann verstanden werden könnten, wenn Männer, die in den 
fünf King wohlbewandert seien, sich bei ihrer Auslegung gegen- 
seitig unterstützten. Also eine Poesie, die der greisen Menge 
unverständlich bleiben mulste! In der Tat bietet die altertümliche 
Sprache, verbunden mit der lapidaren Kürze des Ausdrucks — 
die hier mitgeteilte Hymne besteht im Urtext aus Versen von 
je drei Worten, resp. Silben! — dem Verständnis nicht geringe 
Schwierigkeiten. Aber die absichtliche Altertümelei im sprach- 
lichen Ausdrucke vermag doch nicht über den verhältnismäfsig 
modernen Ursprung dieser Dichtungen hinwegzutäuschen: man 
braucht sie nur mit den alten Opfergesängen des Shi-king zu 
vergleichen. Wie so ganz anders in Ton und Inhalt ist z. B. 
das Lied, das beim Opfer zu Ehren des Himmels und des 
Königs Wen-wang gesungen wurde (Shi-king, IV, I, VII): 



\ 



- 222 - 

Ich brachte dar, ich opferte — 

Es war ein Widder, war ein Stier — 

Der Himmel sei ihm gnädiglich geneigt! 

Ich halte, füge, richte mich nach König Wens Geboten, 
Dem Reiche täglich Ruh' erhaltend. 
Der Segenbringer König Wen, 
Er hat es gnädig angenommen. 

Ich aber will bei Tag und Nacht 
Des Himmels Majestät verehren, 
Dafs ich sie so bewahren mag. 

Dort das unverkennbare Bestreben, durch den gesuchten 
Schmuck poetischer Bilder eine gewollte Stimmung ktinstlich 
hervorzubringen, — hier der ungekünstelt naive Ausdruck schlichter 
Frömmigkeit. Gegenüber der sakralen befand sich die profane 
Poesie insofern in einer günstigeren Lage, als der Dichter hier 
in der Wahl seiner Stoffe an keine Vorschriften gebunden war 
und auch die Form mehr von seinem Belieben abhing , als es 
dort der Fall sein konnte; es ist daher nicht zu verwundem, 
wenn auf diesem Gebiete nicht nur mehr, sondern auch Besseres 
geleistet wurde als auf jenem ^). In wie hohem Ansehen aber in 
damaliger Zeit die Dichtkunst stand, wird am besten durch die 
Tatsache bewiesen, dafs die Kaiser Kao-tsu imd Wu-ti neben 
dem kriegerischen Lorbeer auch den des Dichters nicht ver- 
schmäht haben. Unter den Dichtungen des Kaisers Wu-ti hat 
sogar die unter dem Titel »der Herbstwind c bekannte kleine 
Elegie eme gewisse Berühmtheit erlangt und mag hier daher 
-einen Platz finden: 

Vom Herbstwind fortgetrieben. 

Die weifsen Wolken flieh'n. 
Es welken Bäume und Sträucher; 

Die Gänse zum Süden zieh'n. 

Nur Orchideen noch prangen 

Und Chrysanthemen blüh'n. 
Ich denke an meine Holde, 

Sie kommt mir nicht aus dem Sinn. 



^) Denen, die sich mit der älteren chinesischen Lyrik bekannt 
machen wollen, sei das kleine Buch: Blüten chinesischer Dichtung 
aus der Zeit der Han- und Sechs-Dynastie, zweites Jahrhundert 
V. Chr. bis zum sechsten Jahrhundert n. Chr., aus dem Chinesischen 
metrisch übersetzt von A. Forke, Magdeburg 1899, dem auch die im 
folgenden mitgeteilten Proben entnommen sind, empfohlen. 



— 223 - 

Im Hochdeckschiffe fahr' ich 

Den Fen entlang, den schnellen. 
Es treibt inmitten des Stromes, 

Aufwühlend die weifsen Wellen. 

Zu Flöten und Paukenklängen 

Ein Ruderlied erschallt. 
Doch stärker als all' diese Freuden 

Ist meines Schmerzes Gewalt, 
Wie lang' bleibt Kraft und Jugend? 

Wie bald, so sind wir alt! 

Die profanen Dichtungen der H an- Zeit gehören, wie ge- 
sagt, teils der didaktisch-beschreibenden, teils der lyrischen Gat- 
tung an*). Als Vertreter der erstgenannten Art hat sich u. a. 
der bereits als philosophischer Schriftsteller erwähnte Yang 
Hiung hervorgetan. In einem längeren Gedichte bemüht er 
sich, den Lehrgehalt des Yih-king in ein poetisches Gewand zu 
kleiden, während seine Schilderung eines kaiserlichen Jagd- 
zuges durch den Aufwand an phantastischen Bildern vielfach an 
das Li-sao erinnert. Ähnlich wie dort K'iüh Yüan wird 
hier der Kaiser von den Göttern des Windes, des Regens und 
der Wolken begleitet, nur dafs die Szene nicht wie dort in die 
himmlischen Regionen verlegt wird. Dafür bietet jedoch die 
Schildenmg der Jagd, auf der Elefanten und Nashome, 
Affen und Leoparden, Eber und Hirsche erlegt werden, immer- 
hin noch des Abenteuerlichen genug, Nüchterner und, ihrem 
Berufe entsprechend, mehr der historischen Betrachtung zugewandt 
sind Pan Piao (3 — 54) und dessen Sohn Pan Ku (gest. im Jahre 92). 
Zwei berühmte umfangreiche Dichtungen des letztgenannten, 
welche die Paläste der westlichen und östlichen Han- Dynastie 
zum Gegenstande haben, enthalten eine so detaillierte Schilderung 
der damaligen Residenzstädte Ch'ang-ngan und Loh-yang, 
dals sie geradezu als archäologisches Quellenmaterial betrachtet 
werden können. Auch Pan Kus Schwester Pan] Chao (meist 
nach dem Namen ihres Gatten Ts'ao ta-kia genannt), die nach dem 
Tode ihres Bruders dessen Geschichtswerk vollendete, hat aulser 
emer Niü-kiai, d. h. »Ratschläge für Frauen c betitelten Samm- 



*) Vgl. zum folgenden: J. Edkins, On the Poets of China during 
the Period of the Contending States and of the Han Dynasty, Joum. 
of the Peking Oriental Society, vol. III, p. 201 ff. 



— 224 - 

lung moralischer Ermahnungen eine Anzahl Gedichte didaktischen 
Inhalts verfafst. AlsLjrriker stehen Sz6-ma Siang-ju (gest. 126 
V. Chr.) und Mei Sheng (gest. 140 v. Chr.) im Vordergrunde. 
Mei Sheng, der bedeutendere von beiden, hat die seither so 
beliebten fünf silbigen oder, wie wir sagen würden, fünffülsigen 
Verse in Aufnahme gebracht, die seither in der lyrischen Dichtung 
der Chinesen besonders bevorzugt werden. In ihrer frischen Natür- 
lichkeit machen seine Lieder bisweilen den Eindruck echter 
Volkslieder. Die folgenden von Liebessehnsucht erfüllten Verse 
liefern ein treffliches Beispiel dieser Art: 

Im warmen Frühlingssonnenschein 
Erblüh'n die Orchideen, 
Die, wenn der Winter bricht herein. 
Noch voll in Blüte stehen. 

Vom Frühling bis zur Winterszeit, 
Alltäglich, jede Stunde, 
Spriefst auch in mir mein altes Leid, 
Brennt meine Herzenswunde. 

Mir ist's, als ob am Himmelszelt 
Mein Lieb auf Wolken stände, 
Und eine ganze weite Welt 
Sich zwischen uns befände. 

Ich wandele im Mondenschein, 
Im Schatten der Zypressen, 
Und unter Seufzern denk' ich dein, 
Die ich nicht kann vergessen. 

Es mag wohl meine Herzensqual 
Nicht jedermann verstehen, 
Mir will in dem Gedankenschwall 
Schier der Verstand vergehen. 

Dennoch scheint unter den Dichtem der Han-Zeit die Palme 
zwei Frauen zu gebühren. Die eine von ihnen ist die Prinzessin 
Si-kiün, die vom Kaiser Wu-ti um das Jahr HO v. Chr. 
dem Fürsten derWu-sun zum Lohne dafür, dafs er ihm gegen 
die Hiung-nu beigestanden hatte, zum Weibe gegeben worden 
war. Die Wu-sun waren ein im Ili-Tale ansässiger Türk- 
stamm. Um sie über ihr hartes Los zu trösten, vermählte sie 
der bereits hochbetagte Gatte in der Folge seinem Enkel, dem 
sie mehrere Kinder gebar. Im fernen, fremden Lande angelangt^ 



— 225 — 

gab sie ihrer Sehnsucht in einem Liede Ausdruck, das zu den 
besten Erzeugnissen der chinesischen Lyrik gehört. 

Mein Geschlecht hat mich 1 Meine Speise ist 



Ach! vermählt, 
Mich geschickt weit, weit 
In die Welt 

In dem fernen Land 

Der Wu-sun 
Ach! des Königs Weib 

Bin ich nun. 

Ach! in einem Zelt 

Wohn' ich jetzt. 
Und die Haaswand Filz 

Mir ersetzt. 



Fleisch allein, 
Kumys schenkt dazu 
Man mir ein. 

Ach! es brennt mein Herz, 

Seit ich hier, 
Nur der Heimat denkt's 

Für und für. 

Gelber Kranich sein 

Möcht' ich gleich. 
Flog' dann schnell zurück 

In mein Reich. 



Unwillkürlich erinnert die letzte Strophe an unser »Ach, wenn 
ich ein Vöglein wär'c . — Die andere der beiden Dichterinnen ist 
Pan Tsieh-yti, eine Grolstante des Pan Ku. Nachdem sie 
lange Jahre hindurch die erste Geliebte des Kaisers Ch* eng- ti 
(32 — 7 V. Chr.) gewesen war, wurde sie schlielslich durch die 
Tänzerin Chao, die wegen ihrer leichten Grazie den Beinamen 
Fei-yen, »die fliegende Schwalbet , erhalten hatte, in der Gunst 
des Kaisers verdrängt. Ehe sie sich in die Einsamkeit zurück- 
zog, sandte sie dem Kaiser einen Fächer mit einem darauf- 
geschriebenen Widmtmgsgedicht, in welchem sie sich mit einem 
Fächer vergleicht, der im Herbste in den Kasten geworfen wird. 
Der hübsche Einfall wird in ebenso anmutige Worte gekleidet: 

Aus einem Seidenstücke zart. 
Wie Schnee und Reif so weifs, 
Der Fächer hier geschnitten ward, 
Rund wie des Vollmonds Kreis. 

Im Ärmel und im Busen auch 
Mein Herr ihn mit sich führt. 
Es weht ihn an ein kühler Hauch, 
Wenn seine Hand ihn rührt. 

Doch acht schon kommt die^ Sonnenwend', 
Ein frischer Herbstwind weht. 
Der Sommer ist nunmehr zu End\ 
Die Sonnenglut vergeht. 

Grobe, Getchicbte der cbinetitcbeii Litteratnr. 15 



— 226 — 

Den armen Fächer falst mein Herr, 
Wirft in den Kasten ihn, 
Denn er hat seine Gunst nicht mehr, 
Und seine Zeit ist hin. 

Das Gedicht erfreut sich einer so grolsen Popularität, dals 
der Ausdruck: ts^iu-hou-shan, d. h. »Spätherbstfächer < sich 
in der Bedeutung einer im Stiche gelassenen Frau im Sprach- 
gebrauche eingebürgert hat 

Aufser den oben angeführten und noch manchen anderen 
werden, wie bei dieser Gelegenheit erwähnt sein mag, auch Li 
Ling imd sein Freund Su Wu (s. oben, S. 213) unter den 
Dichtem im Zeitalter der Han erwähnt. 



Eine Begebenheit von grölster Tragweite, die zeitlich in die 
Regierung der Han fällt, die Einführung des Buddhismus in 
China, ist bisher mit Stillschweigen übergangen worden. Da 
sich jedoch die Einwirkung der buddhistischen Anschauungswelt 
auf das Geistesleben und die Litteratur Chinas erst im Laufe 
der nächstfolgenden Jahrhunderte bemerkbar machte, erschien es 
im Interesse des inneren Zusammenhanges der Dinge zweck- 
mälsiger, das mehr äulserliche Moment der zeitlichen Aufeinander- 
folge zurücktreten zu lassen und die Behandlung dieses Gegen- 
standes dem nächstfolgenden Kapitel vorzubehalten. 



SIEBENTES KAPITEL. 

Vom Sturz der Han-Dynastie bis zur Herrschaft 

der Tang (220—618). 



I. Der Buddhismus und sein Einflufs auf die Kultur und Litteratur 
Chinas. Die Reiseberichte der buddhistischen Pilger. 

Mit dem Buddhismus tritt uns zum erstenmal ein fremdes 
Element entgegen, dem es gelingt, in die nach aulsen hin streng 
abgeschlossene und allem Fremden grundsätzlich abgeneigte 
chinesische Kulturwelt einzudringen, sich in ihr einzubürgern 
und bis zu einem gewissen Grade mit ihr zu verschmelzen. Um 
jedoch die erstaunliche Ausbreitung des Buddhismus in China 
zu verstehen, muls man einerseits wissen, in welcher Gestalt er 
dort eingeführt wurde und wie er sich zu den ihm bis dahin 
fremden Anschauungen, auf die er einwirken wollte, zu stellen 
wuIste; anderseits aber ist es auch nötig, den Ackerboden zu 
kennen, der bestimmt war, die neue Saat aufzunehmen. 

Dals der Buddhismus nicht mit einem Schlage, sondern nur 
langsam und wohl kaum vor dem vierten Jahrhundert nach Chr. 
in China einigermafsen heimisch zu werden vermochte, ist be- 
greiflich genug: laufen doch seine Lehren allem, was den Chinesen 
zum Chinesen macht, schnurstracks zuwider. Die sprichwörtliche 
Geschäftigkeit und der rastlose Gewerbfleifs des Chinesen und 
der beschauliche Quietismus der Jünger Buddhas sind Gegensätze, 
die einander von vornherein auszuschliefsen scheinen. Ebenso- 
wenig konnte das pessimistische Asketentum, welches in der 
schlielslichen Erlösung von den Leiden der Wiedergeburten, in 
der Verneinung des Willens zum Dasein den höchsten, ja einzigen 

15* 



— 228 - 

Zweck des Daseins sieht^ auf ein entgegenkommendes Verständnis 
von Seiten des nüchtern praktischen Chinesen rechnen, der, weit 
entfernt, die Annehmlichkeiten des Erdenlebens gering anzu- 
schlagen oder gar zu desavouieren, vielmehr seine ganze Kraft 
und Tätigkeit daran setzt, sich und seinen Nachkommen das 
höchsterreichbare Mals materiellen Wohlstandes zu erringen. 
Vor allem aber mulste ihm das Gebot des Cölibates, dessen Be- 
obachtung der Buddhismus wenigstens von denen, die sich dem 
geistlichen Stande weihen wollen, verlangt, vollends ein Greuel 
sein, da bekanntlich jeder Chinese Kinderlosigkeit für das grölste 
Unglück hält — eine Anschauung, die in dem Ahnenkultus 
psychologisch begründet ist, da, wer ohne Nachkommenschaft 
zu hinterlassen stirbt, nach seinem Tode weder eine dauernde 
Ruhestätte noch sonstige Fürsorge findet und als obdachloses 
Gespenst umherirren muls. Kindersegen, Reichtum und langes 
Leben sind die san-fuh^ die drei Glücksgtiter, auf deren Er- 
langung sein ganzes Streben gerichtet ist — Dinge, für die dem 
reinen, unverfälschten Buddhismus jedes Verständnis abgeht. 
Wenn es ihm trotz alledem gelang, diese anscheinend unversöhn- 
lichen Gegensätze zu überbrücken, so ist das nur einer der vielen 
Beweise für die erstaunliche Anpassungsfähigkeit und Expansions- 
kraft dieser so eminent propagandistischen Lehre, die vor keinem 
logischen saUo mortale zurückschreckt, wo es gilt, Hindernisse, 
die ihrer Verbreitung im Wege standen, zu beseitigen. 

Zu der Zeit seiner Einführung in China hatte der Buddhis- 
mus die erste und folgenschwerste seiner Metamorphosen bereits 
hinter sich: der ursprünglich atheistischen Lehre Buddhas zum 
Trotz hatte er die brahmanischen Götter seinem Systeme ein- 
verleibt und sich dadurch zu einem regelrechten Polytheismus 
umgestaltet. Nachdem dieser erste Schritt getan war, lag der 
fernere Weg klar vorgezeichnet da. Mit einer Art von Mimicry 
weils der Buddhismus überall die Farbe des Bodens, auf dem er 
sich niederlälst, anzunehmen und sich der neuen Umgebung an- 
zupassen. Anstatt die fremden Religionen, mit denen er in Be- 
rührung kommt, mit Feuer und Schwert auszurotten, zieht er 
es vielmehr vor, sie sich auf friedlichem Wege zu unterwerfen, 
indem er ihren Göttern unter Anerkenmmg und Belassung ihrer 
Besitztitel gastliche Aufnahme in seinem Pantheon gewährt. Das 
hat er in Indien mit dem Brahmanismus, in Tibet und der 



— 229 — 

Mongolei mit dem Schamanismus, in Japan mit dem Schintoismus 
getan, und genau dasselbe Verfahren befolgte er auch in China. 
Hier aber fand er obendrein in der Beschaffenheit der herrschen- 
den religiösen Anschauungen Verhältnisse vor, die seiner Pro- 
paganda nur Vorschub leisten konnten. 

Schon in ihrer frühesten uns zugänglichen Periode weist 
die Religion der alten Chinesen zwei gesonderte Elemente auf: 
auf der einen Seite eine Art Naturreligion, nach der das ganze 
Universum als von Geistern mit dem Shang-ti, »dem höchsten 
Herme, an der Spitze bewohnt und beherrscht erscheint, und auf 
der anderen Seite die Ahnenverehrung. Der Kultus der Natur- 
geister liegt ausschlielslich in den Händen des Reichsoberhauptes, 
der Lehensfürsten und der Beamtenhierarchie. Eine Priesterkaste 
gibt es nicht, vielmehr sind die priesterlichen Funktionen ein Privi- 
legium der regierenden Klasse. Die Inhaber der Regierungs- 
gewalt sind die einzigen Kultusberechtigten, und zwar stehen die 
priesterlichen Funktionen in einem festen und streng geregelten 
Verhältnis einerseits zum Range und amtlichen Wirkungskreise 
ihres Trägers, anderseits aber auch zu dem Range und der 
Stellung der Geister, auf die sich die Ausübung der priesterlichen 
Tätigkeit bezieht. So ist einzig und allein das Reichsoberhaupt 
als Vertreter des Himmels und Pontifex maximus berechtigt, 
dem Himmel und der Erde, den über den Erdboden und die 
Saaten des Reiches herrschenden Schutzgeistern und den heiligen 
Bergen und Strömen des Reiches Opfer darzubringen, während 
die priesterlichen Funktionen der Lehensfürsten auf die ent- 
sprechenden Schutzgeister innerhalb des von ihnen beherrschten 
Gebietes, und die der Grolswürdenträger auf die fünf häuslichen 
Laren beschränkt sind. Für das eigentliche Volk sind sowohl 
der Shang'ti wie auch das ganze Heer der übrigen Natur- 
geister unnahbar und unerreichbar, es ist von jeglichem unmittel- 
baren Verkehr mit ihnen, sei es durch Opfer, sei es durch Gebet, 
schlechthin ausgeschlossen und nimmt überhaupt keinen Anteil 
am öffentlichen Kultus. Zwar steht auch das Volk wie jeder 
Einzelne unter dem Schutz jener das Universum beherrschenden 
übernatürlichen Mächte, aber es geniefst deren Schutz nur durch 
die Vermittlung und auf die Fürbitte der Obrigkeit. Der gemeine 
Mann hat auf diese Weise keine andere religiöse Zuflucht als die 
Manen seiner verstorbenen Vorfahren, deren Wirkungskreis jedoch, 



— 230 — 

zunächst wenigstens, auf das Wohl und Wehe des eigenen Hauses, 
der eigenen, noch am Leben befindlichen Nachkommen beschränkt 
bleibt. So war denn schon in jener Zeit die Verehrung der 
Naturgeister lediglich die Religion der regierenden Klassen, 
die Staatsreligion, während die Ahnenverehrung so recht eigent- 
lich die Religion des Volkes war. Im Gegensatz zum offiziellen 
Kultus der Staatsreligion trug der Ahnenkult ein intimeres und 
innigeres Gepräge, er war im besten Sinne ein häuslicher Kult, 
der unmittelbar in das Leben der Familie und jedes Einzelnen 
eingriff. Der Ahnentempel oder, wenn kein solcher vorhanden 
war, die Ahnenhalle oder dasjenige Gemach, in welchem sich 
der Hausaltar befand, tmd wo den Ahnen Opfer dargebracht 
wurden, war das Sanktuarium der Familie, wo sich die wichtigsten 
und entscheidendsten Momente des häuslichen Lebens abspielten. 
Den Ahnen wurden alle wichtigen Ereignisse im Leben jedes 
einzelnen Familiengliedes, wie Geburt, Mtindigkeitsfeier, Ehe- 
schlielsung, Rangerhöhung u. s. w. feierlich mitgeteilt. 

War einmal der Glaube an ein Fortleben der Toten und 
an einen Einfluls ihrerseits auf die Geschicke ihrer tiber- 
lebenden Nachkonunen gegeben, so lag es nahe, solchen Per- 
sönlichkeiten, die sich bei ihren Lebzeiten, sei es als Staats- 
männer, sei es als Feldherren oder auf irgend einem anderen 
Gebiete nicht nur um das eigene Haus, sondern um weitere 
Kreise, um ganze Berufsklassen, vielleicht gar um das ganze 
Reich verdient gemacht hatten, auch nach ihrem Tode einen 
weiterreichenden Einfluls zuzuschreiben als den Manen gewöhn- 
licher Sterblicher, und ihnen daher auch aulserhalb des engeren 
Kreises ihrer Geschlechtsgenossen posthume Ehren zu erweisen. 
Indem sich die Ahnenverehrung auf solche Weise zum Heroen- 
kult erweitert, bahnt sie damit gleichzeitig dem späteren Poly- 
theismus die Wege, der in der Folge einerseits durch den Tao- 
ismus, anderseits durch den Buddhismus mächtig gefördert wird. 

Um in China Fufs fassen zu können, mulste der Buddhismus 
vor allen Dingen den schwachen Punkt in den bisherigen reli- 
giösen Anschauungen der Chinesen herausfinden, und das konnte 
ihm nicht schwer fallen. Was der altchinesischen Religion fehlte, 
war ein anschaulicher und greifbarer Glaubensinhalt. Die Geister 
der alten Naturreligion waren unsichtbare Mächte, wesenlose 
Schemen, deren Walten man wohl zu fühlen wähnte, von denen 



— 231 - 

sich jedoch niemand eine anschauliche Vorstellung bilden konnte. 
Und auch um den Ahnenkult stand es in dieser Hinsicht katmi 
besser. Obwohl er ja naturgemäls den Glauben an ein Fortleben 
nach dem Tode zur Voraussetzung hatte , vermochte er doch 
über den Verbleib der abgeschiedenen Seelen und über die Art 
ihres Fortlebens keine Auskunft zu geben. Dank seinem reichen 
mythologischen Apparate war es dem Buddhismus ein leichtes, 
die unsichtbar wirkenden übernatürlichen Kräfte der altchinesi- 
schen Naturreligion zu versinnlichen, sie in menschenähnlich 
handelnde und leidende Gestalten umzuschalten. Desgleichen 
Wulste er auch die Frage nach den letzten Dingen durch seine 
Vergeltimgstheorie in einer das naive Bewulstsein befriedigenden 
Weise zu beantworten, und hier wiederum war es der Ahnenkult, 
der ihm ftlr seine Lehre von der Seelenwanderung und für seinen 
Glauben an Himmel und Höllen den geeigneten Boden lieferte. 
In der Tat ist die moderne chinesische Volksreligion derart von 
buddhistischen Elementen durchsetzt, dals es oft nahezu unmög- 
lich erscheint, Einheimisches von Fremdem zu sondern. Indem 
so der Buddhismus die altchinesische Religion durch Zuführung 
fremder mythologischer Elemente umgestaltete und das religiöse 
Bedürfnis durch einen sinnlich vorstellbaren Glaubensinhalt be- 
friedigte, verstand er es anderseits auch, durch die mehr oder 
weniger prunkvollen Äufserlichkeiten seines Kultus die Auf- 
merksamkeit und schliefslich auch die Teilnahme der grofsen 
Menge auf sich zu lenken. Priestertum, Göttertempel und 
Bilderkult gehen in China durchaus auf buddhistischen Einflufs 
zurück. 

Aber der Einfluls des Buddhismus beschränkt sich keines- 
wegs etwa auf das religiöse Gebiet allein ; er erstreckt sich auch 
auf das der bildenden Kirnst und der Litteratur. Durch den 
Tempelbau wurde die Architektur, durch den Kultus der Idole 
die Plastik, durch die religiöse Ikonographie die Malerei mächtig 
gefördert. Wenn man bedenkt, dats die menschliche Gestalt, die 
in der ältesten chinesischen Kunst, von den wenigen erst aus 
der Han- Zeit stammenden Steinskulpturen abgesehen, unberück- 
sichtigt geblieben war, nun plötzlich in den Vordergrund tritt, 
wird man ermessen können, welch mächtige Anregung China 
auf dem Gebiete seiner bildenden Kunst dem Buddhismus zu ver- 
danken hat. Durch die Eroberungszüge Alexanders des Grolsen 



— 232 - 

war Indien mit dem Griechentum und der griechischen Kunst in 
unmittelbare Berührung gebracht worden. Als Ergebnis dieses 
Kulturkontaktes entstand in Indien die sogenannte gräkobud- 
dhistische Skulptur, die dann in der Folge durch die Vermittlung 
des Buddhismus von Indien aus über den ostasiatischen Kontinent 
bis nach Japan verbreitet wurde. Man braucht nur einige der 
besseren Erzeugnisse der buddhistischen Kunst Chinas oder Japans 
anzusehen, um sich von dem griechischen Einflüsse, besonders in 
der Gewandtechnik, zu überzeugen. So erscheint der Buddhismus 
auf diesem Gebiete als ein Vermittler zwischen westlicher und 
östlicher Kultur. In der Litteratur machen sich buddhistische 
Anschauungen in späterer Zeit besonders im Roman und im 
Drama bemerkbar. — 

Die Einführung des Buddhismus in China erfolgte im ersten 
Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Infolge eines Traumes, in 
welchem dem Kaiser Mi ng-ti ein goldenes Götterbild über dem 
Palaste schwebend erschienen war, das als Buddhastatue gedeutet 
wurde, schickte derselbe eine Gesandtschaft nach Indien, mit dem 
Auftrage, buddhistische Lehrer und heilige Schriften nach China 
zu bringen. Sechs Jahre später kehrten die Gesandten heim, 
und in ihrer Begleitung befanden sich indische Gelehrte, denen 
die ersten chinesischen Übersetzungen buddhistischer Texte zu 
verdanken sind. Im Jahre 335 erhielten Chinesen zum ersten- 
mal die Erlaubnis, sich in den buddhistischen Mönchsorden auf- 
nehmen zu lassen. Indien wird als heiliges Land betrachtet und 
bleibt nun während der folgenden Jahrhunderte das Ziel zahl- 
reicher Pilgerfahrten. Während so der Buddhismus in China 
allmählich eine immer gröfsere Ausdehnung gewinnt, fehlt es 
ihm anderseits auch nicht an Gegnerschaft, die hin und wieder 
mächtig genug ist, seine Existenz in Frage zu stellen. Besonders 
wird ihm von Seiten des Confucianismus zum Vorwurf gemacht, 
dals er durch sein Gebot der Ehelosigkeit die geheiligten Bande 
des Familienlebens zerreifse. Es bleibt auch keineswegs immer 
bei litterarischer Polemik, sondern kommt mehr als einmal zu 
tatsächlichen Verfolgungen. Im achten Jahrhundert wurden z. B. 
zwölftausend Mönche aus ihren Klöstern vertrieben ; im Jahre 845 
wurden die Klöster sogar säkularisiert und ihre Vermögen und 
Liegenschaften von Staats wegen eingezogen. Auch die gegen- 
wärtig herrschende D3mastie ist dem Buddhismus prinzipiell 



— 233 — 

nichts weniger als günstig gesinnt. In dem vom Kaiser K'ang-hi 
(1662 — 1722) verfafsten sogenannten »heiligen Edikt« z. B., das 
in jeder Stadt zweimal monatlich, am Tage des Neu- und Voll- 
mondes, in öffentlicher Versammlung unter Vorsitz der lokalen 
Obrigkeit verlesen wird, wird das Volk ausdrücklich vor den 
buddhistischen Irrlehren gewarnt. Nichtsdestoweniger hat keine 
der verschiedenen Repressivmafsregeln die stetige Ausbreitung 
des Buddhismus zu hindern vermocht: vielmehr bildet er heute 
einen malsgebenden Faktor im chinesischen Kultur- und Volks- 
leben, der nicht gering veranschlagt werden darf. Nicht etwa, 
dals er als Religion eine herrschende Stellung im Lande erobert 
hätte, denn Buddhisten im strengen Sinne sind wohl immerhin 
nur die verhältnismäfsig wenigen, die die Ordensgelübde abgelegt 
haben ; wohl aber hat er einen weitgehenden praktischen Einfluls 
auf das tägliche Leben erlangt. Der Chinese ist durchschnittlich 
mindestens ebenso abergläubisch, wie er skeptisch ist, und dieser 
Hang zum Wunderbaren, der ja als eine Folge mangelhafter 
Naturerkenntnis sehr erklärlich ist, hat nicht zum geringsten Teil 
dazu beigetragen, dem Buddhismus die Wege zu ebnen. Wenn 
der Chinese einen buddhistischen oder taoistischen Tempel auf- 
sucht, so tut er es in der Regel nicht aus religiösem Herzens- 
bedürfnis oder innerlicher Frömmigkeit, sondern meist nur, um 
die übernatürlichen Einflüsse der Götter durch Vermittlung ihrer 
Priester der Erfüllung seiner Wünsche dienstbar zu machen. Er 
wendet sich heute an buddhistische, morgen an taoistische Priester, 
wie er sich, je nach dem Zwecke, um den es sich just handelt, 
bald an einen Arzt oder Apotheker, bald an einen Wahrsager 
wenden würde. Selbst der bildungsstolze Confucianer der höheren 
Klassen, der für gewöhnlich mit verächtlichem Naserümpfen über 
den törichten Aberglauben der Buddhisten und Taoisten hinweg- 
zusehen pflegt, wird es gewifs nur in den allerseltensten Fällen 
verschmähen, sich bei Trauerzeremonien der Mitwirkung bud- 
dhistischer und womöglich auch taoistischer Priester zu be- 
dienen. 

In dem Zeiträume, der uns gegenwärtig beschäftigt, nehmen, 
wie gesagt, die Pilgerfahrten nach Indien ihren Anfang, und die 
Berichte, die von ihnen Zeugnis ablegen, bilden einen aulser- 
ordentlich interessanten und wertvollen Bestandteil^ der chinesi- 
schen Litteratur. Einer der ersten und zugleich der be- 



— 234 — 

rühmtesten unter jenen alten Indienfahrem ist der Mönch Fah- 
hien*). 

Fah-hien wurde in der zweiten Hälfte des vierten Jahr- 
htinderts in der heutigen Provinz Shan-si geboren. Nachdem 
seine drei älteren Brüder sämtlich in ihrer frühesten Jugend ge- 
storben waren, gab ihn sein Vater in ein buddhistisches Kloster. 
Zehn Jahre alt, verlor er den Vater, und nun suchten ihn 
seine Verwandten zu überreden, dem Klosterleben zu entsagen 
und zu seiner Mutter zurückzukehren; er aber hatte inzwischen 
bereits den festen Entschlufs gefafst, sich dem geistlichen Stande 
zu weihen, imd blieb im Kloster. Nach beendetem Noviziat er- 
hielt er die Weihen, worauf er sich nach Ch*ang-ngan*) be- 
gab, um daselbst theologischen Studien obzuliegen. Die daselbst 
vorrätigen buddhistischen Texte genügen ihm jedoch nicht, und 
er beschlielst, eine Pilgerfahrt nach Indien zu unternehmen, um 
dort womöglich in den Besitz eines vollständigen Exemplares der 
kanonischen Schriften über die religiöse Disziplin zu gelangen. 
Im Jahre 399 bricht er auf und begibt sich zunächst über T'un- 
hoang und Shan-shan') nach Wu-i, das vermutlich in der 
Nähe von Kuldja lag. Dann wendet er sich südwärts nach 
K ho tan, wo damals noch der Buddhismus herrschte. Von dort 
gelangt er nach Pischäwar, überschreitet später den Indus, 
besucht die heiligen Stätten im Gangesgebiete, schifft sich 
endlich an der Gangesmündung nach Ceylon ein und erreicht 
von hier aus nach vierzehnjähriger Abwesenheit auf dem Seewege 
die Heimat. Zunächst liels er sich in Nanking nieder, wo 
er in Gemeinschaft mit einem indischen Mönche einige der mit- 
gebrachten Texte ins Chinesische übersetzte. Schliefslich zog er 
sich in ein Kloster in King-chou (in der heutigen Provinz 

') Record of the Buddhistic Kingdoms, translated from the Chinese 
by H. A. Giles, London 1877. — A Record of Buddhistic Kingdoms, 
being an account by the Chinese Monk Fä-hien of his travels in 
India and Ceylon (A. D. 399—414) in search of the Buddhist books of 
Discipline. Translated and annotated, with a Corean Recension of the 
Chinese Text by J. LeRge, Oxford 1886. 

') Ch^ang-ngan, bei Si*ngan-fu gelegen, war unter den 
älteren Han (200 v. Chr. bis 25 n. Chr.) und dann wieder unter der 
Sui -Dynastie (589—618) Reichshauptstadt. 

') T^un-hoang lag bei Ngan-si in der Provinz Kan-su, 
Shan-shan südlich vom Lob-nor. 



- 235 — 

Hu-peh) zurück und starb daselbst im Alter von 88 Jahren. 
Wie scharf er zu beobachten und wie anschaulich er das (be- 
sehene zu schildern verstand, beweist die folgende Beschreibung 
des Beginnes seiner Reise und des Aufenthalts in Khotan. 

»Fah-hien befand sich ehemals in Ch^ang-ngan. Da 
er die beschädigte und lückenhafte Verfassung der kanonischen 
Bücher über die Ordensdisziplin beklagte, traf er in der Folge 
im zweiten Jahre der Regierungsperiode Hung-chi (399) mit 
Hui-king, Tao-c.heng, Hui-ying und Hui-wei eine ge- 
meinsame Vereinbarung, sich nach Indien zu begeben, um ein 
Exemplar der Ordensregeln ausfindig zu machen. 

Nachdem sie aus Ch^ang-ngan aufgebrochen waren und 
das Gebiet von Lung passiert hatten, erreichten sie den Staat 
K ' i e n - k u e i , woselbst sie ihre sommerlichen Andachtsübungen 
abhielten. Nachdem diese beendet waren, setzten sie ihre Reise 
fort und gelangten in den Staat Nou-t*an; sie überschritten 
den Berg Yang-lou .und erreichten den Marktflecken von 
Chang-yih*). Hier herrschten grofse Unruhen, und die Wege 
waren tmpassierbar. Der König von Chang-yih legte grofsen 
Eifer an den Tag, veranlafste sie zum Bleiben und erwies sich 
als ihr Wohltäter. Hier trafen sie mit Chi-yen, Hoei-kien, 
Seng-shao, Pao-yün und Seng-king zusammen und 
hielten, erfreut über die gemeinsame Absicht, zusanmien ihre 
sommerlichen Andachtsübungen ab. Nachdem diese beendet waren, 
rückten sie bis T*un-hoang vor, dessen Grenzen sich von Ost 
nach West ungefähr 80 Li, von Süden nach Norden ungefähr 40 Li 
weit erstrecken. Sie hielten sich daselbst zusammen über einen 
Monat lang auf, bis Fah-hien mit seinen vier Gefährten unter 
der Führung eines Abgesandten aufbrach und sich wieder von 
Pao-yün und den Seinigen trennte. Li Hao, der Statthalter 
von T*un-hoang, versah sie mit allem Nötigen für den Marsch 
durch die Wüste. Es kommen dort vielfach böse Dämonen und 
heilse Winde vor, und alle, die ihnen begegnet, haben den Tod 
gefunden, keiner ist mit heiler Haut davongekommen. Es gibt 
dort weder Vögel noch Vierfülsler. Wenn man sich nach allen 



*) Das Gebiet von Lung umfafste den westlichen Teil von Shen- 
si und den östlichen Teil von Kan-suh. K<ien-kaei lag im Öst- 
lichen Kan-suhf Chang-yih südöstlich von Su-choUt ebenfalls in 
Kan-suh. 



— 236 — 

vier Himmelsgegenden umsieht, um einen Weg zu finden, der 
hindurchführt, so weifs man nicht, wofür man sich entscheiden 
soll, und die ausgetrockneten Gebeine von Toten sind die einzigen 
Wegmarken. 

Nachdem sie siebzig Tage marschiert waren und eine Strecke 
von etwa 1500 Li zurückgelegt hatten, glückte es ihnen, den 
Staat Shan-shan zu erreichen. Das Land ist gebirgig und 
dürr, die Kleidung des niederen Volkes grob wie im Lande der 
Han, nur mit dem Unterschiede, dafs sie Filz und groben Woll- 
stoff tragen. Der König des Landes bekennt sich zu unserer 
Lehre, und es mögen .dort über 4000 Mönche sein, die sämtlich 
der H! n ayäna- Schule M angehören. Sowohl Laien wie Geist- 
liche in allen jenen Staaten befolgen die indische Lehre, und der 
Unterschied liegt nur im Grade der Genauigkeit. In allen Reichen, 
durch die sie von hier aus in westlicher Richtung hindurchkamen, 
war es so, nur waren die barbarischen Idiome in den einzelnen 
Reichen verschieden, doch hatten alle, die sich dem geistlichen 
Stande geweiht, die indische Schrift und Sprache studiert. 

Nachdem sie hier einen Monat und etliche Tage verweilt 
und dann abermals 15 Tage westwärts gewandert waren, kamen 
sie in den Staat Wu-i. Auch dort gibt es über 4000 Mönche, 
die sämtlich dem Hin ayä na- System angehören. In der Be- 
obachtung der Vorschriften sind sie so genau, dafs die Mönche 
aus dem Lande T s ^ i n ^), als sie dorthin kamen, auf ihre Ordens- 
regeln durchaus nicht vorbereitet waren. Dank den Anordnungen 
des Aufsehers des Unterkunftshauses für fremde Mönche, Fuh- 
kung-sun, erhielt Fah-hien die Möglichkeit, sich dort länger 
als zwei Monate aufzuhalten. Darauf vereinigte er sich mit Pao- 
yün und dessen Genossen. Die Bevölkerung von Wu-i hatte 
die Gebote der Schicklichkeit und Gerechtigkeit nicht beobachtet 
und die Gäste so gerinjgschätzig behandelt, dafs Chi-yen, 
Hoei-kien und Hoei-wei sich infolgedessen nach Kao- 
ch'ang®) zurückbegeben hatten, in der Hoffnung, dort Mittel 
für ihre Reise zu erlangen. Fah-hien und die übrigen waren 
hingegen durch die Fürsorge des Fuh-kung-sun in der Lage, 

^) Die Ht na yä na- Schule legt das Hauptgewicht auf asketischen 
Wandel. Sie ist die älteste Form des Buddhismus. 

') Damit meint Fah-hien sich und seine Genossen. 
^ Kao-ch^ang ist das Land der Uiguren. 



— 237 — 

ihre Reise fortzusetzen. In dem Lande, durch das sie ihr Weg^ 
führte, gab es keine selshafte Bevölkerung-, die Schwierigkeiten 
des Marsches und die Strapazen, die sie zu überstehen hatten, 
haben nicht ihresgleichen. Nachdem sie einen Monat und fünf 
Tage unterwegs gewesen, erreichten sie Yti-tien. 

Es ist ein fruchtbares und glückliches Land, und seine Be- 
völkerung wohlhabend und blühend. Alle bekennen sich zur 
Lehre Buddhas und finden Freude an geistlicher Musik. Die 
Zahl der Mönche beläuft sich auf einige zehntausend, die gröfsten- 
teils der M ah äyäna') -Schule angehören; sie haben alle ge- 
meinsame Beköstigung. Die Bevölkerung jenes Landes wohnt 
in verstreut liegenden Gehöften, und vor jedem Haustore ist eine 
kleine Pagode errichtet, deren kleinste wohl reichlich zwei Klafter 
hoch sein mögen. Es gibt dort Absteigequartiere für Mönche 
aus allen vier Himmelsgegenden ; diese werden reisenden Mönchen 
zur Verfügung gestellt, die dort reichlich mit allem Nötigen ver- 
sehen werden. 

Der König hatte für Fah-hien und dessen Gefährten ein 
Kloster in Bereitschaft setzen lassen, wo er sie aufnahm. Der 
Name des Klosters ist Kiü-mo-ti (Sanskr. Gomati); es ist ein 
Kloster der Mahäyäna- Schule. Die dreitausend Mönche werden 
durch eine hölzerne Glocke zum Mahle zusammengerufen. Beim 
Betreten des Refektoriums beobachten sie eine ernste und würde- 
volle Haltung und nehmen in fester Reihenfolge Platz. Sie ver- 
halten sich sämtlich schweigend und machen auch mit ihren Efs- 
geräten und Almosenschalen kein Geräusch. Wenn jemand von 
ihnen mehr zu essen begehrt, so gibt er es nicht durch einen 
Zuruf, sondern durch ein Zeichen mit der Hand kund. 

Hoei-king, Tao-cheng und Hoei-tah brachen früher 
nach dem Lande Kieh-ch^a') auf, während Fah-hien und 
die übrigen die Prozession zu sehen wünschten und noch drei 
Monate verweilten. 

Es sind im Lande vier grolse Klöster, die kleineren nicht 
mitgerechnet. Vom ersten Tage des vierten Monats an kehrt 
und sprengt man die Wege imd schmückt die Stralsen und Gassen. 
Auf dem Stadttore wird ein grofses Zelt aufgeschlagen und auf 



^) Das Mahäyäna stellt im Gegensatze zum Hfnayäna eine neuere 
Entwicklungsphase der buddhistischen Lehre dar. 

') Dieser Name ist bisher nicht mit Sicherheit identifiziert worden» 



- 238 - 

alle Art verziert; der König und seine Gemahlin, sowie die 
Frauen des Harems halten sich darin auf. Die Mönche des 
Klosters Kiü-mo-ti gehören der Mahäyäna-Schule an; sie 
werden vom Könige in hohen Ehren gehalten und eröffnen die 
Reihe der Prozessionen. Drei bis vier Li von der Stadt entfernt 
richten sie einen vierräderigen Götterwagen her, der über drei 
Klafter hoch ist und einer beweglichen Halle gleicht. Die sieben 
Kostbarkeiten werden zu seinem Schmucke verwendet, und er 
ist mit herabhängenden Seidenfahnen und Baldachinen versehen. 
Das Bildnis steht in der Mitte des Wagens, zu beiden Seiten zwei 
Bodhisattvas ; die Devas als Trabanten, sämtlich von goldenem 
imd silbernem Schnitzwerk glänzend, schweben frei in der Luft. 

Als das Bildnis hundert Schritt vom Stadttor entfernt war, 
nahm der König die Krone ab, legte frische Gewänder an und 
ging barfufs, Blumen und Räucherwerk in den Händen, ehr- 
erbietig zum Tore hinaus und warf sich auf sein Antlitz nieder, 
worauf er Blumen streute und Räucherwerk darbrachte. Als das 
Bildnis zum Tore einzog, streuten die Königin und die Frauen 
des Harems, die sich auf der Torwarte befanden, Blumen herab, 
die in buntem Durcheinander hemiederfielen. So prächtig waren 
die Veranstaltungen. Alle Wagen waren verschieden, und jedes 
Kloster hatte seinen besonderen Tag für die Prozession. Am 
ersten Tage des vierten Monats nahmen die Prozessionen ihren 
Anfang, imd am 14. waren sie beendet. Der König verfügte 
sich dana mit seiner Gemahlin wieder in seinen Palast zurück. 

Sieben bis acht Li westlich von der Stadt liegt ein Kloster, 
das den Namen »Neues Kloster des Königsc trägt; dessen Bau 
hatte 80 Jahre erfordert und während der Regierungszeit dreier 
Könige gedauert, bis er vollendet ward. Es mag vierundzwanzig 
Klafter hoch sein, ist mit Skulpturomamenten und Schnitzwerk 
versehen und mit Gold und Silber gedeckt; alle Arten von 
Kostbarkeiten sind dort in vollendeter Weise vereinigt. Hinter 
der Pagode ist die Halle Buddhas angelegt. Sie ist würdig ge- 
schmückt und von wunderbarer Schönheit; die Dachbalken und 
Stützpfeiler, die Türflügel und Fenster sind sämtlich mit Gold- 
blech belegt. Aufserdem ist dort ein Gebäude für die Mönche 
errichtet worden, das ebenfalls so prächtig und reich geschmückt 
ist, dafs es sich mit Worten nicht beschreiben läfst. Was die 
Könige der sechs Staaten östlich von der Gebirgskette an Kost- 



— 239 — 

barkeiten von höchstem Wert besalsen, hatten sie zum grölsten 
Teil dargebracht und nur das Wenigste davon für sich ver- 
wendete 

Fah-hiens Beispiel fand zahlreiche Nachahmer. Der Ver- 
kehr zwischen China und Indien gestaltete sich allmählich immer 
lebhafter, und mehr noch als Chinesen nach Indien scheinen indische 
Mönche nach China gekommen zu sein, die, durch die Verfol- 
gungen von Seiten der Brahmanisten aus der Heimat fortgetrieben, 
dort Schutz und Zuflucht suchten. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts 
soll es in China über 3000 indische Mönche gegeben haben*), 
Ihren Höhepunkt erreicht die Zahl der Indienfahrten jedoch wäh- 
rend der T'ang-Dynastie (618—906). Der Buddhist I-tsing 
(634—713), der selbst eine achtzehnjährige Reise nach Indien 
unternommen hat, gibt die Biographien von nicht weniger als 
sechzig, gröfstenteils chinesischen Pilgern, die sämtlich während 
der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts die heiligen Stätten auf- 
gesucht haben 2). Keiner aber imter den Pilgern jener Zeit hat 
einen solchen Ruhm über die Grenzen seines Heimatlandes hinaus 
erlangt wie Hüan-chuang"), dessen Bericht unstreitig in der 
gesamten buddhistischen Reiselitteratur Chinas die erste Stelle 
einnimmt. 

Hüan-chuang oder, wie der Name ebenfalls ausgesprochen 
werden kann, Hüan-tsang stammt aus der Provinz Ho-nan 
und wurde im Jahre 602 geboren. Gleich Fah-hien kam auch 
er schon als Knabe ins Kloster, und zwar auf Veranlassung eines 
älteren Bruders, der dem geistlichen Stande angehörte und ihn 
zu sich nahm. Schon mit dreizehn Jahren ragte er durch un- 
gewöhnliche Fähigkeiten und eine für sein jugendliches Alter 



^) J. Edkins, Chinese Buddhism: a volume of Sketches, histori- 
cal, descriptive, and critical, 2^ ed., London 1893, p. 99. 

■) Memoire compos^ ä l'^poque de la Grande Dynastie T*ang sur 
les religieuz ^minents qui all^rent chercher la loi dans les pays d'occi- 
dent par I-tsing, traduit en fran^ais par £d. Chavannes, Paris 
1894, p. I. 

*) M^moires sur les contr^es occidentales, traduits du sanscrit en 
chinois, en Tan 648, par Hiouen thsang, et du chinois en fran^is par 
Stan. Julien. 2 vol. Paris 1857-58. — Die Angabe, dafs Hüan- 
chuang das Werk aus dem Sanskrit übersetzt habe, beruht, wie 
Chavannes in seiner Übersetzung des. I-tsing, S. 3, nachweist, auf 
einem Mifsverständnis. 



— 240 — 

erstaunliche Gelehrsamkeit hervor. Es war damals eine Zeit 
politischer Gärung und innerer Kämpfe. Die kurzlebige Sui- 
Dynastie (589—618) stand vor ihrem Untergange, und das Haus 
T'ang war im Begriffe, die Herrschaft über das Reich anzu- 
treten. Ein allgemeiner Aufruhr verbreitete sich durch das ganze 
Land und drang auch in die Stille der Klostermauem, die Mönche 
wurden verfolgt und vielfach zur Flucht genötigt. Auch Hüan- 
chuang flüchtet mit seinem Bruder nach Shuh (Szg-ch^uan), 
wo er sich in einem Kloster in Ch*eng-tu niederläfst. Doch 
ist seines Bleibens dort nicht lange. Bald reist er im Lande 
umher, um seine theologischen Studien zu erweitem und erregt 
durch seine Belesenheit und dialektische Schlagfertigkeit, die er 
bei theologischen Disputen an den Tag legt, allenthalben Auf- 
sehen und Bewunderung. In Ch^ang-ngan hält er sich längere 
Zeit auf, und hier reift in ihm der Entschluls, dem Beispiele 
Fah-hiens zu folgen. Da ihm die kaiserliche Genehmigung zu 
seinem Vorhaben versagt wird, tritt er im Jahre 629 heimlich 
seine Reise an. 

Es ist hier nicht der Ort, des näheren auf seine Reiseroute 
einzugehen, nur so viel sei gesagt, dafs er in seinem Si-yüh-ki^ 
»Aufzeichnungen über die westlichen Gebietet betitelten Reisewerke, 
das eine wahre Fundgrube für die Kenntnis der geographischen^ 
historischen und ethnographischen Verhältnisse Zentralasiens tmd 
Indiens nicht nur, sondern auch für die Geschichte des Buddhis- 
mus darstellt, nicht weniger als 138 Länder beschreibt, von denen 
er 110 aus eigener Anschauung kennen gelernt hat. Mit reichen 
Schätzen an Texten, Bildern, Statuen und Reliquien beladen, 
kehrt er im Jahre 645 nach sechzehnjähriger Abwesenheit in 
seine Heimat zurück. 

Sein Einzug in die Hauptstadt gleicht einem Triumphzuge *). 
Auf persönliche Anordnung des Kaisers wird er in feierlicher 
Prozession, an der sich eine unübersehbare Menge von Geistlichen 
sowohl wie Laien beteiligt, empfangen und ins Kloster Hung- 
fuh-sz6 geleitet. Am nächsten Tage wird er in besonderer 



^) Histoire de la vie de Hicuen-thsang et de ses voyaRes dans 
rinde, depuis Tan 629 jusqu'en 645, par Hoei-li etYen-thsang, 
suivie de documents et d'^claircissements g^ographiques tir6s de la 
relation ori|2^inale de Hiouen-thsang; traduits du chinois parStan. 
Julien. Paris 1853, p. 292 ff. 



— 241 — 

Audienz vom Kaiser empfangen, der sich von ihm ausführlich 
Bericht erstatten lälst und ihn auffordert, die Geschichte seiner 
Reise niederzuschreiben, wozu er sich auch bereit erklärt. Die 
Zumutung, den geistlichen Stand mit dem Posten eines Staats- 
ministers zu vertauschen, lehnt er jedoch dankend ab und läfst 
sich zunächst im genannten Kloster nieder, um bald darauf das 
neue, vom Kronprinzen errichtete Kloster Ta-tsz*6-ngen-sz6 
zu beziehen. Nunmehr widmet er sich neben der Ausarbeitung 
seines Reiseberichtes, der in kurzer Zeit vollendet ist, im Vereine 
mit einem ganzen Stabe gelehrter Theologen der Übersetzung 
buddhistischer Sanskrittexte. 

Seine Biographen Hoei-li und Yen-tsung*) erwähnen 
aus jener Zeit einen menschlich rührenden Zug, der einen tieferen 
Einblick in das innere Wesen des Hüan-chuang gewährt als 
alle Berichte über seine äulseren Lebensschicksale. Im Jahre 
657 besucht er nach langen Jahren seine alte Heimat wieder. 
Von seinen Verwandten findet er nur noch eine Schwester am 
Leben. Mit einem Gemisch von Trauer und Freude sehen sich die 
beiden Geschwister wieder und begeben sich gemeinsam zum Grabe 
ihrer Eltern, das sie in vernachlässigtem Zustande und von Un- 
kraut überwuchert vorfinden. Hüan-chuang macht sich daran, 
es eigenhändig vom Unkraut zu säubern. Darauf erbittet er die 
kaiserliche Genehmigung, die Särge der Eltern an einem ge- 
eigneteren Platze bestatten zu dürfen. Die Bitte wird ihm natür- 
lich gewährt, und die nachträgliche Bestattung, an der sich zahl- 
lose Kleriker sowohl wie Laien beteiligen, erfolgt auf Staats- 
kosten und mit dem grölsten Gepränge. Im Jahre 658 siedelt 
Hüan-chuang ins neuerrichtete Kloster Si-ming-sze über, 
doch bleibt er dort nicht lange, da er in der Hauptstadt für 
seine anstrengende Übersetzungsarbeit nicht die erforderliche 
Ruhe findet. Der Kaiser stellt ihm den aulserhalb der Stadt 
gelegenen Palast Yü-hoa-kung zur Verfügung, woselbst er 
nach längerem Siechtum im Jahre 664 stirbt. 

Sein Reisebericht enthält im ganzen weniger Beschreibungen 
dessen, was er gesehen, als geschichtliche Nachrichten und eine 
reiche Fülle buddhistischer Legenden. Immerhin finden sich darin 



*) A. a. O. S. 330 ff. 

Grnbe, Geschichte der chinetitchen Litteratur. 16 



— 242 — 

auch manche kulturhistorisch interessante Schilderungen, wie 
z. B. die folgende über die Rechtsverhältnisse der Inder: 

iWas ihre Sitten anbetrifft, so sind sie (die Inder), obwohl 
von Natur lebhaft, doch von sehr fester und ehrenhafter Ge- 
sinnung. In Sachen des Besitzes gibt es keinen leichtfertigen 
Erwerb, während sie in Fragen der Rechtspflege aufserordent- 
lich nachgiebig sind. Sie fürchten die Strafen der unsichtbaren 
Welt und achten die Angelegenheiten des Lebens gering. Betrug 
und Hinterlist wird nicht geübt, Verträgen und Eiden halten sie 
Treue. In der Staatsverwaltung schätzen sie die Ehrlichkeit am 
höchsten. Auch sind sie von milden Sitten. Bösewichte und 
Taugenichtse, die sich gegen die Landesgesetze vergangen oder 
gegen das Leben des Fürsten verschworen haben, werden, sobald 
ihre Schuld erwiesen ist, für immer ins (iefängnis gesteckt, 
jedoch keinen Körperstrafeit unterworfen. Sie lassen sie leben 
und sterben, ohne sie mehr zur menschlichen Gesellschaft zu 
rechnen. Solchen, die die Gebote der Schicklichkeit und Ge- 
rechtigkeit verletzt oder der Loyalität und Kindesliebe zuwider- 
gehandelt haben, werden Nase oder Ohren, Hände oder Füfse ab- 
geschnitten; auch kommt es vor, dafs man sie auf ser Landes ver- 
weist oder in die Grenzgebiete verbannt. Was die übrigen Ver- 
gehen betrifft, so darf man sich durch Geld von der Strafe los- 
kaufen. Beim gerichtlichen Verhöre wird weder Rute noch 
Stock angewandt. Wenn auf die gestellten Fragen wahrheits- 
gemäfse Antworten erfolgen, wird ein dem Delikt entsprechendes 
Strafmafs bestimmt. Wenn jedoch der Delinquent sein Vergehen 
bestreitet oder aus Scham über seinen Fehltritt diesen beschönigt 
und man dem Sachverhalt auf den Grund konmien will, so gibt 
es vier Mittel dafür: die Wasser-, Feuer-, Gewichts- und Gift- 
probe. 

Bei der Wasserprobe steckt man den Menschen und einen 
Stein in zwei miteinander verbundene Säcke und versenkt diese 
in einen tiefen Strom, um dadurch die Wahrheit zu erkunden. 
Wenn der Mensch untersinkt, während der Stein obenauf 
schwimmt, so war er schuldig; wenn aber der Mensch oben- 
auf schwimmt und der Stein untersinkt, so war er unschuldig. 

Bei der Feuerprobe bringt man Eisen zum Glühen und läfst 
den Delinquenten derart darauf niederhocken, dafs er es mit den 
Füfsen berührt und die inneren Handflächen darauflegt; auch 



— 243 — 

lälst man ihn mit der Zunge darüber lecken. War die Be- 
schuldigung falsch^ so bleibt er unversehrt; war sie begründet, 
so erleidet er Brandwunden. Furchtsame und schwächliche Leute, 
welche die Glut nicht aushalten können, nehmen eine noch 
nicht aufgeblühte Blume und werfen sie in die Flamme. War 
die Beschuldigung falsch, so öffnet sich die Blume; war sie be- 
gründet, so verbrennt sie. 

Bei der Gewichtsprobe werden der Mensch und ein Stein 
auf die Schalen einer Wage gelegt, und aus dem Gewichts- 
verhältnis schöpft man den Beweis. War die Beschuldigung 
falsch, so senkt sich der Mensch, während der Stein in die Höhe 
geht; war sie begründet, so wiegt der Stein schwerer als der 
Mensch. 

Bei der Giftprobe macht man einen Einschnitt in die rechte 
Keule eines Widders und tut etwas von der Nahrung des Delin- 
quenten, mit Gift vermischt, hinein. War die Beschuldigung 
begründet, so übt das Gift seine Wirkung, und der Widder 
stirbt; war sie falsch, so versagt das Gift, und der Widder bleibt 
am Leben. Durch diese vier Mittel wird jeglichem Unrecht der 
Weg versperrt.« 

Die indischen Totenbräuche beschreibt Hüan-chuang 
bald darauf f olgendermaf sen : 

»Bei jeder Erkrankung enthalten sie sich sieben Tage lang 
der Nahrung. Die meisten genesen innerhalb dieser Frist; wer 
aber keine Besserung verspürt, nimmt Medizin ein. Die Heil- 
mittel sind nach Namen und Arten verschieden, und in der ärzt- 
lichen Kunst und Behandlungsweise gibt es Unterschiede. 

Wenn sie nach einem Todesfalle an der Leichenfeier teil- 
nehmen, pflegen sie Klagerufe auszustofsen , miteinander zu 
weinen, sich die Gewänder zu zerreifsen, das Haar auszu- 
raufen und sich gegen Stirn und Brust zu schlagen. Von Vor- 
schriften über Trauerkleidung ist nichts zu hören; auch gibt es 
für die Trauerzeit keinen festen Termin. Für das Begräbnis 
gibt es drei Bräuche. Der erste von ihnen ist die Feuer- 
bestattung. Man errichtet einen Scheiterhaufen und verbrennt 
die Leiche. Der zweite ist die Wasserbestattung. Man versenkt 
die Leiche in einen tiefen Strom. Der dritte ist die Bestattung 
auf freiem Felde. Man setzt die Leiche im Walde aus und über- 
lälst sie den Tieren zum Fraise. 

16* 



— 244 — 

Ist ein König gestorben, so setzt man zunächst einen Thron- 
erben ein, damit er den Leichenfeierlichkeiten vorstehe, um da- 
durch den Unterschied zwischen Obrigkeit und Untertanen fest- 
zustellen. Bei seinen Lebzeiten erhält er einen Ehrennamen, aber 
nach dem Tode gibt es keinen posthumen Namen. 

Wenn sich in einem Hause ein Todesfall ereignet hat, nimmt 
keiner der Insassen Nahrung zu sich. Nach vollzogenem Leichen- 
begängnis kehrt man wieder zur gewohnten Lebensweise zurück ; 
auch besteht die Sitte nicht, den Namen des Verstorbenen nicht 
auszusprechen. Alle, die sich an einem Leichenbegängnis beteiligt 
haben, gelten als unrein und müssen sich sämtlich, bevor sie 
heimkehren, aufserhalb der Stadtmauer durch ein Bad gereinigt 
haben. 

Hochbetagten Leuten, deren Ende herannaht, sowie auch 
Schwachen und Schwerkranken, die das Ende ihrer Tage be- 
fürchten, die, lebensüberdrüssig, der Welt entsagen möchten und 
den Wunsch haben, das Menschendasein preiszugeben, die Leben und 
Tod gering achten und sich von der Welt zu entfernen trachten, 
wird von ihren Verwandten und Freunden ein Abschiedsmahl mit 
Musik veranstaltet, worauf sie sich in einem Nachen über den 
Ganges rudern lassen und sich mitten im Strome ertränken, in dem 
Glauben, dafs sie in der Welt der Devas (Götter) wiedergeboren 
werden. Das geschieht unter zehn Fällen einmal. Diejenigen, 
die das Leben noch nicht völlig gering achten, treten in die Ge- 
meinschaft der Mönche ein, nach deren Vorschriften es kein 
Wehklagen und Weinen gibt. Wenn ihre Eltern sterben, ver- 
gelten sie ihnen ihre Wohltaten durch Absingen einer Litanei, 
und indem sie ihnen durch ein nachträgliches Totenopfer die 
letzte Ehre erweisen, vermitteln sie ihr jenseitiges Glück.« — 

Die nächste Folge der Einführung des Buddhismus in China 
war natürlich das Bestreben, der neuen Lehre durch Wort und 
Schrift eine möglichst weite Verbreitung zu ermöglichen, vor 
allem aber, die heiligen Schriften des buddhistischen Kanons 
durch Übersetzungen zugänglich zu maclien. Wie Fah-hien 
und Hüan-chuang, so widmeten sich auch zahllose andere 
gelehrte Kleriker früherer und späterer Zeiten dieser Arbeit. 
Die auf diese Weise entstandene buddhistische Litteratur hat im 
Laufe der Jahrhunderte einen ganz aulserordentlichen Umfang 



— 245 — 

erreicht.^) Sie bietet denen, die sich mit dem Studium des 
Buddhismus und seiner Geschichte und Entwicklung in China 
befassen, ein schier unerschöpfliches Material, gehört jedoch als 
ein seinem Inhalte und Wesen nach fremdes Erzeugnis nicht in 
den Rahmen dieser Darstellung. 

IL Die lyrisdie Dichtung. 

Die Periode vom Sturze der Han bis zur Herrschaft der 
T*ang ist durch den raschen Wechsel einer Reihe von kurz- 
lebigen Dynastien charakterisiert. Innere und äulsere Kämpfe, 
die das Reich nicht zur Ruhe kommen liefsen, waren stiller und 
andauernder geistiger Arbeit wenig günstig. Grolses ist denn 
auch während jener vier Jahrhunderte auf litterarischem Gebiete 
nicht geleistet worden. Nur was der Augenblick eingab, ver- 
mochte in solcher Zeit als Frucht vorübergehender Stinmiung zu 
reifen. So ist es wohl zu erklären, dafs die lyrische Dichtung 
der Zeiten Ungunst zum Trotze gedeihen und Blüten treiben 
konnte. Vor dem Sturme, der feste Stämme entwurzelt, sind die 
Blumen des Feldes geschützt; er fegt über sie hinweg, ohne 
ihnen ein Leid anzutun. Und bescheiden wie die Blumen des 
Feldes sind auch jene Dichtungen zumeist, immerhin aber an- 
mutig genug, um einer flüchtigen Betrachtung wert zu sein. Die 
Stoffe sind grölstenteils dem täglichen Leben mit seinen grolsen 
und kleinen Freuden und Leiden entnommen. Der heroische 
Zug fehlt dieser Poesie gänzlich, dafür aber kommt in ihr 
das rein Menschliche bisweilen zum schönsten Ausdruck. Man 
lese z. B. »Die gemeinsame Freudec ,*) ein Doppelgedicht, das 
von Yang Fang , einem Dichter aus der Zeit der Tsin- 
Dynastie (265—420), verfalst ist und zu den besten Erzeug- 
nissen der damaligen Lyrik gehört: 



*) Vgl. BunyuNanjio, A Catalogue of the Chinese Translation 
of the Buddhist Tripitaka, the Sacred Canon of the Buddhists in China 
and Japan, Oxford 1883, wo nicht weniger als 1662 buddhistische 
Werke in chinesischer Sprache aufgezählt werden, die freilich der über- 
wiegenden Mehrzahl (1467) nach der Übersetzungslitteratur angehören. 

*) Forke, Blüten chinesischer Dichtung, S. 30 ff. Das Gedicht 
findet sich dort unter dem Titel 'Liebesgemeinschaft«, doch entspricht 
die von mir gewählte Bezeichnung genauer dem chinesischen Titel. 



— 246 — 

Brüllt der Tiger in den Klüften, 
Saust der Sturmwind durch das Tal; 
Tanzt der Drache in den Lüften, 
Rollt dahin der Wolkenschwall. ') 

Gleichklang herrscht im Tongetriebe, 
Gleiche Kräfte ziehn sich an: 
Also zieht auch mich die Liebe 
Stets zu dem geliebten Mann. ^ 

Wie die Schatten nie verlassen 
Jenen Körper, der sie schuf. 
Kann den Teuren ich nicht lassen, 
Folge freudig seinem Ruf. 

Bietet Reis man uns beim Mahle, 
Mufs von einem Halm er sein. 
Und nur in der Doppelschale 
Schenket man den Wein uns ein. 

Unser beider Kleid ist Seide, 
Doppelfädiger Brokat, 
Und des Nachts umhüllt uns beide 
Eine Decke ohne Naht 

Wenn mein Herr zu Hause weilet, 
Sitze ich auf seinem Schofs, 
Und wenn er von dannen eilet, 
Läfst er meine Hand kaum los. 

Wenn mein Herr*) sich still erweiset, 
Laufe ich nicht ein und aus. 
Und wenn immer er verreiset, 
Läfst er nimmer mich zu Haus. 

Unsre Eintracht gleicht der Liebe 
Zweier Yüan-yang- Vögel wohl. 
Und sie ist gleich jenem Triebe, 
Der den Schollen eignen soll.') 



') [Die Chinesen glauben, dafs das Brüllen des Tigers den Wind, 
und das Tanzen des Drachen die Bewegung der Wolken hervorruft. 
Anm. d. Übers.] 

*j Ich habe mir erlaubt, in diesem Verse »Schatz« in »Herr« um- 
zuändern, da dieser Ausdruck sich genau mit dem Wortlaut des 
Originales deckt und auch»^wohl dem chinesischen Empfinden besser 
entspricht als »Schatz«. Nach der chinesischen Anschauungsweise bleibt 
der Mann seinem Weibe gegenüber immer der Herr. 

') [Die Mandarinenenten Yüan-yang und die Schollen gelten 
als Muster treuer Liebe. Von den Schollen wird angenommen, dafs 



— 247 — 

Ist so stark, dafs sie zerschnitte 
Einen Diamantenstein, 
Könnte auch mit keinem Kitte 
Fester noch gefüget sein. 

O, ich möchte, dafs enthoben 
Stets wir sei'n vom Trennungsschmerz, 
Und dafs wir in eins verwoben, 
Nur ein Leib und nur ein Herz! 

Dafs wir als ein Körperwesen 
Beide lebten im Verein, 
Und, wenn uns der Tod erlesen, 
Staub in einem Sarge sei'n! 

IL 

Vom Magnetstein angezogen 
Wird bewegt die Nadel leicht; 
Und vom Brennglas angesogen 
Vom Papier der Rauch aufsteigt. 

Wenn zwei Töne sind symphonisch. 
Klingt's zusammen hell und rein: 
Zwei Naturen, die harmonisch, 
Wirken aufeinander ein. 

Zwischen mir und meinem Gatten 
Herrschet schöne Harmonie, 
Folge ihm gleich seinem Schatten, 
Der sich trennt vom Körper nie. 

Eine Deck* uns nachts umhüllet, 
Ungeteilt und ungestückt. 
Und die Wolle, die sie füllet, 
Ist auf gleichem Feld gepflückt. 

Will uns Sonnenglut erhitzen, 
Fächelt uns ein Fächer kühl; 
Schulter wir an Schulter sitzen, 
Wenn es kalt, auf gleichem Pfühl. 

Seh' ich lächeln den Geliebten, 
Bin ich glücklich auch und froh. 
Stets, wenn Sorgen ihn betrübten, 
Auch von mir die Freude floh. 



sie nur ein Auge hätten, und dafs deshalb immer zwei, um besser 
sehen zu können, nebeneinander schwämmen. Daher der Name Pi- 
muh-yü, d. h. Fische, welche ihre Augen zusammenlegen. Anm. 
d. Übers.] 



— 248 — 

Kommt mein Mann einhergegangen, 
Geh' an seiner Seit' ich mit, 
Und wohin ihn mag verlangen, 
Folg' ich ihm auf Schritt und Tritt. 

Wie der Greif sich nie entzweit je. 
Mit Jarboa'), seinem Freund, 
Trifft auch uns nie so ein Leid je, 
Bleiben immer wir vereint. 

Trennen möchten wir uns ninuner, 
Bilden einen Leib zu zwein, 
Leben froh in einem Zimmer, 
Tot in einem Sarge sein. 

Die Freude ehelichen Glückes läfst sich kaum zarter und 
inniger schildern, als es in diesen Gedichten geschieht, die beide 
in dem Wunsche gipfeln, wie im Leben so auch im Tode ver- 
eint zu bleiben. In scharfem Gegensatze zu diesen Glück und 
Behagen atmenden Versen stehen die Gedichte des Pao Ch^D, 
dessen in pessimistischer Lebensverachtung wurzelnder Epikureis- 
mus stark an Yang Chu^) erinnert, ohne vielleicht von ihm 
beeinflufst zu sein. Es ist, als hätte er das tragische Geschick, 
dem er zum Opfer fallen sollte, vorausgeahnt : er wurde nämlich 
im Jahre 466 anlälslich einer Verschwörung, an der er persönlich 
nicht einmal beteiligt gewesen, ermordet. Die beiden folgenden, 
von ihm herrührenden Gedichte ') sind charakteristisch durch die 
Art, wie sich in ihnen Weltschmerz und Lebenslust in eine Art 
Galgenhumor auflösen: 

Leben. 

Siehst du nicht am Flufs im Winter, 

Wie das Gras erstirbt, verdorrt. 
Und wie es im nächsten Frühling 

Neu ergrünet fort und fort? 

Siehst du nicht, wiiE;.heut' die Sonne 

Hinter Bergen untergeht 
Ob der Stadtmauer, und morgen 

In der Früh' aufs neu' ersteht? . 



*) [Der Greif und das Jarboa (eine Art Murmeltier), beides Fabel- 
tiere, gelten als unzertrennliche Freunde. Anm. d. Übers.] 
«) S. oben S. 125 ff. 
») Forke, a. a. O. S. 40 ff. 



— 249 — 

Wie lang' wird mein Dasein währen? 

Jetzt das Leben, dann das Grab; 
Nach dem Tod steig' ich auf ewig 

Zu den gelben QuelFn hinab. ^) 

Viele Trübsal bringt das Leben 
Und nur wenig Freud* und Lust, 

Ist doch grad' in jungen Jahren 
So an Wünschen reich die Brust. 

Ging' es nur nach meinem Willen, 

Bis zu Ende meine Zeit, 
Läge stets vor meinem Diwan 

Geld zum Weinkauf auch bereit. 

Ehre, Ruhm und schöner Nachruf 
Ist nicht das, wonach ich streb': 

Leben, Tod, Ansehn, Mifsachtung 
Ich anheim dem Himmel geb'. 

Tod. 

Siehst du nicht wie bald der Eibisch,') 
Eh' der erste Tag sich neigt, 

Müd' läfst Blatt und Blüten sinken 
Und dahinwelkt und verbleicht ? 

Also zieht es auch den Menschen, 
Dem der Jugend Rosen blflhn. 

Denn gar bald die Schönheit schwindet, 
Zu der Grabespforte hin. 

Ist er einmal hingeschieden. 

Gibt es keine Wiederkehr; 
Jahre kommen, Jahre gehen. 

Keine Silbe spricht er mehr. 

Einsam zwischen öden Hügeln 

Die verlafsne Seele*) lebt, 
Und der Geist, unstetig irrend. 

Einsam um das Qfäbmal schwebt. 



*) Die »gelben Quellen« bedeuten so viel wie Grab. 

') [Der Eibisch, Hibiscus syriacus, ist das Sinnbild alles Vergäng- 
lichen. Anm. d. Übers.] 

') [Nach chinesischer Auffassung besteht der menschliche Geist 
aus einem feineren Teile, hun^ welcher nach dem Tode nach oben 
schwebt, und einem gröberen, P^o^ welcher an der Materie haftet. 
Anm. d. Übers.] 



} 



— 250 — 

Nur des Windes Heulen hört man. 

Und ein wilder Vogel schreit. 
O, wie anders, o, wie anders 

War die holde Jugendzeit! 

Doch was sollen diese Bilder? 

Schaffen nur dem Menschen Pein. 
Unserm Herzenszuge folgend 

WoU'n wir froh und heiter sein. 

Auch unter den Dichtem dieser Periode fehlt es nicht an 
gekrönten Häuptern. Der Kaiser Wu-ti der Liang-Dynastie 
(502 — 549) und seine beiden Söhne Kien-wen-ti (550 — 551) und 
Yüan-ti (552 — 554), die ihm auf dem Throne folgten, gehören 
sogar zu den besten Vertretern der chinesischen Lyrik jener 
Zeit. Vom Kaiser Yüan-ti z. B. stammt das schöne Frühlings- 
lied i): 

Die Vöglein singen jetzt aufs neu' 

Im Busche ihre Lieder, 
Und vor dem Fenster fliegt vorbei 

Die Frühlingsschwalbe wieder. 

Es weht der weifse Weidenflaum 

In weingefüllte Becher; 
Gar manche Blut' vom Pflaumenbaum 

Hängt am Gewand der Zecher. 

Des Rosses Perlgehänge klingt, 

Wenn es der Wind beweget; 
Im Sonnenstrahl der Sattel blinkt. 

Mit Golde eingeleget. 

Dafs nicht die Frühlingspracht vergeht, 

Eh' ich den Freund getroffen. 
Und dafs ich bald zurück ihn hätt\ 

Das ist mein einzig Hoffen! 

Zum Schlüsse sei endlich noch ein kleines elegisches Ge- 
dicht von Wang Sen-ju*) (6. Jahrhundert) erwähnt: 

Es nagt am Herzen mir der Gram, 
Vor eignem Schatten führ ich Scham, 
Was einst mir Freud' und Glück gewährt, 
Ist jetzt in bittres Leid verkehrt. 



^) Forke, a, a. O. S. 63. 
') Forke, a. a. O. S. 66. 



— 251 - 

Ich geb' zurück den Ohrschmuck dir, 
Du schickst zurück den Mantel mir. 
Zersprungne Saiten spannt man neu, 
Wenn's Herz zersprang, so ist's vorbei. 

Aus einer grofsen Zahl von Dichtem sind hier nur einige 
wenige herausgegriffen worden. Da es sich jedoch lediglich um 
eine Auswahl des Charakteristischen handeln konnte, werden die 
mitgeteilten Proben für diesen Zweck genügen. Man sieht: 
Liebeslust und Liebesgram, Hoffnung und Entsagung, Klagen 
über die Vergänglichkeit des Daseins und heiterer Lebensgenufs, 
— das sind die ständigen Motive, die in wechselndem Gewände 
stets wiederkehren, uralte Weisen, die sich immer wieder neu 
variieren lassen. Und wie die Stoffe, so leiden auch die Bilder 
durch ihre stete Wiederkehr an einer gewissen Monotonie: die 
Unzertrennlichkeit wird durch Körper und Schatten, die Be- 
ständigkeit durch die immergrüne Fichte und Zypresse, die Ver- 
gänglichkeit durch den Eibisch, die eheliche Treue durch die 
Mandarinenenten symbolisiert u. s. f. ; Pflaumenblüten und Weiden- 
kätzchen als Frühlingsboten, Wolken als Wagen und Winde als 
Rosse gehören gleichfalls zu den beliebten Bildern. Eine gewisse 
Erfindungsarmut der Einbildungskraft läfst sich hiemach nicht 
leugnen; dafür verfällt aber auch die chinesische Poesie nie oder 
doch nur selten in den Fehler schwülstiger Formlosigkeit. Die 
Liebe zur Natur und die Empfänglichkeit für harmlosen Natur- 
genufs verleiht ihr eine gesunde Nüchternheit und schützt sie vor 
krankhafter Überspanntheit und Gefühlsschwelgerei. 

III. Die Prosalitteratur. 

Auch wenn man die Prosalitteratur jener Periode betrachtet, 
gewinnt man den Eindruck, dals Zeit und Sammlung fehlten, 
uin etwas Grofses zu Wege zu bringen, denn auch hier sind es 
zumeist Kleinigkeiten, die den Blick auf sich lenken, kurze Essays 
in der Regel, in denen die verschiedensten Themata in gefälliger 
Form dargeboten werden. Es ist dies eine Gattung, die sich 
seither der grölsten Beliebtheit erfreut. Bald sind es philosophische 
Betrachtungen, bald Meinungsäufserungen und Apergus über 
Zeitfragen, vielfach aber auch poetische Schilderungen und 
Parabeln, die man vielleicht 'am besten als lyrische Prosadichtungen 



— 252 — 

bezeichnen könnte. Es ist eine Art litterarischer Kleinkunst, die 
in der Litteratur eine ähnliche Stelle einnimmt wie die wunder- 
bar feinen Elfenbeinschnitzereien im chinesischen Kunstgewerbe 
zur Zeit seiner Blüte: Nippsachen, deren Wert weniger in ihrer 
praktischen Verwendbarkeit als in der Schönheit der Form und 
in der Sorgfalt und Feinheit der Ausführung liegt. Oft freilich 
wird die Form so sehr als Hauptsache behandelt, dafs der Inhalt 
darüber vernachlässigt erscheint und an die Stelle schöpferischer 
Kunst ein hohles und unfruchtbares Virtuosentum tritt. Vollends 
ungeniefsbar werden aber derartige Produkte für den europäischen 
Geschmack, wenn der Verfasser absichtlich darauf ausgeht, durch 
gehäufte litterarische und historische Zitate oder halb versteckte 
Anspielungen mit seiner Belesenheit zu prunken, in welchem 
Falle er selbstverständlich nur von ebenso gelehrten Lesern ver- 
standen und dementsprechend nach Gebühr gewürdigt werden 
kann. Der Chinese freilich urteilt darüber anders als wir: der- 
artige geschmackvoll garnierte Gerichte aus sorgfältig gewählten 
Lesefrüchten sind für den litterarischen Feinschmecker geistige 
Leckerbissen, von denen er sich mit raffiniertem Behagen den 
Gaumen kitzeln läfst. Inmierhin ist die chinesische Essaylitteratur 
noch reich genug an Erzeugnissen, denen auch der europäische 
Leser Geschmack abgewinnen kann, wenn anders er überhaupt 
die Fähigkeit besitzt, sich in eine ihm fremde Anschauungswelt 
hineinzudenken. Solcher Art ist z. B. die elegische Betrachtung, 
zu der Wang Hi-chi (321—379) durch den Rückblick auf ein 
fröhliches Beisammensein mit gleichgesinnten Genossen angeregt 
wird. Er hatte eine Anzahl Freunde zu einer Art Picknick 
nach einem ländlichen Lusthause, dem »Orchideenpavillon«, ein- 
geladen. Wie das gewöhnlich der Fall war bei geselligen Zu- 
sammenkünften litterarisch gebildeter Männer, wurde auch bei 
dieser Gelegenheit das Spiel der »schwinmienden Becher« gespielt. 
Die Teilnehmer lagerten sich einzeln an den Windungen eines 
kleinen, leicht dahinfliefsenden Gewässers; dann wurden mit Wein 
gefüllte Becher auf Lotusblätter gesetzt, die man von der Strömung 
forttreiben liefs. Jeder, in dessen Nähe einer der schwimmenden 
Becher landete, hatte ihn zu leeren und unverzüglich ein Gedicht 
zu improvisieren. WangHi-chi hatte nun die auf solche Weise 
entstandenen poetischen Improvisationen seiner Gäste zu einem 
Ganzen vereinigt und mit einer Vorrede versehen. Während 



— 253 — 

aber jene Gedichte selbst als Kinder des Augenblicks völlig in 
Vergessenheit geraten sind, gilt die Vorrede des Wang Hi-chi 
in den Augen seiner Landsleute noch jetzt als eine Perle der 
Litteratur und verdient daher, hier mitgeteilt zu werden.^) 

>Im neunten Jahre der Regierungsperiode Yung-huo 
(353), um den Beginn des dritten Mondes, hatten wir uns in dem 
bei Shan-yin am Berge Kuei-ki gelegenen Orchideenpavillon 
versammelt, um den Brauch der Abwehr böser Einflüsse festlich 
zu begehen. Eine Schar würdiger Männer war erschienen-, Alt 
und Jung hatte sich eingefunden. Hohe Gipfel und schroffe 
Gebirgszüge, üppige Haine und hochgewachsene Bambusstämme 
schmücken die Landschaft. Auch laden klare Flufsläufe und 
sprudelnde Bäche, die sie rechts und links umgürten, zum Spiele 
der schwimmenden Becher ein. So liefs sich der Reihe nach 
jeder an seinem Platze nieder, und obwohl keine Flöten und 
Lauten das Fest verschönten, genügte es doch, wenn auf jeden 
Becher ein Lied folgte, um die verborgenen Gefühle sich fröhlich 
äulsem zu lassen. Der Himmel war klar, die Luft rein, und 
ein erquickender Windhauch brachte Kühlung. Aufblickend 
betrachtete ich die Grölse des Universums und beobachtete dann 
wieder, den Blick senkend, die Fülle der mannigfaltigen Kreatur. 
Es genügte. Blick und Gedanken umherschweifen zu lassen, um 
Auge und Ohr den höchsten Genufs zu gewähren. Fürwahr, es 
war der Freude wert! 

Während die Menschen in ihrem Augenblicksdasein bei- 
sammen sind, halten sich die einen wohl an das, was ihnen 
am Herzen liegt, und reden über ihre häuslichen Angelegenheiten, 
während die anderen in ihrem Mitteilungsbedürfnis zwanglos aus 
sich herausgehen. Aber bei aller Verschiedenheit der empfangen- 
den und gebenden Naturen, der Stillen und der Lebhaften, 
sind sie doch glücklich und zufrieden, wenn sie sich an dem 
Gegenwärtigen freuen und es sich für den Augenblick zu eigen 
machen können, ohne des Alters Herannahen zu ahnen. Kaum 
jedoch haben sie das Ziel ihres Strebens erreicht, so sind sie 
auch schon dessen überdrüssig: die Wünsche ändern sich mit 
ihren Gegenständen, imd ein Gefühl der Trauer schleicht sich 
ein. Was ihnen vorhin noch Freude bereitet, gehört im nächsten 



') S. Legge, Chinese Classics, vol. IV, Prolegomena, p. 125. 



— 254 — 

Augenblicke schon der Vergangenheit an, und sie können sich 
der Wehmut nicht erwehren, zumal es über kurz oder lang nach 
den Wechselfällen des Daseins doch schlielslich zu Ende geht« 
EKe Alten sagten: ,Tod und Leben sind wohl etwas Grofees.' 
Ist das nicht schmerzlich? So oft ich die Beweggründe der 
Wehmut bei den Menschen früherer Zeiten betrachte, finde ich 
stets, dals sie sich mit den unseren decken. So oft ich mich 
mit dem Schrifttum befasse, ergreift mich ein Gefühl der Trauer, 
das ich in meinem Innern nicht zu erklären vermag. Das aber 
weifs ich, dals die Gleichsetzung von Tod und Leben, von kurzer 
imd langer Lebensdauer leeres Geschwätz ist. Die nach uns 
konunen, werden auch in gleicher Weise auf das Fest blicken, 
wie die Gegenwart auf die Vergangenheit zurückblickt. Traurig 
genug ! 

So sitzen nun die Zeitgenossen und schreiben nieder, was 
sie zu sagen wissen. So verschieden an Alter und Beruf sie 
auch sein mögen, — was die Wehmut wachruft, kommt bei allen 
auf dasselbe hinaus. Die dieses dereinst lesen, werden wohl 
auch beim Anblick dieser Zeilen ein Gefühl der Wehmut empfinden, c 

Ein halbes Jahrhundert nach Wang Hi-chi lebte T*ao 
Yüan-ming oder T'ao Ts'ien (365—427), gleich berühmt 
als Schriftsteller, Zecher und Blumenzüchter. Während er die 
Verwaltung von P*eng-tseh leitete, ordnete er an, dafs nur die 
Reisgattung, die zur Herstellung von Branntwein verwendet 
wird, kultiviert werden sollte, nicht aber der efsbare Reis. Nur 
auf die Bitten seiner Frau, die nicht Hungers sterben wollte, gab 
er schlielslich seine Einwilligung^ dals beide Arten zu gleichen 
Teilen angepflanzt werden dürften. Zum Glück blieb er nur 
kurze Zeit auf dem verantwortungsvollen Posten. Sein un- 
gebundenes Wesen vertrug sich nicht mit den Pflichten des 
Staatsdienstes. Als er einmal genötigt war, sein Staatsgewand 
anzulegen, um einem Abgesandten des Präfekten zu feierlicher 
Begrüfsung entgegenzugehen, erklärte er, nicht in der Lage zu 
sein, um der fünf Scheffel Reis willen (so viel betrug sein täglicher 
Sold) seinen Rücken zu krümmen, und legte sein Amt nieder. 
Dem Entschlüsse, wieder in seine ländliche Heimat zurückzukehren, 
gab er in der »Heimkehr« Ausdruck, einer Dichtung, die in einer 
Art rhythmischer Prosa abgefafst ist: 

iWohlan, ich kehre heim! In Feld und Garten will das 



— 255 — 

Unkraut wuchern, und ich sollte nicht heimkehren? Nachdem 
ich einmal mit dem Geiste dem Leibe gefrönt*), sollte ich ver- 
kümmern und einsam klagen? Ich sehe ein, dals ich mir über 
das Vergangene keine Vorwürfe zu machen brauche, und weifs, 
dafs sich dem Zukünftigen vorbeugen lälst'). Noch bin ich in 
der Tat vom rechten Wege nicht zu weit abgeirrt und merke 
nun, dals ich jetzt recht habe, während ich bisher im Irrtum 
befangen war. Sanft schaukelnd treibt mein Nachen vorwärts, 
und eine leichte Brise bläht mir das Gewand. Ich frage den 
Wanderer nach dem Wege , der noch vor mir liegt , und zürne 
dem Morgen, dals er noch nicht graut. Da erblicke ich das 
Tor und Dach meines Hauses und eile fröhlich vorwärts ! Freudig 
kommt mir das Gesinde entgegen, und die Kleinen harren meiner 
am Tore. Die drei Fulspfade sind ungepflegt, aber die Fichten 
und die Chrysanthemen sind noch wohlerhalten. Die Kleinen 
bei der Hand nehmend, trete ich ins Haus. Da gibt's noch 
Krüge voll Wein : ich greife nach Kanne und Becher und trinke 
mir selber zu. Indem ich die Bäume im Hofe betrachte, heitert 
sich mein Antlitz auf; an das südliche Fenster gelehnt, empfind' 
ich mit Stolz den Frieden meines engen Heims. Welche Wonne, 
Tag für Tag im Garten zu lustwandeln, dessen Tor geschlossen 
bleibt! Auf meinen Stab gestützt raste ich und hebe von Zeit 
zu Zeit das Haupt, um den Blick in die Feme schweifen zu 
lassen. Sorglos kommen die Wolken über den Bergen hervor, 
vom Fluge ermüdet suchen die Vögel ihr Nest auf, und die heran- 
nahende Dämmerung breitet ihre Schatten über die Erde. Ich 
streichle die einsame Fichte und zügle meine Schritte. 

So wäre ich denn daheim! Am liebsten entsagte ich jeg- 
lichem Verkehr, um dem Umherwandern ein Ende zu machen, 
denn der Welt Getriebe liegt mir fern, und was hätt' ich aus- 



') Nämlich dadurch, dafs er um des Erwerbes willen ein öffent- 
liches Amt bekleidet hatte. 

«) Dieser Satz enthält ein klassisches Zitat. Im Lun-yü, XVIII, 
5, wird erzählt, wie ein gewisser Tsieh-yü aus Ch*u, deij-sich ver- 
rückt stellt, um dem Staatsdienste zu entgehen, dem Confucius zu- 
ruft: »O Phönix, o Phönix! Wie ist deine Tugend gesunken! Über 
das Vergangene darf man sich keine Vorwürfe machen, aber dem Zu- 
künftigen läfst sich noch vorbeugen. Gib es auf, gib es auf! Sich 
heutzutage an der Regierung zu beteiligen ist gefährlich!« 



— 256 — 

wärts noch zu suchen? Meine Freude find' ich im traulichen 
Geplauder mit den Meinen, und Laute und Bücher vertreiben mir 
den Trübsinn. Dann kommen die Bauern und melden mir, dals 
der Frühling da ist, und nun gibt's zu tun auf dem Acker im 
Westen. Da lass' ich mir den Wagen kommen oder rudere auf 
meinem Nachen. Bald geht's durch tiefe, verborgene Schluchten, 
bald über steile Berge und Hügel dahin. Die Bäume schmücken 
sich fröhlich mit frischem Grün, und die Bäche beginnen zu 
rauschen. Aber mitten in die Freude über das Aufblühen der 
Natur schleicht sich das wehmütige Gefühl, dals mein Leben 
zur Rüste geht. So mag es denn zu Ende gehen! Wie lange 
mag noch mein leibliches Dasein in dieser Welt währen ? Drum 
lass' ich die Sorgen fahren und freue mich des Daseins: zu 
welchem Zwecke sollt' ich mich abmühen, wohin noch meine 
Schritte lenken? Reichtum und Ehre sind es nicht, wonach ich 
strebe, und auf der Götter Sitz darf ich nicht hoffen. Ich warte 
auf einen günstigen Tag, um allein meiner Wege zu gehen; 
dann stecke ich allenfalls meinen Stab in die Erde und mache 
mich ans Jäten ^). Ich will die östliche Anhöhe erklimmen und 
vor mich hinpfeifen oder am klaren Gewässer ein Lied erklingen 
lassen. Während ich einstweilen, den Wechselfällen des Daseins 
folgend, meinem Ende entgegengehe, will ich mich meines Lebens 
freuen. Was bleiben mir noch für Sorgen ?c 

Berühmt ist auch T*ao Yüan-mings anmutige Parabel 
»Die Pfirsichblütenquelle« : 

»Während der Regierungsperiode T*ai-yüan der Tsin- 
Dynastie lebte zu Wu-ling ein Mann, der seinen Lebensunter- 
halt durch Fischfang erwarb. Als er eines Tages seinen Nachen 
stromabwärts treiben liefs, vergals er die zurückgelegte Ent- 
fernung, bis er plötzlich an einen Hain blühender Pfirsichbäume 
gelangte. Auf einer Strecke von einigen hundert Schritten war 



^) Auch dieser Ausspruch ist ein klassisches Zitat. Im Lun-yü 
XVIII, 7, heifst es: »Als Tszö-lu, seinem Meister folgend, zurück- 
geblieben war, begegnete er einem alten Manne, der einen Korb mit 
Unkraut an einem Stabe trug. Als Tsz€-lu ihn fragte, ob er den 
Meister gesehen habe, erwiderte der Alte: ,Wer seine vier Glied- 
mafsen nicht anstrenget, vermag die fünf Getreidearten nicht zu unter- 
scheiden. Wer ist dein Meister?* — Mit diesen Worten steckte er 
seinen Stab in die Erde und machte sich ans Jäten.« 



— 257 — 

die Uferböschung ausschliefslich mit Pfirsichbäumen bestanden. 
Duftende Kräuter prangten in frischem Grün, und herabgefallene 
Blüten bedeckten den Boden. Der Fischer verwunderte sich 
gar sehr und fuhr weiter, um durch den Hain hindurchzukommen. 
Am Saume des Wäldchens, wo ein Quell entsprang, zeigte sich 
ein Berg, und am Berge gewahrte er eine kleine Öffnung, in 
der Licht zu schimmern schien. Da verliefs er seinen Nachen 
und trat in die Öffnung hinein, die anfangs so eng war, dafs 
eben gerade ein Mensch hindurchgelangen konnte. Nachdem er 
einige zehn Schritte gegangen war, öffnete sich die Höhle weit, 
und er sah ein ebenes, ausgedehntes Land vor sich. Da gab es 
prächtige Häuser, wohlbestellte Äcker, schöne Seen, sowie Maul- 
beerbäume und verschiedene Bambusarten; Wege durchschnitten 
die Felder kreuz und quer, und allenthalben liefsen sich Hähne 
und Hunde vernehmen. Die Männer und Frauen, die dort mit 
der Aussaat beschäftigt waren, trugen durchweg fremdländische 
Tracht und hatten blondes Haar, das sie in Büscheln trugen. 
Alle schienen zufrieden und guter Dinge. Als sie den Fischer 
erblickten, erschraken sie nicht wenig und fragten ihn, von wannen 
er komme ; nachdem er ihnen jedoch Rede und Antwort gestanden, 
nötigten sie ihn in ein Haus und setzten ihm Wein und Hühner 
vor. Inzwischen hatte sich die Kunde von der Ankunft des 
Fremdlings verbreitet, und alle eilten herbei, um ihn aus- 
zufragen. Sie selbst erzählten^ dafs ihre Vorfahren sich zur Zeit 
der Ts*in-Dynastie, um den Unruhen zu entgehen, in diesem 
Gebiete niedergelassen und es nicht wieder verlassen hätten, so 
dafs sie seitdem von der Aufsenwelt abgeschieden gewesen. Sie 
fragten, was für ein Geschlecht jetzt lebe, denn sie wufsten nicht 
einmal, dafs es eine Han-Dynastie gegeben habe, von den Wei 
und Ts'in gar nicht zu reden. Als nun der Mann ihnen alles 
und jedes, was ihm bekannt war, berichtet hatt^, seufzten sie 
alle verwundert, und darauf nötigten ihn auch die übrigen alle 
in ihre Häuser, um ihn mit Wein und Speisen zu bewirten. So 
verweilte er dort etliche Tage, und als er dann Abschied nahm 
und sich entfernen wollte, baten ihn die Leute, den Menschen 
draufsen nichts von dem, was er gesehen, zu berichten. Nach- 
dem er seinen Nachen erreicht hatte, kehrte er auf demselben 
Wege heim und schrieb unterwegs alles, was er erlebt hatte, 
nieder. In. seiner Heimatsprovinz angelangt^ suchte er den Statt- 

Grnbe, Geschichte der chinesischen Litteratur. 17 



— 258 — 

halter auf und erzählte ihm sein Abenteuer. Da sandte dieser 
Boten aus, die, seinen Spuren folgend, die Stätten, von denen er 
berichtet hatte, aufeuchen sollten. Aber sie verirrten sich und 
vermochten den Weg nicht zu finden. Als LiuTsz6-ki, ein 
hochgeachteter Gelehrter, das erfuhr, machte er sich wohlgemut 
auf den Weg; aber auch er verfehlte das Ziel. Er erkrankte 
plötzlich und starb. In der Folge hat keiner mehr den Versuch 
erneuert.« — 

Auch offizielle Schriftstücke, kaiserliche Edikte imd Er- 
mahnungen, Eingaben an den Thron u. dgl. m., werden, wenn 
sie sich durch besondere Schönheit der Form und Eleganz des 
Ausdrucks auszeichnen, in China als Erzeugnisse der Litteratur 
angesehen und als solche in die zahlreichen Sanunlungen klassi> 
scher Prosa aufgenommen. Es sei daher gestattet, auch ein Bei- 
spiel dieser Art vorzuführen, das einerseits als Wertmesser des 
litterarischen Stilgeschmackes, anderseits aber, in Ton und Aus- 
druck, nicht minder als Probe der noch heute im offiziellen 
schriftlichen Verkehr üblichen Umgangsformen von Interesse ist. 

Li Mih, der bereits unter jener späteren H an- Dynastie, 
die zur Zeit der idrei Reichet über das Gebiet von Shuh (die 
heutige Provinz Sz6-ch*uan) herrschte (221 — 264), verschiedene 
höhere Ämter bekleidet hatte, wird von Wu-ti, dem ersten 
Kaiser der soeben ans Ruder gekommenen Tsin-D3mastie, im 
Jahre 265 zum Erzieher des Kronprinzen ernannt. Daraufhin 
richtet er folgende Eingabe an den Thron, in der er den Ruf im 
Hinblick auf das hohe Alter und die Kränklichkeit seiner Grofs- 
mutter, die Mutterstelle bei ihm vertreten hat, ablehnen zu dürfen 
bittet : 

»Durch äufsere Schwierigkeiten und eigene Mängel war ich 
frühzeitig in Ungemach geraten. Als ein Kind von sechs Mo- 
naten liefs mich mein Vater zurück, und als ich vier Jahre alt 
war, veranlafste mein Oheim meine Mutter, eine neue Ehe ein- 
zugehen. Aus Mitleid mit dem verwaisten Kinde hat meine Grofs- 
mutter aus dem Geschlechte Liu mich eigenhändig gehegt und 
gepflegt. In meiner Kindheit kränkelte ich viel und konnte mit 
neun Jahren noch nicht gehen. Hilflos und alleinstehend wuchs 
ich zum Manne heran. Ich hatte keinen Oheim mehr am Leben 
und nur wenige Brüder; meine Familie war heruntergekommen, 
und der Wohlstand hatte sich verringert. Erst in vorgerückten 



- 259 — 

Jahren hatte ich Söhne. Draulsen besals ich keine näheren Ver- 
wandten und daheim nicht einmal einen halbwüchsigen Burschen 
zur Bedienung^ so allein und verlassen stand ich da, dals sich 
mein Leib mit seinem Schatten trösten mufste. Dabei war meine 
Grolsmutter gewöhnlich von Krankheit heimgesucht und be- 
ständig bettlägerig, so dafs ich sie warten und pflegen mulste, 
ohne mich je von ihr trennen zu können. Da wurde ich unter 
dem läuternden und veredelnden Einflüsse der erhabenen Djmastie ^) 
zuerst vom Präfekten K*uei zum Hiao-lien und darauf vom 
Statthalter Jung zum Siu-ts*ai^) befördert; ich aber mulste, 
da niemand statt meiner für meine Grolsmutter hätte sorgen 
können, ablehnen, ohne dem Rufe folgen zu können. Durch ein 
allerhöchstes Spezialdekret wurde ich zum Tribunalspräsidenten 
und bald darauf durch die kaiserliche Gnade zum Erzieher des 
Kronprinzen ausersehen. Dafs ich, gering und unbedeutend, wie 
ich bin, gewürdigt ward, im östlichen Palaste zu dienen, ist mehr, 
als ich selbst mit meinem Leben vergelten könnte. Dennoch 
setzte ich in einer Eingabe an den Thron die Gründe auseinander, 
die mich nötigten, auf das mir angebotene Amt zu verzichten. 
Als nunmehr ein kaiserlicher Erlafs in strengen Ausdrücken 
meine Saumseligkeit tadelte, als die höchsten Vertreter der 
Provinzial- und Kreisbehörden in mich drangen, dem Rufe zu 
folgen, als selbst ein Präfekturbeamter in gröfster Eile in meiner 
Behausung erschien, da hatte ich wohl den Wunsch, dem Befehle 
gehorchen und mich unverzüglich aufmachen zu können; da sich 
aber die Krankheit meiner Grofsmutter mit jedem Tage ver- 
schlimmerte, wollte ich mich erkühnen, meinen privaten Regungen 
zu folgen, doch wurde meine Bitte nicht gewährt. So bin ich 
in der Tat in einer schwierigen Lage, die mich zu keinem Ent- 
schlüsse kommen läfst. Da jedoch die erhabene Dynastie das 
Reich nach den Grundsätzen der Kindesliebe regiert und überall 
die Alten und Hochbejahrten zu pflegen bestrebt ist, wage ich 
zu hoffen, dafs dieselbe um so mehr auch mit meinem einsamen 
Kummer Nachsicht haben werde. Zudem hatte ich es ja schon, 



*) Die soeben zur Herrschaft gelangte Tsin- Dynastie (265 
bis 420). 

*) Hiao-lien bedeutete zu jener Zeit den untersten, Siu-ts*ai 
den nächsthöheren Prüfungsgrad. 

17* 



— 260 — 

als ich in jungen Jahren der falschen Dynastie^) diente, bis zur 
Würde eines Tribunalspräsidenten gebracht, trachte also von Haus 
aus danach, als Beamter vorwärtszukommen, und bin gegen 
äufsere Ehren keineswegs unempfänglich. Wenn mir unwürdigem 
Sklaven aus der untergegangenen £)3mastie, gering und nichtig, 
wie ich bin, die übergrofse Gnade einer Beförderung zu teil 
wird, — wie sollte ich da noch zu zögern und andere Hoffnungen 
zu hegen wagen ! Es ist nur, weil meine Grofsmutter dem Ende 
ihrer Tage entgegengeht und kaimi noch Lebensodem übrig hat. 
Des Menschen Leben ist so kurz, dafs er am Morgen nicht an 
den Abend denken kann. Ohne meine Grofsmutter hätte ich 
den heutigen Tag nicht erleben, ohne mich hätte meine Grofs- 
mutter die Zahl ihrer Jahre nicht vollenden können, so dafs wir 
beiden uns gegenseitig das Leben erhalten. Daher bin ich nicht 
im Stande, mich auch nur für einen Augenblick von ihr zu ent- 
fernen und sie ihrem Schicksal zu überlassen. Ich bin gegen- 
wärtig vierundvierzig Jahre alt, meine Grofsmutter aber zählt 
sechsundneunzig Jahre: mithin bleibt mir noch Zeit genug, im 
Dienste Ew. Majestät meine Pflicht zu erfüllen ; kurz ist hingegen 
die Zeit, da ich noch die Möglichkeit habe, meiner Grofsmutter 
die mir erwiesenen Wohltaten zu vergelten. Selbst die Krähen 
haben ein Gefühl der Anhänglichkeit für ihre Alten und hegen 
den Wunsch, sie bis an ihr Ende ernähren zu können. Meine 
Leiden sind nicht nur den Würdenträgem und dem Volke von 
Shuh und dem Statthalter der beiden Provinzen wohlbekannt, — 
auch der erhabene Himmel imd die Mutter Erde haben sie wahr- 
genommen. Ich hoffe, dafs Ew. Majestät sich meiner einfältigen 
Aufrichtigkeit erbarmen und meinem bescheidenen Wunsche Folge 
geben werden. Wenn meiner Grofsmutter das Glück beschieden 
ist, ihre Tage in Frieden zu beschlief sen, will ich, solange ich 
lebe, zu sterben bereit sein und selbst im Tode noch meine 
Dankbarkeit bekunden. Wie ein Hund oder Pferd von Furcht 
befangen, überreiche ich ehrfurchtsvoll dieses Schreiben zur 
Kenntnisnahme, c 

Die Worte, die ich im vorletzten Satze dieses Schriftstückes 
frei durch »meine Dankbarkeit bekundenc wiedergegeben habe, 
lauten im Original tsieA-ts^ao, »Gräser zusammenknüpfenc, 

^) Die vorige Dynastie wird hier aus Höflichkeit gegen die gegen- 
wärtige als die »falsche« bezeichnet. 



— 261 — 

und gehen auf eine klassische Reminiszenz zurück. Im Tso- 
chuan VII, XV, 4 findet sich nämlich folgende Erzählung: 
>Wei K*uo schlug das Heer von Ts*in bei Fu-shi und 
nahm den T*u Hoei, den stärksten Mann von Ts*in, ge- 
fangen. Wei Wu-tsz6 (der Vater des Wei K*uo) hatte einst 
eine Lieblingskonkubine gehabt, von der er jedoch keine Kinder 
hatte. Krank geworden, hatte Wei Wu-tsz6 dem K*uo be- 
fohlen, sie auf jeden Fall zu verheiraten, darauf aber, nachdem 
sich die Krankheit verschlimmert hatte, geboten, sie mit ihm zu 
begraben. Nach dem Tode seines Vaters hatte sie K*uo einem 
Manne zum Weibe gegeben, indem er sagte: ,Als sich meines 
Vaters Krankheit verschlimmert hatte, war sein Geist getrübt; 
ich will daher befolgen, was er mir bei gesimden Sinnen geboten 
hat'. Während des Treffens bei Fu-shi hatte dann K*uo einen 
alten Mann bemerkt, der Gräser zusammenknüpfte, um dem 
T'u Hoei auf diese Weise ein Hindernis zu bereiten. T*u Hoei 
stolperte denn auch infolgedessen und kam dadurch zu Falle, 
woraufhin man sich seiner bemächtigte. In der darauffolgenden 
Nacht erschien der Alte dem K^uo im Traume imd sprach: 
,Ich bin der Vater der Frau, die du verheiratet hast und habe 
dir dafür danken wollen, dals du deines Vaters Auftrag, wie er 
ihn dir bei gesunden Sinnen gegeben hatte, ausgeführt hast'.c 
Aus Anlals dieser Legende wird der Ausdruck »Gräser zu- 
sammenknüpfenc im Sinne von »sich dankbar erweisenc gebraucht. 
Es ist dies ein hübsches Beispiel für die Art, wie klassische 
Zitate als geflügelte Worte in den Sprachgebrauch über- 
gegangen sind. 

Wie die äufsere Geschichte Chinas während der vier Jahr- 
hunderte nach dem Sturze der Ha n- Dynastie, trägt auch die 
Litteratur jener Zeit das Gepräge des Werdenden, Unfertigen, 
Vorübergehenden. Man zehrt vom Kapitale früherer Zeiten, 
ohne neue geistige Werte hervorzubringen. Erst unter dem 
Szepter der T'ang nimmt China seine alte Grolsmachtstellung 
wieder ein. Es folgen drei Jahrhunderte äulseren und inneren Ge- 
deihens, und mit dem politischen Aufschwung erwacht auch das 
geistige Leben zu neuer Schaffenskraft. 



ACHTES KAPITEL. 

Das Zeitalter der Tang (618—907): Blfitezeit 

der Lyrik. 



1. Die lyrische Dichtung im Zeitalter der T'ang und ihre Nach- 
wirkung bis auf die Gegenwart.^) 

1. Die äulseren Mittel des dichterischen Ausdrucks. 

Wenn der Chinese vom Zeitalter der T * ang-D3mastie redet, 
so denkt er dabei in erster Linie an die Glanzperiode der 
lyrischen Dichtung. Die >T*ang-shi€, die Gedichte aus der 
Zeit der T'ang, sind in der Tat so sehr in den geistigen Besitz 
der Nation übergegangen^ dafs es wohl kaum einen gebildeten 
Chinesen geben dürfte, der nicht eine gröfsere Anzahl jener 
Dichtungen auswendig könnte. Noch heute gelten sie als un- 
übertroffene Vorbilder lyrischer Dichtkunst, denn die chinesische 
Poesie der späteren Zeit fufst ganz und gar auf ihnen und bewegt 
sich, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, durchaus in ihren 
Bahnen. Seit mehr denn einem Jahrtausend steht mithin der 
poetische Geschmack der Nation unter ihrer Herrschaft. 

Und doch bietet die Lyrik der T'ang-Zeit nichts dem 
Wesen nach Neues, nichts, was nicht schon die vorhergehenden 
Jahrhunderte, wenn auch in geringerer Vollendung, aufzuweisen 



*) Vgl. Po^sies de T^poque des Thang, traduites du chinois pour 
la premi^re fois avec une 6tude sur Tart po^tique en Chine et des 
notes ezplicatives par le Marquis d'Hervey-Saint-Denys. Paris 
1852. Auch: Poeseos Sinicae Commentarii. The Poetry of the Chinese 
by Sir John F. Davis. New ed. London 1870. 



— 263 — 

hätten. Das Unterscheidende und Charakteristische jener Dich- 
tungen liegt eben nicht sowohl in der Neuheit der Stoffe — 
denn von solcher kann kaum die Rede sein — , als vielmehr in 
der virtuosen Beherrschung der Form. Freilich macht sich ja das 
Vorherrschen der äulseren Form schon in den Dichtungen der 
vorhergehenden Jahrhunderte ungleich mehr bemerkbar als etwa 
in den alten Liedern des Shi-king, deren Hauptreiz in der 
ungekünstelten Natürlichkeit ihres vorwiegend volkstümlichen 
Tones liegt; aber man kann wohl sagen, dafs erst in der T'ang- 
Zeit der Entwicklungsprozels, durch den sich die ursprüng- 
liche Volkspoesie zur Kunstdichtung umgestaltet hat, seinen 
endgültigen Abschluss findet. Von nun an bleibt die Dichtkimst 
gewissen Satztmgen und Vorschriften imterworfen, die nicht mehr 
umgangen werden dürfen: sie wird zur Kirnst im Sinne des 
technischen Könnens. Es ist daher schlechterdings unmöglich, 
dem Leser einen richtigen Begriff von dem eigentlichen Wesen 
der chinesischen Lyrik in ihrer Blütezeit zu geben, ohne 
wenigstens in aller Kürze auf die Technik des Versbaues ein- 
zugehen, zumal das künstlerische Schaffen dadurch von mehr 
oder weniger willkürlichen Gesetzen abhängig gemacht wird, 
die nicht nur der äulseren, sondern auch, wenn ich mich so aus- 
drücken darf, der inneren Form der dichterischen Erzeugnisse 
ihren Stempel aufdrücken. 

Jede nationale Dichtkunst ist gleichsam die Frucht einer 
ehelichen Verbindung zwischen dem schöpferischen Genius des 
einzelnen imd der Volksseele. Die Gemeinschaft der Anschauungs- 
welt und Denkweise, die ihren adäquaten Ausdruck in der 
Sprachgemeinschaft findet und die gesonderten Kreise von Fami- 
lien, Geschlechtem und Stämmen zu einer ungeteilten nationalen 
Einheit verschmilzt, bildet den Boden und das Klima, von deren 
EinfiuTs die Saat und ihr Gedeihen abhängt. Der (erfahrene 
Landwirt kann den Grund und Boden, den er bebaut,] vervoll- 
konmmen und seine Ertragsfähigkeit steigern, er kann die klima- 
tischen Verhältnisse für seine Zwecke ausnutzen oder sich gegen 
sie zu schützen suchen, — aber von Grund aus zu ändern vermag 
er weder das eine noch das andere. Mit anderen Worten: Geist 
und Form der Dichtkunst werden von der äulseren und inneren 
Form der Sprache beeinflufst. Der Schriftsteller und Dichter kann 
seine Muttersprache wohl bereichern und den Wildling durch 



— 264 — 

das Edelreis seines Genius veredeln, er kann ihre Ausdrucks- 
kraft und Gestaltungsfähigkeit steigern, — sich von ihr zu eman- 
zipieren vermag er jedoch nicht. In »dieser Gebundenheit liegt 
das Wesen jeder Nationallitteratur begründet, und damit kommen 
wir wieder auf die malsgebenden Faktoren des dichterischen 
Schaffens zurück, die schon im einleitenden Kapitel dieser Dar- 
stellung hervorgehoben worden sind, um jetzt an einem gegebenen 
Einzelfalle zu veranschaulichen, was dort nur in flüchtigen Um- 
rissen angedeutet werden konnte. 

Rh3rthmus und Reim sind die Grundbestandteile unserer 
Prosodie wie der chinesischen; aber während der Reim hüben 
und drüben auf dasselbe hinausläuft, zeigt sich im Rhythmus eine 
tiefgreifende Verschiedenheit. Die meisten mehrsilbigen Sprachen, 
wie auch das Deutsche, machen einen Unterschied einerseits 
zwischen betonten und unbetonten Silben, anderseits zwischen 
langen und kurzen Vokalen. Accent tind Quantität bilden dem- 
nach hier die natürlichen Elemente, auf welche die ganze 
abwechslungsreiche Mannigfaltigkeit der Rhythmen zurückgeht. 
Anders im Chinesischen, das ja nur einsilbige Wörter kennt. 
Hier kann natürlich von einem Silbenaccent keine Rede sein, 
sondern jeder Einsilbler bewahrt als ein selbständiges Ganzes das 
Vollgewicht seiner lautlichen Individualität und steht, so zu sagen, 
seinen Mann im Satzgefüge. Manche unserer sprichwörtlichen 
Redensarten, wie etwa »Trau, schau, wem«, lEin Mann, ein 
Wort«, »Was ich nicht weifs, macht mich nicht heifs«, »Glück 
und Glas, wie leicht bricht das« u. dgl. m., vermögen eine an- 
nähernde Vorstellung von der Klangwirkung chinesischer, aus 
lauter Einsilblem bestehender Verse wachzurufen. Es gibt in 
• ihnen überhaupt keine unbetonten, sondern nur stärker und 
schwächer betonte Wörter,, so dals jedes Wort resp. jede ein- 
zelne Silbe einen Versfufs bildet. Die Länge der Verse ist 
verschieden; im Shi-king bilden viersilbige oder, wie wir 
sagen würden, vierfüfsige Verse die Regel, doch schwankt auch 
dort schon die Zahl der Silben zwischen zwei und acht. Seit 
Mei Sheng (s. oben S. 224) kommt der fünffüfsige V^ers in 
Aufnahme, der auch in der Dichtung der T* an g -Periode vor- 
herrscht, obwohl sich neben ihm der siebenfülsige Vers einer 
mindestens ebenso grolsen Beliebtheit erfreut. Auch die Zahl der 
Verse, aus denen ein Gedicht besteht, unterliegt keinerlei bindenden 



— 265 — 

Vorschriften; immerhin pflegen die Lyriker der T*ang-Zeit 
Gedichte aus zwei, vier oder acht Verspaaren zu bevorzugen. 
Gereimt sind nur die geraden Verse, also der zweite und vierte, 
sechste und achte u. s. w. , wohingegen die ungeraden reimlos 
sind; in Vierzeilern schliefst auch der erste Vers mit demselben 
Reim wie der zweite und vierte. In der älteren Zeit, im Shi- 
king zumal, wird der Reim mit grofser Willkür behandelt, 
auch begegnet man schon in den Liedern des Shi-king mehrfach 
E[äufungen gleicher Reime (wie z. B. in dem auf S. 56 ff. mit- 
geteilten Liede). Die Versuchung zu derartigen Spielereien lag 
bei dem durch die Lautarmut und den Monosyllabismus der 
Sprache bedingten Überflusse an gleich oder ähnlich lautenden 
Wörtern nahe genug, — hat es doch ein Versktinstler der neueren 
Zeit fertig gebracht, in einem Gedichte zweihundertmal denselben 
Reim zu verwenden ! ^) In fünffüfsigen Versen folgt auf die dritte, 7 
in siebenftifsigen Versen auf die vierte Silbe eine Zäsur, und 
zwar fällt der Hauptaccent im ersteren Falle auf das letzte Wort 
vor der Zäsur, im letzteren Falle auf das erste Wort nach der- 
selben. Bezeichnet man die schwach betonten Worte durch das 
Kürzehäkchen, die stärker betonten durch den Längestrich und 
das mit dem Hauptton versehene Wort durch den Längestrich mit 
einem Accente darüber, so erhält man für den fünffüfsigen Vers 
das Schema: ;;;A-if |iw- und für den siebenfüfsigen Vers: -w-v^||-w-. 7 
Somit reduziert sich die Auswahl an Rhythmen allerdings auf ein 
sehr bescheidenes Mafs; dafür hat aber die chinesische Prosodie 
neben dem rhythmischen Elemente noch ein anderes zu berück- 
sichtigen, das ich als das melodische Element bezeichnen möchte. 
Wie bereits im einleitenden Kapitel erwähnt worden ist, haftet 
im Chinesischen jedem Worte ein spezifischer Wortton an, 
der untrennbar mit ihm verbunden bleibt, und zwar werden zwei 
Klassen von Worttönen unterschieden: die ebenen oder gleichen 
und die ungleichen. Die beiden ebenen oder gleichen Töne 
werden mit gleicher Stimmlage, ohne Hebung oder Senkung 
der Stimme gesprochen und unterscheiden sich lediglich durch 
die verschiedene Höhe der Tonlage. Die drei ungleichen Töne 
werden als der steigende, fallende und »eingehendec Ton be- 
zeichnet. Die beiden erstgenannten werden, wie schon die Namen 
erkennen lassen, durch Hebung und Senkung der Stimme 

*) S. Legge, Chinese Classics, vol. IV, Proleg. p. 125. 



— 266 — 

charakterisiert; der sogenannte »eingehendec Ton hingegen, der 
durch den Wegfall eines ursprünglich den Auslaut des Wortes 
bildenden k , t oder p entstanden ist, wird kurz und gewisser- 
mafsen abgebrochen gesprochen. Diese Worttöne nun hat die 
chinesische Prosodie in der Weise ihren Zwecken dienstbar 
gemacht, dafs sie für ihre Verwendung im Verse besondere 
Regeln vorschreibt, nach denen sich der Wechsel von Tonlage und 
Stimmbiegungen zum Rhythmus etwa ähnlich verhält wie die 
Melodie zum Takte, eine Eigentümlichkeit, die sich in keiner 
anderen Sprache auch nur annähernd wiedergeben läfst. So gilt 
für die siebenfülsigen Verse die Regel, dafs die ungeraden Silben 
(also die erste, dritte, fünfte und siebente) einen beliebigen Ton 
haben dürfen, dessen Wahl dem Dichter freisteht, wohingegen 
die Töne der zwischenliegenden geraden Silben derart miteinander 
abzuwechseln haben, dafs, wenn die zweite Silbe einen gleichen 
oder ebenen Ton hat, die vierte einen ungleichen, die sechste 
wieder einen gleichen haben mufs und umgekehrt, wobei aber 
noch aufserdem darauf zu achten ist, dafs im zweiten und dritten, 
vierten und fünften, sechsten und siebenten Verse die einander 
entsprechenden geraden Silben im Tone übereinstinmien. Der 
achte Vers richtet sich in seiner Tonfolge nach dem ersten. 
Man sieht hieraus, wie grofs die technischen Schwierigkeiten 
sind, die der chinesische Dichter zu überwinden hat, wenn er 
allen an seine Kunst gestellten Anforderungen gerecht werden 
will. Bezeichnen wir den der Wahl des Dichters freistehenden 
Ton durch einen Kreis 0> die gleichen Töne durch den Längestrich - 
und die ungleichen durch den griechischen Zirkumflex ^, so er- 
halten wir für die siebenfüfsigen Verse folgendes Doppelschema: *) 

Entweder: O ^ O — O ^ O oder: O — O ^ O — O 

O— O^O— O O^O— O^O 

O— O^O— O O^O— O^O 

O^O— O^O O— O^O— O 

o^o— o^o o— o^o— o 

o— o^o— o o^o— o^o 

o^o— o^o o—o^o— o 



S. de Harlez, La Poesie chinoise, Bull, de TAcad. royale de 
Belgique, 3« s^rie, t. XXIV, p. 181ff., und Legge, Chin. Classics, 
vol. IV, Proleg. p. 121 ff. 



— 267 — 

Bei fünffülsigen Versen steht nur für die erste Silbe jedes 
Verses die Wahl der Tonklasse frei. Sie werden nach folgendem 
Doppelschema gebildet: 

Entweder : O ^ ^ oder : O v-^ un 

Q — c^ u^ — O }^ ^"^ ~*" — 
Q v-^ v^> O ^-^ ^-^ 

Q V^> 'w^ — — Q — V^\ K^> — 

Um das Gesagte an einem Beispiele zu veranschaulichen^ 
sei hier ein Vierzeiler des Li T'ai-poh angeführt, wobei ich 
nur bemerken will, dals der hohe gleiche Ton durch 1, der tiefe 
gleiche Ton durch 2, der steigende durch 3, der fallende durch 
4 und der sogenannte eingehende durch ein auslautendes k be- 
zeichnet ist. Ich füge jedem Worte seinen allgemeinen Be- 
deutungswert bei und schreibe die einzelnen Verse nach chine* 
sischer Sitte in senkrechten Zeilen, um die miteinander korre- 
spondierenden Versfülse oder Silben deutlicher hervortreten zu 
lassen: 

I. IL 

ch^uang^t Bett, Lagerstätte, i*, es scheint, gleichsam, wie, 

tS'ien*, vor (bez. sich auf das sht^, es ist, 

vorhergehende WortX ti^, Erde, 

tning^, licht, hell, shang^, auf (bez. sich auf das 
yüeh, Mond, vorhergehende WortX 

kuang^, Glanz, Schein. shuang\ Reif. 

III. IV. 

kiü^, heben, W, senken, 

Pou^, Kopf, Pou^, Kopf, 

wang*, emporblicken zu, ssi^, gedenken, 

ming*, licht, hell, ku*, alt, ( Heimat 

yüeh, Mond, htang\ Dorf,/ 

In möglichst wortgetreuer Wiedergabe und unter Beibehal- 
tung der Reimfolge des Originals lautet das kleine Gedicht: 

Zu meiner Lagerstätte scheint licht der Mond herein. 
Bedeckt mit fahlem Glänze wie kalter Reif den Rain. 
Ich heb' das Haupt und blicke empor zum lichten Mond, — 
Drauf lass' ich's wieder sinken und denk' der Heimat mein.^) 



*) Bei Forke, Blüten chines. Dichtung, S. 145, ist dieser Vier- 
zeiler folgendermalsen übersetzt: 



1 



— 268 — 

Wie man aus diesem Beispiel ersieht, erlaubt sich selbst der 
gefeiertste unter den Dichtem der T'ang-Periode in betreff 
der Worttöne kleine Abweichungen von der stehenden Regel; 
streng wird jedoch darauf gesehen, dals die Reime (im obigen 
Beispiele: kuang^, shang^ und hiang^) im Tone miteinander 
übereinstimmen. 

Als wenn damit der Schwierigkeiten noch nicht genug wären, 
haben die chinesischen Versktinstler noch ein anderes Mittel er- 
sonnen, um das Erklimmen des Parnasses des weiteren durch 
künstliche Hindemisse zu erschweren. Es ist an einer früheren 
Stelle (s. oben S. 45 u. 51) darauf hingewiesen worden, dafs schon 
in der ältesten Poesie der Chinesen, wie sie in den Liedern des 
Shi-king und in den metrischen Bestandteilen des Shu-king 
vorliegt, eine ausgesprochene Vorliebe für Wiederholungen der- 
selben oder ähnlicher Wendungen auffällt : eine auf den ersten 
Blick dem ähnliche, dennoch aber ihrem Wesen nach davon ver- 
schiedene Erscheinung ist es nun, die uns in der neueren Dich- 
tung entgegentritt. Ich meine damit jene eigentümliche Form des 
poetischen Ausdrucks, die sich im Gegensatz zu dem mehr äulser- 
lichen Rhythmus des Tonfalles als der innere Rh3rthmus des Ge- 
dankenganges bezeichnen lielse und darin besteht, dals je zwei 
aufeinanderfolgende Verse durch einen Parallelismus der Ideen 
oder Bilder charakterisiert werden, der entweder auf dem Ver- 
hältnis der Ähnlichkeit und Analogie oder auf dem des Gegen- 
satzes beruht. Im ersteren Falle wird derselbe Gedanke durch 
zwei analoge Bilder oder Vergleiche zum Ausdruck gebracht, 
während sich im letzteren Falle zwei entgegengesetzte Bilder zu 
einer gemeinsamen Gesamtwirkung vereinigen. Das auf S. 246 ff. 
mitgeteilte Doppelgedicht des Yang Fang wimmelt förmlich 
von Beispielen dieser Art; nur ist dabei im Auge zu behalten, 
dass jeder einzelne Vers des chinesischen Originals in der deut- 
schen Übersetzung durch ein Verspaar wiedergegeben ist. Bald 
wird dort die gegenseitige Anziehung der Liebenden durch das 
Doppelbild des Magneten, der die Nadel anzieht, und des Brenn- 
spiegels, der das Feuer auffängt, veranschaulicht , bald ihre Ein- 



Vor meinem Bette 
Ich Mondschein seh\ 

Als war' der Boden 
Bedeckt mit Schnee. 



Ich schau' zum Mond auf, 
Der droben blinkt. 

Der Heimat denkend 
Das Haupt mir sinkt. 



— 269 — 

tracht mit zusammenklingenden Tönen oder mit der Unzertrenn- 
lichkeit von Körper und Schatten u. dgl. m. verglichen. So in 
den Versen: 

Gleichklang herrscht im Tongetriebe, 

Gleiche Kräfte ziehn sich an; 

Also zieht auch mich die Liebe 

Stets zu dem geliebten Mann. 

"Wie die Schatten nie verlassen 
Jenen Körper, der sie schuf, 
Kann den Teuren ich nicht lassen, 
Folge freudig seinem Ruf. 
Oder: 

Vom Magnetstein angezogen 

Wird bewegt die Nadel leicht; 
Und vom Brennglas angesogen 
Vom Papier der Rauch aufsteigt. 

Wenn zwei Töne sind symphonisch. 
Klingt's zusammen hell und rein: 
Zwei Naturen, die harmonisch, 
Wirken aufeinander ein. 

Derselbe Gedanke , der hier durch den Parallelismus der 
Ähnlichkeit veranschaulicht wurde, wird dann wieder in den 
folgenden Versen in die Form des antithetischen Parallelismus 

gekleidet: 

Wenn mein Herr zu Hause weilet, 

Sitze ich auf seinem Schofs, 

Und wenn er von dannen eilet, 

Läfst er meine Hand kaum los. 
Oder: 

Will uns Sonnenglut erhitzen, 

Fächelt uns ein Fächer kühl; 

Schulter wir an Schulter sitzen, 

Wenn es kalt, auf gleichem Pfühl. 

Auch uns ist ja diese Art des Parallelismus keineswegs 
fremd, — ich brauche nur an das bekannte Goethe sehe Doppel- 
lied zu erinnern, in dem zum Parallelismus der einzelnen Vers- 
paare noch obendrein der antithetische Parallelismus hinzu- 
kommt, in welchem die beiden »Ihmc und »Ihre in den Mimd ge- 
legten Strophen zueinander stehen: 

Es rauschet das Wasser I Gar lustig die Wolken 

Und bleibet nicht stehn; I Am Himmel hin ziehn: 

Gar lustig die Sterne So rauschet die Liebe 

Am Himmel hin gehn; : Und fähret dahin. 



- 270 



Es rauschen die Wasser, 
EHe Wolken zergehn; 
Doch bleiben die Sterne, 
Sie wandeln und stehn. 



So auch mit der Liebe, 
Der treuen, geschieht: 
Sie wegt sich, sie regt sich 
Und ändert sich nicht. 



Der Unterschied liegt nur darin, dafs die Verwendung des 
Parallelismus bei uns dem freien Ermessen des Dichters anheim- 
gegeben ist, während sie bei den Chinesen zur eigentlichen 
Technik der Verskunst gehört. Die chinesische Prosodie bleibt 
indessen auch hierbei nicht stehen, sondern geht noch einen Schritt 
weiter, indem sie den Parallelismus des Sinnes femer zu einem 
grammatischen oder, noch genauer ausgedrückt, syntaktischen 
ausgestaltet. Dies ist nun wieder eine Form des Parallelismus, 
die so ganz und gar auf der besonderen Eigenart des chinesischen 
Sprachbaues beruht, dafs sie sich in keiner anderen Sprache 
genau wiedergeben läfst imd daher für den des Chinesischen 
nicht Kimdigen einer näheren Erläuterung bedarf. 

Es wird dem Leser erinnerlich sein, dafs das Chinesische 
eine Unterscheidimg der Redeteile und granmiatischen Funktionen 
durch die lautliche Form (Affixe, Um- und Ablaut) nicht kennt, 
mithin für den Ausdruck der grammatischen Beziehungen auf 
die Syntax angewiesen ist. Nichtsdestoweniger hat die ein- 
heimische Analyse des Sprachbaues, obwohl noch in den ersten 
Anfängen befindlich , gesonderte Wortkategorien aufgestellt , die 
in gewisser Weise imseren grammatischen Kategorien entsprechen. 
Die Chinesen unterscheiden nämlich einerseits zwischen »vollen« 
und »leeren« , anderseits zwischen »lebenden« und »totenc 
Wörtern. Unter »lebenden« Wörtern verstehen sie Verba, unter 
»toten« Nomina; Stoffwörter gelten als »volle«, Formwörter 
(Partikeln) als »leere« Wörter. Der syntaktische Parallelismus 
besteht nun darin, dafs in zwei aufeinanderfolgenden Versen 
die einzelnen Worte der Kategorie wie der Stellung im Satze 
nach genau miteinander korrespondieren, dafs also, wenn wir 
\msere grammatischen Kategorien an die Stelle der chinesischen 
setzen, jedem Haupt-, Eigenschafts-, Zeitwort u. s. w. des ersten 
Verses auch im folgenden Verse der gleiche grammatische Wert 
an gleichem Platze entsprechen mufs. Um die Wirkung eines 
derartigen syntaktischen Parallelismus nachempfinden zu können, 
mufs man sich gegenwärtig halten, dafs das chinesische Wort, 
dank seiner unveränderlichen Lautgestalt, viel mehr den Ein- 



— 271 - 

druck einer individuellen Einheit hervorruft als das einzelne 
Wort einer mehrsilbigen, ziunal einer flektierenden Sprache, weil 
dieses, je nach seiner grammatischen Funktion, den verschieden- 
artigsten lautlichen Veränderungen unterworfen ist, welche die ur- 
sprüngliche Stammform oft kaum wiedererkennen lassen. Das 
chinesische Wort erscheint, so zu sagen, als reine Substanz, die in 
den mehrsilbigen Sprachen hinter den wechselnden Attributen 
der grammatischen Flexion zurücktritt und sich dadurch der 
immittelbaren Wahmehmimg entzieht. Dazu kommt noch, 
dals im Chinesischen jedes Wort in der Schrift durch ein be- 
sonderes Wortzeichen repräsentiert ist, — ein Umstand, der sehr 
wesentlich dazu beiträgt, die wechselseitige Korrespondenz der 
einzelnen Glieder in zwei einander parallel laufenden Verszeilen 
so augenfällig zur Geltung zu bringen, wie sie selbst die wort- 
getreueste Übersetzung nicht einmal annähernd veranschaulichen 
könnte. Was bei dieser theoretischen Definition etwa noch im- 
klar geblieben sein könnte, wird an ein paar praktischen Bei- 
spielen sofort in die Augen springen. Man vergleiche nur Wort 
für Wort die einander in ihrer Anordnung entsprechenden Glieder 
des folgenden Verspaares*) in Bezug auf ihren Sinn sowohl wie 
auf die grammatische Funktion, die jedes einzelne von ihnen im 
Satzganzen versieht; auch achte man dabei auf das Verhältnis 
der einander entsprechenden Worttöne: 

I. ming^, licht, hell (Eigenschaftswort, Attribut des folgenden), 
yüeh, Mond (Hauptwort, Subjekt des SatzesX 
sung\ Fichte (Hauptwort), i 

kien^, zwischen (Verhältniswort, bezieht > Umstandsbezeichnung, 

sich auf das vorhergehende Wort), i 
chao^j leuchten (Zeitwort, Prädikat des Satzes). 
IL tS'ing^y rein (Eigenschaftswort, Attribut des folgenden), 
ts^üan*, Quelle (Hauptwort, Subjekt des Satzes), 
shih, Stein (Hauptwort), \ 

shang*, auf, über (Verhältniswort, bez. > Umstandsbezeichnung, 

sich auf das vorhergehende WortX ' 
liu^, flielsen (Zeitwort, Prädikat des Satzes). 

Ins Deutsche übersetzt, lauten die Verse: 

Der lichte Mond scheint durch die Fichten, 
Ein klarer Quell fliefst über das Gestein. 

*) W. Schott, Über die chinesische Verskunst, Abh. d. Kgl. Akad. 
d. Wissensch. zu Berlin, philos.-hist. Klasse, 1857, S. 71. 



— 272 — 

Eine ähnliche Kongruenz der Glieder zeigt auch das folgende 
Beispiel *) : 

I. shan \ Berg (Hauptwort als Umstandsbezeichnung), 
kuang^^ Sonnenglanz (Hauptwort, Subjekt des SatzesX 
huh, plötzlich (Umstandswort), 
51 \ Westen (Hauptwort als Umstandsbezeichnung), 
loh^ sinken (Zeitwort, Prädikat des Satzes). 

IL ch^i\ See (Hauptwort als UmstandsbezeichnungX 
yüeh, Mond (Hauptwort, Subjekt des SatzesX 
tsien\ allmählich (Umstandswort), 
tung^y Osten (Hauptwort als Umstandsbezeichnung), 
shang\ steigen (Zeitwort, Prädikat des Satzes).: 

Hinter dem Berge sinkt plötzlich der Sonnenglanz gen Westen, 
Über dem See steigt allmählich im Osten der Mond empor. 

In Achtzeilem wird der Parallelismus besonders gern in den 
vier mittleren Versen zur Anwendung gebracht. So grofs ist 
aber die Vorliebe für diese Ferra des poetischen Ausdrucks, dals 
es in chinesischen Städten wohl kaum ein Haus geben dürfte, 
an dem nicht zu beiden Seiten der Eingangsttir rote Papier- 
streifen mit daraufgeschriebenen antithetischen Versen angeklebt 
sind. Im ganzen Lande ist die Sitte verbreitet, diesen Schmuck 
alljährlich um die Zeit der Jahreswende zu erneuern, woraus 
man sich eine Vorstellung von dem erschreckenden Umfange des 
poetischen Massenbetriebes machen kann. Übrigens gilt auch in 
der Prosa der Parallelismus der Sätze und Satzglieder als ein 
Merkmal geschmackvollen Stils, und da chinesische Texte nur 
äulserst selten mit Interpimktion versehen sind, so erweist sich 
der Parallelismus oft als ein sehr willkonoimenes Hilfsmittel für 
die bisweilen aufserordentlich schwierige Abgrenzung und gram- 
matische Analyse der Sätze. 

Für die ästhetische Wtlrdigung der chinesischen Poesie konmit 
jedoch aufser der dichterischen Behandlung des Stoffes und aufser 
der mehr oder weniger strengen Beobachtung der aufgezählten 
prosodischen Vorschriften noch ein weiteres, auf den ersten Blick 
rein äufserliches Moment in Betracht: die Schrift. Es verdient 
hervorgehoben zu werden, dals die chinesische Sprache sich zur 
Bezeichnung der Begriffe »Wort« und »Schriftzeichen« desselben 



d^Hervey-Saint-Denys, 1. c, p. LXVL 



— 273 — 

Ausdrucks bedient; man kann daraus ersehen, dals Laut- und 
Schriftsymbol im Sprachbewufstsein der Nation zu der höheren 
Einheit des Wortbildes verschmolzen sind. Und in der Tat 
enthält die Wortschrift einen ungleich höheren Anschauungswert 
als die Buchstabenschrift, durch die das Wort in seine lautlichen 
Elemente zerlegt und seiner Einheit bis zu einem gewissen Grade 
entkleidet wird. Man braucht sich nur zu vergegenwärtigen, 
dafs im Chinesischen z. B. der Begriff »Osten« durch ein Schrift- 
bild wiedergegeben wird, das die hinter einem Baimie hervor- 
kommende, also aufgehende Sonne darstellt, oder dals das Zeichen 
für 1 Quell« aus einer Zusammensetzung der Schriftsymbole für 
»weils« und »Wasser« besteht und auf diese Weise die Vor- 
stellung eines klaren Gewässers hervorrufen soll, um zu ver- 
stehen, wie schon die äufsere Form der Schriftzeichen allein 
ein Stück Poesie enthalten kann. Und was bieten dagegen 
unsere Schriftbilder der Worte »Osten« und »Quell« ? Nichts 
weiter als fünf inhaltsleere Lautsymbole, die ohne jegliche Be- 
zugnahme auf den Vorstellungsinhalt der beiden Worte durch 
blofse mechanische Aneinanderreihung zu einem Ganzen ver- 
bunden sind. Es ist daher sicherlich auch kein leerer Zufall, 
wenn die Kalligraphie bei den Chinesen in so hohem Ansehen 
steht, dafs nicht nur, in wohltuendem Gegensatze zu der bei uns 
herrschenden Unsitte auf diesem Gebiete, jeder gebildete Mann 
sich einer möglichst schönen Handschrift befleifsigt, sondern auch 
die Namen berühmter Schönschreiber vergangener Zeiten in 
pietätvollem Andenken bewahrt bleiben: das Schreiben ist in 
ihren Augen eben kein blofser Notbehelf, sondern eine Kunst. 
Kein Wunder: jedes chinesische Plakat ist ein sprechender Be- 
weis für den omamentalen Wert der Schriftcharaktere, wie denn 
die Strafsen chinesischer Städte ihr malerisches Aussehen nicht 
zu dem geringsten Teile ihren Aushängeschildern verdanken. 
Es ist hier nicht der Ort, des näheren auf diesen Gegenstand 
einzugehen, obwohl sich über die Ästhetik der chinesischen 
Schrift eine ganze Abhandlung schreiben liefse; nur eines Punktes 
möchte ich Erwähnung tun, der für die Beurteilung der chine- 
sischen Kunst von mafsgebender Bedeutung ist: ich meine den 
Hang zur Symmetrie. Das Gesetz der Symmetrie beherrscht 
das ganze künstlerische Schaffen, gleichviel ob es sich um bil- 

Grnbe, Geschichte der chinesiachen Litteratnr. 18 



— 274 — 

dende Kunst, Dicht- oder Schreibkunst handelt. Für das einzehie 
Schriftzeichen z. B. gilt die Regel, dafs es einen quadratischen 
Ratun fülle, so dafs sich die Elemente, aus denen es zusammen- 
gesetzt ist, in ihren Gröfsenverhältnissen der Form des Ganzen 
unterzuordnen haben ; auch müssen sämtliche Schriftzeichen eines 
fortlaufenden Textes von gleicher Gröfse sein, wodurch auch ihre 
Anordnung in den einzelnen Zeilen symmetrisch wird. Recht- 
winklig wie die Form der Schriftzeichen sind auch in der Regel 
die chinesischen Städte angelegt. Rechtwinklige Arabesken sind 
besonders beliebt : der Mäander ist schon auf den ältesten Bronzen 
ein häufig wiederkehrendes Motiv. Die Architektur zeichnet sich 
durch streng symmetrische Gliederung aus, und die unverkennbare 
Vorliebe für paarweis geordnete Ziergegenstände und Nippsachen 
(Vasen z. B. hülsen einen sehr erheblichen Teil ihres Geldwertes 
ein, wenn sie impaar sind) entspringt ohne Zweifel gleichfalls 
dem tief eingewurzelten symmetrischen Gefühl. Aus alledem 
geht, wie mir scheint, klar hervor, dals das Schönheitsideal des 
Chinesen, im Gegensatz zu dem des Japaners, auf dem Gesetz 
der Symmetrie beruht. Und auf dasselbe Gesetz geht offenbar 
auch der Parallelismus als Form des poetischen Ausdrucks zu- 
rück. Man mag über die ästhetischen Vorzüge und Mängel der 
chinesischen Kunst verschiedener Ansicht sein, — eins wird man 
ihr nicht absprechen können: die Einheit des Stils. 

Diese Betrachtungen werden vielleicht manchem als mülsig 
und nicht zur Sache gehörend erscheinen ; dennoch sind sie weder 
das eine noch das andere. Denn um das künstlerische Schaffen 
einer unserem gewohnten Gesichtskreise femstehenden Volksindivi- 
dualität richtig und unbefangen werten zu können, müssen wir im 
Stande sein, es mit ihren Augen zu betrachten; lun aber das zu 
können, müssen wir ims zuvor über das Schönheitsideal klar 
geworden sein, das in den Werken jener Kunst nach seiner Ver- 
wirklichung ringt. Das gilt von der Dichtkunst nicht minder 
als von den bildenden Künsten. 

Um nun nach dieser Abschweifung auf den Einfluls der 
Schriftform auf die dichterische Form zurückzukommen, so zeigt 
sich dieser des weiteren in der Form locker aneinandergefügter 
Bilder, deren inneren Zusammenhang herzustellen der ergänzenden 
Phantasie des Lesers überlassen bleibt, — eine Eigentümlichkeit, 



— 275 — 

für die der folgende Vierzeiler des Li T'ai-poh^) einen be- 
sonders charakteristischen Beleg liefert: 

Eine Schildkröte lustwandelt auf einem Lotosblatte. 

Ein Vogel ruht im Innern einer Schilfblume. 

Ein junges Mägdlein rudert einen leichten Nachen, 

Die Töne seines Liedes folgen dem fliefsenden Gewässer. 

Es wird berichtet, dafs der Dichter diese Verse bei Gelegen- 
heit einer Kahnfahrt auf dem Tan-yang-See bei Nanking 
verfafst habe; daher auch der Titel des Gedichtes: »Der Tan- 
yang-See«. 

Ohne jegliche Reflexion sucht er den Eindruck des Augen- 
blicks festzuhalten und wiederzugeben : vier flüchtig hingeworfene 
Skizzen, die in dem äufseren Rahmen der Strophe zu einem Ge- 
samtbilde verbunden sind. Vier Momentaufnahmen gleichsam: 
die Schildkröte auf dem Lotosblatt, der schlummernde Vogel in 
der Schilfblume, das rudernde Mädchen im Nachen und der Ge- 
sang des Mädchens, dessen Töne mit dem Wasser dahinzufliefsen 
scheinen. Der Schildkröte entspricht der Vogel, dem Lotos- 
blatte die Schilfblume, der Bewegung der Schildkröte die Ruhe 
des schlunmiemden Vogels, dem jungen Mädchen das Lied, das 
es singt, dem strömenden Gewässer die dahinflielsenden Töne des 
Liedes. Die Seelandschaft, innerhalb deren sich die geschilderten 
Vorgänge abspielen, und die nur durch die Überschrift des Ge- 
dichtes angedeutet ist, auszumalen und die Einzelbilder im Rahmen 
des Ganzen zu lokalisieren und zu gruppieren: das sind Dinge, 
die der Dichter der Einbildungskraft des Lesers überläfst. So 
ist der Leser nicht nur als empfangender, sondern zugleich auch 
seinerseits als gebender Teil am Werke des Dichters beteiligt: 
dieser begnügt sich damit, den befruchtenden Keim in die Seele 
des Lesers zu legen, er gibt ihm das Thema an, zu dem er dann 
selbständig die passende Harmonie finden mag. Zugleich aber 
ermöglicht die durch den Parallelismus bedingte symmetrische 
Anordnung der Wortbilder eine konkrete Vorstellung, die in 
unseren Sprachen nur durch eine mehr oder weniger wortreiche 
fortlaufende Schilderung zu erzielen wäre. Der Reiz, den ein 
Gedicht wie das obige in der Urschrift auf den Leser ausübt, 
kann vielleicht dem Eindruck an die Seite gestellt werden, den 



') Edkins, On Li T*ai-po, with Examples of his Poetry, Journ. 

of the Peking Or. See., vol. II, p. 341. 

18* 



— 276 — 

jene in der chinesischen und japanischen Kunst so beliebten, mit 
wenigen, charakteristischen Pinselstrichen skizzierten Bilder in 
dem Beschauer hervorrufen. 

Will man nun das Gesamtergebnis alles dessen, was hier 
über den inneren Zusammenhang zwischen dem poetischen 
Gehalt der Dichtung und ihrer Wiedergabe durch die Schrift 
ausgeführt worden ist, in einem Satze zusammenfassen, so 
wird man sagen können: die poetische Litteratur der 
Chinesen will in gleichem Malse durch das Auge 
wie durch das Ohr aufgenommen sein. Für die Be- 
urteilung der chinesischen Poesie ist das ein ausschlaggebender 
Gesichtspunkt. Nur dem enthüllt sie ihre Reize, dem sie in ihrer 
ursprünglichen Gestalt zugänglich ist. Die chinesische Kunst- 
dichtung wurzelt ihrem ganzen Wesen nach so tief in dem eigen- 
tümlichen Charakter der Sprache und Schrift, dafs sie sich nicht 
auf einen anderen Boden verpflanzen läfst, ohne den Duft und 
die Farbe ihrer Blüten einzubüfsen. Es handelt sich hier um 
Schwierigkeiten, denen keine Übersetzungskunst gewachsen ist. 

Nachdem bisher vorwiegend von der äufseren Seite der 
chinesischen Verskunst die Rede war, wobei es hauptsächlich auf 
den inneren und äufseren Bau der einzelnen Verse und Strophen 
ankam, bedarf es zum Schlüsse noch eines kurzen Hinweises auf 
die Architektonik des Ganzen in Bezug auf die Gliederung des 
Inhalts. Hier gilt im allgemeinen die Regel, dafs ein Gedicht, 
um als ein einheitliches Ganzes empfunden zu werden, in vier- 
facher Gliederung Einleitung, Entwicklung, Übergang und 
Schlufs erkennen lasse. Nehmen wir z. B. das auf S. 267 mit- 
geteilte Gedicht. Der erste Vers: >Zu meiner Lagerstätte scheint 
licht der Mond hereinc bildet die Einleitung; er schildert die 
äufseren Umstände, die dem Dichter den Anlafs zu seiner Stim- 
mung oder Betrachtung boten. Die Entwicklimg besteht nun 
in dem Vergleich, durch den das Bild des ersten Verses im 
zweiten veranschaulicht und weiter ausgeführt wird: »Bedeckt 
mit fahlem Glänze wie kalter Reif den Raine. Die geschilderte 
Erscheinimg lenkt die Aufmerksamkeit auf sich: »Ich heb' das 
Haupt und blicke empor zum lichten Monde , und der Anblick 
des Mondes bildet nun den Übergang zu der Stimmung des 
Heimwehs, die im letzten Verse zum Ausdruck kommt und den 
Schlufs des Ganzen bildet. Natürlich ist die Gliederung nicht 



— 277 — 

immer so klar durchgeführt wie in diesem Beispiel, doch gilt sie 
in jedem Falle als eine ästhetische Forderung. 

Da es leider an brauchbaren Übersetzungen von Dichtungen 
aus dem Zeitalter der T^ang fehlt und eine nach Inhalt und 
Form adäquate Wiedergabe derselben obendrein aus den an- 
geführten Gründen so gut wie ausgeschlossen ist, mufste die 
theoretische Erörterung über die äulseren Formen der chinesi- 
schen Lyrik einen unverhältnismälsig breiten Raum in dieser 
Darstellung einnehmen. Nur auf diesem Wege schien es mir 
möglich, dem Leser doch wenigstens einen Begriff von dem zu 
geben, worin in den Augen des Chinesen der unvergängliche 
Reiz jener poetischen Schöpfungen liegt, — ein Reiz, der in dem 
fremden Gewände einer mehr oder minder mangelhaften Über- 
setzung doch immer nur in sehr unzulänglicher Weise zur Geltimg 
gebracht werden kann. 

2. Die lyrische Dichtung im Zeitalter der T*ang 
und ihr Einfluls auf die moderne Lyrik. 

Unter den Dichtem der T*ang-Zeit nimmt unbestritten 
Li T*ai-poh (699—762) die erste Stelle ein; kein anderer 
kommt ihm an Ruhm gleich, und heute noch ist sein Name in 
aller Munde. Wie es in China nichts Seltenes ist, dafs die Jünger 
des Apoll zugleich dem Bacchus huldigen, hat sich denn auch 
Li T*ai-poh nicht nur als Dichter, sondern auch als Sauf genie 
unsterblich gemacht. Der Zug ins Groteske, den seine Persön- 
lichkeit dadurch erhält, hat sicherlich nicht wenig zu seiner so 
aufserordentlichen Popularität beigetragen. Zahllos sind die Bilder, 
die ihn des süfsen Weines voll darstellen, zahllos auch die Anek- 
doten, in denen er in der wenig reputierlichen Gestalt eines 
Bruder Liederlich auftritt. Aus der Provinz Sz6-ch*uan ge- 
bürtig, kam Li T*ai-poh, sein Glück zu versuchen, im Jahre 
742 nach Ch'ang-ngan, woselbst er bald durch die Vermittlung 
eines Grolswürdenträgers, der an seinem Talente Gefallen ge- 
funden hatte, an den glänzenden Hof des kunstliebenden Kaisers 
Ming-hoang kam, und mm entspann sich zwischen Kaiser und 
Dichter ein Freundschaftsverhältnis, wie es in den Annalen der 
chinesischen Geschichte wohl einzig dastehen dürfte. So weit 
ging jener in seiner Zuvorkommenheit gegen ihn, dafs er ihm 
einmal höchsteigenhändig das Mahl serviert haben soll. Die 



X* 



— 278 — 

ungewohnten Ehren scheinen indessen dem launenhaften Poeten 
dermalsen zu Kopfe gestiegen zu sein, dals er sich zu allerhand 
Extravaganzen hinreilsen liefs, deren eine ihm schlielslich ver- 
hängnisvoll werden sollte. Eines Tages stellte er nämlich in 
Gegenwart des Kaisers an einen der einflulsreichsten Palast- 
eunuchen, Kao Lih-shi mit Namen, das Ansinnen, ihm die 
Stiefel auszuziehen, wozu sich dieser denn auch auf des Kaisers 
Geheifs bequemen mulste. Natürlich durfte ein solcher Schimpf 
nicht ungesühnt bleiben. Der gekränkte Eunuch ersah die 
Lieblingskonkubine des Kaisers zum Werkzeug seiner Rache, 
indem er ihr einredete, Li T'ai-poh habe sie in einem seiner 
Gedichte verhöhnen wollen. Die Folge davon war, dafs der 
Kaiser sich um des lieben Friedens willen von seinem Freunde 
trennen mufste. Nach dieser Katastrophe scheint der Dichter 
zumeist ein unstetes Wanderleben geführt zu haben , bis er 
schlielslich in eine Verschwörung verwickelt wurde, die ihm 
leicht hätte den Kopf kosten können. Über sein Ende sind zwei 
Versionen im Umlauf. Nach der einen soll er nach kurzer 
Krankheit im Hause eines Neffen gestorben sein. Nach der 
anderen hätte er auf einer Bootfahrt, wie gewöhnlich in an- 
geheitertem Zustande, nach dem im Wasser sich spiegelnden 
Monde greifen \i«rbllen und dabei, das Gleichgewicht verlierend, 
den Tod in den Flüi^^'gefunden. Ist die erste Version vielleicht 
die wahrscheinlichere , %o hat die zweite dafür den Vorzug , gut 
erfunden zu seini Li\T*ai-pöh"ist ein aufserordentlich frucht- 
barer Schriftsteller gewesen ; seine Schufen füllen dreilsig Bücher 
imd enthalten zum weitaus gröfsten Teil Lieder und Gedichte. 
Wie nicht anders zu erwarten, bildet das T^Ergo btbamust un- 
ständig wiederkehrendes Leitmotiv. Aber auch bei ihm ist jener 
ausgelassen fröhliche Genufs des Augenblicks, wie wir das bei ^ 
so vielen Dichtem und Denkern Chinas — und nicht nur Chinas 
allein — finden, im Grunde doch nichts anderes als ein Produkt 
pessimistischer Resignation, der Versuch, eine Stimmung, die sich 
nicht verscheuchen läfst, zu betäuben. Gerade in seinen Trink- 
liedern klingt dieser elegische Ton vielfach durch: 

Wenn tausendfach auch die Sorgen sind, 

Und drücken sie noch so schwer, 
Man trinke dreihundert Glas geschwind, 

Dann fühlt man sie nicht mehr. 



— 279 — 

So grois auch immer der Sorgen Zahl 

Und wenig dagegen der Wein, 
Sobald man hat geleert den Pokal, 

Stellt keine Sorge sich ein. 

Daran gerade erkennt man so recht, 

Dafs der Wein etwas Heil'ges sei: 
Er macht, sobald man genügend gezecht. 

Die Seele ganz klar und ganz frei.^) 

Mit Vorliebe knüpft er sein »Carpe dienn^ an die Vergäng- 
lichkeit des Daseins: 

Willst du von mir beraten sein, 
Weis' nicht zurück den Becher Wein. 
Sieh! wie der Frühlingshauch erwacht, 
Den Menschen froh entgegenlacht! 

Der Pflaum« und Pfirsichbaum, ei schaut 
Wie alte Freund* uns an so traut. 
Der Blütenzweig sich niedemeigt 
Und uns die offnen Blüten zeigt. 

Es tönen aus der Bäume Grün 
Der flüchtigen Sänger Melodie'n, 
Und in den goldnen Weinpokal 
Blickt tief der helle Mondesstrahl. 

Der Jüngling, dessen Antlitz noch 
Bislang ein frisches Rot durchflog, 
Geht heut bereits als Greis gebeugt. 
Vom Alter schon das Haupt geneigt. 

Mit Distel sind bedeckt jetzt all* 
Die Stufen vor des Shih Hu«) Hair. 
Es halten im Ku-su -Palast') 
Jetzt nur noch Reh* und Hirsche Rast. 

Dort, wo gethront seit alter Zeit 
Gar manches Kaisers Herrlichkeit, 
Im Stadttor jetzt die gelbe Erd* 
Dem Wanderer den Durchgang wehrt. 



') Forke, Blüten chinesischer Dichtung, S. 134. 

*) Shih Hu, auch unter dem Namen Shih Ki-lung bekannt, 
war König von Chao und nahm im Jahre 349 n. Chr. den Kaiser- 
titel an. 

•) [Im heutigen Su-chou. Anm. d. Übers.] 



— 280 — 

Willst wirklich du nicht trinken mehr 
Vom Weine jetzt, o Freund, so hör': 
Bedenke wohl, wo sind die heut, 
Die Menschen all' der alten Zeit?') 

Hin und wieder zeigt Li T*ai-poh auch einen prächtigen 
Humor; so, wenn er schildert, wie er mit dem Monde und seinem 
eigenen Schatten zu dritt dem Weine zuspricht. Es ist dfes wohl 
eines seiner besten Trinklieder*): 

Ich sitze in einem Blütenhain, 

Vor mir voll Wein eine Kann\ 
Ich muls ihn trinken f tlr mich allein. 

Denn es fehlt mir ein Zechkumpan. 

Wohlan! ich hebe den Becher empor 

Und lade den Mond mir ein. 
Sieh da! dort kommt auch mein Schatten hervor! 

Hallo! jetzt sind wir zu drei'n! 

Allein mein lieber Freund, der Mond, 
Versteht sich aufs Trinken nur schwach. 

Mein Schatten hingegen ist's besser gewohnt, 
Er tut es in allem mir nach. 

Indessen, ich will ganz zufrieden sein, 
Dafs der Mond mir den Schatten gebracht, 

Von ganzem Herzen des Gltlckes mich freu'n, 
Das heute so heiter mir lacht 

Kaum lass' ich ertönen meinen Gesang, 

So wiegt sich der Mond hin und her, 
Und jedesmal, wenn ich zu tanzen anfang*. 

Mein Schatten, so htlpfet auch der. 

Wir halten zusammen fröhliche Zech\ 

Solang' wir noch nüchtern sind, 
Doch geht ein jeder den eigenen Weg, 

Sobald erst sein Rausch beginnt. 

Wir können nicht immer beisammen sein: 

Möcht' wandern nicht früh noch spat. 
Drum sei unser nächstes Stelldichein, 

Wenn der Mond der Milchstrafse naht. 



Forke, a. a. O. S. 131. 
«) Ebendas. S. 132. 



- 281 — 

Ein paar Beispiele jener kleinen Moment- und Stimmungs- 
bilder, für die sich der Dichter mit Vorliebe der Form kurzer 
Vierzeiler bedient, sind bereits im ersten Abschnitte dieses Kapitels 
gegeben worden ; sie mögen gentigen, um eine Gattung zu kenn- 
zeichnen, die nicht nur von LiT*ai-poh, sondern auch von den 
übrigen Dichtem der T*ang-Periode vorzugsweise kultiviert 
wird. Daneben finden wir aber auch Gedichte mehr erzählenden 
Charakters, die an unsere Balladen erinnern. Im allgemeinen 
ist die chinesische Litteratur an Gedichten dieser Art nicht reich, 
weil der Geschichte Chinas, im Gegensatz zu der Japans, die 
Romantik des Rittertums so gut wie fremd ist. Hier sind Ver- 
schlagenheit und berechnende Intrige ungleich häufigere Er- 
scheinungen als tapferer Kampf mit offenem Visier und persön- 
licher abenteuernder Wagemut. Es ist dies ein hervorstechender 
Zug des chinesischen Nationalcharakters, der, wie mir scheint, 
auch der Litteratur seinen Stempel aufgedrückt hat : Verstellungs- 
kiust und Intrige finden in Roman und Drama eine ihnen 
besser entsprechende Ausdrucksform als in Ballade und Epos, 
und in der Tat hat die chinesische Litteratur kein Epos auf- 
zuweisen. Immerhin findet sich auch im alten China, zumal 
während der Kampf periode der drei Reiche, eine Menschengattung, 
der eine gewisse Romantik nicht ganz abzusprechen ist. Es sind 
dies die sogenannten Hieh-k*oh, eine Art fahrender Ritter, 
verzweifelte Existenzen zum Teil, die ihre Sache auf nichts ge- 
stellt haben, halb Abenteurer, halb Banditen, die um einer nach 
ihrer Ansicht guten Sache willen in der Wahl ihrer Mittel nicht 
gerade skrupulös sind. Oft leben sie in dunkler Verborgenheit, 
um unter dem Deckmantel irgend eines harmlosen bürgerlichen 
Berufes oder Gewerbes um so ungestörter ihren Plänen nachgehen 
zu können. Die Geschichte Chinas weifs zur Genüge von ihnen 
zu erzählen. Als im 3. Jahrhundert unserer Zeitrechnung der 
Staat C h a o in Gefahr war, von seinem mächtigeren Nebenbuhler 
Tsin besiegt zu werden, wandte sich der König von Chao an 
den von Wei um Hilfe. Dieser kam der Bitte auch nach, gab 
jedoch aus Furcht vor Tsins Übermacht seinem General die 
Weisung, sich auf die Defensive zu beschränken und keinen 
Angriff zu wagen. Vergeblich suchte Sin Ling, ein jüngerer 
Bruder des Königs von Wei, diesen zu einem energischeren Vor- 
gehen zu bewegen, indem er ihn auf die Gefahr hinwies, die 



— 282 — 

auch dem Staat Wei von Tsin drohte. In seiner Verzweiflung 
wandte sich Sin Ling an einen ihm bekannten Hieh-k'oh mit 
Namen Hou Ying, der als Hüter eines der städtischen Tore 
ein verborgenes Dasein führte. Dieser riet ihm, das königliche 
Siegel zu entwenden und einen königlichen Erlals zu fälschen, 
durch den ihm, dem Sin Ling, der Oberbefehl über die Hilfe- 
truppen übertragen würde. Unter den Günstlingen des Königs 
befinde sich einer, der noch nicht die Möglichkeit gehabt habe, 
den Tod seines Vaters zu rächen. Man brauche daher nur einen 
Hieh-k'oh zu gewinnen, dafs er das Haupt des Mörders zur 
Stelle schaffe, dann werde man mit Hilfe des dankbaren Sohnes 
sich leicht des königlichen Siegels bemächtigen können. Er ver- 
weist den Sin Ling für diesen Zweck auf seinen Genossen 
Chu Hai, der das bescheidene Gewerbe eines Metzgermeisters 
betreibt. Dieser wird denn auch für den Plan gewonnen, und 
das Unternehmen gelingt. Chu Hai erschlägt den Mörder und 
erlangt von jenem Günstlinge des Königs als Lohn der verdienst- 
vollen Tat das königliche Siegel, Nunmehr begibt sich Sin 
Ling mit der ihm angeblich vom Könige erteilten Vollmacht 
zum General, der die Truppen bis dahin befehligt hat, imd als 
dieser, den Betrug ahnend, zögert, sein Kommando dem Sin 
Ling abzutreten, schlägt ihn Chu Hai mit seinem schweren 
Hammer nieder, worauf er selbst den Oberbefehl über die Truppen 
übernimmt und das feindliche Heer aufs Haupt schlägt.*) Dieses 
sind die Vorgänge, auf die Li T^ai-po in seiner Ballade vom 
fahrenden Ritter*) anspielt. 

Ein Barett mit strupp'gfem Busche 

Zwar der Chao-Held nur besitzet; 
Doch wie Reif und Schnee so leuchtend 

Sein gekrümmtes Wu -Schwert blitzet. 

Mit dem Sattel silberstrotzend 

Sattelt er den prächtigen Schimmel; 
Fliegt dahin mit Blitzesschnelle 

Wie die Sternschnuppe am Himmel. 

Zehn Schritt vorwärts, und schon hat er 

Tödlich einen Mann getroffen. 

Darum steht auf tausend Meilen 

J Jeder Weg ihm frei und offen. 

^) d'Hervey-Saint-Denys, 1. c. p. 5—6. 

') Auch dieses und das folgende Gedicht ist Forke s Blüten chine- 
sischer Dichtung entnommen. 



— 283 — 

Vom Gewand den Staub nur schüttelt 
Nach dem Kampf er und verschwindet. 

Seine Spur, ja selbst seine Name 
Bleibt für jeden unergründet. 

Mit Sin Ling in Mufsestunden 

Er ein Glas zu leeren pfleget. 
Vorn quer über seine Kniee 

Er dabei den Degen leget. 

Öfter mit Chu Hai zusammen 

Läfst er nieder sich zum Mahle, 
Oder trinkt dem Freunde Hou Ying 

Zu aus seinem Weinpokale. 

Hat drei Gläser er getrunken 

Aufs gegebene Versprechen, 
Würd* er eher die fünf heil'gen 

Berge stürzen als es brechen. 

Wenn's ihm flimmert vor den Augen 

Und die Wangen glühn vom Weine, 
Wird der Ausfluls seines kühnen 

Geists zu einem Glorienscheine. 

Ein Schlag seines Eisenhammers, 
Und der Chao- Staat Rettung findet. 

Lange währt es, eh' in Han-tan 
Schreck und Staunen man verwindet. 

Zwei der Helden dieses Schlages 

Sind es, die nach tausend Jahren 
Noch den Ruhm glorreicher Taten 

In der Stadt Ta-liang bewahren. 

Weihrauch bringt man den Gebeinen, 

Ob sie gleich sind längst begraben, 
Vor den Grofsen dieser Tage 

Sie sich nicht zu schämen haben. 

Möchte niemand doch vertrauern 

In der Bücherei sein Leben, 
Und sich nicht mit weilsen Haaren 

Noch dem T*ai-hüan-king ergeben. 

Das im letzten Verse erwähnte Tai-hüan-king ist ein 
Werk des Y a n g H i u n g (s. S. 207 ff,), das sich mit dem Y i h - 
king befalst. Während bekanntlich sonst der Schreibpinsel in 
China in sehr viel höherem Ansehen steht als das Schwert, 



- 284 — 

preist Li T*ai-poh in seinen Gedichten wiederholt gegenüber 
der fruchtlosen Grübelei der Bücherwürmer den frischen Wage- 
mut und heiteren Lebensgenufs. So auch in dem Liede vom 
Jäger : 

Nie hält der Grenzstadt Sprosse 

Im Leben ein Buch in der Hand; 
Doch auf der Jagd zu Rosse, 
Da ist er flink und g^ewandt. 

Dem Rofs kommt der Herbst zu statten, 

Es nährt sich vom Gras der Prairien. 
Wenn sein Huf im Galopp stampft den Schatten, 

Wie hält er so stolz sich und kühn ! 

Mit güldner Peitsche streift er 

Den Schnee; die Scheide klirrt. 
Halbtrunken dem Falken pfeift er, 

Den auf das Feld er führt.' 

Den mondrund gespannten Bogen 

Schiefst nie umsonst er ab: 
Von einem Pfeil durchstochen 

Zwei Kraniche sinken herab. 

Wenn Leute am Meeresstrande 

Ihn sehen, geben sie Raum. 
Sein Ruhm durcheilt alle Lande, 

Bis an der Gobi Saum. 

Nie kommen die Doktoren 

Dem kühnen Jäger gleich. 
Weshalb sich in Bücher verbohren, 

Wenn schon das Haar wird bleich! 

Neben Li T'ai-poh wird sein Zeitgenosse Tu Fu (712—770) 
als der einzige ihm nahezu ebenbürtige Dichter genannt. Ob- 
wohl von glänzenden Anlagen, glückte es ihm doch nicht, den 
höchsten gelehrten Grad zu erringen, — ein Mifserfolg, durch den 
jedoch seine äulsere Laufbahn in keiner Weise beeinträchtigt 
wurde. Achtundzwanzig Jahrealt, kamernachCh'ang-ngan, wo- 
selbst er gleich einen innigen Freundschaftsbund mit Li T * ai-poh 
und dem gleichfalls als Dichter in hohem Ansehen stehenden Ts*en 
Ts*an schlofs. Auch ihn zog der Kaiser bald in seine Nähe, 
indem er ihm eine Anstellung an seinem Hofe gab. In seiner 
neuen Stellung lag es ihm ob, Listen über die zur Audienz zu- 
zulassenden Personen zu führen imd ihre Reihenfolge zu bestimmen. 



- 285 — 

Es scheint ein zwar ehrenvoller, aber nicht gerade einträglicher 
Posten gewesen zu sein, denn nach einiger Zeit richtete TuFu 
ein Gesuch in dichterischer Form an den Kaiser, in welchem 
er in beweglichen Worten seine Armut schildert und um eine 
Erhöhung seines Einkommens bittet. Die Bitte wurde ihm auch 
sofort gewährt, doch hat er sich nicht lange des Erfolges freuen 
können, da bald darauf ein Aufstand den Kaiser zur Flucht nach 
Szg-ch^uan und dann zur Abdankung nötigte. Diese Katastrophe 
blieb natürlich nicht ohne Einflufs auf des Dichters fernere Lebens- 
schicksale. Auch er mulste die Hauptstadt, die von den Auf- 
ständischen eingenommen wurde, verlassen und flüchtete in seine 
Heimatsprovinz Shen-si. Nach Unterdrückung des Aufstandes, die 
in kurzer Zeit erfolgte, kehrte Tu Fu wieder nach Ch*ang-ngan 
zurück imd wurde nun von dem neuen Kaiser Suh-tsung mit 
dem ehrenvollen Amt eines Zensors betraut. Der unerschrockene 
Freimut jedoch, mit dem er zu Gunsten eines in Ungnade ge- 
fallenen hohen Würdenträgers in die Schranken trat, kostete ihm 
bald seinen Posten. Er wurde zum Präfekten einer Stadt seiner 
Heimatsprovinz ernannt, was natürlich einer Degradierung gleich- 
kam. Tu Fu gab denn auch, obwohl er gänzlich unbemittelt 
war, der Freiheit den Vorzug und zog sich nach Szö-ch^uan 
zurück, wo er zuerst unter den gröfsten Entbehrungen sein Da- 
sein fristen mufste, bis er endlich auf die Fürsprache des Militär- 
gouvemeurs der Provinz wieder eine Anstellung im Staatsdienste 
erhielt. Sechs Jahre lang hielt er es auf dem neuen Posten aus; 
dann ergriff ihn, nachdem sein Gönner inzwischen gestorben war 
imd ihm ein Vermächtnis hinterlassen hatte, abermals die 
Wanderlust. Zunächst begab er sich nach K'uei-chou im öst- 
lichen Grenzgebiete von Sz6-ch'uan und liefe sich bald darauf 
in Lung-yang in der Nachbarprovinz Hu-kuang nieder. Aber 
seine Tage waren bereits gezählt. Als er sich eines Tages ohne 
Begleitung auf den mächtig angeschwollenen Strom hinausgewagt 
hatte, sah er sich bald nicht mehr im stände, den Nachen zu 
lenken; nur mit Mühe vermochte er sich in einen verlassenen 
Tempel zu retten, wo er nach einer Reihe von Tagen halb 
erfroren und verhungert aufgefunden wurde. Um seine Rettung 
zu feiern, veranstaltete der Präfekt von Lung-yang ein Bankett; 
aber sein durch die überstandenen Entbehrungen geschwächter 
Magen war den Genüssen des üppigen Mahles nicht mehr ge- 



- 286 - 

wachsen. Am nächsten Tage fand man den Dichter tot in 
seinem Bette. 

Werfen wir einen flüchtigen Blick auf das dichterische 
Schaffen des Tu Fu, so springt eine unverkennbare Ähnlichkeit 
zwischen ihm und seinem grölseren Zeitgenossen sowohl in der 
Wahl der Stoffe als auch in der äufseren Formengebung in die 
Augen. Auch hier haben wir es zum gröfseren Teile mit kurzen 
Augenblicks- und Stimmungsbildern, zum geringeren Teile mit 
längeren Gedichten erzählenden Charakters zu tun. Mehr als 
Li T'ai-poh befafst sich Tu Fu mit den Ereignissen seiner 
Zeit, besonders mit den langwierigen Kämpfen in den Grenz- 
gebieten des Reiches und den verheerenden Folgen des Krieges, 
unter denen das Volk zu leiden hat; und gerade unter den 
poetischen Schilderungen dieser Art gibt es manche, die durch den 
schlichten und lebenswahren Ton der Erzählung ergreifend 
wirken. So das Gedicht, in welchem er den Ausmarsch der 
Soldaten schildert. Auf wiehernden Rossen, mit Pfeil und Bogen 
bewaffnet, ziehen sie zur Stadt hinaus. Väter und Mütter, 
Frauen und Kinder drängen sich in ihre Reihen; unter Weh- 
klagen und Tränen bieten sie den Scheidenden das letzte Lebe- 
wohl. Widerwillig ziehen die Kämpfer in einen Krieg, der kein 
Ende nimmt und Opfer auf Opfer fordert; fünfzehnjährig ver- 
lassen manche von ihnen die Heimat, um erst als ergraute 
vierzigjährige Männer zurückzukehren, — und kaum sind sie 
heimgekehrt, so müssen sie sich auch schon aufs neue zum 
Kampfe rüsten. Der Kaiser vernimmt nicht den Verzweiflungs- 
schrei seines Volkes. Vergeblich greifen die Weiber nach Hacke 
und Pflug, — Unkraut und Gedöm überwuchert den verlassenen 
Boden. Einzelne unter den Ausrückenden machen ihrem Unwillen 
Luft: man sei nachgerade so weit gekommen, die Geburt eines 
Sohnes als ein Unglück anzusehen und sich über die Geburt von 
Töchtern zu freuen, denn diesen könne man allenfalls noch 
Männer finden, aber den Knaben sei vorzeitiger Tod ein sicheres 
Los, und fem von der Heimat werden dereinst ihre unbegrabenen 
Gebeine bleichen. — Ähnlich im Tone ist auch das Gedicht, 
in welchem geschildert wird, wie der Werber ins Dorf kommt 
imd Furcht vmd Schrecken um sich her verbreitet. Selbst Greise 
ergreifen die Flucht vor ihm, denn auch sie sind in dieser Zeit 
ihres Lebens nicht sicher. Eine alte Matrone, deren Sohn bereits 



— 287 — 

im Felde steht, während ihr Enkel noch an der Mutter Brust 
ruht, erbietet sich, dem Heere zu folgen: alt sei sie zwar und 
von geringen Kräften, aber für die Soldaten den Reis zu kochen 
und ihnen das Mahl zu bereiten, werde sie immerhin noch im 
Stande sein. Nur um den greisen Gatten nicht in die Hände 
des Werbers fallen zu lassen, verläfst sie Haus und Hof und 
bringt sich selbst zum Opfer. 

Es geht ein Zug der Schwermut durch die meisten Dich- 
tungen des Tu Fu. Wie bei Li T'ai-poh sind auch bei ihm 
die Vergänglichkeit des Daseins, das rasche Herannahen des 
Alters mit seinen Gebrechen, die Nichtigkeit des Individuums, 
das einer Libelle gleich zwischen Himmel und Erde dahinfliegt, 
beständig wiederkehrende Leitmotive. Während aber jener seinen 
Weltschmerz im Weine zu ertränken oder im Genufs des Augen- 
blickes zu vergessen vermag, findet dieser in dem, was der 
Augenblick ihm bietet, keinen Ersatz für das, was er mit jedem 
Tage an Lebensdauer vmd Lebensglück dahingehen muls. Wider- 
standslos gibt er sich seinen Gefühlen hin, und selbst die Freuden 
des Rausches scheinen ihm versagt zu sein. Man lese z. B., wie 
er mitten in der Freude über das nach zwanzigjähriger Trennung 
erfolgte Wiedersehen mit einem alten Frevmde von dem weh- 
mütigen Gedanken an den bevorstehenden Abschied übermannt 
wird: 

Die Menschen leben hin und sehn einander kaum, 
Orion und Venus gleich, getrennte Pfade wandelnd. 
Wann kehrt ein Abend wie der heuf ge einmal wieder, 
Da du und ich derselben Lampe Schein geniefsen? 

Wie lange währt die Jugend, Manneskraft wie lange? 
Schon sind sie beide hin, und Haar und Bart ergraut! 
Die Hälfte unsrer Freunde weilt im Schattenreiche: 
Denk' ich daran, packt heifser Schreck mein Eingeweidet 

Nach zwanzig Jahren jetzt, — wer hätte das gedacht, 
Dafs ich dein Haus noch einmal sollt' betreten? 
Als wir uns trennten einst, warst du noch unbeweibt — 
Blickst jetzt, sieh da, auf eine blühende Kinderschar! 

Wie fröhlich sie des Vaters alten Freund empfangen 
Und eifrig nach dem Lande seiner Heimat forschen! 
Doch eh noch ihren Fragen ich Bescheid gegeben. 
Sind sie auch schon bereit, den Wein herbeizuschaffen. 



— 288 — 

Trotz Nacht und Regen schneiden sie den Frtlhlingslauch, 
Und dann gibt's frischgekochten Reis mit gelber Hirse. 
Der Hausherr spricht davon, wie selten wir beisammen, — 
Und eh man sich's versieht, sind schon zehn Becher leer. 

Doch spurlos bleibt des süfsen Weines Wirkung: 
Bewegt ist mir das Herz von alter Freundschaft Treue. 
Schon morgen liegen, ach, Gebirge zwischen uns: 
Das ist der Gang der Welt — ein ewig flutend Meer! 

Die tiefgreifende innere Verschiedenheit der beiden Dichter 
beschränkt sich indessen nicht auf ihre Lebensauffassung, — 
sie tritt ebensosehr in der Geschmacksrichtung hervor, die ihr 
ganzes dichterisches Schaffen beherrscht. Während L i T ' a i - p o h 
sich dem gewonnenen Eindrucke voll hingibt, um ihn dann aus 
sich heraus mit unmittelbarer Anschaulichkeit zu einem poetischen 
Bilde umzugestalten, ist Tu Fu meist darauf bedacht, die äulseren 
Eindrücke an der Hand geschichtlicher Erfahrung zu deuten ; das 
lebendige Bild erstarrt dadurch bei ihm nur zu oft zu einem bloüsen 
Symbol oder zu dner toten Allegorie. Selbst seine kurzen Vier- 
zeiler sind oft derart mit dem Ballast historischer und mytho- 
logischer Anspielungen überladen, dafs sie eines fortlaufenden 
Kommentares bedürfen, um verständlich zu werden. Es ist keine 
naive, sondern gelehrte Dichtung, in welcher die Reflexion vor- 
waltet. Gedichte wie die vorhin erwähnten bilden bei ihm eigent- 
lich nur eine Ausnahme von der Regel. Es darf dabei jedoch nicht 
vergessen werden, dafs, was wir als eine Beeinträchtigung der 
dichterischen Form empfinden, in den Augen des gebildeten 
Chinesen umgekehrt zur Erhöhung des litterarischen Genusses 
beiträgt. Bei diesem Charakter der Dichtungen des Tu Fu 
wird es begreiflich erscheinen, dafs die meisten von ihnen so 
gut wie unübersetzbar sind; im besten Falle wird man sie noch 
in der Form freier Nachdichtungen reproduzieren können. Damit 
aber der Leser wenigstens einen ungefähren Begriff von der Manier 
des Dichters erhalte, versuche ich, vier seiner Herbstgesänge, 
die er nach der unfreiwilligen Niederlegung des Zensoramtes wäh- 
rend seines Aufenthaltes in K*uei-chou verfasst hat, imd in 
denen er der Sehnsucht nach der Stätte seines bisherigen Wirkens 
Ausdruck leiht, in prosaischem Gewände wiederzugeben: 

I. Von weifsem Reif erfroren sind die Ahornwälder, und 
in den Schluchten der Wu-sh an- Berge geht ein Rauschen 



— 289 — 

durch das stille Waldesdickicht. Himmelan türmen sich die 
Wellen des Stromes, mid der Sturm aus den Grenzgebieten ballt 
die Wolken mit den Nebeln der Erde zusammen. Von den 
Tränen vergangener Tage genetzt, haben die Chrysanthemen 
scbon zweimal ihre Kelche geöffnet.*) Im einsamen Nachen 
sitzend, zieht es mich unablässig zur alten Heimat hin. Aller- 
orten ist man mit Schere und Elle zur Hand, um winterliche 
Gewänder anzufertigen, und von der Höhe der Stadtmauer ver- 
nehme ich das abendliche Wäscheklopfen. 

IL Während die dünn bevölkerte hügelige Vorstadt im 
Morgengrauen daliegt, sitze ich Tag für Tag auf dem Turm am 
Flusse, die grünschimmernden Berge um mich her. Immer noch 
ziehen die heimkehrenden Fischer nach durchwachten Nächten 
stromauf, stromab, an mir vorüber, immer noch flattern die 
Schwalben in der kühlen Herbstluft hin und wieder. Wie 
K*uang-Heng*) bin ich in offenem Schreiben dem Kaiser 
entgegengetreten, doch ward mein Name der Geringschätzung 
preisgegeben. Wie Liu Hiang®) mich der Überlieferung der 
heiligen Texte zu widmen, widerstrebt meinem Herzen. Wenn 
ich der Gefährten meiner Jugend gedenke: gar manche von 
ihnen sind in angesehener Stellung und tummeln in leichten Ge- 
wändern ihre fetten Rosse auf den fünf Hügeln.*) 

III. Das Tor des P*eng-lai-Palastes*) ist gegen den 
Südberg gerichtet ; himmelan reckt sich der eherne Säulenschaft •) 



Seit zwei Jahren weilt der Dichter fem von der Heimat. 

')K^uang Heng hatte ein tadelndes Schreiben an den Han- 
Kaiser Yüan-ti (48—33) gerichtet, ohne dadurch in Ungnade zu fallen. 

') Liu-Hiang (80—9 v. Chr.) widmete sich, nachdem er in Un- 
gnade gefallen, ganz dem Studium und der Herausgabe der kanoni- 
schen Texte. 

*) Wu-ling, die fünf Hügel, ist der Name der kaiserlichen Grab- 
stätten bei Ch*ang-ngan, zugleich ein beliebter Ausflugsort. 

*) P*eng-lai heifst eine der drei fabelhaften Inseln, die von 
Genien bewohnt sind. Hier ist der so benannte kaiserliche Palast von 
Ch^ang-ngan gemeint. 

®) Der H an -Kaiser Wu-ti hatte vor seinem Palaste einen Turm 
von Zypressenholz errichten lassen; auf demselben stand auf einer 
ehernen Säule eine Statue, die einen Sien, d. h. einen der Unsterb- 
lichen darstellte. Derselbe hielt eine Schale in den Händen, die be- 
stimmt war, den Tau zu sammeln. Mit pulverisiertem Jade vermischt 
genossen, verlieh der Tau Unsterblichkeit. 

Grube, Geschichte der cbinesischen Litteratnr. 19 



— 290 — 

mit den Schalen, in denen der Tau sich sammelt ; westwärts liegt 
der Jaspissee, zu dem die königliche Mutter des Westens *) hinab- 
steigt, und im Osten liegt Han-Kuan in purpurnen Hauch ge- 
hüllt^). Buntem Gewölke gleich bewegen sich die Wedel aus 
Fasanenfedem ") aus dem geöffneten Palast, und die sonnen- 
umglänzten Drachenschuppen*) lassen das geheiligte Antlitz er- 
kennen. Nachdem ich jetzt die Nacht am kalten Strome ver- 
bracht, gewahre ich mit Schrecken das Ende meiner Jahre. 
Wie lange ist es her, dafs ich, an dem mit blauem Schnitzwerk 
verzierten Palasttore sitzend, die Reihenfolge derer zu bestinmien 
hatte, die an den Hof beschieden waren! 

IV. Der Kun-ming-See*^) ist ein Werk der Ha n -Zeit: noch 
sind mir die Fahnen und Wimpel des Kaisers Wu-ti vor Augen, 
wie sie über ihm flattern ; die Weberin ®) spinnt ihre Seidenfäden 
durch die Leere der mondbeschienenen Nacht, und der steinerne 
Walfisch regt seine Schuppen'), vom herbstlichen Winde be- 



Si-wang-mu, *die königliche Mutter des Westens», ist eine 
Gestalt aus der taoistischen Mythologie. Sie herrscht im westlichen 
Paradiese auf den Höhen des Kun-lun über die Unsterblichen. In 
der Nähe ihres Palastes befindet sich der Jaspissee, Yao-ch*i. Im 
Gedichte soll jedoch ein nach jenem benannter Teich in der Nähe von 
Ch*ang-ngan zu verstehen sein, an dem nach der Legende die 
Göttin dem C ho u- Könige Muh-wang (11. Jahrhundert v. Chr.) er- 
schienen war. 

*) Als Lao-tszS sich auf seiner Wanderung gen Westen dem 
Grenzpasse Han-kuan näherte, verkündete ein purpurner Schimmer 
seine Ankunft. 

') Damit sind die Fächerwedel aus Fasanenfedern gemeint, die zu 
beiden Seiten der kaiserlichen Sänfte getragen wurden. 

*) Die Drachenschuppen bedeuten die Person des Kaisers. Mög- 
licherweise lag dem Bilde die Vorstellung von dem kaiserlichen 
Schuppenpanzer zu Grunde. -Gegen die Drachenschuppen anfahren« 
z. B. bedeutet so viel wie dem Kaiser Vorstellungen machen. 

^) Nachdem die Truppen des Ha n -Kaisers Wu-ti in der heu- 
tigen Provinz Yün-nan von dem Volksstamme der Kun-ming in 
einer Schlacht auf dem T*ien-ch*i-See geschlagen worden waren, 
liefs der Kaiser in der Nähe von Ch*ang-ngan einen künstlichen See 
anlegen, auf dem Seegefechtsübungen abgehalten wurden. Derselbe 
erhielt den Namen Kun-ming-See. 

®) Mit dem Namen der Weberin wird ein Stern der Lyra bezeichnet. 

') Mitten im See war ein steinerner Walfisch mit beweglichen 
Schuppen aufgestellt. 



— 291 — 

wegt ! Jetzt sind die Wellen des Sees von Wasserreiskömern ge- 
trübt, und Lotosblumen, die durch den kalten Tau ihre Kelche 
verloren, färben sie mit ihren roten Blättern. Weit am Horizonte 
sind die Grenzmarken, nur auf des Vogels Wegen erreichbar, 
imd in dem von Flüssen und Seen durchströmten Lande sitze 
ich, einem alten Fischersmanne gleich. — 

Wie man sieht, ist der Dichter bemüht, die poetische 
Stinunung dadurch zu erhöhen, dafs er den Schauplatz der Be- 
gebenheit aus der Gegenwart in eine Zeit ruhmreicher Ver- 
gangenheit zurückverlegt, — ein Verfahren, das zugleich geeignet 
ist, die eigene Gelehrsamkeit ins rechte Licht zu rücken. 

Was von Li T'ai-poh und Tu Fu gesagt worden ist, 
gilt mutatis mutandis auch von den übrigen Dichtem der 
T'ang-Zeit, gleichviel, ob sie jenen zeitlich vorangingen oder 
nachfolgten. Die Individualität des einzelnen tritt weniger in 
der Art seines dichterischen Schaffens als in dem geringeren 
oder höheren Grade seines Talentes hervor, — die Einheit des 
Stiles bleibt immer das vorwaltende. Die WangPoh, Ch'en 
Tszö-ngan, Loh Pin-wang, Ts'en Ts*an, Ts'ui Hao, und 
wie sie sonst heilsen mögen , sie alle sind gleichsam an demselben 
Bauwerk tätig, durch dessen ursprünglich vereinbarten Grundrife 
und Stil ihr Schaffen von Haus aus gebunden und bestimmt er- 
scheint. Wenn einzelne unter ihnen, wie Sung Chi-wei und 
Wang Wei, buddhistische, andere, wie Ch'ang Kien, Chao 
Han, Wei Ying-wu, Wang Chang-ling, taoistische Ten- 
denzen erkennen lassen, so sind das geringfügige Besonderheiten, 
die neben dem nach Inhalt und Form einheitlichen Charakter 
des Ganzen kaum in Betracht kommen. So gern ich auch trotz 
alledem die wenigen angeführten Beispiele durch eine Auswahl 
von Proben aus anderen Dichtern vervollständigen würde, sehe 
ich mich doch durch die Grenzen des eigenen Könnens genötigt, 
auf ein von * vornherein aussichtsloses Beginnen zu verzichten. 
Der Kunsthistoriker mufs zwar imstande sein, ein Kunstwerk zu 
schildern oder zu beurteilen : es zu kopieren wird er wohlweislich 
dem Künstler überlassen. Ähnlich liegt die Sache, wo sich's darum 
handelt, Dichtungen aus fremden Zungen in die eigene Muttersprache 
zu übertragen. Mit einer wortgetreuen Übersetzung ist hier wenig 
erreicht ; vielmehr beruht die Übersetzungskunst auf der Fähigkeit, 
das Original nicht nur dem Sinne und dem Wortlaute nach so 

19* 



— 292 — 

getreu als möglich wiederzugeben, sondern auch die ästhetische Wir- 
kung, die von jenem ausgeht, in der Seele des Lesers hervor- 
zurufen. Nur selten ist, wie bei Rückert und V. v. Strauf s, 
philologisches Wissen mit dem Genius des Dichters in glücklichem 
Bunde vereint. Ich glaube mich aus den angeführten Gründen mit 
dieser allgemeinen Charakteristik der T ' a n g -Dichtung begnügen 
zu dürfen, zumal ein näheres Eingehen auf ihre einzelnen Ver- 
treter imd deren Eigentümlichkeiten durch die überreiche Fülle 
des Stoffes ausgeschlossen erscheint; enthält doch die im Jahre 
1703 auf kaiserlichen Befehl herausgegebene Sammlung der 
poetischen Litteratur jener Periode die stattliche Zahl von nahezu 
50000 Gedichten.») 

Im Zeitalter der T^ang hat die chinesische L3rrik den Höhe- 
punkt ihrer Blüte und in gewissem Sinne auch zugleich ihren 
Abschlufs erreicht. Nicht etwa dafs die poetische Produktion 
aufgehört hätte — in keinem Lande der Welt wird vielleicht so 
beängstigend viel gedichtet wie gerade in China — , aber seit einem 
Jahrtausend schon nährt sich die Dichtung vom Ruhme der Ver- 
gangenheit, und in der unübersehbaren Schar der späteren Dichter 
ist kaum ein originelles Talent zu entdecken.*) Man kann 
kaum mehr von einer Dichtkunst, sondern höchstens noch von 
einer Verskunst reden, denn je länger je mehr ist die Dichtung 
auf das Niveau einer blofsen Fertigkeit herabgesunken; sie ist 
zu einer lernbaren, daher jedermann zugänglichen und von jeder- 
mann geübten Technik geworden und nimmt seit dem Nieder- 
gang ihrer Blütezeit eine ähnliche Stellimg ein wie etwa bei uns 
das Klavierspiel. Sie wird daher auch meist nicht mehr als 
Selbstzweck, sondern als Nebenbeschäftigung betrieben, als eine 
Nebenbeschäftigung freilich, die zum guten Tone gehört. Während 
die Poesie im Zeitalter der T*ang geradezu den Mittelpunkt des 
geistigen Lebens bildete, treten während der folgenden Jahr- 
hunderte allmählich litterarische Bestrebungen anderer Art in 



Eine mir vorliegende, in Japan erschienene Auswahl von Ge- 
dichten aus der T*ang- Periode enthält Proben von nicht weniger als 
250 Dichtem. 

*) Proben der neueren chinesischen Dichtung findet man in Im- 
bault-Huart, La Poesie Chinoise du XIV« au XIX« siecle. Paris 
1886. 



— 293 — 

den Vordergrund, so unter den Sung die Philosophie, unter 
den Ytian das Drama, unter den beiden letzten Dynastien 
neben der gelehrten Sammelarbeit die erzählende Dichtung in 
der Form des Romans und der Novelle. Immerhin ist unter 
den Vertretern der modernen lyrischen Dichtung wenigstens 
einer zu nennen, der den Trofs der Mittelmässigkeiten um 
Haupteslänge überragt: Yüan Tsz6-ts*ai (1716— 1797) »). 
In Hang-chou, der malerisch am hügeligen Ufer des Si-hu- 
Sees gelegenen Hauptstadt der Provinz Cheh-kiang und ehe- 
maligen Hauptstadt des Reiches, geboren, schlug Ytian Tsze- 
ts'ai nach bestandenen Staatsprüfungen, wie jeder litterarisch 
gebildete Chinese, die Beamtenlaufbahn ein. Mancherlei Auf- 
zeichnungen, die sich auf seine öffentliche Tätigkeit beziehen, 
lassen den Eifer erkennen, mit dem er seinen dienstlichen 
Pflichten oblag, und es unterliegt wohl keinem Zweifel, daüs er 
es zu hohen Ämtern und Würden gebracht haben würde, wenn 
er sich nicht durch Reibungen mit seinen vorgesetzten Behörden 
bewogen gefühlt hätte, sich schon frühzeitig ins Privatleben 
zurückzuziehen. Nachdem es ihm gelungen war, inNan-king 
ein kleines Grundstück zu erwerben, gab er sich von nun an 
gänzlich seinen poetischen Neigungen hin. Dort sanunelte sich 
ein Kreis gleichgesinnter Genossen und Genossinnen um ihn, so 
dafs sein Gartenhaus durch die litterarischen Zusanmienkünfte, 
die dort stattfanden, bald den Ruhm einer Art freier Akademie 
erlangte. Aufser zahlreichen Dichtungen hat er auch eine grofse 
Anzahl prosaischer Schriften über Gegenstände aus allen mög- 
lichen Gebieten verfafst, unter denen ein Werk über die Koch- 
kunst nicht die schlechteste sein soll. Unter seinen Dichtungen 
nehmen neben den lyrischen Stücken, die durchaus im Stile der 
T' an g -Lyrik gehalten sind, seine poetischen Beschreibimgen und 
Schilderungen die erste Stelle ein. Die Elegie auf den Tod 
seiner dritten Tochter A-liang^) mag als eine Probe der letzt- 
genannten Gattung dienen. Das Gedicht besteht zwar aus 144 



') S. Imbault-Huart, Un Poöte Chinois du XVIII« Si^cle. 
Yuen Tseu-ts'ai, sa vie et ses oeuvres. Journ. ofthe China Branch 
of the Royal Asiatic Society, New Series, vol. XIX, Part II, pp. 1—42. 

') Imbault-Huart, Po^sies modernes, traduites pour la premi^re 
fois du Chinois. Peking und Paris 1892, p. 46 ff. 



— 294 — 

fünfftifsigen Reimversen, doch ziehe ich vor, es in prosaischer 
Form wiederzugeben, die die Wirkung des Ganzen hier weniger 
beeinträchtigen dürfte, als es bei kleineren lyrischen Gedichten 
der Fall sein würde. 

»Meine dritte Tochter war von sanftem und freundlichem 
Wesen; A-liang hiefs sie mit Namen. Kaum fünf Jahre alt, 
kannte sie schon über zweitausend Schriftzeichen. Jeden Tag 
erhob sie sich mit Morgengrauen und kam, die Bücher unterm 
Arm, zu ihrem Vater, der ihr die Gedichte der T' an g -Zeit er- 
klärte. Melodisch klangen die Verse aus ihrem Munde, und 
wenn ich ihr kurze Erläuterungen gab, liefs sie ihr ,Ja' ver- 
nehmen und nickte dazu mit dem Kopfe. Pries jemand ihre 
Klugheit, so senkte sie bescheiden das Haupt und liefs sich keine 
Zeit, hinzuhören. Mit ihrer jüngeren Schwester war sie in 
inniger Liebe verbunden; Wildgänsen glichen die beiden, die 
hintereinander herfliegen. Gab man ihr eine Kastanie oder 
eine halbe Birne, so mochte sie sie nicht eher annehmen, als 
bis sie die Schwester hinzugerufen, um die Gabe mit ihr zu 
teilen. Wenn sie einmal Spielsachen bekommen hatte, liefs sie 
sie wohl tagelang im Kasten liegen, bis die kleine Schwester 
die ihrigen verloren hatte, um sie ihr dann ersetzen zu können. 
Hatte eine der Mägde sie einmal gekränkt, so konnte sie wohl 
bitterlich weinen; sobald jedoch ihr Vater die Magd züchtigen 
wollte, bat sie ihn mit verhaltenen Tränen, ihr doch die Schläge 
zu erlassen, und schon im nächsten Augenblick gab sie der 
• Magd von ihrem Naschwerk zu kosten. 

Ein Säugling noch, trug sie doch kein Verlangen nach der 
Amme, und als einjähriges Kind war sie schon hinter Nasch- 
werk her. Aus seltenen Leckerbissen machte sie sich dennoch 
nichts, sondern schluckte ebenso gern ihren groben Reis. Wie 
ein Schatten, wie ein Echo folgte ihr Verständnis dem Unter- 
richt, imd dem Guten eilte sie nach wie der Wind dem Boots- 
maste. 

Morgens spielte sie mit Pinsel und Farben, abends schnitt 
sie Kleider aus Papier zurecht, und wenn diese auch nicht ge- 
rade nach den Regeln der Kirnst gerieten, so hatten sie doch 
zumeist eine gefällige Form. 

Im Frühling und im Herbste, wenn die grolsen Opfer statt- 



- 295 — 

fanden*), begann sie schon um die fünfte Nachtwache*) sich zu 
schmücken und sich im Grulse der Männer zu üben. Dann 
stellte sie sich in grüCsender Haltung am östlichen oder west- 
lichen Flügel auf, und wenn ein hoher Mandarin oder ein 
älterer Mann erschien, trat sie hervor, ihn zu begrüfsen, ohne 
ein unpassendes Benehmen an den Tag zu legen. Alle waren 
von ihrer Ähnlichkeit mit dem Vater betroffen und hielten sie 
irrtümlich für dessen geliebten Sohn. 

Wenn meine Nebenfrau Fang, die vierzig Jahre alt ist, 
sich grämte, dafs sie keine Kinder hat, wuIste das Mädchen 
ihre Gedanken zu erraten, warf sich ihr in die Arme vmd nannte 
sie , Mutter ^ Daher liebte jene sie auch mehr, als wenn sie ihr 
eigenes Kind gewesen wäre, und bei jedem Schritte stützten sie 
sich gegenseitig.*) Als ich eines Tages damit beschäftigt war, 
mein Studierzimmer zu ordnen und all die Raritäten und kost- 
baren Steine aufzustellen, kam sie zufällig hinzu und sagte voll 
Freude: ,Wie wundervoll!' und nachdem sie sich einmal nieder- 
gesetzt hatte, wollte sie gar nicht wieder aufstehen, sondern sah 
zu, wie ich meine schriftstellerischen Arbeiten ordnete. Wenn 
sie erfahren hatte, dafs ich an Zahnweh litt, brachte sie mir 
Sülsigkeiten herbei, und wenn sie wufste, dafs ich nachts noch 
nicht heimgekehrt sei, blickte sie, auf ihrem Bette liegend, auf 
den Schein meiner Lampe. Sie hatte nicht nur ein liebevolles 
Gemüt, sondern auch ein gesittetes Benehmen. 

Die Pupillen ihrer Augen glichen schwarzen Lacktüpfelchen, 
und ihre Stirn war an den Schläfen genau rechtwinklig gebogen, 
so dafs alle sagten: ,Wenn sie erst erwachsen ist, wird ihr ein 
unermefslich Glück zu teil.'*) Obwohl ich alt war und keinen 
Sohn hatte, vergafs ich doch in deinem Besitze meinen Kummer. 
Wie liebte ich, mich auf deine weiche Hand zu stützen, wie 
liebte ich den Duft zu atmen, der von dir ausging ! Nicht vergeblich 
hatte ich meinen Lebensabend erreicht, — verdankt' ich dir doch 
meine Herzensfreude. Wie hatte ich gehofft, dafs du mich, wenn 



') Im Frühjahr und im Herbste finden die grofsen Ahnenopfer statt. 

■) D. h. um 4 Uhr morgens. 
-._*) Chinesische Damen pflegen sich, ihrer verkrüppelten Füfse 
wegen, beim Gehen auf eine Magd zu stützen. 

*) Eine viereckige Schädelform gilt nach der chinesischen Phreno- 
logie für ein Zeichen glücklicher Vorbedeutung. 



- 296 — 

ich dereinst stürbe, zur Ruhe betten würdest! Wie hätte ich 
ahnen sollen, dafs nach zwei Tagen eine Krankheit deinen Lebens- 
nerv treffen würde! Ein Viergespann holt jetzt dich nicht mehr 
ein, noch hätt' ein ehernes Gelals dich schützen können. Plötz- 
lich ist des Udumbara-Baumes Blüte ^) dahingewelkt, — so ist 
der Dinge Wechsel voller Lauf! Verflogen ist das bunte Wolken- 
spiel, eh' noch die gelbe Hirse gargekocht!*) 

Das leblose Kind in den Armen haltend, fleht die vierund- 
achtzigjährige Grolsmutter bald den Arzt, bald Buddha um Hilfe 
an , und ström weis f liefsen ihr die Tränen. •) Des Kindes Seele 
zurückzuwinken, steigt meine Frau wie rasend auf das Dach 
des Hauses; mit lauter Stimme ruft sie A-liang nach, zurück- 
zukehren*), dafs ihre Klagelaute die Wände bersten machen. Die 
Mutter selbst, im sechsten Monat ihrer Schwangerschaft, schlägt 
in verzweiflungsvollem Schmerze den Kopf gegen die Wand: 
,Nachdem ich also dich gehegt*, spricht sie, ,was darf ich da 
noch von dem Kind, das in der Zukunft Schofse ruht, er- 
hoffen?' — 

Zehntausend Bände hat der Vater durchstudiert und kennt 
doch nicht ein einzig Mittel — unwürdig bin ich, Vater dir zu 
sein ! Die Backen schlag' ich mir, um mich zu züchtigen, — da 
kommt mein alter Diener und wirft sich mir zu Fülsen: die 



*) Der Udumbara-Baum (Ficus glomerata) trägt nur dann 
Blüten, wenn ein Buddha in der Welt erscheint (Watters, Essays 
on the Chinese Language, p. 435). 

^) Liü Tung-pin, einer der acht taoistischen Genien, war einmal, 
nachdem er eben einen Topf mit gelber Hirse auf den Herd gestellt, 
eingeschlafen und träumte, dafs er viele Jahre lang als Kaiser alle 
Freuden des Daseins genofs. Als er endlich erwachte, war die Hirse 
noch nicht einmal gar. Der Dichter bedient sich dieser Legende, um 
»das bunte Wolkenspiel*, d. h. das Leben seiner Tochter, mit einem 
flüchtigen Traume zu vergleichen. 

') Wörtlich: »Der Rotz hängt ihr einen Fufs lang aus der Nase 
heraus«. Es ist dies ein recht charakteristisches Beispiel für die Ver- 
schiedenheit des ästhetischen Empfindens: der Chinese sieht in solchem 
Bilde nichts Anstöfsiges. 

^) Schon im Li-ki wird die noch im heutigen China herrschende 
Sitte erwähnt, dafs nach einem Todesfall einer der Angehörigen 
des Verstorbenen auf das Hausdach steigt und die entflohene Seele 
zurückruft. 



— 297 — 

alte Nachbarin sei da, dich in den Sarg zu betten. Alle suchen 
mich zu trösten und zu beruhigen und vergiefsen dabei doch 
selbst strömende Tränen. Vor wenigen Tagen noch, da es 
schneite und Seen und Teiche sich mit Eis bedeckten, formte ich 
zum Scherze einen Gong aus Eis und rief dich herbei, ihn zu 
schlagen, — das Eis ist heut noch unverändert, dein Leib aber ist 
dahingeschmolzen ! Im vergangenen Jahre noch bewarb sich 
Liang, der Vizepräsident am Ministerium der Zivil Verwaltung, 
für seinen Sohn um deine Hand; ich aber sagte ihm, ich könne doch 
nicht wagen, mich einem Hause, vornehm wie das seine, gleich- 
zustellen. Provinzialschatzmeister ist jener jetzt geworden, du 
aber — wohin bist du entflohen? — Gestern noch rittest du 
auf deinem Steckenpferd umher, und heute schon birgt dich der 
kleine Sarg! Wo gestern Tanzen war und Springen, ist heut 
ein Ort der Tränen. Welch fröhlich Lärmen herrschte hier, 
solange du noch warst, — du, die du Glück und Freude in 
mein leeres Haus gebracht! Und nun du nicht mehr bist, wie 
still vmd einsam ist es um mich her! In einem Augenblick hat 
sich der Raum in eine Klosterzelle lungewandelt. 

Mir graut davor, die Klagelaute anzuhören, — ach, könnt' 
ich taub imd blind doch sein! Am Morgen früh ist's noch er- 
träglich, doch wenn die Nacht herannaht, ist's zum Rasendwerden ! 
In solchen Augenblicken äufserster Verzweiflung, die der Mensch 
durchlebt, ist es, wie wenn mit eines Dolches Spitze sein Innnerstes 
durchbohrt ihm würde. Das seh' ich klar ja ein: was hat in 
diesem grofsen Traume die Lebensdauer zu bedeuten! Da du 
jedoch mein Teuerstes gewesen, vermag ich nicht, dem Chuang 
von Meng zu folgen.*) Solltest du je nach deinem Leib zurück 
dich sehnen, o wirf den Ziegelstein dann hin und nimm dafür 
ein Jaspisscepter ^) , tritt wieder in den Kreislauf wechselnder 



') Chuang von Meng ist der aus Meng in der heutigen Pro- 
vinz Ngan-hoei gebürtige Philosoph Chuang-tszÖ. Der Dichter will 
mit diesen Worten sagen, dafs er Chuang-tsz^s Ansicht, dafs das 
Leben nur ein Traum sei (s. oben S. 156 ff.), nicht zu teilen und aus 
ihr daher auch keinen Trost zu schöpfen vermöge. 

*) Diese Wendung geht auf das Shi-king II, iv, 5 zurück. Der 
Traumdeuter legt dem König einen Traum, den dieser gehabt hat, in 
dem Sinne aus, dafs ihm Söhne und Töchter geboren werden sollen. 
Dann heilst es in dem Liede weiter (V. v. Straufs, Shi-king, 
S. 302): 



- 298 - 

Geburten*) ein! Nachdem ein doppelt Bad in Pfirsichbrühe du 
genommen'), magst du, wie früher schon, den Mutterleib aufs 
neue dann betreten. Noch ist dein goldnes Ringlein nicht er- 
kaltet*). Ach, wird mir 's wohl beschieden sein?*) Zum blauen 
Himmel heb' ich meinen Blick empor, c 

Der Hauptreiz dieses poetischen Nachrufs liegt für uns wohl 
darin, dals er einen Einblick in die intimeren Seiten des dem 
Fremden so schwer zugänglichen chinesischen Familienlebens 
gewährt. Es hat etwas Rührendes, wie der Dichter die einzelnen 



So werden Söhn* ihm dann geboren, 
Für die zum Schlafen Betten standen, 
Die man bekleidet mit Gewanden, 
Die Scepterlein zum Spielen fanden, 
In deren Schreien Kraft vorhanden; — 
Mit prächtigen Scharlachknieschurzbanden 
Fürst oder Köni^ einst den Landen. 

So werden Töchter ihm geboren, 

Die an der Erd' in Schlaf sich weinen, 

Die man bekleidet mit dem Leinen, 

Die spielen mit den Ziegelsteinen, 

Die weder bös noch gut erscheinen; 

Nur umgeh*n mit den Speisen und den Weinen, — 

Und Kummer machen sie den Eltern keinen. 

Da die Geburt eines Knaben für ein sehr viel gröfseres Glück 
als die eines Mädchens gilt, so bekommt der Knabe ein Jaspisszepter 
als Spielzeug, während sich das Mädchen mit einem Ziegelstein be- 
gnügen mufs. Mit Bezugnahme auf die angeführte Stelle des Shi- 
king bedeutet im chinesischen Sprachgebrauch die Redensart »mit 
einem Scepter spielen« einen Sohn, »mit einem Ziegelstein spielen« 
hingegen eine Tochter bekommen. Der Dichter gibt mithin durch jene 
Wendung dem Wunsche Ausdruck, dafs ihm die verstorbene Tochter 
als Sohn wiedergeboren werden möge. 

') Der Ausdruck: »Kreislauf der Wiedergeburten« ist der 
buddhistischen Lehre von der Seelenwanderung entnommen, nach 
welcher die abgeschiedene Seele in einer neuen Körperhülle wieder- 
geboren werden kann. 

*) Was unter dem doppelten Bade in einer Brühe von drei Pfir- 
sichen zu verstehen sei, läfst sich nicht feststellen. Offenbar hat der 
Dichter irgend einen mystischen Prozefs im Sinne, der sich vor der 
Wiedergeburt abspielt und vermutlich dem taoistischen Ideenkreise 
angehört. 

') Noch fühlt man dem goldenen Fingerringe die Körperwärme an. 

*) Nämlich: dafs du mir aufs neue geschenkt wirst. 



- 299 - 

Charakterzüge des Kindes, seine kleinen Neigungen und Schwächen, 
zu einem freundlichen Gesamtbilde zu vereinigen und die an 
sich so unbedeutenden Ereignisse des kurzen Erdenlebens seiner 
Tochter als kostbare Erinnerungen festzuhalten sucht. Man 
fühlt sich dadurch unwillkürlich in eine Umgebung hineinversetzt, 
die bei aller Fremdartigkeit doch so manchen allgemein mensch- 
lichen Zug darbietet, dals man sich bis zu einem gewissen Grade 
heimisch in ihr fühlt. Der persönliche Ton gemütvoller Innig- 
keit wirkt um so wohltuender, als er sonst in der chinesischen 
Kunstdichtung eine äufserst seltene Erscheinimg ist. Wenn 
manche Seltsamkeiten des Gedichtes dem europäischen Leser ein 
Lächeln abnötigen, wie z. B. die naive Offenheit, mit welcher 
der untröstliche Vater dem Wunsche Ausdruck gibt, dafs ihm 
die Tochter, deren Tod er beklagt, in zweiter, verbesserter Auf- 
lage als Sohn wiedergeboren werde, so mufs man eben die 
herrschenden Sitten imd Anschauungen in Betracht ziehen. Ein 
Einfall wie dieser mutet den chinesischen Leser nichts weniger 
als komisch, sondern durchaus selbstverständlich an. Männliche 
Nachkommenschaft zu haben ist bekanntlich der höchste Stolz 
jedes rechtschaffenen Chinesen, wie es anderseits nichts Seltenes 
ist, dafs Frauen Gelübde mancherlei Art ablegen, um im nächsten 
Dasein als Männer wiedergeboren zu werden. Störender noch wird 
vermutlich das wunderliche Gemisch von gehobener Empfindung 
imd alltäglichster Trivialität wirken, wie wir es in dem Gedichte 
finden. Uns wird die poetische Stimmung einfach verdorben, 
wenn, wie es hier geschieht, der Dichter die herzergreifenden 
Töne seines Schmerzes durch die banale Mitteilung unterbricht, 
dafs ein Vizepräsident im Ministerium der Zivilverwaltung sich 
um die Hand seiner Tochter beworben habe, und nun gar noch 
gewissenhafterweise hinzufügt, dafs der genannte Herr inzwischen 
zum Provinzialschatzmeister avanciert sei. Aber auch in diesem 
Falle empfindet der Chinese anders als wir ; man darf eben nicht 
vergessen, welch eine Rolle im Leben des gebildeten Chinesen 
die Beamtenlaufbahn spielt. Übrigens hat es ja auch bei ims 
eine Zeit gegeben — imd sie liegt nicht einmal gar so weit 
zurück — , in der ganz ähnliche Anschauungen herrschten. Zu- 
gleich aber ist auch die Verschiedenheit des Standpunktes im 
Auge zu behalten, den die ästhetische Beurteilung hüben und 
drüben einnimmt: der Chinese sucht, wie in der Einleittmg zu 



— 300 — 

diesem Kapitel des näheren ausgeführt wurde, die dichterische 
Schönheit vielfach in Momenten der äufseren Form, die wir nicht 
in adäquater Weise wiederzugeben und daher auch nur mangel- 
haft nachzuempfinden vermögen. 

Zum Schlüsse sei noch erwähnt, dafs der grofse Mandschu- 
kaiser K*ien-lung (1710 — 1799), wenn auch nicht gerade zu 
den hervorragendsten, so doch sicherlich zu den fruchtbarsten 
Dichtern Chinas gehört. EHe Sammlung seiner poetischen 
Schriften enthält nicht weniger als 34000 Gedichte. 

II. Die Prosaiitteratur. 

Wie Li T*ai-poh unter den Dichtem, so nimmt der um 
sechs Jahrzehnte jüngere Han-Yti (768—824) unter den Prosa- 
schriftstellern der T ' a n g - Periode die erste Stelle ein. Tempera- 
mentvoll bis zum Fanatismus, war er ein glühender Verehrer der 
confucianischen Lehren und als solcher zugleich ein ausge- 
sprochener Gegner des Taoismus wie des Buddhismus. Ihm 
nicht zum mindesten verdankt der Confucianismus die herrschende 
Stellung, die er heute in China einnimmt, denn es mag doch 
fraglich erscheinen, ob dieser dem mächtig wachsenden Einflüsse 
des Buddhismus, wie er sich um jene Zeit bemerkbar machte, 
auf die Dauer hätte Widerstand leisten können, wenn ihm nicht 
in Han Yü ein ebenso mutiger wie leidenschaftlicher Verteidiger 
erstanden wäre. Seine »Ergründung der Vemunftnormc ist in 
dieser Beziehung von geradezu epochemachender Bedeutung 
geworden. Wenn man freilich genauer hinsieht, wird er in jener 
Philippika , die sich in erster Linie gegen den Taoismus und nur 
nebenher gegen den Buddhismus wendet, wohl weniger durch 
die zwingende Logik der vorgebrachten Gründe als durch den 
hinreifsenden Schwung seiner Beredsamkeit gewirkt haben, denn 
das läfst sich nicht leugnen: Han Yü vertritt in dieser Streit- 
schrift entschieden weit mehr die Rolle des Anwalts als die des 
Richters. In seinem Bestreben, dem Confucius zum Siege zu 
verhelfen, vermag er dem Lao-tsz6so wenig gerecht zu werden, 
dafs der Vorwurf einseitiger Voreingenommenheit, den er diesem 
macht, ihm selbst keineswegs erspart werden kann. Diese Ein- 
seitigkeit tritt sofort in der Einleitung der Schrift hervor, wo er, 
um den eigenen Standpimkt zu präzisieren, die confucianischen 
Kardinaltugenden der Menschlichkeit und Gerechtigkeit der 



— 301 - 

Vernunftnorm und der Tugend, als den beiden Grundbegriffen des 
Lao-tsz6, gegenüberstellt. »Die allgemeine Liebec, heilst es da, 
»nennt man Menschlichkeit, die Gemäfsheit in ihrer Betätigung 
Gerechtigkeit. Was aus diesen beiden hervorgeht, heilst Ver- 
nunftnorm (Tao), was in sich selbst Gentige findet und nichts 
von aufsen her erwartet, Tugend. Menschlichkeit und Gerechtig- 
keit sind Begriffe mit einem bestimmten Inhalt, Vemunftnorm 
und Tugend inhaltsleere Begriffe.^) Wenn Lao-tsz6 Mensch- 
lichkeit und Gerechtigkeit verkleinert, so will er sie damit 
nicht schmähen: sein Gesichtskreis ist nur eng. Wenn er, im 
Brunnen sitzend, den Himmel betrachtet und meint, der Himmel 
sei klein, so ist darum der Himmel noch nicht klein; Geringfügiges 
nimmt er für Menschlichkeit, Vereinzeltes für Gerechtigkeit: 
dafs er sie verkleinert, ist daher nur in der Ordnung. Was 
Lao-tsz6 Vemunftnorm nennt, ist etwas, was er darunter 
versteht, nicht aber, was ich Vemunftnorm nenne; was 
Lao-tsz6 Gerechtigkeit nennt, ist etwas, was er darunter 
versteht, nicht aber was ich Gerechtigkeit nenne. Was ich im 
allgemeinen unter Vemunftnorm und Tugend verstehe, schliefst 
Menschlichkeit und Gerechtigkeit in sich, und das entspricht der 
allgemeinen Ansicht der ganzen Welt; was aber Lao-tsz6 
darunter versteht, schliefst Menschlichkeit und Gerechtigkeit aus 
imd ist seine individuelle Privatansicht, c Es liegt auf der Hand, 
dafs Han Yü mit dieser Kritik des Lao-tszfe weit über das 
Ziel hinausschiefst; welche Bedeutung bei diesem den Begriffen 
Tao, Menschlichkeit und Gerechtigkeit zukommt, ist bereits auf 
S. 145 ff. ausgeführt worden. Was Han Yü unter Vemunft- 
norm versteht, sind die politischen und ethischen Grundsätze, die 
durch die weisen Herrscher des Altertums verkörpert wurden. 
In diesem Sinne heifst es weiter: »Nachdem die Vemunftnorm 
der Chou gesunken und Confucius gestorben war, folgte unter 
den Ts'in die Bücherverbrennung, \mter den Han die Herrschaft 
des Hoang-ti*) und des Lao-tsz6, und unter den Djmastien 
Tsin, Wei, Liang undSui die Ausbreitung des Buddhatums. 
Diejenigen, die über Vernunftnorm und Tugend, Menschlichkeit 



M Wörtlich: Menschlichkeit und Gerechtigkeit sind feststehende 
Namen, Vemunftnorm und Tugend leere Plätze. 

*) Hoang-ti, »der gelbe Kaiser«, ein mythischer Herrscher der 
Vorzeit, der als der erste Verkünder der Taolehre gilt. 



— 302 — 

und Gerechtigkeit reden, halten sich bald an Yang Chu oder 
Moh Tih, bald an Lao-tsz6 oder Buddha. Die sich dem 
einem zuwenden, müssen sich vom anderen abwenden; jenen 
sehen sie als Herrn an, diesen betrachten sie als Sklaven ; jenem 
schliefsen sie sich an, diesen besudeln sie. Ach! Wenn die 
Menschen späterer Zeiten sich über Vemunftnorm und Tugend, 
Menschlichkeit und Gerechtigkeit unterrichten wollen, wem 
sollen sie ihr Ohr leihen? Die Anhänger desLao-tsz6 sagen: 
,Confucius war unseres Meisters Schüler^ die Anhänger 
Buddhas sagen : ,Confuciuswar unseres Meisters Schüler', und 
die Anhänger des Confucius gewöhnen sich so sehr an diese 
Reden, dafs sie an dem Geschwätz Gefallen finden, sich selbst er- 
niedrigen und ebenfalls sagen : ,Unser Meister hat auch so geredet*. 
Und solche Reden führen sie nicht nur im Munde, sondern schreiben 
sie sogar noch nieder ! Wehe ! Wenn die Menschen einer späteren 
Zeit sich über Vemunftnorm und Tugend, Menschlichkeit und 
Gerechtigkeit imterrichten wollen, — an wen sollen sie sich 
wenden? — Schlimm, fürwahr, ist wohl der Menschen Hang 
zum Wunderbaren! Weder suchen sie die Ursachen, noch er- 
forschen sie die Wirkungen; nur um das Wunderbare ist ihnen 
zu tun. Im Altertum gab es vier Klassen im Volke, — jetzt 
gibt es deren sechs ^); im Altertum gab es eine Lehre — jetzt 
gibt es deren drei *). Auf einen Ackerbauer kommen sechs Kon- 
sumenten, auf einen Handwerker sechs, die sich seiner Erzeug- 
nisse bedienen, auf einen Kaufmann die sechsfache Zahl derer, 
die aus seinem Erwerbe Vorteil ziehen. Wie soll das Volk 
dabei nicht verarmen und zu Räubern werden?« — Die weisen 
Fürsten des Altertums seien die wahren Träger der Vemunft- 
norm. Kleidung und Obdach , Mauern und Wälle , Handel und 
Gewerbe, Riten tmd Musik, kurzum alle Kulturerrungenschaften, 
durch welche die Menschheit aus einem halb tierischen Natur- 
zustande zu den Höhen der Gesittung emporgehoben wurde, 
verdanke sie einzig und allein der Initiative ihrer grofsen Lehr- 
meister und Fürsten. In dem Dualismus von Herrschenden und 
Beherrschten, von Fürst und Untertanen wurzelt nach Han 

') Die vier Klassen sind: Gelehrte, Ackerbauer, Handwerker und 
Kaufleute. Unter den beiden neu hinzugekommenen Klassen versteht 
Han Yü den taoistischen und buddhistischen Klerus. 

*) Die drei Lehren sind natürlich Confucianismus, Taoismus und 
Buddhismus. 



- 303 — 

Yü das gesamte Kulturleben, und das Bindeglied zwischen 
jenen beiden Polen sind als die ausführenden Organe des fürst- 
lichen Willens die Beamten. Jetzt wolle man diese von alters 
her bestehende Ordnung der Dinge über den Haufen werfen, 
indem man das Verhältnis von Fürst und Untertan, von Vater 
und Sohn aufzuheben suche. Um der drohenden Gefahr der 
Verwilderung vorzubeugen, weifs Han Yü nur ein Mittel: 
Unterdrückung der Irrlehren und Rückkehr zum Altertum im 
Sinne des Confucius: vOhne Eindämmung keine Entwick- 
lung, ohne Hemmung kein Fortschritt.^) Man veranlasse die 
Leute, dafs sie leben wie andere Menschen, man vernichte ihre 
Bücher durch Feuer, man mache ihre Häuser zu Wohngebäuden '), 
man leite sie, indem man die Vemunftnorm der alten. Könige 
ins rechte Licht setzt, — dann werden die Witwer und Witwen, 
die Waisen und Verlassenen, die Siechen und Kranken Für- 
sorge finden, und das Ziel dürfte erreicht werden.« 

Mit besonderer Schärfe zieht Han Yü gegen den Buddhis- 
mus und dessen Reliquienkult zu Felde. In Feng-siang-fu 
in der Provinz Shen-si wurde um jene Zeit ein angeblicher 
Knochen Buddhas aufbewahrt. Alle dreifsig Jahre einmal 
wurde derselbe dem Volke gezeigt, und so oft das geschah, 
durfte ein fruchtbares und gesegnetes Jahr erwartet werden. 
Der Kaiser Hien-tsung (806—820) hatte davon gehört und 
liefs die Reliquie im Jahre 819 in feierlicher Prozession nach der 
Hauptstadt schaffen, wo sie unter festlichem Gepränge im Bei- 
sein des ganzen Hofes im kaiserlichen Palaste aufgestellt wurde. 
Bei dieser Gelegenheit richtete Han Yü jene berühmte Eingabe 
»Betreffend den Knochen Buddhas« an den Thron, die in 
aufserordentlich energischen Worten gegen den törichten Aber- 
glauben Front macht. Charakteristisch ist jedoch dabei, dafs Han 
Yü selbst, wie der bemerkenswerte Hinweis auf den Exorzismus 
lehrt, nichts weniger als frei von abergläubischen Anschauungen 
ist. Im letzten Grunde ist es eben nicht der gesunde Menschen- 
verstand allein, der aus dem Schriftstücke spricht, sondern min- 



^) D. h. ohne Eindämmung und Hemmung der Irrlehren kein 
Fortschritt der wahren Lehre. 

') Man gestatte den unproduktiven Ständen der Anhänger Lao- 
tsz^s und Buddhas nicht, sich den sozialen Pflichten der Gesamtheit 
zu entziehen und säkularisiere ihre Tempel und Klöster. 



— 304 — 

destens ebensosehr der nationale Stolz, der sich durch die offen- 
kundige Bevorzugung einer fremden Lehre gegenüber der 
einheimischen des Confucius verletzt fühlt. Nicht nur 
als litterarisches Denkmal, sondern vielleicht noch mehr als kultur- 
geschichtliches Dokument erscheint das merkwürdige Schriftstück 
der Mitteilung wert: 

»Was die Anhänger Buddhas anlangt, so bilden sie nur 
eine unter den Sekten der Barbarenvölker. Erst seit der späteren 
Ha n- Dynastie sind sie ins Mittelreich eingedrungen; im hohen 
Altertum gab es deren noch keine. Vor alters regierte H o a n g - 1 i 
hundert Jahre und erreichte ein Alter von hundertzehn Jahren, 
Shao-hao regierte achtzig Jahre und wurde himdert Jahre alt, 
Tuan-hüan regierte neunundsiebzig Jahre und wurde achtund- 
neunzig Jahre alt, Ti-kuh regierte siebzig Jahre und wurde 
hundertundfünf Jahre alt, Kaiser Yao regierte achtundneunzig 
Jahre und wurde hundertachtzehn Jahre alt, und die Kaiser 
Shun und Yü haben beide ein Alter von hundert Jahren er- 
reicht. ') In dieser Zeit herrschte aligemeiner Friede im Reiche, 
das Volk lebte in Ruhe und Glück und erfreute sich einer langen 
Lebensdauer, — und dennoch gab es im Reiche keinen Buddha. 

Späterhin erreichte der Kaiser T'ang der Yin- Dynastie 
(angeblich 1766 — 1754 v. Chr.) ebenfalls ein Alter von hundert 
Jahren. Sein Enkel T*ai-mou (angeblich 1637—1562 v. Chr.) 
regierte fünfundsiebzig Jahre lang; zwar wird in den Annalen 
nicht berichtet, in welchem Jahre er starb, doch wird auch er 
wohl nicht weniger als hundert Jahre alt geworden sein. Wen- 
wang von Chou wurde siebenundneunzig, Wu-wang (1122 
— 1116 V. Chr.) zweiundneunzig Jahre alt, und Muh-wang*) 
regierte hundert Jahre lang. Um diese Zeit war die Buddha- 
lehre ebenfalls noch nicht nach China eingedrungen: also ist es 
auch nicht der Verehrung Buddhas zuzuschreiben, dafs dem 
so war. 

Erst unter dem Kaiser Ming-ti der Han- Dynastie (58 — 75) 
tritt der Buddhismus auf; Ming-ti hat aber den Thron just nur 
achtzehn Jahre lang innegehabt. Nach ihm herrschten Aufruhr 

*) Die sämtlichen hier aufgezählten Herrscher gehören der 
mythischen Vorzeit an. 

') Diese Angabe beruht auf einem Irrtum: Muh-wang soll von 
1001 bis 947 v. Chr. regiert haben. 



— 305 — 

und Verderben in ununterbrochener Folge, und das Glück war 
nie von langer Dauer. 

Von den Dynastien Sung, T'si, Liang, Ch^en und 
Ytian-wei abwärts wurde der Buddhakult mit immer gröfserem 
Eifer betrieben, und die Dauer der einzelnen Regierungsperioden 
ward immer kürzer. Nur der Kaiser W u - 1 i der L i a n g - Dynastie 
(502—549) regierte achtund vierzig Jahre lang. Dreimal nach- 
einander gab er sich dem Buddha hin^), beim Opfer im Ahnen- 
tempel verwendete er keine Opfertiere und nahm selbst nur ein- 
mal am Tage Nahrung zu sich, wobei er sich auf Gemüse und 
Obst beschränkte'). Zu guter Letzt ward er vom Fürsten King 
derart in die Enge getrieben, dafs er in T*ai-ch* eng Hungers 
starb, und mit ihm ging das Reich zu Grunde. Obwohl er im 
Dienste Buddhas sein Heil suchte, hat er nur um so gröfseres 
Unheil erlitten. Von diesem Standpimkt betrachtet, dürfte also 
wohl ersichtlich sein, dals Buddha nicht wert ist, dafs man 
ihm diene. 

Als nun der Kaiser Kao-tsu*) die Erbschaft der Sui- 
D3mastie antrat, beschlofs er, den Buddhismus auszurotten. Da 
jedoch zu jener Zeit die Fähigkeiten und Kenntnisse seiner Rat- 
geber nicht von weitem her waren und sie daher auch nicht im 
Stande waren, tiefer in die Vemunftnorm der früheren Könige, 
noch auch auf das, was wie dem Altertum, so auch der Gegen- 
wart frommt, einzudringen und die wahre Weisheit ans Licht zu 
bringen, um dadurch die Rettung aus diesem Übel zu finden, so 
kam die Angelegenheit in der Folge zum Stillstande, was ich 
stets bedauert habe. 

Nun haben Ew. Majestät als ein Herrscher von durch- 
dringender Weisheit und bürgerlicher wie kriegerischer Tüchtig- 
keit, der an göttlicher Weisheit und heldenmütiger Tapferkeit in 
Jahrhunderten und Jahrtausenden nicht seinesgleichen findet, zu 
Anfang Ihrer Regierung den Beitritt zu buddhistischen und tao- 
istischen Gemeinschaften, sowie auch die Gründung buddhistischer 
und taoistischer Klöster untersagt. Ich meinte daher stets, dafs 
die Absichten des Kao-tsu bestimmt durch Ew. Majestät Hand 



^) Indem er dreimal die Weihen nahm. 

*) Bekanntlich verbietet der Buddhismus sowohl Tieropfer wie 
auch Fleischgenufs. 

•) Der erste Kaiser der T^ang -Dynastie regierte 618—626. 

Grobe, Geichicht« der chinetischen Litteratnr. 20 



— 306 — 

verwirklicht werden sollten. Zugegeben, dafs sich solches nicht 
sofort ins Werk setzen lief s : wie in aller Welt aber ist es mög- 
lich, dafs man jenen Dingen freien Lauf gewährt und sie im 
Gegenteil zu üppigster Blüte gedeihen läfst? 

Wie ich jetzt höre, sollen Ew. Majestät den Bonzen be- 
fohlen haben, den Knochen Buddhas aus Feng-siang herbei- 
zuholen und sogar vom Turme aus zugesehen haben, wie jene 
Reliquie in einer Sänfte in den kaiserlichen Palast getragen 
wurde. Überdies sollen Ew. Majestät befohlen haben, dafs sie 
in sämtlichen Tempeln der Reihe nach begrüfst und durch Opfer- 
darbringimg geehrt werde. Trotz meiner äufsersten Beschränkt- 
heit weifs ich doch bestinunt, dafs Ew. Majestät solches nicht 
durch Buddha irregeführt tun, um dadurch Glück imd Heil zu 
erflehen, sondern lediglich im Hinblick auf ein gesegnetes Jahr 
und um den Menschen ein Vergnügen zu bereiten, aus Nach- 
giebigkeit gegen die Gesinnungen der grofsen Menge, für die 
Beamten und das Volk der Residenz ein wunderbares Schauspiel 
veranstalten, das eben nur der Kurzweil dienen soll. Wie wäre 
es denkbar, dafs ein so weiser und erleuchteter Gebieter an der- 
gleichen Dinge glauben könnte? 

Aber das Volk ist einfältig und unwissend, leicht zu betören 
und schwer zu belehren. Wenn es Ew. Majestät Gebaren sieht, 
wird es glauben, dafs Ew. Majestät sich aufrichtigen Herzens 
dem Dienste Buddhas hingeben, und alle werden sagen: ,Der 
Himmelssohn ist der Weiseste unter den Menschen, und dennoch 
ist er von ganzem Herzen gläubig. Was sind wir dagegen? 
Sollte es uns etwa geziemen, Leib und Leben zu schonen?^ 
Dann werden sie sich das Scheitelhaar versengen, ihre Finger 
ins Feuer halten *), ihre Kleider ablegen und ihr Geld fortwerfen; 
von morgens früh bis abends spät wird einer dem anderen nach- 
zuahmen suchen, keiner wird der letzte sein wollen. Alt und 
Jung werden miteinander wetteifern, ihr Hab und Gut preiszugeben 
und von einem Tempel zum anderen zu pilgern. Wird dem nicht 
tmverzüglich Einhalt geboten, so wird es noch dahin kommen, 
dafs sie sich die Arme abschneiden und den Leib verstümmeln, 
um dadurch ein Opfer zu bringen. Die Sitte zu verletzen, mit 



^) Bräuche, die bei der Ablegung der Mönchsgelübde beobachtet 
werden. 



— 307 — 

den Gewohnheiten zu brechen \md sich dem Hohne der ganzen 
Welt auszusetzen^ ist aber keine Kleinigkeit. 

Nun aber war jener Buddha von barbarischer Herkunft; er 
hat eine andere Sprache geredet als die Bewohner des Mittelreiches, 
und auch seine Kleidung ist von anderer Art gewesen; weder 
führte er die mustergültigen Worte der früheren Könige im 
Munde, noch bekleidete er seinen Leib mit den mustergültigen 
Gewändern der früheren Könige; er kannte weder das Rechts- 
verhältnis von Fürst und Untertanen, noch die Gefühle zwischen 
Vater und Sohn. Gesetzt den Fall, er wäre noch am Leben 
und käme im Auftrage seiner Regierung hierher in die Residenz, 
um sich bei Hofe vorzustellen, so würden Ew. Majestät ihn zwar 
entsprechend empfangen, ihm aber doch nur eine einmalige 
Audienz in der Halle Süan-cheng gewähren, dem Gaste zu 
Ehren ein Bankett veranstalten, ihn mit einem Anzüge beschenken 
und dann bis zur Grenze geleiten lassen, — nimmermehr aber 
zulassen, dafs er die Menge betörte. Um wie viel weniger ge- 
ziemt es sich jetzt, da er längst tot ist, sein modernd Gebein 
und seine unreinen Überreste in den Palast schaffen zu lassen! 

Confucius hat gesagt: ,Ehre die Geister der Verstorbenen, 
aber halte sie fem.* Wenn die Lehensfürsten des Altertums in 
ihrem Staate einen Kondolenzbesuch zu machen hatten , pflegten 
sie einen Exorzisten zu beauftragen, zuvor mit einem Besen aus 
Pfirsichzweigen die bösen Einflüsse zu beseitigen^); dann erst 
machten sie den Kondolenzbesuch. Jetzt aber werden ohne 
jeglichen Grund unreine Gegenstände herbeigeholt, und Ew. 
Majestät begeben sich in eigener Person hin, um sie in Augen- 
schein zu nehmen. Weder wird ein Exorzist vorausgeschickt, noch 
wird vom Pfirsichbesen Gebrauch gemacht. Die Minister bringen 
das Unrecht nicht zur Sprache, und die Zensoren heben den 
Mifsgriff nicht hervor. 

Ich schäme mich dessen in Wahrheit und beschwöre Ew. 
Majestät, diesen Knochen den Beamten zu übergeben, damit sie 
ihn ins Feuer oder ins Wasser werfen, um durch seine endgültige 
Vernichtung dem Mifstrauen im Reiche ein Ende zu machen und 



") Dieser Brauch geht auf eine Vorschrift des Li-ki zurück. 
Nach dem uralten Volksglauben der Chinesen haben die Dämonen 
eine besondere Scheu vor dem Pfirsichbaume; s. de Groot, The 
Religious System of China, I, p. 41. 

20* 



— 308 — 

der Verfinsterung späterer Geschlechter vorzubeugen. Dann 
wird im Reiche jedermann wissen, dafs der höchstheilige Mann^) 
in seinem Tun die Alltäglichkeit zehntausend- und aber zehn- 
tausendmal überragt. Wäre das nicht schön? Wäre das nicht 
erfreulich? • 

Wenn Buddha übernatürliche Kräfte besitzt und Unheil zu 
wirken vermag, so möge alles Verderben über mich kommen! 
Der erhabene Himmel sei mein Zeuge, dafs ich dann weder Reue 
noch Unwillen empfinden werde. In unaussprechlicher Dankbar- 
keit habe ich meinen aufrichtigen Gefühlen Ausdruck gegeben, c 

Den gewünschten Zweck hat Han Yü durch sein ver- 
wegenes Vorgehen nicht erreicht, imd nur mit Mühe gelang es 
seinen Freunden, des Kaisers Zorn zu beschwichtigen. Seinen 
Posten als Vizepräsident im Justizministerium freilich mufste er 
mit dem bescheideneren und wenig verlockenden eines Präfekten 
von Ch*ao-chou in der Provinz Kuang-tung vertauschen. 
Immerhin konnte er sich noch freuen, mit dem Leben davon- 
gekommen zu sein, und er ermangelte denn auch nicht, ein reu- 
mütiges Dankschreiben an den Kaiser zu richten, das seiner 
Gesinnungstüchtigkeit nicht gerade zur Ehre gereicht. Seltsamer- 
weise wird berichtet, dafs Han Yü in Ch*ao-chou einen innigen 
Freundschaftsbund mit einem buddhistischen Mönche geschlossen 
habe; ja, es verbreitete sich sogar das Gerücht, er sei seinen 
mit so grofsem Nachdruck vertretenen Grundsätzen untreu ge- 
worden, — eine Verleumdung, die er entrüstet von sich wies*). 
Übrigens wm-de er bereits nach acht Monaten nach Yang-chou 
in der Provinz Kiang-si versetzt, um dann nach einiger Zeit 
wieder in die Hauptstadt zurückberufen zu werden, woselbst er 
zum Vizepräsidenten im Kriegsministerium ernannt wurde. 

Han Yü steht nicht nur als Meister der Prosa, sondern auch 
als Dichter in hohem Ansehen, und dafs er in der Tat eine 
durch und durch poetisch angelegte Natur war, beweist seine 
Definition der Poesie. Das dichterische Schaffen beruht nämlich 
nach ihm auf dem der menschlichen Seele innewohnenden Triebe, 
ihr durch äufsere Reize oder innere Affekte gestörtes Gleich- 

') Confucius. 

•) Watters, The Life and Works of Han Yü or Han Wen- 
kung. Journal of the North-China Brauch of the Royal As. Soc., vol. 
VII, p. 168. 



— 309 — 

gewicht wiederherzustellen, so dals das Werk des Dichters 
gleichsam dem Tönen der Äolsharfe entspricht, sobald der Wind 
ihre Saiten in Schwingimgen versetzt. Dieser Auffassung gibt 
er in der Vorrede zu den Gedichten seines Freundes Meng 
Tung-ye in folgenden Worten Ausdruck : »Alle Kreatur, wenn 
sie nicht ihr inneres Gleichgewicht erlangt hat, so tönt sie. 
Bäume und Gräser haben keine Stimme, aber wenn der Sturm 
sie schüttelt, dann tönen sie. Das Wasser hat keine Stimme, 
aber wenn der Sturm es aufwühlt, dann tönt es. Wenn es 
hüpft, so hatte man es gepeitscht; wenn es überströmt, so hatte 
man es eingedämmt; wenn es siedet, so hatte man es erwärmt. 
Metall und Stein haben keine Stinmie, aber wenn man sie schlägt, 
dann tönen sie. Genau so steht der Mensch zum Worte: wenn 
er nicht anders kann, dann redet er. Er singt, weil ein Gedanke 
ihn bewegt; er weint, weil sich's im Herzen regt. Was immer 
zum Munde hervorgeht und zum Tone wird, entsteht daraus, 
dafs das innere Gleichgewicht gestört ist. Die Musik ist etwas, 
das sich im Innern angesammelt hat imd nach aulsen drängt. 
Sie wählt dasjenige aus, was zum Tönen geeignet ist, und läfst 
es erklingen. Metall, Stein, Seide, Bambus, Kürbis, Ton, Haut 
und Holz, das sind die acht Dinge, die sich am besten zum 
Tönen eignen. 

Auch das Verhalten des Himmels zu den vier Jahreszeiten 
ist ein gleiches : er wählt dasjenige aus, was ziun Tönen geeignet 
ist, und läfst es erklingen. Daher läfst er durch die Vögel den 
Lenz, durch den Donner den Sommer, durch die Insekten den 
Herbst und durch den Wind den Winter tönen. Wenn die vier 
Jahreszeiten einander verdrängen, so mufs dem wohl etwas zu 
Grunde liegen, wodurch sie nicht ihr inneres Gleichgewicht er- 
langen. Und mit dem Menschen verhält sich 's ebenso. Unter 
den Tönen des Menschen ist der vollendetste die Rede, und der 
dichterische Ausdruck ist wiederum die vollendetste Form der 
Rede. Um so mehr wählt der Himmel diejenigen aus, die sich 
aufe Tönen verstehen, und läfst sie tönen, c 

In seinen kleinen Prosaskizzen bedient sich Han Yü gern 
der Form der Parabel. Hier ein kiu-zes Beispiel dieser Art: 

»Nachdem es einen Poh-loh^) in der Welt gegeben hatte, 



') Ein berühmter Pferdezüchter des Altertums. 



— 310 — 

gab es Rennpferde. Rennpferde gibt es immer, aber einen Poh- 
loh gibt es nicht immer. Daher gibt es zwar edle Rosse, nur 
dafs sie imter den Händen von Sklaven Unbill erleiden, bis sie 
im Stalle verenden, ohne als Rennpferde berühmt geworden zu 
sein. Rosse dieser Art verzehren bisweilen zehn Scheffel Getreide 
auf einmal. Wenn nun ein Pferdeztichter ein solches Rols füttert, 
ohne zu wissen, dafs es das Zeug zu einem Rennpferde hat, so 
wird trotz seines Könnens, weil es nicht satt wird und die Kräfte 
nicht ausreichen, seine Leistungsfähigkeit nicht an den Tag kommen. 
Selbst wenn er es zu einem Pferde gewöhnlichen Schlages 
machen wollte, würde ihm das nicht gelingen, — um wie viel 
weniger dürfte er hoffen, es zum Renner zu machen ! Er peitscht 
es in einer Weise, die seiner Natur zuwider ist, imd füttert es so, 
dafs es seine Fähigkeiten nicht zur vollen Entfaltung bringen 
kann. Wiehert es ihn an, so vermag er nicht zu verstehen, was 
es damit sagen will, sondern nähert sich ihm mit der Peitsche 
in der Hand und sagt: ,Es gibt keine Pferde mehr in der Welt!* 

Ach, sollte es wirklich keine Pferde mehr geben? In 
Wahrheit verstand er sich nur nicht auf Pferde, c 

Der Sinn des Gleichnisses ist klar: Seit es weise Lehrmeister 
und erleuchtete Fürsten gegeben hat, gibt es auch brauchbare 
Männer. Brauchbare Männer sind stets zu haben, Weise jedoch, 
die sich auf deren Heranbildung verstehen, gibt es nicht immer. 
Daher verkommen sie, ohne Gelegenheit zu finden, ihre Talente 
zur Geltung zu bringen. Ein unverständiger Fürst lälst sie ver- 
hungern und zu Grunde gehen, statt ihnen die Möglichkeit zu 
geben, ihre Gaben zu entfalten. 

Von alters her gehört zu den chinesischen Totenbräuchen 
die Sitte, den Manen der Verstorbenen am Tage des Begräbnisses 
ein feierliches Opfer darzubringen und die abgeschiedene Seele 
zugleich durch ein an sie gerichtetes Schreiben davon in Kenntnis 
zu setzen. Diese Opferurkunde wird in Gegenwart der Trauer- 
versammlung verlesen imd darauf verbrannt. Ein Schriftstück 
solcher Art besitzen wir auch von Han Yüs Hand. Im Gegen- 
satz zu der mehr oder weniger stereotypen Schablone trägt 
jedoch dieses Schreiben, das er an die abgeschiedene Seele seines 
nur um wenige Jahre jüngeren verstorbenen Neffen richtet, ein 
durchaus persönliches Gepräge. Die Wärme der Empfindung, 
die aus seinen Worten spricht, die intime Vertraulichkeit, mit 



— 311 — 

der er sein persönliches Verhältnis zum Verstorbenen schildert, 
sind, glaube ich, besser geeignet, uns den Verfasser menschlich 
näher zu bringen, als irgend eine andere seiner Schriften. Han 
Yü hat erst nachträglich von dem Leichenbegängnis Kunde 
erhalten und übersendet daraufhin durch einen Boten seine 
Opferspende, die von folgendem Schreiben begleitet ist: 

»Sieben Tage sind vergangen, seit ich, dein Oheim, die Kunde 
von deinem Begräbnis vernommen habe; aber erst jetzt ver- 
mag ich in meinem Schmerz die Wahrheit voll zu erfassen. Ich 
entsende den Kien-Chung, damit er dir erlesene Leckerbissen 
als Opferspende aus der Feme tiberbringe und deinen ab- 
geschiedenen Geist davon in Kenntnis setze. Ach! in jungen 
Jahren war ich verwaist zurückgeblieben und wuchs auf, ohne 
zu wissen, an wem ich einen Halt finden würde. Damals waren 
mein älterer Bruder und dessen Gattin') meine einzige Stütze. 
Kaum war ich herangewachsen, als mein Bruder im Süden starb. 
Du und ich, wir waren beide noch jung und kehrten mit 
meiner Schwägerin [deiner Mutter] nach Ho-yang*) zurück,, 
wo wir ihn begruben. In der Folge suchte ich mit dir zusammen 
in Kiang-nan meinen Lebensunterhalt zu fristen, und so lebten wir 
dort als hilflose Waisen, ohne uns noch einen Tag voneinander 
getrennt zu haben. Ich hatte noch drei ältere Brüder gehabt, 
die jedoch leider alle eines frühen Todes gestorben waren. So 
waren wir die einzigen Nachkommen unseres Geschlechts: du 
als Enkel, ich als Sohn, je einer in zwei Generationen; und wir 
beide waren ein Herz und eine Seele. Meine Schwägerin pflegte, 
indem sie dich liebkoste, auf mich hinzuweisen und zu sagen: 
,Von zwei Generationen des Hauses Han sind nur noch diese 
beiden übrig geblieben.' Du warst damals noch klein und wirst 
dich dessen nicht mehr erinnern, ich aber weifs mich dessen 
noch sehr wohl zu entsinnen, doch vermochte auch ich die Klage, 
die in ihren Worten lag, noch nicht zu verstehen. 

Neunzehnjährig kam ich zum erstenmal in die Hauptstadt 
und kehrte vier Jahre später zurück, um dich wiederzusehen. 
Nach weiteren vier Jahren begab ich mich nachHo-yang, um 
das Grab zu besuchen, und traf dort mit dir zusammen, als du 
gerade im Begriffe warst, deine Mutter zu begraben. Abermals 

*) Die Eltern des Verstorbenen. 
*) In der Provinz Yün-nan. 



- 312 — 

zwei Jahre später erhielt ich einen Posten als Hilfsbeamter des 
Ministers Tung in Pien-chou*), wo du mich besuchtest. 
Genau ein Jahr darauf nahm ich Urlaub, um Weib und Kinder 
abzuholen. Im nächsten Jahre starb der Minister, und ich ver- 
liefs Pien-chou, du aber kamst nicht mit. In jenem Jahre 
trat ich einen Posten bei der Heeresverwaltung inSiü-chouan, 
aber als sich der Bote, der dich dorthin bringen sollte, eben 
auf den Weg gemacht hatte, gab ich die Stellung wieder auf, 
so dals aus deinem Kommen abermals nichts wurde. Ich über- 
legte, dafs, wenn du mir nach dem Osten folgtest, es doch nur 
vorübergehend imd nicht für die Dauer sein würde, und beschlols 
daher, statt dauernd in die Feme zu ziehen, lieber gen Westen 
heimzukehren und mich dort mit dir gemeinsam häuslich nieder- 
zulassen. 

Ach, wer hätte gedacht, dafs du mich so bald verlassen und 
sterben würdest! 

Wir waren doch beide noch jung, und ich hatte gedacht, 
dafs wir, wenn wir uns auch zeitweilig voneinander trennten, 
doch schlief slich noch lange vereint bleiben würden. Daher be- 
gab ich mich in die Residenz, um mich nach einer Anstellung 
und einem kleinen Einkommen umzusehen. Hätte ich nur ge- 
wufst, dafs es so kommen sollte: selbst um einen Ministerposten 
bei einem Fürsten, der über zehntausend Schlachtwagen gebietet, 
hätte ich dich auch nicht für einen Tag verlassen! 

Voriges Jahr, als Meng Tung-ye mich verliefs, schrieb 
ich dir: ,Noch keine vierzig Jahre bin ich alt, und schon ist 
mein Augenlicht getrübt, mein Haar ist grau und meine Zähne 
wackeln. Wenn ich bedenke, dafs mein Vater und meine älteren 
Brüder sämtlich in blühender Manneskraft eines frühen Todes 
sterben mufsten, wie ist es da denkbar, dafs ich bei meiner Ge- 
brechlichkeit noch lange am Leben bleibe? — Ich kann nicht 
von hier fort, und du magst nicht herkommen; ich fürchte nur, 
dafs ich jeden Augenblick sterben kann, und du wirst dann 
grenzenlosen Kummer im Herzen tragen.* 

Ach, wer hätte gedacht, dafs der Jüngere sterben und der 
Ältere ihn überleben würde? Dafs der Kräftige jung dahin- 



') Dem heutigen K^ai-feng^-fu in der Provinz Ho«nan ent- 
sprechend. 



- 313 — 

gerafft werden und der Kränkliche erhalten bleiben würde ? Ach, 
ist es denn Wahrheit oder ist's nur ein Traum ? Sollte die Nach- 
richt vielleicht nicht der Wahrheit entsprechen? Ist es denn 
wahr, dafs du, mit so glänzenden Eigenschaften begabt, deinem 
Geschlechte keine Erben mehr geben willst ? Dafs die Lauterkeit 
deiner Gesinnung auf ihren Lohn verzichten muls, während ich, 
der Ältere und Gebrechliche, erhalten bleibe? Noch kann ich 
es nicht glauben, es mufs ein Traum sein! — 

Wenn aber die Nachricht nicht auf Wahrheit beruhte, wie 
könnte dann Tung-yes Brief und Keng Lans*) Mitteilung 
vor mir liegen? — Ach, so ist's doch wohl wahr! Trotz deiner 
glänzenden Gaben wirst du deinem Geschlechte keinen Erben 
mehr schenken, dir, der du mit deiner lauteren Gesinmmg dich 
mn dein Haus noch hättest verdient machen können, ist dieser 
Lohn nicht mehr beschieden! 

Das, was man Himmel nennt, ist in Wahrheit schwer zu 
ergründen, und die Geister sind schwer zu erfassen; was man 
Vernunft nennt, läfst sich nicht berechnen, imd die Lebensdauer 
läfst sich nicht vorausbestinmien. Sei dem, wie ihm wolle : ich, der 
ich schon ergraut bin, werde nunmehr vollends weifs werden, die 
wackelnden Zähne werden wohl vollends ausfallen, die Körper- 
kräfte werden mit jedem Tage mehr dahinschwinden, und die 
Willenskraft wird mit jedem Tage mehr abnehmen. Wie lange 
kann es noch dauern, bis ich dir in den Tod folge? — Gibt es 
ein Bewufstsein nach dem Tode, so kommt die Trennung nicht 
in Betracht; wenn es aber nach dem Tode kein Bewufstsein mehr 
gibt, so währt das Leid nicht lange mehr, und die Leidlosigkeit 
ist dafür von unbegrenzter Dauer. 

Dein Sohn ist kaum zehn Jahre, der meinige kaum fünf 
Jahre alt. Aber wenn schon die Jimgen und Kräftigen nicht 
erhalten bleiben, — darf man da noch hoffen, dafe diese Kinder 
dereinst zu Männern heranreifen? Ach, welch ein Jammer! — 
Ach, welch ein Jammer! 

Im vorigen Jahre schriebst du mir, du littest seit einiger 
Zeit an Schwäche in den Füfsen, die inmier mehr zunehme. Ich 
antwortete dir, das sei in K i a n g - n a n ein allgemein verbreitetes 
Übel und du brauchtest dir deswegen keine Sorgen zu machen. 



') Keng Lan ist der Name des Boten, der ihm die Todesnach- 
richt ü'berbracht hat. 



— 314 — 

Ach! Solltest du am Ende doch hieran zu Grunde gegangen 
sein, oder kam noch ein anderes Leiden hinzu, das den Tod ver- 
ursachte? 

Dein Schreiben war vom siebzehnten Tage des sechsten 
Monats datiert. Nun aber schreibt Tung-ye, du seist am 
zweiten Tage des sechsten Monats gestorben, während in der 
Nachricht, die Keng Lan gebracht, weder Monat noch Tag 
angegeben ist. Tung-yes Bote wird wohl nicht daran gedacht 
haben, sich bei deinen Hausgenossen nach dem Datum zu er- 
kundigen, und was die Mitteilung des Keng Lan betrifft, so 
hatte er nicht gewulst, dafs es vonnöten sei, Tag und Monat 
anzugeben. Als ich bei Empfang von Tung-yes Schreiben 
den Boten befragte, wufete dieser mir nur verworrene Antwort 
zu geben. Ist dem nun so, oder ist dem nicht so? 

Nunmehr entsende ich meinen Boten Kien Chung, dals 
er dir meine Opferspende darbringe, sowie auch deinen verwaisten 
Sohn und deine Amme in meinem Namen tröste. Falls es ihnen 
die Mittel erlauben, mögen sie das Ende der Trauerzeit abwarten 
und alsdann zu mir kommen, falls aber nicht, so sollen sie sofort 
kommen und die Dienstboten mit der Beobachtung der Trauer- 
vorschriften betrauen. Sobald es meine Kräfte gestatten, werde 
ich deine Gebeine hertiberschaffen und auf der Grabstätte unserer 
Vorfahren beisetzen lassen. Hernach will ich mich nach ihren 
Wünschen richten. 

Ach ! weder kenne ich den Zeitpunkt deiner Erkrankung noch 
den Tag deines Todes. Solange du am Leben warst, konnte ich 
nicht mit dir vereint sein, und nun du tot bist, vermag ich nicht, 
für dich zu sorgen, um meinem Schmerze Gentige zu tun; bei 
deiner Einsargimg lehnte ich mich nicht an deinen Sarg, noch 
trat ich bei deinem Begräbnis an dein Grab heran. Durch mein 
Verhalten habe ich mich an der göttlichen Weisheit vergangen 
und dein vorzeitiges Ende veranlafst! Pietät- und lieblos, wie 
ich war, habe ich es nicht dahinbringen können, mit dir vereint 
zu leben und zu sterben. So ist nun der eine von uns an des 
Himmels Rande, der andere in einem Erdenwinkel! Wie, als 
du noch lebtest, dein Schatten nicht an meiner Gestalt haftete, 
so wird nun, da du tot bist, auch deine Seele sich im Traume 
nicht mit mir vereinigen. In Wirklichkeit bin ich es, der das 



— 315 — 

verschuldet hat, — wie darf ich da noch klagen? O, du blauer 
Himmel, warum mufste es zu diesem Äufsersten kommen? 

Von nun an habe ich keinen Sinn mehr für die Welt. Ich 
will einige Morgen Landes an den Flüssen I und Yin zu er- 
werben suchen und dort den Rest meiner Jahre verbringen* 
I>einen Sohn will ich mit dem meinigen zusammen erziehen; 
möge es ihnen beschieden sein, das Mannesalter zu erreichen ! Ich 
will warten, bis ich für unsere Töchter Männer gefunden habe, 
— dann habe ich das Meinige getan. 

Ach, die Worte sind erschöpft, aber die Liebe kann nimmer, 
mehr ein Ende nehmen ! — Vernimmst Du mich, oder vernimmst 
du mich nicht mehr? — Wehe mir, wehe! 

Mögest du dich meiner Spende freuen !c 

Der Vorsatz, sich von der öffentlichen Tätigkeit zurück- 
zuziehen und seine Tage in stiller Weltabgeschiedenheit zu be- 
schliefsen, scheint, wenn nicht eine blolse rhetorische Floskel, so 
doch immerhin nur die Eingebung einer vorübergehenden Stim- 
mung gewesen zu sein. Tatsache ist, dals er bis an sein Ende 
verschiedene hohe Staatsämter bekleidet hat. Nach seinem Tode 
wurden ihm die höchsten Ehren zu teil : er erhielt den posthumen 
Ehrentitel Wen-kang, im Jahre 1084 wurde er nachträglich 
geadelt, und sogar mehrere Tempel sind ihm zu Ehren errichtet 
worden. 

Unter seinen Zeitgenossen scheint ihm Liu Tsung-yüan 
(773—819), obwohl derselbe in der Beurteilung des Buddhismus 
einen dem seinen entgegengesetzten Standpunkt einnahm, am 
nächsten gestanden zu haben. Auch er gehört zu den aus- 
gezeichnetsten Essayisten seiner Zeit. Unter seinen zahlreichen 
Kleinen "Schriften ist eine der bekanntesten die Geschichte vom 
Kamel Kuo, in der er mit feiner Satire die übertriebene und in 
ihren Folgen verderbliche Bevormundung des Volkes von seiten 
der Obrigkeit geilselt: 

»Ich weifs nicht y was ,das Kamel Kuo^ für einen Namen 
hatte. Er hatte einen hohen Buckel und schritt gekrümmt ein- 
her, so dafs er einige Ähnlichkeit mit einem Kamele hatte; daher 
gaben ihm seine Dorfgenossen den Spitznamen ,das Kamele Als 
er das erfuhr, sagte er : , Vortrefflich ! Das ist just ein passender 
Name für mich.' Er gab daraufhin seinen Namen auf und nannte 
sich selbst auch nur ,das Kamel*. 



— 316 — 

Das Dorf, in dem er lebte, hiefs Feng-loh-hiang (,das 
Dorf der Fülle und Freude') und lag westlich von Ch*ang- 
ngan. ^Das Kamel' betrieb die Baumzucht, und alle vornehmen 
Familien und reichen Leute von Ch'ang-ngan pflegten hin- 
zukommen und in seinen Anlagen zu lustwandeln; namentlich 
aber wetteiferten die Obsthändler miteinander , ihm den Hof zu 
machen und ihn bei sich zu bewirten. 

Man sahy dals keiner der Bäume, die ,das Kamel' gepflanzt 
oder umgepflanzt hatte, ausging, vielmehr gediehen sie zu üppiger 
Blüte imd trugen frühzeitig reiche Frucht. Obwohl andere Baum- 
züchter es ihm abzusehen und nachzumachen suchten, vermochte 
doch keiner, ihm darin gleichzukommen. 

Als ihn jemand darum befragte, erwiderte er : ,Ich bin nicht 
im Stande, zu bewirken, dals ein Baum lange lebe und Früchte 
trage; ich vermag nur, mich nach seinen Lebensbedingungen zu 
richten imd seine Natur dadurch zur Entfaltung zu bringen. Die 
Natur jedes umgepflanzten Baumes verlangt, dals seine Wurzel 
sich frei ausdehnen könne, dafs die aufgeschüttete Erde gleich- 
mäfsig sei, dals dazu seine bisherige Erde verwendet und diese 
festgestampft werde. Ist das geschehen, so rühre man nicht 
mehr daran und kümmere sich nicht weiter um ihn, sondern 
gehe seiner Wege, ohne ihn zu beachten. Beim Einpflanzen 
wende man ihm Sorgfalt zu wie einem Kinde ; steht er aber ein- 
mal aufgerichtet da, dann überlasse man ihn sich selbst; dann 
sind seine Lebensbedingungen erfüllt und seiner Natur ist Genüge 
geschehen. Daher beschränke ich mich einzig darauf, sein 
Wachstum nicht zu beeinträchtigen, — nicht, dafs ich die Fähig- 
keit besäfse, eine üppige Blüte zu bewirken. Ich schädige nur 
seine Früchte nicht ; sie zu beschleunigen oder zu vervielfältigen 
liegt jedoch nicht in meiner Macht. Was die anderen Baum- 
züchter betrifft, so verfahren sie nicht also. Die Wurzel wird 
gebogen ; die Erde wird gewechselt, entweder schütten sie deren 
zu viel auf oder aber zu wenig ; und selbst wenn sie fähig sind, 
hierin das Rechte zu treffen, so sind sie doch wiederum bald in 
ihrer Liebe zu eifrig, bald in ihrer Sorge zu ängstlich. Am 
Morgen mustern sie ihn, am Abend befühlen sie ihn, und wenn 
sie sich schliefslich entfernen, werfen sie noch einen BUck auf 
ihn zurück. Das Schlimmste aber ist, wenn sie an seiner Rinde 
kratzen, um sich zu überzeugen, ob der Stamm nicht vertrocknet 



- 317 — 

sei, oder an der Wurzel rütteln, um zu sehen, ob sie fest oder 
lose sitze; dabei entfernt sich der Baum mit jedem Tage von 
seiner Natur. Obwohl sie ihn zu schonen meinen, schädigen sie 
ihn vielmehr, und obwohl sie für ihn zu sorgen glauben, be- 
handeln sie ihn in der Tat wie einen Feind. Daher können sie 
es mir nicht gleichtun. Was könnte ich auch sonst noch tun?^ 

Jener aber, der die Frage an ihn gerichtet hatte, sagte: 
,LieIse sich dein Verfahren nicht auf die Regierung übertragen?' 

,Das Kamel' erwiderte : ,Ich verstehe mich nur auf die Baum- 
zucht, das Regieren ist nicht mein Geschäft. Wohl aber sehe 
ich in dem Dorfe, wo ich lebe, wie die Obrigkeit es liebt, sich 
durch Befehle einzumischen, — scheinbar nur aus übergrolsem 
Mitgefühl, schlielslich aber doch nur zum Unheil. Jeden Augen- 
blick kommt der Büttel und verkündet: ,Der Mandarin befiehlt, 
ihr sollt das Pflügen beschleunigen, euch mit dem Pflanzen be- 
eilen, auf die Ernte acht geben, beizeiten die Cocons abhaspeln, 
bei Zeiten spinnen, für eure Kleinen sorgen, Hühner und Schweine 
züchten . . .' Und wenn er so mit Trommel imd Holzrassel 
alle zusammentrommelt, dann lassen wir kleinen Leute unser 
Mittag- und Abendbrot im Stiche, um dem Büttel zu Danke zu 
sein. Wie sollen wir, da wir niemals Mulse haben, unsem Er- 
werb vergröfsem und unser Leben in Ruhe geniefsen? Die 
Folge davon sind Krankheit und Trägheit. Unter sotanen Um- 
ständen liegt da doch vielleicht eine gewisse Ähnlichkeit mit 
meinem Berufe vor.' 

Der andere aber sprach aufseufzend: ,Ist das nicht prächtig? 
Ich erkundigte mich über die Baumzucht und habe dadurch das 
Mittel der Menschenzucht erfahren! Das will ich weiter ver- 
breiten als Warnung für die Beamten.'« 

Eine besondere Abart der Litteraturgattung, die ich der 
Kürze wegen unter der allgemeinen Bezeichnung »Essay« mit- 
einbegreife, sind die in freien Rhythmen oder, vielleicht besser 
ausgedrückt, in einer Art rhj^hmischer Prosa abgefalsten poeti- 
schen Schilderungen, die der Chinese mit dem Namen Fu be- 
zeichnet. Tu Muh (803—852) war einer der Hauptvertreter 
dieser Gattung im Zeitalter der T*ang. Seine poetische Be- 
schreibung des von Shi-hoang-ti erbauten prunkvollen Palastes 
Ngo-fang ist ein vielbewundertes Muster dieser Art; indessen 
würde gerade dieses Gedicht durch die ermüdende Aufzählung 



— 318 — 

von Einzelheiten, die für unser Gefühl den Eindruck des Gesamt- 
bildes beeinträchtigen, sowie nicht minder durch den Schwulst 
gehäufter Hyperbeln dem Geschmack des europäischen Lesers 
wohl nur wenig zusagen. Nicht minder berühmt ist die »Schilde- 
rung eines alten Schlachtfeldesc von Li Hoa^), die zugleich 
durch den Vorzug grölserer Anschaulichkeit und höheren poeti- 
schen Schwunges hervorragt. Mit packender Gewalt werden in 
diesem Gedicht die verheerenden Wirkungen des Krieges ge- 
schildert : 

»Weit dehnt sich die Sandfläche ins Grenzenlose, — so weit 
das Auge reicht, ist kein menschliches Wesen sichtbar. Fluls- 
läufe umgürten das Gebiet mit ihren Windungen, und in der 
Feme verschwimmen die Umrisse von Gebirgen. Trübselig 
breitet sich die Finsternis aus, und klagend tönt der Wind durch 
die Abenddämmerung. Abgegrast ist der Rasen, und die Kräuter 
sind verdorrt, kalt ist's, wie von morgendlichem Reife. Die 
Vögel setzen ihren Flug fort, ohne sich niederzulassen, nur ver- 
einzelte Tiere, die ihre Herde verloren haben, jagen hastig dahin. 
Der Aufseher jenes Gebietes aber teilte mir folgendes mit: ,Dies 
ist ein altes Schlachtfeld, auf dem schon manches Heer seinen 
Untergang gefunden, und oft, wenn es dunkelt, lassen die ab- 
geschiedenen Seelen der Gefallenen ihre Klagelaute vernehmen.' 

Herzzerreilsend fürwahr! Ob sie aus der Zeit der Ts*in 
oder Han stammen? Ob aus einer der späteren Dynastien? . . . 

Ich habe gehört, dals einst, da Ts*i und Wei ihre Truppen 
in den Grenzgebieten zusammenzogen, da King und Han das 
Volk unter die Waffen riefen, die Krieger zehntausend Meilen 
durchmalsen und jahrelang der Sonnenglut wie der Kälte aus- 
gesetzt blieben. Morgens weideten sie ihre Rosse auf dem dürren 
Rasen, nachts überschritten sie die eisbedeckten Ströme, — den 
ewigen Himmel über sich, das weitgedehnte Land um sich her, 
wuIsten sie nicht, wann ihnen die Heimkehr beschieden. Der 
Spitze des Schwertes die Stirn bietend, hatten sie niemand, dem 
sie mitteilen konnten, was ihnen das Herz bewegte. 

Von den Ts*in und Han abwärts kam es oft zu Streitig- 
keiten mit den Grenzvölkem, und es gab keine Zeit, da das 
Mittelreich darunter nicht zu leiden hatte. Im Altertum wider- 



^) Er lebte im 9. Jahrhundert. 



— 319 — 

setzten sich weder die Barbaren noch das Volk von Hia^) ihren 
Königen und Lehrern. Seitdem jedoch die Ausbreitung der Ge- 
sittung aufgehört hat, wenden die Heerführer ihre Listen an, 
aber eine listige Kriegführung ist etwas anderes als Menschlich- 
keit und Gerechtigkeit. Die Grundsätze der früheren Könige 
sind verschwunden, und niemand Jbefolgt sie mehr. Wehe, 
wehe! 

Ich stelle mir vor, wie das Barbarenheer sich 's zu nutze 
macht, wenn der nördliche Wind den Sand aufwirbelt, und wie 
unser Feldherr, den Feind stolz unterschätzend, dessen Angriff 
vor den Toren seines Lagers erwartet-, auf dem Felde stehen die 
Feldzeichen und Fahnen aufgepflanzt, rings umgeben von Panzer- 
scharen. Unter der Strenge des Kriegsgesetzes erzittert das 
Herz in Furcht, — einem höheren Willen Untertan, hat das Leben 
geringen Wert. Spitze Pfeile durchbohren die Knochen, Wirbel- 
sand dringt in die Augen, Freund und Feind geraten ins Ge- 
menge, Berge und Täler hallen wider, — ein Gedröhn ist's, als 
wenn Ströme und Flüsse sich teilten, als wenn von Donner und 
Blitz die Erde bersten wollte! Und wenn gar erst der Winter 
beginnt und die Meeresbuchten sich mit Eis bedecken, dann ver- 
sinken sie im Schnee bis an die Kniee, und die Barte werden 
steif von Eis. Die Raubvögel ruhen in ihren Nestern, und die 
Kriegsrosse können nicht mehr vorwärts. Die wattierten Panzer 
geben keine Wärme, die Finger erfrieren, es platzt die Haut. 
In dieser bitteren Kälte bedient der Himmel sich der wilden 
Barbaren, dafs, von Mordlust erregt, ein gegenseitiges Schlachten 
beginnt. Die Wege werden durch Lastwagen versperrt und 
die Truppen von der Seite her bedrängt; die Offiziere ergeben 
sich, und der Feldherr fällt dem Feinde in die Hände. In den 
tiefen Gräben häufen sich die Leichen bis an den Uferrand, und 
die Öffnungen der grofsen Mauer sind mit Blut gefüllt. Da 
gibt es keinen Unterschied mehr zwischen vornehm und gering, - 
gemeinsam modern die Gebeine. Die Worte fehlen, um das zu 
beschreiben. 

Der Trommelschall wird schwächer, die Kräfte sind erlahmt ; 
die Pfeile sind erschöpft, gesprungen die Bogensehnen; im An- 



^) So bezeichnen sich die Chinesen bisweilen nach der halb- 
mythischen Hia- Dynastie (angeblich 2205—1767 v. Chr.). 



— 320 — 

einanderprallen der Klingen gehen die besten Schwerter in 
Stücke. Im Handgemenge der beiden Heere liegt die Ent- 
scheidung über Tod und Leben. Sollen sie sich ergeben ? Wohlan, 
dann beschlielsen sie ihr Leben unter den Barbaren. Sollen sie 
weiterkämpfen? Wohlan, dann werden ihre Gebeine im Sande 
bleichen. 

Die Vögel geben keinen Laut von sich, in den Bergen 
herrscht tiefes Schweigen, imd durch die lange Wintemacht tönt 
des Sturmes Sausen. Scharen abgeschiedener Seelen verfinstern 
das Firmament, wolkenähnlich drängen sich die Geister der Ge- 
fallenen. Wo gäbe es einen Anblick, der diesem gleich Herz 
imd Auge mit Trauer füllte ?c 

Nach einem kurzen geschichtlichen Exkurse schliefst der 
Dichter dann mit folgender Betrachtung: 

»Wer in dem zahlreichen Volke, das der Himmel schuf, 
hätte nicht Eltern, die ihn hegten und pflegten und für sein 
Leben bangten? Wer hätte nicht Brüder, ihm verbunden wie 
die Gliedmafsen seines Leibes? Wer hätte nicht in ehelichem 
Bunde Genossen und Freund gefunden? — Welchen Lohn hat 
ihnen das Leben nun gebracht? Was hatten sie verbrochen, 
dafs sie getötet wurden? Niemand von den ihren weifs, ob sie 
noch leben, ob sie tot sind. Und selbst wenn jemand etwas zu 
berichten wüfste, — können sie ihm glauben? müssen sie nicht 
zweifeln? Der Gram verzehrt ihr Herz, und selbst im Schlafe 
haben sie sie stets vor Augen. Speis- und Trankopfer bringen 
sie ihnen dar, lassen weinend den Blick zum Himmel schweifen, 
— Himmel und Erde teilen ihren Schmerz, Pflanzen und Blumen 
trauern mit ihnen .... Und wenn die Opfergaben sie nicht 
erreichen, — wo mögen ihre Seelen dann sich niederlassen? 

Ein Jahr der Not steht sicherlich bevor, und obdachlos 
werden die Menschen umherirren. Wehe, wehe! Ist es der 
Gang der Zeit? Ist es das Schicksal? Von jeher ist es so 
gewesen !c 

Das Zeitalter der T*ang darf als der Höhepunkt, zugleich 
aber auch als der Abschlufs der schöngeistigen Richtung in der 
chinesischen Litteratur bezeichnet werden. In ihr hat das Streben 
nach Schönheit und Eleganz der sprachlichen Form seine höchste 
Vollendung erreicht: was damals auf dem Gebiete der schönen 



— 321 - 

Litteratur, der poetischen sowohl wie der prosaischen, geschaffen 
wurde, ist für alle Folgezeit mustergültig geblieben. So gewils 
die Blütezeit der Lyrik unter den T * a n g einen mächtigen Auf- 
schwung der chinesischen Dichtung bedeutet, so gewifs hat sie 
deren weitere Entwicklung gehemmt. Das Geschmacksideal, 
wie es von den Meistern der T*ang-Zeit aufgestellt und ver- 
wirklicht worden war, gilt seither als Norm. Über sie hinauszu- 
gehen, neue Wege zu suchen ist keinem- der späteren Dichter 
in den Sinn gekommen. Schöpferische Talente haben die folgenden 
Jahrhunderte nicht mehr hervorgebracht, und die neueren Er- 
zeugnisse der chinesischen Dichtung tragen durchweg den 
Stempel eines unproduktiven Epigonentums, das die Grenzen eines 
technischen Virtuosentums nicht zu überschreiten vermag. Die 
Form hat den Sieg über den Inhalt davongetragen. 



Grvbe, Geichicbte der cbineiiscben Litteratur. 21 



NEUNTES KAPITEL. 

Das Zeitalter der Sung und sein Einflufs auf 

das moderne China. 



1. Oeschichtschreibung und Philosophie. Die Erneuening des Con- 
facianismtts durch Chu Hi. Die letzte BIfiteperiode der Essay- 

litteratur. 

Im Leben des einzelnen wie in dem der Völker gibt es 
Zeiten, wo sich mit unwiderstehlicher Gewalt das Bedürfnis 
aufdrängt, Rast zu machen auf dem Wege der geistigen Ent- 
wicklung, den Blick auf die Vergangenheit zurückschweifen 
zu lassen, die durchmessene Bahn gleichsam aus der Vogel- 
perspektive zu überschauen und sich über das bisher Geleistete 
Rechenschaft zu geben. Dem rückwärts gewandten Blick zeigt die 
durchlebte Vergangenheit ein anderes Bild als damals, da sie 
noch selber Gegenwart war: alles einzelne, das, aus der Nähe 
betrachtet, den Blick auf die Umgebung verdeckt hielt, erscheint 
jetzt nur noch als ein Teil des Ganzen, und selbst die Gruppierung 
und die Gröfsenverhältnisse der Teile unterliegen Veränderungen, 
wie sie die Gesetze der Perspektive je nach der Entfernung und 
dem Standorte des Beschauers mit sich bringen. Im Leben der 
Nationen bezeichnen solche Momente der Sammlung zugleich 
Wegscheiden ihrer geschichtlichen Entwicklung. Sie pflegen 
dadurch gekennzeichnet zu sein, dafs das Gesamtinteresse sich, 
sozusagen, auf die Inventaraufnahme des geistigen Besitzes kon- 
zentriert. Das Resultat kann dann ein doppeltes sein: entweder 
fühlt eine Nation noch Kraft genug in sich, mit ihren Pfunden 
zu wuchern und ihr geistiges Vermögen als Betriebskapital zu 
weiteren Unternehmungen zu verwenden, oder aber sie zieht es 



~ 323 — 

vor, sich auf ihr Altenteil zurückzuziehen und von ihren Renten 
zu leben. Im einen Falle geht sie einer Periode der Wieder- 
geburt entgegen, im anderen Falle kommt es zu Stillstand und 
Erstarrung. In der abendländischen Geschichte bietet die Re- 
naissanceperiode jene, das alexandrinische Zeitalter diese Wen- 
dung dar; in China aber steht kulturgeschichtlich das Zeitalter 
der Han zu dem der Sung in einem ähnlichen Verhältnis wie 
im Abendlande die Renaissance zum Alexandrinertum. 

Wie das Zeitalter der Han so bezeichnet auch das der 
Sung eine neue Epoche der chinesischen Geschichtschreibung; 
ja, die Analogie geht so weit, da£s in beiden durch ein Jahr- 
tausend voneinander geschiedenen Perioden dieses Gebiet der 
litterarischen Tätigkeit durch Träger desselben Namens vertreten 
wird: was Sz6-ma T'sien unter den Han geleistet hatte, 
leistet unter den Sung Sz6-ma Kuang (1019 — 1086). 

Nach allem, was über seinen Entwicklungsgang, über die 
erstaunliche Auffassungsgabe, die er schon in frühester Jugend 
an den Tag gelegt haben soll, über seinen unersättlichen Wissens- 
trieb und Lerneifer berichtet wird, dürfen wir annehmen, dafs 
er ein frühreifes Wunderkind gewesen sein mufs, eine Erscheinung 
übrigens, die unter den Männern, welche sich in der chinesischen 
Litteratur einen Namen gemacht haben, keineswegs zu den 
Seltenheiten gehört. Sein Vater tat alles, was in seinen Kräften 
stand, um dem Sohne eine möglichst sorgfältige und gründliche 
Erziehung zu geben; schon mit sieben Jahren mufste der be- 
dauernswerte Knabe das Ch*un-ts*iu studieren, und mit neun- 
zehn Jahren hatte er bereits den höchsten gelehrten Grad er- 
langt. Als er einmal als Kind mit anderen Kindern spielte, 
fiel einer seiner Spielgefährten in einen mit Wasser gefüllten 
irdenen Kübel und war nahe daran, zu ertrinken. Entsetzt 
liefen die übrigen Knaben davon; Sz6-ma Kuang ergriff rasch 
entschlossen einen Stein, zertrümmerte mit demselben den 
Kübel und rettete dem Knaben so das Leben. Diese Anekdote 
beweist, dafs er nicht nur ein Bücherwurm und Stubenhocker 
war, sondern auch die nötige Geistesgegenwart besafs, um im 
praktischen Leben seinen Weg zu finden. In der Tat hat er 
es auch in einer glänzenden öffentlichen Laufbahn bis zu den 
höchsten Ämtern gebracht und sich dabei in allen Lebenslagen 
als ein Ritter ohne Furcht und Tadel bewährt. Verschiedene 

21* 



— 324 — 

Eingaben an den Thron, die wir von seiner Hand besitzen, lassen 
seinen sittlichen Mut, seine Überzeugungstreue und seine uner- 
schütterliche Wahrheitsliebe im schönsten Lichte erscheinen. Im 
Jahre 1064 war das Land von Überschwemmungen und Mils- 
emten heimgesucht worden, die allenthalben Hungersnot und 
verheerende Epidemien zur Folge hatten. Von alters her werden 
in China Plagen wie diese als Warnungen des Himmels oder 
auch als Strafen für eine schlechte Regierung angesehen. S z6-ma 
Kuang benutzte daher die Gelegenheit, um dem Kaiser Ying- 
tsung in einer gehamischten Eingabe ins Gewissen zu reden. 
Der Ton des Schreibens ist für den Verfasser nicht minder 
charakteristisch als für die im autokratisch regierten China bis auf 
den heutigen Tag herrschenden traditionellen Gepflogenheiten. 
Ich kann mir daher nicht versagen, das interessante Schriftstück 
wenigstens im Auszuge wiederzugeben. 

»Seit der Thronbesteigung Ew. Majestät haben sich Kata- 
strophen imd wunderbare Naturereignisse in grolser Zahl zu- 
getragen. In der Sonne haben sich schwarze Flecken gezeigt, 
und das Wasser im Yang-tszg und imHoai ist bald aus den 
Ufern getreten, bald versiegt. Im vorletzten Sommer ging be- 
ständiger Regen herab, der nicht einmal nachliefs, als schon der 
Herbst vorüber war. Im Gebiete der kaiserlichen Domänen im 
Südosten der Residenz sind in mehr denn zehn Bezirken Häuser 
und Hütten teils in die Tiefe gesunken, teils, von der Flut 
emporgetrieben, an Baumwipfeln hängen geblieben. Alte und 
Schwache kommen auf den Stralsen um, Frauen und Kinder 
stehen niedriger im Preise als selbst Hunde und Schweine. In 
H i ü imd Y i n g ist es vorgekommen , dals leibliche Angehörige 
einander verzehrten, und die Toten liegen zu Bergen getürmt. 
Als dann der Winter eintrat, blieb der Schnee aus, die Luft war 
mild wie im Frühling, so dafs die Bäume vor der Zeit aus- 
schlugen, und seitdem herrschen Taifune. Diesen Sommer ent- 
standen allenthalben Epidemien, etliche tausend Meilen weit gab 
es Kranke in jedem Hause, und auf den Strafsen folgte ein 
Leichenwagen dem anderen. Endlich hatte der Herbst zum Glück 
eine reiche Ernte gebracht, alles Volk freute sich in der Hoff- 
nung, wieder aufleben zu können, aber bevor noch die Ernte imter 
Dach gebracht war, ergols sich ein heftiger Regen-, im Laufe 
eines Tages traten die Flüsse und Seen aus ihren Ufern, in den 



— 325 - 

Kanälen staute sich das Wasser, und nicht ein Halm, nicht eine 
halbe Ähre ist übriggeblieben. In den Stralsen der Hauptstadt 
fährt man auf Flölsen, Mauern imd Tore sind eingestürzt, öffent- 
liche Bauten, Speicher, Lagerwälle und Wohngebäude fast völlig 
fortgeschwemmt, zahllose Menschen verschüttet oder ertrunken 
und so ums Leben gekommen. Es ist das wunderbarste Natur- 
ereignis, das je vorgekommen ist und ein Unheil von aufser- 
gewöhnlicher Grölse. Müssen Ew. Majestät sich nicht In banger 
Furcht beugen imd überlegen, wodurch ein solches Unglück 
hervorgerufen ward? Wenn ich im Hinblick auf Ew. Majestät 
den Ursachen auf den Gnmd zu gehen versuche, so scheinen mir 
deren drei vorzuliegen. Die menschenfreundliche und leuchtende 
Tugend der Kaiserin-Witwe ist seit der vorigen Regierung im 
ganzen Reiche bekannt. Unter ihrem Schutze haben Ew. Maje- 
stät das Erbe des Reiches angetreten. In der ersten Zeit, 
da Ew. Majestät krank war, verbreitete sich die Kunde, die 
Kaiserin-Witwe habe sich vor dem Grabe des verstorbenen 
Kaisers auf ihr Antlitz niedergeworfen und so inbrünstig um 
Ew. Majestät Wohl gebetet, dafs sie sich dabei die Stime wund- 
geschlagen. Beweist das nicht, dafs sie Ew. Majestät ein Herz 
voll Liebe entgegenbrachte? — Unglücklicherweise haben sich 
Verleumder eingemischt und es dahin gebracht, dafs zwischen 
den beiden Höfen plötzlich eine Kluft entstand. Aber selbst den 
Fall angenommen, die Kaiserin- Witwe hätte keine Liebe für 
Ew. Majestät empfunden: wie darf ein Sohn sich zum Richter 
über Recht und Unrecht aufwerfen, Groll in seinem Herzen 
nähren und es an dem Gefühl der Liebe und Ehrerbietung fehlen 
lassen? In der Überlieferung heifst es: ,Grofse Tugend erstickt 
kleinlichen Groll'. 

Der verstorbene Kaiser hatte Ew. Majestät aus der grofsen 
Masse ausgezeichnet, von dem Posten eines Provinzialbeamten 
auf den kaiserlichen Thron erhoben imd dafür nichts weiter ver- 
langt als die Fürsorge für die Kaiserin-Witwe und die kaiser- 
lichen Töchter. Kaum aber war der Sarg des Kaisers beigesetzt 
worden, als Ew. Majestät die Pflicht, der Kaiserin-Witwe Freude 
zu bereiten, aufser acht liefsen. Die älteren Prinzessinnen wurden 
in einem leerstehenden Palaste untergebracht und nur eines 
seltenen Besuches gewürdigt. Es sei mir gestattet, Grofses mit 
Kleinem zu vergleichen. Gesetzt den Fall, ein Dorfbewohner 



— 326 — 

hätte nur eine Frau und mehrere Töchter. Er besitzt ein Acker- 
land von zehn Morgen mit einem geringen Ertrag. Alt und 
ohne Söhne, adoptiert er den Sohn eines Verwandten und setzt 
ihn zum Erben ein. Nach dem Tode des Mannes sieht sich der 
Sohn im Besitze des Ackers und Einkommens. Er hält die 
Mutter fem und stöfst die Schwestern von sich, so dafs sie voll 
Kummer und Gram murren und seufzen müssen. Was würden 
wohl die Nachbarn und Dorfgenossen von einem solchen Sohne 
denken? — Wenn aber schon ein einfacher Privatmann, der 
solches tut, sich dem Tadel seiner Dorf genossen aussetzt, um 
wieviel mehr ein Mann, der als Kaiser die höchsten Ehren 
geniefst und zu dem alles Volk innerhalb der vier Meere empor- 
blickt? Das ist es, wodurch Ew. Majestät die Herzen der 
Menschen verloren haben, c 

Als die zweite Ursache der vom Himmel verhängten Plagen 
bezeichnet Sz6-ma Kuang die Energielosigkeit des Kaisers, 
der die Dinge gehen lasse, wie sie gingen. Unter der schwachen 
Regierung des vorigen Kaisers sei ein gewissenloses Beamten- 
tum grolsgezogen worden, und das Volk habe seine ganze 
Hoffnung auf die Tatkraft und den festen Willen des dereinstigen 
Nachfolgers gesetzt; diese Hoffnung sei aber bisher nicht erfüllt 
worden : 

>Ew. Majestät sind jedoch noch nachgiebiger und halten 
sich noch mehr verborgen. Gesuche, die eingereicht werden, 
wollen Sie weder genehmigen noch ablehnen und befolgen in 
allem das alte Verfahren. Um die Geschäfte kümmern Sie sich 
nicht, und während Sie Kleinigkeiten Ihre Aufmerksamkeit zu- 
wenden, vernachlässigen Sie die Hauptsache. Obwohl Ihnen die 
Tüchtigen bekannt sind, vermögen Sie doch nicht, sie zu be- 
fördern; obwohl Ihnen die Unfähigen bekannt sind, vermögen 
Sie doch nicht, sie zu entfernen; Sie sehen Recht und Unrecht 
ein und vermögen doch nicht, jenem Geltung zu verschaffen, 
diesem abzuhelfen. Die Willkür der Grofswürdenträger ist ärger 
als unter der vorigen Regierung: sie schalten und walten nach 
eigenem Ermessen, ohne sich irgend welchen Zwang anzutun, 
so dafs bald Unfähige befördert, bald Schuldige zu Gnaden an- 
genommen werden. Das ist es, wodurch das Reich hauptsächlich 
die Hoffnung verloren hat. Ew. Majestät haben von Natur edle 
Anlagen und sollten sich daher Männer wie Yao , Shun, Yü 



— 327 — 

und T*ang zu Vorbildern nehmen.^) Seit Ew. Majestät zur 
Regierung gelangt sind, halten Sie so starr an Ihren vor- 
gefaßten Meinungen fest, als gälte es, eine Bergfeste gegen 
äufsere Feinde zu behaupten, und die Beamten haben dadurch 
nicht die Möglichkeit, ihren Worten Gehör zu verschaffen. Auf 
diese Art wird es schwerlich gelingen, die hundert Ströme zu 
einem grofsen Meere zu vereinigen. Wenn ein erleuchteter Fürst 
den Thron inne hat, so sieht er dabei weder auf die Verschiedenheit 
zwischen den eigenen und fremden Ansichten, noch auf persönliche 
Zu- und Abneigung, noch auch auf die Reihenfolge, in der ihm die 
Ratschläge erteilt werden, sondern lediglich auf das, was recht ist. 
Wenn er die eigene Ansicht bevorzugen und das, was andere ihm 
vortragen, auf die leichte Achsel nehmen, denen, die er liebt, Ver- 
trauen, denen, die er gering achtet, Argwohn entgegenbringen, 
sich nur nach den Worten, die er zuerst vernommen, richten und 
spätere Ratschläge verwerfen wollte, so würde er das Rechte, 
selbst wenn es vor ihm läge, nicht wahrzimehmen vermögen. Im 
Shu-king heifst es: ,Bei Worten, die deinen Wünschen wider- 
sprechen, mulst du prüfen, ob sie nicht dennoch richtig sind; 
bei Worten, die deinen Wünschen entsprechen, mulst du prüfen, 
ob sie nicht dennoch falsch sind^ *) Wenn Ew. Majestät nur an 
dem Freude haben und das befolgen, was Ihren Ansichten ent- 
spricht, um dagegen alles, was ihnen nicht entspricht, unwillig 
zu verwerfen, so muls ich befürchten, dals die Verleumder und 
Schmeichler allmählich den Vorrang gewinnen und die Geraden 
und Ehrlichen zurückdrängen. Dadurch dürfte aber die Wohl- 
fahrt des Landes kaum gefördert werden. Zudem sollen die 
von Reichs wegen eingesetzten Zensoren gleichsam des Kaisers 
Augen imd Ohren sein, damit die leitenden Minister keine Heim- 
lichkeiten vor ihm haben. Sämtliche Regierungsmalsregeln 
werden mit den Ministem gemeinsam vereinbart und danach 
ins Werk gesetzt. Wenn nun hinterdrein ein Zensor ihnen eine 
abweichende Auffassung entgegenstellt, so wäre es die Pflicht 
Ew. Majestät, zu prüfen, auf wessen Seite Recht und Unrecht 
ist, und daraufhin die Maisnahmen, je nachdem sie zulässig er- 

^) Sz^-ma, Kuang kommt in diesem Abschnitt auf den dritten 
Punkt zu sprechen : auf den Eigensinn des Kaisers und seine Unfähig- 
keit zur Selbstkritik. 

■) Shu-king, T*ai-ki^, IL 



— 328 — 

scheinen oder nicht, entweder auszuführen oder zu verhindern. 
Nun aber übergeben Ew. Majestät die Gutachten der Zensoren 
den Ministem ; wie sollten diese je zugeben, dals sie unrecht und 
jene recht hätten? Dadurch bringen Ew. Majestät sich in den 
Ruf, dafs Sie Warnungen unzugänglich seien, die Minister aber 
erlangen auf solche Art den Vorteil absoluter Machtvollkommen- 
heit. Das ist es, wodurch das Reich vollends die Hoffnung ver- 
loren hat. 

Die Minister wissen alle sehr wohl, dals diese drei Übel- 
stände unzulässig sind, aber da sie nach oben hin die Strafe 
fürchten und sich nach unten hin dem allgemeinen Unwillen ent- 
ziehen möchten, so wagt keiner unter ihnen, Ew. Majestät die 
Wahrheit zu sagen. Infolgedessen herrscht im ganzen Reiche 
eine Gärung, die sich nicht Luft zu machen weils. Nicht ohne 
Grund ist daher die Harmonie von Himmel und Erde gestört 
worden, c 

Sz6-ma Kuangs Lebenswerk, die Frucht zwanzigjähriger 
Arbeit, ist sein grofses Geschichtswerk Tsz6-chi t*ung-kien, 
»Allgemeiner Spiegel als Leitfaden der Regierunge. Das 
umfangreiche Werk — • es umfafst 294 Bücher — enthält die Ge- 
schichte des chinesischen Reiches vom Jahre 403 v. Chr. bis zum 
Jahre 959 n. Chr. und ist der Hauptsache nach eine Kompilation 
aus den bis dahin erschienenen offiziellen Reichsannälen , neben 
denen Sz^-ma Kuang freilich noch eine grofse Anzahl anderer 
Quellen benutzt hat. Seit den historischen Denkwürdigkeiten des 
Sz6-ma Ts^ien ist es die erste zusammenfassende Geschichts- 
darstellung gröfseren Stiles. Seiner äufseren Anlage nach unter- 
scheidet sich das Werk vom Shi-ki dadurch, dafs Sz^-ma Kuang 
den Stoff nicht, wie sein grolser Vorgänger, in verschiedene, inhalt- 
lich voneinander gesonderte Abschnitte gliedert, sondern aus- 
schlielslich nach der Zeitfolge der Ereignisse gruppiert Gleich zu 
Anfang entwickelt Sz6-ma Kuang seine Auffassung vom Staats- 
wesen und die sich daraus ergebenden Grundsätze der Regierungs- 
kunst in folgenden Worten: 

»Für den kaiserlichen Beruf stehen die Satzungen obenan. 
Unter den Satzungen') sind die Stände und unter diesen die 



Das Wort, das ich hier annähernd durch »Satzungen« wieder- 
zugeben versuche, lautet im chinesisch^ Texte li. Es ist dies einer 



— 329 — 

Ämter das wichtigste.. Unter »Satzungenc verstehe ich die 
staatliche Ordnung, unter »Ständenc Fürst und Untertanen, unter 
»Ämtern € die Prinzen und Lehensfürsten, sowie die Grolswtirden- 
träger höheren und niederen Grades. Unter der nach Mil- 
lionen zählenden Masse des Volkes im weiten Gebiete innerhalb 
der vier Meere, die dem Kaiser untertänig ist, mag es manche 
geben, die an Kraft über jeden Vergleich erhaben sind und die 
Mitwelt an Weisheit tiberragen, doch werden auch sie sich stets 
in dienender Stellung unterwerfen: liegt das nicht in der durch 
die Satzungen geschaffenen Ordnung? 

E>er Hinmielssohn ist das Oberhaupt der drei obersten In- 
stanzen*), diese stehen an der Spitze der Lehensf tirsten , die 
Lehensftirsten gebieten über die Grofswtirdenträger höheren und 
niederen Grades, und diese haben die Leitung über die anderen 
Beamten und das Volk. Wenn die Vornehmen über die Geringen 
herrschen und diese jenen dienen, wenn der Standesunterschied 
zwischen Fürst und Untertanen so unabänderlich feststeht wie 
Himmel und Erde, dann werden Obrigkeit und Untertanen sich 
gegenseitig schützen und im Staate Ordnung und Ruhe herrschen. 
Die Satzungen können nicht anders als durch Ämter offenbar 
werden, nicht anders als durch äufsere Abzeichen Gestalt er- 
langen. Wenn sie [die Satzungen] durch Vermittlung der Ämter 
angeordnet und vermöge der äufseren Abzeichen unterschieden 
werden, dann steht das sittliche Verhältnis zwischen Obrigkeit 
und Untertanen in leuchtender Klarheit da. Wie könnten die 
Satzungen für sich allein ohne Ämter und äufsere Abzeichen 
bestehen? So sind z. B. Bauchriemen imd Halfter nur gering- 
fügige Dinge, und dennoch bedauerte Confucius ihren Verlust.*) 
Die Regelung der Ämter ist femer eine Kleinigkeit, und dennoch 



der vieldeutigsten Begriffe der chinesischen Sprache, von dem bereits 
S. 62 ff. des näheren die Rede gewesen ist. 

') Unter den *drei Kung« wurden zur Zeit der Chou die drei 
kaiserlichen Erzieher, unter den Ts'in und H an die Minister des 
Krieges, des Unterrichts und der öffentlichen Arbeiten verstanden. 

*) Es sind hier Bauchriemen und Halfter gemeint, die nach dem 
Li-ki unter der Y in- Dynastie (angeblich 1766—1122 v. Chr.) zum 
Pferdegeschirr des Wagens gehörten, auf dem der Kaiser zum Himmels- 
opfer fuhr. Sie gehörten mithin zu den äufseren Abzeichen des ältesten 
religiösen Kultus; daher bedauert Confucius ihren Verlust. 



— 330 — 

setzte Confucius sie voran.*) Denn es gibt in der Welt nichts, 
das nicht aus kleinen, verborgenen Ursachen hervorginge, bis es 
schliefsiich in die Erscheinung tritt. Die Einsicht des Weisen 
ist weitreichend, daher vermag er auf die verborgenen Ursachen 
zu achten und sie in seiner Gewalt zu haben. Das Wissen der 
grolsen Menge reicht nicht weit, daher wartet sie, bis sich die 
verborgenen Ursachen in ihren Wirkungen offenbaren, und sucht 
sich dann vor ihnen zu retten. Wer die verborgenen Ursachen 
in seiner Gewalt hat, erzielt mit geringem Kraftaufwand einen 
grofsen Erfolg; wer sich aber vor ihren Wirkungen schützen 
will, nachdem diese offenbar geworden sind, der mag seine 
ganze Kraft aufwenden und wird sein Ziel dennoch nicht er- 
reichen. 

Ach, als die Regierungsgrundsätze der Chou in Verfall 
gerieten, sank auch die staatliche Ordnung in Trümmer, so dafe 
von dem Gesamtbestande der Satzungen vier Fünftel ver- 
loren gingen; und wenn das Haus Chou nichtsdestoweniger 
noch etliche Jahrhunderte lang das Reich beherrscht hat, so war 
das nur dadurch möglich, dafs die Scheidung der Ämter noch 
fortbestand. Als nun aber die Grofswürdenträger von Tsin 
ihren Fürsten vergewaltigten und sein Land teilten, war der 
Himmelssohn nicht nur nicht im stände, sie zu züchtigen, sondern 
er zeichnete sie obendrein noch aus, indem er sie den Lehensfürsten 
im Range gleichstellte. Indem er selbst so geringfügige Ämter 
nicht zu bewahren vermochte*), verlor er sie gänzlich aus seiner 
Gewalt, imd die Satzungen der früheren Könige gingen hiermit 
endgültig zu Grunde. 

Manche wenden dagegen ein, das Haus Chou sei damals 
unbedeutend und schwach gewesen, während die drei Tsin- 
Staaten') stark und mächtig waren; selbst wenn es also seine 



^) Dieser Hinweis bezieht sich auf Lun-yü, XIII, 3: »Tsz6-lu 
fragte: ,Der Fürst von Wei erwartet, dafs du, Meister, die Leitung 
der Regierung Übernehmen werdest; worauf würdest du in solchem 
Falle zuerst dein Augenmerk richten?* — , Allenfalls auf die Regelung 
der Ämter,' erwiderte Confucius.« 

*) D. h. indem er so geringfügige Ämter wie die von Grofswürden- 
trägern nicht einmal innerhalb der ihnen gesteckten Grenzen zu er- 
halten vermochte. 

■) Nämlich die Staaten Han, Chao und Wei, die aus der Tei- 
lung von Tsin hervorgegangen waren. 



— 331 — 

Einwilligung hätte versagen wollen, wäre es dazu doch nimmer- 
mehr im Stande gewesen. Das ist ein grofser Irrtum. Hätten 
sich die Fürsten dieser drei Staaten nicht um den Tadel des 
Reiches gekümmert, so würden sie auch ohne die Einwilligung 
des Königs ihre Selbständigkeit erlangt haben. In solchem 
Falle hätten sie als offene Rebellen gehandelt, und wenn das 
Reich es mit Aufruhrern vom Schlage eines Huan von T*si 
oder eines Wen von Tsin*) zu tim gehabt hätte, so würde es 
sie mit Fug und Recht gezüchtigt haben. Nun aber hatten sie 
den Hinmielssohn um dessen Genehmigung gebeten, und dieser 
hatte sie ihnen auch erteilt: folglich waren sie vom König zu 
Lehensfürsten ernannt worden. Wer hätte sie daraufhin noch 
züchtigen dürfen? Wenn daher die Fürsten der drei Staaten 
den Lehensfürsten gleichgestellt wurden, so waren sie es nicht, 
die die Satzungen über den Haufen geworfen hatten, sondern die 
Schuld trifft den König. 

Ach, wenn erst die Satzungen zwischen Fürst und Unter- 
tanen über den Haufen geworfen sind und Klugheit und Macht 
im Reiche um den Vorrang kämpfen, dann hat das Geschlecht 
der Weisen keine Aussicht mehr auf Nachwuchs, und das Volk 
ist dem Untergange nah. Ist das nicht bejanmiemswert?c 

Hu San-sing, der unter der nächstfolgenden Dynastie 
lebte und einen Komentar zu Szg-ma Kuangs Geschichts- 
werk geschrieben hat, knüpft hieran noch folgende exegetische 
Betrachtung : 

»Der Kreislauf der kosmischen Dualkräfte*), die Entwicklung 
von Himmel und Erde, Anfang und Ende der Vemunftordnung 
der Dinge und der menschlichen Angelegenheiten, ist alles aus 
unscheinbarer Kleinheit zu unwiderstehlicher Grölse heran- 
gewachsen. Darum wird, wer die Tugend pflegt, das Gering- 
fügige zur Hauptsache machen, und wer sich mit der Regierung 
befalst, sein Augenmerk auf das richten, was noch im Werden 
begriffen ist. Der Edle legt Wert darauf, die Gelegenheit wahr- 
zunehmen und dann zu handeln. Schon seit langer Zeit hatten 



*) Die Fürsten Huan-kung von TsM und Wen-kung von 
Tsin, beide im 7. Jahrhundert v. Chr. lebend, waren die ersten unter 
den fünf Lehensfürsten, die der Reihe nach die Hegemonie im Reiche 
an sich rissen. 

') Yin und Yang. 



— 332 — 

die drei Staaten ihr Stammland teilen wollen. Seit der Regierung 
des Fürsten T a o erstarkte das Eis unter zunehmendem Froste *), 
und nachdem hundert Jahre verstrichen waren, konnte der König 
nicht mehr anders als seine Genehmigung geben. Daher wird, wer 
sich auf die Kunst versteht, das Reich oder einen Staat zu regieren, 
sich darauf beschränken, allezeit auf die verborgenen Ursachen 
zu achten. Er wird in einem niedrigen Palaste wohnen, schlechte 
Kleidung tragen und sich vor Verschwendung hüten; er wird 
sich keine Zeit zum Essen lassen^) und sich vor Mülsiggang 
und Vergnügen hüten; er wird zittern und ängstlich sein*) und 
sich vor Stolz und Hochmut in acht nehmen; er wird sich be- 
mühen, das rechte Mals zu halten, und auf Unheil und Aufruhr 
vorbereitet sein. Wer nicht seinen Begierden frönt, an den werden 
keine verführerischen Reden herandringen; wer nicht Erfolg und 
Gewinn liebt, in dem werden sich keine ehrgeizigen Pläne regen. 
Wenn dem in Wahrheit so ist, so mögen die sechs Würden- 
träger sich erheben, die drei Djmastenfamilien wieder auftreten *) 
imd Mang Wang, Ts'ao Ts*ao, Sz6-ma Yih und Chu 
Wen**) der Reihe nach im Palaste auftreten: sie würden voll- 
auf zu tun finden, um ihre Kraft aufzuwenden und ihre Treue 
zu bekunden, — wie sollten sie da noch auf andere Gedanken 
kommen ? 

Was aber die Tatsache betrifft, dals die Fürsten von Han, 
Chao und Wei zu Lehensfürsten wurden, so gilt das Wort 



^) Seit der Regierung des Fürsten Tao von Tsin (572—558 
V. Chr.) begann das Ansehen des fürstlichen Hauses, wie Sz£-ma 
Ts*ien berichtet, mit jedem Tage zu sinken, und die sechs Würden- 
träger rissen die ganze Gewalt an sich. Das Wachsen des Einflusses 
der sechs Würdenträger meint Hu San-sing mit dem Bilde des 
erstarkenden Eises. 

*) Zitat aus Shu-king, Wu-yih, III, wo dasselbe vom König 
Wenwang gesagt wird. 

•) Im Shu-king, T*ang-shi, III sagt der Kaiser T' an g (angeb- 
lich 1766—1753 V. Chr.) von sich: «Ich zittere und bin ängstlich, als 
könnte ich in einen tiefen Abgrund stürzen«. 

*) Eine Anspielung auf die erwähnten sechs Würdenträger von 
Tsin und die Fürstengeschlechter von Han, Chao und Wei, die 
aus dem Staate Tsin hervorgingen. 

") Lauter Usurpatoren, die in der Geschichte Chinas eine Rolle 
gespielt haben. 



— 333 — 

des Confucius: eich weifs schliefslich nicht, was ich davon 
halten soll«.*) 

So bewundernswert aber auch das Riesenwerk des S z 6 - m a 
Kuang ist, — es ist dennoch nicht sowohl die Geschichtschreibung 
als vielmehr die Philosophie, der das Zeitalter der Sung seine 
Sonderstellung in der Geschichte der chinesischen Litteratur ver- 
dankt. 

Der Name, unter dem die Chinesen die Lehren der Sung- 
Philosophen zusanmienfassen, lautet Sing-li, — eine Bezeichnung^ 
die sich annähernd durch »Naturphilosophie« wiedergeben läfst. ®) 
Der Nährboden aber, aus dem die neue philosophische Schule 
hervorwuchs, war das Yih-king, das kanonische Buch der 
Wandlungen, dessen geschichtliche Bedeutung unstreitig zum 
gröfsten Teil in der Tatsache enthalten ist, dafs es durch seinen 
dunklen und schwerverständlichen Inhalt dem spekulativen Denken 
mächtige Anregung dargeboten hat. Auch auf dem Gebiete der 
chinesischen Philosophie bewahrheitet sichSz6-ma Kuangs Wort 
von den »verborgenen Anfängen« oder, wie wir sagen würden, 
von den kleinen Ursachen, die oft grofse Wirkungen haben. 
Denn nicht in dem, was das Yih-king wirklich enthält, liegt 
seine eigentliche Bedeutung für die Entwicklung der philosophischen 
Spekulation in China, sondern in dem, was die Philosophen der 
Sung -Zeit in das Buch hineingelegt und daraus geschöpft haben. 
Shao-Yung (1011—1077) war es, der sich in dieser Zeit als 
erster in die Geheinmisse des Yih-king vertiefte und den Reigen 
der neuen Philosophenschule eröffnete ; doch mufe nicht er, sondern 
sein gröfserer Zeitgenosse Chou Tun-i, auch einfach Chou-tsz6, 
»Meister Chou«, genannt (1017—1073), als ihr eigentlicher 
Gründer bezeichnet werden. Seine beiden berühmten Schüler^ 
die Brüder Ch^engHao (1032—1085) und Ch*eng I (1033— 



') Weil eben in diesem Falle die Schuld auf seiten des Königs 
lag. Der Ausspruch des Confucius findet sich im Lun-yü, IXt 
23, und lautet: »Wenn einer an diesen Worten [es ist von Worten 
der Ermahnung die Rede] Freude hat, sie aber nicht ausführt, ihnen 
beipflichtet, aber sich nicht bekehrt, so weils ich in der Tat schliefs- 
lich kaum, was ich von ihm halten soU«. 

*) Über die Sing-li -Philosophie s. deHarlez, L'^cole philo- 
sophique moderne de la Chine ou Systeme de la Nature (Sing-li). 
Bruxelles 1890. 



- 334 — 

1 107) gaben nach dem Tode des, Meisters dessen T*ai-kih-t'u 
und T'ung-shu heraus, zwei kurze Traktate, in denen er seine 
Lehre niedergelegt hat. Chou-tsz6 genofs eines aulserordent- 
lichen Ruhmes und wurde als der Confucius der Sung-Dynastie 
bezeichnet. Der um ein Jahrhundert jüngere Chu Hi, der ihn 
seinen Meister nennt, sagt von ihm, er sei der erste gewesen, 
der das Y i h - k i n g ergründet habe. Wie dem auch sei, — auf jeden 
Fall ist er der einzige systematische Denker gewesen, den 
China hervorgebracht hat. Erweist man seinem T*ai-kih-t*u 
auch vielleicht zu viel Ehre, wenn man es als ein philosophisches 
System bezeichnet, so wird man inunerhin zugeben müssen, dafs 
<es wenigstens den Ansatz zu einem solchen darstellt. Uralt ist 
in China die Lehre von den kosmischen Dualkräften Yin und 
Yang, dem dunklen und dem lichten Prinzip, aus deren Wechsel- 
wirkung das Universum hergeleitet wird. Es ist nun Chou-tsz6s 
Verdienst, dafs er als erster den Versuch unternommen hat, den 
Dualismus zu einem Monismus umzugestalten, indem er den 
Gegensatz der Dualkräfte in einer höheren Einheit auflöste. 
Diese letzte und höchste Einheit alles Seins bezeichnet er mit 
dem Namen T*ai-kih, »das höchste Auf serstec oder, wie G. von 
■der Gabelentz den Ausdruck sehr glücklich wiedergibt, »das 
Urprinzipc. Da das T'ai-kih-t'u, »die Tafel des Ur- 
prinzipsc , als einzig dastehender Versuch philosophischer System- 
bildung immerhin ein gewisses Interesse beanspruchen darf, lasse 
ich hier den kurzen Traktat in der trefflichen Übersetzung von 
G. von der Gabelentz*) folgen: 

»Ohne Prinzip, ist es dabei Urprinzip. Indem das Urprinzip 
sich bewegt, erzeugt es das Yang. Am Ziele der Bewegung 
angelangt, ruht es. In der Ruhe erzeugt es das Yin. Am 
Ziele der Ruhe angelangt, bewegt es sich von neuem. Bald 
bewegt, bald ruhend, — eins ist des anderen Ursache. Yin 
gesondert, Yang gesondert, so stehen die beiden Grundformen fest. 

Das Yang verändert sich, das Yin gesellt sich hinzu: so 



')G. von der Gabelentz, Thai-kih-thu , des Tscheu-tsi Tafel 
des Urprinzipes mit Tschu-his Kommentar, chinesisch mit mandschu- 
ischer und deutscher Übersetzung. Dresden 1876. Ich bin in der 
Wiedergabe des T*ai-kih-t*u nur in einzelnen, minder wichtigen 
Punkten von der Übersetzimg meines verewigten Lehrers und Freundes 
abgewichen. 



— 335 — 

erzeugen sie Wasser, Feuer, Holz, Metall und Erde, die fünf 
atmosphärischen Phänomene verteilen sich entsprechend, die vier 
Jahreszeiten wandern.*) 

Die fünf Elemente sind, vereinigt, Yin und Yang; Yin 
und Yang sind, vereinigt, das Urprinzip; das Urprinzip ist ur- 
sprünglich ohne Prinzip. Die fünf Elemente haben bei ihrer 
Entstehung ein jedes seine Natur. 

Das ursprüngliche Wesen dessen, was kein Prinzip hat, und die 
Quintessenz der Zwei und der Fünf ^) vereinigen sich wunderbar 
und gerinnen: die Norm des K'ien wird zum Männlichen, die 
Norm des K'un wird zum Weiblichen.®) Die beiden Kräfte 
erregen einander, durch Umwandlung erzeugen sie alle Dinge; 
alle Dinge entstehen durch Erzeugung, und die Veränderung und 
Umwandlung ist unerschöpflich. 

Nur der Mensch allein erlangt dabei die höchste Vollendung 
und ist vollkommen durchgeistigt; die Gestalt hat sich gebildet, 
der Geist bringt Wissen hervor, die fünf Naturen*) werden durch 
die Berühnmg [mit der Aufsenwelt] in Bewegung versetzt; dabei 
scheiden sich Gut und Böse, und die verschiedenen Handlungs- 
weisen treten hervor. 

Der heilige Mensch richtet sich nach der Mittelwegigkeit, 
Geradheit, Menschlichkeit und Gerechtigkeit, macht dabei die 
Ruhe zur Hauptsache und stellt des Menschen Prinzip fest. Daher 
vereinigt der heilige Mensch mit Himmel und Erde seine Tugend, 
mit Sonne und Mond seine Klarheit, mit den vier Jahreszeiten 
seine Ordnimg, mit Dämonen und Geistern sein Glück und Mifs- 
geschick. Der Edle, es nämlich das Prinzip des Menschen, wie 



^) Dem Wasser entsprechen nach chinesischer Anschauung die 
Kälte und der Winter, dem Feuer die Hitze und der Sommer, dem 
Holze der Regen und der Frühling, dem Metalle das klare Wetter 
und der Herbst, der Erde der Wind. 

*) Unter den »Zwei« sind natürlich Yin und Yang, unter den 
»Fünf« die fünf Elemente zu verstehen. 

') Dem Yang entspricht das K*ien, das Männliche, Aktive, 
Herrschende, dem Yin das K*un, das Weibliche, Passive, Unter- 
geordnete. Das K'ien ist das Prinzip des Himmels, das K*un das 
der Erde. 

^) Unter den fünf Naturen sollen nach Chu Hi die fünf Kardinal- 
tugenden: Menschlichkeit, Gerechtigkeit, Schicklichkeit, Weisheit und 
Aufrichtigkeit, gemeint sein. 



— 336 — 

es der Heilige aufgestellt hat] pflegend, ist glücklich; der Alltags- 
mensch, ihm widerstrebend, ist unglücklich. 

Darum heilst es: Stellt man des Himmels Norm auf, so 
spricht man von Yin und Yang; stellt man der Erde Norm 
auf, so spricht man von Mild und Streng ; stellt man des Menschen 
Norm auf, so spricht man von Menschlichkeit und Gerechtigkeit. 
Auch heifst es: den Anfang ermitteln, das Ende erwägen, da- 
durch erkennt man die Bedeutung von Leben und Sterben. 
Grofs ist das Yih-king, — ja, es ist vollendet !c — 
Neben den Brüdern Ch'eng gehört auch deren Oheim Chang 
Tsai zu den Schülern des Chou-tszfe, ein Philosoph, auf den 
sich Chu Hi neben Han Yü, Chou-tsz6 und den beiden 
Ch'eng mit Vorliebe zu berufen pflegt. Unter seinen Schriften 
ist der Cheng-meng, d.h. »Anfangsgründec, betitelte Traktat 
am bekanntesten, weil er die Grundzüge seiner Lehre enthält. 
Nachdem Chang Tsai eine Zeitlang buddhistischen und taoisti- 
schen Tendenzen gehuldigt hatte, war er in den Schofs des allein- 
seligmachenden Confucianismus zurückgekehrt, doch sind seine 
ehemaligen Neigungen offenbar nicht ohne Einflufs auf seine 
spätere Lehre geblieben. Im allgemeinen schliefst er sich an 
Chou-tsz6 an, nur dafs er an die Stelle des »Urprinzips« >das 
grofse Leere €, T*ai-hiü, als Urgrund alles Seins setzt. Aber 
während esChou-tsz6 gelungen war, seinen Gedankengang in 
leidlich klarer und verständlicher Weise zum Ausdruck zu bringen, 
verliert sich Chang Tsai in einem wahrhaft chaotischen Gewirr 
abstruser Spitzfindigkeiten. Schon sein Grundbegriff krankt an 
einem inneren Widerspruch, sofern in dem »grofsen Leerenc be- 
reits das K'i, die schöpferische Kraft, implicite enthalten sein 
soll. »Aus dem grofsen Leeren entsteht der Name des Himmels, 
aus der Umformung der Kraft entsteht der Name der Norm, aus 
der Vereinigung des Leeren mit der Kraft entsteht die Natur, 
und aus der Verbindung von Natur und Bewufstsein entsteht 
das Herz (d. h. das denkende Subjekt).« Selbst wenn das Wort 
»Name« durch »Begriff« ersetzt wird, gewinnt der Gedanke nicht 
sonderlich an Klarheit. Ebenso verworren klingt seine Rede, 
wenn er den Gegensatz seiner Lehre zu denen des Lao-tsz6 
und Buddha erläutern will: »Wenn man annehmen wollte, das 
grofse Leere könne die Kraft hervorbringen, so wäre das grofse 
Leere unerschöpflich, die Kraft hingegen begrenzt, und man ge- 



— 337 — 

riete damit in Lao-tsz6s Lehre von der Spontaneität, nach 
welcher das Sein aus dem Nichtsein entstanden ist, ohne zu er- 
kennen, was es bedeutet, dafs Sein und Nichtsein ungetrennt eine 
ewige Einheit bilden. Und wollte man annehmen, dafs die zehn- 
tausenderlei Formen Dinge seien, die innerhalb des grolsen Leeren 
in die Erscheinung getreten sind, so würden die Dinge und das 
Leere in keinem wechselseitigen Zusammenhange stehen. Form 
bliebe Form an sich, Natur Natur an sich, und Form, Natur, 
Himmel und Mensch stünden unvermittelt da. Damit geriete 
man in die Lehre Buddhas, nach welcher Berge und Ströme 
und die ganze Erde als ein Übel zu betrachten sind. Diese Lehre 
ist unklar. Die ehrlichen, aber beschränkten Leute wissen nur 
obenhin, dafs das verkörperte Leere die Natur ist; dafs aber die 
ursprüngliche Norm des Himmels die Funktion ist, wissen sie 
nicht. Im Gegenteil ziehen sie aus der geringen menschlichen 
Einsicht ihre Schlüsse auf Himmel und Erde, imd weil ihre Er- 
kenntnis imvoUkommen ist, halten sie das Universum und die 
Dualkräfte irrtümlicherweise für ein Gaukelspiel.« — Die aufser- 
ordentlich schwankende und unsichere Terminologie des Chang 
Tsai macht es oft unmöglich, den Gedankengang zu enträtseln, 
der sich hinter dem scheinbar müfsigen Spiel mit vieldeutigen 
Worten verbirgt. 

Alle bisher genannten Philosophen jedoch, selbst Chou-tsz6 
nicht ausgenommen, werden durch die alles überragende Gestalt 
des Chu Hi (1130—1200)») völlig in den Schatten gestellt; ja, 
man könnte sogar, ohne sich einer Übertreibung schuldig zu machen, 
geradezu die seit der Sung- Epoche bis auf den heutigen Tag stabil 
gebliebene Entwicklungsperiode im geistigen Leben Chinas als 
das Zeitalter des Chu Hi bezeichnen, — so bedingimgslos steht 
das moderne Chinesentum unter dem Einflüsse seines Geistes. 

Chu Hi stammte aus Yu-k'i in der Provinz Fuh-kien 
und schlug, nachdem er bereits mit neunzehn Jahren den höchsten 
gelehrten Grad eines Tsin-shi erlangt hatte, der herrschenden 
Sitte entsprechend die öffentliche Laufbahn ein, in der er es 
schlief slich bis zum Präfekten von Ch*ao-chou in seiner Hei- 
matsprovinz brachte. Vier Jahre vor seinem Tode gelang es 
jedoch den vereinten Bemühungen seiner zahlreichen Feinde, ihn 

') P. Stan. Gall, S. J., Le Philosophe Tchou Hi, sa doctrine» 
son influenae. Vari^t^s sinologiques No. 6. Chang-hai 1894. 

Grube, Geichichte der chioesiscben Litterator. 22 



^ 338 — 

beim Kaiser in Milskredit zu bringen. Seine Lehre, seine poli- 
tischen Überzeugungen, ja sogar sein sittlicher Lebenswandel 
wurden verdächtigt, und zwar mit solchem Erfolge, dafs er in 
Ungnade fiel und seinen Posten niederlegen mufste. Zwar wurde 
er in seinem letzten Lebensjahre einigermafsen rehabilitiert, es 
wurde ihm sogar ein ehrenvolles Amt angetragen, doch war er 
inzwischen zu alt und auch zu kränklich geworden, um von dem 
Anerbieten Gebrauch machen zu können. In stiller Zurtick- 
gezogenheit, umgeben von einem Kreise treuer Schüler, beschlofs 
er den Rest seiner Tage. 

Als Philosoph gehört Chu Hi nicht zu den selbständigen 
Denkern. Ein neues System hat er nicht geschaffen, vielmehr 
bekennt er sich selbst als einen Schüler des Chou-tsz6, obschon 
er dessen Lehre nicht nur erläutert, sondern auch weiterentwickelt 
und in gewissem Sinne umgestaltet hat. Oft wird ihm von 
europäischen Sinologen der Vorwurf gemacht, er habe einem 
krassen Materialismus gehuldigt und diesem endgültig zur Herr- 
schaft verholfen, — wie mir scheint mit Unrecht. Allerdings 
nimmt er die Materie als von Ewigkeit her bestehend an, aber 
nicht die Materie als solche schlechthin, sondern, was doch, sollte 
ich meinen, einen gewaltigen Unterschied ausmacht, als vernunft- 
begabte Materie. Ist aber die Materie etwas von Ewigkeit 
her Bestehendes, so kann auch das Urprinzip nicht als etwas vor 
ihr Existierendes angenonmien werden : C hu H i verfährt demnach 
durchaus folgerichtig, wenn er in dem Urprinzip der Materie 
gegenüber nicht das zeitlich, sondern das logisch Vorher- 
gehende erblickt. Darin liegt der ganze Unterschied, der ihn 
von der Auffassung des Chou-tsz6 trennt. Soweit ich sehe, 
finden seine metaphysischen Anschauungen in folgendem Passus 
über das Verhältnis von Vernunft und Materie ihren prägnantesten 
Ausdruck ^) : 

»Inmitten des Himmels und der Erde gibt es Vernunft, gibt 
es Materie*). Was die Vernunft anlangt, so ist sie hinsichtlich 
der Erscheinungen oberste Norm, die Wurzel, aus welcher die 
Dinge hervorgehen. Was die Materie anlangt, so ist sie hin- 

^) Grube, Zur Naturphilosophie der Chinesen. Li Khi, Ver- 
nunft und Materie. M^langes Asiatiques, tir^s du Bulletin de T Acad^mie 
des Sciences de St P6tersbourg, VIII, p. 667 ff. 

*) K'i, Odem, bedeutet in der philosophischen Terminologie der 



— 339 — 

sichtlich der Erscheinungen unterste Anlage, der Stoff, aus dem 
die Dinge hervorgehen. Sofern mithin Menschen und Dinge bei 
ihrer Entstehimg notwendig Vernunft erhalten, ist Natur, sofern 
sie notwendig Materie erhalten, Gestalt vorhanden. 

Fragt man, ob die Vernunft oder die Materie früher existiert 
habe, so lautet die. Antwort : Die Vernunft ist nie von der Materie ^ 
getrennt gewesen. Immerhin ist die Vernunft hinsichtlich der 
Erscheinungen das Obere, die Materie hinsichtlich der Erschei- 
nungen das Untere. Spricht man von einem Oberen und Unteren, 
wie sollte es wohl kein Früher und Später geben?*) Die Ver- 
nunft ist gestaltlos; die Materie ist roh und bildet die Hefe. Es 
ist zulässig, zu sagen, Vernunft und Materie hätten ursprünglich 
kein Früher und Später; will man jedoch durchaus ihrem Ur- 
sprünge auf den Grund gehen, so wh-d man sagen müssen, dafs 
die Vernunft das Frühere sei. Doch bildet sie auch wiederum 
nicht ein gesondert für sich bestehendes Wesen, vielmehr ist sie 
in der Materie enthalten. Gäbe es keine Materie, so fände auch ' 
die Vernunft keinen Anhaltspunkt. Mit der Materie sind Metall, 
Holz, Wasser und Feuer gegeben. Mit der Vernunft sind Mensch- 
lichkeit, Gerechtigkeit, sittliche Norm und Weisheit gegeben. j 

Fragt man, ob vor dem Dasein des Himmels und der Erde 
zu guter Letzt die Vernunft vorhanden gewesen sei, so lautet die 
Antwort: Vor dem Dasein des Himmels und der Erde ist zu 
guter Letzt allerdings nur die Vernunft vorhanden gewesen. Exi- 
stiert diese Vernunft, so existieren auch Himmel und Erde, gleich- 
wie ohne die Vernunft weder Himmel noch Erde, noch Menschen, 
noch Dinge existieren. Sie alle könnten nicht untergebracht 
werden. Gibt es Vernunft, so gibt es auch Materie, welche alle 
Dinge zur Erscheinung bringt und erhält. Fragt man: Geschieht 
das Zur-Erscheinung-bringen und Erhalten durch die Vernunft?, 
so ist die Antwort: Existiert die Vernunft, so existiert auch die 
Materie, welche die Dinge zur Erscheinung bringt und erhält. 
Die Vernunft ist gestaltlos und körperlos. 

Fragt man : Das Urprinzip ist doch wohl nicht ein vor dem 
Dasein des Himmels und der Erde selbständig existierendes 



Chinesen durchaus im Sinne unserer modernen Philosophie die Materie 
als wirkende Kraft oder Ener^j^e, was schon aus dem Unterschiede 
hervorgeht, den Chu Hi zwischen Materie und Stoff macht. 
*) Aber nur im Sinne des logisch Früheren oder Späteren. 

22* 



— 340 — 

Wesen, sondern ein gemeinsamer Name für das Vemxmftprinzip 
des Himmels und der Erde und aller Dinge? so heilst es: Das 
Urprinzip ist lediglich das Vernunftprinzip des Himmels und der 
Erde und aller Dinge. Spricht man von Himmel und Erde, so 
ist in Himmel und Erde das Urprinzip enthalten; spricht man 
von allen Dingen, so ist in allen Dingen, und zwar in jedem 
einzelnen, das Urprinzip enthalten.« 

Chu His Lieblingsschtiler Ch'en Shun ftlgt der obigen 
Auseinandersetzung folgende Erläuterung hinzu: 

»Durch das Wirken der Dualkräfte besteht ein Entstehen 
durch Erzeugung ohne Unterlals. Sollte das die leere Materie 
allein sein ? Notwendigerweise mufs es ein Etwas geben, das sie 
beherrscht und leitet, und da heilst es : die Vernunft ist es. Die 
Vernunft in ihr ist ihre Achse und ihr Knotenpxmkt; daher er- 
leidet das Erzeugen und Entstehen durch das Wirken der groben 
Umgestaltung keinen Stillstand noch Ruhepunkt. Dasjenige, was 
unter dem Worte , Vernunft^ gemeint ist, kommt nicht von der 
Materie getrennt vor; vielmehr sagt man, indem man einzig an 
der Materie die Vemimft aufweist und hervortreten läfst, dafs 
dieselbe niemals von der Materie getrennt sei.« 

Und weiter: »Dasjenige, wodurch der Himmel von alters her 
sich ewig im Kreise bewegt, wodurch die Erde von altersher ewig 
feststeht, wodurch Menschen xmd Dinge von altersher ohne Unter- 
lals durch Erzeugung entstehen, — das alles ist die Vernunft in 
ihnen, die sie beherrscht und leitet; und zwar verhält sie sich spontan 
in dieser Weise. Was femer den Punkt betrifft, von wo sie Himmel 
imd Erde und alle Dinge beherrscht und leitet, so kann des Ganzen 
und des Äulsersten, sowie des Himmels und der Erde und aller 
Dinge Norm, an demselben angelangt und vereinigt, ihn nicht 
überschreiten. Indem sie sich ausbreitet, sind Himmel und Erde, 
sind Menschen und Dinge da, und alle sind sie, ein jedes einzelne, 
ohne den mindesten Mangel. Daher nennt man sie (sc. die Ver- 
nunft) das Urprinzip.« 

Zur Charakteristik der metaphysischen Anschauungendes Chu 
Hi mag diese Probe genügen, denn seine eigentliche Bedeutung 
liegt auf einem anderen Gebiete als auf dem der Philosophie: 
er war in erster Linie Textkritiker und Exeget. Als solcher hat 
er den gesamten Bestand der klassischen Litteratur des Confucia- 
nismus, die King und Shu einer gründlichen Revision unter- 



— 341 - 

zogen, hauptsächlich um die in ihnen enthaltenen Widersprüche, 
die den Gegnern eine stets willkommene Waffe bieten mufsten, 
dialektisch zu beseitigen. Die confucianische Lehre gegen feind- 
liche Angriffe, an denen es bis dahin nie ganz gefehlt hatte, 
ein für allemal sicher zu stellen, sie gleichsam zu einem un- 
einnehmbaren Bollwerk des Geistes auszugestalten: das war die 
Aufgabe, in deren Lösung er seinen Lebenszweck erblickte. Und 
das in seiner Art grofsartige Unternehmen ward denn auch von 
einem nur allzu grofsen Erfolge gekrönt. Die Erläuterungen, 
die Chu Hi zu den kanonischen und klassischen Büchern ge- 
geben hat, haben eine unbestrittene Autorität erlangt, und der 
Confucianismus , wie er ihn auffalst, ist seither die von Staats 
wegen approbierte Doktrin geblieben. Man könnte, si parva licet 
componere magnis, Chu H i s Stellung im modernen China mit 
derjenigen Hegels im preufsischen Staate vergleichen; während 
jedoch die Herrschaft der He gelschen Schule nur eine vorüber- 
gehende Episode darstellt, befindet sich die Schule Chu His 
heute noch, nach siebenhundert Jahren, im ungeschmälerten Be- 
sitze einer absoluten Macht über die Geister. Der religiöse Taois- 
mus war je länger je mehr zu einem wüsten Aberglauben herab- 
gesunken, dessen demoralisierender Einflufs längst von allen Ur- 
teilsfähigen anerkannt war; der Buddhismus auf der anderen 
Seite hatte durch die stets wachsende Ausbreitung seines Mönch- 
tums, das einen grofsen Teil der Bevölkerung der produktiven 
Arbeit entzog, einen entschieden staatsfeindlichen Charakter an- 
genommen. So gebührte denn schon aus Gründen der rein 
praktischen Staatsraison dem Confucianismus der Vorzug ; er war 
und blieb der Träger des konservativen Prinzips im Staate, er 
war und blieb, wie Schott mit Recht hervorhebt, die verläfs- 
lichste Stütze der Beamtenhierarchie. Es unterliegt in der Tat 
auch keinem Zweifel, dals die Anerkennung und Förderung, die 
der Staat in seinem eigenen Interesse dem Lehrsystem des Chu 
Hi angedeihen liefs, ganz aufserordentlich viel zu dessen Aus- 
breitung beigetragen hat. Aber äulsere Machtmittel allein ge- 
nügen noch nicht, um einer Idee zur Herrschaft über die Gemüter 
zu verhelfen, wenn sie nicht zugleich ihrerseits den geistigen Be- 
dürfnissen der Masse entgegenkommt. Und gerade das war bei 
dem Lehrsystem des Chu Hi der Fall. Was dem Volke fehlte, 
war eine positive Religion, denn weder die altchinesische Reichs- 



— 342 — 

religion, noch auch der Taoismus oder der Buddhismus können 
als solche bezeichnet werden ^ und der religiöse Eklektizismus^ 
als welchen wir die moderne chinesische Volksreligion kennen, 
erst recht nicht. Die Forderung : ddg fxoi nov auo, das allgemein 
menschliche Autoritätsbedtirfnis war unbefriedigt geblieben. Diese 
Lücke galt es auszufüllen , und das hat Chu Hi getan, zwar 
nicht durch eine positive Religion, wohl aber durch eine positive 
Sittenlehre. Die Worte: »Confucius sagte erhalten von nun 
an bindende Kraft. Indem Chu Hi die kanonischen und klassi- 
schen Bücher als den Ausdruck einer widerspruchslosen und un- 
fehlbaren, einheitlichen Lehre hinzustellen suchte, brachte er den 
Confucianismus in seiner heutigen Gestalt zum Abschlufs. 

Wie wir gesehen haben, rührten die kanonischen imd 
klassischen Bücher ursprünglich aus sehr verschiedenen, zeit- 
lich voneinander getrennten Perioden her; Confucius selbst 
aber hatte keine Lehre im eigentlichen Sinne, sondern nur Lehren, 
meist in der Form aphoristischer Aussprüche, hinterlassen: er 
hatte sich im wesentlichen darauf beschränkt, zu überliefern und 
zu sammeln. Aus einer Entfernung von anderthalb Jahrtausenden 
betrachtet, hatte das Bild jedoch eine andere Gestalt gewonnen. Die 
ursprünglich gesonderten Teile erschienen als zu einem einheit- 
lichen Ganzen verbunden, und die alles überragende Gestalt des 
Confucius war in den Mittelpunkt des Bildes getreten. So er- 
schien es vor dem geistigen Auge des Chu Hi, und so gab er 
es seinem Volke wieder. Nicht etwas Neues hat C h u H i damit 
geschaffen, sondern nur einen Umgestaltungsprozels , der sich 
mit geschichtlicher Notwendigkeit im Laufe von Jahrhunderten 
vollzog, zum Abschlufs gebracht: er hat den Bau gekrönt, zu 
dem die Gelehrten im Zeitalter der Han den Grund gelegt 
hatten, und an dem seither unablässig gearbeitet worden war. 
Unter Chu His Vorgängern aber ist Han Yü der gröfste ge- 
wesen. So ist aus dem ursprünglichen Confucianismus der historisch 
gewordene Neuconfucianismus entstanden, — als eine Lehre von 
bindender Autorität. 

Es liegt auf der Hand, dals eine eingehende Kenntnis der 
klassischen Texte in ihrem Gesamtumfange immer nur wenigen 
zugänglich sein konnte. Sollten daher die confucianischen Lehren 
nicht auf die »oberen Zehntausend« beschränkt bleiben, sondern 
zum Gemeingut der grofsen Menge werden, so lag die Notwendig- 



— 343 — 

keit vor, ihren wesentlichen Lehrgehalt in gedrängter Fassung 
und tibersichtlicher Form jedermann zugänglich zu machen. 
Auch das hat Chu Hi getan. In seinen »Häuslichen Riten c, 
Kia-li*), gab er eine knappe Zusammenstellung der Vorschriften 
des Li-ki, soweit sie sich auf rituelle Bräuche beziehen, die bei den 
wichtigsten Vorkonmmissen des häuslichen Lebens zu beobachten 
sind. Der Reihe nach werden darin Mündigkeitsfeier, Ehe- 
schliefsimg, Totenbräuche, Trauervorschriften und das beim häus- 
lichen Kultus zu beobachtende Opferritual behandelt Eine andere 
Kompilation ähnlicher Art ist das Siao-hioh, »die kleine 
Lehre €*), die sich einer noch viel grölseren Popularität erfreut. 
Will man den Inhalt des Buches kurz zusammenfassen, so kann 
man es als einen elementaren Leitfaden des sittlichen Handelns 
und schicklichen Benehmens bezeichnen. Seiner äufseren Anlage 
nach zerfällt es in einen »inneren« oder esoterischen und einen 
»äufseren« oder exoterischen Teil; jener enthält die eigentlichen 
Vorschriften und Maximen, die zum weitaus gröfsten Teile dem 
Li-ki entnommen sind, während dieser vorwiegend aus einer 
Zusammenstellung historischer Beispiele besteht, an denen die 
Lehren illustriert werden sollen. Sowohl in den Schulen Chinas 
wie in denen Japans wird das Siao-hioh bis auf den heutigen 
Tag als Leitfaden und Grundtext des moralischen Unterrichts 
benutzt. Dafs die zahllosen Vorschriften des Li-ki dem chinesi- 
schen Volke, wie das tatsächlich der Fall ist, in Fleisch und 
Blut übergegangen sind, ist hauptsächlich den beiden genannten 
Schriften des Chu Hi zuzuschreiben. Und neben all diesen 
Arbeiten, die allein schon gentigt hätten, ein Menschenleben aus- 
zuftillen, fand der wunderbar vielseitige Mann noch Zeit genug, 
um das grofse Geschichtswerk des Szfe-maKuang einer gründ- 
lichen Umarbeitimg zu unterziehen. Er verktirzte den ursprting- 
lichenText desTsz6-chi t'ung-kien und ftigte jedem Kapitel 
einen kurzen Text bei, der die darin erzählten Begebenheiten 
in knappen Worten zusanmienfalst. Die Frucht dieser Arbeit, 
bei der ihm freilich einige seiner Schüler zur Hand gingen, war 



')de Harlez, Kia-li. Livre des rites domestiques chinois de 
Tchou-hi, traduit pour la premi^re fois. Paris 1889. 

') de Harlez, La Siao-hio ou Morale de la Jeunesse, avec le 
commentaire de Tchen-siuen, traduite du chinois. Annales du Mus^e 
Guimet, t. XV, Paris 1889. 



— 344 — 

das T'ung-kien-kang-muh, d. h. Ȇbersicht des allgemeinen 
Spiegelsc *), in 59 Büchern. Das g^ofsartige Werk ist dann 
unter den beiden nächstfolgenden Dynastien bis auf die mythische 
Vorzeit zurückgeführt und aulserdem über das ursprüngliche 
Ende hinaus bis in die Zeit der Mongolenherrschaft ergänzt 
worden und liegt nun seit dem Jahre 1708 in dieser endgültig 
erweiterten Gestalt vor, in der es auf 91 Bücher angewachsen ist. 

Unter den Vertretern der schönen Litteratur im Zeitalter 
der Sung nehmen Ngou Yang-siu undSuShih die hervor- 
ragendste Stelle ein. Als Geschichtschreiber (er hat im Vereine 
mit Sung KM die sogenannte »Neue Geschichte der T*ang« 
verfafst), Archäolog und Dichter gleich gefeiert, wird Ngou- 
Yang-siu (1007—1072) von vielen dem Han Yü als eben- 
bürtig an die Seite gestellt. Jedenfalls gehörte er zu den be- 
deutendsten Essajristen seiner Zeit. Als Präfekt der Stadt Ch'u- 
chou in der Provinz Ngan-hoei hatte er sich in der Nähe der 
Stadt in malerischer Lage ein Lusthaus errichtet, das seinen 
Liebhngsaufenthalt bildete. Dieses »Lusthaus des alten Zechersc, 
Tsiu-weng-t'ing, wie er sein Tusculum nannte, hat Ngou 
Yang-siu durch eine anmutige Schilderung verewigt, die für 
eine der besten Proben seines Stiles gilt: 

»Ch'u ist von einem Kranz von Bergen umgeben, imter 
denen die Gipfel mit den waldigen Schluchten im Südwesten 
besonders schön sind. Jene aber, die man in der Feme in 
üppigem Laubwuchs grünen sieht, sind die Gipfel des Lang-ye^). 
Nähert man sich dem Berge bis auf etliche Meilen, so vernimmt 
man allmählich das Rauschen des Wassers, das mit munterem 
Geplätscher zwischen seinen beiden Gipfeln hervorquillt: das ist 
die ,Weinquelle^. Umschreitet man den Gipfel auf dem Wege, 
der sich um ihn windet, so gewahrt man ein Lusthaus, das in 
luftiger Höhe über der Quelle thront : das ist das ,Lusthaus des alten 
Zechers^ Erbaut hat es der Mönch Chi-sien, der dort in der 
Bergwildnis lebt; den Namen aber hat ihm kein anderer ge- 
geben als der Präfekt®), der sich dort mit seinen Gästen zu ge- 

*) Moyriac de Mailla, Histoire g^n^rale de la Chine ou An- 
nales de cet Empire, traduites duTong-kien-kang-mou. 12 vol. 
Paris 1777-1783. 

*) Bei I-chou-fu in der Provinz Shan-tung. 

*) Der Mönch ist nur eine poetische Fiktion. 



— 345 — 

meinsamem Trünke einzufinden pflegt. Da wenige Schlucke 
genügen, um ihn berauscht zu machen, und er obendrein hoch- 
bejahrt ist, so hat er sich selbst den Spitznamen ,der alte Zecher* 
beigelegt. Dennoch ist es nicht der Wein, der seine Sinne ge- 
fangen hält, sondern die Lieblichkeit des Landschaftsbildes, und 
diese Freude, die sein Herz aus der Natur schöpft, läfst er im 
Weine wohnen. 

Bald tritt die Sonne hervor, und die Nebel des Waldes 
lichten sich, bald kehren die Wolken zurück und hüllen Berg 
imd Schluchten ein, — so bietet dieses Widerspiel von Licht imd 
Schatten in den Bergen den Wechsel von Tag und Nacht. Wenn 
hier der Wiesen Blumen verborgene Düfte atmen, dort der 
Bäume dichtes Laub des Schattens Kühlung spendet, wenn hier 
ein kühler Wind die Höhen im Reif erglänzen läfst, dort in dem 
seichten Wasser der steinige Grund zu Tage tritt, dann scheinen 
in raschem Wechsel die vier Jahreszeiten einander zu folgen. 
Allabendlich geht er hinaus, und allabendlich kehrt er heim, imd 
da bei dem Wechsel der Jahreszeiten das Bild sich immer ändert, 
ist der Genuls schier unerschöpflich. Lastenträger ziehen singend 
ihres Weges, Wanderer machen unter den Bäumen Rast, Ruf 
und Gegenruf hört man erschallen, ununterbrochen wälzt sich 
der Strom der Ausflügler aus Ch*u hin und her; da sieht man 
alte Leute mit gekrümmtem Rücken, dort kleine Kinder, die 
noch an der Hand geleitet werden. 

Am Bache wird geangelt, und wo das Wasser tiefer ist, 
gibt's fette Fische; die Quelle liefert den Wein dazu, und kräftig 
ist er, der süfsen Quelle Wein ! Was Berg und Feld an Wildpret 
und Gemüse bieten, vereint sich hier zu wohlbestellter Tafel. 
So sieht ein Festmahl aus, wie 's der Präfekt zu geben pflegt. 
Und um des Festes Freude zu erhöhen, bedarf's der Geigen nicht 
und Flöten : kaum hat ein Schütze ins Ziel getroffen, kaum hat ein 
Spieler im Schach gesiegt, — gleich sind Efsstäbchen und Trink- 
hom zu Gange'), imd an dem bewegten Treiben, am lauten 
Stimmengewirr erkennt man der Gäste Fröhlichkeit. Jener 
Alte aber, mit dem weifsen Haar und Barte, der unter ihnen 
umhertaumelt, ist der Präfekt in seiner Trunkenheit. 

Endlich, wenn die Abendsonne sich den Bergen nähert und 



*) Der Sieger läfst den Besiegten den Straftrunk tun. 



— 346 — 

die Schatten der Menschen zu verschwimmen beginnen, tritt der 
Präfekt den Heimweg an, von seiner Gäste Schar begleitet. Im 
dimklen Waldesschatten tönt und zwitschert es bald oben, bald 
imten; die Menschen gehen ihrer Wege, und nun beginnt die 
Freude für die Tiere des Waldes imd die Vögel. Auch sie 
kennen die Freude an Berg und Wald, aber sie kennen nicht 
der Menschen Freude. So wissen auch jene Menschen zwar, den 
Präfekten auf seinen Ausflügen zu begleiten und sich mit ihm 
zu freuen; die Frei^de aber, die er dabei empfindet, die kennen 
sie nicht. Trunken, vermag er sich mit seinen Freunden der 
Freude hinzugeben, — zur Nüchternheit erwacht, weils er, was er 
empfunden, im Gewand der Dichtung zu berichten. — Und fragt 
man nun, wer er denn sei, so ist's kein anderer als Ngou 
Yang-siu aus Lu-Iing.< ' 

Von gleicher Vielseitigkeit wie Ngou Yang-siu, diesem 
aber an Eleganz des sprachlichen Ausdrucks noch überlegen ist Su 
Shih (1036—1101), besser unter seinem Schriftstellemamen Su 
Tung-p*o bekannt. Sowohl sein Vater Su Siün (1009— 1066) 
als auch sein jüngerer Bruder Su Cheh (1039-— 1112) haben 
sich einen Namen in der Litteratur gemacht, ersterer durch seine 
klassische Prosa, letzterer, der sich dem Taoismus zugewandt 
hatte, durch seinen Kommentar zum Tao-teh-king und aulser- 
dem durch ein umfangreiches Geschichtswerk, das mit dem 
mythischen Kaiser Fuh-hi beginnt und mit der Regierung des 
Shi-hoang-ti schliefst ; beider Ruhm erbleicht jedoch vor dem 
des Su Tung-p*o. 

Durch die Wechselfälle seiner politischen Laufbahn kam 
Su Tung-p'o unfreiwilligerweise in die Lage, einen grofsen 
Teil des Reiches aus persönlicher Anschauung kennen zu lernen. 
Ein leidenschaftlicher Gegner des eine Zeitlang allmächtigen 
leitenden Staatsmannes WangNgan-shih (1 02 1-1 086), der 
durch eine Anzahl kühner Reformen den Groll aller konservativ 
Gesinnten gegen sich heraufbeschworen hatte, geriet er mit 
diesem in Konflikt und zog sich dadurch im Jahre 1072 eine 
Strafversetzung nach Hoang-chou in der Provinz Kiang-si 
zu. Zwar wurde er nach vierzehnjähriger Abwesenheit, nachdem 
ein neuer Kaiser den Thron bestiegen hatte imd sein ehemaliger 
Gegner gestorben war, in die Residenz zurückberufen und mit 
Ehren überschüttet, allein die Sonne kaiserlicher Huld schien 



— 347 — 

ihm nicht lange. Bereits im Jahre 1094 fiel er abermals in Un- 
gnade — diesmal angeblich, weil er es in seinen Äufserungen 
über den verstorbenen Kaiser an der schuldigen Ehrerbietung hatte 
fehlen lassen — und wurde daraufhin zuerst in die Provinz K u a ng- 
tung und dann auf die von wilden Barbarenstämmen bewohnte 
Insel Hai-nan verbannt, woselbst er einen unbedeutenden Posten 
bekleidete. Im Jahre 1101 wurde er wieder begnadigt, doch 
starb er in demselben Jahre. 

Su Tung-p*o hat eine grolse Anzahl von Schriften poli- 
tischen, historischen, antiquarischen, sogar auch medizinischen 
Inhalts verfafst, doch liegt der Schwerpunkt seiner Begabung auf 
dem Gebiete des Essay und der poetischen Schilderung, auf dem er 
es zu vollendeter Meisterschaft gebracht hat. Ich beschränke 
mich darauf, seine beiden Prosadichtungen, die den Titel »Die 
Rote Wände tragen, wiederzugeben, da dieselben vielleicht am 
besten seine dichterische Eigenart erkennen lassen. Die »Rote 
Wand« bezeichnet ein steiles Flufsufer in der Nähe von Hoang- 
chou, und SuTung-p*o schildert in den beiden Gedichten zwei 
Ausflüge, die er in Begleitung etlicher Freunde dorthin unternahm* 
An einem Orte gleichen Namens, ebenfalls am Yang-tsz6, aber 
in der Provinz Hu-peh gelegen, hatte im Jahre 208 n. Chr. 
Chou Yti die mächtige Flotte des Ts*ao Ts^ao durch Feuer 
vernichtet. So viel zum Verständnis der in dem ersten der 
beiden Gedichte enthaltenen historischen Reminiscenz. 

I. 

Im Herbste des Jahres Jen-sitih (1081), am sechzehnten 
Tage des siebenten Mondes, unternahm ich mit meinen Gästen 
eine Kahnfahrt. Während wir an der Roten Wand entlang- 
fuhren und ein kühler Windhauch kaum merklich das Wasser 
kräuselte, bewirtete ich meine Freunde mit Wein. Man 
trug die »Lieder auf den leuchtenden Mond« vor und sang den 
Vers von der sittsamen Maid.*) 

Allmählich stieg der Mond über den östlichen Bergen empor 
und trat zögernd zwischen die Sternbilder des Schützen und des 
Steinbocks. Weifser Nebel lagerte über dem -Flusse, und des 
Wassers Schinmier verschmolz mit dem Himmel. Wir überliefsen 



^) Es sind dies Lieder, die Su-Tung-p'o selbst gedichtet hat 



— 348 — 

den Nachen, der einem Schilfrohre gleich dahinglitt, seinem Laufe. 
In die Unendlichkeit schien sich des Wassers Fläche auszudehnen, 
und wie vom Wind dahingetragen durch den Äther, nicht ahnend 
unserer Wanderung Ziel, war es, als würden wir auf Geistes- 
schwingen, in hehrer Einsamkeit der Welt entrückt, empor- 
gehoben zu der Götter Sitzen ! Wir aber gaben uns dem Weine 
und der Freude hin und sangen unser Lied zum Takt der 
Ruderschläge : 

Wir tauchen die Ruder, aus duftendem Holze ganz, 
In lichten Äthers mild flief senden Glanz; 
Und weithin schweift der sehnende Sinn 
Zu den Freunden daheim in die Feme hin. 

Der Gäste einer blies die BambusflOte imd gesellte ihre 
Laute zu des Liedes Melodie. Lieblich wie Vogelgesang klangen 
seine Töne, bald liebend, bald grollend, bald schluchzend, bald 
klagend. Gedehnt, zogen sie sich schmiegsam hin gleich Seiden- 
fäden und lockten die Drachen in den düsteren Schluchten zum 
Tanze, zu Tränen das arme, verlassene Weib in dem einsamen 
Nachen. Ich ward von Wehmut übermannt und fragte, indem 
ich mein Gewand ordnete, den Freund nach seiner Weise Sinn. 
Er aber sprach: 

»Der Mond ist hell, der Sterne Glanz erblichen, 
Und südwärts ist der Krähen Schar entwichen. — 

War das nicht das Lied des Ts'ao Ts^ao? — Zwischen 
Hia-k*ou im Westen und Wu-ch*ang im Osten, wo in dem 
Durcheinander von Bergen und Strömen das Grün so üppig prangt, 
war es nicht dort, dafs Ts'ao Ts'ao von Chou Yü so hart 
bedrängt ward? Kaum hatte er King-chou zerstört, da zog 
er stromabwärts gen Osten. Schier endlos war der Zug seiner 
Schiffe, deren Fahnen und Wimpel den Himmel zu verhüllen 
schienen! Durch Trankopfer gebot er dem Strome, und mit 
geschwimgenem Speere sang er seine Lieder, — wohl war er 
der Held seiner Zeit. Und jetzt, — wo ist er? ... . Und nun 
gar ich und ihr, die wir an des Flusses Inseln angeln und Reisig 
sammeln, — was sind wir anders als Gesellen der Fische und 
Krebse, Genossen der Elche und Hirsche? — Da sitzen wir in 
imserem flachen Kahne, der einem Blatte gleich dahintreibt, und 
reichen die Kürbisflasche von Hand zu Hand, — Eintagsfliegen, 
die vorübergehend zwischen Himmel und Erde weilen, ein Reis- 



— 349 — 

kom inmitten des unermelslichen Meeres! — Wehe über die 
kurze Frist unseres Daseins! O war' es doch dem langen Strome 
gleich an UnerschOpflichkeit! O dals ich mit beschwingten 
Genien durch die Lüfte ziehen, den Mond in seinem Laufe 
henmien könnte, um des Lebens Dauer zu verlängern! — Dal& 
solches nicht im Augenblick erreichbar, weife ich nur zu wohl 
und übergab daher, was mir an Tönen übrigblieb, dem mitleids- 
vollen Winde. € 

Ich aber sprach: >0 Freunde, kennet ihr denn nicht das 
Wasser und den Mond? Unablässig strömend, schwindet jenes, 
doch niemals hin; bald ab-, bald zunehmend, wird dieser doch 
kleiner nicht noch gröfser. Will man sie nach ihrer Wandel- 
barkeit betrachten, so vermögen Himmel und Erde nicht einen 
Augenblick zu dauern', nach ihrer Unwandelbarkeit betrachtet, 
sind aber die Aulsendinge wie auch wir selbst insgesamt un- 
vergänglich. Was bliebe ims noch zu wünschen übrig ? — Und 
femer : Innerhalb Himmel und Erde hat jedes Ding seinen Herrn. 
Was nicht mein ist, und wär's auch nur ein Haar, kann ich mir 
nicht zu eigen machen. Aber der kühle Wind, der über den 
Strom dahinfährt, der helle Mond, der zwischen den Bergen 
hindurchblickt, — das Ohr empfängt ihn, und er wird zum Tone, 
das Auge begegnet ihm, imd er wird zum Bilde. Was wir 
uns so zu eigen machen, bleibt unverwehrt, und was wir so- 
geniefsen, ist unerschöpflich. Das ist der nie versiegende Schatz 
des, der die Dinge geschaffen, dasjenige, des ich sowohl als 
ihr gemeinsam uns erfreuen, c 

Erfreut lächelten die Freunde und füllten abermals die rein- 
gespülten Becher. Als Fleisch imd Obst verzehrt waren und 
Becher und Schalen wirr umherlagen, legten wir ims, einer an 
den anderen gelehnt, im Nachen nieder und wurden nicht gewahr,^ 
wie der Osten graute. 

II. 

In demselben Jahre, am Vollmondstage des zehnten Monats,, 
wollte ich mich von der »Halle des Schnees« *) zu Fufs nach 
Li n-kao begeben. Zwei Freunde begleiteten mich. Als wir die 
Anhöhe Hoang-ni überschritten, hatte sich Reif hemieder- 
gesenkt, die Bäume waren ihres Blätterschmucks entblöfst, und 



') Diesen Namen hatte der Dichter seinem Hause gegeben. 



— 350 — 

während sich unsere Schatten auf dem Erdboden ausbreiteten, 
schien droben hell der Mond. Wir freuten uns des Anblicks 
und stimmten im Gehen einen Wechselgesang an. Endlich rief 
ich seufzend aus: »Nun hätte ich zwar Gäste, doch Wein und 
Atzung fehlen ! Hell scheint der Mond , rein ist die Luft , und 
doch: was nützt uns die wonnige Nacht Ic Da sprach der eine 
von den Freimden : >Um Sonnenuntergang setzte ich Netze aus 
und fing einen Fisch mit grofsem Maul und feinen Schuppen^ 
•den Dorschen des Sung-kiang ähnlich. Sehen wir zu, ob 
wir nicht irgendwo Wein bekommen!« Mit diesen Worten ging 
-er zurück, um sich mit seiner Gattin zu beraten. »Ich habe 
«inen Krug Wein,« sprach diese, »den hielt ich schon lange ver- 
wahrt und wartete immer, ob mein Herr nicht zufälUg einmal 
danach verlangen würde.« So nahm er denn Wein und Fisch, 
und abermals fuhren wir zur Roten Wand. 

Tausend Fufs hoch ragte das steile Ufer empor, die Berge 
waren hoch, und klein erschien der Mond. Das Wasser war 
gesunken, und der steinige Boden kam zum Vorschein. Nur 
wenige Monde waren verstrichen, und dennoch waren Berg und 
Strom nicht wiederzuerkennen! 

Ich schürzte mein Gewand auf und stieg aus. Den steilen 
Felsenpfad hinanklimmend, brach ich mir Bahn durch das dichte 
Gestrüpp, hockte auf dem tigerförmigen Felsblock nieder, schwang 
mich auf dem drachenähnlichen Geäst bis zu einer Höhe empor, 
wo Falken nisten, und blickte von dort hinab in des Stromgottes 
dunklen Palast. Da meine beiden Gefährten mir nicht hatten 
folgen können, liels ich einen schrillen Pfiff ertönen. Da ging 
«in Rauschen durch Bäume und Gräser, das Echo hallte von 
Bergen und Schluchten wider, ein Wind erhob sich, und das 
Wasser schwoll. Da ward mir beklommen imis Herz imd bang, 
von Grausen gepackt, hielt mich 's nicht länger an jenem Ort, — 
ich eilte zum Nachen zurück. Wir liefsen den Nachen vom 
Strome treiben, gleichviel, wo er halten mochte. Mittemacht 
war's und tiefes Schweigen ringsumher. Da plötzlich kam ein 
einsamer Kranich von Osten her quer über den Strom geflogen. 
Wie Wagenräder waren seine Fittiche, weifs war sein Kopf und 
•dunkelfarben sein Leib. Mit lautem Ruf strich er über unseren 
Kahn dahin und flog gen Westen. Bald darauf gingen meine 
Gäste ihrer Wege, imd auch ich begab mich zur Ruhe. Im Traume 



— 351 - 

aber erschien mir ein Taopriester im Federgewande. Tänzelnden 
Schrittes ging er an meinem Hause vorbei, verneigte sich vor 
mir mid sagte: »Nun, war der Ausflug nach der Roten Wand 
genufsreich?« — Ich fragte ihn nach seinem Namen, er aber 
stand gesenkten Hauptes da und gab mir keine Antwort. — 
»Holla!« rief ich, »jetzt weils ich 's wohl? Der gestern abend 
singend über uns dahinflog, jener Vogel — wart Ihr's nicht, 
Herr?« — Der Taopriester wandte sich um und lachte . . . Er- 
schrocken wachte ich auf, öffnete die Tür und schaute nach ihm 
aus, — doch sah ich nicht, wo seines Bleibens war. 

II. Die neuere Zeit: Erstarrung des geistigen Lebens. 

In den chinesischen Bibliothekskatalogen und bibliographischen 
Sammelwerken pflegt der Gesamtbestand der Litteratur oder 
wenigstens dessen, was der Chinese unter Litteratur versteht, 
in folgende vier Kategorien oder Klassen eingeteilt zu sein: 

I. King, kanonische Bücher, eine Klasse, die jedoch nicht 
nur die kanonischen und klassischen Bücher, sondern auch die 
ganze auf sie bezügliche exegetisch - kritische Litteratur sowie 
auch die Lexikographie umfalst. 

IL Shi, die historische Klasse, zu der sämtliche Werke 
geschichtlichen und geographischen Inhalts gerechnet werden, 

III. Tsz6,,die philosophische Klasse, in der jedoch aufser 
Schriften philosophischen Inhalts, soweit diese sich nicht speziell 
auf die kanonischen und klassischen Bücher beziehen, alles mit 
einbegriffen ist, was wir etwa als »wissenschaftliche Litteratur« 
bezeichnen würden, also Rechts- und Kriegswissenschaft, Natur- 
kunde und Medizin, Mathematik und Astronomie, Landwirtschaft, 
Wahrsagekunst, die belletristische Essaylitteratur und Werke 
enzyklopädischen Inhalts. Auch ist die gesamte taoistische und 
buddhistische Litteratur in dieser Klasse untergebracht. 

IV. Tsih, »Sammlungen«, worunter die poetische Litteratur, 
aber freilich nur im engsten Sinne, zu verstehen ist, denn nur 
was in metrischer Form abgefafst ist, gehört hierher, also eigent- 
lich nur die elegische und lyrische Dichtung. 

Drama und Roman finden sich hier, wie* man sieht, mit 
keiner Silbe erwähnt, — nicht etwa, weil sie besondere Gattungen 
bilden , die sich in jenen Klassen nicht unterbringen lief sen, 



— 352 - 

sondern weil sie nach chinesischer Auffassung überhaupt nicht 
zur höheren Litteratur, um die allein es sich hier handelt, gehören. 

Diese auffällige Unterscheidung zwischen höherer und niederer 
Litteratur und die mit ihr verbundene einseitige Überschätzung 
der ersteren enthält einen aulserordentlich wichtigen Hinweis 
für eine richtige Beurteilung des Chinesentums und seiner 
geistigen Beschaffenheit, da sie ihre Entstehung nicht etwa irgend 
einer zufälligen Marotte verdankt, sondern in dem eigenartigen 
Entwicklungsgange der chinesischen Kultur gescTiichtlich be- 
gründet ist. 

Der Leser wird sich erinnern, wie im Zeitalter der Han 
das gesamte geistige Interesse auf die Auffindung und Wieder- 
herstellung der klassischen Texte gerichtet war. Wie ein Phönix 
ging damals das klassische Altertum aus der Asche des furcht- 
baren Bücherbrandes hervor, und die Flammen, die es hatten 
vernichten sollen, umgaben es nun mit der Aureole des Martyriums. 
Kein Wunder, wenn die altehrwürdigen Litteraturdenkmäler von 
nun an als eine Art nationalen Heiligtums und als leuchtende 
Vorbilder für ewige Zeiten betrachtet wurden. Damit war aber 
auch der Ton angegeben, auf den die führenden Geister Chinas 
seither gestimmt geblieben sind, imd darin lag der unheilvoll 
hemmende Einflufs, den das sonst so glänzende Zeitalter der 
Han für alle Folgezeit auf die geistige Entwicklung Chinas 
ausgeübt hat. Nicht nur der Geist des klassischen Altertums, 
sondern auch seine Sprache sollte erhalten bleiben, — sie war imd 
blieb die Sprache der Litteratur. Die unausbleibliche Folge der 
einmal eingeschlagenen Richtung war, dafs im Laufe der Zeit 
die Entfremdung zwischen Schrift- und Umgangssprache derart 
wuchs, dafs die Litteratur dadurch allmählich zum ausschlielslichen 
Besitz einer gelehrten Minderheit wurde. Der grofsen Masse 
vermochte sie nichts mehr zu bieten, weil sie ihr unverständlich 
geworden war. So nimmt die Schriftsprache in China eine 
Stellung ein wie früher das Latein bei uns zu Lande. Und auch 
die unvermeidlichen Begleiterscheinungen sind hüben und drüben 
ähnlicher Art. Je mehr die Schriftsprache den Charakter einer 
toten Sprache annahm , um so mehr waren diejenigen , die sich 
ihrer bedienen wollten, genötigt, ein besonderes Studium auf sie 
zu verwenden : — so wurde sie zur Kunstsprache, und, einmal in 
die starre, imveränderliche Form hineingezwängt, mufste der 



— 353 — 

Geist elend verkümmern. Bei ihrem Wiederatifleben im Zeitalter der 
Han trug die chinesische Litteratm* bereits den Todeskeim in sich. 

Wie die Dichtmig im Zeitalter der T'ang, so findet die 
schöne Prosalitteratur in dem der Sung den Abschluls ihrer 
Entwicklmig. Freilich hat es auch nach der Sung-Periode noch 
eine beträchtliche Anzahl talentvoller Prosaschriftsteller gegeben, 
wie auch die Dichtktmst noch heute gepflegt wird , tmd manche 
unter den späteren Essayisten, wie Liu Ki (1311 — 1375), Sung 
Lien (1310-1381), Wang Shou-jen (1472—1528) und Wang 
Shi-cheng (1526—1598), stehen sogar in ziemlich hohem An- 
sehen, aber keiner von ihnen vermochte seine grofsen Vorgänger 
auf diesem Gebiete zu erreichen, geschweige denn über sie hinaus- 
zugehen. Die schöpferische Kraft ist seit dem 13. Jahrhundert 
als erloschen anzusehen, tmd was im Laufe der letzten sieben- 
hundert Jahre auf dem Gebiete der Dichtung und des belletristischen 
Essays geleistet worden ist, bewegt sich durchweg in den alt- 
gewohnten Bahnen. 

Dals aber nicht die litterarische Schaffenskraft allein, sondern 
mit ihr zugleich auch das gesamte geistige und sittliche Leben 
zum Stillstande gekommen ist, muls hauptsächlich auf den Ein- 
fluls des Chu Hi zurückgeführt werden. Die Schematisierung 
und Dogmatisierung der confucianischen Lehren, wie er sie zu- 
wege gebracht, konnte nicht anders als hemmend wirken, der 
metaph3rsische Trieb, der bei den Chinesen ohnehin nie sonderlich 
stark entwickelt war, mulste, nachdem seine täglichen Bedürfnisse 
in so bequemer Weise befriedigt worden, vollends einschlafen, 
tmd was das sittliche Handeln anlangt, so ward es so zahllosen 
minutiösen Vorschriften und Einschränkungen unterworfen, die 
für jedes, auch noch so geringfügige Vorkonmmis des täglichen 
Lebens vorgesehen waren, dafe von einer freien Entfaltung der 
sittlichen Kräfte kaum mehr die Rede sein konnte. Die Per- 
sönlichkeit verschwindet hinter der Schablone, und die lebendige 
Moral wird durch einen toten Formalismus verdrängt. Daher 
die durchgängige innere Unwahrhaftigkeit, an der das ganze 
moderne Chinesentum krankt. 

Seine Apotheose erlebte der Confucianismus im Sinne des 
Chu Hi, als er schliefslich in feierlichster Form aus kaiserlichem 
Munde verkündet wurde. Im Jahre 1671 erlief s nämlich der 
Kaiser K'ang-hi eine Art sittliche Ermahnung an das Volk, 

Grabe, Geschichte der chinetitchen Litteratur. 23 



— 354 — 

die unter dem Namen Sheng-yü, »das heilige Edikt«, bekannt 
ist^) und in ihrer ursprünglichen Gestalt folgende sechzehn 
Maximen enthielt, deren jede im Originaltext aus sieben Worten 
besteht: 

I. Befleilsigt euch der Kindesliebe und Bruderliebe, um die 
sittlichen Beziehungen*) unter den Menschen zu kräftigen. 

IL Festiget die Familienbande, um die Eintracht leuchten 
zu lassen. 

III. Lebet in Eintracht mit euren Geschlechtsgenossen, damit 
die Rechtshändel ein Ende finden. 

IV. Haltet den Ackerbau und die Pflege der Maulbeer- 
bäume in Ehren, auf dafs ihr mit Nahrung und Kleidung ver- 
sorgt seiet. 

V. Achtet auf Ordnung und Sparsamkeit, auf dafs ihr euer 
Hab und Gut schonet. 

VI. Hebet den Unterricht, um die gelehrten Studien zu 
regeln. 

VII. Verwerfet die Irrlehren, um die rechte Lehre in Ehren 
zu halten. 

VIII. Erläutert die Gesetze, damit die Einfältigen und Un- 
wissenden auf ihrer Hut seien. 

IX. Setzet Schicklichkeit imd Höflichkeit ins rechte Licht, 
um die Sitten zu veredeln. 

X. Machet den Beruf zur Hauptsache, damit des Volkes 
Gesinnung gefestigt werde. 

XL Belehret eure Söhne und jüngeren Brüder, um ver- 
kehrtem Tun vorzubeugen. 

XII. Unterdrückt falsche Anklagen, um die Guten und 
Braven zu schützen. 

XIII. Warnet diejenigen, die Flüchtlinge verborgen halten, 
damit sie nicht zu Mitschuldigen^ werden. 

XIV. Zahlet eure Abgaben, damit ihr vermeidet, dafs sie 
zwangsweise eingetrieben werden. 



') Piry, Le Saint £dit, l^tude de litt^rature chinoise. Shanghai 
1879. ^ 

') Gemeint sind die sog. wu-lun, »die ftlnf Beziehungen«, die Be- 
ziehungen nämlich zwischen Fürst und Untertanen, Vater und Sohn, 
älteren und jüngeren Brüdern, Ehegatten und Freunden. 



— 355 — 

XV. Vereiniget euch zu Schutzgenossenschaften *), tun Raub 
und Diebstahl zu unterdrücken. 

XVI. Lasset ab von Feindschaft und Hafs und achtet euer 
Leben. 

Zu diesen sechzehn Ermahnungen wurde auf Befehl des 
Kaisers Yung Cheng, des Sohnes und Nachfolgers K*ang- 
his, ein weitläufiger Kommentar verfalst, der den Titel: Sheng- 
yti kuang-hiün, »Ausführliche Erläuterungen zum heiligen 
Edikte, trägt imd im Jahre 1724 unter des Kaisers Namen ver- 
öffentlicht wurde. Interessant sind in diesem Kommentare die 
Ausführungen über das siebente Gebot, weil sich in ihnen die 
Wandlung, die der G)nfucianismus durchgemacht hat, mit be- 
sonderer Deutlichkeit erkennen lälst. Es handelt sich darin um 
die Stellungnahme zu anderen Lehren, darunter auch zum 
Christentum : 

»Von alters her sind drei Lehren im Umlauf: aufser der 
Schule der Litteraten*) gibt es nämlich noch Taoisten und Bud- 
dhisten. Chu-tsz6^) sagt: ,Die Lehre Buddhas kümmert sich 
weder um Himmel und Erde, noch um die vier Himmelsgegenden, 
sondern zieht einzig und allein das Herz in Betracht, während 
die des Lao-tsz6 ausschlielslich die Erhaltung der Lebenskraft 
anstrebt.^ Aus diesen gerecht abwägenden Worten des Chu- 
tszö lälst sich die ursprüngliche Tendenz des Taoismus und des 
Buddhismus erkennen. Seitdem haben sich Landstreicher und 
obdachloses Gesindel unter der Hand dieser Namen bemächtigt 
und dadurch die Lehren selbst in Verfall gebracht. Im all- 
gemeinen machen sie sich glückliche und unheilvolle Ereignisse 
zu nutze, um ihr betrügerisches und haltloses Geschwätz an den 
Mann zu bringen. Zuerst suchten sie durch Betrug in den Besitz 
von Geld und Gut zu gelangen und sich damit zu mästen, all- 
mählich aber haben sie es dahin gebracht, dafs Männer und 
Frauen ohne Trennung der Geschlechter Zusammenkünfte ver- 
anstalten, um Weihrauch darzubringen. Ackerbauer und Hand- 
werker vernachlässigen ihr Gewerbe und suchen mit Vorliebe 
die Gesellschaft von Leuten auf, die von übernatürlichen Dingen 



*) Von alters her bestehen in China Verbände von je zehn 
Familien zu gegenseitigem Schutze. 
') D. h. dem Confucianismus. 
'') Chu Hi. 

23' 



— 356 - 

■ 

reden. Noch schlimmer ist jedoch, dals sich Verräter und Misse- 
täter hineinstehlen, die Vereine und Eidgenossenschaften gründen. 
Nachts kommen sie zusanunen und gehen bei Tagesanbruch aus- 
einander; sie verletzen die sittliche Ordnimg und handeln wider 
das Recht; sie betören die Mitwelt und hintergehen das Volk, 
bis ihr Treiben eines schönen Tages ans Licht konunt. Dann 
werden sie verfolgt imd samt ihren Mitschuldigen festgenommen ; 
sie selbst werden ins Gefängnis geworfen uud ihre Frauen und 
Kinder mit ins Verderben gezogen; die Oberhäupter der Sekten 
aber werden bestraft wie die sdiwersten Verbrecher. Was eine 
Ursache des Glückes sein sollte, ward so eine Quelle des Unheils. 
Sekten wie diePoh-lien undWen-hiang sind warnende Bei- 
spiele dieser Art. 

Was die Sekte des Westens betrifft, die den Himmelsherm 
verehrt, so gehört auch sie zu den nicht-kanonischen, und nur 
weil ihre Vertreter des Kalenderwesens kundig sind *) , ninmit 
die Regierung ihre Dienste in Anspruch. Es ist nötig, dafs ihr 
das wisset! 

Jene Irrlehren, die die Menge betören, finden vor dem Ge- 
setze keine Nachsicht. Für Irrlehrer und Zauberer hat der 
Staat ein für allemal bestimmte Strafen. Indem die kaiserliche 
Regierung Gesetze erliefs, wollte sie das Volk vom Unrecht ab- 
halten und zu dem Guten hinlenken ; indem sie das Falsche ver- 
warf und das Recht erhöhte, wollte sie die Gefahr abwenden 
und den Frieden herbeiführen. Ihr aber, Heer und Volk, die 
ihr in einer Zeit der allgemeinen Ruhe von euren Eltern in die 
Welt gesetzt seid', die ihr besitzet, dessen ihr an Kleidung und 
Nahrung bedürft, die ihr nach oben wie nach unten hin 
keinerlei Sorgen habt, — wenn ihr euer natürliches Wesen ver- 
dunkeln und euch falschen Geboten zuwenden, wenn ihr den 



*) Da die katholischen Missionare »Gott« durch T*ien-chu, 
»Himmelsherr«, wiedergeben, wird die katholische Lehre durch T* ien- 
chu-kiao, »die Lehre vom Himmelsherrn«, bezeichnet. Die Jesuiten- 
missionare hatten zu Beginn der gegenwärtig herrschenden Dynastie 
die Leitung der astronomischen Behörde in Peking. Sie waren es, 
die zuerst europäische Wissenschaft in China einführten und zugleich 
die wissenschaftliche Erforschung Chinas nach allen Richtungen hin 
begründeten. Bis auf den heutigen Tag ist die Jesuitenmission in 
Zi-ka-wei bei Shanghai ihrer stolzen Tradition treu geblieben. 



— 357 — 

Anordnungen eures Fürsten zuwiderhandeln und die Staatsgesetze 
verletzen wolltet: wäre das nicht ein Übermafs an Torheit?« 

Und am Schlüsse heilst es: 

»Vertilget die Irrlehren, just als wenn ihr es mit Dieben oder 
Räubern, mit Wasser oder Feuer zu tun hättet. Denn Diebe 
und Räuber, Wasser und Feuer schädigen nur den Leib, wo- 
hingegen der Schaden, den die Irrlehren anstiften, die Herzen 
der Menschen trifft. Seinem ursprünglichen Wesen nach ist das 
menschliche Herz rechtschaffen und ohne Fehl; wenn es nur 
recht geleitet ist, wird es von selbst unbetört bleiben. Wenn 
ihr in eurem Wandel die rechten Grundsätze befolgt, wird das 
Verkehrte nicht über das Rechte triumphieren können.« 

Es ist ein völlig neuer Ton, den wir in dieser eindringlichen 
Ermahnung vernehmen : der Ton der Unduldsamkeit So konnte 
nur vom Standpunkte einer Lehre geredet werden, die als ein 
unfehlbares Dogma angesehen wurde. Allerdings wird schon 
im Lun-yü dem Confucius der Ausspruch: »Abweichenden 
Lehren nachzugehen ist verderblich« in den Mimd gelegt , aber 
es ist schwer zu sagen, was er imter solchen verstanden haben 
mag. Da zu seiner Zeit weder von Taoismus noch von Buddhis- 
mus die Rede war, kann er höchstens Abweichungen von den 
geheiligten Bräuchen und Überlieferungen des Altertums im 
Sinne gehabt haben. Unduldsamkeit hat dem ursprünglichen 
Confucianismus völlig femgelegen. Das schlimmste ist jedoch, 
dafs es der modem-confucianischen Orthodoxie nachgerade tat- 
sächlich gelimgen ist, die Geister unter ihre Herrschaft zu bringen. 
Am ersten und fünfzehnten Tage jedes Monats wird in allen 
Städten des Reiches ein Kapitel aus dem Heiligen Edikte in der 
erweiterten Fassimg des KaisersYung-cheng vor versanuneltem 
Volke öffentlich verlesen. Es hat dadurch gewissermafsen die 
Bedeutung eines religiösen Kanons erlangt, und jene feierlichen 
Versammlungen tragen im heutigen China durchaus den Charakter 
religiöser Andachten. Da das Heilige Edikt in der klassischen 
Schriftsprache abgefafst ist und dadurch nur von den Gebildeten 
verstanden werden kann, hat man überdies beizeiten dafür 
gesorgt, es durch eine Bearbeitung im Stile der Umgangssprache 
auch der grolsen Masse zugänglich zu machen. 

Es ist begreiflich, dafs in einer Zeit so allgemeiner Stagnation, 
wie sie nunmehr seit sieben Jahrhunderten in China herrscht, im 



- 358 — 

besten Falle nur eine Gattung geistiger Tätigkeit gedeihen konnte: 
die gelehrte Sammelarbeit. Und was die Chinesen an solcher 
geleistet haben , steht denn auch einzig und ohnegleichen da in 
der Geschichte der Menschheit. Um mit den zahlreichen Enzy- 
klopädien zu beginnen, so ist das von Ma Tuan-lin (13. Jahr- 
hundert) verfafste Wen-hien t'ung-k'ao, »Eingehende Er- 
forschung der Urkunden«, in 348 Büchern in Europa eines der 
bestbekannten Werke dieser Art. In 24 Sektionen werden 
darin die Einteilung der Ländereien, Münzwesen, Bevölkerungs- 
statistik, Verwaltung, Zölle, Handel, Grundsteuern, Staatshaus- 
halt, gelehrte Prüfungen, öffentlicher Unterricht, Staatsämter, 
Opferwesen, Ahnenkult, Hofritual, Musik, Kriegswesen, Straf- 
verfahren, Litteratur, Kaisergenealogie, Lehenswesen, Sternkunde, 
aufsergewöhnliche Naturereignisse, Erdbeschreibung und die Ethno- 
graphie der Barbarenvölker behandelt. Das Wen-hien t*ung- 
k'ao ist jedoch weder das erste noch das umfangreichste Werk 
der Art. Schon im Jahre 983 war eine Enzyklopädie, das T^ai- 
p*ingyti-lan, in tausend Büchern erschienen, für die, wie aus 
der Einleitung ersichtlich, 1690 Werke das Material gehefert 
hatten, und ähnlichen Charakters, aber noch umfangreicher ist 
das Yüan-kien lei-han, das im Jahre 1710 vollendet wurde. 
Aber selbst diese Riesenwerke verschwinden gegenüber den 
gigantischen Unternehmungen, die unter den beiden letzten Dyna- 
stien entstanden sind. Der Ming- Kaiser Yung-loh (1403 bis 
1424) war es, der zuerst den grolsartigen Gedanken fafste, alles, 
was bisher auf sämtlichen Gebieten der Litteratur, Philosophie, 
CJeschichte, Wissenschaft und Kunst geleistet worden war, in 
übersichtlichen Auszügen in einem grolsen Sanunelwerke zu ver- 
einigen. Unter der Oberleitung von drei Präsidenten, fünf 
Direktoren und zwanzig Unterdirektoren waren 2160 Mitarbeiter 
an dem Unternehmen beteiligt, das bereits nach Ablauf von drei 
Jahren zum Abschlt^fs gebracht worden war. Die I>rucklegimg 
dieses 22 937 Bücher umfassenden »Thesaurus des Kaisers Yung- 
loh«, Yung-loh ta-tien, erwies sich jedoch als so kostspielig, 
dafs sie unterbleiben mulste, und von den drei Abschriften sind 
zwei durch Feuer vernichtet, während die dritte, in Peking be- 
findliche, leider unvollständig ist. Freilich ist es jetzt mehr als 
fraglich, ob selbst dieses einzige Exemplar noch erhalten ge- 
blieben ist, da sich während der jüngsten Wirren die Vertreter 



) 



— 359 — 

der christlichen Kultur eifrigst bemüht haben sollen, an littera- 
rischen Schätzen zu irett^nc, was noch irgend zu »retten« war. 
Dem Yung-loh ta-tien folgte bereits im Jahre 1725 die »auf 
kaiserlichen Befehl veranstaltete vollständige Sammlung von 
Tafeln und Schriften alter und neuer Zeit«, K'in-ting ku-kin 
t*u-shu tsih-ch*eng, das grölste Sammelwerk der Welt, in 
welchem fast die ganze einheimische Litteratur Berücksichtigung 
gefunden hat '). Fast noch bezeichnender aber als die Veröffent- 
lichung eines solchen Werkes ist die Tatsache, dals es vor wenigen 
Jahren eine neue Auflage erlebt hat, so dafs nunmehr jeder ver- 
mögende Bücherfreund die Möglichkeit hat, die 1628 tadellos 
ausgestatteten Bände für den aufserordentlich geringen Preis von 
ungefähr tausend Mark in seinen Besitz zu bringen. Ähnliche 
Kompilationen gibt es auch für das gesamte Gebiet der Staats- 
institutionen , wie z. B. das K*in-ting ta-Ts'ing hoei-tien 
shi-lih, >die auf kaiserlichen Befehl veröffentlichten gesammelten 
Statuten imd Verordnungen der grofsen Ts'ing-D3mastie')« in 
920 Büchern. 

Ein Gebiet, auf dem sich die Chinesen gleichfalls und schon 
frühzeitig rühmlichst hervorgetan haben, ist die Lexikographie. 
Bereits im 2. Jahrhundert n. Chr. erschien das von Hiü Shen 
verfafste Shuoh-wen als das erste Werk dieser Art, in welchem 
gegen zehntausend Schriftzeichen nach ihrer Zusammensetzimg 
und Bedeutung erklärt werden. Die Zahl der seitdem erschienenen 
Wörterbücher ist Legion, doch ist das verbreitetste unter ihnen 
wohl unstreitig der unter kaiserlicher Ägide zusammengestellte 
»Thesaurus des Kaisers K*ang-hi«, K'ang-hi tszfe-tien, 
welcher im ganzen 44 449 Schriftzeichen enthält, von denen frei- 
lich fast die Hälfte teils veraltet, teils aufser Gebrauch ist. 
Eine nach Reimen geordnete Konkordanz fast der gesamten 
Litteratur, das Peiwenyün fu, wurde ebenfalls unter der spe- 
ziellen Oberaufsicht des Kaisers K*ang-hi zusammengestellt; sie 



') Wylie, Notes on Chinese Literature, Shanghai 1867, pp. XI, 
55 ff. 

*) Die T* sing- Dynastie ist die seit 1644 herrschende Mandschu- 
Dynastie. Es sei bei dieser Gelegenheit erwähnt, dafs auch eine voll- 
ständige Mandschu-Übersetzung dieses Sammelwerkes existiert, was 
meines Wissens bisher nicht bekannt gewesen ist 



— 360 — 

erschien im Jahre 1711 und füllt mit Einschluls der Nachträge 
zweihundert fingerstarke Hefte. 

Bedenkt man, dals in diesem flüchtigen Überblick nur ein 
kleiner Bruchteil dessen Erwähnung finden konnte, was chinesi- 
scher Bienenfleifs an kompilatorischer Arbeit geleistet hat, so 
wird man sich einen ungefähren Begriff von dem kolossalen Um- 
fang und Reichtum dieser Litteratur machen können. Ich ent- 
sinne mich nicht, jemals in meinem Leben so sehr das Gefühl 
von überwältigender Gröfse empfunden zu haben, wie beim ersten 
Anblick der chinesischen Mauer: soweit das Auge reicht, kahle, 
scharfgezackte Gebirgsketten, dicht aneinandergeschichtet, einem 
vom Sturme gepeitschten Meere gleich, das plötzlich zu Stein 
und Fels erstarrt ist, und mitten durch dieses Landschaftsbild 
voll herber Gröfse und Schönheit windet sich wie eine Riesen- 
schlange, von Gipfel zu Gipfel klimmend, das grandioseste aller 
Bauwerke, bis es zuletzt in blauer Feme den Blicken entschwindet, 
— und dennoch: verdient nicht der gelehrte Sammelfleifs, der 
jene Riesenspeicher geistigen Biesitzes schuf, zum mindesten die- 
selbe Bewunderung? 



ZEHNTES KAPITEL. 

Dramatische und erzählende Litteratur 



Je mehr sich die lebende Umgangssprache von der klassischen 
Schriftsprache entfernte, die in der Litteratur die Alleinherrschaft 
beanspruchte, je mehr diese den Charakter einer toten Sprache 
annahm, um so unvermeidlicher war die wachsende Entfremdung, 
die zwischen der grofsen Menge einerseits und denen, die zu ihren 
geistigen Führern berufen waren, anderseits, den Schriftsteilem 
und Dichtem, allmählich Platz griff. Schon seit länger als einem 
Jahrtausend war die Litteratur innerhalb der engen Grenzen, die 
ihr ein falscher Bildungsfanatismus gezogen hatte, nicht mehr 
ein Gemeingut der Nation, sondern nvir noch eine Gelehrten- 
litteratur gewesen, bis endlich im Zeitalter der Mongolenherr- 
schaft (1206 — 1368) die Schranken durchbrochen wurden. Was 
im hergebrachten Stile der klassischen Sprache abgefalst war, 
mit anderen Wortto alles, was bis dahin den Gesamtbestand der 
Litteratur gebildet hatte, war nur gelehrten Lesern zugänglich 
gewesen^ denn so grols war bereits die Verschiedenheit zwischen 
den beiden Idiomen, dals die Schriftsprache selbst denen, die sie 
vollkommen beherrschten, nur dann verständlich war, wenn sie 
den Text schwarz auf weils vor sich sahen; ein blolses Hören 
des Gelesenen genügte schon längst nicht mehr. 

Aus diesen eigenartigen Verhältnissen erklärt sich die auf- 
fallende Erscheinung, dafs Drama und Roman erst zu einer Zeit 
ins Dasein treten konnten, da die übrigen Zweige der Litteratur 
bereits im Absterben begriffen waren. Beide Gattungen, das 
Drama sowohl wie die Belletristik, wenden sich ja ihrem ganzen 
Wesen nach nicht an den exklusiven Kreis der ßüchergelehrten, 
sondern, imd zwar in erster Linie, an das grolse Publikum, — 
jenes überdies nicht sowohl an den Leser als vielmehr an den 



— 362 — 

Hörer; sie mulsten sich daher notgedrungen einer Sprache be- 
dienen^ die jedermann verständlich war. Und eben weil sie das 
getan haben , wurden und werden sie von einem tonangebenden 
Gelehrtendünkel nicht als vollberechtigte Bestandteile der Litte- 
ratur angesehen. 

Nachdem jedoch einmal der Bann gebrochen war, gab es 
auch kein Halten mehr. Gleichviel ob anerkannt oder nicht : die 
neue Strömung war zu mächtig, als dals die vornehm ablehnende 
Haltimg eines bornierten und geistig verknöcherten Gelehrten- 
tums sie zurückzudämmen vermocht hätte. Jetzt endlich sollte 
es sich zeigen y dafs die »Lust zu fabulierenc im Chinesentum 
nicht minder verbreitet war als anderswo, denn mehr, als gut 
war, fand nunmehr das Bedürfnis nach leichter Unterhaltung in 
einer wahren Massenproduktion die langentbehrte Nahrung. Und 
in der Tat kann man sich kaum leidenschaftlichere Theaterfreunde 
und Romanleser vorstellen, als es die Chinesen der Gegenwart 
sind. Um so bezeichnender ist es aber für die zähe Macht tief- 
eingewurzelter Vorurteile, dals selbst die dramatische und er- 
zählende Dichtimg nicht wagen durfte, sich ohne weiteres in 
das volkstümliche Gewand der Umgangssprache zu kleiden ; viel- 
mehr hat sie sich, um ihre Würde nicht völlig preiszugeben, 
damit begnügt, ihr nur so weit Zugeständnisse zu machen, als es 
das Verständnis erforderte. Es gibt daher inuner noch Dramen 
und Romane genug, die auf selten der Leser und Hörer einen 
über das Durchschnittsmafs hinausgehenden Grad von Belesen- 
heit voraussetzen. Und bei diesem Kompromifs ist es im grofsen 
und ganzen bis auf den heutigen Tag geblieben; die echte Um- 
gangssprache, wie sie wirklich im Volke lebt, kommt auch heute 
noch eigentlich nur in Schauspielen und Erzählungen niederster 
Gattung zur Verwendung. 

I. Die dramatische Litteratur. 

1. Die Blüte der dramatischen Dichtung im Zeitalter 

der Mongolenherrschaft ^) 

Wir wissen, dals bereits im frühesten Altertum die feierliche 
Opferhandlung von mimischen Tänzen begleitet zu sein pflegte, 

^) Vgl. Bazin, Th^Ätre chinois ou choiz de pi^ces de th^fttre 
compos^s sous les empereurs mongols, Paris 1838. — Derselbe, Le 



~ 363 — 

bei denen die Tänzer bald an Stäben befestigte Federn oder 
Ochsenschweife, bald Kriegsäxte und Schilde in den Händen 
hielten, und im Li-ki werden pantomimische Darstellungen er- 
wähnt, welche geschichtliche Vorgänge, wie die Kämpfe des 
Wu-wang gegen den letzten Herrscher der Shang-Dynastie 
u. ä. zum Gegenstande hatten und in verschiedene Szenen ge- 
gliedert waren. Es ist möglich, sogar wahrscheinlich, dafs in 
diesen Schaustellungen die ersten Anfänge der dramatischen 
Kunst zu suchen sind; um so auffallender ist jedoch, dafs das 
eigentliche Drama erst so viel später 'entstanden ist. Denn die 
Überlieferung bezeichnet ausdrücklich den prunk- und kunst- 
liebenden T * a n g - Kaiser Hüan-tsung (713 — 755) als den Vater 
der Schauspielkunst. Er war es, der in seinem »Bimbaumgartenc 
eine Art Schule gründete, deren Zöglinge in Musik, Gesang und 
Tanz unterrichtet und zu theatralischen Darstellungen angeleitet 
wurden, woher denn auch noch heutzutage die Schauspieler als 
»Zöglinge des Birnbaumgartensc bezeichnet werden. Proben 
dramatischer Dichtung aus der T*ang- Periode besitzen wir 
leider nicht ; so viel scheint indessen nach dem Wenigen, was wir 
darüber wissen, klar zu sein, dafs das Theater jener Zeit aus der 
Musik hervorgegangen ist und demgemäfs wohl aus einer Ver- 
einigung von Musik, Gesang und Tanz bestanden haben wird. 
Diese Annahme gewinnt auch durch die Tatsache an Wahr- 
scheinlichkeit, dafs der durchweg melodramatische Charakter des 
späteren chinesischen Dramas dessen musikalischen Ursprung 
deutlich erkennen läfst. 

Nimmt man das Zeitalter der T^ang zum Ausgangspunkt, 
so lassen sich folgende vier Perioden der dramatischen Dichtung 
tmterscheiden : 

1) Die Entstehungsperiode unter den T*ang, von der uns, 
wie gesagt. Näheres nicht bekannt ist. 

2) Die Sung-Periode. 

3) Die Blütezeit unter der Mongolenherrschaft, und ihre 



Si^cle des You6n, Paris 1850. — Derselbe, Chine moderne, Paris 1853, 
vol. II, p. 391 ff. Femer Rud. von Gottschall, Das Theater und 
Drama der Chinesen, Breslau 1887, und Tcheng-ki-tong, Le 
th^ätre des Chinois, 2«»« 6d. Paris 1886. 



— 364 — 

Nachwirkungen unter der nächstfolgenden Dynastie der 
Ming. 
4) Das moderne Drama. 

Aus der Sung-Zeit liegt uns nur ein Drama vor, »Die 
Geschichte des westlichen Seitenflügels! , Si-siang-ki^), von 
einem gewissen Wang Shi-fu verfafet, der während der Zeit 
lebte, da die Sun g -Dynastie der Mongolenherrschaft weichen 
mulste. Da die Chinesen dieses Stück zu den hervorragendsten 
Meisterwerken ihrer dramatischen Dichtung rechnen, lasse ich 
eine kurze Skizze seines Inhalts folgen. Frau Cheng, die 
Witwe eines kürzlich verstorbenen Staatsministers, begibt sich in 
Begleitung ihrer Tochter Ying-ying und der Zofe Hung- 
niang nach dem Geburtsort ihres Gatten, um den letzteren 
dort beizusetzen. Unterwegs ist sie in einem bei der Stadt Ho- 
ch u n g - f u befindlichen buddhistischen Kloster abgestiegen, dessen 
abseits gelegenen westlichen Flügel sie bewohnt. Gleichzeitig 
trifft auf dem Wege nach der Hauptstadt, wo er sein Examen 
abzulegen beabsichtigt der junge Baccalaureus') Chang-kung 
in Ho-chung-fu ein. Sein Freund, der General Tu Kioh, 
befehligt in jener Stadt die Truppen; ihn hofft er dort wieder- 
zusehen. Auf einem Ausfluge besucht er das Kloster und er- 
blickt dort zufällig die Ying-ying. Von ihrer Anmut und 
Schönheit geblendet, beschlielst er sofort, sich ihr imi jeden Preis 
zu nähern. Zu diesem Zwecke begibt er sich zum Abte und 
erwirkt von diesem die Erlaubnis, ebenfalls im Kloster, und zwar 
in nächster Nähe des westlichen Seitenflügels, abzusteigen. Wäh- 
rend er noch beim Abte weilt, erscheint plötzlich die Zofe, um 
im Auftrage der Frau Cheng eine Seelenmesse für deren ver- 
storbenen Gatten zu vereinbaren, und es ist recht bezeichnend 
für die wenig respektierliche Rolle, die der buddhistische Klerus 
im allgemeinen im chinesischen Drama spielt, dals der würdige 
Mann im Handumdrehen an dem hübschen Mädchen Feuer fängt; 
doch ist dies nur eine flüchtige Episode, die auf den weiteren 



^)Si-siang*ki ou Thistoire du pavillon d'occident, com6die en 
seize actes, tradnit par Stan. Julien. Eztr. de TAtsume Gnsa. 
Genfeve 1872-80. 

^ S i n • t s * a i , Baccalaureus, heif sen die Inhaber des ersten (untersten ) 
gelehrten Grades. 



— 365 — 

Verlauf der Handlung ohne Einflufs bleibt. Nachdem der Abt 
den 15. Tag des zweiten Monats für die Seelenmesse angesetzt hat^ 
weil an diesem Tag Buddha ins Nirvana eingegangen ist, bittet 
ChangKung, bei dieser Gelegenheit auch für das Seelenheil 
seiner verstorbenen Eltern Räucherkerzen darbringen zu dürfen, 

— eine Bitte, die ihm denn auch in verständnisvoller Weise ge- 
währt wird. Es folgt nun im dritten Akt eine Gartenszene, der 
es an poetischer Anmut nicht fehlt. Chang Kung hat er- 
fahren, dafs Ying-ying allabendlich im Garten Räucherkerzen 
darzubringen und für das Seelenheil iltres Vaters zu beten pflegt» 
Hinter der Mauer versteckt, harrt er der Dinge, die da kommen 
sollen. Bald öffnet sich denn auch die Tür, Ying-ying er- 
scheint und hinter ihr die Zofe mit dem Räuchergerät: 

Ying-ying («u der zofe). Bringe das Räucherwerk herbei. 

Chang Kung (» .einem Venteck). Ich wiU doch hören, wie 
die Jungfrau ihr Gebet verrichtet! 

Ying-ying (nimmt eine Räucherkerze). Möchte für diese Räucher- 
kerze mein Vater unter den Göttern wiedergeboren werden! 
(Eine zweite Kerze nehmend.) Möchte für diese Räuchcrkerzc meine Mutter 
ein langes Leben von hundert Jahren erlangen ! (Eine dritte Kerz© 

nehmend.) Möge für diese Räucherkerze .... (Sie stockt nnd vermag nicht 
weiterznreden.) 

Hung-niang. Nun, Fräulein, wem soll denn die Räucherkerze 
gelten ? Was soll dies Schweigen, das sich jeden Abend wiederholt ? 

— Wohlan, ich will statt Ihrer beten. Mein Wimsch ist, dals meinem 
Fräulein einChuang-yüan*) zum Gemahl beschieden sei, der an 
Talent und Wissen die Mitwelt überragt, ein Mann, schön von Ge- 
stalt und angenehmen Wesens, von mildem Sinn und dabei ernst 
und streng. Möchten sie hundert Jahre in Liebe verbunden bleiben ! 

Ying-ying (nigt eineRäncherkerze hinzu und wirft sich auf ihr Antlitz nieder). 

In diesem Fulsfall ist der ganze Gram enthalten, der mein 

Herz erfüllt ! (Tut einen tiefen Seufzer.) 

Chang Kung. Was ist der Grund, mein Fräulein, dals 
Sie, an die Brüstung gelehnt, so kummervoll seufzen? (Beiseite:) 
Sie scheint etwas auf dem Herzen zu haben. Bin ich auch kein 
Szfe-ma Siang-ju, sollte sie nicht dennoch fürwahr eine zweite 



^) Chuang-yüan ist der Titel des ersten unter den Kandidatent 
welche die alle drei Jahre stattfindende Palastprüfimg bestehen. 



— 366 — 

I 

Wen-kiün sein?^) Ich will doch einmal ein Lied hersagen 

und sehen, was sie dazu sagt! (Recitiert mit unter stimme:^ 

Wonnig strahlt die monddurchglänzte Nacht — 
In der Blumen Schatten stille Frühlingspracht! 
Ach, dafs ich, dem Mond so nah, 
Seine Göttin noch nicht sah! 

Ying-ying. Da ist jemand in der Mauerecke, der Verse 
rezitiert ! 

Hung-niang. Das ist just die Stimme jenes jungen Narren, 
der noch keine Frau gefunden hat! 

Ying-ying. Seine Verse klingen so rein und frisch, — 
Hung-niang, ich will doch versuchen, ihm in Reimen zu ant- 
worten! 

Hung-niang. Nur immer zu; ich bin ganz Ohr. 

Ying-ging. 

Hinter blum'gem Vorhang mufs ich einsam leiden, 
Denn für mich gibt's keine Lenzesfreuden! 
Hat der kühne Sänger mit mir Armen 
Denn kein Mitleid, kein Erbarmen?') 

Chang Kung (aberr^cht nnd erfreut). Das helfst prompt ge- 
geantwortet, fürwahr! Sollte ich nicht über die Mauer steigen 
und mir die Jungfrau ansehen? 

Ehe er jedoch sein Vorhaben ausführen kann, haben sich 
die beiden Mädchen, durch ein Geräusch erschreckt, bereits wieder 
ins Haus zurückgezogen. 

Nun folgt die Schürzung des Knotens. Am 15. Tage des 
zweiten Monats findet die Seelenmesse statt. Der Abt stellt 
den Chang Kung der Frau C h e n g als seinen Verwandten vor, 
woraufhin dieser die Erlaubnis erhält, an der Feier teilzunehmen. 
Inzwischen hat aber auch schon der Räuberhauptmann Sun Fei- 
hu von der Schönheit der Yi ng-ying gehört imd umzingelt mit 
einer Schar Bewaffneter das Kloster, um sich ihrer zu be- 
mächtigen. In ihrer Angst verspricht Frau Cheng demjenigen. 



^) Der Dichter Sz§-ma Siang-ju bezauberte die schöne junge 
Witwe Wen-kiün durch seinen Gesang derart, dafs sie sich von 
ihm entführen liefs. 

') Im Original bedient sich Ying-ying in ihrem Verse derselben 
Reime wie Chang Kung in dem seinen. 



~ 367 — 

dem es gelingen würde, die Räuber zu vertreiben, die Hand 
ihrer Tochter. Sofort erklärt sich Chang Kung dazu bereit und 
ruft seinen Freund Tu Kioh zu Hilfe, der denn auch bald 
mit seinen Truppen zur Stelle ist und die Räuber auseinander- 
jagt. Am nächsten Tage lälst Frau Che ng den Chang Kung 
zu sich entbieten, um ihm ihren Dank auszusprechen. Frau 
Cheng heilst ihn zwar aufs freundlichste willkommen, bekennt 
ihm jedoch gleichzeitig, dals ihre Tochter bereits einem anderen 
zugesprochen sei und sie unmöglich dem Willen ihres verstorbenen 
Gemahls zuwiderhandeln dürfe. Über diesen unerwarteten Aus- 
gang ist Chang Kung nicht minder verzweifelt als Ying- 
y i n g. Jetzt aber ist es die Zofe, die sich der beiden Liebenden 
erbarmt und die Rolle des postillon d'amour übernimmt. Das 
Ende vom Liede ist, dals Ying-ying sich zu einem nächt- 
lichen Stelldichein im Garten verleiten lälst, und zur festgesetzten 
Stunde hält denn auch Chang Kung die Geliebte in seinen 
Armen. »Wolken und Regen« ist im Chinesischen der poetische 
Ausdruck für heikle Situationen dieser Art. Es dauert jedoch 
nicht lange, bis die Sache ruchbar wird, und nun kommt es zu 
einer erregten Auseinandersetzung zwischen Frau Cheng und 
der Zofe. »Du Nichtswürdige« fährt Frau Cheng die Hung- 
niang an, »bist schuld an allem!« Diese aber bleibt die Ant- 
wort nicht schuldig. »Die Angelegenheit betrifft weder Chang 
Kung noch Ying-ying noch mich,« entgegnet sie, »sondern 
Sie sind es, die den Fehler begangen hat.« 

Frau Cheng. Diese Spitzbübin! Jetzt wälzt sie gar die 
Schuld auf mich ! Worin soll mein Verschulden denn bestanden 
haben ? 

Hung-niang. Treue ist des Menschen Grundlage. Ein 
Mensch, der keine Treue kennt, ist nichts mehr wert. Vorhin, als die 
feindliche Schar das Kloster umzingelt hielt, versprachen Sie dem, 
der sie zum Rückzug zwingen würde, Ihre Tochter zum Weibe. 
Wenn Chang Kung nicht in des Fräuleins Schönheit verliebt ge- 
wesen wäre, was sollte ihn wohl bewogen haben, den Rettungsplan 
zu ersinnen ? Jetzt aber, da der Feind zurückgeschlagen und Sie in 
Sicherheit geborgen sind, jetzt reut Sie des gegebenen Wortes, — 
heilst solches etwa nicht die Treue brechen? Nachdem Sie nun 
einmal den Ehebimd nicht zulassen wollten, hätten Sie ihn mit 
Geld und Seidenstoffen beschenken sollen und seiner Wege ziehen 



— 368 — 

lassen, statt ihn noch länger hier im Hause zu behalten. Die 
Folge davon war, dafs das erbitterte Mädchen und der von 
Einsamkeit verzehrte Mann, die doch so nahe beisammen waren, 
einander heimlich sahen. Daraus ist alles entstanden. Wenn 
Sie die Angelegenheit nicht zu vertuschen suchen, werden 
Sie erstlich Ihr edles Haus zu Schanden bringen, femer mit 
Schimpf belohnen, wasChangKung für Siegethan; und wenn 
Sie gar die Angelegenheit vor die Gerichte bringen, so wird vor 
allem Sie die Schuld treffen, weil Sie es waren, die es an 
strenger Zucht hat fehlen lassen. Daher war' es nach meiner 
einfältigen Ansicht das beste, wenn Sie den kleinen Fehltritt 
vergeben imd das grolse Werk vollenden wollten. Das würde 
fürwahr ein Gewinn für ewige Zeiten sein! 

Frau Cheng sieht denn auch ein, dafs die Zofe im Grunde 
recht habe und verspricht nimmehr dem Chang Kung die 
Hand ihrer Tochter, jedoch unter der Bedingung, dafs er erst 
in die Hauptstadt reise und sein Examen bestehe. 

Es ist entschieden ein feiner Zug, dafs der Dichter es ver- 
schmäht, die Fabel nach dem bewährten Rezepte: »Ende gut» 
alles gute zu einem trivialen Abschlufs zu bringen. Nachdem 
das Los des Chang Kung entschieden ist, tritt dieser die Reise 
nach der Hauptstadt an. Todtmüde kehrte er unterwegs in einem 
Gasthof ein und legt sich nieder. Im Traume erscheint ihm die 
Ying-ying, die ihm gefolgt ist und an seiner Seite bleiben will. 
Doch in demselben Augenblicke klopft eip Soldat ans Tor imd 
verlangt die Auslieferung des Mädchens. Vor Schreck erwacht, 
springt Chang Kung vom Lager auf, öffnet das Tor und merkt 
jetzt erst, dafs er nur geträumt hat: 

»Ach, so war es also doch nur ein Traum! Ich will doch 
wenigstens das Tor öffnen und ausschauen .... Nichts sehe 
ich als den Himmel, dem eine taudurchtränkte Luft entströmt, 
und unter mir die reifbedeckte Erde. Der Morgenstern geht 
auf; noch leuchtet der schwindende Mond. Ohne Grund nisten 
Schwalbe und Sperling da droben auf den hohen Zweigen; der 
Traum von den Mandarinenenten*), die auf gleichem Pfühle 
ruhen, blieb unvollendet Ic 

Mit dieser stimmungsvollen Szene schliefst das Stück, das 

') Schwalbe und Sperling symbolisieren die Sorglosigkeit; die 
Mandarinenenten gelten als Embleme ehelichen Glückes. 



— 369 - 

noch alle Mängel einer in ihren Anfängen befindlichen Technik 
aufweist. Mit langsamer Schwerfälligkeit zieht sich die ziemlich 
dürftige Handlung durch sechzehn Akte hin, und die Gliederung 
des Stoffes ist unbeholfen und ungleichmäfsig , wie denn z. B. 
der ganze sechste Akt durch die Szene ausgefüllt wird, in der 
die Zofe zu Chang Kung kommt und ihm die Einladung der 
Frau Cheng überbringt, eine Szene, die, an sich unwichtig, 
nichts zum Gange der Handlung beiträgt. Auch trägt das ganze 
Stück einen vorwiegend lyrischen Charakter, der in den zahl- 
reichen für den Gesang bestimmten metrischen Bestandteilen 
hervortritt, mit denen es durchsetzt ist. Offenbar steht das Si- 
siang-ki dem ursprünglich opernhaften Stile des chinesischen 
Dramas noch sehr viel näher, als das bei den späteren Erzeug- 
nissen der dramatischen Dichtung der Fall ist. — 

In der Zeit der Mongolenherrschaft, als das Drama den 
Höhepunkt seiner Entwicklung erreichte, läfst sich in dieser Hin- 
sicht ein merklicher Fortschritt erkennen. Es werden 85 dra- 
matische Dichter, die jener Periode angehören, erwähnt, und die 
Gesamtzahl der von ihnen verfalsten Stücke beläuft sich auf 564. 
Hundert der besten unter ihnen sind zu einer Sammlung ver- 
einigt worden und bilden, sozusagen, das klassische Repertoire 
des chinesischen Theaters. Eine charakteristische Eigentümlich- 
keit des Dramas der Mongolenzeit besteht darin, dals der Ge- 
sang nicht, wie im älteren Drama, vorherrscht, sondern im all- 
gemeinen auf eine der handelnden Personen beschränkt bleibt, 
und zwar entsprechen die gesungenen Bestandteile in gewissem 
Sinne dem Chore der antiken Tragödie, da sie meist — nicht 
durchweg — aufserhalb des Ganges der Handlung stehen und 
gleichsam die Vermittlung zwischen Dichter und Publikum bilden. 
Der Träger dieser Rolle pflegt stets eine der Hauptpersonen des 
Stückes zu sein und, soweit er sich am gesprochenen Dialoge 
beteiligt, zugleich im Mittelpunkte der Handlung zu stehen. 

Die hundert Stücke aus der Mongolenzeit bestehen durchweg 
aus vier, höchstens fünf Akten, doch geht ihnen oft ein dialogi- 
sierter Prolog voraus, der in den allgemeinen Gang der Hand- 
lung einführt. Die handelnden Personen werden im Texte nicht 
mit dem Namen der Rolle, deren Träger sie sind, sondern nach 
ihrem Rollencharakter bezeichnet, ähnlich dem Arlecchino, Panta- 
lone, Dottore, Scapino u. s. w. der italienischen Komödie. Welche 

Grube y Geschichte der chinetiachen Litteratur. 24 



— 370 — 

Rolle die einzelnen Darsteller im Stücke vertreten, erfährt das 
Publikum in höchst naiver Weise von diesen selbst, indem jede 
der handelnden Personen sich bei ihrem Auftreten durch die 
gewissenhafte Angabe ihres Vor- und Zunamens sowie durch 
eine mehr oder weniger ausführliche Darlegung ihres Lebens- 
laufes einführt, — ein Verfahren, das bis auf den heutigen Tag 
üblich geblieben ist. 

Seinem Inhalte nach läfst sich das chinesische E>rama am 
besten in vier Gattungen einteilen: das historische Drama, das 
bürgerliche Schauspiel, die Charakterkomödie und das Zauber- 
drama phantastisch-mythologischen Inhalts. Eine theoretische 
Unterscheidung von Trauerspiel und Lustspiel kennen die Chinesen 
nicht, obwohl beide Gattungen in ihrem Drama vertreten sind. 
Unter den historischen Dramen ist >Die Waise aus dem Hause 
Chao« ^), von einem gewissen Ki Kiün-siang verfalst, in 
Europa wohl das bekannteste, da bereits im Jahre 1736 eine von 
P. Primäre verfalste französische Übersetzung dieses Schauspiels 
im dritten Bande von du Halde 's Descripton g^o- 
graphique^ historique, chronologique, politique, et 
physique de l'empire de la Chine et de la Tartarie 
chinoise erschienen war, die Voltaire die Anregung zu 
seiner Tragödie L' Orphelin de la Chine gegeben hat. Das 
Stück spielt unter der Regierung des Fürsten Ling-Kung 
von Tsin (620—607 v. Chr.) und behandelt einen Stoff, der dem 
Tso-chuan entlehnt ist. ^) Es beginnt mit folgendem Prolog, der 
das Publikum mit den Begebenheiten bekannt macht, die der 
eigentlichen Handlung als Voraussetzung gedient haben: 

Erster Auftritt. 

T^uNgan-kuh (tob Soldaten bdffleitet). 

T*u Ngan-kuh. Ich bin T*u Ngan-kuh, Oberbefehls- 
haber im Staate Tsin. Seit mein Gebieter, der Fürst Ling- 
kung, den Thron innehat, gab es unter sämtlichen Beamten 
nur zwei, denen er sein Vertrauen schenkt: unter den Zivil- 
beamten war es Chao Tun, und unter den Offizieren bin ich 

*) Tchao-chi-kou-eul, ou Torphelin de la Chine, drame en 
prose et en vers, traduit du chinois par St an. Julien. Paris 1834. 
^) Die betr. Stelle ist oben, S. 77 ff., mitgeteilt worden. 



— 371 ^ . 

es. Wir beide lebten in schlechtem Einvernehmen. Ich hatte 
stets die Absicht, ihn zu vernichten, doch wollte es mir immer 
nicht gelingen, mich seiner zu bemächtigen. Der Sohn jenes 
Chao Tun heilst Chao Shoh und ist der Schwiegersohn d^s 
Fürsten Ling-kung. Ich hatte einen verwegenen Mann ent- 
sandt, der, mit einem Dolche bewaffnet, über die Mauer steigen 
vmd den Chao Tun erstechen sollte; statt dessen nahm jener 
wider Erwarten sich selber das Leben, indem er sich gegen 
einen Baumstamm warf. 

Als Chao Tun eines Tages aus der Stadt hinausgegangen 
war, um die Bauern zur Arbeit anzuspornen, erblickte er einen 
Mann, der imter einem Maulbeerbaume lag und nahe daran war, 
Hvmgers zu sterben. Er gab ihm Wein und Reis zur Stärkimg ; 
jener aber ging, nachdem er von beidem genossen, ohne ein 
Wort seines Weges, 

Nicht lange danach brachte ein Barbarenftirst dem Fürsten 
Ling-kung einen Hund als Tributgeschenk dar, den der Fürst 
mir verehrte. Von nun an f af ste ich einen Plan, um den Chao 
Tun zu verderben. Ich legte den Hund an die Kette und liels 
ihn einige Tage lang ohne Futter; im Garten aber hängte ich 
inzwischen eine als Chao Tun kostümierte Strohpuppe auf, die, 
mit purpurnem Gewände und schwarzen Stiefeln bekleidet und 
mit einem kostbaren Gurte umgürtet, ein Elfenbeintäf eichen in 
den Händen^) hielt. In dem Bauche der Puppe hatte ich das 
Herz und die Lunge eines Schafes versteckt. Dann führte ich 
den Hund herbei und liefs ihn, nachdem ich das purpurne Ge- 
wand des Chao Tun zurückgeschlagen, seinen Hunger stillen. 
Nachdem ich ihn dann wieder eingesperrt und einige Tage lang 
hatte hungern lassen, führte ich ihn abermals aus seinem Gelafs 
heraus; sofort stürzte sich der Köter auf die Strohpuppe, zerrifs 
das Gewand und verschlang die Lockspeise. Auf diese Weise 
richtete ich ihn hundert Tage lang ab, und als ich glaubte, so 
weit zu sein, dals ich ihn verwenden könnte, begab ich mich 
zum Fürsten und teilte ihm mit, dals ein ungetreuer und pietät- 
loser Mensch ihn zu hintergehen trachte. Als der Fürst das 



') Die Beamten pflegten, wenn sie zur Audienz erschienen, ein 
Elfenbeintäfelchen in den Händen zu halten, auf welches sie die Be- 
fehle des Fürsten notierten. 

24* 



- 372 — 

vernahm, geriet er sofort in malslosen Zorn und verlangte zu 
wissen, wer es sei. Ich aber sagte : »Jener vom Barbarenftirsten 
dargebrachte Hund ist mit einem wimderbar feinen Instinkte 
begabt; er wird ihn sofort erkennen.« Da rief der Fürst voll 
Freude: »Zu Yaos und Shuns Zeiten gab es das Hiai- 
ch'ai*), das sich auf die Übeltäter zu stürzen pflegte, — wer 
hätte gedacht, dals es auch in meinem Staate ein solches Wunder- 
tier gibt ! — Wo ist der Hund ?« — Nun holte ich ihn auf der Stelle 
herbei. Chao Tun stand gerade in seinem purpurnen Gewände 
zu Seiten des Ruhebettes, auf dem der Fürst sals. Kaum hatte 
der Köter ihn erblickt, als er auf ihn losstürzte, sein Gewand 
zerrifs und ihn bils. — »T^uNgan-Kuh,« schrie der Fürst, 
»du hast den Hund auf ihn gehetzt! Wehe! Solltest du nicht 
ein Verleumder sein?« 

Nachdem ich den Hund einmal losgelassen hatte, verfolgte 
er den Chao Tun, der sich schleunigst aus der Halle hinaus 
rettete. In diesem Augenblicke kam jedoch ein Mann herbei- 
gespnmgen, der sich in der Nähe aufgehalten hatte, imd streckte 
das Tier mit einem Keulenschlage zu Boden. Das war T'i-mi 
Ming, der Anführer der fürstlichen Leibwache. Mit der einen 
Hand packte er den Hund beim Kopffell, während ihn die andere 
mit einem Schwertstreich mittendurch hieb. Chao Tun war 
inzwischen zum Palasttore hinausgegangen, um seinen vier- 
spännigen Wagen zu suchen. Da ich jedoch wohlweislich 
zwei der Pferde hatte ausspannen und eins der beiden Räder ab- 
nehmen lassen, so rückte der Wagen, nachdem jener ihn be- 
stiegen hatte, nicht von der Stelle. In diesem Augenblicke legte 
sich ein kräftiger Mann, der gerade vorbeikam, ins Mittel, und 
während er mit der einen Hand das Rad stützte und mit der 
anderen die Pferde peitschte, zogen die Tiere an, und Chao Tun 
war gerettet. — Ihr werdet fragen, wer der Mann gewesen 
sei? — Kein anderer als Ling Cheh, eben jener Mann, der 
ehemals verhungert unter dem Maulbeerbaum gelegen hatte. 

Nachdem ich mich der Einwilligung des Fürsten vergewissert 
hatte, liels ich nun sämtliche dreihundert Angehörige des Ge- 



^) Das Hiai-ch«ai ist ein Fabeltier, eine Art Einhorn, von dem 
die Sage geht, dafs es gut und böse unterscheiden könne und sich 
auf die Übeltäter stürze. 



— 373 — 

schlechtes Chao ohne Unterschied des Standes niedermetzehi. Der 
einzige Überlebende ist Chao Shoh, der mit der Prinzessin, 
seiner Gemahlin, im Palaste lebt. Da er des Fürsten Schwieger- 
sohn ist, ging es nicht wohl an, auch ihn töten zu lassen , jetzt 
aber trachte ich danach, das Unkraut mit der Wurzel auszurotten, 
damit es nicht neue Schölslinge treibe. Zu diesem Zwecke habe 
ich einen fürstlichen Befehl gefälscht und einen Boten zu C h a o 
Shoh entsandt, der ihm eine Bogenschnur, vergifteten Wein und 
einen Dolch überbringen soll, damit er sich eines dieser Ge- 
schenke bediene, um seinem Leben ein Ende zu machen. Ich 
habe ihm befohlen, sich unverweilt auf den Weg zu machen 
und mir umgehend Bescheid zu sagen. (Ab.) 

Zweiter Auftritt. 

Chao-Shoh und die Prinzessin, seine Gemahlin. 

Chao Shoh. Ich, Chao Shoh, bekleide das Amt eines Tu- 
wei^). Wer hätte gedacht, dals T*u Ngan-kuh sich mit 
meinem Vater schlecht vertragen und den Fürsten Ling-kung 
verleiten würde, mein ganzes Geschlecht auszurotten! 

Prinzessin, vernimm meinen letzten Willen. Du bist jetzt 
guter Hoffnung. Wenn du mit einem Mädchen niederkommst, 
so ist darüber kein Wort weiter zu verlieren; für den Fall je- 
doch, dals es ein Knabe sein sollte, will ich ihm schon jetzt, da 
er noch im Mutterleibe ruht, den Namen Chao-shi-ku-6rh 
(die Waise aus dem Geschlechte Chao) geben, auf dals er, zum 
Mann herangewachsen, seine Eltern räche. 

Die Prinzessin. Wehe! Willst du mir das Herz brechen ? 

Dritter Auftritt. 

Die Vorigen. Ein Bote. 

Der Bote. Ich komme auf Befehl des Fürsten, um drei 
Geschenke zu überbringen, die der Fürst seinem Schwiegersohne 
Chao Shoh verleiht: eine Bogenschnur, vergifteten Wein und 
einen Dolch, auf dafs er eins von diesen wähle und unverzüglich 
sterbe. Alsdann soll ich die Prinzessin in ihrem Palaste ein- 
kerkern. Ich darf nicht lange säumen, sondern muls augenblick- 



^) Ein militärischer Rang. 



— 374 — 

lieh den Befehl ausrichten. Vorwärts denn! Doch da bin ich 
ja schon am Tore des Palastes! (Den chao s hob erblickend.) Chao 
Shoh, kniee nieder und vernimm des Fürsten Befehl. (Uett.) 

»Malsen dein ganzes Geschlecht, der Treue und Kindes- 
liebe bar, den Fürsten hintergangen und die Gesetze verletzt 
hat, habe ich deine sämtlichen Anverwandten ohne Unter- 
schied des Ranges dem Tode überliefert. Dennoch ist das 
Unrecht noch nicht völlig gesühnt. In Erwägung des Um- 
standes jedoch, dafs du mit mir verschwägert bist, habe ich 
es nicht über mich gewinnen können, dich gleichfalls hin- 
richten zu lassen, sondern sende dir eigens drei Geschenke, 
auf dafs du nach eigenem Ermessen eines von ihnen wählest 
und sterbest. Die Prinzessin, deine Gemahlin, soll in ihrem 
Palaste gefangen gehalten werden und darf keinerlei Verkehr 
mit ihren Anverwandten unterhalten.« 
Wohlan, Chao Shoh! Des Fürsten Gebot duldet weder 
Widerstand noch Aufschub; rasch mache deinem Leben ein 
Ende! 

Chao Shoh. Prinzessin, was bleibt mir jetzt noch übrig? 
Die Prinzessin. O Himmel, erbarme dich! Unser ganzes 
Haus ist vernichtet, und die Toten haben keine Stätte, da sie 
begraben werden können! 

Chao Shoh. Prinzessin, bewahre, was ich dir geboten, 
treu im Gedächtnis! 

Die Prinzessin. Ich habe dich verstanden. 

(Cbao Sboh enticbt ttcb mit dem Dolcbe und wird fortgetragen.) 

Die Prinzessin. O mein Gemahl! Der Schmerz um dich 
wird mich töten! (Ab.) 

Der Bote. Chao Shoh hat mit dem Dolche seinem Leben 
ein Ende gemacht, und die Prinzessin ist im Palaste eingekerkert ; 
so will ich mich denn augenblicklich auf den Heimweg machen 
und dem Fürsten Bericht erstatten. (Ab.) 

Der erste Akt knüpft an die im Prolog geschilderten Be- 
gebenheiten an. T*uNgan-kuh erhält die Nachricht, dafs die 
Prinzessin eines Sohnes genesen sei, und aus Angst, dafs ihm in 
dem Knaben dereinst ein Rächer erstehen könnte, trifft er sofort 
die erforderlichen Vorkehrungen. Der General Han Kiueh 
erhält den Befehl, den Palast der Prinzessin zu bewachen, damit 
kein Unbefugter ihn betreten noch verlassen könne. Die un- 



— 375 — 

glückliche Prinzessin aber hat natürlich nur den einen Wunsch, 
ihr Kind aus dem Palaste zu schaffen, um sein Leben zu er- 
halten. Der einzige Freund, dem sie vertraut, ist ihr Arzt Ch*eng 
Ying; ihn lälst sie zu sich bitten und fleht ihn an, das Kind 
zu retten. Als dieser indessen zögert, sein Leben aufs Spiel zu 
setzen, erdrosselt sich die Prinzessin in ihrer Verzweiflung vor 
seinen Augen. Nunmehr ist Ch^eng Ying zum Aufsersten 
entschlossen: er verbirgt das Kind in seinem Medizinkasten und 
deckt es mit Heilkräutern zu, damit man es nicht entdecke. Der 
General Han Kiueh selbst, der im Gnmde seines Herzens über 
die Grausamkeit des T*u Ngan-kuh empört ist, verhilft ihm 
zur Flucht, gibt sich jedoch selber gleich darauf den Tod, weil 
er die Schmach, seinen Vorgesetzten hintergangen zu haben, nicht 
überleben kann. 

Kaum hat T*u Ngan-kuh von dem Geschehenen Kunde 
erhalten, so erläfst er ein gefälschtes fürstliches Dekret, nach 
welchem alle Kinder männlichen Geschlechts im Alter von einem 
bis sechs Monaten getötet werden sollen. Hiermit beginnt der 
zweite Akt, der jedoch im übrigen im Dorfe T*ai-p*ing spielt, 
woselbst der ehemalige Staatsminister Kung-sun Chu-kiu 
seinen Ruhesitz hat. Dieser ist ein alter PVeimd des Ch*eng 
Ying, und an ihn wendet er sich mit der Bitte, das Kind in 
seinem Hause zu verbergen; er selbst hingegen wolle seinen 
eigenen gleichaltrigen Sohn für die Waise aus dem Hause Chao 
ausgeben und sein und seines Kindes Leben zum Opfer bringen. 
Jener will jedoch davon nichts wissen ; er sei ein alter Mann und 
werde es doch nicht mehr erleben, dafs der Knabe, zum Manne 
herangewachsen, sein Haus rächen könne, — lieber solle Ch^eng 
Ying, der noch im rüstigen Mannesalter stehe, das Kind auf- 
ziehen und ihm dafür das seine überlassen ; dann solle er ihn bei 
T*uNgan-kuh denunzieren-, er sei gern bereit, dann mit dem 
Söhnlein des Ch^eng Ying den Tod zu erleiden. Da der 
Greis keine Widerrede duldet, bleibt dem Ch*eng Ying nichts 
anderes übrig, als auf den Vorschlag einzugehen, und so begibt 
er sich schliefslich mit dem Kinde heim, um statt des letzteren 
den eigenen Sohn zu opfern. 

Im dritten Akt erscheint Ch*eng Ying bei T*u Ngan- 
kuh und hinterbringt ihm, dafs Kung-sun Chu-kiu das Kind 
verborgen halte. Jener will es zuerst nicht glauben, bisCh[*eng 



— 376 — 

Ying ihm beteuert, nur die Sorge um das Wohl des eigenen 
Sohnes habe ihn zu dem Geständnis verleitet. Da begibt er sich 
in Begleitung des Ch'eng Ying und einer Schar Soldaten zu 
Kung-sun Chu-kiu und stellt ihn zur Rede. Dieser leugnet. 
Vergeblich sucht T'u Ngan-kuh ihn durch Stockprügel zum 
Geständnis zu zwingen. Schliefslich schöpft er Argwohn, und 
jetzt wird dem Ch*eng Ying das Schwerste zugemutet: er 
selbst mufs auf das Geheils des T*uNgan-kuh die Züchtigung 
des Freundes übernehmen. Unter den Qualen der Bastonnade 
ist der Greis nahe daran, das Geheimnis zu verraten, und dieser 
innere Kampf, aus dem er schliefslich als Sieger hervorgeht, ist 
ein ergreifendes Moment in der sonst nach unserem Empfinden 
rohen Prügelszene. Es entspinnt sich da folgender Dialog: 

T'u Ngan-kuh. Kung-sun Chu-kiu, du alter 
Schurke! Weifst du auch, dafs es Ch'eng Ying ist, der dich 
schlägt ? 

Ch*eng Ying (tchiägt ihn). Heraus mit dem Geständnis! 

(Er versetxt ihm drei Hiebe.) 

Kung-sun Chu-kiu. Wehe! Von allen Schlägen, die 
ich heut erhalten, schmerzten mich noch keine so wie diese! 

T*u Ngan-kuh. Ch'eng Ying ist es, der dich schlug! 

Kung-sun Chu-kiu. Ch^eng Ying! Du bist es, der 
mich wund schlägt! 

Ch'eng Ying. General, seit ich den alten Schwachkopf 
prügle, scheint er irre zu reden. 

Kung-sun Chu-kiu (singt:) 

Wer ist's, der mich in wildem Eifer töten will? 
Ch*eng Ying, hab' ich wohl deinen Hafs verdient, 
Dafs du mich alten Mann so grausam folterst? 

Ch'eng Ying. Heraus mit dem Geständnis! 

Kung-sun Chu-kiu. Ich will ja gestehen! Ich will ja 

gestehen! (Singto 

Vor seiner Hiebe Wucht weifs ich mich nicht zu retten, — 
Es ringt der Schmerz mir das Geständnis ab! 
Wohl weifs er, dafs nicht ich das Kind verborgen halte. 
Und dennoch gab -er mich absichtlich an! 

(Ch<eng Ying wird von RQhrang Oberwältigt. Kung-ian Chu-kiu fährt fort su tingeo:) 

Fürwahr, nicht länger duld' ich diese Qualen! 

So sehr ich mich auch wehr\ erlieg' ich doch der Pein. 

Entsetzen seh' ich auch auf seinem Antlitz, 

Und kaum vermag er, zitternd, auf den Beinen sich zu halten! 



— 377 — 

Ch*eng Ying. Du solltest doch nur ohne weiteres ge- 
stehen, so brauchte ich dich wenigstens nicht totzuprügeln ! 
Kung-sun Chu-kiu: Ja, ja, ja! (Singto 

Selbander trachteten das Kind zu retten wir! 

T'u Ngan-kuh. Jetzt verstehe ich, dafs er einen Mit- 
schuldigen meint! Du sprichst von zweien: der eine bist du — 
wer ist der andere? Bekenne die Wahrheit, so will ich dein 
Leben schonen! 

Kung-sun Chu-kiu. Ihr wollt, dals ich ihn nenne? 
Wohlan, ich will es tun — ich will es tun! (Singto 

Ach! auf der Zunge Spitze war das Wort, 
Doch hab* ich's noch verschlucken können! 

T'u Ngan-kuh. Ch^eng Ying, solltest du dahinter- 
stecken ? 

Ch'engYing. Holla, Alter ! Hüte dich, einen Unschuldigen 
anzuklagen ! 

Kung-sun Chu-kiu. Ch*eng Ying, wie kommt es, 
dafs du so betreten bist? (Singto 

Glaubst du etwa, ich sei dir gleich, der du, 
Was du begonnen, nicht zu enden weifst? 

T*u Ngan-kuh. Vorhin sprachst du von zweien, — wie 
kommst du dazu, es jetzt auf einmal zu leugnen? 

Kung-sun Chu-kiu. Ihr habt mich so geschlagen, dafs 
ich schier von Sinnen bin. 

T*uNgan-kuh. Wenn du jetzt nicht redest, werde ich dich 
zu Tode prügeln lassen! 

Kung-sun Chu-kiu (singt.) 

Wohlan, so schlagt nur zu, so viel, als euch beliebt! 
Schon ist die Haut zerrissen und das Fleisch zerfetzt — 
Doch nimmermehr werd' einen andern ich beschuldigen! 

In diesem Augenblicke konmien die Soldaten, die inzwischen 
das Haus des Kung-sun Chu-kiu durchsucht haben, mit dem 
Söhnlein des Ch'eng Ying herbei. T*u Ngan-kuh packt 
das Kind und zerhackt es in drei Stücke. Mit Mühe verbirgt 
Ch'eng Ying seine Tränen, während Kung-sun Chu-kiu 
die Waise aus dem Hause Chao seiner Obhut anempfiehlt und 
darauf stirbt, indem er sich den Schädel an den steinernen Stufen 
der Treppe zerschmettert. T'u Ngan-kuh aber versichert den 



— 378 — 

Ch'eng Ying seiner Dankbarkeit und Freundschaft; er soll 
fortan sein Hausgenosse sein^ und da er selbst kinderlos ist, 
adoptiert er dessen angeblichen Sohn. 

Der vierte Akt spielt zwanzig Jahre später. T*u Ngan- 
kuh ist stolz auf seinen Adoptivsohn, und um ihm eine glänzende 
Zukimft zu sichern, beschliefst er, den Fürsten Ling-kung zu 
ermorden, sich des Thrones zu bemächtigen und seinem Adoptiv- 
sohn dann die Stellung zu geben, die er selbst gegenwärtig ein- 
nimmt. Der verwaiste Sprofs aus dem Hause Chao, der als 
angeblicher Sohn des Ch'eng Ying den Namen Ch'engPei 
führt, ist inzwischen unter eifrigen Studien und unausgesetzten 
Waffenübimgen zum Manne herangereift, ohne zu ahnen, wes 
Sohn er ist. Ch*eng Ying aber hat in der Stille Bildnisse 
rechtschaffener Minister und Feldherren, die sämtlich eines un- 
würdigen Todes gestorben waren, angefertigt und zu einem 
Buche vereinigt. Diese Bilder . zeigt er nun dem Jüngling und 
lüftet so den Schleier, der ihm bisher die Geschichte seines 
Hauses verhüllt hatte. Tief ergriffen und von Zorn erfüllt, tut 
Ch*eng Pei den feierlichen Schwur, seine Vorfahren an T*u 
Ngan-kuh zu rächen. 

Im fünften Akte findet die Fabel ihren Abschlufs. Ch*eng 
Pei hat die Ruchlosigkeit des T*uNgan-kuh zu des Fürsten 
Kenntnis gebracht, und der Minister Kiang Wei erhält den 
Befehl, den Missetäter und sein ganzes Geschlecht dem Tode zu 
überliefern. Ch'eng Pei aber wird unter dem Namen Chao 
Wu zum Erben des ELauses Chao eingesetzt. 

Nicht nur einzelne Motive des Stückes, wie das des Kinder- 
tausches und der Verwendung einer Schachtel zu diesem Zwecke, 
sondern auch ganze Szenen (die Beteiligung des Generals Han 
Kiueh an der Rettung des Kindes und die Prügelszene) sind 
der »Geheimnisvollen Schachtele entlehnt, einem Drama, das 
derselben Periode angehört und einen anonymen Dichter zum 
Verfasser hat^); wie es denn überhaupt nichts Seltenes ist, dafs 
die nämlichen Motive in verschiedenen Dramen wiederkehren. 
So finden wir z. B. das Motiv des Kindertausches und das der 
Bildnisse (im vierten Akt) in zwei Schauspielen der neuesten Zeit 
wieder: das erste in dem »Austausch der Söhne auf dem Richt- 



^) S. Bazin, Chine moderne, II, p. 405 ff. 



- 379 - 

platze« (Fah-ch*ang huan-tszg), das zweite in einem Stücke, 
das den Titel >Die Kraftprobe und die Betrachtung der Ahnen- 
bilder« (Kiü-ting kuan-hoa) trägt, welche beiden Schauspiele 
heutigentags zum eisernen Bestände der Pekinger Bühne ge- 
hören. *) Man darf eben nicht vergessen , dals der Begriff des 
geistigen Eigentums dem Chinesen so gut wie fremd ist und 
daher auch der litterarische Diebstahl in China keineswegs so 
streng verurteilt wird wie bei uns. 

In einem ganz anderen sozialen Milieu als das vorige Stück 
spielt der »Kreidekreis«, Hoei-lan-ki"), ein Sittendrama, das 
sehr wohl geeignet erscheint, den Typus des bürgerlichen Schau- 
spiels zu veranschaulichen. Frau Chang, eine mittellose Witwe, 
die einst bessere Tage gesehen hat, lebt mit ihren beiden Kindern, 
einem Sohne und einer Tochter. Die letztere, Hai-t*ang mit 
Namen, ist die Hauptfigur des Stückes. Von der Mutter dazu 
angehalten, »mit ihrer Schönheit Handel zu treiben«, ist sie es, 
die die ganze Familie ernährt, während ihr Bruder Chang Lin 
ein Taugenichts und Faulenzer ist, der sich zwar berechtigt glaubt, 
seine Schwester um ihres schimpflichen Gewerbes willen zu ver- 
achten, nichtsdestoweniger jedoch keine Hand rührt, um das Los 
der Seinen zu erleichtem. Auf Zureden von Mutter und Schwester 
entschliefst er sich endlich, sich nach K'ai-feng-fu aufzumachen, 
in der Hoffnung, dafs ihm sein dort lebender Oheim zu einem 
Lebensunterhalt verhelfen werde. Bald darauf findet sich 
unter den Liebhabern der Hai-t*ang einer, der eine ernstere 
Neigung für sie empfindet. Es ist ein wohlhabender Mann namens 
Ma, der, obwohl schon verheiratet, sich sterblich in die Hai- 
t*ang verliebt hat und sie zur Nebenfrau begehrt. Frau Chang 
ist auch nicht abgeneigt, auf den Vorschlag einzugehen, be- 
fürchtet nur, dafs ihre Tochter als Nebenfrau der legitimen Frau 
gegenüber einen schweren Stand haben werde-, Herr M a beruhigt 
sie jedoch mit dem Versprechen, die Hai-t*ang, sobald sie ihm 
erst einen Sohn geschenkt habe, an die Spitze seines Hauswesens 
zu stellen. Daraufhin wird der Vertrag abgeschlossen. Im Be- 



*) S. Grube, Zur Pekinger Volkskunde : Veröffentlichungen aus 
dem Kgl. Museum für Völkerkunde, Band VII, Berlin 1901, S. 133 
u. 134. 

') HoeT-lan-ki, ou Thistoire du cercle de craie, drame en prose 
et en vers, trad. du chinois par Stan. Julien. London 1832. 



— 380 — 

sitze der hundert Unzen Silber, die ihr der Handel eingebracht, 
sieht die würdige Matrone einen sorgenfreien Lebensabend vor 
sich und beschliefst fürs erste, sich mit ihren Schwägerinnen zu- 
sammen in einem Teehause einen vergnügten Tag zu machen. 
Soweit der Prolog. 

Im ersten Akt erscheint Hai-t*ang bereits als Mutter eines 
fünfjährigen Sohnes und freut sich ihres Glückes an der Seite 
eines Mannes, der sie liebt. Um so unglücklicher ist die Ehe 
Mas mit seiner legitimen Frau. Die letztere unterhält insgeheim 
ein Liebesverhältnis mit einem gewissen Chao, einem Freunde 
ihres Gatten, und hat sich durch jenen Gift zu verschaffen ge- 
sucht, um ihren Mann beseitigen und den Liebhaber heiraten zu 
können. Es ist gerade der Geburtstag des Kleinen, imd das 
Ehepaar ist mit ihm fortgegangen, um zur Feier des Tages in 
verschiedenen Tempeln Weihrauch darzubringen. Hai-t*ang 
tritt vor das Haus hinaus, um ihren Gebieter imd dessen Gattin 
zu erwarten, — da sieht sie plötzlich ihren Bruder vor sich 
stehen. 

Dieser stellt sich zunächst dem Auditorium vor und erzählt 
dann sein Schicksal. InK'ai-feng-fu angekommen, erfuhr er, 
dafs sein Oheim dort nicht mehr ansässig war, und fand niemand 
in der fremden Stadt, der sich seiner hätte annehmen können. 
Da sein Reisegeld bald auf die Neige gegangen war, geriet er 
in so grofse Not, dafs er die Kleider selbst, die er am Leibe 
trug, versetzen mufste. Endlich wieder in die Heimat zurück- 
gekehrt, fand er die Mutter tot. Obdachlos, will er die inzwischen 
reichverheiratete Schwester um Hilfe anflehen; diese will in- 
dessen nichts von ihm wissen, hält ihm vielmehr sein früheres 
ungebührliches Betragen gegen sie vor und erklärt ihm, ihm 
nicht helfen zu können, da sie in diesem Hause nichts ihr eigen 
nenne. Damit geht sie ins Haus zurück und läfst den Bruder 
draulsen stehen. Er aber erklärt, nicht eher von der Stelle zu 
weichen, als bis er Herrn Ma sein Leid geklagt. In diesem 
Augenblicke kehrt Frau M a allein heim, da ihr Gatte mit seinem 
Söhnchen noch einen Umweg macht, um einen Geldbeitrag für 
den Wiederaufbau eines verfallenen Tempels der kindersendenden 
Göttin Tsz6-sun-niang-niang abzuliefern. Als sie den Fremd- 
ling sieht und erfährt, dafs es der Bruder der Hai -fang ist, 
spielt sie die Edelmütige und redet dieser zu, sie solle doch ihren 



— 381 — 

Kopfschmuck und ihre Kleider dem Bruder schenken, sie wolle 
schon die Verantwortung auf sich nehmen. Hai-t'ang geht mit 
Freuden auf den Vorschlag ein, Frau Ma aber übergibt dem 
ChangLin die Sachen und redet ihm ein, seine Schwester habe^ 
obwohl sie über das ganze Haus verfüge, nichts hergeben wollen, 
so dafs sie genötigt sei, ihm ihre eigenen Sachen zu schenken. 
Empört über die Herzlosigkeit seiner Schwester, schwört Chang 
Lin ihr ewige Feindschaft. 

M a , der bald darauf mit seinem Sohne nach Hause kommt, 
bemerkt sogleich, dals Hai-t*ang ohne den gewohnten Kopf- 
schmuck ist, und fragt seine Gattin, was das zu bedeuten habe. 
Als er aber nun von dieser zu hören bekommt, dafs Hai-t^ang 
nach wie vor ihre früheren Liebschaften fortsetze und das Ge- 
schmeide einem ihrer Verehrer geschenkt habe, kennt seine Wut 
keine Grenzen mehr. Vergeblich sucht Hai-t'ang ihre Unschidd 
zu beteuern: nicht nur dals sie keinen Glauben findet, — sie 
muls noch obendrein eine körperliche Züchtigung über sich er- 
gehen lassen. Auf das Geheifis der Frau Ma mufs Hai-t^ang 
eine Tasse warmer Brühe bringen, um den Tobenden zu beruhigen. 
Unter dem Vorwande, dafs zu wenig Salz darin sei, schüttet sie 
das Gift hinein und heifst dann die Hai-t'ang ihm die Tasse 
reichen. Das Gift tut sofort seine Schuldigkeit, und Ma stürzt 
tot zu Boden. Nun ist natürlich Hai- fang die Schuldige: 
sie soll den Mord begangen haben. Diese ist bereit, sofort das 
Haus zu verlassen , nur ihr Kind bittet sie mitnehmen zu dürfen. 
Aber gerade auf den Besitz des Kindes kommt es Frau M a an, 
denn hat sie dieses erst, so fällt ihr auch das Haus samt dem 
ganzen Vermögen zu. Da keine von beiden nachgeben will, so 
bleibt nur der Urteilsspruch des Richters übrig. Wie gerufen 
erscheint in diesem Augenblicke Chao, der Liebhaber der Frau 
Ma, der seines Amtes Gerichtsschreiber ist imd als solcher die 
Mittel und Wege kennt, um dem Prozefs einen günstigen Aus- 
gang zu sichern. Er rät seiner Geliebten, sofort ihre Klage 
einzureichen, und begibt sich darauf selbst ins Tribunal, um alles 
Nötige vorzubereiten. 

Der zweite Akt enthält die Gerichtsszene und bietet zugleich 
eine boshafte Verhöhnung des Richter- und Beamtenstandes. 
Su Shun ist Statthalter vonCheng-chou und hat als solcher 
den Prozefs zu leiten. Er führt sich gleich mit dem freimütigen 



— 382 - 

Bekenntnis ein, dals er von den gesetzlichen Bestimmungen keine 
Ahnung habe imd es ihm lediglich um das Geld zu tun sei; 
daher sei er auch in allen Fällen bestrebt, es nach Möglich- 
keit beiden Parteien recht zu machen. 

Nim werden die beiden Frauen vor seinen Richterstuhl ge- 
führt, und es beginnt folgende ergötzliche Verhandlung: 

Der Richter. Welche von beiden ist die Klägerin? 

Frau Ma. Meine Wenigkeit ist die Klägerin. 

Der Richter. Dann soll die Klägerin hier niederknieen 
imd die Angeklagte dort. 

(Beide tun, wie ihnen befohlen.) 

Der Richter. Ich fordere die Klägerin auf, ihre Kllage 
vorzubringen und mein Urteil zu erwarten. 

Frau Ma. Ich bin die legitime Frau des Yüan-wai*) 
Ma Kitin-k*ing. 

Der Richter. In solchem Falle bitte ich die Dame, sich 
zu erheben. 

Der Gerichtsdiener. Herr, sie ist ja die Klägerin, — 
wie können Sie sie bitten, sich zu erheben? 

Der Richter. Sie sagt aber doch, dals sie die legitime 
Frau eines Ytian-wai sei! 

Der Gerichtsdiener. Von einem Ytian-wai kann 
keine Rede sein. Hierzulande nennt sich jeder, der etwas 
Geld besitzt, einen Ytian-wai. Das bedeutet nichts weiter als 
einen wohlhabenden Mann, der weder einen Rang besitzt noch 
ein öffentliches Amt bekleidet. 

Der Richter. In solchem Falle mag sie niederknieen. 
Tragen Sie Ihre Klage vor. 

Frau Ma. Die da heist Chang Hai-t'ang und ist eine 
nichtsnutzige Person, die sich der Ytian-wai zur Nebenfrau 
genommen hatte. 

Der Gerichtsdiener. Hm! Ich bin so frei, sie gar nicht 
tibel zu finden! 

Frau Ma. Gewifs ist sie nicht tibel! Sie hielt sich im 



^) Yüan-wai bedeutet ursprünglich einen Mandarin a. D., doch 
wird der Titel im neueren Sprachgebrauch jedem wohlhabenden Manne 
beigelegt, der kein öffentliches Amt bekleidet, so dafs Yüan-wai 
heutzutage ungefähr dasselbe bedeutet wie unser »Rentner*. 



— 383 — 

geheimen einen Liebhaber, durch diesen hat sie sich Gift ver- 
schafft und damit meinen Gatten ermordet. Darauf hat sie 
mir mit Gewalt meinen Sohn entrissen und sich überdies meines 
Vermögens bemächtigt. Ich trage meine Klage Ew. Exzellenz 
vor und bitte um eine Entscheidung. 

Der Richter. Was sich die Frau aufs Reden versteht! 
Man sollte denken, sie hätte eine langjährige Erfahrung in der 
Führung von Anklagen! Aber sie hat so viel in mich hinein- 
geredet, dals ich kein Wort verstanden habe. Man rufe geschwind 
den Gerichtsschreiber. 

Da der Richter nach seinem eigenen Geständnis mit seinem 
Latein zu Ende ist, übeminmit nunmehr der Gerichtsschreiber 
Chao die Leitung des Verhörs. Nachdem Hai-t*ang der 
Wahrheit gemäfs den Beweis geführt hat, dais sie die Mutter 
des Kindes sei, werden zwei Zeuginnen vorgeladen; die eine ist 
die Hebamme LiuSz6-shen, die andere deren Schwägerin, 
die dem Kinde nach der Geburt das Haupthaar abrasiert hat. 
Beide sind von der Klägerin bestochen worden imd sagen daher 
zu deren Gunsten aus. Obwohl das Kind die Hai-t'ang als 
seine Mutter bezeichnet, hält Chao dessen Aussage nicht für 
beweiskräftig und befiehlt den Gerichtsschergen, die Angeklagte 
durch Stockhiebe zum Geständnis zu zwingen. Aus Angst vor 
der Folter legt diese denn auch ein falsches Geständnis ab, und 
es wird beschlossen, den Fall nunmehr der richterlichen Ent- 
scheidung des Oberrichters Pao Cheng in K*ai-feng-fu zu 
unterbreiten. Klägerin und Angeklagte werden abgeführt, und 
der Richter schliefst die Verhandlung mit der folgenden resignierten 
Betrachtung: 

>So wäre denn in dieser Angelegenheit das Verhör beendet. 
Ich meine: wenn ich auch ein Beamter bin, so braucht die Ent- 
scheidung doch nicht von mir auszugehen. Gleichviel, ob man 
sie prügelt oder laufen läfst, ich überlasse alles dem Chao; 
meinetwegen mag man mich für einen Einfaltspinsel halten! 

Ich scher' mich nicht um die Entscheidung 

Und kümmre mich um nichts. 

Mag er entscheiden, wer hier recht hat, 

Mit Prügeln und Verbannung strafen, — 

Ich überlass' es ihm getrost. 

Bekomm' ich nur mein Geld dafür, 

So will ich's redlich mit ihm teilen. 



— 384 — 

Im dritten Akte sehen wir, wie Hai-t*ang, von zwei 
Gerichtsdienem begleitet, nach K'ai-feng-fu befördert wird. 
Es ist Schneegestöber und Glatteis. Völlig entkräftet, gleitet 
sie zu wiederholten Malen aus und wird dafür mit Schlägen 
traktiert. Da plötzlich begegnet ihr als ein deus ex ntachina 
ihr Bruder, der inzwischen eine Anstellung am Tribunal in K*ai- 
feng-fu erhalten und just im Auftrage des Oberrichters Pao 
Cheng eine Reise angetreten hat. Hai-t*ang gibt sich ihm 
zu erkennen und fleht ihn um Hilfe an. Er will zuerst nichts 
von der > feilen Dirne« wissen ; nachdem ihm jedoch die Schwester 
erzählt hat, wie schmählich sie von der Frau Ma verleumdet 
worden, besinnt er sich eines Besseren, und so verfügen sich 
alle zusammen in eine am Wege gelegene Taverne. — Inzwischen 
hat sich aber auch Chao mit seiner Liebsten auf den Weg ge- 
macht. Er hatte nämlich die beiden Schergen bestochen, damit 
sie die Hai-t'ang unterwegs niedermachen sollten, und war nun 
durch ihr langes Ausbleiben argwöhnisch geworden. Vom Un- 
wetter überrascht, sucht das saubere Paar gleichfalls das schützende 
Obdach eben jener Taverne auf. Es folgt eine stürmische Er- 
kennungsszene , die damit endet, dafs Chang Lin den beiden 
Schergen den Befehl gibt, Chao imd dessen Geliebte zu ver- 
haften; statt dessen macht sich der eine der beiden Büttel mit 
ihnen zusammen aus dem Staube, während der zurückbleibende 
sich mit Chang Lin und Hai- fang herumbalgt, bis endlich 
auch die Drei das Lokal verlassen. Schliefslich bleibt der Schenk- 
wirt allein zurück und jammert über die unbezahlt gebliebene 
Zeche. 

Der vierte Akt spielt sich vor dem Tribunal in K'ai- 
feng-fu ab. Der Oberrichter Pao Cheng tritt auf, gibt seine 
Personalien an und rühmt sich, dafs er durch seine strenge 
Rechtlichkeit im ganzen Lande bekannt sei, dafs er sich allezeit 
bemühe, auch die Beamten zu gewissenhafter Pflichterfüllung 
anzuhalten, und alles ttie, um sich der Unterdrückten anzunehmen. 
Darauf erzählt er, dafs ihm soeben ein Bericht über den gegen 
die Hai-t*ang angestrengten Prozefs zugegangen sei. Dafs sie 
den Ma ermordet habe, sei schon möglich, — dergleichen komme 
ja öfter vor; aber zu welchem Zwecke sollte sie den Sohn der 
legitimen Frau an sich genommen haben? Aufserdem werde 
ihr angeblicher Liebhaber nirgends näher bezeichnet, so dafs die 



^ 



— 385 — 

Möglichkeit einer Verleumdung immerhin nicht ausgeschlossen 
sei. Es folgt ein abermaliges Verhör, das jedoch zu keinem an- 
deren Ergebnis führt als das erste. Da befiehlt der Oberrichter 
einem seiner Unterbeamten, einen Kreidekreis auf den Fulsboden 
zu zeichnen und das Kind hineinzustellen: das Kind soll dann 
derjenigen der Frauen zugesprochen werden, der es gelingt, es 
aus dem Kreise herauszuziehen. Zweimal ringen die Frauen um 
die Beute, und beide Male bleibt Frau Ma die Siegerin. »Holla, 
Weib!« sagt nun der Richter, »ich habe bemerkt, dafs du beide 
Male nicht die geringste Kraft angewendet hast, um das Kind 
herauszuziehen ; — Büttel, suche mir einen grolsen Knüppel aus, 
damit ich sie züchtige!« — Hai-t'ang aber fleht ihn an: >0 
Herr, dämpft euren Zorn, der wie Donner und Blitz dahinfährt, 
und seid nicht an Grausamkeit den Wölfen und Tigern gleich! 
Bald nachdem ich mich dem Yüan-wai Ma verbunden hatte, 
gebar ich dieses Kind. Zehn Monate lang habe ich es imter 
dem Herzen getragen, es drei Jahre lang an der Brust genährt, 
alles Bittere von ihm ferngehalten, ihm alles Süfse zugewandt 
und es vor Kälte und Nässe geschützt. Ich habe nicht mit meiner 
Widersacherin gerungen, weil das Kind, nach zwei Seiten gezerrt, 
unfehlbar verletzt worden wäre. Das Kind ist ja noch zart und 
klein, und ich hätte ihm den Arm brechen können. Schlagt 
mich tot, und dennoch würde ich nicht wagen, es aus dem 
Kreidekreis herauszuziehen! O Herr, wenn ihr doch Erbarmen 
mit mir hättet!« 

So kann nur eine Mutter empfinden: jetzt ist der Richter 
von Hai-t*angs Unschuld überzeugt und spricht ihr das 
Kind zu. Mit diesem salomonischen Richterspruch findet die 
eigentliche Handlung des Stückes ihren Abschluls, und es folgt 
nur noch eine kurze Schlulsszene , in welcher Chao und Frau 
Ma, nochmals zur Verantwortung gezogen, endlich ihre Schuld 
eingestehen und zum Tode verurteilt werden. 

Durch die witzige Satire auf den Beamtenstand bildet dieses 
Schauspiel zugleich einen Übergang zur Gattung der Charakter- 
komödie. Der Richter und sein Schreiber sind Charakterfiguren 
von echt chinesischem Gepräge, nicht nur durch den aus dem 
Leben gegriffenen Realismus, der ihnen zu Grunde liegt, sondern 
auch durch die Art, wie sie ins Burleske verzerrt werden. Der 
Chinese hat es in der Kunst zu charakterisieren ziemlich weit 

Grube, Geschichte der ohioetischen Litteratur. 25 



— 386 — 

gebracht, aber dennoch sind dieser Kunst enge Grenzen gesteckt, 
die sie bisher nicht zu überschreiten vermochte; das, was wir 
unter Charakterentwicklung verstehen, wird man im chinesischen 
Drama vergeblich suchen, — über die Charakterschilderung geht 
es nicht hinaus. Überdies werden die im Mittelpimkte der 
Handlung stehenden Typen der Charakterkomödie oft mit allen 
erdenklichen Schwächen und Lächerlichkeiten, sei es ihres Standes, 
sei es einer ausgeprägten individuellen Eigenschaft, derart über- 
häuft, da£s die ursprünglich menschlichen Züge wie in dem Bilde 
eines Hohlspiegels zu fratzenhafter Karikatur entstellt erscheinen. 
Neben einer ausgesprochenen Vorliebe für Satire und mddisance 
ist dem Chinesen auch der Hang zum Grotesken eigen: man 
denke nur an die zu den abenteuerlichsten Formen künstlich ver- 
krüppelten Bäumchen, die seine Gärten und Häuser zieren, an 
die bizarren Schnörkel seiner Arabesken, an die phantastische 
Art der Gesichtsbemalung , die das chinesische Theater für die 
traditionellen Charaktermasken vorschreibt, an die ungeheuer- 
lichen Götterfiguren, welche die Altäre in den Tempeln schmücken, 
und man wird begreifen, dals dieser Hang zu einseitiger Über- 
treibung erst recht in der Charakterkomödie zu förmlichen Ex- 
zessen führen mulste. Bald ist es die sprichwörtliche Käuflich- 
keit und Gewissenlosigkeit des Beamtentums, die hier schonungs- 
los gegeilselt wird, bald der allem Menschenverstände Hohn 
sprechende Wunderglaube der Taoisten, bald wieder das bud- 
dhistische Asketentum, durch dessen Auswüchse das Oberste zu 
Unterst gekehrt wird. Kein Wunder also, dafs gerade die 
Charakterkomödie in besonderer Gunst steht, tmd es ist nur zu 
bedauern, dafs die Erzeugnisse dieser Gattung in der Regel ein 
so unerquickliches Gemisch von wirklich gesundem Humor einer- 
seits imd kindischer Sucht nach geschmacklosen Übertreibungen 
anderseits darbieten, dals uns die Stücke selbst oft lächerlicher 
erscheinen müssen als die in ihnen persiflierten Tjrpen. Ein 
Beispiel dieser Art ist »Der Sklave seines Reichtumsc, K*an- 
ts^iennu, ein Stück, das alle guten und schlechten Eigen- 
schaften seiner Gattung in sich vereinigt^). Ein kinderloser 

^) Ich bin für die flüchtige Skizzierung dieses und des folgenden 
Stückes auf Bazins Übersetzungen angewiesen, da mir der chinesische 
Text leider nicht zu Gebote steht Vgl. übrigens auch Gottschall, 
a. a. O. S. 175 ff. 



— 387 — 

Geizhals wünscht einen Sohn zu adoptieren, damit es dereinst 
seiner abgeschiedenen Seele nicht an der unentbehrlichen Opfer* 
nahrung fehle und sie nicht als hungerndes und obdachloses 
Gespenst umherzuirren brauche. Bald findet sich denn auch ein 
Ehepaar, das zu arm ist, um den einzigen Sohn, der noch in zartem 
Kindesalter steht, ernähren zu können, und sich daher bereit er- 
klärt, ihn gegen eine angemessene Summe Geldes abzutreten. 
Der Geizhals bietet eine Unze Silber. >Was!c ruft die Mutter 
entrüstet, »eine Unze Silber? Dafür bekommt man ja nicht ein- 
mal ein Kind von gebranntem Ton!« — »Freilich nicht,« meint 
jener dagegen gelassen, »aber ein Kind von gebranntem Ton 
ilst dafür auch keinen Reis und verursacht keine Unkosten.« — 
Schlielslich willigt er ein, vier Unzen zu zahlen, und man wird 
handelseinig. Er hat damit immerhin einen wohlfeilen Gelegenheits- 
kauf gemacht, der ihn nicht zu gereuen braucht. 

Im letzten Akte fühlt der alte Geizhals sein Ende heran- 
nahen und ruft den Adoptivsohn, der inzwischen zum Manne 
herangewachsen ist, zu sich, um ihm seinen letzten Willen mit- 
zuteilen. Folgendes ist der Schlufs des Zwiegesprächs zwischen 
Vater und Sohn: 

Der Vater. Mein Sohn, ich fühle, dafs mein Ende naht. 
Sag' mir, in was für einen Sarg willst du mich legen? 

Der Sohn. Wenn ich das Unglück haben sollte, dich zu 
verlieren, Vater, werde ich den schönsten Sarg aus Fichtenholz 
kaufen, den ich finde. 

Der Vater. Begehe keine Torheit ; Fichtenholz ist viel zu 
teuer. Ist man einmal tot, so macht man keinen Unterschied mehr 
zwischen Fichten- und Weidenholz. Ist nicht noch hinter dem Hause 
ein alter Futtertrog? Der würde sich trefflich für einen Sarg eignen. 

Der Sohn. Meinst du? Jener Trog ist aber mehr breit 
als lang; dein Leib wird nicht hineingehen, du bist zu hoch- 
gewachsen. 

Der Vater. Wohlan, wenn er nicht lang genug ist, so 
ist nichts leichter, als meinen Körper zu verkürzen. Nimm eine 
Axt und haue ihn mitten durch. Dann kannst du die beiden 
Hälften aufeinander legen, und das Ganze ist untergebracht. 
Aber noch eins: gebrauche dabei nicht meine gute Axt, sondern 
borge dir eine vom Nachbar. 

25* 



— 388 — 

Der Sohn. Warum soll ich mich an die Nachbarn wenden^ 
da wir selbst doch eine Axt besitzen? 

Der Vater. Du weifst nicht , wie hart meine Knochen 
sind. Wenn da meine gute Axt schartig machst, wirst du ein 
paar Heller fürs Schleifen zahlen müssen. 

Der Sohn. Wie du willst, Vater. Ich möchte nun in den 
Tempel gehen, um Räucherkerzen für dich darzubringen; gib 
mir aber Geld dazu. 

Der Vater. Mein Sohn, es ist nicht der Mühe wert; ver- 
brenne doch keine Räucherkerzen, um mein Leben zu verlängern ! 

Der Sohn: Ich habe schon längst das Gelübde getan und 
darf nicht länger säumen, es zu erfüllen. 

Der Vater. Ach so! du hast ein Gelübde getan? Dann 
will ich dir einen Heller geben. 

Der Sohn. Das ist zu wenig. 

Der Vater. Da sind zwei. 

Der Sohn. Das ist auch noch zu wenig! 

Der Vater. Da hast du drei, — das ist genug und über- 
genug! . . . Mein Sohn, mein letztes Stündlein naht; wenn ich 
nicht mehr bin, vergils nicht, die fünf Heller einzufordern, die 
der Bohnenkäsehändler dir noch schuldet! 

Das Stück ist, wie die mitgeteilte Probe lehrt, nicht ohne 
Hmnor, und der letzte Einfall des sterbenden Geizhalses ist auch 
zugleich der beste des Dichters. Man darf indessen nicht 
glauben, dafs die Farben überall imd immer so dick aufgetragen 
seien wie hier. In den »Intrigen einer Kammerzofe« *) z. B* 
lernen wir eine Charakterkomödie kennen, die mit ihrer feinen 
Komik nie ins Possenhafte verfällt und wohl beanspruchen darf, 
imseren besseren Lustspielen an die Seite gestellt zu werden* 
Was den Inhalt dieser letztgenannten Komödie anlangt, so deckt 
er sich völlig mit dem des Si-siang-ki. Nicht nur die Fabel 
selbst, sondern ganze Szenen, wie die Gartenszene mit der Dar- 
bringung der Räucherkerzen, das nächtliche Stelldichein in eben- 
demselben Garten, der Auftritt zwischen der Mutter des Mädchens 
imd der Zofe, in welchem jene den kürzeren zieht, sind mit der 
naivsten Vorurteilslosigkeit aus dem älteren Schauspiel gestohlen. 
Und dennoch wäre es ungerechtfertigt, das Stück schlechtweg 



') Vollständig übersetzt in Bazins Th^ätre chinois. 



- 389 — 

• 

als ein Plagiat zu brandmarken^ so hoch steht es sowohl an Feinheit 
der Charakterzeichnung als auch an dramatischer Technik über 
dem vorwiegend Ijnisch-melodramatischen Si-siang-ki. Wie 
schon aus dem Titel ersichtlich, handelt es sich hier um den 
häufig wiederkehrenden Soubrettentjrpus , der hier in seiner 
ganzen Durchtriebenheit tmd Schalkhaftigkeit mit vollendeter 
Anmut und Grazie verkörpert wird. 

Der Held des Stückes, Poh Min-chung, und seine Aus- 
erkorene Siao-man sind schon seit Jahren von ihren verstorbenen 
Vätern füreinander bestimmt worden. Als aber der junge Mann 
nach langer Abwesenheit zu seiner zukünftigen Schwiegermutter, 
Frau Han, kommt, um ihr anlälslich des Todes ihres Gemahls 
sein Beileid auszudrücken, stellt jene ihn ihrer Tochter — eben- 
falls nach dem Vorbilde des Si-siang-ki — als »älteren 
Bruderc vor. Darob beiderseits herbe Enttäuschung und heftig 
auflodernde Liebesleidenschaft. Als sich Siao-man mit ihrer 
Kammerzofe, die ihr gegenüber die Ahnungslose spielt, bald 
danach eines Abends im Garten ergeht und an dem Garten- 
hause vorbeikommt, das den Poh Min-chung als Gast be- 
herbergt, dringen die sehnsüchtigen Worte eines Liebesliedes 
an ihr Ohr, das jener in seiner Einsamkeit zur Laute singt. 
Wie von ungefähr läfst Siao-man vor der Türe des Garten- 
hauses ein Riechtäschchen eigener Arbeit zu Boden fallen, auf 
welches sie ein Verslein gestickt, das den Gefühlen ihres 
Herzens Ausdruck gibt. 

Da Poh Min-chung ernstlich krank zu werden 
droht, schickt Frau Han am nächsten Tage die Zofe 
zu ihm, um sich nach seinem Befinden zu erkundigen. 
Nun kann der verliebte Jüngling nicht länger an sich halten, er 
bekennt ihr seine Liebe zu Siao-man und beschwört sie, ihm 
zu helfen. Schliefslich sinkt er sogar — eine nach chinesischen 
Begriffen ebenso unerhörte wie unerlaubte Selbsterniedrigung 
des Mannes einem Weibe gegenüber — vor ihr auf die Kniee 
nieder und spricht: »Nichts kann mein Leiden heilen, es sei 
denn, dafs Fräulein Siao-man sich meiner erbarmen will; nur 
so kann sie mein Leben retten!« — »Erhebt euch, Herr!« ent- 
gegnet die Zofe; »wie könnt ihr euch vor einem Weibe so er- 
niedrigen! Wüst Ihr denn nicht, dals Confucius gesagt hat: 
,Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, der die Tugend so 



— 390 — 

Hebte wie die Lust'?*) Das trifft bei Euch zu.€ — Darauf jener: 
»Wundert Euch nicht, Jungfer, dafs ich einen Augenblick hier 
vor Euch kniee ; wenn Ihr so gut sein wolltet, ihr nur ein einzig 
Wort zu übermitteln, so will ich gern bis morgen früh in dieser 
demütigen Stellung verharren Ic 

Es darf nicht wunder nehmen, dafs die Zofe gebildet genug 
ist, sogar Aussprüche des Confucius aus dem Lun-yü zu 
zitieren. Frau Han ist nämlich eine Schwester des berühmten 
Han Yü (s. oben S. 300 ff.) und hat als solche darauf gehalten^ 
dafs ihre Tochter eine sorgfältige Erziehung erhielt. Da nun 
die Zofe an dem Unterrichte ihrer jungen Herrin teilnehmen 
durfte, so verfügt sie über ganz ansehnliche Kenntnisse in der 
klassischen Litteratur, und es ist höchst ergötzlich, wie sie jede 
Gelegenheit wahrnimmt, um dem jungen Gelehrten mit ihren 
Lesefrüchten aufzuwarten und ihn mit feiner Ironie unter Hin- 
weis auf die Schicklichkeitsvorschriften des Li-ki in die 
gebührenden Schranken zurückzuweisen. Als ihr nun aber in 
der soeben angedeuteten Szene Poh Min-chung das corpus 
delicti in Gestalt des verhängnisvollen Riechtäschchens hinhält, 
ist sie entwaffnet. »Das ist ja ein Riechtäschchen, das das Fräulein 
selbst gestickt hatlc ruft sie. »Sollte sie etwa dabei eine geheime 
Absicht im Sinne gehabt haben? Ah, mein Fräulein! Sie 
haben also Geheimnisse vor mir? — Übrigens bin ich meiner 
Sache noch nicht sicher. Ich will das Riechtäschchen mitnehmen 
und der Siao-man den Ausdruck Eurer Gefühle übermitteln. c 
Ja, sie erklärt sich sogar bereit, einen Liebesbrief des Poh Min- 
chung an seine Adresse zu befördern. Damit nimmt sie die 
Fäden der Intrige in die Hand, und der weitere Verlauf der 
Handlung ist aus dem Si-siang-ki bekannt. Die Haupt- 
vorzüge des Stückes sind neben der anmutig bewegten Handlung 
ein fein pointierter Dialog und die dichterische Schönheit seiner 
lyrischen Bestandteile. Alles in allem genommen würde es sich 
in einer zweckentsprechenden Bearbeitung selbst auf einer euro- 
päischen Bühne gar nicht so übel ausnehmen. 

Das mythologische Drama unterscheidet sich nur durch seine 
Stoffe, die durchweg der Welt des Wunderbaren und Über- 
sinnlichen entnonmien sind, von den bisher erwähnten dramatischen 



') Dieser Ausspruch findet sich im Lun-yü, IX, 17. 



— 391 — 

Gattungen. Götter und Genien spielen in ihm die führende 
Rolle, im übrigen ist jedoch auch hier die Intrige in der Regel 
das bewegende Prinzip der Handlung. Durch den oft jähen 
Wechsel von Erhabenem und Lächerlichem berührt sich das 
mythologische Drama vielfach mit der Charakterkomödie. In- 
haltlich gehören die mythologischen Dramen teils dem taoistischen, 
teils dem buddhistischen Ideenkreise an, und die Persiflierung 
des Glaubens an die Seelenwanderung, zu dem sich ja bekannt- 
lich beide Religionen bekennen, bildet ein sehr beliebtes Motiv 
in ihnen. — 

In der dramatischen Dichtung der Ming-Zeit (1368 — 1644) 
nimmt das P * i - p * a - k i , »Die Geschichte einer Lautet *), die 
weitaus hervorragendste Stellung ein. Gleich demSi-siang- 
ki wird es zu den zehn besten Schöpfungen auf dem Gebiete 
der leichten Litteratur gezählt, und eine der Ausgaben dieses 
Stückes enthält nicht weniger als vierzehn Vorreden, deren 
Verfasser nicht müde werden, seine Vorzüge zu preisen. Von 
dem Dichter, KaoTung-kia mit Namen, wissen wir nur, dals 
er vermutlich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts gelebt 
habe. Die erste Aufführung seines Werkes fand im Jahre 1404 statt. 

Der Held des Stückes ist der junge Baccalaureus Tsai 
Yung, der mit seinen Eltern und seiner Frau Chao Wu- 
niang zusammen in einem entlegenen Grenzdorf e lebt. Der 
Vater besteht darauf, er solle sich in die Hauptstadt begeben 
und sich an der öffentlichen Staatsprüfung beteiligen. Die Mutter 
widersetzt sich der beabsichtigten Trennung nach Kräften, und 
der junge Mann glaubt die Gebote der Kindespflicht zu ver- 
letzen, wenn er seine bejahrten Eltern verlassen würde, obschon 
ihm wohl hauptsächlich die Liebe zu seiner Frau, mit der er erst seit 
zwei Monaten verheiratet ist, den Entschluls so schwer macht. 
Schlielslich bleibt ihm indessen nichts anderes übrig, als sich 
dem Willen des Vaters zu beugen, und nachdem ihm des letzteren 
Freund, der alte Chang, gelobt hat, sich für die Dauer seiner 
Abwesenheit der Eltern anzunehmen, macht er sich auf den 
Weg nach Ch'ang-ngan, der damaligen Hauptstadt des 
Reiches. 



') Le Pi-pa-ki, ou l'histoire du luth, drame chinois de Kao- 
tong-kia, trad. par M. Bazin. Paris 1841. Auch für die Analyse 
dieses Dramas bin ich einzig auf die Übersetzung angewiesen. 



— 392 — 

Von nun an zerfällt die Handlung in zwei getrennte Teile, 
von denen der eine im heimatlichen Dorfe, der andere in der 
Hauptstadt spielt. Schon im zweiten Bilde sehen wir uns in das 
vornehme Haus des Staatsministers Niu versetzt, für dessen 
schöne Tochter sich bisher noch kein würdiger Bewerber ge- 
funden hat. Da kommt Tsai Yung in die Hauptstadt und 
besteht das Staatsexamen, das übrigens mit beilsender Satire ins 
Lächerliche gezogen wird, so glänzend, dals er die Aufmerksam- 
keit des Kaisers auf sich lenkt, der ihn mit der Tochter seines 
Ministers zu verheiraten wünscht. Daraufhin schickt dieser eine 
Ehevermittlerin zu Tsai Yung, der natürlich das Anerbieten 
mit dem Bescheide ablehnt, dals er bereits verheiratet sei. Der 
Minister will sich jedoch eine solche Demütigung von dem jungen 
Manne nicht gefallen lassen und besteht darauf, den kaiserlichen 
Willen durchzusetzen. In seiner Bedrängnis richtet Tsai Yung 
der mittlerweile zum Zensor ernannt worden ist, ein Gesuch an 
den Thron, in welchem er den Kaiser anfleht, sowohl auf das 
ihm zugedachte Amt als auch auf die Heirat verzichten zu 
dürfen. Allein, auch dieser Schritt führt zu keinem Erfolge: 
des Kaisers Befehl, heilst es in dem ablehnenden Bescheide, 
sei unwiderruflich, und Fürstendienst gehe vor Eltemdienst. 
So muls er sich wohl oder übel der höheren Weisung fügen und 
zieht als Schwiegersohn des Ministers in dessen Haus. 

Allein so sehr sich auch seine neue Frau, die ahnungslose 
Niu Shi, bemüht, die Liebe ihres Gatten zu gewinnen, vermag 
sie es doch nicht, die Schwermut, die ihn stets imifangen hält, 
zu verscheuchen. Nur im Saitenspiel findet er Trost in dem 
Kummer, der an seinem Herzen nagt. Als ihn aber Niu Shi 
einmal bittet, ihr doch etwas vorzusingen, will es ihm nicht recht 
gelingen, und auf ihre Frage, woran das liege, sagt er nur aus- 
weichend, die neue Laute sei ihm ungewohnt, die alte aber, auf 
der er bisher gespielt, sei zerschlagen. Sie blickt jedoch tiefer 
\md meint, es liege wohl weniger an der Laute als an seinem 
Herzen: seine Gedanken schienen anderswo zu weilen. Schliefs- 
lich schickt er die Frau zu Bett und hängt einsam seinen Ge- 
danken nach. Aber auf die Dauer kann die geheime Ursache 
seines Kummers doch nicht verborgen bleiben. Eines Tages 
belauscht ihn Niu Shi, wie er, sich selber überlassen, seinem 
Schmerze Worte leiht. Nun gesteht sie ihm, dafs sie alles wisse 



— 393 - 

und fest entschlossen sei^ sich auf der Stelle mit ihm auf den 
Weg zu machen^ um die Seinen aufzusuchen. Dieser Plan wird 
indessen nicht ausgeführt ^ sondern der Minister schickt statt 
dessen einen Boten in das Heimatsdorf des Tsai Yung, mit 
dem Auftrage, dessen Eltern und Gattin nach der Reichshaupt- 
stadt zu geleiten. 

In der Heimat aber hat sich inzwischen alles verändert. 
Durch Milsemte und Hungersnot sind Tsai Yungs Eltern ins 
tiefste Elend geraten. In rührendster Weise sorgt Chao Wu- 
niang für ihre Schwiegereltern, solange sie noch am Leben sind, 
indem sie ihr eignes Hab und Gut für sie dahingibt. Ohne den 
Sohn wiedergesehen zu haben, stirbt erst die Mutter und bald 
nach ihr auch der Vater. In seinem Zorne über den Sohn, der 
weder ins elterliche Haus zurückkehrt, noch auch etwas von sich 
hören läfst, rät der Alte, während er im Sterben liegt, seiner 
Schwiegertochter, sich nach seinem Tode aufs neue zu verheiraten, 
wovon diese jedoch nichts wissen will; seinen alten Freund 
Chang aber beauftragt er, seinen Sohn, falls er je heimkehren 
sollte, mit Stockhieben zu züchtigen und zum Hause hinauszu- 
jagen. Damit segnet er das Zeitliche. Chao Wu-niang 
schneidet sich das Haar ab und bittet den Chang, es zu ver- 
kaufen und mit dem Erlöse das Begräbnis zu bezahlen. Nimmer- 
mehr, sagt aber dieser; die Begräbniskosten werde er bestreiten, 
und das Haar wolle er als ein Zeugnis ihrer Kindesliebe auf- 
bewahren. Wenn dereinst Tsai-Yung heimkehre, solle er es 
zu sehen bekommen, damit er sich seiner Handlungsweise schäme. 

Nach vollzogenem Begräbnis fertigt sie ein Bildnis ihrer 
verstorbenen Schwiegereltern an, um in der Feme an den vor- 
geschriebenen Tagen das Totenopfer vor demselben darbringen 
zu können. Dann macht sie sich, als Nonne verkleidet, auf den 
Weg nach Ch'ang-ngan. Mit ihrer Laute zieht sie von Dorf 
zu Dorf und verdient sich unterwegs ihren Lebensunterhalt, 
indem sie Lieder zum Lobe der Kindesliebe singt. Endlich nach 
langer Wanderschaft in der Hauptstadt angelangt, erblickt sie, 
während sie in einem Buddhatempel ihre Andacht verrichtet, 
den Tsai Yung, der sie jedoch nicht erkennt. Nachdem sie 
von seinem Gefolge erfahren hat, dafs er im Hause des Ministers 
Niu lebe, begibt sie sich am nächsten Tage unter dem Vorwande, 
Almosen zu erbitten, dorthin. 



~ 394 — 

Nach einem längeren Gespräch, in welchem sie der Niu 
Shi ihre Lebensschicksale erzählt, gibt sie sich ihr schlielslich 
zu erkennen, und die beiden Frauen schlielsen die innigste 
Freundschaft. Um den Tsai Yung auf die Probe zu stellen, 
hängen sie das von Chao Wu-niang gemalte Bild heimlich 
in seinem Zinmier auf. 

Die letzte Szene zeigt uns den Tsai Yung, wie er in 
seinem Gemache sitzt und erst im Shu-King, darauf im Ch ' un- 
ts^iu blättert. Überall treten ihm in den altehrwürdigen Texten 
rührende Beispiele der Kindesliebe entgegen, und dabei konmit 
ihm die Ironie seines eigenen Schicksals so recht zum Bewulst- 
sein: er, der als armer, unwissender Mann mit Leichtigkeit 
die Gebote der Kindesliebe hätte erfüllen können, ist gerade 
durch seine Studien genötigt worden, sie zu verletzen. Er legt 
die Bücher beiseite und gibt sich den Gedanken an die Seinen 
hin. Da gewahrt er plötzlich das Bild seiner Eltern an der 
Wand. Er ruft seine Frau herbei und fragt sie, wer in seinem 
Zinmier gewesen sei. Niemand, lautet die Antwort. Wie er 
nun aber das Bild näher betrachtet, gewahrt er auf dessen Rück- 
seite eine Aufschrift in Versen, die lauter versteckte Anspielungen 
auf ihn enthalten. Unter anderem ist in ihnen von Sung Hung 
und Wang Yün die Rede. Ersterem ward vom Kaiser eine 
Prinzessin zur Frau angeboten, er aber lehnte sie ab, weil er 
seine eigene Gattin nicht zum Range einer Konkubine herab- 
drücken wollte ; Wang Yün hingegen hatte in einem ähnlichen 
Falle in entgegengesetztem Sinne gehandelt. Auf die Frage 
seiner Frau, welchem von beiden er recht gebe, sagt er, natür- 
lich dem Sung Hung. Wenn nun aber plötzlich seine legitime 
Gattin in Lumpen gehüllt vor ihm erschiene, würde er sich ihrer 
dann nicht dennoch schämen? Entrüstet weist er solchen Ver- 
dacht von sich. Da sagt ihm Niu Shi, dafs die Verse von 
Chao Wu-niang verfalst seien, und ruft sie herein. Jetzt 
erst erfährt er, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hat. 
Tiefergriffen wirft er sich vor dem Bilde seiner Eltern nieder 
und dankt der Chao Wu-niang für ihre aufopfernde Treue, 

Dies ist in seinen wesentlichen Zügen der Inhalt des Stückes; 
eine ganze Reihe einzelner Episoden, die in keinem unmittel- 
baren Zusanmienhange mit dem allgemeinen Gange der Hand- 
lung stehen, habe ich, so charakteristisch sie auch zum Teil sind, 



— 395 — 

absichtlich unerwähnt gelassen, um den Leser nicht durch ein 
Übermals an Detail zu ermüden. 

Nach allem, was wir darüber wissen, scheint das P * i - p ' a - k i 
einen tieferen und nachhaltigeren Eindruck bei Mit- und Nach- 
welt hervorgebracht zu haben als irgend ein anderes Erzeugnis 
der gesamten dramatischen Litteratur, und diesen aufsergewöhn- 
liehen Erfolg verdankt es wohl in allererster Linie seiner ethischen 
Tendenz: es ist, sozusagen, das hohe Lied der Kindesliebe, die 
ja unter allen Tugenden die erste Stelle einninmit. Eine Vor- 
rede zu unserem Drama, die vom Jahre 1704 datiert ist, schliefst 
mit den Worten: >Wer das P'i-p'a-ki des Kao Tung-kia 
liest und keine Tränen dabei vergiefst, ist ein Mensch, der seine 
Eltern nie geliebt hat.€ Aber selbst wenn man von diesem 
spezifisch chinesischen Standpunkte absieht, wird man zugeben 
müssen, dafs der Inhalt der Fabel mannigfaltig und spannend 
genug ist, um das Interesse von der ersten bis zur letzten Szene 
rege zu erhalten. Dennoch scheint mir Bazin, der verdienst- 
volle Übersetzer des P*ip*a-ki, zu sehr unter dem Einflüsse 
der chinesischen Kritiker zu stehen, wenn er in diesem Werke 
einen gewaltigen Fortschritt gegenüber dem älteren chinesischen 
Drama erblickt. Durch die örtliche Scheidung der Vorgänge, 
wie sie in dem Stücke durchgeführt ist, zerfällt die Handlung in 
zwei gesonderte Hälften, die nahezu unvermittelt nebeneinander 
herlaufen, — ein Dualismus, den die erzählende Form des Romans 
mit Leichtigkeit überwinden kann, der aber im Drama um so 
störender wirkt. Man gewinnt dadurch mehr den Eindruck 
eines dialogisierten Romans als den eines Dramas. Um den 
inneren Zusammenhang der Begebenheiten notdürftig zu wahren, 
war der Dichter gezwungen, von der üblichen Einteilung in 
vier oder fünf Akte abzusehen und die Handlung in 24 Einzel- 
bilder zu zerlegen, die in ziemlich willkürlicher Folge bald im 
Heimatsdorf e des Helden, bald in der Hauptstadt spielen. Eine 
unvermeidliche Folge dieses umständlichen Verfahrens war die 
übergrofse Länge des Stückes, die übrigens auch von chinesischen 
Kritikern gerügt worden ist. Der Verfasser der vorhin er- 
wähnten Vorrede nimmt den Dichter freilich auch gegen diesen 
Vorwurf in Schutz: »Wenn man«, sagt er, »der Ente die Beine 
verlängern wollte, weil sie zu kurz seien, so würde man sie ver- 
stümmeln, und wenn man dem Storche den Hals verkürzen wollte. 



— 396 — 

yifeil er zu lang sei, so würde man ihn töten. Was hat es zu 
sagen, ob ein Werk lang oder kurz ist? Nicht darin liegt sein 
Wert.f Der knappe Rahmen von vier oder fünf Akten, wie ihn 
die dramatischen Dichter der Mongolenzeit sich zur Regel machten, 
erforderte eine gedrängte Behandlung des Stoffes und eine über- 
sichtliche und klare Gliedenmg der Handlung. Indem Kao 
Tung-kia von dieser Norm abwich, näherte er sich wieder dem 
Typus des älteren Dramas, wie er uns im Si-siang-ki vor- 
liegt ; und wenn sein Stück auch mit den Dramen der Mongolen- 
zeit den Vorzug einer dramatisch bewegten Handlung teilt, so 
leidet es doch anderseits an der gleichen Formlosigkeit wie 
das Si-siang-ki. 

Leider ist uns die dramatische Litteratur der nächstfolgenden 
Jahrhunderte bisher noch so wenig bekannt, dals sie sich einst- 
weilen der Beurteilung entzieht. Erst für die neueste Zeit liegen 
die Verhältnisse in dieser Beziehung wieder günstiger. 

2. Theater und Drama der Gegenwart. 

Noch heute besteht in China ein gewisser Zusammenhang 
zwischen religiösem Kultus und Theater. Nicht nur finden wie 
vor alters auch jetzt noch bei den feierlichen Opferzeremonien, 
an denen sich der kaiserliche Hof beteiligt, die althergebrachten 
pantomimischen Tänze statt, — auch im modernen Volkskultos 
spielt das Theater eine hervorragende Rolle, und es gehört zu 
den Seltenheiten, wenn ein Tempelfeöt, wie es alljährlich in jedem 
grölseren Tempel gefeiert wird, nicht mit theatralischen Ver- 
anstaltungen verbunden ist. Daher findet man vor den meisten Tem- 
peln, die sich eines grölseren Zuspruchs von Seiten der Bevölkerung 
erfreuen, besonders vor denen der Stadtgötter und sonstiger 
lokaler Schutzgottheiten, offene Bühnen, die diesem Zwecke 
dienen. Meist sind es erhöhte, nach drei Seiten hin offene, über- 
dachte Pavillons, die in der Regel im Tempelhofe gegenüber dem 
Hauptgebäude der Tempelanlage stehen. Die mit zwei Türen 
versehene Rückwand bildet die einzige Kulisse dieser höchst 
primitiven Bühnen. Die Stücke selbst, die bei solchen Gelegen- 
heiten zum besten gegeben werden, stehen ihrem Inhalte nach 
gewöhnlich in gar keinem Zusammenhange mit der religiösen 
Feier, sondern sind der überwiegenden Mehrzahl nach durchaus 
profaner, oft nur zu profaner Natur; sie haben eben keinen 



— 397 - 

anderen Zweck als den, Göttern und Menschen zur Belustigung 
und Kurzweil zu dienen, wie denn überhaupt die feierlichen Ver- 
anstaltungen und Prozessionen des chinesischen Volkskultus ein 
vorwiegend karnevalistisches Gepräge tragen. Die Kosten für 
derartige Aufführungen werden auf dem Wege der Sub- 
skription von den Bewohnern des Stadtviertels, in welchem sich 
der betreffende Tempel befindet, zusammengebracht. Oft werden 
auch auf Strafsen und öffentlichen Plätzen auf leichtem Bretter- 
gerüst improvisierte Bühnen errichtet und durch ein Mattendach 
gegen Sonne und Regen geschützt. Stehende Theater sind 
meines Wissens, von Peking abgesehen, nur in den grölseren 
Hafenstädten anzutreffen. In Peking selbst aber gibt es eine 
recht stattliche Anzahl von Theatern, die sich sämtlich in der 
sogenannten Chinesenstadt befinden; doch darf man sich auch 
von diesen hauptstädtischen Kunsttempeln keine übertriebene 
Vorstellung machen, — weder auf geschmackvolle Ausstattung 
noch auf Sauberkeit wird der geringste Wert gelegt. 

Der Zuschauerraum enthält ein Parterre und einen Balkon, 
der in Logen eingeteilt ist. Die beiden der Bühne zunächst 
gelegenen Seitenlogen gelten, wie unsere Fremdenlogen, für be- 
sonders vornehm. Lange Tafeln, die vor den Sitzbänken auf- 
gestellt sind, ermöglichen den Zuschauem, während der Vorstellimg 
gleichzeitig auch leiblichen Genüssen zu frönen. Die Bühne 
selbst ist derart in den Zuhörerraum hineingebaut, dals sie von 
drei Seiten her übersehen werden kann. Sie darf nach Süden, 
Osten oder Norden, unter keinen Umständen jedoch nach 
Westen gerichtet sein, weil der Westen dem unglückbringenden 
Gestirn des weifsen Tigers Untertan ist. Sie ist kaum weniger 
dürftig ausgestattet als der Zuschauerraum. Als einzige 
Kulisse bildet eine gemalte, mit zwei Türen versehene Haus- 
faoade den Hintergrund; durch die linke Tür betreten die 
Schauspieler die Bühne, durch die rechte verlassen sie dieselbe. 
Auch in betreff sonstiger Theaterrequisiten behilft man sich, 
so gut es eben gehen will. Gebirge, die überschritten, 
Mauern, die gestürmt werden sollen, werden durch aufeinander 
gestellte Tische und Bänke versinnbildlicht, die dann den ge- 
wandten Mimen eine erwünschte Gelegenheit bieten, die dra- 
matische Handlung noch obendrein durch akrobatische Kunst- 
leistungen zu beleben. Soll aber etwa der Held des Stückes auf 



^ 398 — 

feurigem Rosse einhersprengen , so ist das Verfahren noch ein- 
facher: er steckt sich einen Stab zwischen die Beine und hüpft 
auf seinem improvisierten Steckenpferde gravitätisch auf der 
Bühne umher, ohne dabei im mindesten einen unfreiwilligen 
Lacherfoig befürchten zu müssen. So tief das moderne chinesische 
Drama auch sonst von seiner einstigen Höhe herabgesunken ist, — 
den einen Vorzug wird man ihm dennoch zuerkennen müssen, 
dals es den Zuschauem die Möglichkeit gewährt, ihre eigene 
Phantasie zu betätigen. 

Aulser den öffentlichen Theatern gibt es auch noch in den 
meisten grölseren Restaurants Bühnen, die für Privatvorstellungen 
vermietet werden. 

Jedes Theater steht unter der Verwaltung eines in der Regel 
aus mehreren Mitgliedern bestehenden Direktoriums. Will dieses 
eine Truppe engagieren, so schliefst es am Jahresschlüsse mit 
dem Leiter derselben für eine beliebige Zeitdauer einen Vertrag 
ab, wobei die Vertragsbedingungen natürlich je nach der Güte 
der Truppe verschieden sein können ; bei besonders renommierten 
Truppen fallen dem Direktorium gewöhnlich 20 Prozent, der 
Truppe 80 Prozent der Einnahme zu. Die Mitglieder einer 
jeden Schauspielertruppe stehen unter der Botmälsigkeit eines 
Direktors, in dessen Händen die Geschäftsleitung ruht, und von 
dem sie ihr Gehalt vierteljährlich ausgezahlt erhalten; nur 
renommiertere Schauspieler beziehen aufser ihrem Quartalsgehalt 
noch ein besonderes Spielhonorar für jedes Auftreten und stehen 
sich auf diese Weise mitunter sehr gut. Die Mitglieder des 
zum Palaste gehörenden kaiserlichen Privattheaters rekrutieren 
sich ausschliefslich aus der Zahl der Palasteunuchen ; sie nehmen 
eine Sonderstellung ein und stehen in keinerlei Verbindung mit 
den sonstigen Bühnen der Residenz. Alle übrigen Bühnenmitglieder 
Pekings gehören einer gemeinsamen Gilde an und stehen unter 
der verantwortlichen Oberaufsicht von sechs Obmännern, die den 
Titel Miao-shou, Tempelhäupter«, führen, weil sie ihre Ver- 
sammlungen in einem Tempel abhalten, der dem Schutzgotte des 
Theaters, Lao-lang-shen, geweiht ist. 

Das Schauspielerpersonal besteht ausnahmslos aus Mitgliedern 
männlichen Geschlechts ; die weiblichen Rollen werden von Knaben 
ausgeführt, und zwar meist in so vollendeter Weise, dals die 
Täuschung eine vollkommene ist. Ebensowenig wie die Bühne 



— 399 — 

ist aber auch der Zuschauerraum, in Peking wenigstens, wo mir 
die Verhältnisse aus eigener Anschauung bekannt sind, dem 
weiblichen Geschlechte zugänglich. Nur Männern ist der Be- 
such öffentliciier Theater gestattet; um aber die Frauen für diese 
Beeinträchtigung schadlos zu halten, werden hin und wieder be- 
sondere Aufführungen für sie veranstaltet, die meist in Tempeln, 
bisweilen aber auch in Privathäusern stattfinden. Auf jeden 
Tisch im Zuschauerräume wird ein roter Zettel mit dem Namen 
der Dame, die ihn belegt hat, geklebt, und die Inhaberinnen 
von Plätzen sorgen dafür, dals ihre Tische durch seidene Decken, 
hübsches Teegeschirr u. dgl. einen möglichst eleganten Anblick 
gewähren. Am Tage der Aufführung erscheinen dann die Damen 
im schönsten Staate, von ihren Mägden begleitet, deren jede 
neben dem Sitze ihrer Herrin stehen zu bleiben hat. Bei der 
Wahl der Stücke wird natürlich auf den Geschmack des weib- 
lichen Publikums Rücksicht genommen und besonders bei Lust- 
spielen und Possen darauf geachtet, dals sie sich in den Grenzen 
des Anstandes halten. 

Wenden wir uns nunmehr dem Repertoire des chinesischen 
Theaters der Gegenwart zu, so muls leider konstatiert werden, 
dafs es damit so traurig wie nur möglich bestellt ist. Das ältere 
Drama ist gänzlich von der Bühne verschwunden, und was an 
seine Stelle getreten ist, besteht der überwiegenden Mehrzahl 
nach aus ganz minderwertigen Erzeugnissen, die offenbar nur 
den Zweck haben, das Unterhaltungsbedürfnis der grolsen Menge 
zu befriedigen. Was die Gattungen des modernen Dramas an- 
langt, so unterscheiden die Chinesen in erster Linie zwischen 
Wen-hi, »Zivilschauspielen«, undWu-hi, »kriegerischen« oder 
iMilitärdramen«. Die ersteren entsprechen mehr oder weniger 
unserem Begriffe des Schauspiels, während die letzteren vor- 
wiegend aus Kampfszenen bestehen, in denen gymnastische und 
akrobatische Vorführungen die Hauptrolle spielen. Neben diesen 
beiden Hauptgattungen, die das höhere Drama repräsentieren, 
gibt es dann noch Lustspiele und Possen, die wiederum in 
Nao-hi, »Lärmspiele«, und Fen-hi, »geschminkte oder über- 
tünchte Stücke«, eingeteilt werden. Beiden letztgenannten 
Gattungen gemeinsam ist der Charakter des Derbkomischen, Bur- 
lesken, und sie scheinen sich im Grunde nur dadurch voneinander 
zu unterscheiden, dafs jene von diesen an Obszönität noch über- 



— 400 — 

boten werden. Im Gegensatz zum älteren Drama bedient sich 
das der Gegenwart durchweg, auch in seinen für den Gesang 
bestimmten Bestandteilen, des Stiles der niederen Umgangssprache 
und besteht, mit Ausnahme von einigen wenigen zweiaktigen 
Stücken, stets aus nur einem Akte. Inhaltlich entsprechen die 
Zivil- und Militärdramen zumeist dem historischen und m^'tho- 
logischen Schauspiel des älteren Theaters, und ihre Stoffe sind, 
wenn nicht ausnahmslos, so doch zum bei weitem gröfsten Teile be- 
kannten Romanen entnommen. Ein Beispiel wird genügen, um 
den Charakter des modernen höheren Dramas zu veranschaulichen, 
und ich wähle für diesen Zweck den »Gurt des Himmels und 
der Erdec, K*ien-k^un-tai, weil dieses Schauspiel zu den 
volkstümlichsten Zugstücken der Pekinger Bühne gehört und 
daher besonders geeignet erscheint, den herrschenden Kunst- 
geschmack zu kennzeichnen. 

Das Stück beginnt mit einem längeren Monolog des zweiten 
Kaisers der T*ang-Dynastie, Li Shi-min mit Namen. Er führt 
in die Fabel des Stückes ein und hat in Kürze folgenden Inhalt. 
Li Yüan, der Vater des Li Shi-min, stand, bevor er sich 
des Thrones bemächtigt hatte, im Dienste des Kaisers der 
Sui-Dynastie Yang-ti (605 — 617). Nachdem er nach einem 
siegreichen elfjährigen Feldzug in die Hauptstadt heimgekehrt 
war, gab der Kaiser ihm zu Ehren ein glänzendes Gastmahl, 
auf welchem ihn jedoch der Prinz YangKuang, ein Sohn des 
Kaisers*) gröblich beleidigte. In seinem Zorn versetzte Li Yüan 
dem Prinzen einen Schlag mit einem Weinbecher und machte 
sich ihn dadurch zum Feinde. Auf den Thron gelangt, machte 
sich Yang Kuang durch seine Grausamkeit verbalst und fiel 
nach einer kaum einjährigen Regierung durch Mörderhand. Li 
Yüan, der sich der besonderen Gunst zweier Konkubinen des 
verstorbenen Kaisers Yang-ti erfreute, wurde nuimiehr auf den 
Thron erhoben, was einen Aufstand zur Folge hatte. Von den 
drei Söhnen des Li Yüan war Li Shi-min der befähigste, 
und da er sich zugleich die Liebe aller zu erwerben gewufst 
hatte, übertrug der Vater ihm die Niederwerfung des Aufstandes, 



*) Hier springt der Dichter ziemlich willkürlich mit der Geschichte 
um. Tatsächlich war nämlich jener Yang Kuang nicht ein Sohn 
des Yang-ti, sondern mit diesem identisch. 




- 401 - 

in der richtigen Voraussetzung, dals sich die Mehrheit der Nation 
ihm anschlielsen würde. Li Shi-min entledigte sich denn auch 
seines Auftrages in glänzender Weise und folgte dann seinem 
Vater auf dem Throne. Bald darauf aber überfiel der König von 
Si-fan (Tibet) die Grenzen des Reiches, und der Kaiser hat 
sich genötigt gesehen, seinen Schwiegersohn Ts'in Hoai-yüh 
gegen ihn ins Feld zu schicken. Noch ist der Ausgang des 
Krieges ungewils. 

Gegen Ende des Monologs ertönt Wehklagen hinter der 
Szene, und im nächsten Augenblick betritt die Kaiserin Chan, 
die zweite Gemahlin des Kaisers, die Szene. Schluchzend be- 
richtet sie dem Kaiser, dafs Ts'in Ying, der Sohn der Prin- 
zessin Yin-p'ing, der Tochter des Kaisers und Gemahlin des 
soeben erwähnten Ts*in Hoai-yüh, ihren Vater, den kaiser- 
lichen Erzieher Chan, mutwilligerweise erschlagen habe. Der 
Kaiser erteilt einem der diensttuenden Eunuchen den Befehl, die 
Prinzessin samt ihrem ungeratenen Sohne vorzuführen. Beide 
erscheinen, und während Ts^in Ying in einiger Entfernung 
niederkniet, tritt die Prinzessin vor das Antlitz ihres Vaters. 
>Mein Kind,€ fragt dieser sie, »siehst du dein Vergehen ein?€ 

Die Prinzessin. Ja, mein Vater. Ts^in Ying kniet 
gefesselt im Winkel der Halle und harrt des Urteils meines 
kaiserlichen Vaters. 

Der Kaiser. So ist's recht. Richte dich auf, meine 
Tochter. 

Die Prinzessin. Habe Dank, mein Vater. 

Der Kaiser. Henker! 

Der Henker. Zu Befehl. 

Der Kaiser. Führe den Ts^in Ying gefesselt vor. 

Der Henker. Zu Befehl. 

(Der Henker führt den Delinquenten vor.) 

Ts'in Ying. Ich, TsMn Ying, trete vor den Thron und 
wünsche meinem Kaiser zehntausend Jahre! 

Der Kaiser. Ah! Ehi bist mir ein verwegener Bursche, 
Ts'in Ying! Neulich hast du erst den Ch^en Hiung er- 
schlagen, und bevor ich noch Zeit fand, dich zu bestrafen, hast 
du jetzt wieder den kaiserlichen Erzieher Chan ermordet. So 
sollen denn beide Frevel auf einmal gesühnt werden. Henker! 

Grnbe, Getchichte der chinesischen Litteratur. 26 



— 402 — 

Der Henker. Hier bin ich. 
Der Kaiser. Enthaupte ihn. 
Der Henker. Zu Befehl. 
Ts*in Ying. (Zur PrimeMin.) O Muttcr ! 
Die Prinzessin. Wehe! (Singt:) 

Nachdem von meines Vaters Lippen 

Der Urteilsspruch gefallen, 

Wird nun mein Kind vor meinen Augen 

Dahinziehn in die Welt der Schatten! 

O Henker! halte ein 

Und schone noch des jungen Herrn; 

Wird der Befehl dann abermals erfolgen, 

So magst dein Schwert du aus der Scheide ziehn! 

(Der Henker hält den T8<in Ying surfick.) 

Die Prinzessin. Eunuch^ du aber bitte in meinem Namen 
die Kaiserin^ herzukommen. 

Der Eunuch. Zu Befehl. 

Es erscheint nun die Kaiserin Chang-sun, die erste Ge- 
mahlin des Kaisers und Mutter der Prinzessin, und legt sich zu 
Gunsten ihrer Tochter und ihres Enkelsohnes ins Mittel. Die 
Szene, die jetzt folgt, läfst den Kaiser nicht ohne Humor in der 
Rolle eines Pantoffelhelden erscheinen: 

Die Kaiserin. In der Audienzhalle ist ja so viel von Hin- 
richten die Rede, — welcher Grofswtirdenträger ist es denn, der 
.hingerichtet werden soll? 

Der Kaiser. Es handelt sich um den Ts'ing Ying. 

Die Kaiserin. Was hat er denn verbrochen? 

Der Kaiser. Er hat den kaiserlichen Erzieher Chan er- 
schlagen. 

Die Kaiserin. In Anbetracht der kriegerischen Verdienste, 
die sich zehn grofse Männer aus dem Hause Ts*in erworben 
haben, dürfte doch wohl nichts anderes übrigbleiben, als ihn zu 
begnadigen, statt ihn hinzurichten? 

Der Kaiser. Mein Entschlufs steht bereits fest. 
Die Kaiserin. Ich habe ein Anliegen vorzutragen. 
Der Kaiser. Ach! Die kümmert sich auch um alles! 
Die Kaiserin. Zehntausend Jahre seien dir beschieden. 

(Singt:) 

Ich bitte dich, mein Fürst, auf mich zu hören 
Und meine Worte wohl zu überlegen: 



— 403 — 

Begnadige den Schuldigen fürs erste 
Und warte, bis sein Vater heimgekehrt; 
Hernach magst du das Weitere beschliefsen. 

Der Kaiser. (Singto 

Ich rate dir, verliere keine Worte 
Und höre, was ich dir verktlnde: 
Ich will hier gar nicht davon reden, 
Dafs ein Verwandter meines Hauses 
Es war, den er erschlug; 
Gleichviel, ob vornehm ob gering, — 
Der Frevel fordert Stlhne. 

Die Kaiserin. (Zur PinscMin.) Mein Kind, trage dein An- 
liegen vor. 

Die Prinzessin. (Singt.) 

Noch hat mein Vater den Befehl, 

Ihn zu begnadigen, nicht erlassen. 

Und bange Sorge nagt an meinem Herzen. 

Die Tränen strömen unaufhaltsam mir. 

Und knieend trag' ich meine Bitte vor: 

Geruhe, Vater, mir Gehör zu schenken. 

Wenn du Ts*in Ying dem Tode tiberlieferst. 

Bleibt keiner mehr aus dem Geschlechte Ts^in> 

Der seinen Ahnen opfern könnte. 

Erbarme dich, begnadige ihn einstweilen. 

Und ist mein Gatte erst daheim. 

Bleibt Zeit genug noch, weitres zu beschliefsen. 

Chan-fei, die erste Nebenfrau des Kaisers. (Siogto 
Auch ich hab' eine Bitte vorzutragen. 

Die Kaiserin. Was da! Wer bist du, dafs du es wagst, 
uns, Mutter und Tochter, entgegenzutreten? 

Chan-fei* Majestät! Jene beiden haben ihr Anliegen vor- 
bringen dürfen ; sollte es mir versagt sein, ein Wort hinzuzufügen ? 

Der Kaiser. Sie ist in ihrem Rechte. Ihr beiden habt 
euer Anliegen vorgebracht; soll es ihr versagt sein, ein Wort 
hinzuzufügen? 

Die Kaiserin. So mag sie denn reden, sie hat das Recht 
dazu. 

Der Kaiser. Wohlan, wenn du mir etwas mitzuteilen hast, 
so tue es; ich will mich deiner annehmen. 

Die Kaiserin. (Zur PrinrcMin.) Mein Kind, trage dein An- 
liegen dem Kaiser vor; ich, deine Mutter, stehe für dich ein. 

26* 



— 404 — 

Der Kaiser. (Zn chan-fei.) Richte dich auf, meine Gemahlin. 
Die Kaiserin. (Zur Prinzestin.) Setze dich, mein Kind. 
Chan-fei. Majestät! (Singto 

Ich bitte dichf mein Ftlrst, auch mich zu hören 
Und meine Worte wohl zu tiberlegen: 
Was hat mein Vater je verbrochen, 
Dafs er sein Leben lassen mnfste? 

Der Kaiser. (Singto 

Schwer fällt mir die Entscheidung! 

Die Kaiserin. (Weinend.) O mein Enkel! 
Die Prinzessin. (Weinend.) O mein Sohn! 
Chan-fei. (Weinend.) O mein alter Vater! 

In diesem erbaulichen Stile geht es noch eine Weile fort, bis 
der Kaiser sich endlich aus seiner Unentschlossenheit aufrafft und 
seiner Tochter rät, der Chan-fei einen Becher Wein darzubieten 
und ein freundliches Wort zu sagen. Einen Augenblick schwankt 
die Prinzessin, da ihr Stolz sich dagegen bäumt, als Tochter der 
rechtmäfsigen Kaiserin vor der Nebenfrau des Kaisers nieder- 
zuknieen, bis sie es auf Zureden ihrer Mutter dennoch tut. Durch 
diesen Akt der Selbsterniedrigung gewinnt sie das Herz der 
Chan-fei, die nunmehr Hand in Hand mit ihr vor den Kaiser 
hintritt und ihn auch ihrerseits bittet, Gnade vor Recht ergehen 
zu lassen. Gerührt durch die Grofsmut seiner Nebenfrau, erteilt 
der Kaiser den Begnadigungsbefehl und sagt dem Ts*in Ying, 
als dieser ihm fufsfällig dankt: »Nicht ich bin es, der dir den 
Tod erlassen wollte; der Bitte der Frau Chan hast du es zu 
verdanken. Nun gehe deiner Wege!« 

Nachdem Ts*in Ying auch der Chan-fei seinen Dank 
abgestattet hat, tritt er ab, und die Frauen ziehen sich gleichfalls 
in ihre Gemächer zurück. In diesem Augenblick aber erscheint 
der Minister Siü Tsih mit der Nachricht, dafs Ts*in Hoai-yüh, 
vom Feinde umzingelt, sich in bedrängter Lage befinde imd 
dringend um Hilfskräfte bitte. Auf den Vorschlag des Ministers 
verleiht nun der Kaiser dem Ts*in Ying das Feldhermsiegel 
samt dem iGurte des Himmels imd der Erde« (als Abzeichen 
seiner neuen Würde) und befiehlt ihm, seinem Vater zu Hilfe zu 
eilen. Der neuernannte Feldherr benimmt sich bei dieser Ge- 
legenheit recht kindlich, indem er dem Siü Tsih gesteht, dafs 



— 405 — 

er nicht wage, abermals Menschen zu erschlagen, da er dadurch 
ja nur sein Leben verwirken würde! Erst nachdem ihm jener 
klargemacht hat, dafs es ein Unterschied sei, ob man einen Mord 
verübe oder in ehrlichem Kampfe den Gegner töte, zieht er fröh- 
lich lachend von dannen. 

Dieses armselige Machwerk, das sich, wie gesagt, heutzutage 
einer aufserordentlichen Beliebtheit erfreut, lälst mit hinlänglicher 
Deutlichkeit erkennen, wie tief das chinesische Drama sowohl 
dem Inhalte wie der Form nach von seiner einstigen Höhe herab- 
gesunken ist. Von dramatischer Handlimg ist in den modernen 
Einaktern kaum mehr die Rede, sie sind nichts anderes mehr 
als dramatisierte Romanepisoden, die als solche von Rechtswegen 
nicht einmal beanspruchen dürfen, für eine selbständige dichterische 
Gattung zu gelten. Und der Erfindungsarmut entspricht in 
der Regel die hausbackene Prosa der Diktion. Selbst die für 
den Gesang bestimmten Verse unterscheiden sich nicht sowohl 
durch höheren Schwung der Rede, als vielmehr nur durch ihre 
metrische Form und die Art ihres Vortrages vom übrigen 
Dialoge, wie denn der Gesang im modernen Drama überhaupt 
nicht mehr die Bedeutung hat wie früher, sondern nur in leiden- 
schaftlich erregter Rede als Ausdruck des Affektes ver- 
wendet wird. 

Gegenüber dieser trostlosen Beschaffenheit des ernsteren 
Dramas haben das Lustspiel und die Posse wenigstens den 
Vorzug aufzuweisen, dafs sie ihre Stoffe dem täglichen Leben 
entnehmen und hie und da wirklich gesunden Humor verraten; 
auch werden sie, wie ich mich aus eigener Anschauung über- 
zeugen konnte, im Gegensatz zu der konventionellen Mimik des 
höheren Dramas mit einer so frischen Natürlichkeit gespielt, 
dafs man an ihnen erst gewahr wird, was für vortreffliche Schau- 
spieler die Chinesen im Grunde sind. Im übrigen kehren jedoch 
in ihnen dieselben altbekannten Typen wieder, die schon in der 
älteren Charakterkomödie im Vordergrunde standen: hier wie 
dort gehören buddhistische Bonzen und taoistische Priester zu 
den beliebtesten Zielscheiben des Spottes. Leider sind die 
modernen Lustspiele und Possen durchweg in solchem Grade 
obszön, dafs mir wenigstens kein einziges Stück dieser Art 
bekannt ist, das eine Wiedergabe zuliefse. 



— 406 — 

II. Die erzahlende Litteratur. 

1. Der Roman. 

Das San-kuoh-chi yen-i, »Die erweiterte Geschichte 
der drei Staatenc ^), ist nicht nur zeitlich, sondern auch seiner 
litterargeschichtlicben Bedeutung nach der erste Roman, den die 
chine^sche Litteratur aufzuweisen hat. Mag es auch im übrigen 
von anderen Dichtungen erzählenden Charakters durch mancherlei 
Vorzüge, insonderheit den grölserer Einheitlichkeit, tibertroffen 
werden, — an Volkstümlichkeit steht es sicherlich ohnegleichen da. 
In der Tat dürfte es wohl kaum einen des Lesens kimdigen Chinesen 
geben, der dieses Buch nicht gelesen und wiederholt gelesen hätte; 
und wer der schwarzen Kunst nicht selber mächtig ist, der hat es 
wenigstens von einem jener öffentlichen Erzähler, Shuoh-shu- 
tih, wie sie in jeder gröfceren Stadt anzutreffen sind, vortragen 
hören. Das San-kuoh-chi ist dem Chinesen ungefähr das, 
was dem Griechen die Ilias war: sein nationales Heldenepos. 
Und auch darin ist es jener ähnlich, dafs von seinem mutmalslichen 
Verfasser Lo Kuan-chung, der in der Zeit der Mongolen- 
herrschaft lebte, aulser dem Namen nichts weiter bekannt ist. 
Der Dichter ist völlig hinter seinem Werke verschwunden, — 
dieses aber lebt dafür bis auf den heutigen Tag in aller Munde. 

Wir sind gewohnt, das San-kuoh-chi als einen geschicht- 
lichen Roman zu bezeichnen, obwohl vielleicht »romantische Ge- 
schichte« ein passenderer Name dafür wäre, da es nicht sowohl 
eine in sich abgeschlossene Erzählung der Lebensschicksale eines 
Helden als vielmehr einen Zyklus von Abenteuern und Mären 
darstellt, der sich über einen Zeitraum von siebenundneimzig 
Jahren ausdehnt. Wie aus dem Titel ersichtlich, behandelt das 
San-kuoh-chi hauptsächlich die auf die H an -Dynastie fol- 
gende Periode innerer Kämpfe (220—265), während welcher das 
Reich in drei selbständige Staaten geteilt war: Wei im Norden, 
Wu im Osten und Shuh im Westen; doch beginnt die Erzählung 
bereits mit der Regierung des Kaisers Ling-ti (168 — 189), unter 
der der Zusammenbruch des Hauses Han seinen Anfang nimmt. 



*) Th. Pavie, San-kou^-tchy, Histoire des trois royaumes, 
roman historique, traduit sur les textes chinois et mandchou. 2 vols. 
Paris 1845—51. Leider ist diese Übersetzung unvollendet geblieben. 



— 407 — 

Minderjährig zur Herrschaft gelangt, war der Kaiser ein willen- 
loses Werkzeug in den Händen der Eunuchen, die durch ihre 
Milswirtschaft das Reich dem Untergange entgegenführten. 
Wunderbare Naturereignisse, Überschwemmungen, Milswachs und 
Seuchen liefsen als warnende Vorboten des zürnenden Himmels 
das drohende Unheil vorausahnen. So heilst es gleich zu 
Beginn der Erzählung: 

»Im zweiten Jahre der Regierungsperiode Kien-ning (169), 
am fünfzehnten Tage des vierten Monats, hatte der Kaiser 
sämtliche Würdenträger zur Audienz versanmielt, aber als er 
gerade im Begriffe war, seinen Thronsessel einzunehmen, erhob 
sich plötzlich aus einer Ecke der Halle ein heftiger Windstols, 
und gleichzeitig ward eine etwa zwanzig Klafter lange Schlange 
sichtbar, die sich vom Dachgebälk auf den Thronsessel hernieder- 
liefs. Entsetzt sank der Kaiser zu Boden, und während die in 
seiner Nähe befindlichen Offiziere ihm zu Hilfe sprangen, wurden 
zahllose Beamte im Tumulte auf den Eingangsstufen der Palast- 
halle niedergeworfen. Das Ungetüm aber war im Nu wieder 
verschwunden. Bald darauf entlud sich ein heftiges Hagelwetter, 
das erst um Mittemacht aufhörte. Einige tausend Häuser der Re- 
sidenz wurden bei dieser Gelegenheit zerstört. 

Im zweiten Monate des vierten Jahres der Regierungsperiode 
Kien-ning fand in Loh-yang ein Erdbeben statt, durch 
welches die Stadtmauern einstürzten. Die Meereswogen über- 
fluteten die Gebiete von Teng-chou, Lai-chou, I-chou imd 
Mih-chou, deren ganze Bevölkerung ins Meer hinausgespült 
wurde. Darauf änderte der Kaiser die Bezeichnung seiner Re- 
gierung, indem er ihr den Namen H i - p * i n g , ,Glück und Friede', 
gab. Von nun an ereigneten sich jedoch Aufstände in den 
Grenzgebieten, so dafs der Kaiser im fünften Jahre seiner Re- 
gierungsperiode (178) diesen Namen wiederum inKuang-huo, 
,glänzende Eintracht*, umänderte« *). 



') Jede Regierungsperiode wird durch eine vom Kaiser gewählte 
glückverheifsende Devise bezeichnet, die er, falls sie sich, wie in dem 
vorliegenden Falle, nicht bewährt, durch eine andere, nach seiner An- 
sicht passendere ersetzen kann. Kuang-siüh z. B. ist nicht der 
Name des gegenwärtig regierenden Kaisers, sondern nur die von ihm 
gewählte Bezeichnung seiner Regierung und bedeutet (eine seltsame 
Ironie des Schicksals!) »Fortsetzung des Glanzes«. 



— 408 — 

Zu alledem kam dann noch einige Jahre später der Auf- 
stand der sogenannten G^lbmützen, der von einem taoistischen 
Magier namens Chang Kioh organisiert worden war — eine 
Bewegung, die alle charakteristischen Merkmale der Massen- 
suggestion aufweist. Die Begebenheiten, um die es sich hier 
handelt, bilden gewissermafsen das Vorspiel zum eigentlichen 
Gegenstande der Dichtung und werden mit folgenden Worten 
geschildert. 

>Chang Kioh war von Hause aus ein Kandidat, der die 
Staatsprüfung nicht bestanden hatte. 

Als er eines Tages in die Berge gegangen war, um Heilkräuter 
zu sammeln, begegnete ihm dort ein alter Mann mit blauen 
Augen und dem Antlitz eines Kindes, der sich auf einen Stab 
stützte. Er hiels den Chang Kioh ihm in seine Höhle folgen 
und übergab ihm daselbst ein aus drei Abschnitten bestehendes 
Buch, das den Titel: ,Die wichtigsten Mittel und Zauberformeln 
für die Herstellung allgemeiner Ruhe^ trug. Gleichzeitig sag^e 
er ihm: ,Richte deine Gedanken auf das Tao, verbreite im 
Namen des Himmels Bekehrung und erlöse alle deine Mitmenschen. 
Wenn du eine andere Gesinnung in dir aufkeimen läfst, so wirst 
du bösen Lohn ernten.' Chang Kioh dankte ihm und fragte 
ihn nach seinem Namen. Jch bin der alte Unsterbliche von 
Nan-hoa', erwiderte der Greis und entschwand darauf seinen 
Blicken ;ChangKioh aber nahm das Buch an sich und studierte 
Tag und Nacht darin, bis er im Stande war, Wind und Regen 
herbeizuzaubern. Von nun an nannte er sich T*ai-pMng tao- 
jen, ,den taokundigen T'ai-p'ing*. ') 

Als sich im ersten Monate des ersten Jahres der Regierungs- 
periode Chung-p'ing (184) eine Seuche im Lande verbreitete, 
verteilte er durch 2^uberformeln geweihtes Wasser, worauf die 
Krankheit schwand. Dadurch kam er in den Ruf eines grofsen 
Weisen und trefflichen Lehrers. Er liels die Kranken persönlich 
zu sich kommen und ihre Sünden bekennen, imd wenn sie ihre 
Missetaten bereuten, liefs er sie zu Glück und Vorteil gelangen. 

Chang Kioh hatte über fünfhundert Jünger, die allent- 
halben umherzogen und Kranke heilten. In der Folge wuchs 
die Zahl seiner Anhänger derart an, dafs er sie in sechsund- 



') T^ai-p'ing bedeutet »allgemeine Ruhe«. 



- 409 — 

dreilsig Reviere einteilte. Die gröfseren unter ihnen zählten 
je zehntausend; die kleineren je sechs- bis siebentausend Köpfe^ 
und jedes Revier stellte er unter den Befehl eines Anführers. 
Dabei redete er den Leuten ein, da£s der blaue Himmel gestorben 
sei und nunmehr der gelbe Hinmiel zur Herrschaft gelangen 
werde, sowie auch dafs in diesem Jahre, das unter dem zyklischen 
Zeichen Kiah-tszfe stand*), dem Reiche grofses Heil beschieden 
sei. Zugleich liefs er die beiden Schriftzeichen Kiah und tsz6 
mit Kreide an alle Haustore schreiben, wie auch in sämmtlichen 
Städten und Marktflecken die Tore der Tempel und öffentlichen 
Gebäude mit diesen Zeichen versehen wurden. 

Inzwischen sandte Chang Kioh den Oberbefehlshaber Ma 
Ytian-i heimlich mit Geschenken aus, um Bundesgenossen an- 
zuwerben, und es gelang ihm auf diese Weise, einen Eimuchen 
namens Feng Siti als Mitverschworenen zu gewinnen. Darauf 
beriet er sich mit seinen beiden Brüdern Chang Liang und 
Chang Pao und sprach: ,Das Schwierigste war, die Herzen 
der Bevölkerung zu gewinnen. Wollten wir nun, nachdem ims 
dies gelungen ist, die Gelegenheit unbenutzt lassen, so würden 
wir das in alle Ewigkeit zu beklagen habend 

Nachdem sich Chang Liang mit der Ansicht seines älteren 
Bruders einverstanden erklärt hatte, fertigten sie gelbe Banner 
an und trafen die Verabredung, am fünften Tage des dritten 
Monats gemeinsam vorzugehen. Chang Kioh entsandte darauf 
seinen Jünger T'ang Chou als Eilboten zu Feng Siü, um 
diesen von seinem Vorhaben in Kenntnis zu setzen. T*ang 
Chou aber begab sich statt dessen geradeswegs in den kaiser- 
lichen Palast und brachte dort die Verschwörung zur Anzeige. 
Auf Befehl des Kaisers zog nun der Feldherr Ho tTsin mit 
einer bewaffneten Macht aus und nahm den Ma Yüan-i gefangen, 
worauf er ihn enthaupten liefs; Feng Siü und Genossen aber 
wurden ins Gefängnis geworfen. 

Als Chang Kioh erfuhr, dafs sein Plan ruchbar geworden 
war, rüstete er ein Heer aus. Sich selbst proklamierte er zum 
,General des Hinmiels^, den Chang Pao ernannte er zum ,G€neral 



^) Der chinesischen Zeitrechnung liegen sechzigjährige Jahres- 
zyklen zu Grande, deren erstes Jahr mit dem zyklischen Namen Kiah- 
tszö bezeichnet wird. 



— 410 — 

der Erde' und den ChangLiang zum ^General der Menschen^ 
Darauf erliefe er einen Aufruf an das Volk, der folgenden Wort- 
laut hatte: ^Nunmehr ist das Schicksal der Han besiegelt; es 
ist ein grolser Heiliger erstanden! Euch aber geziemt es, dem 
Himmel zu gehorchen und dem, was recht ist, zu folgen, auf 
dafs ihr euch allgemeiner Ruhe erfreuet!' 

Allenthalben banden sich die Leute gelbe Tücher um die 
Köpfe, und die Zahl derer, die sich dem Aufstande des Chang 
Kioh anschlössen, betrug vierzig- bis fünfzigtausend. Sengend 
und plündernd durchzogen sie die Ortschaften, deren Beamte, 
sobald sich das Gerücht von ihrem Herannahen verbreitete, nach 
allen Windrichtungen hin das Weite suchten. Da riet Ho Tsin 
dem Kaiser, unverzüglich ein Edikt mit der Aufforderung zu 
erlassen, den Rebellen überall entgegenzutreten und sie aus- 
zurotten. Aufserdem wurden erlesene Truppen nach drei Rich- 
tungen hin ausgesandt, um die Aufständischen anzugreifen. 

Inzwischen fiel Chang Kioh mit seinem Heere zuerst in das 
Grenzgebiet von Yu und Yen ein. Da begab sich der Unter- 
befehlshaber Tsou Tsing (von Yen) zu Liu Yen, dem Statt- 
halter von Yu-chou, der ihn fragte, was nun angesichts der 
Invasion der Gelbmützen geschehen solle. Tsou Tsing ent- 
gegnete darauf: ,Der Kaiser hat durch einen Erlafs geboten, 
die Aufständischen allerorten zu bekämpfen; warum, erlauchter 
Herr, kommt Ihr mit Eurer Heeresmacht dem Reiche nicht zu 
Hilfe ?^ 

Liu Yen gab seinen Worten recht und liefs nun überall 
durch öffentliche Anschläge Freiwillige unter die Waffen rufen, 
die nach Mafegabe ihrer Fähigkeiten Verwendung finden sollten. 
Als der Aufruf auch im Bezirke Choh-hien bekannt wurde, 
geschah es, dafs durch denselben ein Held aus dem zu jenem 
Bezirke gehörenden Dorfe Lou-sang-ts*un angelockt ward. 
Es war das ein Mann, der keine besondere Freude am Bücher- 
studium, um so gröfsere aber an Hunden und Pferden fand; er 
liebte Musik und schöne Kleider , war wortkarg , aber höflich 
gegen jedermann, weder Freude noch Zorn äufserte sich in 
seinen Mienen. Er trachtete danach, sich mit den tapferen 
Recken, die sich im Reiche umhertummelten, zu verbinden. Wie 
er von Natur von grofsem Ehrgeiz erfüllt war, so mafe auch 
sein Körper eine Höhe von sieben Schuh fünf Zoll. Seine Ohren 



— 411 ~ 

reichten bis an die Schultern, die Arme hingen ihm bis auf die 
Kniee herab, und mit seinen Augen vermochte er die eigenen 
Ohren zu sehen; sein Antlitz glich dem edelsten Jaspis, und 
seine Lippen waren zinnoberrot. Er war ein Nachkomme des 
Han-Kaisers King-ti und hiefs Liu Pei; sein Beiname war 
Hüan-teh. 

Liu Pei hatte seinen Vater früh verloren und sorgte mit 
der grölsten kindlichen Hingebung für seine Mutter. Da die 
Familie arm war, erwarb er sich seinen Lebensunterhalt durch 
den Handel mit Strohsandalen und durch Mattenflechten. Im 
südöstlichen Winkel seines Anwesens stand ein Maulbeerbaum, 
der über fünf Klafter hoch war; schon von weitem sah man 
sein Laub, das sich, einem Wagendache ähnlich, schichtenweis 
türmte. Alle, die da aus- und eingingen, sagten, dafs der Baum 
nicht von gewöhnlicher Art sei, und der Wahrsager Li Ting 
hatte prophezeit, dafs aus jenem Hause dermaleinst sicherlich 
em grofser Mann hervorgehen werde. Als Hüan-teh einmal 
als kleiner Knabe mit seinen Altersgenossen aus dem Dorfe unter 
dem Baume spielte, sagte er: ,Wenn ich erst Kaiser geworden 
bin, werde ich in einem Wagen fahren, der mit solchem Feder- 
schirm versehen ist wie dieser Baum.' Sein Oheim aber sprach 
damals warnend zu ihm: ,Führe keine aberwitzigen Reden, 
durch die du unser Haus zu Grunde richten kannst!' 

Als Hüan-teh fünfzehn Jahre alt war, schickte ihn seine 
Mutter zur Schule. In Anbetracht seiner Armut pflegte ihn 
sein Oheim Liu Yüan-k'i beständig zu unterstützen, und als 
dessen Gattin einmal meinte, dafs ein jeder sein eigenes Haus 
habe und man daher nicht immer für andere sorgen könne, ent- 
gegnete jener: ,Unser Geschlecht besitzt an diesem Knaben einen 
Sprofs, der nicht ein Mensch gewöhnlichen Schlages ist.' 

Im ersten Jahre der Regierungsperiode Chung-p'ing ( 184), 
da in der Provinz Choh-kiün Truppen angeworben wurden, 
war Hüan-teh achtundzwanzig Jahre alt. Vor dem Plakate 
stehend, tat er einen tiefen Seufzer und wandte sich dann zum 
Gehen, als plötzlich jemand mit lauter Stinmie hinter ihm her- 
rief: ,Heda Mann! Warum seufzest du, statt deine Kräfte in 
den Dienst des Reiches zu stellen?' — Hüan-teh sah sich um 
und erblickte nun einen Mann, der seine acht Schuh mafs; er 
hatte einen Pantherkopf mit runden Augen und einen Schwalben- 



— 412 — 

Schnabel mit Tigerborsten*), seine Stimme glich dem Rollen des 
Donners und seine Kraft der eines Rennpferdes. Als Hüan-teh 
diesen so ungewöhnlich ausschauenden Mann erblickt hatte, begab 
er sich mit ihm zusammen ins Dorf und fragte ihn nach seinem 
Namen. 

,Ich heifse Chang Fei,' erwiderte jener, ,und mein Bei- 
name ist I-teh. Ich habe einen ansehnlichen Grundbesitz in 
der Provinz Choh-kiün und bin Weinhändler und Metzger; 
aber vor allem suche ich die Freundschaft tapferer Recken. 
Nun gewahrte ich dich just, wie du den Aufruf lasest, — aber 
aus welchem Grunde seufztest du dabei so tief?' 

Htian-teh entgegnete: ,Ich bin ein Abkömmling des Hauses 
Han, ich heilse Liu Pei, und mein Beiname ist Hüan-teh. 
Soeben vernehme ich die Kunde von dem Aufstande der Gelb- 
mützen, die raubend und plündernd in den Provinzen hausen. 
Wohl hätte ich das Verlangen, sie aus dem Lande hinauszufegen 
und die Monarchie wieder aufzurichten, aber leider reicht meine 
Kraft dazu nicht hin.' 

,Das ist mir gerade recht', meinte der andere. ,Es fehlt 
mir nicht an Genossen in meinem Dorfe ; wie wäre es, wenn wir 
gemeinsame Sache machten?' 

Hüan-teh war über diesen Vorschlag hocherfreut und 
setzte sich mit Chang Fei zu einem Becher Wein nieder. 
In diesem Augenblicke sah er, wie ein Mann von hohem Wüchse 
vor dem Thore der Herberge vom Karren stieg, um einen Trunk 
zu nehmen, sich auf einer Bank von Maulbeerholz niederliefs 
und dem Wirt zurief: ,Flugs Wein her! Ich mufs unverzüglich 
weitereilen, um mich dem Heere anzuschliefsen, und könnte 
leicht zu spät kommen!' 

Als Hüan-teh den neim Schuh drei Zoll hohen Mann mit 
seinem fast zwei Fufs langen Barte, mit dem dattelbraunen 
Antlitz und den zinnoberroten Lippen, mit den Phönixaugen und 
den Brauen darüber, die schlafenden Seidenraupen glichen, ge- 
wahrte, lud er den Fremden, der ein so gewaltiges und furcht- 
einflölsendes Aussehen hatte, ein, sich zu ihm und seinem Ge- 
nossen zu gesellen. Auf die Frage nach seinem Namen erwiderte 

') Tigerkopf und Schwalbenschnabel gelten als Merkmale kriege- 
rischer Tüchtigkeit, wie aus der Biographie des Pan Ch^ao imHou- 
han-shu zu ersehen ist. 



— 413 — 

jener: ,Ich heifse Kuan Yu, und mein Beiname lautete ursprüng- 
lich Ch*ang-sheng, doch habe ich ihn in Ytin-ch'ang 
umgeändert. Ich bin aus Hiai-liang östlich vom Gelben Flusse 
gebürtig. Nachdem ich jedoch in meiner Heimat einen Tyrannen^ 
der im Vertrauen auf seine Macht alle Welt vergewaltigte, er- 
schlagen hatte, mufste ich fliehen und habe nun seit fünf, sechs 
Jahren keinen festen Wohnsitz mehr. Da ich just von dem Auf, 
ruf zur Unterdrückung des Aufstandes der Gelbmützen hörte 
gedenke ich mich anwerben zu lassen/ 

Da teilte ihm Hüan-teh seine Absichten mit, und die 
drei Männer verfügten sich frohgemut nach dem Anwesen des 
Chang Fei, um sich gemeinsam über die Zustände im Reiche 
zu besprechen. 

Da sowohl Kuan Yü wie Chang Fei jünger waren als 
Hü an teh, ordneten sie sich diesem als ihrem älteren Bruder 
unter. ChangFei aber sagte: ,Ich habe hinter meinem Hause 
einen kleinen Pfirsichgarten, dessen Bäume gerade in voller 
Blüte stehen; wie wäre es, wenn wir dort morgen dem Himmel 
ein weifses Rofs und der Erde eine schwarze Kuh opferten und 
einen Bruderbund auf Leben und Tod miteinander schlössen?. 

Mit Freuden gingen die beiden anderen auf den Vorschlag 
ein. Am darauffolgenden Tage legten sie im Pfirsichgarten 
Opfergeld aus Gold- und Silberpapier nieder und breiteten die 
beiden geschlachteten Opfertiere auf der Erde aus. Alsdann 
warfen sie sich unter Darbringung von Räucherkerzen auf ihr 
Antlitz nieder und taten folgenden Schwur: 

,Obwohl wir drei, LiuPei, Kuan Yü und Chang Fei, 
verschiedenen Namens sind, verbinden wir uns als Brüder, um 
einmütig mit vereinten Kräften die Errettung aus der Bedrängnis 
zu bewirken und die Gefahr abzuwenden, auf dafs wir nach 
oben hin dem Herrscher unsere Dankesschuld entrichten und 
nach unten hin dem Volke den Frieden wiedergeben. Sind 
wir auch nicht in demselben Jahre und Monde, noch an dem- 
selben Tage geboren worden, so hoffen wir darum nicht minder, 
in demselben Jahre und Monde und an demselben Tage sterben 
zu können. Erhabener Hinmiel und du, o Herrscherin Erde! 
Spiegelt euch in diesen unseren Herzen, und sollten wir je 
eurer Gnade vergessen, so mögen Himmel und Menschen uns 
verderben!* 



— 414 — 

Darauf begrülsten KuanYü und ChangFei denHüan- 
teh als ihren älteren Bruder, und nach beendeter Opfer- 
darbringung warfen sich alle drei vor der greisen Mutter des 
Htian-teh auf ihr Antlitz nieder. Die Opfergaben aber ver- 
teilten sie imter die tapferen Männer des Dorfes, deren sich 
ihnen über dreihundert anschlössen, und vereinigten sich mit 
ihnen gemeinsam zu einem fröhlichen Gelage im Pfirsichgarten. 

Als sie am nächsten Tage ihre Waffen in Bereitschaft setzten, 
erwies es sich leider, dafs sie keine Pferde hatten; während 
sie jedoch noch darüber beratschlagten, wie diesem Mangel ab- 
zuhelfen wäre, kam einer mit der Meldung, dafs zwei Fremde 
mit einem Gefolge von zehn Dienern und einer Anzahl Pferde 
im Dorfe eingetroffen seien. ,So hilft uns der Himmel selbst 
das grofse Werk vollbringen!* rief Hüan-teh und ging mit den 
beiden Freunden den Ankömmlingen entgegen. 

Die beiden Fremden, die an der Spitze des Zuges gingen, 
waren Grofskaufleute aus Chung-shan; der eine hiefsChang 
Shi-p'ing, der andere Su Shuang. Sie pflegten alljährlich 
nach Norden zu wandern, um dort Pferde einzuhandeln; da aber 
gerade der Aufstand ausgebrochen war , hatten sie umkehren 
imd den Heimweg antreten müssen. Hüan-teh nötigte sie in 
sein Haus, wo er ihnen Wein vorsetzte und von seinem und 
seiner Genossen Entschlufs, das Volk von der Plage zu befreien 
und dem Hause Han beizustehen, erzählte. Als Chang Shi* 
p*ing und SuShuang das vernahmen, waren sie hocherfreut 
und erklärten sich bereit, dem Hüan-teh fünfzig edle Rosse 
zu überlassen; aulserdem schenkten sie ihm noch fünfhundert 
Unzen Silber und Gold sowie tausend Pfund Stahl und Eisen. 

Nun berief Hüan-teh einen tüchtigen Waffenschmied, der 
für ihn ein doppelschneidiges Schwert, für KuanYü eine zwei- 
undachtzig Pfund schwere Hellebarde mit sichelförmiger Spitze 
und für Chang Fei eine stählerne Lanze anfertigte. Nachdem 
die drei bis an die Zähne gepanzert, und fünfhundert Mann voll- 
ständig ausgerüstet waren, begaben sie sich zu Tsou Tsing, 
der sie dem Kommandanten Liu Yen zuführte. 

Nach beendeter Begrtifsungszeremonie gab jeder seinen Namen 
imd Herkunft an, und bei dem Namen Liu Pei rief Liu Yen in 
heller Freude: ,Da du ein Anverwandter des Hauses Han bist, 
brauchst du dich nur einmal auszuzeichnen, um sicherlich eine 



- 415 — 

ehrenvolle Verwendung zu finden!^ Er behandelte den Hü an- 
te h daraufhin als seinen Neffen*). 

Während Liu Yen seine Reiterei aufstellte, kam die Nach- 
richt, Ch*engYtian-chi, ein Oberbefehlshaber der Gelbmützen, 
nähere sich mit fünfzigtausend Mann, und seine Vorposten be- 
fänden sich bereits dicht vor Choh-kiün. Liu Yen übernahm 
den Oberbefehl über das ganze Heer und befahl dem Tsou 
Tsing mit Liu Pei zusammen an der Spitze der Vorhut aus- 
zurücken und den Feind zu vernichten. Triumphierend schwangen 
sich die drei Freunde auf ihre Rosse, c 

Es gelingt zwar, den Aufstand niederzuwerfen, die Macht 
der Eunuchen bleibt jedoch zunächst noch ungebrochen, bis sich 
die Grolsen im Reiche zusammentun und ihr ein Ende machen. 
Jetzt aber tritt an die Stelle der bisherigen Lotterwirtschaft eine 
Periode der Schreckensherrschaft, die fast noch schlimmer ist. 
Der Kaiser Ling-ti ist mittlerweile gestorben und sein Nach- 
folger ein unmündiges Kind. Der General Tung Choh ist 
tatsächlich Regent des Reiches und hat nichts Geringeres im 
Sinne, als sich des Kaiserthrones zu bemächtigen. Wie es unter 
seinem Regimente herging, zeigt folgende Schilderung: 

»Als eines Tages ein Trupp von einigen hundert Mann 
Offizieren und Soldaten, die sich ergeben hatten, aus den nörd- 
lichen Gebieten eintraf, ging Tung Choh ihm bis vors Tor 
entgegen, und alle Beamten gaben ihm das Geleit. Während er 
die letzteren mit einem Mahle bewirtete, liefs er die Gefangenen 
vor den Augen seiner Gäste foltern; den einen wurden Hände 
und Füfse abgehackt, den anderen die Augen ausgestochen, 
einigen liefs er die Zimge abschneiden, andere in grolsen Kesseln 
sieden, und während sie mit dem Tode kämpften, zitterten die 
Beamten derart vor Furcht und Schrecken, dafs die Efsstäbe ihren 
Fingern entglitten. Tung Choh aber fuhr ruhig fort, zu essen 
und zu trinken und sich lachend zu unterhalten. Als die Gäste 
dann aufbrachen, sagte er: ,Es waren Bösewichte, die ich töten 
liefs; wovor graut euch?' Da sprach der Grolsastrolog : ,Es ist 
ein schwarzer Hauch hinunelan emporgestiegen; das bedeutet 
Unheil für einen hohen Würdenträger.' 

Am nächsten Tage versammelte Tung Choh die höchsten 
Würdenträger und alle Beamten zu einem Gastmahl. Nachdem 



^) Beide gehörten dem Geschlechte Liu an. 



— 416 — 

sie in zwei Reihen Platz genommen hatten und der Wein kredenzt 
worden war, trat Liü Pu, der Sohn des TungChoh, herein und 
flüsterte seinem Vater einige Worte ins Ohr: , Also doch !* rief dieser 
lachend und befahl dem Liü Pu, den Minister der öffentlichen 
Arbeiten Chang Wen bei den Haaren zu packen und aus der 
Halle hinauszuschleifen. Die anwesenden Beamten verfärbten sich, 
Tung C h o h aber sagte : ,Gestem hat der Grofsastrolog verkündet, 
dals einem hohen Würdenträger ein Unheil drohe ; jetzt ist seine 
Prophezeiung an diesem Manne in Erfüllung gegangen.' Gleich 
darauf brachte einer der Diener das Haupt des Chang Wen 
auf einer roten Schüssel herein, und nun befahl TungChoh dem 
Liü Pu, den Gästen Wein zu kredenzen und dabei jedem von 
ihnen das Haupt des Chang Wen zu präsentieren. Die Be- 
amten waren vor Furcht kaum ihrer Sinne mächtig, und keiner 
wagte , den anderen anzublicken. Da sprach Tung Choh 
lachend: ,Fürchtet nichts, ihr Herren! ChangWen hatte sich 
mit YüanShuh verschworen, mich zu verderben; da aber des 
letzteren Bote sein Schreiben aus Versehen meinem Sohne über- 
geben hat, so habe ich den Chang Wen samt seinem ganzen 
Hause dem Tode überliefert. Euch aber, die ihr mir Liebe und 
Gehorsam entgegenbringt, werde ich kein Leid antun. Mir steht 
der Himmel zur Seite, und wer mich zu vernichten trachtet, der 
ist des Todes !*€ 

An diese Szene schliefst sich eine Episode, die zu den 
schönsten und spannendsten des ganzen Buches gehört. Der 
Minister Wang Yün, einer der Teilnehmer an jenem Gastmahl, 
kommt in höchster Erregung nach Hause. Vergebens bemüht 
sich T i a o C h ' a n , eine schöne, junge Tänzerin, die Zierde seines 
Harems, ihren Herrn aufzuheitern; mürrisch weist er sie von 
sich. Da sie ihn aber fulsfälUg anfleht, ihr die Ursache seines 
Zornes nicht zu verbergen, erzählt er ihr, was sich soeben er- 
eignet hat. Sofort ist Tiao Ch*an bereit, sich selbst zum 
Opfer zu bringen, um das Land von dem Tyrannen zu befreien. 
Durch ihre Schönheit will sie ihn vernichten; Wang Yün soll 
sie dem Tung Choh und dessen Sohn Liü Pu zugleich zur 
Frau anbieten, und sie wolle dann die Eifersucht der beiden so 
lange stacheln, bis schliefslich der Sohn den Vater ermorde. 
Der Anschlag gelingt, und Tung Choh fällt von der Hand 
seines Sohnes. 



— 417 — 

Nach dieser Katastrophe tritt der berühmte Ts'ao Ts'ao 
auf den Plan, eine der gewaltigsten Gestalten der Erzählung. 
Die Personen wechseln, aber das Bild bleibt dasselbe. Wie ehedem 
Tung Choh, so reifst jetzt Ts*ao Ts*ao die ganze Gewalt 
an sich und macht sich dadurch diejenigen, die einst an seiner 
Seite gekämpft, wie vor allen LiuPei, zu Feinden. An diesen 
letzteren wendet sich der Kaiser in seiner Bedrängnis um Hilfe, 
aber der Bote, der des Kaisers an Liu Pei gerichtetes Schreiben 
in seinem Haare versteckt hat, fällt dem Ts*ao Ts'ao in die 
Hände, und das Komplott konmit an den Tag. Vor den Augen 
des Kaisers läfst er dessen Gemahlin erdrosseln, ihm aber schenkt 
er das Leben und wird dafür zum Könige von Wei erhoben. 
Bald darauf stirbt Ts*ao Ts*ao, und sein Sohn Ts*ao P'ei 
besteigt den Thron, nachdem der willenlose Kaiser zu seinen 
Gunsten abgedankt hat. Jetzt aber macht Liu Pei, der in- 
zwischen mit dem Königreiche Shuh belehnt worden ist, als 
Agnat des Hauses Han seine legitimen Rechte auf den Thron 
geltend und legt sich ebenfalls den Kaisertitel bei. Damit be- 
ginnen die eigentlichen Kämpfe der drei Staaten, in denen LiuPei 
die Hauptrolle spielt. Solange er Chu-kohLiang, den Listen- 
reichen und Kampfgewandten, an seiner Seite hat, ist ihm das 
Kriegsglück meist günstig; aber nach dessen Tode beginnt auch 
sein Stern zu sinken. Er stirbt, ohne sein Ziel erreicht zu haben. 
Sein Sohn Hou Chu, ein Schwächling, folgt ihm auf dem 
Throne, und mit ihm erlischt zugleich die kurzlebige Dynastie, 
die sein Vater begründet. Auch in Wei mufs schlief slich Ts'ao 
Mao, der Nachfolger des Ts*ao Pei, seinem mächtigen 
Minister Sz6-maChao weichen, dessen Sohn im Jahre 265 den 
langjährigen Kämpfen ein Ende macht und als erster Kaiser 
der T sin -Dynastie das Reich unter seinem Szepter vereinigt. 

Dies ist, in flüchtigen Strichen hingeworfen, der wesentliche 
Inhalt der Erzählung, die sich mit einer schier unerschöpflichen 
FüUe von Einzelepisoden in behaglich epischer Breite durch 120 
Bücher hinspinnt. Nicht unerwähnt lassen will ich bei dieser 
Gelegenheit, dafs Kuan Yü, der eine der beiden Waffen- 
gefährten des LiuPei, nicht nur als Romanheld, sondern auch 
als Kriegsgott und zugleich als Schutzpatron der Kaufleute, Mars 
und Merkur in einer Person, eine wichtige Rolle spielt; keine 
Stadt, in der ihm nicht ein Tempel errichtet wäre, kaum ein 

Grabe, Geschiebte der cbinesiscben Litteratur. 27 



— 418 — 

grölserer Kaufladen im ganzen Reiche, wo nicht vor seinem 
Bildnis Räucherkerzen brennen. Nichts lehrt deutlicher als diese 
volkstümlichste Gestalt des chinesischen Pantheons, bis zu welchem 
Grade die Erzählungen des San-kuoh-chi ins Volksbewulst- 
sein eingedrungen und zum Gemeingut der Nation geworden sind. 

Seiner Entstehung nach gehört der von Shi Nai-ngan 
verfafste Roman Shui hu chuan, »Die Geschichte des Flufs- 
u ferse, ebenfalls der Zeit der Mongolenherrschaft an. Die Er- 
zählung hat die Taten und Abenteuer einer Räuberbande, die 
am Hoai -Flusse ihr Wesen trieb, zum Gegenstande und erinnert 
durch die mancherlei humoristischen Episoden vielfach an unsere 
alten Schelmenromane. Späteren Ursprungs, dafür aber inhaltlich 
dem San kuoh chi näher verwandt ist »Die Geschichte 
der verschiedenen Einzelstaaten unter der Herrschaft 
der östlichen Chouc, Tung-Chou lieh-kuoh-chi. Unter 
noch engerer Anlehnung an die tatsächliche Geschichte als jenes 
behandelt es die Begebenheiten, die sich in der Zeit vom 9. Jahr- 
hundert V. Chr. bis zum Untergange der Chou-Dynastie ab- 
spielten. Beide Erzählungen sind von ähnlichem Umfange wie 
das San kuoh chi, so dafs ein näheres Eingehen auf ihren 
Inhalt sich schon aus diesem Grunde verbietet. 

Knapper in der Form, einheitlicher in der Durchführung der 
Fabel und somit mehr dem Charakter unseres Romans entsprechend 
ist das Hao kMu chuan, »Die Geschichte einer guten Ge- 
fährtinc'), ein Roman, der aus der Ming-Zeit (1368 — 1644) 
herrührt, dessen Verfasser jedoch nicht bekannt ist. 

Der Held der Erzählung ist der junge Baccalaureus T * i e h 
Chung-yüh. In seiner äulseren Erscheinung von so mädchen- 
hafter Zartheit, dals man ihm den Spitznamen »die schöne 
T'ieh« gab, besitzt er doch eine eiserne Willenskraft, die ihn 
vor keinem Unternehmen, das Mut und Entschlossenheit erfordert, 
zurückschrecken läfst. Kühl und zurückhaltend gegen die Reichen 
und Grolsen, ist er den Armen und Wehrlosen stets ein hilf- 
reicher Beschützer, dabei aber jähzornig und von unberechen- 

') Sir J. F. Davis, The fortunate union, a romance, with notes. 
London 1829. — Hao-khieou-tchouan, ou la femme accomplie. 
Roman chinois, trad. sur le texte original par G. d'Arcy. Paris 
1842. — Der Titel des Romans enthält eine Anspielung auf das erste 
Lied des Shi-king. 



— 419 — 

barem Wesen. Seine Eltern leben in Peking, wo sein Vater 
T*ieh Ying das hohe Amt eines kaiserlichen Zensors bekleidet, 
ihn aber haben sie daheim zurückgelassen. 

Als er einmal die Geschichte von Pi Kan las, der einst 
seinen Freimut mit dem Leben hülsen mufste, tiberkommt ihn 
die Angst, dals es seinem Vater leicht ebenso ergehen könnte. 
Diese Sorge läfst ihm keine Ruhe, und so beschliefst er, sich in 
Begleitung seines treuen Dieners Siao-tan in die Hauptstadt zu 
begeben, um im Notfalle in der Nähe seiner Eltern sein zu können. 
In einem Dorfe, wo er unterwegs einkehrt, lernt er den jungen 
Wei P'ei kennen, dem während seines Aufenthalts in der Resi- 
denz ein reicher und einflufsreicher Mann namens Ta-kuai die 
Braut entführt hat und nun in seinem Hause verborgen hält. 
Ohne ihm seinen Namen zu nennen, verspricht T*ieh Chung- 
yüh dem Wei P*ei, alles aufzubieten, um das Mädchen zu 
befreien, worauf jener ihm unter heifsen Danksagungen ein Bitt- 
gesuch an den Kaiser mitgibt. 

In Peking angelangt, hört TMeh Chung-yüh zu seinem 
Schrecken, dafs sein Vater auf Betreiben eben jenes Ta-kuai 
verhaftet worden ist, weil er dessen Schandtat zur Kenntnis des 
Kaisers gebracht hat. Sofort verfügt er sich zum Vater ins Ge- 
fängnis, teilt ihm alles mit, was er erfahren hat, und übergibt 
ihm zugleich die Bittschrift des Wei P'ei. Diese wird nun 
samt dem neuen Belastungsmaterial dem Kaiser vorgelegt, der 
daraufhin den T^ieh Ying begnadigt und ihm zugleich den 
Befehl erteilt, den Missetäter zu verhaften. Nunmehr dringt 
T*ieh Chung-yüh mit einer Schar Bewaffneter in den Palast des 
Ta-kuai und befreit das Mädchen samt dessen Vater Han Yüan. 

Nach dieser Heldenthat ist natürlich sein Name in aller 
Munde, und da der Vater befürchtet, dafs ihm bei seiner grofsen 
Jugend dieser Erstlingserfolg leicht zu Kopfe steigen möchte, 
veranlafst er seinen. Sohn , die Hauptstadt lieber fürs erste zu 
meiden und eine Reise nach Shan-tung, der Heimat des C o n - 
fucius und des Meng-tsz6, zu unternehmen und dort die 
denkwürdigen Stätten der Vergangenheit zu besuchen. Mit Freuden 
tritt T*ieh Chung-yüh die vorgeschlagene Bildungsreise an. 

In der genannten Provinz besafs damals ein Grofswürden- 
träger mit Namen Shui Kiü-yih in der Nähe von Tsi-nan-fu 
ein Anwesen. Da er selbst durch seine dienstliche Stellung ge- 

27* 



— 420 - 

nötigt war, in der Hauptstadt zu verweilen, lebte seine einzige 
Tochter, die schöne Ping-sin, allein in dem Hause, das der 
Vater ihrer Obhut anvertraut hatte, während des letzteren jüngerer 
Bruder Shui Ytin im Nebenhause wohnte. Dieser, ein un- 
wissender Tölpel, der es zu nichts gebracht hatte, besals aufser 
drei Söhnen noch eine Tochter, Hiang-ku genannt, die aber 
von so abschreckender Hälslichkeit war, dafs sich bislang kein 
Bewerber gefunden hatte. Da er nichts sehnlicher wünscht, als 
die Nichte zu verheiraten, um dadurch die Verwaltung des Ver- 
mögens seines Bruders in seine Hände zu bringen, richtet er 
sein Augenmerk auf einen gewissen Kuo K*i-tsu, einen jungen 
Mann aus reichem und vornehmem Hause , der aber in sehr 
schlechtem Rufe steht. Dieser wirft von einem Versteck aus 
einen Blick auf die Ping-sin und ist denn auch sofort so sterb- 
lich in sie verliebt, dafs er den Präfekten der Stadt in aller 
Form ersucht, sich als Ehevermittler für ihn um ihre Hand zu 
bewerben. Ping-sin will jedoch nichts von ihm wissen und 
weist den Antrag rundweg ab. 

Um diese Zeit aber fällt ihr Vater plötzlich in Ungnade und 
wird in die Verbannung geschickt, während Kuo Lung-tung^ 
der Vater jenes jungen Mannes, an seine Stelle berufen wird. 
Diese Wendung benutzt Shui-Yün, um seiner Nichte noch 
einmal ins Gewissen zu reden, indem er ihr zu bedenken gibt^ 
dafs sie durch ihr Jawort vielleicht den Vater retten könnte. 
Nun wendet Ping-sin eine List an, indem sie scheinbar auf 
den Vorschlag eingeht. Eigenhändig stellt sie ihren Geburts- 
schein aus*), — gibt jedoch darauf statt ihres eigenen Geburts- 
datums das ihrer Base an. Keiner merkt den Betrug; die Ver- 
lobungsgeschenke werden ausgetauscht, und der Ehevertrag wird 
abgeschlossen. Als aber der Tag der Hochzeit herannaht und 
der nichtsahnende Oheim sie anweist, sich bereit zu halten, er- 
klärt sie diesem in aller Unschuld, dafs dessen Tochter, nicht 
aber sie die Braut sei. Es bleibt nun in der Tat nichts anderes 
übrig, als das falsche Spiel zu Ende zu spielen und die H i a n g - 
ku dem Kuo K'i-tsu ins Haus zu schicken. Aufser sich über 



^) Die unerlälsliche Vorbedingung jedes Ehebündnisses ist in 
China der Austausch von Geburtsscheinen, auf denen Jahr, Monat 
Tag und Stunde der Geburt der zukünftigen Ehegatten verzeichnet sind. 



— 421 — 

den Betrug, dem er zum Opfer gefallen, beschlielst dieser, die 
Ping-sin um jeden Preis in seine Gewalt zu bringen, aber alle 
Versuche scheitern an ihrer List und Klugheit. Endlich ersinnt 
Ch'eng K*i, ein Freund des Kuo K*i-tsu, einen Plan. Er 
fälscht ein kaiserliches Dekret, durch welches Ping-sins Vater 
begnadigt wird, und unter dem Verwände, dafs ihr der Erlafs 
auf der P^räfektur verlesen werden solle, will er sie in einer Sänfte 
statt in die Behörde ins Haus des KuoK'i-tsu tragen lassen. 
Fast wäre der Anschlag gelungen, wenn nicht ein glücklicher 
Zufall, der in chinesischen Romanen und Dramen nur zu oft 
den Ausschlag gibt, es so gefügt hätte, dafs gerade in diesem 
Augenblicke T'iehChung-yüh von ungefähr des Weges kam 
und von den eilig einherschreitenden Sänftenträgem über den 
Haufen gerannt wurde. Es kommt dadurch zu einem Wort- 
wechsel, und bei dieser Gelegenheit erfährt TMeh Chung-yüh, 
lun was sich's handelt. Er setzt es nun durch, dafs Ping-sin 
in die Behörde des Subpräfekten gebracht wird, und hier ver- 
ficht er die Sache seiner Schutzbefohlenen mit solcher Bravour, 
dafs der Betrug an den Tag kommt und Ping-sin auf freien 
FuXs gesetzt wird. Auf die Bitte des Subpräfekten, den Kuo 
K*i-tsu um seines einflufsreichen Vaters willen zu schonen, er- 
klärt sich T*ieh Chung-yüh bereit, von einer weiteren Ver- 
folgung der Angelegenheit abzusehen. Darauf gelingt es jedoch 
dem Kuo K^i-tsu, den Subpräfekten so weit für seine Sache 
zu gewinnen, dafs dieser sich überreden läfst, den T'ieh Chung- 
yüh zu einem Gastmahl einzuladen, um ihn bei dieser Gelegen- 
heit durch Gift zu beseitigen. T*ieh Chung-yüh, der, um 
den Subpräfekten nicht zu kränken, die Einladung annimmt, er- 
krankt am darauffolgenden Tage infolge der genossenen ver- 
gifteten Speisen. Ping-sin aber, die ihren Lebensretter keinen 
Moment aus dem Auge verloren hat, setzt es durch, dafs er aus 
dem Tempel, wo er sein Standquartier aufgeschlagen hat, in ihr 
Haus gebracht wird, woselbst sie ihm im Gemach ihres ab- 
wesenden Vaters die aufopferndste Pflege angedeihen läfst. 
Dieser heroische Schritt, der nach chinesischen Begriffen einen 
unerhörten Bruch mit Sitte und Herkommen bedeutet, wird nun 
von ihren Feinden ausgebeutet, um ihren Ruf zu schädigen. 
Von ihrem Oheim über das Unpassende solcher Handlungsweise 
zur Rede gestellt, gibt sie ihm die stolze Antwort, dafs die 



- 422 - 

rituellen Satzungen für die Durchschnittsmenschen bestimmt seien, 
nicht aber als Fesseln für die Edlen zu dienen brauchten. »Die 
Anschauungen der Weite, sagt sie, »sind fliehenden Wolken 
gleich, — wann gäbe es die nicht? Die Gesinnung ist des 
Menschen Grundlage, die keinen Augenblick aufser acht gelassen 
werden darf, und ich habe nur den einen Wunsch, rein und 
ohne Makel zu bleiben, c 

Dieser Sieg der lauteren Gesinnung über äuXsere Vorschriften 
der Wohlanständigkeit bildet recht eigentlich die Grundtendenz des 
Romanes, — ein Moment, das um so schwerer ins Gewicht fällt, 
als es noch obendrein ein Weib ist, das hier als Träger des sitt- 
lichen Emanzipationsgedankens auftritt. Als nun aber aus dem 
Gefühl der gegenseitigen Dankbarkeit, durch welches T^eh 
Chung-yüh und Ping-sin miteinander verbunden sind, in 
den Herzen beider die Liebe hervorzukeimen beginnt, da heilst 
es: entsagen; denn nimmermehr darf Ping-sin dem Manne die 
Hand zum ehelichen Bunde reichen, den sie unter ihrem Dache 
beherbergt hat. So bleibt der Sieg ein unvollkommener und 
führt dadurch zur tragischen Verwicklung: die Liebe muXs der 
herrschenden Sitte zum Opfer gebracht werden, und nachdem 
der Kranke genesen ist, nehmen die beiden Liebenden auf Nimmer- 
wiedersehen Abschied voneinander. Aber das Schicksal hat es 
anders beschlossen. 

Mancherlei Intrigen ist Ping-sin noch von Seiten des Kuo 
K'i-tsu ausgesetzt, der ihr unermüdlich nachstellt; mancherlei 
Abenteuer hat auch T*ieh Chung-yüh noch zu bestehen, bis 
er endlich durch einen neuen Akt entschlossenen Eingreifens die 
Aufmerksamkeit des Vaters der Ping-sin auf sich lenkt, der so 
grolses Wohlgefallen an ihm findet, dals er ihm die Hand seiner 
Tochter anbietet ; aber der tugendhafte T'iehChung-yüh ver- 
hält sich allem Zureden zum Trotz aus denselben Gründen wie 
Ping-sin ablehnend gegen das Eheprojekt. Erst als auf Ver- 
anlassung des Kuo K^i-tsu der Wüstling Ta-kuai der Ping- 
sin nachstellt und ein kaiserlicher Eunuch den T^ieh Chung- 
yüh für seine Nichte zu gewinnen sucht, lassen sich die beiden 
Liebenden zu einer Scheinehe herbei. Der zurückgewiesene 
Eunuch aber rächt sich, indem- er den T^ieh Chung-yüh 
beim Kaiser anklagt, vor seiner Verheiratung ein sträfliches 
Verhältnis mit Ping-sin unterhalten zu haben, worauf der 






- 423 — 

Kaiser einen Bericht vom Statthalter von Shan-tung ein- 
fordert. Nun beeilt sich .KuoK*i-tsu, den inzwischen neu- 
emannten Subpräfekten durch Bestechung für sich zu gewinnen, — 
dieser ist aber kein anderer als jener Wei P*ei, dessen Braut 
T*ieh Chung-ytih einst aus den Händen ihres Entführers be- 
freit hat. Durch ihn kommt endlich die Wahrheit an 's Licht, 
und auf Befehl des Kaisers findet dann die Eheschliefsung des 
vielgeprüften Paares statt. 

Wie man aus dieser kurzen Inhaltsübersicht ersehen kann, 
konzentriert sich das Hauptinteresse der Erzählung auf den 
äuXseren Gang der Begebenheiten, wohingegen der Einfluls dieser 
auf die Charakterentwicklung der handelnden Personen kaum 
eine Rolle spielt. Wie in den Kampf- und Heldenszenen des 
historischen Romans die List im grofsen und ganzen höher be- 
wertet zu werden scheint als der persönliche Mut, so spitzt sich 
im bürgerlichen Roman die Handlung zumeist zu einem fein 
erfundenen und durch alle nur erdenklichen Verwicklungen 
spannenden Intrigenspiel zu, ohne mit innerer Notwendigkeit 
aus der Verschiedenheit der miteinander in Berührung kommenden 
Charaktere zu fliefsen. Diese sind vielmehr gewissermafsen kon- 
stante Grölsen, die von Anfang an als solche gegeben sind und 
nur als Träger der Handlung figurieren, ohne in einem 
bedingenden oder bedingten Verhältnisse zu den äulseren 
Begebenheiten zu stehen. Nichtsdestoweniger sind die Haupt- 
figuren oft so meisterlich nach ihrer individuellen Eigenart 
gekennzeichnet, dals man sie leibhaftig vor sich zu sehen 
glaubt; nur leiden sie in der Regel durch den Mangel freier 
Selbstbestimmung an einer so starren UnbewegUchkeit ihres 
inneren Habitus, dafs sie leicht den Eindruck von Mario- 
netten hervorrufen, die zwar agieren, nicht aber im eigentlichen 
Sinne handeln. Doch liegt auch hierin wiederum ein aus dem 
Leben gegriffener Zug, der durch den Zwang der herrschenden 
sozialen Formen bedingt ist. Trotz der angedeuteten Mängel, 
die, wie gesagt, zum Teil in den gegebenen Verhältnissen be- 
gründet sind, bietet daher der chinesische Roman ein getreues 
Spiegelbild des tatsächlichen Lebens, und solange das chinesische 
Haus, zumal das der besseren Stände, dem Ausländer ver- 
schlossen bleibt, gewährt er uns zweifelsohne die lehrreichsten 
Einblicke in die nationale Eigenart und Kultur dieses merk- 



«. 424 — 

würdigen Volkes. Als Beleg des Gesagten greife ich eine 
Szene aus dem Ytih Kiao Li*) heraus, die ein wahres Pracht- 
stück der Sittenschilderung darstellt. 

Poh-Kung, ein hoher Würdenträger, hat eine Tochter 
Hung-yüh, die sich in gleichem Mafse durch Schönheit wie 
durch dichterische Begabung auszeichnet. Um ihre Hand be- 
wirbt sich der als eitler Streber bekannte kaiserliche. Zensor 
Yang für seinen Sohn Yang Fang, der alles andere eher als 
ein lumen mundi ist. Nun herrscht in China bei Ehewerbungen 
der Brauch, dals der Ehekandidat den Eltern und Verwandten 
seiner präsumtiven Braut vorgestellt wird, damit jene Gelegen- 
heit haben, sich ein Urteil über ihn zu bilden, bevor sie sich 
zum folgenschweren Schritt entschlielsen. Diese Vorstellung ist 
eine wahre Crux für den bedauernswerten Jüngling, der eine 
förmliche Prüfung über sich ergehen lassen muls, ohne dafs ihm 
gesagt wird, um was es sich dabei handelt. Wenn er, was wohl 
meist der Fall, den Zweck der Prozedur errät, muls er nichtsdesto- 
weniger den Unschuldigen spielen, was seine ohnehin nicht ge- 
rade gemütliche Situation nur noch peinlicher gestaltet. Im 
Hause seiner präsumtiven Schwiegereltern angelangt, bildet er 
natürlich den Mittelpunkt, auf den sich die Aufmerksamkeit aller 
konzentriert. Sein Aussehen, seine Kleidung, sein Benehmen, 
seine Kenntnisse, — alles wird einer eingehenden Prüfung und 
Kritik unterzogen. Durch Fragen, die meist seine persönlichen 
und verwandtschaftlichen Verhältnisse zum Gegenstande haben, 
veranlafst man ihn zum Reden, um sich zu überzeugen, ob er 
sich als gebildeter Mann auszudrücken und zu benehmen ver- 
steht, und sind zufällig Leute von gelehrter Bildung anwesend, 
so unterlassen diese sicher nicht, ihn in Ausdrücken und Rede- 
wendungen, die nur in der Schriftsprache gebräuchlich sind, an- 
zureden, um dadurch einen Prüfstein seiner Kenntnisse und seiner 
Belesenheit zu erlangen, denn der also Angeredete mufs selbst- 
verständlich mit gleicher Münze zahlen und seine Rede mit 
passenden Zitaten, zierlichen gelehrten Floskeln und sonstigen 
Lesefrüchten schmücken*). Im vorliegenden Falle ist es Poh- 



Yu-kiao-li ou les deux cousines, roman chinois. Traduction 
nouvelle, accompagn^e d'un commentaire philologique et historique par 
S tan. Julien. 2 vols. Paris 1864. 

■) S. Grube, Zur Pekinger Volkskunde, S. 11. 



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kungs Schwager, der hochgelehrte Akademiker Wu, der den 
Zensor Yang und dessen Sohn zu sich einladet, um den Poh- 
kung mit dem jungen Manne bekannt zu machen, und ich lasse 
nun das Weitere mit den Worten der Erzählung selbst folgen: 

»Nachdem der Bote (der die Einladung überbracht hatte) sich 
entfernt hatte, hiefs der kaiserliche Zensor Yang seinen Sohn 
sorgfältig Toilette machen und ermahnte ihn dann mit folgenden 
Worten: ,Wenn du dorthin kommst, mulst du ein bescheidenes 
Wesen zur Schau tragen und nicht viel reden. Sollte man von dir 
verlangen, dafs du ein Stück eleganter Prosa oder ein Gedicht im- 
provisierst, so sage nur, dals du dich in Gegenwart der Freunde 
deines Vaters nicht so weit vergessen dürftest.' Yang Fang 
nickte beistimmend. 

Dieser Yang Fang hatte ein gar stattliches Äufsere; nur 
war er leider von Natur ein Einfaltspinsel. Obwohl es ihm durch 
Bestechungen geglückt war, den Grad eines Kiü-jen*) zu er- 
langen, so würde er nichtsdestoweniger, wenn man ihm aufs 
neue sieben Fragen stellen wollte, sich wohl auf die Hälfte davon 
nicht mehr deutlich besinnen können. 

Um die Mittagstunde machten sich der Zensor Yang und 
sein Sohn selbander auf den Weg. Bei ihrer Ankunft war 
Poh-kung schon seit einer ganzen Weile da. Auf die Meldung 
des Dieners, dafs der Zensor Yang gekommen sei, ging der 
Akademiker W u ihm zur Begrüfsung entgegen. Yang nötigte 
nun den Poh-kung, den Vortritt zu nehmen, was dieser jedoch 
wiederholt ablehnte, indem er erklärte: ,Ich bin eigens herge- 
kommen, um Ihnen Gesellschaft zu leisten, und aufserdem bin 
ich hier im Hause meines Verwandten; da würde es durchaus 
unzulässig sein, wenn ich den Vortritt nehmen wollte.« So 
mulste denn der Zensor Yang nachgeben. Als aber darauf 
Yang Fang den Poh-kung begrtifste und dieser auch ihm 
den Vortritt lassen wollte, trat der junge Mann hastig zurück 
und sagte: ,Wie dürfte ich mich in Gegenwart eines Älteren 
so weit vergessen!' Und zugleich zog der Zensor Yang den 
Poh-kung auf die linke Seite') hinüber und sagte: ,Das geht 



^) Kiü-jen ist der auf den Siu-ts'ai folgende, nächsthöhere 
gelehrte Grad. 

■) In China gilt die »östliche» , d. h. linke Seite als die ehren- 
vollere, die daher dem Gaste gebührt. 



— 426 - 

nicht, Verehrtester, — wir müssen doch die Jugend lehren, was sich 
schickt!^ Da konnte Poh-kung nicht umhin, sich zu fügen« 

So nahm denn nach beendeter Begrüfsungszeremonie Yang 
den ersten östlichen Platz und Poh-kung den ersten westlichen 
Platz ein, Yang Fang setzte sich ihnen gegenüber an den 
Tisch, während der Hausherr seinen Stuhl ein wenig in die Nähe 
des Poh-kung rückte, um die Honneurs zu machen. Während 
der Tee gereicht wurde, sagte Yang, zu seinem Gastgeber 
gewandt : ,Ich bin so sehr in Ihrer Schuld, dafs ich nicht weifs, 
wie ich zu der Ehre komme, heute von Ihnen eingeladen zu sein ?^ 

,Seit Ihr Herr Sohn in die Hauptstadt gekommen ist', er- 
widerte der Akademiker W u , ,hatte ich noch keine Gelegenheit 
gefunden, ihm meine Hochachtung auszudrücken; daher wollte 
ich |ihm heute einen Becher Wein anbieten, um ihm meine Ge- 
fühle zu bekunden. Diesmal gilt es nicht Ihnen.' 

,Wie dürfen junge Leute eine so freundliche Rücksicht- 
nahme erwarten?' sagte Yang. ,Mein Sohn war übrigens heute 
derart hinter seinen Büchern her, dafs er durchaus nicht mit- 
kommen wollte. Da sagte ich ihm aber: »Wonach würde es 
aussehen, wenn du nicht hingingest, da ein Freimd deines Vaters 
dich ruft? AuXserdem ist der alte Herr Poh-kung dort, und 
es wird dir von gröfserem Nutzen sein, dich einen Tag lang von 
ihm belehren zu lassen als zehn Jahre zu studieren. € Daraufhin 
ist er denn schliefslich mitgekommen.' 

Da rief Poh-kung: ,Wenn Ihr Herr Sohn so fleifsig ist, 
kann er ja seines Gleichen suchen!' 

,Von Kind auf ist er so', erwiderte Yang. ,Seine Mutter, 
die stets um seine Gesundheit besorgt war, pflegte ihn zu er- 
mahnen, sich in acht zu nehmen, er aber wollte nie darauf 
•hören. Seit er im vorigen Jahre das Glück gehabt hat, das 
Examen zu bestehen, sind verschiedene meiner Bekannten zu 
mir gekonmien, die ihn zum Schwiegersohn haben wollten, 
doch hat er sie alle miteinander rundweg abgewiesen. Tag für 
Tag sitzt er hinter seinen Büchern und läfst sie nicht einmal 
dann im Stiche, wenn er mit mir zusammen ist. Ich rede immer 
wieder in ihn hinein, dafs das nicht die Art sei, wie man studiere; 
er aber tut, als verstünde er mich nicht.' 

Da sagte der Akademiker Wu: ,Wenn er bei so hoher 
Begabung noch obendrein immerzu sein Wissen bereichert, werden 



— 427 — 

es keine geringen Absichten sein, die er verfolgt. Da Sie an 
Ihrem Herrn Sohn einen solchen Ausbund von Tüchtigkeit besitzen, 
werden wir wohl noch Grofses an ihm erleben!' 

So plauderten sie, bis der Diener meldete, dafs der Tisch 
gedeckt sei-, da erhob sich der Hausherr, um den Wein kredenzen 
zu lassen und seinen Gästen die Plätze anzuweisen. Nachdem 
man sich in der bisherigen Reihenfolge zu Tisch gesetzt hatte, 
beobachteten Po h-kung und sein Schwager während des Essens 
aufmerksam das Benehmen des Yang Fang. Schlielslich 
wollten sie ihn zum Reden bringen, aber so oft sie eine Frage 
an ihn richteten, antwortete stets der Vater statt seiner, so dafs 
sie nichts aus ihm herausbekommen konnten.! — 

Es wird nunmehr des weiteren geschildert , wie sie ein jeu 
ctesprit spielen, um wenigstens auf diesem Wege dem Yang 
Fang auf den Zahn fühlen zu können. Man würfelt, und wenn die 
Würfel so fallen, dafs die Seite mit den roten Augen nach oben zu 
liegen kommt, mufs für jeden Würfel ein Becher Wein geleert und 
dazu ein Vers improvisiert werden, in welchem ein bestimmtes 
Wort vorzukommen hat. Im vorliegenden Falle ist das Wort 
»rotf gewählt worden. Als dabei die Reihe an Yang Fang 
kommt, hat er das Pech, drei Verse improvisieren zu müssen, 
und es gelingt ihm zum Glück, freilich nicht ohne die Beihilfe 
seines Vaters, sich mit Ach und Krach aus der Klemme zu 
ziehen. Darauf fährt die Erzählung folgendermalsen fort: 

»Nachdem die Partie beendet war, füllte der Akademiker 
Wu einen Becher mit Wein und reichte ihn dem Zensor Yang 
zum Dank für das Spiel. Yang trank ihn aus und sprach dann 
zu seinem Sohne: ,Männer von litterarischer Bildung dürfen 
sicherlich die Dichtkunst nicht geringschätzen, aber wo sich 's 
um ernstere Arbeit handelt, ist sie ein aufserordentliches Hinder- 
nis. Wer schon etwas erreicht und sich einen Namen gemacht 
hat, mag sich nach Herzenslust der dichterischen Inspiration 
hingeben, aber ihr jungen Leute der zukünftigen Generation 
müfst eure ganze Aufmerksamkeit dem Studium der kanonischen 
Bücher und der Geschichte zuwenden und beileibe nicht etwa, 
da ihr die wunderbaren Werke erleuchteter Männer früherer 
Zeiten vor Augen habt, danach trachten, mit ihnen zu wetteifern» 
Ist erst der Sinn einmal darauf gerichtet, so ist es schwer, ihn 
zu bändigen. Oft genug sieht man junge Leute von schönen 



— 428 — 

Anlagen, die es dennoch zu nichts Rechtem bringen : meist kommt 
es daher, weil sie an dieser Schwäche leiden. Davor mulst du 
dich ganz besonders hüten.' — Und darauf, zu Poh-kung 
gewandt: ,Was meinen Sie, habe ich nicht recht?' 

,Ihre erhabene Auseinandersetzung', erwiderte dieser, ,ist 
selbstverständlich ein Jugendspiegel; aber dennoch ist es Ihnen 
nicht gegeben, der vom Himmel verliehenen hervorragenden Be- 
gabung Ihres Herrn Sohnes und seinen natürlichen Talenten 
Schranken zu ziehen.' 

Als der Akademiker Wu sah, dals Yang seinen Becher 
geleert hatte, wollte er YangFang das Spiel fortsetzen lassen, 
der Zensor Yang erhob sich jedoch eiligst und sagte: ,Soll 
das Spiel fortgesetzt werden, so ist natürlich Poh-kung an der 
Reihe ; aber da wir nachgerade des süfsen Weins genug genossen 
haben, schlage ich vor, eine kleine Pause eintreten zu lassen.' 

,Es ist auch genug', sagte Poh-kung, indem er von 
seinem Sitze aufstand. ,Wir wollen uns erst ein wenig ergehen 
und können hernach, wenn die Tafel aufs neue hergerichtet ist, 
weitertrinken.' 

Der Hausherr sah ein, dals er seine Gäste nicht wohl nötigen 
dürfe, und lud sie daher ein, sich in den östlich von der Halle 
gelegenen kleinen Garten zu verfügen. Das in demselben befind- 
liche Gartenhaus war zwar nicht besonders grols, aber seine 
vier Wände waren mit Büchern und Bildern geschmückt und 
die Stufen der Treppe mit Bambus und Blumen besetzt. Alles 
liels auf einen kühlen und verborgenen Aufenthalt schlieüsen; es 
war der Ort, wo der Akademiker Wu der Ruhe pflog. Nachdem 
alle das Gartenhaus betreten und sich darin umgesehen hatten, 
schritten der Zensor Yang und Poh-kung die Stufen hinab, 
um sich ein wenig zu erleichtem, so dals der Akademiker Wu 
und Yang Fang allein zurückblieben. 

Da blickte YangFang zufällig empor und gewahrte eine 
Tafel mit der Aufschrift Fuh-kuh-hien, ,der Pavillon, dessen 
Freuden man nicht bekannt werden lälst.'*) Stolz, dals er die 



') Die Worte f uh kuh sind ein Zitat aus dem letzten Verse der 
letzten Strophe von Shi-king I, v, 2: 

Einsamkeit auf Gipfelhöh* 
Ist des Hohen Wonnepfand. 



- 429 — 

drei Schriftzeichen kannte, hielt er die Augen unverwandt auf 
sie gerichtet. Da der Akademiker Wu merkte, dals er sie so 
genau betrachtete, sagte er: lEHese drei Worte hat Wu Yü- 
pih geschrieben; seine Schriftztige sind fest und energisch, und 
er verdient wohl, als ein bedeutender Schönschreiber bezeichnet 
zu werden.« 

Yang Fang, der gern sein Licht leuchten lassen wollte, 
sagte: >Er ist in der Tat ein bedeutender Kalligraph. Das 
Zeichen hien ist ja noch ziemlich gewöhnlich gehalten, aber die 
beiden Zeichen fuh und kao sind genial. c 

Dabei sprach er das zweite Zeichen kao statt kuh, weil 
er nicht wuIste, dafs die Worte fuh-kuh in dieser Bedeutung 
dem Shi-king entnommen waren, wo das betreffende Schrift- 
zeichen kuh zu lesen ist. Nun ging dem Wu ein Licht auf, 
und er erwiderte daher nur so von ungefähr: ,In der Tat, ja.^ 

In diesem Augenblicke kamen Yang und Poh-kung 
wieder zurück, und nachdem man noch ein Weilchen geplaudert 
hatte, lud Wu seine Gäste ein, wieder an der Tafel Platz zu 
nehmen und das Spiel fortzusetzen. Yang Fang wollte dem 
Poh-kung die Vorhand lassen, während dieser den Yang 
Fang zum Spielen nötigte: keiner von beiden wollte den Anfang 
machen. Da der Zensor Yang befürchtete, dafs sein Sohn sich 
eine Blöfse geben könnte, benutzte er die Gelegenheit und sagte : 
,Da Sie nicht den Anfang machen wollen, darf sich's mein Sohn 
erst recht nicht herausnehmen. Sollten wir nicht lieber bei einem 
Becher Wein plaudern? Nur möchte ich hier nicht den Aus- 
schlag geben.' 

,Ich bin ganz Ihrer Ansicht,' erwiderte Poh-kung; ,nur 
mufs der Wein auch feurig sein.' 

,Unter guten Freunden', bemerkte Yang, ,ist ein Räusch- 
chen Ehrensache'. 

Der Akademiker Wu befahl daraufhin dem Diener, jedem 
der Anwesenden einen grofsen Becher Wein zu reichen. Nach- 
dem sie dann noch eine Weile geplaudert und pokuliert hatten,. 



Einsam schläft er, wacht, hält stand, 
Schwört, er tu' es nie bekannt. 

In dem vorliegenden Falle bedeutet der Name so viel wie einen 
Pavillon, dessen Wonnen man geheimhält. 



— 430 .— 



* 



begann ihnen allen der Wein ein wenig zu Kopfe zu steigen, 
und da der Zensor Yang befürchtete, dafs Poh-kung in seiner 
animierten Stimmung wieder Lust bekommen könnte, zu dichten, 
zog er es vor, den Betrunkenen zu spielen und sich samt seinem 
Sohen zu verabschieden.! — 

Dafs litterarische Bildung und technische Fertigkeit in der 
Handhabung der Regeln der Verskunst, wie das hier geschieht, als 
ausschlaggebender Faktor angesehen werden, ist im chinesischen 
Roman nichts Seltenes. Im P^ing Shan Leng Yen*), einem 
Litteraturroman/>ar excellence, erscheinen diese Vorzüge geradezu 
als das leitende Motiv : wie Turandot ihren Freiem Rätsel vorlegt, 
von deren richtiger Lösung sie die Gewährung ihrer Hand ab- 
hängig macht, so wollen die beiden Heldinnen des letztgenannten 
Romans, zwei jugendliche Blaustrümpfe, die sich jedoch durch 
Anmut und Koketterie nicht minder als durch Gelehrsamkeit 
auszeichnen, ihre Liebe nur demjenigen schenken, der sie durch 
seine Verse zu verdienen weifs. Wettkämpfe van den dichterischen 
Lorbeer bilden hier geradezu den Hauptinhalt der Erzählung; 
und es ist bemerkenswert, dafs es in beiden Romanen, sowohl 
im Ytih Kiao Li als auch im P*ing Shan Leng Yen, 
Frauen sind, die durch geistige Überlegenheit den Sieg über das 
stärkere Geschlecht davontragen. 

Unter den sittenschildemden Romanen stehen wohl das K i n 
P*ing Mei und das Hung-lou-meng, >Der Traum in der 
roten Kammerc, obenan. Wollte man den Titel Kin P*ing Mei 
übersetzen, so würde er »Die Pflaumenbltiten in der goldenen 
Vasec bedeuten, doch sind in diesem Falle die drei Worte nichts 
anderes als die Namen der drei Heldinnen der Erzählung: Pan 
Kin-lien, Li PMng-erh und Ch^un-mei. Angesichts des 
schonungs- und schamlosen Realismus, mit dem hier eine in den 
tiefsten Schmutz sittlicher Verkommenheit versunkene Gesell- 
schaft geschildert wird, dürften selbst die radikalsten Vertreter 
unserer modernen naturalistischen Richtung sich eines züchtigen 
Errötens kaum erwehren dürfen. Seines über alle Mafsen ob- 
szönen Inhalts wegen ist das Buch denn auch — obwohl man 
gerade in diesem Punkte vielleicht nirgends weniger Prüderie kennt 



*) Ping-Chan-Ling-Yen, Les deux jeunes filles lettr^es, 
roman chinois, traduit par S tan. Julien. 2 vols. Paris 1864. 



— 431 — 

als in China — verboten worden ; aber gerade dadurch ist es erst 
recht in jedermanns Händen. Niemand will es besitzen, aber 
jeder hat es, keiner will es gelesen haben, aber jeder kennt es, 
und nichts ist für die Verbreitung und Popularität dieses Romans 
bezeichnender als die Tatsache, dafs man es für nötig gehalten 
hat, ihn sogar ins Mandschu zu übersetzen, — eine Ehre, deren 
sich sonst nur die hervorragendsten Schöpfungen der chinesischen 
Litteratur rühmen dürfen, und dazu kommt noch, dafs der Über- 
setzer kein Geringerer war als ein Bruder des Kaisers K^ang-hi. 
Es mufs aber auch billigerweise anerkannt werden, dafs der 
Verfasser des Buches nicht nur eine ungewöhnliche Beobachtungs- 
und Darstellungsgabe, sondern auch eine Meisterschaft der 
Charakterzeichnung verrät, wie die gesamte übrige Roman- 
litteratur Chinas kaum etwas Ähnliches aufzuweisen hat. Auch 
an Humor fehlt es ihm nicht. So schildert er z. B. einmal, wie 
P^an Kin-lien an der Leichenfeier für ihren Mann, der von 
ihrem Liebhaber erschlagen worden ist, teilnimmt und bei dieser 
Gelegenheit die Bonzen, die das Totenamt zelebrieren, durch 
ihre Reize derart aus dem Konzept bringt, dafs sie die Worte 
ihrer Litanei verdrehen und einer von ihnen statt auf seiner 
Handtrommel auf dem glattrasierten Schädel seines Vordermannes 
den Takt zum Gesänge schlägt. 

Die Überlieferung nennt den Wang Shi-cheng (1526 bis 
1593) als den Verfasser des KinP^ingMei, doch sträubt man 
sich unwillkürlich, einer Angabe Glauben zu schenken, die einem 
angesehenen Staatsmann, der noch obendrein den Posten eines 
Justizministers bekleidet hat, derartige Fazetien zutraut. Indessen, 
— non liquet: in China ist manches möglich, was uns befremdlich 
erscheint. Auf jeden Fall ist das Kin P'ing Mei ein sitten- 
geschichtliches Dokument, das von denen, die sich mit den Kultur- 
zuständen Chinas befassen, nicht aufser acht gelassen werden 
dürfte. ») 

Das Hung-lou-meng, >Der Traum in der roten 
Kammerc , eine Erzählung, die aus dem 17. Jahrhundert stammt 



Das Kin P^ing Mei ist von Hans Conen v. d. Gabelentz 
nach der Mandschuversion vollständig ins Deutsche übersetzt worden, 
doch ist diese Übersetzung, aus naheliegenden Gründen« bisher leider 
unveröffentlicht geblieben. 



— 432 — 

und einea gewissen Ts*ao Süeh-k'in zum Verfasser hat, ge- 
hört unstreitig zu den vornehmsten Schöpfungen der chinesischen 
Romanlitteratur , doch ist gerade diese mit reichlich viel phan- 
tastischem Beiwerk geschmückte Liebesgeschichte von so ungeheuer- 
lichem Umfange, dafs selbst eine kurze Inhaltsübersicht über den 
Rahmen dieser Darstellung hinausgehen würde. ^) 

Eine besondere Gruppe für sich bilden endlich die Romane 
phantastisch - m3rthologischen Inhalts, in denen Götter, Genien 
und Dämonen als Lenker der menschlichen Geschicke die Haupt- 
rolle spielen. In dieser Zauberwelt des Übernatürlichen und 
Wunderbaren findet der chinesische Erzähler so recht eigentlich 
den Tummelplatz, wo er seiner Phantasie nach Herzenslust die 
Zügel schieisen lassen kann. Die Stoffe pflegen zum aller- 
gröfsten Teile dem buddhistischen oder taoistischen Legendenkreise, 
meist jedoch beiden zugleich entlehnt zu sein; aber so phan- 
tastisch die erzählten Begebenheiten auch sein mögen, so fehlt 
ihnen doch selten der historische Hintergrund, gewissermafsen 
als Ankerplatz des Glaubens, — ein höchst bezeichnendes Zu- 
geständnis an den stets auf das Geschichtliche gerichteten Sinn des 
Volkes. So z. B. spielt eine der verbreitetsten Erzählungen dieser 
Gattung, deren chinesischer Titel: Feng-shen yen-i sich viel- 
leicht am besten durch »Göttermetamorphosent wiedergeben 
Heise, im 12. Jahrhundert v. Chr., und ihren Gegenstand bilden 
die Kämpfe des letzten Kaisers der Yin- Dynastie, des Tyrannen 
Chou-wang, mit dem Hause Chou, dessen ruhmreicher Sprofs 
Wu-wang schlielslich als Sieger hervorgeht und die neue Dy- 
nastie begründet. Zum Schlüsse werden die hervorragendsten 
Kämpfer aus beiden Lagern zum Range von Göttern erhoben, 
— daher der Titel Feng-shen, der, wörtlich übersetzt, »Be- 
lehnungen mit der Götterwürde« bedeutet. Im Mittelpunkte 
der Erzählung steht die berüchtigte Tah-ki, die Favoritin des 
Chou-wang, die dieser in der Folge zur Kaiserin erhob, um 
hernach als ihr willenloses Werkzeug den Ruin seines Hauses 
herbeizuführen; doch erscheint die Tah-ki hier als Fuchsdämon, 
der von der Göttin Niü Kua ausgesandt wird, um in der Trug- 



^) Hung lou meng; er, the dream of the red Chamber. A Chi- 
nese novel. Book I. Translated by H. Bencraftjoly. Hongkoojj: 
und Shanghai 1892. 



- 433 — 

gestalt einer schönen Jungfrau den wollüstigen Tyrannen zu be- 
tören und ihn zur Strafe für die der Göttin angetane Schmach 
zu Grunde zu richten. Dieser Hergang, der gleichsam den 
Prolog des Ganzen bildet, wird folgendermalsen geschildert: 

»Eines Tages, als Chou-wang seine Zivil- imd Militär- 
beamten in der Audienzhalle um sich versammelt hatte, fragte 
er seinen Oberstkämmerer, ob noch jemand ein Anliegen vor- 
zubringen habe •, wo nicht, sollten sich die Beamten zurückziehen. 
Noch hatte er nicht ausgeredet, als ein Mann aus der rechten 
Reihe vortrat, der, sein Elfenbeintäfelchen in den Händen haltend, 
sich vor dem Throne niederwarf, laut seinen Namen nannte imd 
sprach: ,Da ich, der strafwürdige Minister ShangYung, der 
Regierung vorstehe, habe ich die Pflicht, wenn eine Angelegenheit 
vorliegt, sie zur Kenntnis des Thrones zu bringen. Morgen, als 
am 15. Tage des dritten Monats, ist das Geburtsfest der Göttin 
Niü Kua, und ich bitte Ew. Majestät, im Tempel derselben ein 
Weihrauchopfer darzubringen.' 

Auf die Frage des Kaisers, welches denn die Verdienste 
und Tugenden der Niü Kua seien, dals er als Kaiser sich ohne 
weiteres hinbegeben und ihr ein Weihrauchopfer darbringen 
solle, antwortete ShangYung: ,Niti Kua ist eine Göttin des 
hohen Altertums imd von heiliger Tugend. Als einst Kung 
Ku ng den Berg Puh-chou-shan ^) stürmte, stürzte das Himmels- 
gewölbe im Nordwesten zusammen, während im Südosten die Erde 
einsank. Daschweifste Niü Kua fünffarbiges Gestein zusammen 
und stellte damit den blauen Himmel wieder her. Dadurch hat sie 
sich um die schwarzhaarige Schar der hundert Familien^) ver- 
dient gemacht, und ihr zu Ehren ist dafür ein Räucheropfer 
eingesetzt worden. Wenn Ew. Majestät dieser glückbringenden 
Gottheit ein Opfer darbringen, wird während der vier Jahres- 
zeiten Friede und Wohlstand herrschen, dem Reiche wird 
dauerndes Glück beschieden sein. Wind und Regen werden günstig 
sein, und jegliches Unheil wird allmählich schwinden. Niü 
Kua ist eine dem Reiche glückbringende und das Volk be- 



*) Kung Kung war ein Minister des mythischen Kaisers Fuh- 
hi, und der im Texte genannte Berg ist ein fabelhafter Gipfel des 
K * u n • lu n -Gebirges. 

«) D. h. des Volkes. 

Grube, Geschichte der chinesischen Litteratur. 28 



— 434 — 

schirmende Gottheit; Ew. Majestät sollten sich hinbegeben und 
Weihrauch darbringen.' 

Der Kaiser genehmigte den Antrag und liels, in den Palast 
zurückgekehrt, durch ein Manifest bekanntgeben, dals er sich 
am folgenden Tage an der Spitze sämtlicher Beamten in den 
Tempel der Niü Kua verfügen wolle, tun Weihrauch dar- 
zubringen. 

Hätte der Kaiser es dieses Mal unterlassen, so wäre es besser 
gewesen, denn einzig und allein durch dieses Weihrauchopfer 
kam es dahin, dafs das ganze Land innerhalb der vier Meere 
verwüstet ward und das Volk seinen Lebensunterhalt verlor. Mit 
Recht heilst es : , Wer seine Angelschnur in einen ausgetrockneten 
Strom wirft, fischt nur Unheil heraus.* 

Durch das Stidtor zog der Kaiser zur Residenz hinaus. Vor 
jedem Hause brannten Räucherkerzen, und vor jeder Tür waren 
Fahnen ausgehängt und Teppiche ausgebreitet. Mit dreitausend 
gepanzerten Reitern und achthundert Leibwächtern gab Hoang 
Fei -hu dem Kaiser das Geleite, und der gesamte Hofstaat 
folgte dem kaiserlichen Zuge. 

Vor dem Tempel der Niü Kua angelangt, verliefs der 
Kaiser den Wagen und stieg die Stufen zur Tempelhalle hinan, 
wo in einem Räucherbecken Weihrauchkerzen brannten. Nach- 
dem die Beamten der Reihe nach ihre Glückwünsche dargebracht 
hatten, nahm der Kaiser die Pracht des Tempels in Augenschein. 
Da, während er noch das Ebenmals des Tempels und die Er- 
habenheit seiner Söller betrachtete,- hob plötzlich ein Windstols 
den Vorhang empor, und das geheiligte Bildnis der Niü Kua 
kam zum Vorschein. Die majestätische Gestalt der Göttin war 
von glück verheilsenden Farben imaspielt, ein Bild vollendeter 
Schönheit und natürlicher Anmut, in Wahrheit ein Götterwesen, 
aus einem Feenpalaste herniedergestiegen, gleichsam die mensch- 
gewordenene Göttin Ch'ang-ngo! 

Es gibt einen alten Ausspruch, der lautet: ,Erhebt ein Reich 
sich zur Blüte, dann zeigen sich glück verheifsende Zeichen; geht 
es aber seinem Untergange entgegen, dann stellen sich Vorboten 
des Unheils ein'.*) Kaum hatte Chou-wang dies alles erblickt, 
da geriet auch schon sein Gemüt in Wallung, die Begierden 



') Chung-yunR XXIV. 



- 435 — 

regten sich, und er dachte bei sich: ,An Vornehmheit bin ich 
der Sohn des Himmels, und mein Reichtum umfafst alles inner- 
halb der vier Meere; aber obwohl ich sechs Frauenpaläste und 
drei Gemahlinnen habe, nenne ich doch keine Schönheit mein 
eigen, die sich mit dieser messen könnte.' Darauf liefs er sich 
die ,vier Kostbarkeiten des Studierzimmers' (Reibstein, Tusche, 
Pinsel und Papier) reichen, feuchtete seinen Purpurpinsel an und 
schrieb die folgenden Verse an die weifegetünchte Wand: 

Einzig ist die Pracht der phönizgeschmückten Vo^'hänge 

Und kunstvoll mit flüssigem Golde verziert; 

In welligen Linien verschwimmt das Blau der fernen Berge. 

Wie lieblich flattert ihr rotes Gewand mit den leuchtenden Ärmeln 1 

Die Birnenblüten, vom Regen genetzt, wetteifern an Anmut mit ihr, 

Und Päonien selbst erbleichen vor ihrer Pracht! 

O könnt' ich, Bezaubernde, dich von hinnen geleiten, 

Dafs ewig daheim du meiner Freude dientest! 

Kaum aber hatte er die Verse vollendet, da trat der erste 
Minister Shang Yung an ihn heran und warnte ihn mit fol- 
genden Worten: ,Niü Kua ist eine der Hauptgottheiten des 
hohen Altertums und zugleich die Schutzgöttin von Ch*ao-ko 
(der Residenz). Ich bat Ew. Majestät, ihr mit Weihrauchkerzen 
in den Händen zu nahen, um ihren Segen zu erflehen: dann 
würden die Völker frohgemut ihrer Arbeit nachgehen, Wind 
und Regen günstig sein und Feuer und Schwert ruhen. Nun 
aber enthalten die Verse Ew. Majestät eine Lästerung der Gott- 
heit ! Wer nur um Haaresbreite von der aufrichtigen Gesinntmg 
fronuner Ehrfurcht abweicht, versündigt sich an der Heiligkeit 
der Gottheit, und solches entspricht nicht dem bei kaiserlichen 
Wallfahrten üblichen Brauche. Ich wünschte, Ew. Majestät ver- 
tilgten die Schrift mit Wasser, denn ich fürchte, wenn das Volk 
sie erblickt, möchte sich das Gerede verbreiten, der Kaiser führe 
kein tugendhaftes Regiment.^ 

Der Kaiser entgegnete jedoch: ,Da ich sah, dafs die Göttin 
an Schönheit ohnegleichen dasteht, schrieb ich die Verse nieder 
zu ihrem Preise; welch andere Absicht hätte mich dabei leiten 
können? Verliere doch keine unnützen Worte! Zudem bin ich 
ein Fürst, der über zehntausend Schlachtwagen gebietet; darum 
soll die Schrift stehen bleiben, auf dafs alles Volk sie lese und 
daraus ersehe, dafs Niü Kua die erste Schönheit der Welt ist, 

28* 



— 436 — 

zugleich aber auch, damit es ein Erzeugnis meines Pinsels vor 
Augen habe.' 

Mit diesen Worten trat er den Heimweg an; die Beamten 
aber folgten ihm gesenkten Hauptes und schweigend; keiner 
wagte, ein Wort zu reden, und wie mit geknebeltem Munde 
gingen sie ihres Weges. 

Heimgekehrt, nahm der Kaiser in der Palasthalle Lüng- 
teh-tien die Glückwünsche der Beamten entgegen, und da es 
gerade VoUmondstag war, erschienen auch die drei Kaiserinnen 
zur Audienz, um sich nach Schluls derselben wieder zurückzu- 
ziehen. 

Die Göttin Niü Kua aber hatte sich an ihrem Geburtsfeste 
nach dem Palaste Huo-yün-kung begeben, um den drei 
Heiligen Fuh-hi, Yen-ti und Hien-yüan^) ihre Huldigung 
darzubringen, und kehrte darauf wieder heim. Sie fuhr auf 
einem grünen Phönix durch die Lüfte und liefs sich dann im 
Thronsaale ihres Tempels nieder. Himmlische Knaben und die- 
nende Jungfrauen nahten sich ihr zum Grulse. Da gewahrte sie 
plötzlich, das Haupt hebend, die Verse an der Wand. Zorn- 
erfüllt rief sie: ,Shou^) von Yin ist ein pflichtvergessener, 
törichter Fürst! Statt durch Selbstveredlung und tugendhaften 
Wandel das Reich zu festigen, hat er die Ehrfurcht vor dem 
Himmel verletzt und mich durch seine Verse beleidigt! Mich 
dünkt, des Ch*eng-t'ang Haus hat, seit es dem Kieh*) die 
Herrschaft entwand, mehr denn sechshundert Jahre lang über 
das Reich geboten: vollendet ist mithin die ihm gesetzte Dauer. 
Räche ich den Frevel nicht, so möchte er gar meiner göttlichen 
Macht nicht gewahr werden!' 

Darauf entsandte sie ihren dienenden Knaben Pih-hia- 
t'ung-tszS auf einem grünen Phönix nach Ch'ao-ko. 

Inzwischen waren die beiden Prinzen Yin Kiao und Yin 
Hung (Söhne des Chou-wang) gekommen, um ihren kaiser- 
lichen Vater zu besuchen. Jener wurde m der Folge zum Jahres- 



') Drei mythische Kaiser. Die Göttin selbst war eine Schwester 
des Kaisers Fuh-hi. 

■) Shou ist nur ein anderer Name des Chou-wang. 

») Ch*eng-t«ang(angeblich 1766— 1753 v.Chr.) ist der Begründer 
des Hauses Yin, Kieh (angeblich 1818—1766 v. Chr.) der letzte 
Herrscher der Hia- Dynastie. 



— 437 — 

gott, T*ai-sui, dieser aber zum Gotte der fünf Getreidearten, 
Wu-kuh-shen, erhoben; beide sind unter dem Namen der 
göttlichen Heerführer, Shen-tsiang, bekannt Während sie 
sich gerade zur Begrülsung niederwarfen, gingen von ihren 
Häuptern zwei rote Strahlen himmelwärts, durch die N i ü K u a , 
die just unterwegs war, ihren Wolkenpfad versperrt sah. Abwärts 
blickend, erkannte sie sofort, dafs demChou-wang noch eine 
Lebensdauer von achtundzwanzig Jahren beschieden war. Da 
sie nicht voreilig handeln durfte, kehrte sie einstweilen mils- 
vergnügten Sinnes in ihren Absteigepalast zurück und befahl 
ihrem dienenden Knaben Ts*ai-ytin, einen goldenen Flaschen- 
kürbis aus dem hinteren Palaste zu holen und vor den Stufen 
der Halle niederzulegen. Nachdem sie den Deckel von dem 
Flaschenkürbis abgehoben und mit der Hand ein Zeichen ge- 
geben hatte, drang ein sparrendicker Lichtstrahl aus demselben 
hervor, der vier bis fünf Klafter lang war. An seiner Spitze 
hing ein Banner, dessen fünf farbiger Schein sich in glück- 
verheilsendem Glänze tausendfach teilte. Das war das ,Banner, 
das die Dämonen beschwört', Chao-yao-fan. In demselben 
Augenblick erhob sich ein heulender Sturmwind, düstere Nebel 
breiteten sich aus, dunkle Wolken ballten sich von allen Seiten 
zusammen, und aus allen Enden der Welt strömten die Dämonen 
im Absteigepalaste der Göttin zusammen, um ihrer Befehle zu 
harren. Niü Kua gebot ihnen durch ihren dienenden Knaben, 
sich einstweilen wieder von dannen zu heben; nur die drei 
Dämonen vom Grabe des Hien-ytian*) sollten zurückbleiben, 
um ihre Befehle entgegenzunehmen. Es waren dies der tausend- 
jährige Fuchsdämon, der neunköpfige Fasanendämon und der 
nephritne Skorpionendämon. 

Nachdem sich diese drei vor den Stufen der Palasthalle 
niedergeworfen, sprach die Göttin also zu ihnen: ,Ihr drei 
Dämonen, vernehmet meinen Befehl. Das Geschick des Hauses 
Ch*eng-t*angs ist finster; ihm ist beschieden, des Reiches 
verlustig zu gehen. Der Phönix hat auf dem Berge K*i-shan*) 
genistet, und im westlichen Chou ist ein weiser Gebieter er- 



') Hien-yüan ist ein mythischer Kaiser, der angeblich von 2698 
—2598 V. Chr. regiert hat. 

') Am Berge KM-shan befand sich der Stammsitz der nach- 
maligen Chou -Dynastie. 



— 438 - 

standen. Der Beschlufs des Himmels steht fest; so ist der Wille 
des Schicksals. Ihr dürft jetzt eure Dämonengestalt verbergen 
und im Palaste eine neue Körperhtille annehmen, um des Fürsten 
Herz zu betören. Wartet, bis Wu-wang den Chou-wang 
mit Krieg tiberzieht, dann verhelfet jenem zu gutem Erfolge; 
doch dürft ihr dabei mitnichten die lebenden Wesen zu Schaden 
kommen lassen. Habt ihr erst meinen Auftrag ausgeführt, so 
will ich euch auch zu einem angemessenen Dasein verhelfen.^ 

Nachdem ihnen die Göttin diese Weisung erteilt hatte, 
dankten ihr die drei Dämonen für die ihnen erwiesene Gnade 
und verschwanden alsdann wieder. 

So kam es, dals der Fuchs, seine Zauberkräfte entfaltend, 
das Haus des Ch*eng-t*ang nach sechshundertjährigem Be- 
stände zu Grunde richtetet — 

Dieser Fuchsdämon ninunt dann die Gestalt der Tah-ki an 
und führt durch seine Ränke und Listen schlielslich den Sturz 
der Yin-Dynastie herbei. 

Es ist schwer zu entscheiden, wieviel von den Erzählungen, 
aus denen sich das Fe ng-shen yen-i zusammensetzt, auf volks- 
tümliche Überlieferungen, sei es taoistischen, sei es buddhistischen 
Ursprungs, zurückgeht, wieviel der freien Erfindung des Dichters 
zuzuschreiben ist; Tatsache ist jedenfalls, dafs sie heutzutage 
samt und sonders dem Volksglauben angehören, — wenigstens 
soweit die Pekinger Bevölkerung in Betracht kommt, über die 
ich mir in dieser Hinsicht ein Urteil erlauben zu können glaube. 
Ich selbst lernte einen dortigen Chinesen kennen, der das Buch 
nie im Leben gelesen hatte, dem aber die darin enthaltenen 
Geschichten und Episoden als Bestandteile des herrschenden 
Volksglaubens wohlbekannt waren. In Ermangelung religiöser 
Urkunden sind daher phantastisch -m5^hologische Erzählungen 
vom Schlage des Feng-shenyen-iin gewissem Sinne geradezu 
als Quellenwerke für die Kenntnis der heutigen chinesischen 
Volksreligion anzusehen. Das gilt insonderheit auch von der »Be- 
schreibung einer Wanderung nach« den westlichen 
Regionenc, Si-yu-ki, einem Zyklus von Erzählungen ähnlicher 
Art, die sich um die wohlbekannte Gestalt des buddhistischen 
Pilgers Hüan-chuang gruppieren und die Stoffe zu einer 
ganzen Reihe volkstümlicher Zauberdramen hergegeben haben. 

Bekannter jedoch als dasFeng-shen yen-i und Si-yu-ki 



— 439 — 

ist bei uns in Europa dank Stan-Juliens französischer Über- 
setzung die »Wunderbare Geschichte von der weifsen 
Schlange«, Poh-she k'i-chuan^), auf die ebenfalls mehrere 
beliebte Zauberdramen zurückgehen und die in Kürze folgenden 
Inhalt hat. In einer Höhle in der Nähe von Ch*eng-tu-fu, 
der Hauptstadt der Provinz Sz6-ch'uan, lebte ein weifser 
Schlangendämon, dem es, obwohl er sich schon seit achtzehn- 
hundert Jahren mit der Ausübung guter Werke befalste, 
bislang noch nicht geglückt war, sich aus den Banden der tieri- 
schen Existenz zu befreien. Des einförmigen Lebens satt, be- 
schliefst die weifse Schlange eines schönen Tages, einen Ausflug 
nach dem fernen Hang -c ho u zu unternehmen. Gesagt, getan; 
aber während sie auf den Wolken durch die Lüfte fährt, be- 
gegnet sie dem Gotte des nördlichen Polarsterns, der sie, über 
ihre Verwegenheit erzürnt, zur Rede stellt. Demütig bekennt 
sie ihre' Schuld und sagt dem Gotte, sie sei im Begriffe, sich ans 
südliche Meer zubegeben, um Kuan-yin, die Göttin der Barm- 
herzigkeit, nach ihrem Lose zu befragen. Und als der Gott 
verlangt, dafs sie mit einem Schwur bekräftigen solle, dafs sie die 
Wahrheit geredet habe, fällt sie ihm zu Füfsen und spricht: 
»Sollte ich gelogen haben und mich nicht ans südliche Meer be- 
geben, so will ich dereinst bei lebendigem Leibe unter der Pagode 
Lei-feng-t'ah begraben werden!« Daraufhin überläfst der 
Gott sie ihrem Schicksal, sie aber kehrt sich nicht an ihr soeben 
gegebenes Versprechen, sondern zieht geradeswegs nach Hang- 
chou. 

Am Ziele ihrer Fahrt angelangt, läfst sie sich in dem ver- 
lassenen Garten eines unbewohnten Palastes nieder, ohne zu 
ahnen, dafs dort bereits ein schwarzer Schlangendämon haust, 
dem ein ähnliches Schicksal beschieden war. Dieser will den 
fremden Eindringling nicht in seinem Bereiche dulden, und so 
beschlief sen die beiden Dämonen, ihre Kräfte aneinander zu 
messen. Die schwarze Schlange zieht im Kampfe den kürzeren 
und muls nun der weifsen als ihrer Herrin gehorchen; doch 
leben sie fortan in Eintracht und Freundschaft miteinander. 

Da begab es sich, dafs der Apothekerlehrling Hiü Sien, 
am Totenfeste vom Grabe seiner Eltern heimkehrend, zwei 



') Stan. Julien, Blanche et Bleue, ou les deux couleuvres f6es, 
roman chinois. Paris 1834. 



— 440 — 

Mädchen erblickte, die durch ihren Liebreiz seine Blicke fesselten ; 
es waren dies die beiden Schlangendämonen, die aufser vielerlei 
anderen Zauberkräften auch die besalsen, menschliche Gestalt an- 
zunehmen. Auch die weifse Schlange ist sofort sterblich in den 
schönen Jüngling verliebt, und nach mancherlei Zwischenfällen 
reichen sie einander die Hand zum ehelichen Bunde. H i ü Sien 
eröffnet einen Apothekerladen, doch verstreicht ein voller Monat, 
ohne dafs er Kundschaft findet, bis endlich seine Frau, deren 
dämonische Natur ihm natürlich verborgen ist, eine Seuche herbei- 
zaubert und dadurch sein Geschäft zur Blüte bringt. Aber nur 
zu bald sollte das Glück der beiden Ehegatten eine bedenkliche, 
wenn auch für diesmal nur vorübergehende Trübung erfahren. 

Von alters her wird in ganz China am fünften Tage des 
fünften Monats zum Andenken an das tragische Ende des K^iüh 
Yüan (s. oben S. 176) das sog. Drachenbootfest gefeiert, welches 
seiner ursprünglichen Bedeutung nach wahrscheinlich der Feier 
der Sommersonnenwende galt. An diesem Tage pflegt man all- 
gemein den bösartigen klimatischen Einflüssen, sowie auch den 
Bissen der »fünf giftigen Tiere c : Schlange, Skorpion, Tausendfufs, 
Kröte und Eidechse, durch Anwendung von allerhand Talismanen 
und Zaubermitteln vorzubeugen. Zu diesen gehört vor allem die 
Schwefelblüte, und man pflegt daher an dem genannten Tage 
Wein mit einem geringen Zusatz von Schwefelblüte zu geniefsen, 
um sich gegen böse Einflüsse aller Art zu schützen. Hiü Sien 
befolgt ebenfalls den herrschenden Brauch und will auch seiner 
Frau von dem Weine zu trinken geben, die sich indessen, um 
dem für ihre Schlangennatur unheilvollen Tranke zu entgehen, 
krank gestellt und zu Bett gelegt hat. Nichtsdestoweniger 
zwingt er sie, den Becher zu leeren. Als er dann nach einer 
Weile abermals das Schlafgemach betritt und den Bettvorhang 
zur Seite schiebt, um sich gleichfalls niederzulegen, erblickt er 
zu seinem Entsetzen eine weifse Schlange, die, auf dem Lager 
zusammengekauert, ihm ihr Haupt entgegenreckt und Feuer- 
flammen aus ihrem Rachen speit. Vom Schreck gelähmt, sinkt 
Hiü Sien tot zu Boden. 

Durch den Lärm aus dem Schlafe geweckt, stürzt die schwarze 
Schlange herbei und weckt, als sie sieht, was geschehen ist, ihre 
Herrin. Diese nimmt, indem sie erwacht, wieder ihre mensch- 
liche Gestalt an und bricht nun in Tränen aus, da sie gewahrt, 



i 



— 441 — 

was sie wider ihren Willen angerichtet hat. Nachdem der erste 
Schreck überwunden ist, begibt sie sich sofort in die himmlischen 
Gefilde der Göttin Si-wang-mu, erregt jedoch den Zorn der 
letzteren, weil sie deren dienenden Knaben, der ihr den Zutritt 
verwehren wollte, verletzt hat. Da legt sich Kuan-5Mn, die 
Göttin der Barmherzigkeit, ins Mittel, indem sie die Si-wang- 
mu belehrt, dafs die Ehe der weifsen Schlange mit Hiti-Sien 
von alters her im Ratschlufs des Himmels gelegen habe, weil 
der Gott der Litteratur, der auf dem Sterne Wen -sing seinen 
Sitz hat, in ihrem Leibe Menschengestalt annehmen solle. Einen 
Monat nach dessen Geburt werde ein heiliger Mann erscheinen 
und die weifse Schlange gemäfs dem Schwur, den sie dem Gotte 
des nördlichen Polarsterns getan, unter der Pagode Lei-feng- 
t'ah begraben. Erst wenn sich ihr Sohn einen Namen gemacht 
habe, solle die weifse Schlange in den Regionen der Götter 
wiedergeboren werden. Daraufhin schenkt ihr Si-wang-mu 
die Freiheit und heifst sie sich zum Gotte des langen Lebens 
begeben, um von ihm das Kraut der Unsterblichkeit zu erbitten. 
Die weifse Schlange tut denn auch, wie ihr befohlen ward, und 
kehrt dann mit dem Wunderkraut heim, nach dessen Genüsse 
Hiü Sien wieder zum Leben erwacht. 

Bald darauf erfreut sie ihren Gatten durch die Geburt eines 
Sohnes, der den Namen Meng-kiao erhält: 

»Am Tage, da das Knäblein einen Monat alt geworden 
war*), fanden sich alle Verwandten und Freunde ein, um ihre 
Glückwünsche darzubringen, Hiü Sien aber hiefs sie freude- 
strahlend willkonmien und geleitete sie in die Empfangshalle, wo 
sie sich niederliefsen. Während die Unterhaltung just im vollen 
Gange war, erschien plötzlich ein Priester vor der Tür. Als 
Hiü Sien bei näherem Hinsehen erkannte, dafs es Fah-hai, 
der Abt des Klosters Kin-shan-sz6 (der ihn vor einiger Zeit 
vor der Dämonennatur seiner Frau gewarnt hatte) war, eilte er 
ihm entgegen und geleitete ihn in die Halle. Nachdem der Geist- 
liche daselbst Platz genommen hatte, sprach er zu Hiü Sien: 
,Entsinnst du dich wohl noch der Ermahnungen, die ich einst im 
Kloster an dich richtete? Du hast dich abermals von ihr täuschen 



^) Der Tag der Vollendung des ersten Monats wird in China stets 
festlich begangen. 



— 442 — 

lassen ; heute aber hat ihre Stunde geschlagen, und ich bin eigens 
hergekommen, um den Dämon auszutreiben.^ 

,Ehrwtirdiger Meister,' sagte Hiü Sien, ,selbst wenn sie 
auch ein dämonisches Wesen sein mag, so hat sie mir doch nie 
das geringste Leid angetan, sondern sich in jeder Beziehung 
tugendhaft und ehrbar gezeigt; daher habe ich es nicht übers 
Herz bringen können, sie zu verstofsen. Ich hoffe, du wirst mir 
verzeihen!' 

Da sprach Fah-hai: ,Da du an deinem Irrtum festhältst, 
will ich mich nicht weiter um euer Schicksal kümmern ; nur bin 
ich nach dem weiten Wege, den ich zurückgelegt, durstig, — 
würdest du mir wohl eine Schale Tee geben?' 

jSofort,' erwiderte Hiü Sien und war gerade im Begriff, 
sich zu erheben und das Gewünschte zu bringen, als ihn Fah- 
hai zurückhielt und sagte: ,Ich fürchte, eure Schalen möchten 
unrein sein, — ich habe meine eigene Almosenschale bei mir; die 
kannst du mir füllen.' 

,Der Abt scheint ja sehr auf Sauberkeit zu halten,' sprach 
Hiü Sien zu sich selber; dann nahm er die Schale und ging 
in die inneren Gemächer. 

Als die Weifse, die gerade dabei war, sich am Fenster zu 
kämmen und zu waschen, den Hiü Sien mit einem goldglänzen- 
den Gegenstande in den Händen eintreten sah, wollte sie ihn eben 
danach fragen, als die Almosenschale plötzlich von selbst in die 
Luft flog und sich dann mit tausendstrahligem Lichtschein wie 
ein Deckel auf ihrem Haupte niederliefs. Ihr war, als wollte 
ihre Seele entweichen, und auf die Kniee niedersinkend flehte sie 
Buddha um Erbarmen an. Entsetzt schlofs H i ü S i e n sie in seine 
Arme, aber als er die Schale von ihr entfernen wollte, schien 
sie an ihrem Körper festgewachsen, so dafs er sie nicht von 
der Stelle rücken konnte. 

,Mein Gatte,' sprach die Weilse mit Tränen, ,ich habe 
mich am Hinmiel versündigt; jetzt hat die Stunde geschlagen, 
da ich mich von dir trennen muls. Übergib den Meng-Kiao 
der Obhut deiner Schwester; du selbst aber solltest auch dein 
eigenes Wohl im Auge behalten und dich nicht um meinet- 
willen dem Kummer hingeben.' 

Diese Worte zerrissen dem Hiü Sien das Herz, und er war 
nicht im stände, seine Klagen und Tränen an sich zu halten. 



— 443 — 

Da kam die kleine Schwarze, die inzwischen erfahren hatte, was 
sich zutrug, herbeigeeilt und sprach, indem sie auf die Kniee 
sank, unter Tränen: ,Meine Gebieterin! ich riet dir, ein Sühn- 
opfer darzubringen, weil ich hoffte, dals du dadurch das Unheil 
würdest abwenden können, — wie konnte ich damals ahnen, dafs es 
unmöglich sein würde, dem Schicksal zu entrinnen, und dir be- 
schieden sei, solch grolses Unheil über dich ergehen zu lassen !' 

Weinend erhob sie sich, die Weifse aber sprach mit tränen- 
erstickter Stimme : ,Kleine Schwarze, ich hatte es gewufst, dafs 
ich dem heutigen Unheil nicht entgehen würde. Seit Jahren 
bist du mir in Treue verbunden gewesen, und obwohl dem 
Namen nach Herrin und Dienerin, hatten wir einander doch 
lieb wie Schwestern! Mich von dir trennen zu müssen fällt mir 
in Wahrheit schwer. Mein Söhnlein Meng-Kiao vertraue ich 
der Obhut meiner Schwägerin an-, mache dir daher um seinet- 
willen keine Sorgen, sondern schicke dich an, in unsere Höhle 
T'sing-feng-tung (»Höhle des reinen Windest) zurückzukehren. 
Bleibe dort und lafs dich nicht verleiten, um weltlicher Gelüste 
willen abermals ein Unheil heraufzubeschwören.* 

Als die kleine Schwarze diese Weisung vernahm, brach sie 
in Tränen ans, warf sich auf ihr Antlitz nieder und nahm Ab- 
schied von Hiü Sien. Darauf ward sie von einer Wolke hinweg- 
getragen und lebte fortan in ihrer Höhle, wo sie sich der 
Pflege ihres Herzens und frommen Übungen widmete, um der- 
einst in den Regionen der Götter wiedergeboren zu werden. 

Als Kung Fu und seine Gattin Hiü-shi (der Schwager 
und die Schwester des Hiü Sien) die Klagelaute vernahmen, 
kamen sie herbeigeeilt und erschraken gewaltig beim Anblick 
der Weifsen. Diese aber sprach: ,Schwager und Schwägerin 
und du, mein Gatte, vernehmt, was ich euch zu vermelden 
habe. Ich war ursprünglich 'eine weitse Schlange, die in der 
Höhle Ts'ing-feng-tung in der Nähe von Ts*ing-ch'eng 
in der Provinz Sz6-ch*uan lebte. Jahrelang hatte ich in 
meiner HöMe frommen Übungen obgelegen, bis ich mir eines 
Tages einen. Ausflug gönnte, wobei ich, des süfsen Weines voll, 
am Fufse des Berges einschlief. Im Traume aber nahm ich 
meine ursprüngliche Gestalt an und ward von einem Bettler auf- 
gegriffen, der mich auf den Markt trug und mich zum Kaufe 
feilbot. Da war es mein Gatte in einer seiner früheren Existenzen, 



— 444 — 

der mich dort erblickte und aus Mitleid und Erbarmen kaufte, 
um mir dann die Freiheit zu schenken, so dafs ich wieder auf 
meinem Berge leben konnte. Dafür bewahrte ich ihm Dankbar- 
keit im Herzen, und da ich erfuhr, dafs es ihm in seinem gegen- 
wärtigen Leben vom Schicksal beschieden sei, ohne Nachkommen- 
schaft zu bleiben, kam ich vom Berge herab und vermählte 
mich mit ihm.c 

Ich tibergehe den Rest ihrer Bekenntnisse, weil darin nur 
wiederholt wird, was bereits aus der Erzählung selbst bekannt ist. 
Die Gäste hatten inzwischen, von Grauen erfafst, das Haus ver- 
lassen, Fah-hai aber, der allein in der Halle zurückgeblieben war, 
Stiels mit seinem Priesterstabe gegen die Erde, imd in demselben 
Augenblicke ward die Weifse unsichtbar. Dann fährt die Er- 
zählung fort: 

>Als Hiü Sien die Almosenschale mit beiden Händen er- 
griff, um sie wieder fortzutragen, gewahrte er plötzlich eine 
winzige weifse Schlange, die in ihrem Innern lag. So sehr er 
sich auch bemühte, sie herauszulangen, gelang es ihm doch 
nicht. So begab er sich denn mit der Schale in die Empfangs- 
halle zurück, liefs sich vor dem Priester auf die Kniee nieder 
und sprach : ,Ehrwürdiger Meister, erbarme dich meiner, der ich 
von allem, was ich besessen, geschieden bin! Ich hoffe, du 
wirst Erbarmen mit mir haben!' 

Der Priester aber hob ihn auf und sprach lächelnd : ,Es ist 
das Schicksal, das ihr beschieden war, — ich habe nur den Be- 
fehl Buddhas ausgeführt. Da du jedoch so tief betrübt bist, so 
komm mit mir an das Gestade des Si- hu -Sees; dann will ich 
sie dir noch einmal zeigen.' 

Hiü Sien dankte ihm fufsfällig, worauf der Priester seine 
Almosenschale nahm und zum nördlichen Stadttore hinausschritt, 
während Hiü Sien ihm folgte. Am Fufse der am Ufer des 
Sees gelegenen Pagode Lei-feng-t*ah angelangt, hob Fah- 
hai seine Almosenschale empor, und nachdem er eine Be- 
schwörungsformel gesprochen, rief er: ,Weifse, komm hervor!' 
Da drang ein weifser Lichtstrahl aus der Almosenschale hervor, 
der alsbald die Gestalt der Weifsen annahm. Kaum hatte Hiü 
Sien sie erblickt, da suchte er sie unter lautem Schluchzen fest- 
zuhalten-, aber während sich noch die beiden Ehegatten ihren 
Wehklagen hingaben, sprach Fah-hai: , Weifse, nun magst du 



— 445 - 

wieder von hinnen gehen*, worauf diese hastig auf die Kniee 
sank und rief: ,0 Buddha! wenn ich jetzt von hinnen gehe, 
weifs ich ja nicht, ob es mir je beschieden sein wird, wieder 
hervorzukommen V 

,Gehe jetzt deiner Wege,* erwiderte Fah-hai; ,wenn du 
dich zu läutern und dein Herz zu veredeln vermagst, wird 
dereinst dein Sohn, wenn er sich erst ausgezeichnet hat, heim« 
kehren und an der Pagode ein Totenopfer darbringen, und ich 
verspreche dir, dafs ich dann selber dich zu den Unsterblichen 
emporheben werde. Wenn du dich jedoch nicht läuterst und 
deine Fehler gutmachst, wird der See austrocknen und die 
Pagode in Trümmer sinken; dann aber werde auch ich nicht 
mehr im stände sein, dich zu befreien.' 

Nach diesen Worten warf sich die Weifse ihm zu Fülsen 
und gelobte, sich dem Befehle Buddhas fügen zu wollen, c 

Bald darauf entsagt Hiü Sien dem weltlichen Leben und 
zieht sich in das Kloster zurück, dessen Abt Fah-hai ist» 
Zwanzig Jahre später geht dann die Prophezeiung der Kuan- 
yin in Erfüllung. Nachdem Meng-Kiao kraft seiner gött- 
lichen Natur die Staatsprüfungen der Reihe nach glänzend be« 
standen hat, macht er sich auf, um das Grab semer Mutter zu 
besuchen. Unterwegs hält er im Kloster Kin-shan-sz6 Ein- 
kehr, wo er in einem alten Mönche seinen Vater wiedererkennt, 
und nun begeben sich Vater und Sohn selbander zu jener ge- 
heimnisvollen Pagode. Während sie daselbst das Totenopfer 
darbringen, erscheint plötzlich der wundertätige Fah-hai aus 
den Lüften und heifst die Weifse aus der Pagode hervorkommen. 
Aber nur kurz ist die Freude des Wiedersehens, denn Hiü Sien 
und seine aus ihrem Grabe befreite Gattin werden alsbald von 
einer Wolke gen Himmel emporgetragen. 

Bei Pekinger Leichenzügen kommt es bisweilen vor, dafs 
am vorderen Ende der Totenbahre, aulserhalb des Baldachins, eine 
kleine Bühne errichtet ist, auf der drei Knaben stehen, welche die 
Götter des Glückes, des Reichtums und des langen Lebens dar- 
stellen. Vor diesen befinden sich dann noch manchmal zwei kleine 
Knaben in Frauengewändern, der eine weifs, der andere schwarz 
gekleidet, — sie stellen die beiden Schlangendämonen dar imd 
versinnbildlichen als solche den Wunsch, dafs der Tote, dem 
Hiü Sien gleich, wieder ins Leben zurückkehren möge. So 



— 446 — 

hat auch diese Erzählung die religiösen Volksbräuche beeinflufst. 
Für manchen deutschen Lehrer wird sie noch dadurch ein be- 
sonderes Interesse gewinnen^ dals sie — was bisher wohl kaum 
bekannt geworden sein dürfte — Herman Grimm die An- 
regung zu seiner wirkungsvollen Dichtung »Die Schlangec ge- 
geben hat. 

2. Die Novelle. 

Neben dem eigentlichen Roman hat die chinesische Litteratur 
noch eine Reihe jener kürzeren romanhaften Erzählungen auf- 
zuweisen, die füglich als Novellen bezeichnet werden können. Zwei 
Sammlungen novellistischer Erzählungen sind es, die hier besonders 
in Betracht kommen, weil sie sich einer nicht unverdienten 
Berühmtheit erfreuen. Die erste derselben stammt aus der Zeit 
der Mi ng- Dynastie (1368 — 1644); sie trägt den Titel: Kin-ku 
kM-kuan, »Wundersame Geschichten aus neuer und alter 
Zeitc und enthält vierzig Erzählimgen, die von verschiedenen Ver- 
fassern herrühren. Obwohl galante Abenteuer in diesen Erzäh- 
lungen die Hauptrolle spielen, so ist ihr Inhalt nichtsdestoweniger 
so mannigfaltig, dafs auch sie einen ebenso vielseitigen wie lehr- 
reichen Einblick in das soziale Leben, die Sitten und Bräuche, die 
Anschauungs- und Denkweise des Volkes gewähren; dabei haben 
sie dem Roman gegenüber durch ihre Kürze den Vorzug gröfserer 
Einheitlichkeit und Abgerundetheit in der formellen Behandlung 
des Stoffes. Von hohem kulturgeschichtlichem Interesse sind 
besonders diejenigen unter diesen Erzählungen, welche mit 
scharfer Satire die noch im heutigen China herrschenden aber- 
gläubischen Anschauungen an den Pranger stellen. Ein Beispiel 
dieser Art, das so manche Parallele zu den europäischen Kultur- 
zuständen des Mittelalters darbietet, ist jene Novelle, die mit 
drastischem Humor den Gimpelfang der Alchimisten schildert.*) 



*) S. d'Hervey-Saint-Denys, Trois nouvelles chinoises, tra- 
duites pour la premi^re fois. Paris 1885. Von sonstigen Übersetzungen 
aus dieser Sammlung hebe ich noch die folgenden hervor: d'Hervey- 
Saint-Denys, La tunique de perles, un serviteur m^ritant, et Tang 
le Kiaif-youen. Trois nouvelles chinoises. Paris 1889. — Derselbe, 
Six nouvelles traduites pour la premi^re fois du chinois. Paris 1892. — 
Th. Pavie, Choiz de contes et nouvelles traduits du chinois. Paris 
1839. — G. Schlegel, Le vendeur d'huile qui seul possMe la reine- 



- 447 — 

Bezeichnenderweise ist der traurige Held der Geschichte nicht 
etwa ein einfacher Mann aus dem Volke, sondern ein Vertreter 
der gelehrten Kaste, der noch obendrein die zweite der drei 
Staatsprüfungen mit Auszeichnung als Erster bestanden hat. 

Herr P*an — so lautet sein Name — ist ein vermögender 
Mann, dem seine Mittel es gestatten, ein Landhaus am malerischen 
Ufer des Si- hu -Sees zu mieten, um daselbst die Herbstmonate 
zu verbringen. Gleichzeitig mit ihm läfst sich im Nachbarhause 
ein Mann nieder, der durch den fürstlichen Aufwand, den er 
treibt, bald genug P* ans Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Nach 
einiger Zeit macht er zufällig die Bekanntschaft seines Nachbars 
und benutzt die Gelegenheit, sich bewundernd über dessen Reich- 
tum zu äulsem; jener aber meint bescheiden, sein Reichtum sei 
nicht der Rede wert, — überhaupt komme es nicht auf die Gröfse 
des Besitzes, sondern einzig und allein darauf an, dafs man das 
Mittel kenne, durch welches der Schatz unerschöpflich werde. 
Diese geheimnisvolle Andeutung reizt natürlich P*ans Neu- 
gierde erst recht, und er fragt seinen rätselhaften Freund, welcher 
Art denn jenes Mittel sei. Das lasse sich nicht so im Hand- 
umdrehen auseinandersetzen, erwidert dieser; als jedoch P*an 
immer ungestümer in ihn dringt, nimmt er ihn schliefslich beiseite 
und flüstert ihm ins Ohr: »Ich kenne das Geheimnis der neun 
Umwandlungen, durch die man aus Zinn und Quecksilber Gold 
bereiten kann. Man braucht jenes nur durch Zinnober zu läutern, 
so wird es zu Gold.c 

P^an, der schon so viele Versuche dieser Art gemacht, 
lälst nun dem anderen keine Ruhe, bis der sich herbeiläfst, ihn 
in das Geheimnis einzuweihen. Es wird ein Kessel mit einigen 
Unzen Zinn und Quecksilber darin auf den Zauberofen gestellt, 
und sobald die glühende Masse flüssig geworden, schüttet der 
Alchimist mit der Nagelspitze seines kleinen Fingers ein wenig 
pulverisiertes Zinnober hinein, worauf das flüssige Metall sofort 
eine schneeweifse Färbung annimmt und wie reines Silber aus- 



de-beaut^ ou splendeurs et mis^res des courtisanes chinoises. Roman 
chinois, trad. pour la premi^re fois. Leyde u. Paris 1877. — Ed. Gries- 
bach, Kiu-ku-ki-kuan, Neue und alte Novellen der chinesischen 1001 
Nacht. Stuttgart 1880. — Derselbe, Chinesische Novellen. Leipzig 
1884. — Rob. K. Douglas, Chinese Stories. Edinburgh u. London 
1893. 



— 448 — 

sieht. Bei dieser Gelegenheit weiht der Alchimist seinen wifs- 
begierigen Schüler in die Geheimnisse seiner Kunst ein: man 
müsse, sagt er ihm, Gold oder Silber in den Kessel legen, das 
als sogenanntes »Muttermetall« diene; nachdem dasselbe neun Um- 
wandlungen durchgemacht habe, brauche man nur ein wenig 
pulverisiertes Zinnober hineinzustreuen, um die gewünschte 
Mischimg zu erzielen. Je mehr »Muttermetalle verwendet werde, 
um so besser sei natürlich das Resultat. 

P*ans Entzücken kennt keine Grenzen, und auf seine in- 
ständigen Bitten willigt der neue Freund schlielslich ein, mit 
seiner schönen jungen Frau für einige Zeit zu ihm ins Haus zu 
ziehen, um gemeinsam zu experimentieren. Sofort rückt P*an 
mit zweitausend Unzen Silber heraus, die dem Alchimisten als 
»Muttermetalle dienen sollen, und am nächsten Tage macht man 
sich an die Arbeit, die einundachtzig Tage währen wird, da jede 
der neun mystischen Umwandlungen einen Zeitraum von neun 
Tagen erfordert. 

Nach etwa drei Wochen trifft plötzlich ein Eilbote mit der 
Nachricht ein, dafs die Mutter des Alchimisten gestorben sei. 
Natürlich mufs der trauernde Sohn, der trefflich den Verzweifelten 
spielt, unverzüglich in seine Heimat reisen, um der teuren Toten 
die letzte Ehre zu erweisen. Seine Frau jedoch, die in das 
Geheimnis eingeweiht ist, läfst er zurück, nachdem ihm P'an 
die Versicherung gegeben hat, dafe sie bei ihm sicher aufgehoben 
sei und das Schlafgemach seiner Frau teilen werde. Da sich 
P*an inzwischen in die vermeintliche Frau seines Gastes sterblich 
verliebt hat, ist ihm die neue Wendung der Dinge keineswegs 
unwillkommen; aber obwohl er alle Augenblicke mit der schönen 
Dame am Zauberofen zusammentrifft, findet er doch keine Ge- 
legenheit, ihr seine Gefühle an den Tag zu legen, da der junge 
Bursche, der für das Feuer im Ofen zu sorgen hat, stets zugegen 
ist. Um den lästigen Zeugen loszuwerden, läfst er ihn, an- 
geblich zur Belohnung für seinen Fleifs, durch seine Dienst- 
boten bewirten. Der Erfolg entspricht durchaus seinen Er- 
wartungen, und während der Wächter des Herdes am nächsten 
Tage seinen Rausch ausschläft, findet P*an endlich die lang- 
ersehnte Gelegenheit, ungestört dem Zuge seines Herzens zu 
folgen. Aber nicht lange währt sein Glück, denn früher als 
erwartet kehrt der abwesende Gatte zurück. Tags darauf begibt 



— 449 — 

i^ man sich gemeinsam ins Laboratorium; als aber der Alchimist 

^ den Deckel vom Kessel abhebt, ruft er entsetzt: »Es ist hin! 

i Es ist hin! Die Zinnoberessenz hat sich verflüchtigt, und selbst 

n das Muttermetall hat sich in Bodensatz verwandelt! Hier müssen 

sich unreine Dinge zugetragen haben !c Als nun gar in dem 

darauffolgenden Verhör die Frau ihrem Gatten unter Tränen 

t klagt, dals sie vergewaltigt worden sei, kennt Ser Zorn des 

Alchimisten keine Grenzen mehr, und nur mit Mühe vermag 

I P*an den gekränkten Ehemann zu beruhigen, indem er die 

diesem angetane Schmach mit Silber aufwiegt. So ist denn das 

Ende vom Liede, dafs das ganze :f Muttermetall« in die Tasche 

des Alchimisten wandert, der dann mit seiner Beute das Weite 

sucht. Der ehrliche P*an aber macht sich hinterdrein noch die 

bittersten Vorwürfe, ohne auch nur zu ahnen, dafs er nur das 

Opfer eines abgekarteten Spieles war. 

Er ist jedoch noch keineswegs durch den Schaden klug 
geworden, sondern fällt bald darauf abermals einer Bande von 
Schwindlern, die sich für Alchimisten ausgeben, in die Hände, 
bis er schliefslich den letzten Heller verloren hat. Da, als er von 
allen Mitteln entblöfst bettelnd umherzieht, gewahrt er eines 
schönen Tages auf einem reichgeschmückten Blumenboot die 
schöne Gefährtin des Alchimisten. Auch sie erkennt ihren ehe- 
maligen Anbeter und ruft ihn freundlich zu sich. Wie nun ein 
Wort das andere gibt, bekennt sie ihm, dafs sie, jetzt die Mai- 
tresse eines reichen Mannes aus Ho-nan, damals von jenem 
Betrüger für die schmachvolle Rolle, die sie spielen mufste, ge- 
dungen worden war. Reuevoll bittet sie ihn um Verzeihung 
und sühnt das begangene Unrecht, indem sie ihn reich beschenkt ; 
zugleich aber beschwört sie ihn, sich nie wieder mit Alchimisten 
einzulassen, die samt und sonders Schwindler seien. Damit ist 
P*an endgültig von seinem Wahn geheilt. 

In einer verhältnismäfsig leichten Sprache flott und spannend 
geschrieben, erfreuen sich die Novellen des Kin-ku k'i-kuan 
mit Recht einer grofsen Beliebtheit 5 doch darf nicht verschwiegen 
werden, dafs sie, unbeschadet ihrer sonstigen Vorzüge, keineswegs 
durchweg auf der eigenen Erfindung ihrer anonymen Verfasser 
beruhen; für eine von ihnen läfst es sich zum mindesten mit 
Sicherheit nachweisen, dafs ihr Stoff mit der gröfsten Skrupel- 
losigkeit einem der im vorigen Kapitel erwähnten Dramen aus 

Grube, Geschichte der chinetitchen Litteratur. 29 



— 450 — 

der Zeit der Mongolenherrscbaft, dem »Sklaven seines Reichtums«, 
entlehnt ist. ^) 

Die zweite der in Rede stehenden Novellensammlungen träg^ 
den Titel: Liao-chai chi-i^), der einer besonderen Erklärung 
bedarf. Es ist nämlich eine unter den chinesischen Schriftstellern 
weitverbreitete Sitte, dals sie sich statt ihres wahren Namens 
eines Pseudo!i3rms bedienen, und zwar verwenden sie für diesen 
Zweck mit Vorliebe irgend einen frei gewählten Phantasienamen, 
mit dem sie sei es ihren Garten, sei es ihr Haus oder auch ihr 
Studierzimmer bezeichnen. So hatte auch P*u Sung-ling, 
der Verfasser dieser Novellen, der dem 17. Jahrhtmdert angehört, 
seinem Studierzimmer (chai) den Namen Liao, »die Zufluchtc, 
gegeben, und Liao-chai chi-i bedeutet demgemäls, wörtlich 
übersetzt: Seltsame Geschichten aus der »Zuflucht«.®) Es ist 
eine sechzehnbändige Sammlung meist ganz kurzer Erzählungen, 
in denen der herrschende Gespenster- und Dämonenglaube einen 
breiten Raum einnimmt. Ich greife aus der grofsen Zahl dieser 
Novellen eine heraus, die durch ihren phantastischen Inhalt als 
ein charakteristisches Beispiel gelten kann. Sie hat den Namen 
ihrer Heldin Hung-yüh zum Titel. 

»In Kuang-p^ing-fu lebte ein alter Mann, namens Feng, 
mit seinem Sohne Siang-ju. Der Alte war den Sechzigen 
nahe, von rechtschaffenem Charakter, aber seit jeher unbegtitert, 
und da seine Frau und Schwiegertochter bald nacheinander ge- 
storben waren, mufste er mit seinem Sohne jegliche Frauenarbeit 
selbst verrichten. 

Als Siang-ju eines Abends im Mondschein dasals, gewahrte 
er plötzlich, wie ein Mädchen aus dem Nachbarhause ihn über 
die Mauer her beobachtete. Da sie schön war, trat er näher 
heran, lächelte ihr verstohlen zu und winkte ihr mit der Hand. 
Obwohl sie dem Winke nicht gleich folgte, so ging sie doch 
auch nicht fort, und als er sie dringender einlud, stieg sie schliefslich 
die Leiter herab und gesellte sich zu ihm. Auf seine Frage nach 
ihrem Namen erzählte sie ihm, dals sie im Nachbarhause wohne 



^) Es ist dies die zweite der in den Trois nouvelles chinoises von 
d'Hervey-Saint-Denys übersetzten Erzählungen. 

') Strange Stories from a Chinese Studio. Translated and anno- 
tated by H. A. Giles. 2 vols. London 1880. 

») L. c. p. xxvin ff. 



— 451 — 

und Hung-yüh heifse. Der junge Feng fand grolses Wohl- 
gefallen an ihr und schlug ihr vor, dauernde Freundschaft zu 
schliefsen; sie ging auch darauf ein und kam von nun an all- 
nächtlich zu ihm. 

So mochte ein halbes Jahr verstrichen sein, da wachte der 
Alte eines Nachts auf und hörte, wie im Zinmier seines Sohnes 
gelacht und gesprochen wurde. Als er nun aber einen Blick 
hineinwarf und das Mädchen gewahrte, geriet er in hellen Zorn 
imd rief seinen Sohn heraus. ,Du Tunichtgut!' fuhr er ihn an, 
,was treibst du da? arm, wie wir sind, solltest du dich anstrengen 
und arbeiten, — statt dessen aber gibst du dich dem Leichtsinn 
hin! Wenn die Menschen das erfahren, kommst du um deinen 
guten Ruf, und selbst wenn sie es nicht erfahren, wirst du deine 
Lebensdauer dadurch verkürzen!* 

Da sank der Sohn auf die Kniee und beteuerte unter Tränen 
seine Reue; der Alte aber sprach scheltend zum Mädchen: ,Ein 
Mädchen, das die Gebote jimgfräulicher Zucht und Sitte nicht 
befolgt, entehrt nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Ist 
die Sache erst einmal ruchbar geworden, so wird es nicht mein 
armes Haus allein sein, das unter der Schande zu leiden hat!' 

Mit diesen Worten zog er sich zornig zurück und suchte 
wieder sein Lager auf. Hung-yüh aber sagte schluchzend: 
,Dein Vater hat mich so mit Vorwürfen überschüttet, dafs ich 
mich vor Scham nicht zu lassen weils. Unser beider Schicksal 
dürfte nun wohl besiegelt sein.* 

,In meines Vaters Gegenwart durfte ich mich nicht gehen 
lassen,* erwiderte Siang-ju. ,Wenn du mir aber gut bist, 
wirst du den Schimpf zu verwinden suchen und mich lieb be- 
halten.* 

Das Mädchen vermochte keinen Laut hervorzubringen; als 
nun aber auch Siang-ju in Tränen ausbrach, suchte sie ihn 
zu beruhigen, indem sie sprach: ,Wir haben weder einen Ehe- 
vermittler noch den Willen unserer Eltern auf unserer Seite; wie 
vermöchten wir, wenn wir Dieben gleich durch eine Mauerspalte 
hindurchschlüpfen wollten , zu hoffen , bis auf unsere alten Tage 
vereint zu bleiben ? Es gibt aber eine andere Verbindung hier am 
Orte, die für dich geeignet wäre.* Und als Siang-ju auf seine 
Armut hinwies, fügte sie hinzu: , Warte, bis ich heut abend 
wiederkomme; dann wollen wir das Weitere besprechen.* 

29* 



— 452 — 

Am Abend erschien sie denn auch wirklich und übergab 
ihm vierzig Unzen Silber, indem sie sagte: ,Sechzig Li von 
hier lebt im Dorfe Wu-ts*un ein Mädchen namens Wei, das 
achtzehn Jahre alt ist. Da ihre Eltern ein hohes Brautgeld für 
sie verlangen, hat sich bisher noch kein Freier gefunden; wenn 
du sie jedoch durch ein reiches Geschenk zu ködern suchst^ 
werden sie sicherlich ihre Einwilligung geben.^ Mit diesen 
Worten schied sie von ihm. Siang-ju aber benutzte die nächste 
Gelegenheit, um seinen Vater ins Vertrauen zu ziehen; das ge- 
schenkte Geld verheimlichte er freilich, da er nicht den Mut 
hatte, ihm etwas davon zu sagen. Der Alte hatte zwar Be- 
denken wegen der schlechten Vermögensverhältnisse und suchte 
den Sohn daher von seinem Vorhaben abzubringen; dieser aber 
stellte dem Alten freundlich vor, dafs ein Versuch doch immer- 
hin nicht schaden könne, und schliefslich liefs der Alte ihn ge- 
währen. 

Siang-ju mietete darauf Diener und Pferde und machte 
sich auf den Weg zu Herrn Wei, der, wie sich's erwies, ein 
wohlhabender Gutsbesitzer war. Siang-ju liefs ihn herausbitten, 
imd während sie miteinander redeten, merkte Wei, dafs er einen 
Mann aus guter Familie vor sich hatte. Da er aufserdem sein 
vornehmes Wesen und stattliches Äufsere sah, war er schon im 
Grunde seines Herzens bereit, seine Einwilligung zu geben; nur 
hatte er noch das Bedenken, ob er auch einen gehörigen Profit 
dabei herausschlagen würde. Aus seinen unklaren Äufserungen 
erriet Siang-ju seine Gedanken und schüttete nun den Inhalt 
seines Beutels auf den Tisch aus. Jetzt war Wei beruhigt, und 
nachdem er einen der Nachbarn ersucht hatte, die Rolle des 
Vermittlers zu übernehmen, schlofs er den Ehevertrag ab. 

Nun trat Siang-ju ins Haus, um seine Schwiegermutter 
zu begrüfsen. Der Raum, in dem sie sich aufhielt, war klein 
und eng, aber als Siang-ju einen verstohlenen Blick auf die 
Tochter warf, die sich hinter ihrer Mutter verbarg, gewahrte er, 
dafs sie trotz ihrer ärmlichen Gewandung doch von lieblicher 
Erscheinung war, und freute sich im stillen seiner Wahl. 

Wei bewirtete hierauf seinen Schwiegersohn im Hause eines 
seiner Bekannten und sagte ihm bei dieser Gelegenheit, er brauche 
sich nicht selber zu bemühen, die Braut abzuholen; sobald die 
kleine Aussteuer besorgt sei, solle jene ihm zugestellt werden. 



— 453 — 

Nachdem der Termin verabredet worden war, trat Siang-ju 
den Heimweg an. Zu Hause angelangt, machte er dann seinem 
Vater weis, dals Herr Wei mehr auf eine achtbare Familie als 
auf Reichtum sehe, so dals auch der Alte ganz glücklich war. 

Am festgesetzten Tage schickte der alte Wei denn auch 
seine Tochter, die sich als ebenso fleilsig imd sparsam wie füg- 
sam und tugendhaft erwies. Die beiden Ehegatten lebten in 
bester Eintracht, und nach zwei Jahren ward ihnen ein Sohn 
beschert, der den Namen Fuh-erh (,Glückchen') erhielt. 

Am Ts*ing-ming-Feste*) hatte sich Siang-jus Frau 
mit dem Kleinen auf dem Arm aufgemacht, um die Grabstätte 
ihrer Angehörigen zu besuchen-, da begegnete ihr ein vornehmer 
Mann, namens Sung, der Zensor gewesen war, jetzt jedoch, 
wegen Bestechungen seines Amtes enthoben, in seinem heimat- 
lichen Dorfe lebte, wo er gewalttätig und grausam aufzutreten 
pflegte. Auch er kehrte gerade vom Gräberbesuch heim, und 
als er die junge Frau erblickte, ward er von ihrer Schönheit 
bezaubert. Da er von den Dorfbewohnern erfuhr, dals sie die 
Gattin des Siang-ju sei, gab er sich der Hoffnung hin, den 
armen Gelehrten durch reichliche Geschenke übertölpeln zu können, 
und sandte einen Bedienten in dessen Haus, um auszukundschaften, 
wie der Hase läuft. Als Siang-ju erfuhr, um was es sich 
handelte, drang ihm die Zomesröte ins Gesicht, doch überlegte 
er, dals er der Macht seines Gegners nicht gewachsen sei, und 
kämpfte seinen Unwillen nieder, indem er zu lachen versuchte. 
Als er jedoch die Sache seinem Vater mitteilte, stürzte dieser 
in heller Wut zur Türe hinaus und beschimpfte den Bedienten 
auf jegliche Art, indem er dabei mit Armen und Beinen herum- 
fuchtelte, so dafs sich jener eiligst aus dem Staube machte. Nun 
wurde aber auch Sung wütend und sandte eine Schar seiner 
Leute aus, die mit grofsem Gepolter in Fe ngs Haus eindrangen 
und Vater imd Sohn weidlich durchprügelten. Siang-jus Gattin 
warf, als sie den Lärm vernahm, das Kind auf das Bett und 
schrie mit aufgelöstem Haar nach Hilfe ; die Leute aber packten 
sie und schleppten sie im Triumph davon. 

Vater und Sohn wanden sich, vor Schmerz stöhnend, auf 
dem Fulsboden, während das Kind im Nebenzimmer schrie, bis 



') Dem Toten- oder Gräberfeste. 



— 454 — 

sich die Nachbarn der beiden erbarmten und sie aufhoben und 
zu ihren Betten geleiteten. 

Am nächsten Tage war Siang-ju so weit hergestellt, dafe 
er sich mit Hilfe eines Stockes aufrichten konnte, der Alte aber 
vermochte vor Wut keine Nahrung zu sich zu nehmen imd starb 
an den Folgen eines Blutsturzes. Siang-ju brach in Tränen 
aus tmd machte sich alsbald mit seinem Sohn auf dem Arm auf 
den Weg, um Klage zu führen. Aber obwohl er sich von einer 
Instanz an die andere wandte, gelang es ihm doch nirgends, 
Genugtuung zu finden, und als er nun gar noch erfuhr, dafs 
seine Frau, weil sie der Gewalt nicht weichen wollte, hatte 
sterben müssen, war sein Jammer vollends grofs. Die erlittene 
Unbill bedrückte ihn aufs tiefste, so dals er nirgends Ruhe fand. 
Oft dachte er daran, den Sung auf offener Strafse zu erdolchen, 
doch war das angesichts des grofsen Gefolges, von dem jener stets 
umgeben war, ausgeschlossen; auch wufste Siang-ju niemand, 
dem er sein Kind hätte anvertrauen dürfen. Tag und Nacht 
gab er sich seinem Kummer hin, ohne je ein Auge schliefsen 
zu können. 

Da erschien plötzlich ein Mann mit breitem Kinn und krausem 
Bart in seinem Hause, anscheinend um ihm einen Kondolenz- 
besuch abzustatten. Siang-ju, der seinen Gast noch nie zuvor 
gesehen hatte, nötigte ihn, Platz zu nehmen, and fragte ihn nach 
seinem Namen. Jener aber sagte ohne Umschweife: ,Dir ist 
der Vater erschlagen und die Frau geraubt worden; denkst du 
gar nicht daran, die Unbill zu rächen?^ 

Siang-ju, der den Fremden im Verdacht hatte, ein Spion 
des Sung zu sein, gab eine ausweichende Antwort. Da starrte 
jener ihn mit weitgeöffneten Augen an und rief : ,Ich hatte dich 
für einen Mann gehalten ; jetzt aber sehe ich, dafs du ein erbärm- 
licher Wicht bist !* 

Durch solch seltsames Gebaren stutzig geworden, sank 
Siang-ju auf die Kniee nieder und sprach: ,Ich fürchtete nur, 
dafs Sung mich hintergehen wollte; jetzt aber will ich die volle 
Wahrheit bekennen. Schon längst ist mir zu Mute, als läge ich 
auf Domen und müfste Galle schlucken; nur das Mitleid mit 
diesem armen Wurm und die Furcht, meine Nachkommenschaft 
dem Verderben preiszugeben, hat mich bisher zurückgehalten. 



— 455 — 

Ihr seid ein Ehrenmann, Herr; wollt Ihr statt meiner die Sorge 
für mein Kind übernehmen?' 

,Das ist Frauensache*, erwiderte jener. ,Wenn du jedoch, 
was du anderen überlassen willst, selber zu tun übernimmst, so 
will ich dafür an deiner Statt besorgen, was du tun wolltest.* 

Als Siang-ju diese Worte vernahm, warf er sich dem 
Fremdling zu Füfsen; dieser aber ging seiner Wege, ohne ihn 
eines Blickes zu würdigen. Nun eilte Siang-ju hinter ihm her 
zur Tür hinaus und fragte ihn nach seinem Namen. Der Fremd- 
ling sagte jedoch : ,Falls ich dir nicht helfen kann, will ich mir 
deinen Groll nicht zuziehen; gelingt es mir aber, dir zu helfen, 
so wünsche ich mit deinem Dank verschont zu bleiben.* Mit 
diesen Worten entfernte er sich. Siang-ju aber nahm aus 
Furcht, dafs ihm etwas Schlinunes bevorstehen könne, sein Kind 
auf den Arm imd floh von dannen. 

Als es Nacht geworden war und im Hause des Sung alles 
in tiefem Schlafe lag, drang ein Mann über die Mauer ins Haus 
ein und erschlug erst den Sung samt seinen beiden Söhnen und 
darauf eine Magd und eine seiner Schwiegertöchter. Der Prä- 
fekt des Bezirkes erschrak nicht wenig, als ihm die Leute des 
Sung den Mord zur Anzeige brachten, und da sie steif und fest 
den Siang-ju als den Mörder bezeichneten, so sandte er Häscher 
aus, um ihn zu verhaften. Durch die Flucht des Siang-ju, 
von dem niemand wufste, wohin er gegangen sei, erschien der 
Verdacht nur um so begründeter. Aulser den Häschern des 
Präfekten beteiligten sich auch die Leute des Sung an den 
Nachforschungen. Als sie bei nächtlicher Weile an die südlich 
von der Stadt gelegenen Berge gelangten, vernahmen sie plötz- 
lich das Wimmern eines Kindes, imd der Stimme folgend fanden 
sie denn auch bald den Gesuchten, den sie gefesselt mit sich 
nahmen; das Kind aber warfen sie, da es immer lauter zu schreien 
begann, beiseite und liefsen es am Wege liegen. Es fehlte nicht 
viel, so wäre Siang-ju unterwegs seiner Erregung erlegen. 

Vor den Präfekten geführt und befragt, aus welchem Grunde 
er den Mann ermordet habe, rief er: ,Das ist eine falsche An- 
klage! Jener ist in der Nacht ermordet worden, ich aber war 
schon bei helllichtem Tage fortgegangen, und aufserdem hatte 
ich ein schreiendes Kind auf dem Arme, — wie hätte ich da 



— 456 — 

wohl über eine Mauer klettern und einen Mord ausführen 
können?^ 

,Wohlan/ fragte der Präfekt weiter, ,wenn du den Mord 
nicht begangen hast, warum hast du dann die Flucht ergriffen?^ 

Als nun Siang-ju auf diese Frage nichts zu seiner Recht- 
fertigung zu erwidern wuIste und daher ins Gefängnis abgeführt 
wurde, rief er in Tränen: ,Wenn ich auch sterbe, so ist das 
nicht der Rede wert, — was aber hat das Kind verschuldet?^ 

,Du hast mehr als ein Kind anderer Leute getötet', er- 
widerte der Präfekt. ,Wie kannst du dich beschweren, wenn 
deinem Kinde dasselbe widerfährt?' 

Er wurde nunmehr seines gelehrten Ranges entkleidet, aber 
obwohl er mannigfache Torturen zu erdulden hatte, war nicht 
ein Wort aus ihm herauszubringen. 

Als der Präfekt in der darauffolgenden Nacht auf seinem 
Bette lag und schlief, vernahm er plötzlich ein klirrendes Ge- 
räusch, wie wenn jemand mit einem Gegenstande gegen die 
Bettstelle geschlagen hätte. Auf den Alarmruf des Präfekten 
kam sein ganzes Gesinde herbeigestürzt, und beim Scheine der 
Kerzen gewahrte man einen spitzen, blitzenden Dolch, der 
etwa einen Zoll tief im Holze der Bettstelle stak, aber so fest, 
dafs niemand ihn herauszuziehen vermochte. Starr vor Schreck, 
durchsuchte der Präfekt das ganze Haus, ohne jedoch das mindeste 
entdecken zu können. Da ihm einesteils der Schreck in die 
Glieder gefahren war und er anderenteils von Sung und dessen 
Söhnen, da sie doch tot waren, nichts mehr zu befürchten hatte, 
so entschlofs er sich jetzt, höheren Ortes die Freilassung des 
Siang-ju zu erwirken. 

Nach Hause zurückgekehrt, fand Siang-ju alle Vorräte 
erschöpft, und an den vier Wänden sah er nichts als seinen 
eigenen Schatten. Zum Glück erbarmten sich die Nachbarn 
seiner und versahen ihn mit Speise und Trank, so dals er zur 
Not sein Leben fristen konnte. So oft er jetzt an die Sühne 
dachte, die ihm zu teil geworden, hellte sich sein Antlitz vor 
Freude auf; aber sobald ihm dann wieder sein Unglück und der 
Untergang seines Hauses in den Sinn kam, liefen ihm die Tränen 
über die Wangen. Und wenn er daran dachte, dals ihm, nach- 
dem er sein halbes Leben in Not und Elend zugebracht, nun 
auch die Aussicht auf Nachkonmienschaft abgeschnitten war, 



— 457 — 

dann pflegte er wohl irgend einen menschenleeren Ort aufzu- 
suchen und sich dort ganz seinem Schmerze hinzugeben, ohne 
sich beruhigen zu können. 

So war ein halbes Jahr dahingegangen, und da mittler- 
weile die Nachforschungen weniger eifrig betrieben wurden, er- 
wirkte Siang-ju durch ein an denPräfekten gerichtetes Gesuch, 
dals ihm die Gebeine seiner Frau ausgeliefert wurden, die er 
dann begrub. In seinem Gram sehnte er sich nach dem Tode, 
und als er sich eines Nachts auf seinem Lager hin- und her- 
wälzte und vergeblich auf einen Ausweg sann, hörte er plötzlich, 
da£s an die Tür gepocht wurde; und aufmerksamer hinhorchend, 
vernahm er, wie jemand draulsen vor der Tür im Flüstertone 
mit einem Kinde redete. Er sprang hastig auf, und durch die 
Türspalte lugend glaubte er, eine weibliche Gestalt unterscheiden 
zu können. Kaum aber hatte er die Tür geöffnet, da vernahm 
er die Worte: ,Nun deine Unschuld an den Tag gekommen, 
hast du zum Glück nichts mehr, was dich noch kränken könnte!^ 

Die Stimme kam ihm so bekannt vor, aber dennoch wuIste 
er sich keine Rechenschaft zu geben, wo er sie früher schon ge- 
hört; erst als er ein Licht angezündet hatte, zeigt sich 's, dals es 
Hung-yüh war, die ein Kind an der Hand hielt, das sich fröh- 
lich lächelnd an ihre Kniee schmiegte. Bevor er Zeit fand, eine 
Frage an sie zu richten, hielt er sie schon, vor Rührung 
schluchzend, in seinen Armen, imd auch sie war nicht minder 
bewegt. Schliefslich schob sie ihm den Knaben zu, indem sie 
diesem sagte: ,Hast du denn deinen Vater vergessen?* — Der 
Kleine aber klammerte sich an das Gewand seiner Mutter, indem 
er Siang-ju mit grofsen Augen anblickte, und als dieser den 
Knaben genauer betrachtete, war es kein anderer als Fuh-erh! 

Tränenerfüllten Auges fragte er Hung-yüh, wo sie das 
Kind gefunden habe. Sie aber sprach: ,lch will dir jetzt die 
volle Wahrheit bekennen. Als ich dir ehemals sagte, dals ich ein 
Mädchen aus dem Nachbarhause sei, log ich, denn in Wahrheit 
bin ich ein Fuchs. Als ich zufällig vor einiger Zeit in der Nacht 
umherwanderte, drang plötzlich aus einer Höhle das Wimmern 
eines Kindes an mein Ohr. Ich nahm es an mich und zog es in 
Shan-si auf, und da ich erfuhr, dafs du inzwischen das 
Schlimmste überstanden habest, so bin ich mit dem Kleinen her- 
gekommen, um wieder mit dir vereint zu sein.' 



— 458 — 

S i a n g - j u dankte ihr unter Tränen, das Kind aber schmiegte 
sich an Hung-yüh, die es wie seine Mutter zu lieben schien, 
während es den Vater gar nicht wiederzuerkennen vermochte. 
Als dann Hung-yüh, bevor der Tag noch graute, sich wieder 
zum Gehen anschickte, sank Siang-ju unbekleidet, wie er war, 
am Kopfende seines Bettes vor ihr auf die Kniee tmd weinte so 
heftig, dafs er nicht einmal zu ihr aufzublicken vermochte. Sie 
aber sagte lachend: ,Ich wollte dich ja nur zum besten halten! 
Um aber Haus und Hof wieder gehörig in stand zu setzen/ 
fuhr sie dann fort, ,gilt es von morgens früh bis abends spät 
arbeiten,^ — imd mit diesen Worten ging sie auch gleich daran, 
das Gras zu beschneiden und zusammenzukehren. Und als 
Siang-ju klagte, dals er so arm sei und ihr keine Hilfe schaffen 
könne, bat sie ihn, nur ruhig bei seinen Büchern zu bleiben tmd 
sich wegen des Auskommens keine Sorge zu machen, — ver- 
hungern würden sie schon nicht. Dann holte sie Geld hervor 
und kaufte sich einen Webstuhl ; auch pachtete sie zehn Morgen 
Landes tmd nahm Arbeiter an, um den Acker zu bebauen. 
Tag für Tag machte sie sich zu schaffen, indem sie bald mit 
dem Spaten das Unkraut beseitigte, bald das Strohdach des 
Hauses ausbesserte ; und als die Dorfbewohner wahrnahmen, wie 
tüchtig sie war, zeigten sie sich mit um so grölserer Freude zu 
Hilfeleistungen bereit. 

Nach einem halben Jahre zählte das Haus bereits so viele 
Insassen, dals es durchaus den Eindruck der Wohlhabenheit 
machte; da sagte Siang-ju eines Tages: , Aus einem Trümmer- 
haufen hast du dies alles durch deiner Hände Arbeit ge- 
schaffen, — nur über eine Sache bin ich noch nicht beruhigt.« 

,Und das wäre?' fragte Hung-yüh. 

,Die Zeit der öffentlichen Prüfungen naht heran,' erwiderte 
Siang-ju, ,und ich habe meinen früheren Grad noch immer 
nicht zurückerlangt.' 

Da lachte Hung-yüh und sagte: ,Ich habe dem Unterrichts- 
inspektor schon vor einer geraumen Zeit vier Unzen Silber 
gesandt, und dein Name steht bereits wieder auf der Liste. 
Hätte ich mich gedulden wollen, bis du mich daran erinnertest, 
so hätte ich lange warten können!' 

Siang-ju verwunderte sich bafs und bestand nun bald 
darauf die zweite der Staatsprüfungen. Er war in jenem Jahre 



~ 459 - 

sechsunddreifsig Jahre alt und besafs fruchtbare Ländereien und 
ein stattliches Haus. Hung-ytih sah zwar so zart aus, als 
könnte sie vom Winde weggeweht werden, aber nichtsdestoweniger 
konnte sie an schwerer Arbeit mehr leisten als selbst die Bauem- 
weiber, und dabei waren ihre Hände weich wie geronnener 
Balsam. Obgleich sie selbst sich achtunddreilsig Jahre gab, hätte 
sie jeder, der sie sah, für eine Zwanzigjährige gehalten.! ~ 

Durch ihren phantastisch-humoristischen Charakter werden 
die Erzählungen des Liao-chai chi-i den deutschen Leser hin 
und wieder unwillkürlich an E. Th. A. Hoffmanns Novellen 
erinnern. So verschiedenartig sie auch im einzelnen sind — 
denn manche von ihnen sind kaum mehr als ausgeführte Anek- 
doten, andere wiederum nur flüchtig hingeworfene Augenblicks- 
bilder — , so ist ihnen allen doch der Vorzug formvollendeter 
Darstellung gemeinsam, tmd darin liegt für den chinesischen 
Leser ihr Hauptreiz, der sich in der Übersetzung freilich nur 
höchst mangelhaft wiedergeben läfst. An Kürze und geradezu 
unübertrefflicher Prägnanz des Ausdruckes steht das Liao- 
chai chi-i im Gegensatz zum Kin-ku k'i-kuan dem Stile 
der klassischen Sprache näher als dem der Umgangssprache 
und dürfte dergestalt in der gesamten belletristischen Litteratur 
Chinas wohl kaum seinesgleichen finden. Obwohl durch diese 
Eigentümlichkeit mehr für den exklusiven Kreis eines litterarisch 
gebildeten Publikums berechnet, ist es nichtsdestoweniger in so 
hohem Malse volkstümlich geworden, dafs es öffentliche Geschichten- 
erzähler gibt, die sich den Vortrag der Erzählungen des Liao- 
chai chi-i zu ihrer ausschlief slichen Spezialität erkoren haben* 



Schiursbetrachtung. 



»Dals Keime nicht zum Blühen kommen — ach^ das kommt 
vor! — Dafs Blüten nicht zu Früchten werden, — ach, das 
kommt vor!« — Dieser Ausspruch des Confucius drängt sich 
unwillkürlich ins Gedächtnis, wenn man den Entwicklungsgang 
der chinesischen Litteratur überblickt. An fruchtbaren Keimen 
und vielversprechenden Ansätzen fehlt es wahrlich nicht, aber 
auf keinem Gebiete gelangen sie ungehindert zur vollen Ent- 
faltung. Es wäre falsch, wollte man die Ursache dieser ebenso 
auffallenden wie beklagenswerten Erscheinung einzig und allein 
in einer gewissen spezifischen Einseitigkeit und Begrenztheit des 
nationalen Genius suchen, — ist doch, wie wir gesehen haben, 
kein Mangel an Beispielen, die zur Genüge beweisen, dals jener 
zu Höherem berufen war, als er tatsächlich geleistet hat. Viel- 
mehr wird man wohl sagen dürfen, dafs die Richtung, welche 
die geistige Entwicklung Chinas einschlug, mit geschichtlicher 
Notwendigkeit zum Stillstande führen mufste. JDer Mann, der 
ihr die Wege wies und den Stempel seines Geistes aufdrückte, 
ward ebendadurch zum Fatum seines Volkes. Gewifs wird man 
den Confucius für die Umgestaltung seiner Lehren, wie sie 
der spätere Confucianismus aufweist, nicht subjektiv verantwort- 
lich machen dürfen: die objektive Verantwortlichkeit dafür wird 
ihm dennoch nicht erspart bleiben können, und darin liegt die 
tiefe Tragik seiner geschichtlichen Gestalt nicht nur, sondern 
auch des Schicksals seiner Nation. Adel der Gesinnung, Lauter- 
keit des Charakters, tiefen sittlichen Ernst der Persönlichkeit wie 
der Lehre wird niemand ihm absprechen wollen ; wohl aber fehlte 
seinem Wesen ein Zug, ohne den die Verwirklichung dessen, 
wonach er strebte, der sittlichen Hebung seines Volkes, unmöglich 



N 



— 461 — 

bleiben mufste: der aufwärts gerichtete Blick, der kühne Flug 
des Wollens, der sich über die Grenzen des Erreichbaren hinaus 
zu erheben wagt und nach Höherem strebt, um Hohes zu er- 
reichen. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, und neben der 
Welt der Wirklichkeit gibt es noch eine andere, die er sich 
selber schafft. Was wären Religion und Kunst, was wäre selbst 
die Wissenschaft, wenn nicht der göttHche Funke der Phantasie 
die dimklen Tiefen erhellte, die dem Wissen und der Erfahrung 
allein doch ewig unzugänglich blieben? Wer wollte leugnen, 
dafs die Mächte der Einbildungskraft gar oft eine realere Wir- 
kung ausüben als die der Wirklichkeit? Und würden wir nicht 
eher auf Thukydides als auf Homer verzichten wollen? 

Es lag in der Begrenztheit seiner Wesensart begründet, dafs 
Confucius sich ausschliefslich innerhalb des Tatsächlichen und 
Möglichen bewegte-, was darüber hinausging, blieb ihm fremd und 
gleichgültig. Religiösen imd metaphysischen Fragen ging er 
geflissentlich aus dem Wege, und seine ethischen Forderungen 
überschritten nie das Mafs des Erreichbaren. Desgleichen war 
auch sein Wissensdrang weniger auf Erkenntnis als auf sittliche 
Vervollkommnung gerichtet; das Wissen galt ihm nur als Mittel, 
um zu dieser zu gelangen. Nichtsdestoweniger hätten die Mängel,, 
die seiner geistigen Eigenart anhafteten, eine gedeihliche Ent- 
wicklung seiner Lehren in religiöser, ethischer und intellektueller 
Richtung noch keineswegs auszuschlielsen gebraucht, — aber 
nun kam das geschichtliche Verhängnis: die Apotheose seiner 
Person und die Dogmatisierung seines Lehrbegriffs. Damit war 
jeder ferneren Entwicklung ein Riegel vorgeschoben. 

Die religiösen Begriffe hatten durch Confucius keine 
Läuterung erfahren, und auch der spätere Confucianismus blieb 
auf diesem Gebiete rat- und tatlos. Die Folge davon war die 
ungehinderte Ausbreitung des Taoismus und Buddhismus, aus 
deren Verschmelzung mit der ursprünglichen Naturreligion und 
Ahnenverehrung der wüste religiöse Synkretismus des modernen 
Volksglaubens hervorgegangen ist. Auch dem finsteren Aber- 
glauben des geomantischen Feng-s hui -Systems hat der Con- 
fucianismus so wenig entgegenzuwirken vermocht, dafs heutzutage 
der bildungsstolzeste Confucianer nicht minder unter seinem Banne 
steht als die misera plebs. 

Hatte Confucius dem religiösen Glaubensbedürfnis der 



— 462 — 

Menge nichts zu bieten gewulst, so lag ihm die sittliche Hebung 
des Volkes um so mehr am Herzen. Aber auch hier ward seinem 
Wirken das Gegenteil von dem beschieden, was er erstrebt hatte. 
Aus der unheilvollen Verquickung von Sittlichkeit und Schicklich- 
keit wuchs je länger je mehr ein starrer Ritualismus hervor, der 
schliefslich statt zur Befreiung zur Knechtung des sittlichen Be- 
wufstseins führte. Sich eine Blöfce zu geben, »das Gesicht zu 
verlieren«, wie der Chinese sagt, gilt für tmgleich bedenklicher, 
als ein Unrecht zu begehen, und solange der Schein gewahrt 
bleibt, fragt niemand nach der inneren Gesinntmg. Durch die 
unzähligen kleinlichen Vorschriften endlich, deren peinlichster 
Befolgimg sich der einzelne selbst bei den unbedeutendsten Vor- 
kommnissen des täglichen Lebens zu unterziehen hat, ist die 
freie Selbstbestimmung nachgerade illusorisch geworden. Und 
aus diesem Vorwalten einer äufseren ethischen Disziplin erklärt 
sich die auffallende Tatsache, dals es kaum eine schärfer aus- 
geprägte Volksindividualität gibt als die chinesische, während 
innerhalb derselben die Individualität des einzelnen der herrschen- 
den Schablone weichen mulste. Das Marionettentum der chine- 
sischen Theater- und Romanfiguren ist durchaus dem Leben nach- 
gebildet. 

Ebensowenig wie auf religiösem und ethischem war auf 
intellektuellem Gebiete ein fördernder Einflufs von Confucius 
zu erwarten. Was ihm einzig und allein als wissens- und nach- 
ahmenswert erschien, war das Altertum, in dessen leuchtenden 
Vorbildern er sein Ideal verkörpert sah. Die Renaissanceperiode 
im Zeitalter der Han hat dann das Ihre dazu getan, diese Auf- 
fassung zu einer für alle Zeiten gültigen Norm zu erheben. Mit 
dem zünftigen Gelehrtentum , das seit jener Zeit bis auf den 
heutigen Tag nicht nur die tonangebende Macht, sondern auch die 
regierende Kaste geblieben ist, ist die tote Büchergelehrsamkeit 
zur Alleinherrschaft gelangt. Seinem zünftigen Gelehrtentum 
hat China es zu verdanken, dafs auf seinem Boden, von anti- 
quarisch-philologischer Forschung abgesehen, keine Wissenschaft 
im eigentlichen Sinne zu gedeihen vermochte; ihm aber auch 
nicht minder, dafs seine Litteratur weder den Grad der Vollendung 
erreicht, zu dem sie berufen schien, noch auch die Stellung in 
der Nation eingenommen hat, die ihr. als solcher gebührt hätte. 
Mit dem Momente, wo die Sprache, deren sie sich bediente, nicht 



— 463 — 

mehr mit der lebendigen Sprache des Volkes gleichen Schritt 
zu halten vermochte, hörte sie auf, eine Nationallitteratur zu 
sein, um von nun an allmählich immer mehr den Charakter einer 
Gelehrtenlitteratur anzunehmen, die der grofsen Menge mehr 
oder weniger unverständlich blieb. Je mehr sich die Kluft 
zwischen Gelehrten und Laien erweiterte, um so mehr wuchs 
aber auch die Überschätzung des toten Wissens, bis endlich in 
der neuconfucianischen Orthodoxie des Chu Hi das geistige 
Leben Chinas in einen Zustand der Erstarrung überging, aus 
dem es seither nicht wieder erwacht ist. Der Typus des Bildungs- 
philisters, als dessen vollendetster Vertreter das Chinesentum seit 
einem Jahrtausend dasteht, ist das Resultat jenes Entwicklungs- 
ganges. 

Ob das morsche Reich, das schon so oft totgesagt worden 
ist, noch Kraft genug besitzt, um durch eine Reform an Haupt 
und Gliedern seine politische Wiedergeburt zu erleben, mag 
die Zuktmft lehren: dafs eine geistige Wiedergeburt Chinas 
zum mindesten nicht ausgeschlossen ist, scheint das Beispiel Japans 
zu beweisen. Sie wird jedoch nicht eher erfolgen können, als bis 
man sich entschliefst, die Toten ihre Toten begraben zu lassen 
und die lebende Umgangssprache in ihre Rechte als Schrift- und 
Litteratursprache einzusetzen. Nur so wird es möglich sein, die 
Litteratur zum Gemeingut der Nation zu machen und die Gesamt- 
heit in den geistigen Wettbewerb hineinzuziehen. Neue litterarische 
Unternehmungen, wie das King-hoa-pao und das Hang- 
chou pai-hoa-pao, zwei Zeitschriften, die in Peking und 
Hang-chou erscheinen und sich ausschliefslich der Umgangs- 
sprache bedienen, sind vielleicht als ein erster Schritt auf diesem 
Wege zu begrüfsen. — Was aber vor allem nottut, ist die Be- 
freiung des Volksgeistes aus den selbstgeschmiedeten Fesseln 
traditioneller Vorurteile und toter Formen, auf dals es endlich 
auch dem einzelnen ermöglicht werde, das Recht der eigenen 
Individualität zur Geltung zu bringen; denn jeder wahre Fort- 
schritt beruht im letzten Grunde doch auf der befreienden Macht 
der Persönlichkeit. 



i 



\ 



Index. 



Amiot 117. 
d'Arcy, G., 418. 
Arendt, C, 13. 

Bambusannalen 123. 
Bazin^362, 379, 386, 391, 395. 
Biot, Ed., 108. 
Bücherverbrennung 28 ff., 33, 47, 

64, 200 ft. 
Buddha 302 ff., 336 ff. 
Bunyu Nanjio 245. 

Calderon 157. 

Chan-Kuoh-ts'eh 118 ff., 192. 
Chang Tsai 336. 
Chang Ts*ang 74 — 75. 
Ch^ang Kien 291. 
Chao Han 291. 
Chao K4 97. 
Charakterkomödie 385 ff. 
Chavannes, Ed., 2, 39, 69, 76, 118, 

188, 239. 
Ch<en Shun 340. 
Ch*en Tszö-ngan 291. 
Cheng Hüan 141, 187. 
Cheng-meng 336. 
Ch'eng Hao 333. 
Ch*eng I 333. 
Chou-Kuan s. Chou-li. 
Chou-kung 35, 51, 107, 125. 
Chou-li 32, 63, 107, 108. 
Chou-nan 49, 
Chou-tszö 333 ff., 338. 
Chou Tun-i s. Chou-tszö. 
Chu Hi 90, 98, 334, 336 ff., 355. 
Chu-tszß s. Chu Hi. 
Ch*u Han ch^un-ts4u 192. 
Ch«u-tsz*6 183. 

Chuang Chou s. Chuang-tszö. 
Chuang Ki 183. 
Chuang Kiang 51. 
Chuang-tszö 70, 142, 149, 152 ff., 

297. 
Chuh-shuh-nien-ki 123. 



Ch<un-ts4u 21, 32, 68 ff., 107, 111, 

118, 119, 192. 
Ch^un-ts^iu des Liü Puh-wei 149. 
Chung-ni s. Confucius. 
Chung-yung 32, 90, 92 ff. 
Confucius 15 ff. 35, 38. 49, 50, 

62 ff., 80 ff., 118, 123 ff., 139 ff., 

152 , 158 ff., 208 ff., 300 ff., 357, 

460 ff. 

Davis, Sir John F., 262, 418. 
Douglas, R. K., 447. 
Drama, mythologisches, 390. 

Edikt, das heilige, 354. 
Edkins, J., 223, 239, 275. 
Elegien von Ch*u, die, 183. 
Epikur 127. 
Erh-ya 33, 107. 

Faber, E., 95, 129, 148, 149. 

Fah-ch'ang huan-tszä 379. 

Fah-hien 234 ff. 

Fan Yeh 207. 

Fen-hi 399. 

Feng-shen yen-i 432 ff. 

Feng-shui 172, 461. 

Forke, A., 125, 148, 210. 211, 222, 

245, 248, 267, 279, 280, 282. 
Fu 317. 

Fu Sheng 38, 39. 
Fuh-hi 34. 

Gabelentz, H. C. v. d., 431. 
Gabelentz, G. v. d., 113, 130, 334. 
Giles, H. A., 142, 152, 234, 450. 
Goethe 269. 

Gottschall, R. v., 363, 386. 
Griesebach, E., 447. 
Grimm, H., 446. 

Grube, W., 5, 27, 74, 82, 338, 
379, 424. 

du Halde 370. 

Han Fei-tszö 142, 162 ff. 

Han Yü 97, 300 ff., 336, 342, 390. 



— 465 — 



CJ 



Hao-k'iu-chuan 418 ff. 

Harlez, C de, 33, 107, 112, 118, 

123, 266, 333, 343. 
Hegel 341. 
d'Hervey de Saint-Denys 177, 262, 

272, 282, 446, 450. 
Hiao-king 33, 38, 81, 107, 109 ff. 
Hiouen-thsang s. Hüan-chuang. 
Hiü Shen 359. 

Hoai-nan-tsz« 142, 165 ff., 183, 207. 
Hoei-lan-ki 379 ff. 
Hoei li 241. 

Hoffmann, E. Th. A., 459. 
Hu San-sing 331. 
Htian-chuang 239 ff., 438. 
Hüan-tsang s. Hüan-chuang. 
Humboldt, W. v., 5. 
Hung-fan 40. 
Hung-lou-meng 430 ff. 
Hutcninson, A. B., 210. 

I-li 32, 63, 107, 108. 

I-tsing 239. 

Imbault-Huart, C, 292, 293. 

Jeng Shuh 59. 

"oly, H. B., 432. 
ulien, Stan., 143, 144, 239, 240, 
364, 370, 424, 430, 439. 

K^an ts*ien nu 386. 
K^ang-hi 9, 353 ff., 359. 
K*ang-hi tszö-tien 359. 
Kanonische Bücher, fünf, 31 ff., 106, 

107. 
Kao Puh-hai s. Kao-tszS. 
Kao-tsu (der Han-Dynastie) 222. 
Kao-tszö 133 ff. 
Kao Tung-kia 391 ff. 
Ki Kitin-siang 370. 
Kia K'uei 90. 
Kia-li 343. 
Kia-yü 123-124. 
Kiah I 182 ff. 
Kien-wen-ti 250. 
K*ien-k<un-tai 400. 
K^ien-lung; 300. 
Kin-ku k*i-chuan 446 ff. 
Kin Ping Mei 430 ff. 
K*in-ting Ku-kin t*u-shu tsih-ch'eng 

359. 
K*in-ting sz€-k*u ts<üan-shu tsung- 

muh 37. 
K*in-tmg ta-Ts*ing hoei-tien shi- 

lih 359. 
King 31. 
King Tsz<ö 183. 
K*iu s. Confucius. 






Kiü-tinff kuan-hoa 379. 
K«iüh Ytian 173 ff, 223. 
Klassische Bücher, vier, 31 ff . 80 ff., 

106. 
Ku-wen-yüan-kien 119. 
Kua, die acht, 34. 
Kuan Chung s. Kuan-tsz^. 
Kuan-tszÖ 112 ff. 
Kuan Yin 140, 143. 
Kuh Liang-ch*ih 32, 80. 
Kung-sun Ch*ou 97. 
Kung-tu-tszö 134. 
Kung-yang Kao 32, 80. 
K*ung s. Confucius. 
K*ung Kih s. Ts6-sz6. 
K*ung Ngan-kuoh 39, 40, 187. 
K*ung-tsze s. Confucius. 
Kuoh-feng 47, 182. 
Kuoh-yü 118«., 192. 

Lao Tan s. Lao tszä. 

Lao-tszö 18, 84, 93, 117. 124, 127, 

128, 139«., 300«.. 336«., 355. 
Legge. "J., 33, 37, 68, 75, 79, 80, 

81, 90, 95, 109, 125, 135, 143^ 

144, 152, 234, 253, 265, 266. 
Li Erh s. Lao-tszÖ. 
Li Hoa 318. 
Li-ki 21, 38, 62«., 81, 90, 107, 

108, 110, 141. 343, 363. 
Li Ling 189, 213, 226. 
Li Mih 258 ff. 
Li-sao 174 ff., 223. 
Li Szö 28, 38, 135, 162«. 
Li Pai-poh 267, 275, 277 «. 
Li Yen-nien 220. 
Liao-chai chi-i 450 ff. 
Licius s. Lieh-tszS. 
Lieh-tszö 125, 142, 148 «., 156. 
Liu Hiang 187, 289. 
Liu Hin 187. 
Liu Ki 353. 

Liu Ngan s. Hoai-nan-tszÖ. 
Liu Tsung-yüan 315«. 
Liti-hing 40. 
Liü Puh-wei 149, 193. 
Lo Kuan-chung 406. 
Loh Pin-wang 291. 
Luh Kiah 192. 
Lun-heng 210. 
Lun-yü 26, 32, 37, 38, 49, 72, 

80«., 110. 
Lustspiel 399, 405. 

Ma Jung 65, 187. 
Ma Tuan-lin 358. 
Maiila, M. de, 344. 



Grabe, Geschichte der chinesischen Litteratur. 



30 



466 — 



Mao K^ling 68. 
Mei Sheng 224, 264. 
Menciu& s. Menz-tsz^. 
Meng K/o s. Meng-tszÖ. 
Meng-tsz« 27, 32, 33, 64, 68, 70, 

76, 95 ff., 107, 125, 129, 132 ff., 

141, 208, 210 ff. 
Meng-tszS (der Dichter) 51. 
Micius s. Moh Tih. 
Militärdramen 399. 
Moh Tih 70, 125, 128 ff., 149, 302. 

Nan-hoa-king 154. 
Nao-hi 399. 
Nei-tseh 65.^ 
Ngou*Yang-5iu 344 ff. 
Nichttun, Lao-tszös Lehre vom, 

146 ff. 
Nien-szö-shi 207. 
Niti-kiai 223. 

Pan Chao 223. 

Pan Ku 47, 118, 207, 223, 225. 

Pan Piao 207, 223. 

Pan Tsieh-yü 225. 

Pao Chao 248. 

Pavie, Th., 406, 446. 

Pei wen ytin fu 359. 

P*i-p<a-ki 391 ff. 

P*ing Shan Leng Yen 430. 

Piry, Th., 354. 

Poh-she k*i-chuan 439 ff. 

Posse 399, 405. 

Reichsannalen, die vierundzwan- 
zig, 207. 
Reim, 13, 51, 264 ff. 
Richthofen, F. v., 40. 
Rosny, L. de, 109. 
Rtickert, F., 292. 

San-kuoh-chi yen-i 406 ff. 

San-tszS-king 135. 

Schlegel, G., 446. 

Schopenhauer 127, 

Schott, W., 80, 270, 341. 

Shan-hai-king 111, 112. 

Shang s. Tsz^-hia. 

Shao-nan 49. 

Shao Yunff 333. 

Sheng-yü 354. 

Sheng-yü kuang-hiün 355. 

Shi-hoang-ti 28 ff., 38, 97, 135, 

162 ff., 184 ff. 
Shi-ki 190 ff., 328. 
Shi-king 2, 13, 21, 28 ff., 46 ff., 70, 

77 ff., 87, 102, 103, 173, 221, 

264 ff. 
Shi Nai-ngan 418. 
Shu 31. 



Shu-king 21, 28 ff., 37 ff., 70, 81, 

118, 192. 
Shuh-liang: Höh 17. 
Shui-hu-cnuaD 418. 
Shun 26, 41, 94, 125. 
Shuoh-wen 359. 
Si-sianif-ki 364 ff., 388 ff., 396. 
Si-yu-ki 438. 
Si-ytih-ki 241 ff. 
Siao-hioh 343. 
Siao Tai ki 65. 
Siao-ya 48, 182. 
Sing-li 333. 

Siün K4ng 70, 135 ff., 162, 208. 
Sitin K^uang s. Siün K*ing. 
Siün-tszö s. Sitin K*ing. 
Sokrates 98. 
Spinoza 146. 
Straufs. V. v., 47, 51," 53, 59, 144, 

145, 292, 297, 
Su Cheh o46. 
Su Shih s. Su Tung-p*o. 
Su Sitin 346. 
Su Tung-p'o 344, 346 ff. 
Su Wu 213, 226. 
Sun-tszö 115 ff. 
Sun Wu s. Sun-tszö. 
Sung 48. 

Sung Chi-wei 291. 
Sung K4 344. 
Sung Lien 353. 
Sung Ytih 183. 

SzS-ma Kuang 323 ff., 333, 343. 
SzÄ-ma Siang-ju 220, 224, 365, 

366. 
Sz«-ma Pan 187 ff. 
Sz«-ma Ts'ien 38, 39, 48, 69, 70, 

72, 75, 97, 111, 113, 116, 139 ff., 

149, 169, 176, 181 ff., 184 ff., 221, 

223 
SzÄ^shu 31 ff., 80 ff., 106. 

Ta-hioh 32, 90 ff., 92. 

Ta Tai ki 65. 

Ta-ya 48. 

Tai Sheng 65, 187. 

Tai Teh 64, 187. 

Pai-httan-king 283. 

Pai-kih-t<u 334 ff. 

T*ai-p*ing yti-lan 358. 

Pang-shi 262 ff. 

Tao 93, 140 ff., 162. 

Tao-teh-king 141 ff., 150, 346. 

T*ao Ts*ien s. Pao Yüan-ming. 

Pao Yüan-ming 254 ff. 

Taoismus 139 ff. 

Taoismus, alchimistischer, 169 ff. 

Tcheng-ki-tong 363. 



— 467 — 



Ts*ao Stieh-k4n 432. 
Ts*ao ta-kia s. Pan Chao. 
Ts*en Ts^an 284, 291. 
Tseng Ts*an s. Tseng-tszö. 
Tseng-tszö 90, 109, 110. 
Tsiu-weng-t'ing 344. 
Tso-chuan 37, 70 ff., 118, 119. 
Tso K*iu-minff 32, 71 ff., 118, 119. 
Ts«ui Hao 291. 
Tsz6-chi t<ung-kien 328, 343. 
Tszg-hia 50, 54, 75, 30. 
Tszö-kung 21. 27, 49, 50, 83, 86, 
87, 159ff., iJllfi., ' ' ' ' 
Tszö-lu 87, 88, 159 ff. 
Tsz«-szö 90, 93. 
Tsz*6 s. TszÖ-kunc:. 
Tu Fu 284 ff. 
Tu Muh 317. 

Tung-Chou lieh-kuoh-chi 418. 
T*ung-kien-kang-muh 344. 
T*ung-shu 334. 

Voltaire 370. 

AV alter von der Vogelweide 54. 

Wan Chang 97. 

Wang Chang-ling 291. 

Wang-chi 64. 

Wang Ch^ung 209 ff. 

Wang Hi-chi 252 ff. 

Wang Ngan-shih 346. 

Wang Poh 291. 

Wang Sen-ju 250. 

Wang Shi-cheng 353, 431. 

Wang Shi-fu 364. 

Wang Shou-jen 353. 



Wang Su 124. 

Wang Wei 291. 

Wei Yinff-wu 291. 

Wen-hi J99. 

Wen-hien t<ung-k'ao 358. 

Wen-wang 35. 

Wu, Fürst von Wei, 51. 

Wu-hi 399. 

Wu-king 31 ff., 106, 107. 

Wu-ti (der Han-Dynastie) 220, 222. 

Wu-ti (der Liang-Ehmastie) 250. 

Wu-wei-Theorie 146 ff. 

Wylie 359. 

Yang Chu 70, 125 ff., 158, 2487 

302 
Yang' Fang 245, 268. 
Yang Hiung 207 ff., 223, 283. 
Yao 26, 41. 94. 
Yen Hoei 20. 
Yen-tsung 241. 
Yen Yu 212. 
Yen Yüan 162. 

Yih-king 21, 33 ff., 223, 283, 333. 

334 ' ' » » 

Yin und Yang 150, 334 ff. 
Yin Hi 140, f43. 
Yü-kung 40. 
Yüan-kien lei-han 358. 
Ytian-ti 250. 
Yüan Tszö-ts*ai 293 ff. 
Yüh Kiao Li 424 ff. 
Yung-cheng 355, 357. 
Yung-loh ta-tien 358. 

Zivilschauspiele 399. 




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C. F. AMELANQS VERLAG IN LEIPZIG. 

Die Lttteraturen des Ostens 




tn 

Komplett in etwa lo Bänden ä M. 7.50 broschiert, M. S.50 gebunden. 

1901 sind erschienen: 

1. Band*. Geschichte der polnischen Liiteratitr von Dr. Alex. Brückner» 
Professor an der Universität in Berlin. 

6. Band: Geschichte der persischen Litteratur von Dr. Paul HORN, Professor 
an der Universität in Strassburg. — Geschichte der arabischen Litteratur 
von Dr. C. Brockelmann, Professor an der Universität in Breslau. 

1902 sind erschienen: 

4. Band: Geschichte der byzantinischen und nsugriechisehen Litteratur 
von Dt. Karl Dieterich in München. — Geschichte der türkischen 
Moderne von Dr. Paul Hörn, Professor an der Universität in Strassburg. 

& Band: Geschichte der chinesischen Litteratur von Dr. Wilh. Grube, Pro- 
fessor an der Universität in Berlin. 

Im Laufe der nächsten Jahre werden folgen: 

m 

I. Gruppe: ^Litteraturen europäischer Länder, 

2. Band: Geschichte der nufsischen Litteratur von Dr. Wilh. Wollner , 
Professor an der Universität in Leipzig. 

3. Band: Geschichte der ungarischen Litteratur von Dr. GUST. HEiMRiCHy 
Professor an der Universität in Budapest. — Geschichte der runUtnischen 
Litteratur von Dr. Georg Alexici, Dozenten an der Universität in Budapest. 

5. Band: Geschichte der böhmischen Litteratur von Professor Dr. J. Vlckk, 
Dozenten an der Universität in Prag. — Geschichte der südslavischen 
Litteraturen von Prof. Dr. M. Murko, Dozenten an der Universität in Wien. 

IL Gruppe: Litteraturen asiatischer Länder. 

7. Band: Geschichte der aUhebrüischen Litteratur von Dr. Karl Budde» 
Professor an der Universität in Marburg. — Geschichte der chrisUichen 
lAUeraiUTen des Orients von Dr. C. Brockelmann/ Professor an 
der Universität in Breslau. 

9. Band: Geschichte der indischen Litteratur von Dr. M. W^intrrnitz, Pro- 
fessor an der deutschen Universität in Prag. 

10. Band : Geschickte der Japanischen Litteratur von Dr. K. Florenz, Pro- 
fessor an der Universität in Tokyo.